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Paar und Sprache

Linguistische Aspekte der Zweierbeziehung. Mit einem Vorwort von Andreas Fischer

0307
2016
978-3-8233-9023-7
978-3-8233-8023-8
Gunter Narr Verlag 
Ernst Leisi
Andreas Fischer

Verliebte geben sich nicht nur Kosenamen, sondern entwickeln bisweilen, bewusst oder unbewusst, eine Sprache die nur von ihnen verstanden wird und Außenstehende oft ratlos zurücklässt. Das Phänomen einer solchen "Privatsprache" ist zwar bekannt, aber psychologisch und sprachwissenschaftlich nur wenig erforscht. Der Zürcher Sprachwissenschaftler Ernst Leisi (1918-2001) hat 1978 eine hinreißende Studie zum Thema "Paar und Sprache" verfasst, die bis heute einschlägig geblieben ist. Leisi kommt darin zum Ergebnis, dass die Sprache eines Paares - die er auch "Privatcode" nennt - einen überaus wichtigen Bestandteil einer nahen Beziehung von zwei Menschen darstellt, ohne dass sich dabei genau sagen lässt, ob die Sprache aufgrund der Nähe oder die Nähe aufgrund der Sprache entsteht.

<?page no="0"?> Linguistische Aspekte der Zweierbeziehung 5. Auflage · Mit einem Vorwort von Andreas Fischer Paar und Sprache Ernst Leisi <?page no="1"?> Paar und Sprache <?page no="3"?> Ernst Leisi Paar und Sprache Linguistische Aspekte der Zweierbeziehung Mit einem Vorwort von Andreas Fischer <?page no="4"?> - - Umschlagabbildung: <?page no="5"?> Inhalt Andreas Fischer: Vorwort zur 5. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Ernst Leisi: Paar und Sprache Zum Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1 . Der Privatcode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 a) Privatsprache und Zusammenhalt . . . . . . . . . . . . . . . 23 b) Neue Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 c) Warum neue Namen, warum viele Namen? . . . . . 34 d) Andere Elemente des Privatcode - Entstehung, Geheimhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 e) Sprachspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2 . Sprache als erotisches Stimulans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3 . Lieben nach Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 a) Das Bedürfnis nach Identifikation . . . . . . . . . . . . . . 88 b) Gesamthafter Nachvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 c) Punktueller Nachvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 d) Die Chiffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 4 . Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 a) Definition, Dialektik, Klassifikation . . . . . . . . . . . . . 127 b) Störungen durch den Code . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 c) Störungen im Sprechakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 5 . Sprache und Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 <?page no="7"?> Vorwort Andreas Fischer Ernst Leisis Buch Paar und Sprache ist ein durch und durch originelles Werk, nahm sich Leisi darin doch eines Themas an, das vor ihm noch nie fokussiert behandelt worden war, nämlich die sprachlichen Aspekte der Paarbeziehung. Bei diesem Unternehmen war er mit dem keineswegs trivialen Problem konfrontiert, wie zu diesem privaten, teilweise intimen Bereich brauchbares Material gesammelt werden konnte. Er löste es auf dreifache Art und Weise: Zum einen veranstaltete er im Sommer 1977 ein Seminar »Zur Sprache der Kleingruppe«, im Rahmen dessen er von und mit den Studierenden (denen er Anonymität zusicherte) viele Daten sammelte, zum anderen griff er auf literarische Texte zurück, und schliesslich floss auch seine eigene Erfahrung ein als »ein Mitteleuropäer, ein (mehr oder weniger) Intellektueller, ein Angehöriger der jetzt älteren Generation, der aber guten Kontakt zu jungen Menschen hat, schliesslich: ein Mann, der aber versucht, auch den weiblichen Standpunkt zu verstehen.« (S. 19) Dass er selbst sein Leben lang eine glückliche Paarbeziehung mit seiner Frau Ilse lebte, wird im Vorwort zwar nicht angesprochen, schwingt aber ebenfalls mit. Seinen Stoff gliedert Leisi nach fünf Aspekten: Im Kapitel 1 »Privatcode« geht er den Elementen der Privatsprache nach, die sich in vielen Paarbeziehungen findet. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er dabei den Namen und dem Sprachspiel. Zum Kapitel 2 »Sprache als erotisches Stimulans« postuliert er, Sprache könne, »fast mehr als jedes andere Mittel, erregend wirken, so wie sie anderseits auch abkühlen kann.« (S. 19) »Lieben nach Texten« (Kapitel 3) bedeutet im engern Sinn, dass Literatur potentielle Muster anbietet, »denen sich Liebende einfügen können«. Im weiteren Sinn bietet sie sprachliche Formulierungen, »auf die die Partner zur Bereicherung ihres Privatcode greifen können.« (S. 88) Bei Kapitel 4 »Störungen« unterscheidet <?page no="8"?> Leisi zwischen Störungen durch den Code und solchen im Sprechakt, wie zum Beispiel durch die Verwendung von (zu) direkter oder indirekter Sprache. Das abschliessende kurze Kapitel 5 »Sprache und Erinnerung« sprengt den thematischen Rahmen des Buches etwas: Sprache ist zweifellos eines der zentralen Instrumente der Erinnerung und sie dient nach Leisi damit sowohl der »Erhaltung des Partners« wie auch der »Erhaltung der gemeinsamen Welt«. Sie hat diese Funktion aber natürlich für jede Form von menschlicher Gemeinschaft. Über weite Teile seines Buches beschreibt und analysiert Leisi die Rolle der Sprache in Paarbeziehungen in anschaulicher Weise; gar nicht selten agiert er aber auch als Ratgeber, indem er andeutet, wie man eine Paarbeziehung seiner Meinung nach sprachlich erfolgreich formen kann - oder eben nicht. Im Kapitel 4 »Störungen« etwa finden sich handfeste Ratschläge für die Gestaltung einer erfolgreichen Paarkommunikation. Diesen didaktischen Aspekt seiner Sprachwissenschaft hat Leisi später noch ausgebaut: Im zusammen mit seiner Frau verfassten Buch Sprachknigge, oder Wie und was soll ich reden? (Tübingen: Gunter Narr, 1992; 4., unverändete Auflage, Tübingen: Gunter Narr, 2016 1 ) findet sich eine ganzes Kapitel zum Thema »Sprache und Liebe«, mit den Unterkapiteln »Wie Sprache entflammt und ernüchtert«, »Was der gute Verführer beachten soll«, »Das Kompliment«, »Davor - dabei - danach«, »Gutes und böses Zitieren. Der Privatcode«, und schliesslich »Sprachliche Sünden gegen die Liebe«. Leisis Paar und Sprache wurde 1978 veröffentlicht; weitere Auflagen folgten in den Jahren 1983 und 1990. Wie präsentiert sich dieses vor bald 40 Jahren geschriebene Buch aus heutiger Sicht? Das Alleinstellungsmerkmal und damit auch die Stärke des Buches ist seine Konzentration auf die Sprache, von der die Leisis im Sprach-Knigge schreiben, sie sei »für die Liebe wichtiger als fast alles andere.« (S. 166) Von der Sexualität ist in Paar 1 Im Folgenden wird aus der 4., unveränderten Auflage 2016 zitiert. 8 Vorwort <?page no="9"?> und Sprache auch die Rede, doch sieht sie Leisi als einen Teilaspekt der Liebe und der Paarbeziehung. Er meint sogar explizit, von der »sprachlosen Liebe« gebe es zwei sich widersprechende Vorstellungen, denn sie könne »einerseits als etwas traumhaft Schönes, anderseits als etwas verächtlich Tierisches gelten.« (S. 25). Und etwas später: »Mann kann also das Kriterium der Sprache (wenn auch wahrscheinlich nicht allein) dazu verwenden, die beiden Begriffe Sexualität und Erotik voneinander abzugrenzen.« (S. 28) Aus diesem Ansatz ergibt sich, dass die sprachlose Liebe und auch abgründigere (»tierische«? ) Formen der Sexualität im Buch wenig Beachtung finden. Dies darf nicht überraschen: Zu sprachlosen Spielarten von Liebe und Sexualität gibt es in einem Buch mit dem Fokus »Sprache« nicht viel zu sagen, und für die Darstellung solcher Spielarten sind Medien, die nicht oder nicht nur auf die Sprache abstellen, besser geeignet. 2 Leisi war auch mit dem elementaren soziolinguistischen Problem der Datenerhebung konfrontiert: Wie lassen sich spontane sprachliche Äusserungen bzw. Interaktionen beobachten und beschreiben, ohne dass sie schon durch den Akt der Beobachtung selbst verfälscht werden? Ich habe seine drei Methoden oben kurz erwähnt: die Datensammlung in einem Seminar, Introspektion und Anekdotisches und schliesslich Beispiele aus der (Welt-)Literatur. Leisi handhabt die mit Studierenden erhobenen Daten mit - aus soziolinguistischer Sicht - sehr leichter Hand: Aus den von jungen Leuten genannten »privaten« Kosenamen für Partnerinnen und Partner etwa wählt er hundert, »absichtlich nicht völlig systematisch geordnet« (S. 30). Mit seinen vielen Beispielen aus der Literatur verwendet er zudem Daten, die aus streng linguistischer Sicht nicht »natürlich« sind. Es sind aber gerade die letzteren, die dem Buch seinen ganz besonderen Reiz geben, denn niemand würde schliesslich bestreiten, dass Schriftstellerinnen und Schriftsteller 2 Man denke hier zum Beispiel an Filme wie Last Tango in Paris (1972) von Bernardo Bertolucci oder Intimacy (2001) von Patrice Chéreau, nach Texten von Hanif Kureishi. Vorwort 9 <?page no="10"?> ein ausgeprägtes Sensorium für Zwischenmenschliches haben und Paarbeziehungen mit all ihren Nuancen auf eindrückliche, ja einmalige Art darstellen können. Der äusserst belesene Ernst Leisi schöpft hier aus dem Vollen und illustriert seine Thesen mit einer Fülle von treffenden, stets gut kontextualisierten Beispielen, die bei ihm neben Szenen aus Dramen und Romanen sowie Gedichten auch Opernlibretti, Filme und Texte der populären Musik einschliessen. Dies zeigt etwa ein Blick auf das Register der Namen: Unter dem Buchstaben B beispielsweise finden sich hier - durch das Alphabet vereint - Johann Sebastian Bach, die Beatles, Gottfried Benn, Alban Berg, Ingmar Bergmann, Heinrich Böll, Karl Friedrich Boree, Malcolm Bradbury, Bert Brecht, Friederike Brion, Charlotte Brontë, Robert Burns und Lord Byron. Leisis Paar und Sprache ist - auch - ein Führer durch Liebesszenen in der Weltliteratur, der Lust macht, zu den Originalen zurückzugehen. Würde Leisi sein Buch heute schreiben, könnte er vermutlich auf eine Quelle zurückgreifen, die ihm damals nicht zur Verfügung stand. War die schriftliche Liebeskommunikation zu seiner Zeit nur mit literarischen Beispielen und mit - in der Regel nicht veröffentlichten - Liebesbriefen festzumachen, 3 so könnte er heute auf neue Formen der informellen, ja privaten Kommunikation zurückgreifen: SMS sowie die vielen Spielarten sozialer Netzwerke wie Facebook oder Twitter. Stark verändert hat sich seit 1978 auch der Blick auf das Thema Geschlecht bzw. Gender. Das »Paar« besteht bei Leisi ganz selbstverständlich aus einem Mann und einer Frau, und die Paarbeziehungen, von denen er schreibt, sind grundsätzlich auf Dauer angelegt. In den 1970er-Jahren, als Leisi sein Buch schrieb, war die Diskussion zu den Themen Geschlecht / Gen- 3 Auf S. 85 erwähnt Leisi »Liebesbrief, Kontaktanzeige, Liebesgedicht, Opernarie und erotische Literatur« als Beispiele von » › langfristiger ‹ erotischer Argumentation«. Zum Liebesbrief vgl. die beiden von Eva Lia Wyss herausgegebenen Bände Leidenschaftlich eingeschrieben: Schweizer Liebesbriefe (München: Nagel & Kimche, 2006) und Communication of love: mediatized intimacy from love letters to SMS. Interdisciplinary and historical studies, Cultural and media studies (Bielefeld: transcript, 2014). 10 Vorwort <?page no="11"?> der und, als Teilaspekt davon, Sprache und Geschlecht schon im vollen Gang. In Paar und Sprache spürt man allerdings wenig von dieser Thematik: Leisi schreibt seinem eigenen Bekunden nach (S. 19) als »Angehöriger der jetzt [also im Jahr 1978] älteren Generation«, und seine Versuche »auch den weiblichen Standpunkt zu verstehen«, könnten - positiv - als väterlich-liebevoll oder - kritisch - als altmodisch-paternalistisch gewertet werden. 4 Die Paare, die er im Blick hat, gibt es selbstverständlich noch, aber es sind nicht die einzigen. In der Einleitung zu seinem Buch (S. 17 - 21) schreibt Leisi, es gebe »Annäherungen« zum Thema Paar und Sprache »von wenigstens vier Seiten«, nämlich von der Soziolinguistik, der Kommunikationsforschung, 5 der angewandten Psychologie und der Sexualkunde her. Er kommt aber zum Schluss, dass sein Thema »nur eben von aussen leicht berührt« werde, dass »die Mitte« jedoch leer bleibe. Soweit ich sehe, hat Leisi mit seinem Ansatz keine Nachfolger gefunden, und sein Buch ist ein - funkelnder - Solitär geblieben. 6 Gerade deswegen verdient Paar und Sprache, von neuen Leserinnen und Lesern entdeckt zu werden. Es füllt die von Leisi monierte Lücke - auch heute noch. *** 4 Dazu zwei Beispiele: »Ein Wort noch zur Rollenverteilung zwischen männlichen und weiblichen Partnern. Aus unseren Beispielen geht hervor, dass eher der Mann der Werbende ist. Dies ist wohl nicht, wie heute oft gemeint wird, eine veränderbare gesellschaftliche Konvention, sondern etwas was tiefer, ins biologisch Vorgegebene, hineinreicht. [. . .]« (S. 75), und »Aber nicht selten geschieht es auch, dass › Bildung ‹ als Belastung auftritt, dann nämlich, wenn sie in Gestalt von sprachlicher Vorwegnahme (beim Manne oft zusammen mit einem Schuss Schulmeisterei) den kommenden realen Erlebnissen die Spontaneität nimmt« (S. 162). 5 Hier käme noch die von Leisi nicht erwähnte Pragmatik hinzu. 6 Hingewiesen sei jedoch auf zwei Sammelbände zum Thema Sexualität (und Sprache): Rudolf Hoberg, Hrsg., Sprache - Erotik - Sexualität (Berlin: Erich Schmidt, 2001) sowie Rainer Hornung, Claus Buddeberg, Thomas Bucher, Hrsg., Sexualität im Wandel (Zürich: vdf, 2003). Vorwort 11 <?page no="12"?> Der 1918 geborene Ernst Leisi studierte an der Universität Zürich Anglistik und Germanistik, wurde 1945 promoviert und machte dann von den neuen Freiheiten Gebrauch, die sich nach dem Ende des 2. Weltkriegs auftaten: Von 1946 bis 1950 war er Lektor für Deutsch an den Universitäten von Bristol und Cambridge, 1950 habilitierte er sich in Zürich, von 1952 bis 1956 lehrte er an der Universität Kiel (zuerst als Gastdozent, dann als ausserordentlicher Professor) und 1956 wurde er als Nachfolger seines Lehrers Eugen Dieth an die Universität Zürich berufen. Dort wirkte er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1984; er starb im Jahr 2001. 7 Leisi wurde weitherum bekannt durch eine Reihe von Büchern, die sich an ein linguistisches Fachpublikum und an Studierende wandten, aber auch von interessierten Laien mit Gewinn gelesen wurden. Den Anfang machte seine Habilitationsschrift Der Wortinhalt: Seine Struktur im Deutschen und Englischen (Heidelberg: Quelle & Meyer, 1953), gefolgt von Das heutige Englisch: Wesenszüge und Probleme (Heidelberg: Carl Winter, 1955), Praxis der Englischen Semantik (Heidelberg: Carl Winter, 1973) und schliesslich Paar und Sprache: Linguistische Aspekte der Zweierbeziehung (Heidelberg: Quelle & Meyer, 1978). Alle diese Bücher wurden zum Teil mehrmals neu aufgelegt, was sowohl ihre Beliebtheit wie auch ihre Langlebigkeit bezeugt; Der Wortinhalt und Das heutige Englisch wurden ins Japanische, der Wortinhalt auch ins Französische übersetzt. Leisis Zugang zur Sprachwissenschaft ist charakterisiert durch eine Reihe von Merkmalen, die sich in all diesen Büchern finden: Anhand von Beobachtungen stellt er originelle Fragen, die oft durch den Vergleich des Englischen mit dem Deutschen geschärft werden. Er sammelt Material und ana- 7 Zu Leisi vgl. die beiden ihm gewidmeten Festschriften: Richard J. Watts, Urs Weidmann, Hrsg., Modes of Interpretation: Essays Presented to Ernst Leisi on the Occasion of his 65th Birthday (Tübingen: Narr, 1984; ohne Bibliographie); Udo Fries, Martin Heusser, Hrsg., Meaning and Beyond: Ernst Leisi zum 70. Geburtstag (Tübingen: Narr, 1989; mit Bibliographie). Vgl. auch Andreas Fischer, Es begann mit Scott und Shakespeare: Eine Geschichte der Anglistik an der Universität Zürich (Zürich: Chronos, 2016). 12 Vorwort <?page no="13"?> lysiert es dann anhand von - etablierten, manchmal auch ad hoc entwickelten - theoretischen Konzepten. Sein Denken ging immer von der Beobachtung und der Materialsammlung hin zur Analyse und Theoriebildung. Seine Darlegungen sind stets anschaulich und nachvollziehbar, was den Erfolg seiner Bücher mindestens zum Teil erklärt. Von seinem wachen Blick für sprachlich Interessantes zeugen auch Aufsätze und - meist in der Neuen Zürcher Zeitung publizierte - Artikel mit Titeln wie »Verständigung von Fahrer zu Fahrer: Ein Diskussionsbeitrag zur Verkehrssicherheit« (1968), »Sprachliche Vorwegnahme - ein Aspekt unserer Kultur« (1972), »Sprachliches Glatteis. Missverständnisse bei Prüfungen und Umfragen« (1976), »Falsche Daten hochpräzis verarbeitet. Sprachliche Fehlerquellen bei Zählungen und Testfragen« (1985) oder »Die Libretto-Übersetzung. Plädoyer für ein Stiefkind der Forschung« (1986). Eine Auswahl davon erschien unter dem Titel Streiflichter: Unzeitgemässe Essays zu Kultur, Sprache und Literatur (Tübingen: Gunter Narr, 1995). Nicht zuletzt für diese Vermittlungsarbeit erhielt Ernst Leisi 1987 den Journalistenpreis des Deutschen Anglistenverbandes, der in jenem Jahr zum ersten Mal vergeben wurde. Ein zentrales Forschungsgebiet von Ernst Leisi war auch die Sprache Shakespeares. 1964 veröffentlichte er eine damals ganz neuartige Ausgabe von Measure for Measure, deren Besonderheit mit dem Untertitel »An Old-Spelling and Old-Meaning Edition« angezeigt wird. Die aus durch den Vergleich mit anderen Stücken von Shakespeare und mit weiteren zeitgenössischen Texten erschlossenen »alten« und damit von Shakespeare intendierten Worbedeutungen sollten Leisi sein ganzes Leben lang beschäftigen. Sie waren sein Hauptbeitrag zu der von ihm mitbegründeten Englisch-deutschen Studienausgabe der Dramen Shakespeares (seit 1976, jetzt verlegt vom Stauffenburg Verlag), und sie sind gesammelt im Buch Problemwörter und Problemstellen in Shakespeares Dramen (Tübingen: Stauffenburg, 1997). Vorwort 13 <?page no="15"?> Ernst Leisi Paar und Sprache <?page no="17"?> Zum Thema Die Paarbeziehung gehört ohne Zweifel zu den wichtigsten Beziehungen, deren der Mensch fähig ist. Bedeutende Erlebnisse, ganze Schicksalswendungen sind mit ihr verknüpft; wie kaum eine andere Beziehung erweckt sie die schöpferischen Kräfte des Menschen. Innerhalb dieser Beziehung spielt die Sprache eine sehr wichtige Rolle. Ein dauernd schweigendes Paar ist bei normal Sprachbegabten nicht denkbar. Die Beziehung wird weitgehend durch Sprache angebahnt; an ihrem weiteren Verlauf ist die Sprache stets beteiligt. Ob die Beziehung fortdauert oder zusammenbricht, kann von sprachlichen Dingen abhängen. Man würde erwarten, daß es angesichts der Wichtigkeit der Sprache für die Paarbeziehung eine Fülle von wissenschaftlicher oder populärer Literatur zu diesem Thema gibt. Diese Erwartung trügt. Trotz des gegenwärtig hohen Interesses einerseits für Linguistik, anderseits für alles, was mit dem Sexualbereich zusammenhängt, gibt es solche Literatur unseres Wissens nicht. Was es gibt, sind Annäherungen, und zwar von wenigstens vier Seiten. Die Soziolinguistik 1 , die sich mit den sozialen Aspekten der Sprache beschäftigt, behandelt u. a. Gruppensprachen - das Paar ist ebenfalls eine Gruppe. Ihr Hauptinteresse liegt indessen heute nicht bei den kleinen und kleinsten Gruppen, sondern bei den großen Einheiten wie zum Beispiel den sozialen Schichten. Die Kommunikationsforschung 2 geht in der Regel vom Modell einer Sprecher-Hörer-Beziehung aus, also von zwei Partnern. Doch ist bekanntlich für die normale Kommunikation keine besondere oder gar innige Beziehung notwendig; es kann sich um momentane Kontakte sonst unverbundener Gesprächspartner handeln. So kann die Kommunikationswissenschaft zwar sehr nützliche Erkenntnisse bringen; aber ins Zentrum unseres Themas zielt sie nicht. Eine Ausnahme bilden die Werke, die einen aus der Psychologie abgeleiteten Kommunikationsbegriff gebrauchen; siehe den nächsten Abschnitt. <?page no="18"?> Die angewandte Psychologie hat unter anderem eine große Anzahl von beratenden Büchern hervorgebracht, deren Anliegen es ist, kranke Beziehungen, z. B. Ehen, zu heilen oder wenigstens zu bessern. In diesen ist vielfach auch von der Sprache die Rede, aber mehr in großen Zügen und vor allem im Hinblick auf Störungen. 3 Trotz der sehr umfangreichen Literatur zur Sexualkunde ist von hier aus für unser Thema nicht allzuviel zu erwarten. Einerseits gibt es eine große Menge von sexuellen Anleitungsbüchern; in diesen treten aber die sprachlichen Verhaltensweisen gegenüber den nichtsprachlichen meist ganz in den Hintergrund - was angesichts der Wichtigkeit der Sprache für das sexuelle Geschehen eigentlich merkwürdig ist. Andererseits gibt es zum Thema Sexualität und Sprache mehrere Lexika erotischer Ausdrücke, oft mit großem Fleiß gesammelt. 4 Nun besteht aber die Sprache von Liebespaaren nur zu einem geringen Teil aus direkt sexuellen Ausdrücken; sie erschöpft sich auch nicht in Einzelwörtern und hat viele schöpferische Aspekte, denen man durch Sammeln von Wörtern nicht gerecht wird. So finden wir denn von mehreren Seiten her Annäherungen; aber unser Thema wird nur eben von außen leicht berührt, die Mitte bleibt leer. Die Grundfrage: »Wie redet ein Paar? «, oder noch etwas weiter gefaßt: »Welche Rolle spielt die Sprache in der Paarbeziehung? « bleibt noch zu beantworten; mindestens ist sie einmal zu stellen. Das Thema ist allgemein menschlich und deshalb fast grenzenlos. Man kann nicht erwarten, daß auf Anhieb alles Wesentliche, was sich dazu denken und sagen läßt, hier behandelt werde. Wir werden uns vorläufig einzuschränken haben, und zwar sowohl was die Aspekte als was die Perspektive betrifft. Ich beschränke mich auf einige Aspekte, die mir für das Thema Paarbeziehung und Sprache besonders wichtig scheinen. Sie sind im folgenden einzeln genannt. Einmal läßt sich feststellen, daß Paare unter sich meist eine besondere »Sprache«, eine Art von Privatcode gebrauchen, der sich im Lauf der Beziehung entwickeln und fortbilden kann: 18 Zum Thema <?page no="19"?> Menschen, Dinge und Vorgänge werden neu und anders benannt. Ein schöpferisches Spiel mit der Sprache kann sich daran anschließen. Sodann beobachten wir, daß Sprache ein starkes erotisches Stimulans sein kann; sie kann, fast mehr als jedes andere Mittel, erregend wirken, so wie sie anderseits auch abkühlen kann. Wichtig ist weiter, daß das Lieben (in Gefühlen und Handlungen) nur zum Teil ein Naturvorgang und auch nur teilweise etwas völlig Individuelles ist, daß es sich vielmehr oft an bereits vorhandene sprachliche Muster anlehnt (Romane, Gedichte, Schlager). Wir nennen dies: Lieben nach Texten. Unter den vielfältigen Störungen, denen eine Beziehung ausgesetzt sein kann, gibt es viele, die sprachlicher Herkunft sind; diese gilt es zu untersuchen. Bei länger dauernden Beziehungen endlich gewinnt die Sprache als Mittel der Erinnerung eine besondere Bedeutung: sprachliche Formulierungen, gemeinsam geschaffen, können die Wirkungen der Zeit zum Teil überwinden, die Beziehung und den Partner frisch erhalten. Diese fünf Aspekte - Privatcode, erotisches Stimulans, Lieben nach Texten, Störungen, Erinnerung - sollen hier behandelt werden; mehr erwarte man nicht. Nicht nur in den Aspekten ist die Arbeit eingeschränkt, sondern auch in ihrer Perspektive. Es ist begreiflicherweise unmöglich, umfassend zu sein, das heißt, über die verbalen Gewohnheiten aller Völker und Schichten gleich objektiv zu berichten. Hier redet: ein Mitteleuropäer, ein (mehr oder weniger) Intellektueller, ein Angehöriger der jetzt älteren Generation, der aber guten Kontakt mit jungen Menschen hat, schließlich: ein Mann, der aber versucht, auch den weiblichen Standpunkt zu verstehen. Aus dieser Perspektive ist das Buch geschrieben; es steht jedermann frei, das Thema aus einer anderen oder umfassenderen Perspektive weiter zu behandeln. Eine zusätzliche Schwierigkeit unseres Gegenstandes liegt in der »Materialbeschaffung«. Nur wenige Menschen wollen so Persönliches wie ihre Privatsprache anderen mitteilen. Auch Zum Thema 19 <?page no="20"?> wird ein Informant schwerlich zugeben, daß »seine« Liebe durch ein bestimmtes literarisches Muster angeregt und geformt sei. Es gibt also Probleme bei der Beschaffung der »Daten«. Wir haben diese auf zweierlei Weise zu umgehen gesucht; einmal dadurch, daß wir bei Umfragen immer für Anonymität gesorgt haben, anderseits dadurch, daß wir uns bei manchen Erscheinungen auch auf literarische Darstellungen stützen. Es sei aber festgehalten, daß wir im Prinzip den lebenden Menschen, sein Verhalten und seine Sprache betrachten wollen, nicht die literarische Figur. Diese ziehen wir als Beispiel für wirkliches, außerliterarisches Verhalten heran, so wie es etwa Freud getan hat, wenn er in seiner »Psychopathologie des Alltagslebens« berichtet, wie Figuren Shakespeares oder Schillers durch Fehlleistungen ihr Inneres verraten. Dabei haben wir stets gefragt: gibt es dazu in der außerliterarischen Welt Parallelen, könnte so etwas wirklich vorkommen? Eine erste Skizze zu diesem Buch entstand 1970 . Das Thema wurde später wieder aufgenommen und, als die ungefähre Anlage feststand, im Rahmen eines Seminars »Zur Sprache der Kleingruppe« im Sommer 1977 weiterbehandelt. Die Mitglieder dieses Seminars haben mir ganz wesentlich geholfen, indem sie über Teilthemen referierten, Umfragen veranstalteten und Anregungen gaben. Den nachstehend Genannten bin ich zu Dank verpflichtet: Brigitte Angst, Peter Baumann, Iva Borovicka, Elisabeth Brodmann, Carmelina Conoci, Brigitte Dissler, Hannes Friedli, Yvonne Fürst, Michael Ganz, Béatrice Gerber, Felix Griesser, Helene LaRue Gürber, Heidi Hablützel, Gary Hayes, Peter Hegetschweiler, Anne Herrmann, Susanne Hess, Margaretha Hildebrand, Margrit Hiltebrand, Maya Hofer, Christoph Hohl, Pia Horlacher, Irène Hutter, Rolf Kolb, Philipp Krähenmann, Christof Kunz, Guido Kuster, Dorothee Luginbühl, Regula Lüthy, Fritz Lutz, Eva Maurer, Ursula Merz, Beat Neuenschwander, Anne Marie Nielsen, Edgar Marc Petter, Una Röhr, Walter Roth, Rex Schenk, Max Schiendorfer, Gerlinde Schurter, Harold Schweizer, Margrith Sieber, Anne Merete Skov, Elisabeth Spirk, Thomas Spörri, Irene Stiefel, Balthasar 20 Zum Thema <?page no="21"?> Störi, Felix Sträßler, Martin Striegel, Markus Stuber, Rati Thurnheer, Susann Treichler, Pierrette Ullmann, Walter Vaterlaus, Ursula Verhein, Beatrix Weber, Thomas Weber, Walter Weber, Paul Weibel, Conrad Weiss, Robert Züger, Markus Zürcher. Sehr dankbar bin ich auch Annabeth Hinderling, Stefanie Meier und Beat Schenk für die Durchsicht des Manuskripts und der Korrekturen. Pfaffhausen bei Zürich, Frühjahr 1978 . Ernst Leisi Zur 4 . Auflage In der 2 ., 3 . und 4 . Auflage wurden im Text einige Druckfehler und mißverständliche Formulierungen korrigiert; die Bibliographie wurde um einige neue Titel vermehrt. Pfaffhausen, Herbst 1992 . Ernst Leisi Zum Thema 21 <?page no="23"?> 1 . Der Privatcode a) Privatsprache und Zusammenhalt Ich beginne mit einer Komödien-Episode und einer These. Bei vielen Menschen taucht in einer früheren oder späteren Phase der Paarbeziehung allmählich oder plötzlich die Frage auf: »Liebe ich ihn wirklich? «, »Liebe ich sie wirklich? «. Man müht sich um die Beantwortung, manchmal allein, manchmal zusammen mit einem Ratgeber. Es regt sich der Wunsch nach einem einfachen Kriterium, mit dessen Hilfe man über sich selbst klar werden könnte, nach einem Test. In Somerset Maughams Komödie »The Constant Wife« (deutsch meist unter dem Titel: »Finden Sie, daß Constanze sich richtig verhält? «) wird ein solcher »Test« angeboten, der mindestens nicht der schlechteste ist. Die junge Frau weiß nicht, ob sie den Mann liebt, mit dem sie verreisen will. Sie berät sich mit ihrer Mutter. Mutter: Are you in love with Bernard? Constanze weiß es nicht genau. Mutter: Could you use his toothbrush? Constanze: No. Mutter: Then you are not in love with him. Der Zahnbürsten-Test ist nicht übel. Er gibt sicher schon einiges her. Ob er aber heute unterscheidend genug ist, ist zweifelhaft. Es sei deshalb, vorerst versuchsweise, ein anderer »Test« vorgeschlagen. Die Frage geht nicht mehr auf die Gemeinsamkeit der Zahnbürste, sondern auf die Gemeinsamkeit eines wichtigeren Instruments: der Sprache. Sie lautet: »Habt Ihr untereinander einen Privatcode, einen Schatz von Ausdrücken und Bedeutungen, der Euch allein gehört? Wenn ja, so liebt Ihr Euch. Wenn nein, dann nicht.« Dieser Code-Test wurde (in einer der Erkenntnis durchaus förderlichen Atmosphäre zwischen Scherz und Ernst) mit Studenten <?page no="24"?> besprochen. Man äußerte sich etwa so: Er sei bereits besser als der Zahnbürsten-Test, noch unvollkommen (wie alle Tests), besonders, weil es außer der Sprache noch viele Formen geben kann, in denen sich der Zusammenhang eines Paares ausdrückt. Aber es sei etwas daran; müßte man einen einzigen Test wählen, dann noch am ehesten diesen. Natürlich ist, dies wurde auch gesagt, die Vorstellung von einem einzigen, ein für allemal wirksam entscheidenden »Liebestest« naiv. Es gibt ihn so wenig wie den Liebestrank. Es kann ihn nicht geben. Die Formen erotischer Beziehung sind zu vielfältig, und das Wort Liebe ist lediglich ein Versuch, sie in eins zusammenzufassen; jedes Wort beschneidet, engt ein, vernachlässigt das Individuelle an einer Erscheinung - dies ist eine Grunderkenntnis der Semantik 5 . Zwischen Liebe und Nichtliebe gibt es die verschiedensten Übergangs- und Mischformen. Nicht erst seit Freud, sondern spätestens seit Catull wissen wir, daß man zugleich lieben und hassen kann: Odi et amo, quare id faciam fortasse requiris. Nescio, sed fieri sentio et excrucior. 6 Dennoch ist an unserem hypothetischen Code-Test »etwas dran« - wir beobachten an uns selbst und an anderen, daß Liebende eine Privatsprache besitzen, daß für sie manche Wörter eine andere Bedeutung haben (wobei Bedeutung im rein semantischen Sinne verstanden werden kann als › Anwendbarkeit auf etwas ‹ , aber auch im Sinne von › Bedeutsamkeit ‹ , › Wichtigkeit ‹ ), und daß Liebende sprachlich oft in unerwarteter Weise schöpferisch werden. Liebe und Privatcode gehören also doch irgendwie zusammen. Welches ist die Art ihrer Beziehung? Stehen sie vielleicht sogar in einem direkten › proportionalen ‹ Bezug, gilt die These: je intensiver der Privatcode, um so enger die Beziehung: »Kohärenz proportional zur Code-Intensität«? Zu dieser These einige Gedanken. Zunächst muß einem möglichen Mißverständnis begegnet werden. »Intensität des 24 Der Privatcode <?page no="25"?> Codes« darf natürlich keinesfalls verwechselt werden mit »Menge des Gesprochenen«. Unter Intensität des Privatcodes verstehen wir das Maß dessen, was die Sprache eines Paares von der allgemeinen Sprache abhebt. Ob das Paar überhaupt viel oder wenig spricht, hat damit nicht direkt zu tun. Die Menge des Gesprochenen ist aber in unserem Zusammenhange dennoch interessant. Es gibt hier ein Zuviel, das der Beziehung schadet, und anderseits ein Minimum, ohne das sich eine Beziehung kaum denken läßt, also Begrenzungen auf zwei Seiten, und darüber muß hier kurz gesprochen werden. Daß man eine Beziehung ertöten kann, indem man zuviel über sie spricht, sie zerredet, oder indem die Partner (einer oder beide) überhaupt zu viel reden, ist offensichtlich; wir werden im Kapitel über die Störungen darauf zurückkommen. Das andere Extrem wäre das der »stummen Liebe«, der Liebe, die überhaupt keiner Worte bedarf. Gibt es sie, so ist die Sprache kein notwendiges Ingrediens der Paarbeziehung, und unser Thema verliert an Wichtigkeit. Nun ist es in diesem Zusammenhang sehr interessant, daß über die »sprachlose Liebe« zwei verschiedene Vorstellungen bestehen, die sich in zwiespältiger Weise widersprechen. Sie kann einerseits als etwas traumhaft Schönes, anderseits als etwas verächtlich Tierisches gelten. Sehr viele Menschen haben schon den folgenden Wunschtraum vor sich hingeträumt, oder sie haben ihn in literarischer Form begierig aufgenommen: Du bist in einer fernen, fremden Stadt (vielleicht Bagdad), ein wundervolles Wesen begegnet dir, ein einziger Blick sagt alles, du folgst ihr/ ihm in ein Haus, es wird kein einziges Wort gesprochen - Seligkeit. - Mit einer solchen Erzählung versucht Irma la Douce (in dem bekannten Film) ihren (scheinbar) müden Gast frisch zu machen (vgl. das Kapitel: Sprache als erotisches Stimulans); es gibt viele Stellen in der erzählenden und lyrischen Literatur, welche diesen Traumtypus rein oder angenähert heraufzubeschwören suchen. Unter vielen Beispielen: Arnold Zweig, »Tangente« (Novelle: eine Lilith-Frau begegnet dem Erzähler in einer fremden kleinen Stadt, zuerst intellektuelles Gespräch, dann Liebe ohne Worte); Privatsprache und Zusammenhalt 25 <?page no="26"?> Heinrich Hauser, »Brackwasser« (der Matrose begegnet im Bordellviertel von Tampico einem Mädchen, das ihm wortlos nach Europa folgt); Max Frisch, »Als der Krieg zu Ende war« (darüber ausführlicher unten S. 129 ); man kann an viele Gedichte denken, auch an die Überzeugungskraft der Pantomime und des Balletts; es gibt auch wieder den (fast) stummen Liebesfilm (»Der Tod in Venedig«); viele Einzelstellen wie etwa »mysterious silence« (in Lawrence, »Lady Chatterley«) deuten auf die »sprachlose Liebe«. In der Fernsehnsucht junger Menschen spielt sehr oft dieser Wunschtraum mit: daß die Sprache wie Kleider abfalle, daß nur Wesentliches verbleibe; daß man - ohne irgendwelche mit anderen geteilte konventionelle »Hilfsmittel« - allein um seines individuellsten und persönlichsten Kerns willen geliebt werde. Tatsächlich kann dieser Traum wenigstens teilweise verwirklicht werden. Unkenntnis oder mindestens nur dunkle Kenntnis der Sprache des Partners kann die Liebe unter Umständen viel nachdrücklicher erwecken als die leichte, mit »Konventionen« gesättigte (und soziale Bedingtheit verratende) Normalkommunikation Gleichsprachiger - weil die Sprache gewissermaßen neu geschaffen und in den Augen der Partner »rein« wird, und natürlich auch, weil die übrigen Mittel der Kommunikation (die sogenannten paralinguistischen Mittel) wie Blicke, Mienen, Gebärden, Berührungen, notwendigerweise aktiviert werden müssen. Dies sind wenigstens einige Gründe dafür, daß sich Ungleichsprachige leicht ineinander verlieben; hierüber ausführlicher S. 128 f. Der Traum von der sprachlosen Liebe ist also so gut wie realisierbar - aber dauern kann er auf keinen Fall. Nur die allerkürzeste Paarbeziehung kann sprachlos bleiben. Ist die Beziehung von einiger Dauer, so wird sich Sprache notwendigerweise wieder einstellen; bekanntlich ist ja schon eine leichte Verliebtheit für die Aneignung einer Fremdsprache förderlicher als alle Techniken und Medien der professionellen Sprachvermittlung. 26 Der Privatcode <?page no="27"?> Gilt die sprachlose Liebe einerseits als etwas traumhaft Schönes, so kann sie anderseits auch als etwas Tierisches, für den Menschen Unwürdiges angesehen und dargestellt werden. Wenige Jahre nachdem Marlowe in »Hero and Leander« den Satz »true love is mute« (wahre Liebe ist stumm) hinschreibt (worauf dann freilich Leander Hero mit einer langen Ansprache überredet), erscheint in Shakespeares »Cymbeline« (II 5 9 ) die folgende Stelle - es spricht Posthumus, der meint, seine Frau Imogen, die er fast allzu schamhaft glaubte, habe ihn mit Iachimo in grober Weise betrogen - : Me of my lawful pleasure she restrained And prayed me oft forbearance - did it with A pudency so rosy, the sweet view on ’ t Might well have warmed old Saturn - that I thought her As chaste as unsunned snow. O, all the devils! This yellow lachimo in an hour, was ’ t not? Or less? At first? Perchance he spoke not, but Like a full-acorned boar, a German one, Cried ’ O! ’ and mounted . . . 7 Zentral, und in unserem Zusammenhang wichtig ist das he spoke not: In der krankhaften Eifersucht, die sich den Akt des Ehebruchs so widerlich wie nur möglich vorstellt, gibt es nur ein kurzes Aufbrüllen, aber keine Sprache mehr. Tierische Sexualität, nicht mehr Erotik. Der heutige Sprachgebrauch macht es übrigens schwer, zwischen den beiden Begriffen Sexualität und Erotik zu unterscheiden. Soviel aber kann man mit einiger Gewißheit sagen: das Tier hat Sexualität, aber nicht Erotik. Erst beim Menschen kann man von Erotik reden; sie ist etwas spezifisch Menschliches, etwas, bei dem die Sexualität zwar da ist, aber bereichert ist durch eine Anzahl von Zügen, die über das zur Fortpflanzung Notwendige hinausgehen: eine schwer zu beschreibende ästhetische Komponente und eben, als Proprium des Menschen, die artikulierte Sprache mit ihren nur dem Menschen vorbehaltenen Möglich- Privatsprache und Zusammenhalt 27 <?page no="28"?> keiten. 8 Man kann also das Kriterium der Sprache (wenn auch wahrscheinlich nicht allein) dazu verwenden, die beiden Begriffe Sexualität und Erotik voneinander abzugrenzen. Wir sind ausgegangen von der Frage: gibt es eine Paarbeziehung ohne Sprache. Von zwei Seiten her kommen wir zur Meinung, daß Sprache fest zu einer Paarbeziehung gehört. Eine Beziehung ohne Sprache grenzt einerseits ans Tierische, andererseits ist sie als »wortloses Verständnis«, »Empathie«, »Einheit in der Zweiheit« ein Wunschtraum, der sich nicht auf die Dauer verwirklichen läßt. Für die normale, spezifisch menschliche, einigermaßen dauernde Paarbeziehung ist die Sprache notwendig. Da nun Sprache und Lieben in der Regel verbunden sind, welcher Art ist nun die Beziehung zwischen ihnen? Oder genauer (wobei wir uns an den »Code-Test« erinnern): Ist es so, daß der Zusammenhang (die Liebe) die Entstehung eines spezifischen Paar-Codes bewirkt (Kohärenz Code), oder ist es umgekehrt so, daß ein gemeinsamer Code die Liebe, den Zusammenhang fördert (Code Kohärenz)? Man könnte an ein dialektisches Verhältnis denken, wie es etwa Whorf für den Zusammenhang zwischen Sprache und Kultur postuliert hat 9 . Noch besser aber ist eine andere Antwort: die Frage ist nicht ganz richtig gestellt. Wir können doch den Zusammenhang oder die Liebe eines Paares nicht anders bemerken als durch ihre »Symptome« oder »Komponenten«, und dazu gehört auch der Privatcode. Der Code ist also weder Folge noch Ursache des Zusammenhangs, sondern vielmehr ein Teil davon. Dies würde wohl auch der Soziologe bestätigen: der Zusammenhang einer Gruppe läßt sich praktisch nur beschreiben durch »gruppenspezifische Verhaltensweisen«. Dazu gehören in unserem Falle: Blicke, Gebärden, Berührungen, Geschenke und vieles andere, an wichtiger Stelle sicher: ein besonderes Sprachverhalten. Dieses gilt es nun im folgenden genauer zu betrachten. 28 Der Privatcode <?page no="29"?> b) Neue Namen Was in einer Paarbeziehung fast nie fehlt, was vielleicht das Auffälligste an der Privatsprache eines Paares ist, das sind die neuen Namen, die sich die Partner gegenseitig geben. Zum Beispiel kann ein Mann seine Partnerin so nennen 10 : Müsli, Muus, Zuckermüsli, Häsli, Häschen, Büseli, Büsi, Ente, Watschelente, Spätzli, Chatz, Chatzli, Schnäggli, Äffli, Lüsli, Fröschli, Mauz, Hamster, Butz, Munggi, Chäferli. Ampel, Öfchen, Paketchen, Luftballönli, Puttchen, Schläckstängli, Schnügerli, Schnorrli, Chogeli, Fützilein, Füdeli, Sugus, Flamme, Crèmeschnittli. Bobole, Nanu, Ladli, Gigi, Hagara, Mimeli, Miigi, Schputz, Schmünz, Glongu, Schä, Tschigo, Häxli, Dubeli, Engeli, Kind, Genoveva, Siebenschön, Tausendschön, Siamoise . . . Die Partnerin kann ihren Partner zum Beispiel so nennen: Mutzer, Mutzerli, Mutzli, Tigerli, Tigi, Surimutz, Häsi, Leu, Böckli, Würmli, Igeli, Munggel, Manunggel, Frosch, Kauz, Murrli, Bär, Kater. Bartli, Herzli, Rugi, Mannli, Knorrli, Füdeler, Löffeli, Teddy, Schadibu, Schmüderli, Fui, Pip, Schifferli, Biest, Biestli, Saubiestli, Viech, Viechli, Sauviechli, Chaibli, Schlamper, Aasgeier, Lümpli, Riesli, Tarzan, Kobold, Tabisnuggerli, Teufelchen, Bubi, Jonathan, Pfüder, Chéri, Hedgehogli, Piglet, Pigletli, Pigel, Pigeli . . . Beide Partner können einander zum Beispiel so nennen: Chäfer, Spatz, Mungg, Munggeli, Mümmel, Stern, Herzblatt, Pfüpfli, Dummerli, Schmüüsel, Schnügel, Schnugiputz, Zwergli, Tüfeli, Engel, Liebchen, Ein-und-Alles, Teuerste(r), Holde(r). Honey, Sweetie, Sweetheart, Darling, Sugar . . . 11 Neue Namen 29 <?page no="30"?> Diese hundert Namen, absichtlich nicht völlig systematisch geordnet, genügen als Beispiele. Jeder kann aus eigener Erfahrung noch viele hinzufügen. Oft nennt man sie »Kosenamen«; sie haben aber Funktionen, die über die des Kosens weit hinausgehen. Wir werden in der Folge meistens einfach von »neuen Namen« sprechen. Die Gewohnheit, in der Paarbeziehung neue Namen zu geben, ist wahrscheinlich uralt - auf das Prinzip der Umbenennung kommen wir noch zurück - nur als Beispiel wollen wir noch beifügen, daß auch Othello seine Frau »chuck« (etwa »Hühnchen«) nennt (III 4 49 ), und daß Hamlet seiner Mutter verbietet, sich von seinem Stiefvater wieder »mouse« nennen zu lassen (III 4 183 ). Also eine Fülle von »Material«. Die erste Frage, die sich dazu stellen läßt, ist wohl: »Wie sehen diese Namen aus; kann man sie irgendwie interpretieren? « Schon hier wird sich einiges Überraschende finden lassen. Zu lange wollen wir uns bei dieser auf der Hand liegenden Frage aber nicht aufhalten; wir gehen vielmehr bald weiter zu zwei grundsätzlichen Fragen: Warum überhaupt neue Namen? und: Warum viele neue Namen? Nun aber zur ersten Frage: Wie sehen die »Kosenamen« aus? , wobei wir keine ausgeklügelte Systematik, nur einige Anhaltspunkte geben wollen. Beiläufig wird man feststellen, daß es von Diminutiven wimmelt, und es wird einem dabei wieder klar, daß der Diminutiv nicht vor allem dazu dient, Kleinheit auszudrücken, als vielmehr ein affektisches Verhältnis (so wie man etwa sagt: das ist ein Weinlein! , oder: ich habe dein Spielchen durchschaut) - ähnlich wird übrigens oft auch das englische little gebraucht. Mehr als die Hälfte der Namen sind Metaphern, 12 also Übertragungen, wobei sich sogleich die Frage nach den »Spendgebieten« erhebt. Offensichtlich im Vordergrund, wenn nicht überhaupt an der Spitze, stehen die Tiernamen. Immer wieder fällt bei dieser Gruppe auf, daß die metaphorische Bedeutung zur ursprünglichen in einem geradezu gegensätzlichen Verhältnis stehen kann: Wörter für Tiere, die als solche von vielen Menschen geradezu verabscheut werden, wie Maus und Käfer, 30 Der Privatcode <?page no="31"?> sind traditionelle Liebeswörter, und auch spontanere Bezeichnungen wie Frosch, Laus und Wurm gehen gar nicht in Richtung der klassischen Metaphernlehre mit ihrem »tertium comparationis« d. h. einer postulierten, formulierbaren Ähnlichkeit zwischen dem ersten und dem zweiten Bezeichneten. Es folgen dann erotisch attraktive Körperteile und dann ganz besonders Süßigkeiten - das Bezugsfeld »Kulinarisches für Erotisches« ist ausgedehnt, alt und produktiv: bei Shakespeare zum Beispiel haben die Wörter eat, meat, dish, mutton, beef oft eine erotische Nebenbedeutung 13 - das zum-Fressen-Gernhaben wird auf wechselnde Weise immer wieder ausgedrückt. Gegenstände wie Öfchen und Luftballon, wahrscheinlich auch Paketchen werden dem Vertreter der Psychoanalyse als erotische Symbole erscheinen 14 . Weiter finden sich: ironisch-»edle« Wörter wie Tausendschön, Holder, Holde, fremdsprachige Namen (aus Liebe zur Ironie oder Exotik? ), umfunktionierte Schimpfwörter wie Chaib, Biest, Vieh, Aasgeier - ein gefühlsmäßig ursprünglich negatives Wort kann viel leichter zu einem positiven umfunktioniert werden als ein gleichgültiges, man denkt in diesem Zusammenhang auch an solche Wörter wie lateinisch sacer, das zugleich › heilig ‹ und › verflucht ‹ bedeutet. 15 Bereits tauchen auch Bildungen mit persönlichem Situationshintergrund (einer heißt Löffeli wegen seiner angeblichen Löffel-Schlafstellung) auf, und endlich solche aus der Literatur (Piglet). Davon, wie eine Situation zu einem Wort des Privatcode führen kann, wird noch die Rede sein (S. 53 ff.) und das »Lieben nach literarischen Texten« wird später ein ganzes Kapitel einnehmen (S. 88 ff.) Interessant ist nun der Grad der Originalität unserer Namen. Viele sind traditionell und weit verbreitet: Maus, Schnucki, Käfer, Häschen, ebenso wie Othellos chuck und König Claudius ’ mouse. Manche sind bereits persönlicher; hierzu gehören semantisch kühnere Metaphern wie Sugus (eine Marke von besonders süßen Fruchtkaramellen), oder anderseits formale Veränderungen - so etwa, wenn das traditionelle Schnuckiputz Neue Namen 31 <?page no="32"?> zu Schnugi, Schnügel, oder Butz wird, oder wenn das englische hedgehog mit dem schweizerdeutschen Diminutiv -li versehen wird - über solche spielerischen Weiterbildungen (die keineswegs auf »Intellektuelle« beschränkt sind) wird im Abschnitt über das Sprachspiel noch zu reden sein. Vom linguistischen Standpunkt am interessantesten, ja in gewissem Sinne einzigartig, sind die ungestützten Neuschöpfungen. Ungestützt soll heißen: das betreffende Wort wird nicht durch ein anderes gestützt, läßt sich nicht von einem anderen ableiten. 16 Lassen wir einige Namen weg, die vielleicht doch auf bekannte Wörter zurückführbar sind, so bleiben in unserer Liste immer noch: Schadibu, Schmüderli, Fui, Pip; Nanu, Ladli, Hagara, Mimeli, Schputz, Schmünz, Glogu, Schä, Tschigo. Die Schöpfer solcher Wörter reichen - nicht musikalisch, aber linguistisch - an Mozart heran, der (im Brief an seine Frau Constanze, 6 . Juli 1791 ) so unterschreibt: Dein Stu! - Knaller paller Schnip-schnap-schnur Schnepeperl - Snai! - Der Vergleich mit Mozart will sagen, daß solche ungestützten Neubildungen in einer besonderen Weise schöpferisch seien. Sie sind es tatsächlich, und es ist in der Tat so, daß damit ein besonders interessanter und spezifischer sprachlicher Aspekt der Paarsprache berührt ist. In der gewöhnlichen Sprache, also außerhalb der Paarbeziehung, kommt es nämlich ganz außerordentlich selten vor, daß ein neues Wort ungestützt, d. h. ohne Verbindung zu bereits bestehenden Wörtern, gebildet wird. Wortbildungsprinzipien sind vielmehr entweder die Komposition (Wand-schrank), d. h. die Zusammenstellung von zwei selbständigen Elementen; oder aber die Derivation (Frech-heit), die Verbindung von einem selbständigen mit einem unselbständigen Element. 17 Daneben gibt es einige seltene andere Typen, z. B. die onomatopoetischen 32 Der Privatcode <?page no="33"?> (plumps) oder die lautsymbolischen (Zickzack) Wörter; diese sind aber wenig produktiv. Es gehört zu den typischen Erlebnissen des Linguisten, daß er glaubt, ein ungestütztes Wort gefunden zu haben, und diesen Glauben früher oder später revidieren muß. So berichtet Jespersen 18 von einem Kind, das für › gehen ‹ spontan das Wort eischei gebrauchte. Man meinte, ein völlig neues, ungestütztes Wort gefunden zu haben - fand aber alsbald heraus, daß es sich bloß um die Wörter eins zwei handelte, die gesagt worden waren, als das Kind gehen lernte. Ein anderes Kind gebrauchte bichu für › Kommode ‹ , scheinbar wiederum eine ungestützte »Urzeugung« - diese erwies sich aber als eine Variante von Bücher; die Bilderbücher befanden sich dort. So ist man tatsächlich gezwungen, anzunehmen, daß sozusagen jedes neue Wort irgendwie aus einem schon vorhandenen gebildet ist, sei es durch Komposition oder durch Derivation oder durch irgendeine Form von Variation, und daß es keine sprachliche »Urzeugung« gibt. Dies gilt für die »gewöhnliche Sprache«. Aber es scheint nicht zu gelten für die Paarsprache. Gewiß mag es noch ziemlich viele Fälle geben, in denen sich auch hier eine scheinbare Urzeugung als Ableitung erweist (so soll es sich bei dem Butz unserer Sammlung um eine Rückbildung von Kiebitz handeln). Daß aber Schadibu, Fui, Schä, Schputz, Bobole, Glogu und zahllose andere dieses Typus ausnahmslos von anderen Wörtern abgeleitet seien, das widerspricht aller Wahrscheinlichkeit. Wir dürfen vielmehr mit großer Sicherheit annehmen, daß sie ungestützte, etymologielose »Urzeugungen« sind. Sie sind Versuche, die äußere Gestalt des Wortes, ohne den Umweg über andere Wörter, direkt am Bezeichneten zu motivieren. Vielleicht kann man so sagen: sie versuchen, das ganz Andere, völlig Individuelle des Bezeichneten, in diesem Falle des Geliebten, durch eine irgendwie aus dem Rahmen fallende Lautgestalt auszudrücken. Man könnte solche Lautgestalten analysieren und würde dann möglicherweise auf gewisse Konstanten oder wenigstens Tendenzen kommen. Neue Namen 33 <?page no="34"?> Man redet heute, im Rückgriff auf Humboldt, angeregt durch Chomsky, sehr viel von der Kreativität der Sprache 19 . Diese Kreativität ist tatsächlich ungeheuer, denn sie besteht darin, daß mit einem endlichen Inventar von Wörtern, Regeln und anderen Elementen unendlich viele sprachliche Bildungen erzeugt werden können. Aber: was normalerweise unter sprachlicher Kreativität verstanden wird, ist eine »Kreativität zweiter Ordnung«, sie besteht, z. B. bei der Wortbildung, aus der Fähigkeit zur fast unbegrenzten Ableitung aus etwas Gegebenem. Unsere »Urzeugungen« dagegen verkörpern eine sprachliche Kreativität erster Ordnung, sie sind ex nihilo geschaffen und nicht an schon Vorhandenes angelehnt (nur an die phonologischen Regeln der gegebenen Sprache, die gewisse Lautkombinationen ausschließen, andere zulassen, aber dies ist eine rein negative Restriktion). Das heißt: die Paarsprache ist kreativer als die gewöhnliche Sprache, und zwar nicht nur graduell, sondern in einer grundsätzlich anderen Weise - mindestens in dem kleinen, aber wichtigen Bezirk der Namensgebung. Diese Kreativität ist (wahrscheinlich) nicht auf bestimmte (Bildungs-) Schichten beschränkt. Es entspricht ihr, so viel wir sehen können, außerhalb der Paarbeziehung nichts. Kindliche »Schöpfungen« im sprachlichen Spielalter sind meist Echo-Bildungen, auf jeden Fall Ableitungen. Es ist wahrscheinlich, daß in anderen Kleingruppen, z. B. Familien, »Urzeugungen« vorkommen, doch sind sie gewiß weniger zahlreich, weil die Namensvielheit in der Paarbeziehung sozusagen »eingebaut« ist. c) Warum neue Namen, warum viele Namen? Warum werden überhaupt innerhalb der Paarbeziehung neue Namen gegeben? Und wenn neue Namen, warum sind es meist viele, wo es doch zum Wesen der Bezeichnung gehört, durch eine möglichst eindeutige Beziehung zwischen dem Namen und dem Bezeichneten eine eindeutige Identifikation zu erreichen? Wir werden diese Fragen nicht einfür allemal schlüssig beant- 34 Der Privatcode <?page no="35"?> worten können - es geht hier um irrationale Motive, die in rationaler Sprache nicht ausgeschöpft werden können - aber wir wollen doch einige Vermutungen äußern, indem wir versuchen, die Hintergründe der Namensgebung etwas zu erhellen. Zuerst zur einen Frage: Warum wird, bei Beginn der Paarbeziehung und auch später, der Partner meistens neu benannt, obwohl er doch ganz sicher schon einen Namen hat? Als sehr vagen und allgemeinen Grund könnte man den sprachschöpferischen Impuls nennen, der, wie wir bereits gesehen haben, mit der Paarbeziehung offenbar verbunden ist. Es gibt aber noch andere, bestimmtere Erklärungen. Man kommt bereits etwas weiter, wenn man die Frage »warum neue Namen« einmal umkehrt in: »warum nicht (oder nicht nur) der bisherige Name? «. Es ist nämlich interessant zu sehen, daß zwar tausende von Paaren sich weiterhin mit ihren bisherigen Vornamen anreden, daß aber anderseits bei vielen, vielleicht bei noch mehr Paaren eine gewisse Scheu besteht, den Vornamen des Partners ohne weiteres zu gebrauchen. Und daß anderseits dieser Name Gegenstand hoher Verehrung sein kann. Zuerst einige »berühmte« Beispiele von Namensverehrung. Als Gottfried Keller in seiner Berliner Zeit von einer »ungefügen Leidenschaft« zu der eleganten Rheinländerin Betty Tendering ergriffen wird, schreibt er auf seine Schreibunterlage unzählige Male den Namen Betty, bald einzeln in verschiedenen Schriften, bald als Kette dutzendmal hintereinander als ein Wort, bald zeichnet er ein großes B in Stern und Strahlenkranz. Lewis Carroll, der Verfasser von »Alice in Wonderland«, gibt nicht nur seinem Buch den Namen des von ihm geliebten Mädchens, er beschäftigt sich auch in dem Buch immer und immer wieder mit diesem Namen und formt endlich das Gedicht, mit dem er »Alice in Wonderland« und »Through the Looking Glass« abschließt, als Akrostichon: A boat, beneath a sunny sky Lingering onward dreamily In an evening of July - Warum neue Namen, warum viele Namen? 35 <?page no="36"?> Children three that nestle near, Eager eye and willing ear (. . .) und so fort, bis sich aus den Anfangsbuchstaben der volle Name Alice Pleasance Liddell ergeben hat. 20 Und Alban Berg, von leidenschaftlicher Liebe zu Hanna Fuchs ergriffen, verbindet in seiner »Lyrischen Suite« in immer wieder neuer Weise die Noten H, F, A, B 21 . Was wir hier in besonderer, wenn auch nicht überraschender Form bei Künstlern sehen, spielt sich in einfacher Weise bei vielen Paaren ab: der geliebte Name wird aufgeschrieben, auf Armbändchen getragen, »in alle Rinden« geschnitten, kurz, in einer fast magischen Weise verehrt und »beschworen«. Aber, das bereits angedeutete andere ist auch da: die Vermeidung des ursprünglichen Namens. Es ist zum Beispiel ein weitverbreiteter Brauch, den Partner vor Außenstehenden lediglich als »sie« oder »er« zu bezeichnen, und zwar auch dann, wenn die Situation durchaus eine namentliche Bezeichnung erfordern würde: »Er hat den Husten«, »Sie liebt Musik über alles«. Auch im Verkehr der Partner unter sich besteht oft eine spürbare Hemmung, den ursprünglichen Namen zu gebrauchen. Beides, die Verehrung des alten Namens einerseits und seine Vermeidung anderseits, widersprechen sich nicht; sie deuten vielmehr beide darauf hin, daß der (ursprüngliche) Name des geliebten Menschen vom Alltäglichen abgehoben ist, abgehoben werden muß. Wir sehen hier bereits etwas von Namenstabu und Namensmagie, wovon in anderem Zusammenhang nochmals die Rede sein wird. Hierdurch, durch die Besonderheit des ursprünglichen Namens und die mindestens latent vorhandene Tendenz, ihn zu vermeiden, könnte das Verleihen von neuen Namen schon zum Teil erklärt werden. Noch weiter führt uns die Überlegung, daß der Beginn einer Paarbeziehung zu den ganz wichtigen Schritten im Leben eines Menschen gehört; die Aufnahme dieser Beziehung gehört damit zu jenen wichtigen Übergängen im menschlichen Leben, durch die man gleichsam in einen neuen Bereich 36 Der Privatcode <?page no="37"?> eintritt. Für solche Übergänge haben fast alle Kulturen gewisse Riten herausgebildet, welche unter anderem der Abwehr von Gefahr und der Hervorhebung des Ereignisses dienen; man nennt sie, zurückgreifend auf A. v. Gennep 22 , rites de passage. Und innerhalb der rites de passage ist nun die Verleihung eines neuen Namens eine außerordentlich verbreitete Erscheinung: Das Kind, in Kirche und Gemeinde aufgenommen, erhält im feierlichen Akt der Taufe einen Namen; Päpste, Mönche, Nonnen, Mitglieder von weltlichen Bruderschaften, z. B. Studentenverbindungen, werden beim Eingehen in den neuen Bereich mit festgelegtem Zeremoniell neu benannt - wobei in manchen Fällen der alte Name völlig abgelegt wird. In der Bibel ist die Namensänderung vielfach bezeugt, vor allem dann, wenn der Mensch in eine neue Beziehung zu Gott tritt: Abram wird Abraham (Genesis 17 . 5 ), Sarai wird Sarah (Gen. 17 . 15 ), Simon wird zu Petrus (Matth. 16 . 18 ), Saulus zu Paulus (Apg. 9 und 13 . 9 ). So kann man die Neubenennung zu Beginn der Paarbeziehung als zu den rites de passage gehörig ansehen. Da sie hier eminent privater Natur ist, schleicht sie sich meist fast unbemerkt und ohne Zeremoniell ein. Sie kann aber auch bewußt vorgenommen, ja zu einem kleinen »Taufakt« ausgestaltet werden. Im West-Östlichen Divan (den wir im Zusammenhang mit der Chiffer und dem »Lieben nach Texten« noch mehrmals zitieren werden) heißt es im zweiten Gedicht des Buchs Suleika: Daß Suleika von Jussuph entzückt war, Ist keine Kunst; Er war jung, Jugend hat Gunst, (. . .) Aber daß du, die so lange mir erharrt war, Feurige Jugendblicke mir schickst, Jetzt mich liebst, mich später beglückst, Das sollen meine Lieder preisen, Sollst mir ewig Suleika heißen. Der Dichter setzt - aus der Beglückung, daß er als schon Alternder noch geliebt wird - bewußt einen neuen Namen, Warum neue Namen, warum viele Namen? 37 <?page no="38"?> und zwar übernimmt er ihn aus dem Koran, wo Jussuph (Joseph) und Suleika ein berühmtes Liebespaar bilden; dem Gedicht gab er in einem frühen Verzeichnis den Titel »Liebchen benamst« (S. z. B. Hamburger Ausgabe, Bd. 2 , S. 571 ). Und sozusagen der Symmetrie wegen »benamst« er im darauffolgenden Gedicht auch sich selber neu: Jussuph - für Jugend und Schönheit sprichwörtlich - kommt nicht mehr in Frage; er entschließt sich dann zu Hatem (nach einem gleichfalls berühmten literarischen Vorbild). Die Selbstbenennung ist natürlich die Ausnahme - normalerweise wird der neue Name stets durch den Partner gegeben - wir werden sie aber im Zusammenhang mit dem Lieben nach literarischen Vorbildern wieder treffen. Was steht nun dahinter - warum diese Neubenennung bei wichtigen Lebensübergängen? Einmal kann man, rational argumentierend, sagen, daß ein Mensch durch den Wechsel seines Namens mindestens zu einem Teil aus den gesellschaftlichen Strukturen herausgelöst wird, in denen er sich vorher befunden hat. Mit dem Namen wird man zugeordnet, mit dem Namen wird man schon von den Eltern gerufen, man »hört« auf ihn; das heißt: der Name schafft Zugehörigkeit und nötigt gleichzeitig zur Loyalität gegenüber der ursprünglichen Gruppe. In dem berühmten Dialog in »Romeo and Juliet«, wo es um Macht und Ohnmacht des Namens geht (II 2 47 ), ruft Juliet: »Romeo, doff thy name! « - doff steht normalerweise für das Ablegen eines Kleidungsstücks. Aus unserem Zusammenhang heraus läßt sich dieser Ausruf so interpretieren: Die Montagues sind unsere Feinde; solange du den Namen Romeo Montague trägst, bist du den Montagues gegenüber zur Loyalität verpflichtet (und haftest gegenüber dem Herzog, der dich verbannt hat) - leg deinen Namen ab und du bist aus diesen dich bindenden Strukturen befreit. Wenn man noch weiter, hinter die soziale Funktion des Namens, zurückgeht, so kommt man zu einem Bereich von Vorstellungen, die man als Namensmagie bezeichnen kann. 23 Bereits im Zusammenhang mit Meidung und Verehrung des Partnernamens sind wir auf den Begriff Tabu gestoßen. Tatsäch- 38 Der Privatcode <?page no="39"?> lich steht der menschliche Name im Zentrum eines Kreises von magischen Vorstellungen, die in archaischen Gesellschaften deutlich sichtbar, bei uns mindestens noch in Spuren vorhanden sind. Eine ausführliche, allen Varianten gerecht werdende Darstellung der Namensmagie ist hier nicht möglich; wir können nur gleichsam das Grundschema angeben. In der magischen Denkweise - die neben oder unter der rationalen auch in unseren modernen Kulturen durchaus fortbesteht - spielt die folgende Vorstellung eine wichtige Rolle: Der Name ist nicht ein von der Außenwelt gesetztes Identifikationsmittel, sondern ein wesentlicher und notwendiger Teil des Menschen. Leib, Seele und Namen, oder nach anderer Auffassung Gestalt und Namen (so im altindischen Begriff namarupa › Name-Gestalt ‹ ) machen zusammen die menschliche Person aus. Das heißt unter anderem: mit dem Besitz (und Aussprechen) des Namens gewinnt man Gewalt über ein Wesen. Am Anfang der Bibel gibt Adam den Tieren Namen und gewinnt gleichzeitig Macht über sie (Gen. 2 . 19 und 1 . 28 - vergleiche das Bild des Dichter-Malers William Blake). Die alten Entdecker haben eine Insel benannt und durch diesen Akt von ihr Besitz ergriffen. Sagenfiguren wie Lohengrin und Rumpelstilzchen behalten solange ihre Macht oder Entscheidungsfreiheit, wie sie ihren Namen geheim halten; sobald er in die Hände anderer gerät, verlieren sie an Macht oder Freiheit. Und um ein ganz modernes Beispiel anzufügen, in dem sich soziale und »magische« Funktion des Namens treffen: als in den Studentenunruhen um 1970 ein Professor die Tür zu seinem Hörsaal von einer kompakten Menschengruppe versperrt sah, redete er zwei Studenten, die er kannte, mit ihrem Namen an: »Herr. . ., würden sie mir bitte Platz machen«, und die mit Namen Angeredeten traten zur Seite und ließen ihn herein. Auf dem Aussprechen (eventuell auch Aufschreiben) der »richtigen« Namen beruht ein großer Teil von früher und heute gebräuchlichen magischen Praktiken: da der Name ein Teil, beinahe ein Glied des betreffenden Wesens ist, kann man diese Wesen sozusagen daran festhalten und führen. Dabei ist freilich Warum neue Namen, warum viele Namen? 39 <?page no="40"?> bei mächtigen Wesen Vorsicht geboten: »Wenn man vom Wolf (Teufel) spricht, so kommt er«, d. h. die Nennung des Namens bietet das fremde Wesen auf, zieht es an, und damit es dann nicht gefährlich werden kann, werden meist noch sekundäre Rituale angewendet. Ist nun der Name ein so notwendiger und wichtiger Teil der Person, so impliziert dies in unserem Zusammenhang: wenn die Person sich fundamental ändert, so ändert sich auch der Name und umgekehrt. Daher wahrscheinlich die Neubenennungen bei den rites de passage: an wichtigen Lebensschwellen wird einer zu einem neuen Menschen, und dazu gehört ein neuer Name. Reste solcher Anschauungen stehen wohl hinter der Tendenz, bei Beginn der Paarbeziehung oder auch später dem Partner einen neuen Namen zu geben: mehr vordergründig die Herauslösung aus den bisherigen sozialen Bezügen - »Romeo, doff thy name« - noch weiter dahinter die älteren Vorstellungen vom Anlegen des neuen Menschen, vielleicht auch von der Inbesitznahme der geliebten Person. So viel zur Neubenennung an sich. Nun beobachten wir aber noch etwas anderes: innerhalb der Paarbeziehung erhält der Partner normalerweise nicht einen neuen Namen, sondern viele Namen. Auch diese Erscheinung führt in irrationale Bereiche, sie wird deshalb nicht ein für allemal schlüssig erklärt werden können, aber man kann wenigstens Vermutungen äußern, die uns unter anderem in linguistische Grundprobleme hineinführen. Zunächst: die Namensvielfalt kann verschiedene Formen annehmen. In einer lange dauernden Paarbeziehung kann es, da sich die Kreativität im Laufe der Jahre nicht zu erschöpfen braucht, zu Hunderten von Namen kommen, wobei entweder ganz neue Namen geschaffen oder ältere abgewandelt werden, so wie etwa ein Häschen in reiferen Jahren und nach mehreren Kindern zu einer Mama Hase wurde (Original russisch). Namen können aber auch, in besonders intensiven Situationen, als ganze Ketten rasch hintereinander geschaffen werden: »Die Turmstube ist dunkel. Aber sie leuchten sich ins Gesicht mit ihrem Lächeln (. . .). Sie werden sich hundert neue Namen geben 40 Der Privatcode <?page no="41"?> und einander alle wieder abnehmen, leise, wie man einen Ohrring abnimmt.« (Rilke, Cornet). Dieses Geben und Abnehmen hat schon fast den Charakter eines Spiels; auf die Sprachspiele werden wir zurückkommen. Häufig kommt es auch vor, daß einer der neuen Namen sozusagen der eigentliche und zentrale ist; er hält sich lange, während die ihn umgebenden »Trabantenwörter« (Ausdruck von W. v. Wartburg) wechseln - im Laufe der Zeit oder je nach der Situation. Wenn wir uns nun fragen, woher die Namensvielfalt kommt, oder gezielter, wo sie am gehäuftesten auftritt, so gelangen wir zunächst wiederum in den religiösen Bereich. Allah hat »hundert Namen« (vgl. das Gedicht »Talismane« im West-östlichen Divan). Die katholischen Litaneien sind zu einem sehr großen Teil Vielfachbenennungen. So wird das Herz Jesu nacheinander angerufen als: heiliger Tempel Gottes, Wohnung des Allerhöchsten, Haus und Pforte des Himmels, brennender Herd der Liebe, Gefäß der Gerechtigkeit und Liebe, König und Mittelpunkt aller Herzen (. . .) 24 . Ähnlich, ja noch ausgedehnter, ist die Muttergottes-Litanei, wie denn überhaupt in den Bezeichnungen für Maria eine fast schrankenlose Kreativität sichtbar wird. In der Wallfahrtskirche Hergiswald bei Luzern sind Decke und Wände mit über 300 gemalten Bildern bedeckt, in denen jeweils ein Aspekt Marias durch eine figürliche Darstellung symbolisiert und mit einem kurzen lateinischen Spruch verdeutlicht wird, etwa: Morgenstern: stella matutina, reichtragender Apfelbaum: humilior quo onustior, Rosenstrauch: armata delectat. 25 Religiöse Gedichte, besonders im Barock, sind oft zum großen Teil Benennungskataloge, wie etwa das Sonett von Gryphius: An Gott den Heiligen Geist: O Feuer wahrer Lieb! O Brunn der guten Gaben! O Meister aller Kunst! O höchste Heiligkeit! O dreimal großer Gott! O Lust, die alles Leid Vertreibt! O keusche Taub! O Furcht der Höllenraben! (. . .) Warum neue Namen, warum viele Namen? 41 <?page no="42"?> Wir sehen: tastende Versuche, das Numinose »in den Griff zu bekommen«, im Wissen, daß ein Name nicht genügt. Dabei wird wohl Magisches mitspielen, etwa in dem Sinne, daß es unter den vielen Namen den einen »richtigen« gebe, den man entweder durch viele Versuche treffen kann, oder dem man durch zahlreiche rasch wechselnde Bezeichnungen am ehesten zu entgehen glaubt. Auf jeden Fall regt das Gewaltige, schwer zu Bewältigende, die Wortproduktion an. Dazu noch ein modernes, völlig säkularisiertes Beispiel: In Segals Love Story steht der Held, Oliver Barrett, in einem ambivalenten Verhältnis zur übermächtigen Vaterfigur; er redet (darum) nur indirekt von seinem Vater, nennt ihn Oliver 3 rd, O. B., old stonyface oder einfach the sonofabitch. Zu einem gewissen Grade kann man der Vielfachbenennung aber auch mit einer einfachen linguistischen Überlegung gerecht werden, auf die wir jetzt etwas näher eingehen wollen. Man kann sie als einen Versuch ansehen, die »Einschränkung durch das Wort« zu überwinden. Worin diese besteht, sei mit einem Zitat aus einem älteren Buch ausgeführt: »Jede Benennung, jeder Gebrauch eines Wortes klassiert ein Objekt, bringt es mit anderen, bloß gleichartigen, aber nicht gleichen, Objekten zusammen und nötigt uns, seine Einzelzüge, seine Singularität überhaupt mehr oder weniger zu vergessen. Auch wenn wir ihm, etwa mit Hilfe von Adjektiven, einzelne individuelle Züge zugestehen, so sind diese durch den Inhalt der gebrauchten Adjektive bereits wieder vorgenormt. Wir zwingen also die Dinge der Welt in › Konfektionsanzüge ‹ , in vorfabrizierte Behältnisse.« 26 Was hier von den Dingen gesagt ist, gilt in noch stärkerem Maße von Menschen oder höheren Wesen. Sagt uns jemand: »Du bist eine typische Künstlernatur, du bist ein Bürger, du bist frustriert, du bist . . .«, so ist jede solche Aussage bereits eine Beleidigung, nicht etwa, weil die Benennungen an sich beleidigend wären, wohl aber, weil jede Zusammenfassung in ein einziges Wort oder in eine Formel dem Individuum mit seinen zahllosen einmaligen Facetten und Besonderheiten in gewisser Weise Unrecht tut. Dies betonte unter den Linguisten vor allem 42 Der Privatcode <?page no="43"?> die etwas utopisch argumentierende, aber außerordentlich anregende amerikanische Schule der »General Semantics«. 27 Sie verlangte u. a., daß, mindestens in gewissen Situationen, zu einem Prädikat der ergänzende Index etc. gesetzt werden sollte, um den Leser daran zu erinnern, daß das Benannte nie nur Italian oder farmer oder student sei, sondern Italian etc., daß man sich also der verallgemeinernden, beschneidenden und die Individualzüge vernachlässigenden Tendenz des Wortes immer bewußt bleiben solle. Aus diesem Grunde wurde sogar die Zeitschrift der damaligen Semantikerschule ETC getauft. Natürlich ist der Glaube, man könne mit einem Hilfszeichen alle Unzulänglichkeiten der Sprache ausgleichen, naiv; die meisten »General Semanticists« haben ihn auch nicht in wörtlichem Sinne genommen, sondern mehr im Sinne einer prinzipiellen Forderung: »nie vergessen, daß ein Wort das Individuum nur unzureichend beschreibt«. Je höher und vielfältiger ein Wesen - objektiv oder subjektiv genommen - um so weniger genügen Worte. Im religiösen Bereich stehen deshalb im Grunde nur die zwei Möglichkeiten offen - entweder ganz zu schweigen, wie es etwa Mystiker wie Angelus Silesius verlangen: Gott ist so über Alls, dass man nicht sprechen kann, Drum betest du Ihn auch mit Schweigen besser an. Oder eben die möglichst vielfältige Benennung. Es ist nicht zufällig, daß wir das Phänomen der Mehrfachbenennung im religiösen Bereich und im erotischen antreffen. Über das Gemeinsame zwischen diesen beiden Bereichen ließe sich viel sagen; hier nur einiges für unsere Überlegungen Wichtige. Wir beobachten Übergänge von zwei Seiten her. Einerseits wird die irdische Liebe - im Rahmen der mittelalterlichen Präfiguration (der Deutung irdischer Ereignisse als Zeichen oder Vorausnahme der überirdischen Heilsgeschichte) - als das beste auf Erden mögliche Gleichnis der himmlischen Liebe angesehen. In der Sprache der Mystik finden sich zahllose erotische Vergleiche. 28 Aus dem gleichen Geiste wurde auch das Hohelied der Bibel, ein Warum neue Namen, warum viele Namen? 43 <?page no="44"?> nach seinem Wortlaut rein weltlich-erotischer Text (vgl. unten S. 79 ff.), als Gleichnis der Liebe Gottes oder genauer des Verhältnisses zwischen Jesus und der menschlichen Seele aufgefaßt; sein Einfluß findet sich unter anderem in den oft geradezu »saftig« anmutenden Texten zu Bachs geistlichen Kantaten. Andererseits besteht seit langem die Tendenz, die Geliebte und (später? ) auch den Geliebten zu vergöttern. Sie ist übrigens keineswegs so alt wie die Menschheit. Bei Sappho 29 und noch in der lateinischen Nachdichtung von Catull heißt es nur, derjenige sei den Göttern zu vergleichen, der der Geliebten gegenübersitzen und ihrem Gespräch lauschen darf. Die Vergötterung des geliebten Menschen selbst kommt erst später, mit der Apotheose von Dantes Beatrice und mit dem Petrarchismus. Bei Shakespeare ist (Sonett 27 , Romeo und Juliet I 5 ) von der »Pilgerfahrt« zum geliebten Menschen die Rede; spätere Texte wimmeln von Abgott und idol mio (etwa in den Texten zu Mozarts Opern); Goethe hält bei aller Leidenschaft zurück, und es ist eine Besonderheit der »Marienbader Elegie«, daß dort im Zusammenhange mit der Geliebten von Himmelstor, Paradies, selig gesprochen wird. Ein göttliches und ein leidenschaftlich geliebtes irdisches Wesen haben gemeinsam, daß man es »nicht ausschöpfen« kann. Der überwältigende Eindruck, der kaum formulierbar ist, die Kränkung, die mit der Festlegung durch eine kurze Formel verbunden wäre, verlangt in beiden Fällen nach dem Schweigen oder aber nach dem Geben von vielen Namen. Eine ganze Dichtungsgattung, nicht ausschließlich, aber vorzugsweise im Barock beheimatet, besteht, wie die schon genannten religiösen Gedichte, im »Namenskatalog« 30 , im Versuch, dem geliebten Wesen durch möglichst viele Anreden gerecht zu werden - möglicherweise auch, es in gewissem Sinne zu beschwören. Etwa: Der Liebe Feuerzeug, Goldschachtel edler Zier, Der Seufzer Blasebalg, des Traurens Löschpapier. (Hofmannswaldau zugeschrieben.) 44 Der Privatcode <?page no="45"?> Das Gedicht »Es klingt so prächtig . . .« in Goethes »Westöstlichem Divan« folgt barocker und auch orientalischer Tradition, indem es die Geliebte mit einer Anzahl ungewohnter Vergleiche anruft - etwa »du mein Phosphor« (im ursprünglichetymologischen Sinne von › Lichtbringer ‹ zu verstehen). Und das Gedicht »In tausend Formen magst du dich verstecken« endet mit den Zeilen: Und wenn ich Allahs Namenhundert nenne, Mit jedem klingt ein Name nach für dich. Mit diesem Gedicht, mit diesen Zeilen, endet das gesamte »Buch Suleika«; sie fassen sehr schön das von uns eben Gesagte zusammen: daß für die Geliebte wie für die Gottheit hundert Namen gerade gut genug sind. So viel zur Mehrfachbenennung. Wir haben in diesem Kapitel den Namen und das gewöhnliche Wort vielleicht nicht immer scharf genug auseinandergehalten, z. B. als wir das Prinzip der »Beschränkung durch das Wort« auch auf den Namen anwendeten. Es ist aber zu sagen, daß in der Paarbeziehung der Name meist ein sprechender ist - d. h. er ist nicht wie Hans oder Grete einfach eine identifizierende Etikette, sondern er sagt in den meisten Fällen etwas über das Bezeichnete aus, verhält sich also durchaus wie ein normales Wort. Wir dürfen also sagen, daß der Name in der Paarbeziehung wie jedes beliebige Wort die einschränkende Wirkung ausübt, von der wir gesprochen haben. In ihr, zusammen mit den allgemein kreativen, spielerischen und wahrscheinlich auch magischen Elementen, sehen wir die Ursache für die Vielnamigkeit. Die Namen gehören sicher zu den wichtigsten Elementen des privaten Codes. Es gibt aber neben ihnen noch viele andere Elemente; von diesen soll jetzt die Rede sein. Warum neue Namen, warum viele Namen? 45 <?page no="46"?> d) Andere Elemente des Privatcode - Entstehung, Geheimhaltung Die sprachliche Produktivität des Paars erschöpft sich nicht in der Namengebung. Es werden darüber hinaus zahllose Wörter und Formeln neu geprägt (wobei die Prägung am häufigsten in einer semantischen »Umfunktionierung«, seltener in einer völligen Neuschöpfung besteht), so daß man von einer eigentlichen Privatsprache 31 reden kann. Bei einigen Paaren besteht diese Privatsprache lediglich in einigen wenigen Ausdrücken, bei andern kann sie so weit gedeihen, daß sie sich zu einem »fertig ausgebildeten Dialekt« auswächst; das folgende Muster findet sich in der Vorrede zu Kurt Tucholskys »Rheinsberg«: »Nuh deh alleliebsse Pumbusch es bikenke, weil sölm bifundsteint! « Zunächst noch einiges zum Ausdruck »Privatsprache«. Es ist gefragt worden, ob es Privatsprachen überhaupt geben könne. 32 Von einigen Autoren wird die Frage aus gesellschaftlichtheoretischen Gründen prinzipiell verneint: da Sprache ein Produkt der Gesellschaft sei, könne es private Sprache definitionsgemäß nicht geben. Es empfiehlt sich aber auf jeden Fall, vor einem generellen Urteil die Frage zu stellen, was man denn unter »Sprache« versteht; man wird dann sehen, daß die Antwort weitgehend von der Definition von »Sprache« abhängt. Versteht man unter »Sprache« ein vollständiges System mit eigener Phonologie, Morphologie, Syntax und eigenem Lexikon, so sind Privatsprachen, wenn überhaupt vorhanden, sicher ungeheuer selten - obwohl es allerdings einige Ansätze zu Sprachen gibt, die rein privat sind und durchaus nicht von anderen verstanden werden sollen 33 . Wenn wir dagegen »Sprache« in einem etwas anderen Sinne verstehen, so können wir die Existenz von Privatsprachen durchaus bejahen. Es ist tatsächlich durchaus üblich, gruppenspezifische Varianten einer Gemeinsprache (z. B. des Deutschen) auch als »Sprache« zu bezeichnen, so redet man etwa von der Sprache der Buchdrucker, der Soldaten, der Psychologen, der Drogenkonsumenten, und meint dann entweder die durch gruppenspezifische Elemente 46 Der Privatcode <?page no="47"?> bereicherte Gemeinsprache oder auch nur die Gesamtheit der gruppenspezifischen Elemente. In diesem Sinne kann man ohne weiteres auch von der Sprache eines Paares reden. Für einen allgemeinen Überblick über das, was man unter Sprache verstehen kann, hat sich in der Praxis ein Modell nicht schlecht bewährt, das wir hier etwas unehrerbietig das »Zwiebelmodell« nennen wollen. Ein sprachlicher Code ist nie homogen, er besteht vielmehr aus verschiedenen Schichten, die wie Häute einer Zwiebel übereinander gelagert sind. Folgende Schichten könnten etwa unterschieden werden: Zu »äußerst« ist die »Sprache im allgemeinen« (definierbar als Menge der Universalien, also dessen, was allen Sprachen gemein ist); dann folgt eine Schicht von Elementen, die den modernen Kultursprachen gemeinsam sind (z. B. wissenschaftliche, technische, modische Wortbedeutungen); dann die »Nationalsprachen« oder »Gemeinsprachen« (z. B. alles, was das Deutsche oder das Französische ausmacht - es gibt hierfür interessanterweise keinen wirklich guten Oberbegriff); dann die Großgruppensprache (z. B. ein sozialer oder regionaler Dialekt): endlich die Kleingruppen-Elemente (wie Familien- oder Paarsprache), und zuletzt (zuinnerst in der »Zwiebel«) die spezifischen Spracheigentümlichkeiten einer einzelnen Person, die sogenannten idiolektalen Elemente. Die »Zwiebel« ist, wie jedes Modell, unvollkommen; sie erfüllt aber die an ein Modell zu stellende Forderung der strukturellen Ähnlichkeit besser als andere Modelle, die entweder von einer völlig homogenen »Sprache« ausgehen oder aber es bei einer groben Unterteilung bewenden lassen. Vor allem wird durch unser Modell deutlich, daß man gut daran tut, das Wort »Sprache«, wenn man es wissenschaftlich gebraucht, zu definieren, und wenn man es liest, kritisch zu interpretieren. Es wird auch klar, daß man, indem man von »Paarsprache« redet, den Begriff »Sprache« auf eine bestimmte Schicht von sprachlichen Elementen anwendet, die man aber auf dem Hintergrund anderer, umfassender Schichten sieht. Andere Elemente des Privatcode 47 <?page no="48"?> Woraus, außer den Namen, kann der Privatcode eines Paares bestehen? Normalerweise aus Wörtern und Wendungen, d. h. aus lexikalischen Elementen. Ausnahmsweise kommen (im Sinne von Sprachspielen, s. unten S. 58 ff.) auch morphologische und syntaktische Besonderheiten vor; man findet sehr schöne Beispiele in Tucholskys »Rheinsberg«, wo sich - Szene ist der Schloßpark und -teich - etwa folgende Sätze mit privater Morphologie finden: Glaubssu, dass es hier Bärens gibts? oder mit privater Syntax: Söh mal, du muss mir auch ma rudern gelass gehabt haben. Ähnliches gibt es auch außerhalb der Literatur, wenn z. B. ein Paar unter sich beharrlich das Lamp für die Lampe sagt. Aber das Hauptgebiet ist natürlich das Lexikon: die Besonderheit des Code besteht hier darin, daß Wörter oder ganze Wendungen gegenüber der normalen Sprache in ihrer Bedeutung verändert werden. Hierin trifft sich die Paarsprache mit dem Slang, worunter man ebenfalls gewisse Sonderwortschätze versteht. Man pflegt (besonders in der englischen Linguistik) zu unterscheiden zwischen vocational slang (Gesamtheit des emotionalen Wortschatzes einer bestimmten Berufsgruppe oder anderen Sondergruppe) und general slang (Wortschatz der städtischen Jugend im allgemeinen) 34 . Zum Wesen des Slang gehört der Affekt: wortproduktiv sind vor allem diejenigen Sachgebiete, zu denen die Gruppe ein emotionales Verhältnis hat. Weiter hat der Slang die Funktion, Zugehörigkeit zur Gruppe zu betonen und Abgrenzung gegen außen zu schaffen; dazu gehört auch ein gewisses Moment der Geheimhaltung gegenüber der Außenwelt. Alle diese Elemente finden sich mehr oder weniger auch bei der Paarsprache. Zwischen dem Slang (einer Großgruppensprache) und der Paarsprache (dem kleinsten »Mini-Soziolekt«) steht übrigens mindestens noch die Familiensprache. Es ist bekannt, daß viele Familien ebenfalls über einen besonderen, oft sehr reichen Wortschatz verfügen; merkwürdigerweise aber gibt es wie über die Paarsprache auch über die Familiensprache fast keine Literatur. In unserem Zusammenhang wollen wir festhalten, 48 Der Privatcode <?page no="49"?> daß Paarsprache und Familiensprache in einem wechselseitigen Spendverhältnis stehen: einerseits erweitert sich ein Paar oft zur Familie, womit Elemente der ursprünglichen Paarsprache in eine Familiensprache übergehen können - anderseits kann eine Paarsprache Elemente aus der Familiensprache des einen Partners oder beider Partner übernehmen; endlich kann auch die Verschiedenheit der Familiensprache der beiden Partner zu Störungen führen, von denen in anderem Zusammenhange noch zu sprechen sein wird. So steht die Paarsprache als Kleingruppensprache nicht allein. Aber natürlich hat sie ihre Besonderheiten. Sucht man diese zu beschreiben, so wird man wohl zunächst nach den Gebieten fragen, bei denen sich die Paarsprache als besonders produktiv erweist. Und hier steht wahrscheinlich die Erotik im Vordergrund, wenn auch nicht so ausschließlich, wie man zuerst annehmen möchte. Das Gebiet der Erotik erfüllt alle Voraussetzungen für reiche Wortproduktivität: es ist das Gebiet der Emotionalität schlechthin; in der erotischen Begegnung kommt die Paarbeziehung zu ihrem Höhepunkt; die Außenwelt soll bewußt ausgeschlossen bleiben. Der Privatwortschatz ist darum hier besonders reich. Allein für das männliche Glied gibt es Benennungen vom anspruchslosen Bimbam durch das ganze Alphabet hindurch bis zum verspielt personifizierenden Zebedäus, beim weiblichen Pendant kommt zwischen Garage und Lotosblüte sozusagen alles vor. Es ist völlig unnötig, eine längere Liste aufzustellen. Wenn man nach der Herkunft des erotischen Wortschatzes von Paaren fragt, so kommt man zum Schluß, daß es im Grunde zwei Sorten von Wörtern gibt, die das Paar gebraucht: die selbstgeschaffenen und die vermittelten. Nur die ersten, diejenigen, die von den Partnern selbständig geprägt worden sind, gehören wirklich zum Privatcode. Daneben gibt es aber noch die wahrscheinlich eher zahlreicheren, die durch einen der beiden Partner von außen »eingeschleppt« oder, neutraler gesagt, vermittelt sind. Das Verhältnis zwischen beiden Wortsorten ist interessant. Andere Elemente des Privatcode 49 <?page no="50"?> Bis vor wenigen Jahren gab es auf erotischem Gebiet so etwas wie einen Männerwortschatz, d. h. eine große Anzahl von Ausdrücken für erotische Dinge, welche nur »unter Männern« gebraucht werden durften; es herrschte die Annahme, Frauen seien diese Wörter unbekannt, und vielfach traf dies auch zu. Erst mit der Aufnahme einer intimen Beziehung (also in der Regel mit der Heirat) erhielt die Frau, zugleich mit der Einführung in die außersprachliche Erotik, auch eine »linguistische Aufklärung«: sie erfuhr mindestens einen Teil des sonst den Männern vorbehaltenen Wortschatzes. Eine solche sprachliche Einführung erhält z. B. Lady Chatterley von ihrem Geliebten Mellors (nicht von ihrem Mann, der sich an die Regel hält, Frauen seien überhaupt mit der Männersprache nicht zu belasten). Seit mehreren Jahren sind die Frauen schon als Mädchen linguistisch aufgeklärter - es gibt, je nach den sozialen Voraussetzungen, alle Schattierungen. Aber noch immer ist es so, daß der Teil des erotischen Vokabulars, welcher dem Paar von außen her zukommt, in der Regel eher vom Mann als von der Frau eingebracht wird, und daß er eher aus der Männersprache als aus der Frauensprache stammt. Nun ist es eine Tatsache, daß der Männerwortschatz für erotische Körperteile und Vorgänge, wenn man ihn nach der Etymologie betrachtet, zu einer eher negativen, das »Mechanische« betonenden und die Gefühlskomponente negierenden Darstellung neigt. Der erotische Männerwortschatz scheint eine Art von Abwehrmechanismus gegen die Übermächtigkeit des Triebs zu sein, oder, anders gesagt, die »andere Seite« des an sich ambivalenten Liebesgefühls zu verkörpern (vgl. z. B. Freuds Diskussion der Ambivalenz in »Totem und Tabu«, 1 . Kapitel). Was von den Wörtern gilt, gilt übrigens auch von den erotischen Witzen. Thornton Wilder (in »The Eighth Day«) hat sich darüber scharfsinnig geäußert: »It is the privilege of a bridegroom to introduce a sheltered girl to a store of witty anecdotes that has hitherto been closed to her. There is a small proportion of jokes about sexual relations that does not conceal - like a bludgeon in a bouquet - an aggressive contempt for women.« 35 50 Der Privatcode <?page no="51"?> Es besteht deshalb ein grundsätzlicher Unterschied zwischen den vermittelten und den selbstgeschaffenen erotischen Ausdrücken: die ersten sind im Prinzip kruder und uneleganter (solange sie nicht im Sprachgebrauch des Paares ins Positive umfunktioniert werden), während die selbstgeschaffenen charmanter, spielerischer und origineller sind und oft ein Element des Kompliments enthalten. Durch den Gebrauch der beiden Wortsorten unterscheiden sich auch Paare: Während die phantasiereicheren sich den erotischen Wortschatz fast ganz selber schaffen, gibt es anderseits viele Paare, die sich ganz oder fast ganz mit dem eingebrachten Wortschatz begnügen. Das zweite ist vom Standpunkt der Gleichberechtigung aus gesehen nicht völlig befriedigend, weil hier die Frau genötigt ist, für ein ganz wesentliches Lebensgebiet ein von Männern gemachtes Vokabular, dem, wie gesagt, ein leicht aggressiv-feindliches Element anhaftet, zu gebrauchen. Wer dies übertrieben findet, der sei an den Schluß des Romans von Heinrich Böll »Die verlorene Ehre der Katharina Blum« erinnert, wo Katharina den zudringlichen Reporter erschießt, der ihr vorgeschlagen hat, erst einmal zu »bumsen«: »Wenn Sie von Ihrem vierzehnten Lebensjahr an, und schon früher, in Haushalten arbeiten, sind Sie was gewohnt. Aber dieser Kerl - und dann › Bumsen ‹ , und ich dachte: Gut, jetzt bumst ’ s.« Ähnliche Äußerungen einer Frau über »Männerwörter« finden sich in den Romanen von Karin Struck. Es ist nicht ausgeschlossen, daß hier eine potentielle Ursache für Störungen der Paarbeziehung liegt. Jedenfalls sollten sich die Gegner des »Sexismus«, die oft an viel harmloseren Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern Anstoß nehmen, noch mehr für die »aufgezwungene Männersprache« interessieren. Weiter zum privaten Wortschatz von Paaren. Natürlich erschöpft er sich nicht im erotischen Bereich. Er ist auch in anderen Gebieten produktiv. Wir betrachten zunächst eine Anzahl von Ausdrücken, die der Geheimhaltung dienen. Ein Paar verwendet die Ausdrücke guter Fakir und schlechter Fakir. Ein Andere Elemente des Privatcode 51 <?page no="52"?> guter Fakir ist jemand, der noch lange nicht auf die Toilette zu gehen braucht, ein schlechter jemand, der es schon sehr eilig hat (der Ursprung liegt offenbar darin, daß jemand, der es ungewöhnlich lang aushalten konnte, als Fakir bezeichnet wurde). Mozart verwendet in den Briefen an Constanze, 1789-91 , häufig die Chiffer N. N., die ganz verschiedenes zu bedeuten scheint: einmal einen möglichen Geldgeber, einmal jemand, auf den Mozart eifersüchtig ist, einmal vielleicht einen Körperteil, so daß dieses N. N. möglicherweise einfach bedeutet: › wir wissen, wer oder was gemeint ist. ‹ Ein englisch sprechendes Paar hat sich eine »Azimut-Chiffer« zugelegt, mit der man sich auf bestimmte Menschen oder Dinge aufmerksam machen kann, ohne daß es die Umgebung merkt: Man denkt sich auf einer liegenden Uhr sitzend; look three heißt dann: › schau seitwärts nach rechts ‹ , look six: › schau gerade hinter dich ‹ usw. Ein anderes Paar, das sich immer wieder seiner Liebe versichert (was bekanntlich manchen Paaren kaum nötig, anderen dagegen als absolute Notwendigkeit erscheint), gebraucht ein anderes Zeichen, das sich ebenfalls in Gegenwart vieler Menschen geheim anwenden läßt. Wenn dieses Paar, durch andere Menschen beansprucht, sich lange Zeit nichts Privates mehr sagen kann, genügt, um die Zweisamkeit wieder herzustellen, ein Blick und das Wort auch, was heißen soll: »Ich weiß, daß du mich liebst, und ich liebe dich auch«. Die Möglichkeit, sich in einer großen Gesellschaft geheime Zeichen zu geben, gehört zu den schönsten Leistungen der »Liebes-Semantik«. Oft werden dazu auch literarische Chiffern benützt; hierüber später. Manche Paare werden in einer besonderen Weise sprachschöpferisch, indem sie (wirkliche oder subjektiv empfundene) »Feldlücken« in der gewöhnlichen Sprache herausfinden und ausfüllen. Unter einem sprachlichen Feld versteht man die Gesamtheit der Wörter für einen bestimmten Bedeutungsbezirk 36 . Es kann nie, in keiner Sprache, für alle Tatbestände ein »richtiges« Wort geben; deshalb besteht auch immer wieder die Möglichkeit, durch Wortschöpfung einen neuen Begriff zu prägen und damit ein bestimmtes Stück Realität schärfer zu 52 Der Privatcode <?page no="53"?> beleuchten und ins Bewußtsein zu heben. In einer Privatsprache existiert das Adjektiv öffig; es wird angewendet auf Leute, z. B. Damen, die sich in bestimmter, etwas ungehemmter und aufdringlicher Weise in den Vordergrund spielen (die Etymologie macht dies noch klarer: das Wort ist eine Mischung aus öffentlich und äffig). Ein Paar berichtet, daß es schon in den 1940 er Jahren, lange bevor der Begriff der Aggression allgemein verbreitet wurde, das Wort Lamatriebe gebrauchte: manche Menschen müssen von Zeit zu Zeit ohne äußere Ursache andere kränken oder sonstwie angreifen; hierfür ergab sich die Metapher des Lamas, das einfach von Zeit zu Zeit spucken muß, dies dann bereut, aber es gleichwohl bald wieder nicht lassen kann; deshalb habe man von den »Lamatrieben« solcher Leute gesprochen. Wieder ein anderes Paar versucht, die verschiedenen Stimmungen durch Farbwörter (also synästhetisch) wiederzugeben, etwa: »du hast heute deinen flaschengrünen Tag.« Neu benannt werden aber nicht nur schwierige, schwer formulierbare Tatbestände sondern auch ganz einfache Dinge, für die bereits andere Wörter vorhanden sind, so daß die Neuschöpfung nicht als notwendig bezeichnet werden kann. Eine (größere) Heuschrecke heißt ein Dagobert, ein Tellerchen für Abfälle ein Grindelwald (offenbar ursprünglich ein Souvenir-Teller), ein Hobby heißt ein Sissy (nach einer besonders geliebten Puppe), merkwürdig heißt schrisselig usw. usw. Das heißt, die Tendenz zur Neubenennung geht über die für das Paar und seine Beziehung besonders wichtigen oder notwendigen Dinge weit hinaus; sie ergreift vielmehr mehr oder weniger die ganze Umwelt. Wir haben bereits gesehen, wie »Adam den Tieren Namen gibt« (s. oben S. 39 ); man kann auch hier von »Adamitismus« sprechen: es ist so, daß dem Paar »eine neue Welt« (oder: die Welt neu) aufgeht; und so wie Adam den Tieren Namen gibt, gibt das Paar der sozusagen neu entdeckten »Welt« neue Namen. Wichtig ist, daß diese neue Welt von den Partnern zusammen erfahren und erlebt wird - oft ergibt sich eine dauernde Neubezeichnung aus einer ganz bestimmten Situation, die an sich Andere Elemente des Privatcode 53 <?page no="54"?> vorübergehend ist, die aber das Paar in einer besonderen Weise verbindet. Dies ist der Fall bei zwei besonders bekannten Beispielen für Privatcode-Ausdrücke aus der neueren Literatur. In Marcel Prousts »A la recherche du temps perdu« gewinnt der Ausdruck Cattleya die Bedeutung eines Schlüsselwortes. Swann, der Odette liebt, sich aber ihr aus Schüchternheit noch nicht zu nahen getraut, fährt mit ihr in einer Kutsche durch die Stadt. Odette (eine schöne und elegante Halbweltdame) hat sich mit Orchideen geschmückt. »Sie hielt einen Strauß von Cattleyablüten in der Hand, und Swann sah durch ihr Spitzentuch hindurch, daß sie im Haar an einem Gesteck aus Schwanenfedern die gleichen Blumen trug (. . .). Vorn in dem schwarzen Samtausschnitt kehrte weiße Seide als kleiner Einsatz wieder, an dem ebenfalls ein paar Blüten der gleichen Orchideensorte befestigt waren« 37 . Durch ein kleines Mißgeschick gerät die Kutsche ins Wanken; die Blumen an Odettes Ausschnitt werden verschoben, und Swann erbittet und erhält die Erlaubnis, sie dort zurechtzurücken. Daraus ergibt sich endlich die körperliche Annäherung, die noch am gleichen Abend zum »Besitz« führt. »Aber so schüchtern war er mit ihr, daß er (. . .) in den nächsten Tagen jeweils denselben Vorwand benutzte.« Daraus entwickelt sich ein festes, abgestuftes Liebesritual, das ihm jeweils den Anfang erleichtert. Und bald war »die Metapher › Cattleya spielen ‹ eine schlichte Vokabel geworden, die sie schließlich ganz gedankenlos zur Bezeichnung des physischen Besitzens benutzten - bei dem man übrigens nichts besitzt.« Die Vokabel überlebt das Ritual, aus dem sie entsprungen ist; sie kehrt auch nachher im Roman wieder. Das andere berühmte Beispiel, in mancher Hinsicht noch »notwendiger«, weil es sich um die Bezeichnung eines schwerer zu bezeichnenden Sachverhalts handelt, stammt aus Thomas Manns »Buddenbrooks« 38 . Tony Buddenbrook, die Tochter einer reichen Kaufmannsfamilie aus dem Lübecker Patriziat, ist in der Sommerfrische im Hause der Familie Schwarzkopf einlogiert. Der Sohn Morten Schwarzkopf (stud. med., arm und gescheit) begleitet sie manchmal auf ihren Spaziergängen am 54 Der Privatcode <?page no="55"?> Meer; zwischen beiden entsteht eine lebhafte, ehrliche, aber noch verschämte Beziehung. Gleich beim ersten Spaziergang geraten die beiden in die Nähe einer Gesellschaft aus den Kreisen Tonys. Morten wünscht nicht, vorgestellt zu werden, statt dessen setzt er sich »da hinten auf die Steine«, und er liest dort, während sich Tony mit der Gesellschaft unterhält. In den folgenden Tagen geschieht es, »daß Tony oftmals mit ihrer städtischen Bekanntschaft am Strande oder im Kurgarten verkehrte, daß sie zu dieser oder jener Reunion und Segelpartie hinzugezogen wurde. Dann saß Morten › auf den Steinen ‹ . Diese Steine waren seit dem ersten Tage zwischen den beiden zur stehenden Redewendung geworden, › Auf den Steinen sitzen ‹ , das bedeutete: › Vereinsamt sein und sich langweilen ‹ . Kam ein Regentag, (. . .) dann sagte Tony: › Heute müssen wir beide auf den Steinen sitzen (. . .), das heißt in der Veranda oder im Wohnzimmer ‹ . › Ja ‹ , sagte Morten, › setzen wir uns (. . .) Aber wissen Sie, wenn Sie dabei sind, so sind es keine Steine mehr. ‹ Übrigens sagte er dergleichen nicht, wenn sein Vater zugegen war; seine Mutter durfte es hören.« Der Ausdruck »auf den Steinen sitzen« kehrt mehrmals wieder, und Tony und Morten haben trotz ihrer kurzen Bekanntschaft auch andere Ansätze zu einem Privatcode. Als Tony »von der Hausfrau genötigt wurde, zuzulangen, sagte er: › Dem Scheibenhonig können Sie vertrauen, Fräulein Buddenbrook . . . Das ist reines Naturprodukt . . . Da weiß man doch, was man verschluckt ‹ .« Und beim Frühstück, am anderen Morgen, sagt Tony zu Morten: »Ich halte mich an den Scheibenhonig. Sehen Sie, da weiß man doch, was man verschluckt«. Und auch nach dem Abschied bleiben ihr manche von seinen kurzen Aussprüchen als dauernder Besitz. Wir greifen noch ein anderes Thema auf, das gleichfalls in diesem Romankapitel angetönt ist: das Thema der Geheimhaltung des Code. Obwohl »auf den Steinen sitzen« ein völlig unverfänglicher Ausdruck ist, sowohl nach seiner äußeren wie nach seiner Codebedeutung, wird dieser Ausdruck nur mit einiger Vorsicht und nicht jedermann gegenüber gebraucht. Es Andere Elemente des Privatcode 55 <?page no="56"?> gehört, wir beobachten das auch sonst, zum Privatcode ein gewisses Maß von Geheimhaltung. Dieses kann offenbar verschiedene Grade haben. Es ist z. B. zu erwarten, daß zärtliche Ausdrücke, vor allem Namen, besonders geheim gehalten werden - die bereits besprochene Sprachmagie mag hier mitspielen - während periphere, für die Paarbeziehung weniger bedeutende Ausdrücke auch gegenüber Dritten ohne Bedenken gebraucht werden. Interessant ist dabei folgendes: auch Ausdrücke, welche bereits »geheim« sind, können trotzdem der Geheimhaltung unterliegen: bei dem Ausdruck »auf den Steinen sitzen« ist der wirkliche Inhalt › vereinsamt sein ‹ ja bereits durch ein Codewort verhüllt; trotzdem wird der Ausdruck z. B. dem Vater gegenüber nicht gebraucht. Eine Ursache ist klar: jeder Privatcode, sei er auch noch so harmlos, ist Zeichen eines Einverständnisses zwischen den Code-Partnern, und dieses Einverständnis kann man verheimlichen wollen. Aber auch wenn das Einverständnis an sich längst bekannt ist, werden gewisse Code-Wörter vor Dritten verschwiegen, wenn sie nämlich in einer für die Beziehung des Paares besonders bedeutenden Situation geschaffen worden sind, so daß sie gleichsam für den Kern der Beziehung selbst stehen. So deutet »auf den Steinen sitzen« zum erstenmal auf das Unangenehme der Trennung hin und damit überhaupt auf einen Zusammenhalt. Ähnliches gilt von unserem nächsten Beispiel. Es gibt zweifellos die Tendenz zur Geheimhaltung. Über das Ausmaß und die Notwendigkeit von Geheimhaltungen bestehen aber bei verschiedenen Menschen ganz verschiedene Meinungen. Die Auffassungen können auch bei Partnern des gleichen Paares durchaus verschieden sein. Der eine Partner mag den Typus verkörpern, den man im Englischen als »outspoken« bezeichnet, und dementsprechend manche Codewörter nur lustig, aber keineswegs geheim finden - während der andere Partner die Preisgabe eines Wortes geradezu als Verrat an der Liebe empfindet. Hieraus können sich, wie im folgenden Beispiel, Krisen ergeben. 56 Der Privatcode <?page no="57"?> In der kurzen Erzählung »Der Vogel Tscheap« des österreichischen Schriftstellers Franz Nabl wird der Verrat eines zentralen Wortes aus dem Privatcode eines Paares zur Ursache für den Bruch einer Beziehung: Der Ingenieur Überreiter trennte sich scheinbar unbegründet von seiner Freundin Sophie Lagreiner und nahm eine Stellung in Ankara an. Da er niemals oberflächliche Beziehungen zu Frauen gehabt hatte, war der ganze Bekanntenkreis der beiden ohne irgendwelche Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Verbindung gewesen. Um so größer war daher die Verblüffung über das ganz unerwartete Verhalten des Mannes. Die Aufklärung brachte einige Jahre später ein Brief, den Überreiter an eine Bekannte schrieb, kurz bevor er an einer Tropenkrankheit starb. Überreiter spricht in seinem Brief von der hohen Intensität, geradezu Schicksalshaftigkeit der Beziehung. Zu den besonders schönen Stunden des Paares gehörten Naturerlebnisse einer ganz bestimmten Art. Sophie hatte einen naiven, ungebrochenen Zugang zur Natur. Überreiter genoß die Rolle des Einführenden, Erklärenden, das Wahrgenommene mit Namen Bezeichnenden. Einmal rasteten sie auf einer Wanderung am Waldrand. Dabei kam es zu den ersten, sehr intensiv erlebten körperlichen Berührungen. Während sie aneinandergeschmiegt saßen, hörten sie den eintönigen Ruf eines Vogels - eines »Grünfinks«, wie Überreiter sogleich bemerkte. Die Verliebten begannen, die Laute nachzuahmen und »meinten es mit dem merkwürdigen Gebilde › Tscheap ‹ halbwegs getroffen zu haben.« Dieses Wort wurde dann zum Codezeichen. Sie gebrauchten es, um sich die Situation seiner Entstehung ins Gedächtnis zu rufen, um ihre Intimität zu bekräftigen. Dies konnte geschehen, wenn sie mitten in einer Menschenmenge Verlangen nach einander spürten, oder wenn sie sich über die Langeweile gesellschaftlicher Anläße hinweghelfen wollten. Für dieses so wichtige Wort beanspruchte Überreiter (ohne dies seiner Freundin ausdrücklich zu sagen) den höchsten Grad von Vertraulichkeit. Andere Elemente des Privatcode 57 <?page no="58"?> Es traf sich nun, daß das Paar mit einem gemeinsamen Bekannten (der für beide in keiner Weise wichtig war) einmal an einem Waldrand lagerte und daß wieder ein Grünfink schlug. Darauf sagte der Dritte mit einem mitwissenden Lächeln: »Das ist der Vogel Tscheap«. Diesen Codeverrat empfand Überreiter als einen so schwerwiegenden Vertrauensbruch, daß er seiner Freundin endgültig entfremdet war und sie ohne Erklärung verließ. Soweit die Erzählung Nabls. Sie wurde in einer Gruppe von Studenten diskutiert und als »zwar extrem, aber im Prinzip möglich« bezeichnet. Das Vertrauensverhältnis eines Paares ist unter Umständen durch Code-Verrat zerstörbar. Daß es in diesem Fall zu der extremen Reaktion kam, wurde allerdings der Unfähigkeit zur Metakommunikation zugeschrieben, d. h. dem Unvermögen, über die eigene Beziehung (und Sprache) zu sprechen. Daß in diesem Falle nicht einmal der Versuch dazu unternommen wurde, ist wohl mit dem Schock erklärbar, den das Erlebnis dem in solcher Absolutheit Liebenden bereitet haben muß. e) Sprachspiel Zum besonderen Code, zum besonderen sprachlichen Verhalten eines Paares gehören auch bestimmte Sprachspiele. Und ganz allgemein ist bei Paaren eine ausgeprägte Tendenz zum Spielen mit der Sprache zu beobachten. Wenn wir uns im folgenden damit beschäftigen, müssen wir von vorneherein einige Einschränkungen machen. Einerseits sind Sprachspiele keineswegs auf Paare beschränkt - sie finden sich auch bei Kindern, Humoristen, Dichtern und vielen anderen Menschen. Andererseits sind durchaus nicht alle Spiele des Paares Sprachspiele - es gibt z. B. im Bereich des erotischen Vorspiels zahllose nichtsprachliche Spielformen. Das Sprachspiel des Paares ist also von zwei Seiten her gesehen nur ein Teil - ein Teil des allgemein vom Menschen ausgeübten 58 Der Privatcode <?page no="59"?> Sprachspiels und ein Teil der gesamten Spielaktivität des Paares. Das heißt, wir schneiden hier zwei oder wahrscheinlich drei große Bereiche an: den Bereich des Sprachspiels im allgemeinen, den Bereich des gesamten Spiels beim Paar und damit sogar den Bereich des Spiels überhaupt. Es ist völlig unmöglich, hier die großen Zusammenhänge erschöpfend zu behandeln. Es soll deshalb hier nicht darum gehen, das Spiel oder auch nur das Sprachspiel als Ganzes zu beschreiben oder befriedigend zu definieren; hierfür sei auf einige Bücher verwiesen 39 . Obwohl das Sprachspiel also keine Besonderheit des Paares ist, gehört es doch zu unserem Thema; denn erstens sind Sprachspiele, wie gesagt, bei Paaren besonders häufig, und zweitens können sie sich, obwohl ursprünglich spontan aus der Situation geschaffen, verfestigen und damit zu einem Teil des Privatcode werden. Was soll man unter Sprachspiel verstehen? Etwa dies: Sprachliche Äußerungen, in denen die Sprache von ihrem gewöhnlichen Zweck, Mittel der Kommunikation zu sein, weitgehend entbunden wird; statt dessen erhalten gewisse formale Muster mehr Gewicht als sonst, z. B. echoartige Wiederholung, Abwandlung normaler Wort- oder Satzformen, »Wortspiele« im engeren Sinn (z. B. Verwendung eines Wortes in zwei verschiedenen Bedeutungen); das Sprachspiel kann aber noch weiter reichen bis zu förmlichen Wettbewerben in schöpferischen (dichtungsähnlichen) Aktivitäten. Wichtig ist, wie gesagt, die Befreiung der Sprache von ihrem normalen Zweck; die Sprache kann im Sprachspiel Selbstzweck sein oder aber einem neuen Zwecke dienen, der etwa darin besteht, den Partner (eventuell auch den Sprecher) zu erfreuen, ihn anzuregen oder zu erregen. Als Handlung, deren Zweck nicht ohne weiteres ersichtlich ist, rückt das Sprachspiel, besonders, wenn es in bestimmter Weise oder in bestimmten Situationen wiederholt werden »muß«, in die Nähe des Rituals. Rückblickend können wir nun sagen, daß manche sprachlichen Schöpfungen von Paaren (im Bereich der Namen oder des übrigen Codes), die wir einfach einer erhöhten Kreativität zu- Sprachspiel 59 <?page no="60"?> geschrieben haben, in das Gebiet des sprachlichen Spiels gehören. Aber warum neigt das Paar zum Sprachspiel? Die Frage führt fast von selbst zur Frage nach dem Wesen des Spiels überhaupt. Das Spiel aber ist so alt wie der Mensch selbst und noch älter: auch das Tier spielt - in der Jugend, als erwachsenes Tier zusammen mit Jungen, und natürlich bei den komplizierten ritualisierten Vorspielen der Paarung (z. B. Balz), wobei allerdings der Zweck der Partner-Erregung so stark hervortritt, daß man dieses »Spiel« als etwas von anderen Spielen grundsätzlich verschiedenes ansehen sollte, um so mehr, als es sich hier um eine biologisch vorgeschriebene Notwendigkeit handelt, in der das Individuum nur einen sehr geringen Freiheitsraum hat. Bei dem, was man sonst normalerweise als Spiel versteht, ist ja gerade die Freiheit, nicht die absolute Freiheit, aber die Freiheit, eigene Regeln zu schaffen, sehr groß. Dies sind nur einige Gedanken und Probleme, die hier natürlich nicht durchgedacht werden können. Auch die viel eingeschränktere Frage: Warum neigt das Paar zum (sprachlichen) Spiel? kann hier nicht endgültig gelöst werden; es soll hier nur ein kurzer Katalog möglicher Antworten gegeben werden. Folgendes könnte gesagt werden: Spiel und Paarung gehören notwendigerweise (schon biologisch) zusammen. Jedes Sex-Lehrbuch unterstreicht die große Bedeutung des Vorspiels. Der Spieltrieb wird oft als Teil des Sexualtriebs angesehen. Das Sprachspiel könnte ein Ausläufer davon sein. In der Paarbeziehung ist die Lebensfreude erhöht; damit wächst auch das Bedürfnis nach spontaner, zweckfreier Aktivität. Es wird normalerweise ein Privatcode gebildet; dieser ist durch keine Regel festgelegt, sondern er entwickelt sich fortwährend. Dabei bleibt viel Raum für spielerisches Experimentieren. Liebende verhalten sich in gewissem Sinne wie Kinder - Freud spricht einmal von der »kindischen Geste aller Verlieb- 60 Der Privatcode <?page no="61"?> ten«. Gleichgültig, ob man mit den Mitteln der Tiefenpsychologie vorgeht oder einfach naiv beobachtet, ganz sicher gewinnen wir vom Kind aus einen guten Zugang zum Wesen des Verliebten. Beiden gemeinsam ist das Entdecken einer neuen Welt. Wir haben bereits früher vom »Adamitismus« des Paares gesprochen; ebenso gut wie mit Adam kann man den Liebenden aber auch mit dem Kind vergleichen. Hermann Helmers (in »Sprache und Humor des Kindes«, vgl. Anm. 39 ) setzt in scharfsinniger Weise das Sprachspiel des Kindes in Beziehung zum Aufbau einer neuen Welt: »Das Kind glaubt die Welt, in die es hineinwächst, geordnet durch feste Regeln und Gesetze. Diese Weltordnung ist für das Gedeihen des Kindes lebensnotwendig. In ihr fühlt es sich geborgen. Vor allem die Muttersprache vermittelt dem Kinde Vertrauen und Geborgenheit in der geistigen Ordnung dieser Welt. Im Witz, Sprachspiel etc. stellt das Kind diese Ordnung ein klein wenig in Frage. Wir haben aber gesehen, daß diese komischen Sprachveränderungen meist nach festen Regeln vorgenommen werden. Es bildet sich also eine Art Anti-Ordnung, die indirekt die vorhandene Ordnung gleich wieder bestätigt, so daß das Gefühl der Geborgenheit nicht verloren gehen kann. - Im Lachen des Kindes über komische Sprachverhalte, die eine Abnorm darstellen, wird also die muttersprachliche Ordnung immer wieder bestätigt« (Helmers S. 62 f.). Dies läßt sich mindestens zum Teil vom Kind auf das Paar übertragen: Eine neue Welt (bestehend aus neuen gemeinsamen Erlebnissen einschließlich der neuen Erfahrung altbekannter Dinge) wird geschaffen; diese neue Welt hat noch keinen völlig sicheren Bestand, und es ist auch nicht zum vorneherein gegeben, wie man ihre Bestandteile benennen soll. So ergibt sich eine Situation, die der des Kindes nicht unähnlich ist und die ebenfalls das Sprachspiel begünstigt. Einen anderen Zugang findet man, wenn man vom Aspekt der Zwecklosigkeit des Spiels ausgeht. Wenn man den Wortschatz unserer modernen Zivilisation (beidseits der politischen Grenzen) kritisch betrachtet, so findet man u. a. folgende typi- Sprachspiel 61 <?page no="62"?> sche Wörter: Organ, Spezialist, Einsatz, Effizienz, Funktion, Funktionär, Bereitstellung, Medium, Planung, Maßnahme. Allen diesen Wörtern ist gemeinsam, daß sie die Tendenz haben, das Bezeichnete, sei es nun ein Mensch, ein Ding oder eine Tätigkeit, nicht als etwas darzustellen, was um seiner selbst willen Bestand hat und gerechtfertigt ist, sondern als etwas, was erst durch einen Zweck außerhalb seiner selbst wichtig wird. Diese Wörter sind Symptome einer verbreiteten Tendenz, den Menschen und Dingen ihren Eigenwert abzusprechen und ihnen nur Wert in bezug auf einen bestimmten äußeren Zweck zuzubilligen. Von den Dichtern des 20 . Jahrhunderts hat sich mit diesem Aspekt der neueren Zeit vielleicht R. M. Rilke am intensivsten beschäftigt. In seinen Sonetten und Elegien hat er durch verschiedene Symbole (Orpheus, Narziß, Engel, Einhorn) die reine Existenz, die ihren Zweck in sich selber trägt, in Erinnerung gerufen oder ihren Verlust beklagt 40 . In diesem Zusammenhange hat Rilke die Liebenden (in der 2 . Elegie) als »ineinander Genügte« bezeichnet und sie in die Nähe der orphischen Symbole gerückt: die Liebenden finden übers Kreuz ihren Zweck ineinander, so daß das Paar eine Einheit ist, die ihren Zweck in sich selber trägt. Natürlich kann es geschehen, und es ist sogar recht häufig, daß sich Paare zu einem bestimmten gemeinsamen Zweck ausserhalb ihrer selbst zusammenfinden oder sich später für einen solchen Zweck entscheiden: Musik, Wissenschaft, Arbeit an einem gegenwärtigen oder künftigen Staat. Aber dies tun auch andere Gruppen, die in einem nur kameradschaftlichen Verhältnis stehen, und auch beim Paar gehört ein allfälliger äußerer Zweck eher zur kameradschaftlichen als zur erotischen Komponente. Es gibt nun viele, oft sehr gutgemeinte Versuche, Paare aus ihrer Selbstgenügsamkeit zu »befreien«, sie auf ihre Pflichten außerhalb der Paarbeziehung hinzuweisen. Wir erinnern an den »Alternativschlager« (s. S. 112 ) und die Politsex-Bewegungen. Solche Versuche widersprechen aber dem Wesen der Paarbezie- 62 Der Privatcode <?page no="63"?> hung. Wenn diese Beziehung auf dem Höhepunkt ist, hat sie ihren Zweck in sich selbst. Paare können - zum Ärgernis der Außenstehenden - ihre Umgebung, drohende und gegenwärtige Kriege und Krisen, unmögliche politische Verhältnisse, völlig vergessen. Das andere Extrem, eine in ihrem Zweck bewußt nach außen gerichtete Paarbeziehung, ist in Heinrich Manns Roman »Der Untertan« geschildert: der Bräutigam erklärt in der Hochzeitsnacht: »Bevor wir zur Sache selbst schreiten, gedenken wir Seiner Majestät, unseres allergnädigsten Kaisers. Denn die Sache hat den höheren Zweck, daß wir Seiner Majestät Ehre machen und tüchtige Soldaten liefern.« Natürlich ist dies eine Karikatur, sie zeigt aber mit drastischer Deutlichkeit, daß Verzweckung der Intimbeziehung ein Unding ist, geschehe sie nun in der wilhelminischen oder in der heutigen Zeit. Das erfüllte Liebespaar ist, mindestens für eine gewisse Zeit, ein Reservat, ein Stück unverzweckter Welt in einem Meer von Verzweckung. Dies zeigt sich auch in der Sprache: wir haben gesehen, wie der Privatcode das Paar gegen außen abgrenzt. Das Sprachspiel kann ebenfalls unter diesem Aspekt gesehen werden: die sprachliche Äußerung - etwas, was sonst einen Zweck außer sich selber hat, nämlich den der Mitteilung - wird von diesem Zwecke befreit und ist entweder Selbstzweck oder dient der reinen Daseinsfreude des Paares. Das Sprachspiel kann also gesehen werden als Widerstand und sanfter Protest gegen die Verzweckung. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine Entwicklung, die sich außerhalb der Paarbeziehung beobachten läßt: In dem Maße, wie die Verzweckung alles Existierenden in den letzten Jahren fortgeschritten ist, ist auch die Lust am sprachlichen Spiel gewachsen. So viel zu den möglichen Gründen dafür, daß das Paar gern mit der Sprache spielt. Es ist unwahrscheinlich, daß sich ein einziger und alleiniger Grund für das Sprachspiel, für das Spiel überhaupt, finden läßt. Die Sprachspiele sind auch untereinander sehr verschieden; sie reichen von der kindlichen Wortver- Sprachspiel 63 <?page no="64"?> drehung bis zum komplizierten Wettkampf mit Spielregeln; auch der Gebrauch von »Chiffern« (vgl. unten S. 114 ff.) kann zum Spiel gerechnet werden. Aber man darf wohl so weit verallgemeinern, daß man sagt: das Ausprobieren einer neuen Welt und die Lösung der Sprache aus ihrer Verzweckung spielen dabei eine große Rolle. Eine fast unerschöpfliche Quelle für Sprachspiele Liebender sind die beiden Romane von Kurt Tucholsky: »Rheinsberg« (erschienen 1912 ! ) und »Schloß Gripsholm«. In beiden wird jeweils ein kurzer Urlaubsaufenthalt eines Paares geschildert, wobei ein großer Teil der Handlung aus hinreißend verspielter Konversation besteht; nach diesen Romanen haben ganze Generationen »vom Blatt geliebt« (s. das Kapitel über das Lieben nach Texten). Im Sprachspiel zeichnen sich besonders die Frauen aus, vor allem Claire in »Rheinsberg«. »Ihr Deutsch war ein wenig aus der Art geschlagen. Sie hatte sich da eine Sprache zurechtgemacht, die im Prinzip an das Idiom erinnerte, in dem kleine Kinder ihre ersten lautlichen Verbindungen mit der Außenwelt herzustellen suchen; sie wirbelte die Worte solange herum, bis sie halb unkenntlich geworden waren, ließ hier ein › T ‹ aus, fügte da ein › S ‹ ein, vertauschte alle Artikel, und man wußte nie, ob ihr beliebte, sich über die Unzulänglichkeit einer Phrase oder über die andern lustig zu machen.« Das geht dann etwa so: »Suppens gibs, un hühnegens mit Gemüsen und Hops . . .« oder »Ach Gott, konnste auch besser mir nicht zu bekorrigieren zu gebrauchs gehabs habs! Ich spreche dir das schiere Hochdeutsch! «. In »Gripsholm« ist die »Prinzessin« mit ihrem Missingsch (beinahe-Platt) und anderen Eigenheiten sprachschöpferisch; der Partner wirkt aber stärker mit: unter anderem macht er sich ein Pseudo-Schwedisch zurecht, indem er an die Verben -as anhängt: »Ob wir etwas in Schweden erlebas? « »Wir wollen zu Abend essas«. Unter den zahllosen Sprachspielen finden sich, neben den mehr kindlichen, lautlichen und morphologischen Varianten (Hops für Obst, Bärens für Bären) auch syntaktische und syntaktischsemantische, etwa: »Ob ich noch wen trinke? «, wobei in 64 Der Privatcode <?page no="65"?> »Gripsholm« besonders »moderne« (d. h. erst in neuerer Zeit systematisch analysierte) sprachliche Veränderungen vorkommen, so die falsche Valenz: »Finnste die Gegend hier? « (man kann finden in der Bedeutung › halten für« nur mit einer Ergänzung nach dem Objekt verwenden). Oder Nichteinhaltung der semantischen Kongruenz (der semantischen Regeln für syntaktisch verbundene Wörter): »Geh mal Wasser braten« 41 . Das »Ausprobieren« einer Anti-Welt findet seinen Ausdruck ferner in kühnen Metaphern: Segelschweine (für kleine Segeltuchkoffer, »Rheinsberg«) oder: »Die Bouillon sieht aus wie Wasser in Halbtrauer« (»Gripsholm«). Stilistische Verschiebungen gehen beim männlichen Partner gern in Richtung des Amtsstils, was mit der höchst privaten Situation aufs schönste kontrastiert: (»Jetzt frisiere ich mich, un denn gehe ich spaziers. Un du? «) »Das überlasse du nur mir; es wird dir dann seinerzeit das Nötige mitgeteilt werden.« Eine der Partnerinnen hat eine Vorliebe für den »gebildeten Genitiv«: » › Hast du schwedischen Geldes? ‹ fragte die Prinzessin träumerisch. Sie führte gern einen gebildeten Genetiv spazieren und war demzufolge sehr stolz darauf, immer › Rats ‹ zu wissen«. Ähnliche Konzentrationen von sprachspielerischer Produktivität finden sich in den Briefen Mozarts und in den Werken und Briefen von Lewis Carroll 42 . Beide haben zwar nicht nur in Liebesbeziehungen mit der Sprache gespielt; aber die volle Höhe erreichen sie in Briefen an eine verständnisvolle Partnerin: Mozart an sein »Häsle-Bäsle« und an Constanze, Carroll an seine Kind-Freundinnen. Beide suchen z. B. alte und ausdruckslos gewordene Idiome abzuwandeln, beide geben sich mit der Formel »tausend Küsse« nicht zufrieden und variieren sie, jeder auf seine Weise: Mozart schickt Constanze ( 6 . 6 . 1791 )» 2999 ½ Küsse«, und Carroll überlegt sich, ob man »millions of kisses« schicken könne, setzt für »millions« das Minimum von 2 Millionen, rechnet (als Mathematiker) aus, daß dies 23 Wochen brauchen würde, und zieht das Angebot mit Bedauern wieder zurück (an Isa Bowman, s. Aspects, p. 67 ). Sprachspiel 65 <?page no="66"?> Mit essas und erlebas sind wir bei dem angelangt, was wir hier »maccaronische Sprachspiele« nennen möchten. Unter maccaronischer Poesie versteht man Dichtung, die Sprachen mischt (im engeren Sinne werden lateinisch-italienische Mischungen darunter verstanden). Das Bedürfnis, sich in mehreren Sprachen (ineinander) auszudrücken, ist alt, man denke nur an das Lied »In dulci iubilo, Nun singet und seid froh! «. Paare, die mehrere Sprachen sprechen, sei es als Muttersprache, sei es angelernt, reden oft untereinander ein Idiom, in dem fast jeder Satz zweisprachig ist. Aber auch Wörter und Redensarten können innerhalb dieser Zweisprachigkeit eine ganz besondere Form bekommen. Unter Anglisten in der Schweiz kann man etwa folgendes hören: hedgehogli (das englische Wort für den Igel mit einer urschweizerischen Endung versehen, s. die Namen oben S. 29 ff.), oder treasure leg (die englische Übersetzung verleiht dem etwas abgegriffenen Kosenamen Schatzibein neuen Reiz). Noch raffinierter sind allzuwörtliche Übersetzungen, bei denen unter Umständen ein neuer Sinn herauskommt, z. B. I have no lust (wörtliche Wiedergabe von Ich habe keine Lust, wobei man aber wissen muß, daß englisch lust › Begierde, Wollust ‹ bedeutet). Dieses maccaronische Spiel kennt für sprachbegabte Partner keine Grenzen. Die eben besprochenen Spiele könnten von einem einzigen Partner gespielt werden. Sie sind deshalb im Prinzip nicht auf Paare beschränkt, obwohl das Paar (aus den bereits besprochenen Gründen) besonders produktiv ist. Daneben gibt es aber auch Spiele, bei denen zwei Partner nötig sind, weil sie ihrem Wesen nach in einem Hin und Her bestehen: man spielt mit der Sprache wie mit einem Ball. Auch ein sachliches Gespräch kann so umgestaltet werden: »Wölfchen, zieh ich nu das Grüne oder das Weiße an? « »Hm, welches möchtest du denn gerne anziehen? « »Das . . . das weiß ich nicht. C ’ est pourquoi ich dich frage«. »So zieh denn das Weiße an«. 66 Der Privatcode <?page no="67"?> »Schön. Was dieser Junge mich tyrannisiert, das ist nicht zu sagen. Haach! « usf. (Rheinsberg). Oder, aus »Gripsholm«: ». . . und dann spielten wir das Bücherspiel: jeder las dem anderen abwechselnd einen Satz aus seinem Buch vor, und die Sätze fügten sich gar schön ineinander.« Carl Zuckmayer schreibt in seinen Erinnerungen »Als wär ’ s ein Stück von mir« von einem rauschgiftsüchtigen Paar: »Sie trieben ein Spiel, mit dem sie nicht aufhören konnten, immer zwischen Entzweiung und Versöhnung hin und her, wobei es um nichts Reales, sondern um erfundene Wortdifferenzen ging: › Bist du mein Ranxenknarrenbu? ‹ - › Nein, ich bin dein Knarrenranxenbu. ‹ - › Aber du hast gesagt, du bist mein Ranxenknarrenbu! ‹ - › Ich bin nicht dein Ranxenknarrenbu. Ich bin dein Knarrenranxenbu. ‹ (. . .) - und so weiter, endlos.« Immer finden wir hier das Element einer gewissen Symmetrie; man will dem andern nichts schuldig bleiben, ihm sozusagen mit gleicher Münze heimzahlen, ob es sich nun um eigentliche Antworten handelt, wie im ersten Beispiel, oder um bloße Wortverdrehungen wie im letzten. Stilisiert erscheint dieses Paarspiel in den sogenannten Trutzliedern der volkstümlichen oder auch höheren Literatur. Häufig ist folgendes Schema: Ich habe dich nicht nötig - ich dich auch nicht . . ., wobei nach mehreren Abwandlungen schließlich ein Einlenken möglich ist. Ein berühmtes Beispiel aus der älteren Literatur ist »Donec gratus eram tibi« von Horaz 43 . Das Schema ist hier: »Als du mich noch liebtest . . . Als du mich noch liebtest . . . Jetzt habe ich eine andere . . . Jetzt habe ich einen anderen . . . aber vielleicht . . .« In der neueren Zeit gibt es solche Trutz- oder Wechsellieder z. B. vom schottischen Dichter Robert Burns. Einfachen Mustern folgen z. B. »Lass, when your mither is frae hame« oder »O Lassie, art thou sleeping yet«. Ein strukturelles Meisterstück ist »Wha is that at my bower door? «; die Rede des Mädchens ergibt einen zusammenhängenden (abwehrenden) Text, während der Bursche seine Sätze so hineinschiebt, daß er die Zustimmung Sprachspiel 67 <?page no="68"?> vorwegnimmt, die das Mädchen schließlich auch (indirekt) gibt 44 . Es gibt auch Sprachspiele, die noch ausdrücklicher die Form von Wettspielen haben. Ein einfacher Wettbewerb, der aber zugleich über das Spiel hinausführt, ist das Benennungsspiel, das Faber und Sabeth in »Homo Faber« von Max Frisch spielen. Es geht darum, neue gemeinsame Eindrücke, z. B. von einer Landschaft, mit einem Vergleich zu treffen; wer das kann, gewinnt einen Punkt, wenn nicht der Partner auch etwas weiß: »Wir spielen stets auf einundzwanzig Punkte, wie beim Pingpong, dann ein neues Spiel«. Das Spiel spielen sie auf einer nächtlichen Wanderung bei Korinth, in einer Landschaft voller ungewohnter Eindrücke: »ein Saumpfad zwischen Felsen hinauf, steinig, staubig, daher im Mondlicht weiß wie Gips. Sabeth findet: Wie Schnee! (. . .). Das Wiehern eines Esels in der Nacht: Wie der erste Versuch auf einem Cello! findet Sabeth, ich finde: Wie eine ungeschmierte Bremse! (. . .). Die weißen Hütten von Korinth: Wie wenn man eine Dose mit Würfelzucker ausgeleert hat! (. . .)«. Es ist ein spielerischer Wettbewerb, aber zugleich etwas anderes: Adam und Eva, die zusammen etwas völlig Neues, Fremdes und noch kaum Gestaltetes zu benennen suchen, das heißt, das Sprachspiel ist hier Teil der Erschaffung einer neuen Welt, und da es gemeinsam ist, bindet es auch - trotz der Verschiedenheiten der Bezeichnung im einzelnen - das Paar in einer Art von »Sozialisierungsprozeß« zusammen. Diese gemeinsam erschaffene Welt hat eine große Beständigkeit. Beim nächsten Beispiel ist das Moment des Wettbewerbs ganz weggefallen, dafür tritt das gemeinsame Schaffen einer eigenen, die Realität überhöhenden Welt noch stärker hervor. Noch einmal »Schloß Gripsholm«; die Sonne ist untergegangen, der Himmel schon tief dunkelblau: »Lydia«, sagte ich, »Wollen wir uns ein Nordlicht machen? « - »Na . . .« - »Sieh mal«, sagte ich, und deutete mit dem Finger nach oben, »siehst du, siehst du - da - da ist es - ! « Wir sahen beide fest nach oben - wir hielten uns an den Händen, Pulsschlag und Blutstrom gingen von einem zum 68 Der Privatcode <?page no="69"?> andern. In diesem Augenblick hatte ich sie so lieb wie noch nie. Und da sahen wir unser Nordlicht. »Ja - « sagte die Prinzessin, leise, damit sie es nicht verscheuchte. »Das ist ja wunderbar. Ganz hellgrün - und da - rosa! und Kugelstreifen - und das da, ganz spitz-hoch (. . .). Sieh mal, sieh mal! « Jetzt wagte sie es, schon lauter zu sprechen, denn nun leuchtete uns das Nordlicht wie wirklich. »Das sieht aus wie eine kleine Sonne«, sagte ich. » Und da, wie geronnene Milch, und da (. . .)«. Das »gemeinsam gebaute« Nordlicht und das Benennungsspiel sind schon höhere Spiele, beinahe für Dichter. Aber im Grundsätzlichen - objektiv, aber nicht subjektiv weniger schön - könnten beide auch von »gewöhnlichen« Paaren gespielt werden. Ein gemeinsam geschaffenes Stück Welt, gerade wenn es nicht objektiv, sondern nur subjektiv Realität hat, kann sich lange halten, das heißt, es wird oft lange nach der Situation, aus der es hervorgegangen ist, wieder aufgegriffen und sogar weitergesponnen. Man kann dann von einem Privatmythos des Paares reden. Ein solcher Privatmythos ist etwa der »Sohn« des längst zerstrittenen, aber durch eine komplizierte Haßliebe und eben diesen Privatmythos noch zusammengehaltenen Ehepaars George und Martha in »Who ’ s Afraid of Virginia Woolf« von Edward Albee 45 . Der Mythos unterliegt gegenüber Dritten der Geheimhaltungspflicht, gegen die Martha schon im ersten Akt verstößt. George rächt sich dafür, indem er im dritten Akt allerhand neurotische Züge des (fiktiven) Sohnes ausbringt und Martha dafür verantwortlich macht; endlich läßt er den Sohn »sterben« und nimmt damit der Paarbeziehung die letzte gemeinsame Grundlage - es wird gerade an diesem negativen Beispiel nochmals besonders deutlich, wie eine Beziehung weitgehend durch privatsprachliche Gemeinsamkeiten getragen werden kann. Sprachspiel 69 <?page no="70"?> 2 . Sprache als erotisches Stimulans Es gibt zahllose praktische »Lehrbücher« der Erotik; wie es scheint, ist aber in den wenigsten von ihnen von der Rolle und Wirkung der Sprache die Rede - eine Ausnahme bildet ein antikes Werk: Ovids »Liebeskunst«, das sowohl für den Mann wie auch (was besonders selten ist) für die Frau Anleitungen gibt, wie man mit Sprache das erotische Glück steigern kann. Die Sprache ist für das Gelingen einer glücklichen erotischen Beziehung äußerst wichtig. Völlig sprachlose Erotik ist, wie wir schon gesehen haben, ganz selten; sie steht in merkwürdiger Weise in der Schwebe zwischen dem Tierischen und dem traumhaft-Unrealen. Das Normale ist sicher, daß bei einer erotischen Beziehung Sprache dabei ist. Diese Sprache kann nun in sehr verschiedener Weise gehandhabt werden. Ihr Gebrauch, jeder Sprachgebrauch, geschieht nicht instinktmäßig; es gibt im Gegenteil einen weiten aber auch problemreichen Entscheidungsspielraum. Es kann Fehler geben, zum Beispiel das Zerreden der Beziehung (auch definierbar als: Überwuchern der Metakommunikation über die primäre Kommunikation). Oder die Beziehung kann sich aus anderen sprachlichen Gründen abkühlen, etwa, wenn einer der Partner eine Redeweise gebraucht, die dem andern auf die Dauer einfach nicht erträglich ist, sei sie nun fremdartig, grob, hochgestochen, oder einfach dumm. Dazu ein Beispiel aus »Mitsou« von Colette (deutsch von E. Redtenbacher; die Szene spielt abends im Restaurant, wo der Leutnant mit der makellos hübschen Mitsou speist: Es wird serviert. Mitsou ißt wenig. Robert weniger als er gehofft hat. Das Gespräch flaut immer mehr ab und beschränkt sich schließlich auf einige Ausrufe, Händedrücke und gezwungen verständnisinnige Blicke - ihr Gelächter aber verbirgt die Dürftigkeit des Dialogs. An den Nachbartischen beneidet man das Liebespaar, das sich <?page no="71"?> so gut zu unterhalten scheint. In Wirklichkeit jedoch beginnt Robert, trotz der Wirkung des Champagners und des guten Essens, zu verzweifeln. Er hat die Beine Mitsous zwischen seine Stiefel genommen, und sie duldet den rauhen Druck seiner wackeren Reiterknie . . . Trotzdem begehrt er sie noch immer nicht . . . Er möchte eigentlich gar nichts - oder nur eines: weggehen, weggehen, weggehen . . . Wir hören dann, wie Mitsou »allerlei spießbürgerliche Binsenweisheit zum Besten gibt«, während Robert sich die größte Mühe gibt, seine schwindende Begierde aufrechtzuhalten. Und am andern Morgen, als er die Schlafende betrachtet, löst er sich bereits endgültig aus seiner Illusion: »Sie ist so hübsch,« wiederholt er. »Sie wird etwas Dummes sagen, sobald sie aufwacht.« Colette, die sich auskannte, macht es deutlich, daß es, auch unter hübschen, gesunden und jungen Menschen, mit Attraktivität und Sex-Appeal nicht getan ist, weder für ein »höheres« noch für ein ganz einfaches Liebesverhältnis. Wir haben dieses (negative und besonders klare) Beispiel vorausgenommen. Im übrigen werden wir Störungen der Beziehung aus sprachlichen Gründen im 4 . Kapitel systematischer betrachten. Was wir jetzt ansehen, sind die Sprachvorgänge, die zur normalen und ungestörten Beziehung gehören, und zwar nicht als Begleitumstand, sondern als Teil, ohne den das Ganze gar nicht möglich wäre. Auch hier können wir wiederum nur einige Aspekte geben, und auch hier betrachten wir die Dinge wiederum nur aus einer Ecke der Welt, die man etwa mit den Stichworten: Mitteleuropa, Mann, mehr oder weniger intellektuelles Milieu umschreiben könnte. Welches sind die sprachlichen Mittel zur erotischen Stimulierung? Wichtig ist es, den Partner zugleich zu beunruhigen und zu beruhigen. Darunter sei folgendes verstanden: der Partner soll einerseits aus dem Zustand der Gleichgültigkeit heraus- Sprache als erotisches Stimulans 71 <?page no="72"?> geführt, emotionalisiert werden, anderseits soll er entspannt, gelöst sein. Daß der Partner aus der emotionalen Ruhe in einen Zustand der Gefühlsempfänglichkeit kommt, kann oft gar nicht von einem Menschen, bewußt oder unbewußt, veranlaßt werden. Oft übernimmt das Leben, das heißt die situationelle Bedingtheit, diese Rolle. Die Bereitschaft, sich zu verlieben ist (auch bei »freiem« Herzen) nicht immer gleich groß; am größten ist sie wahrscheinlich nach einer einschneidenden oder auch leichteren Lebenskrise. Zwei Typen von Verliebtheit, die sich an unseren Universitäten vielfach ereignen: Hochschullehrer, angefochten und im Lebensgefühl bedroht durch politische oder andere Gegner, verlieben sich unerwartet; Studentinnen, die aus der geregelten Welt der Schule in die »eisige Freiheit« der Universität herüberwechseln, verlieben sich gerne in einen Dozenten, der ihnen, z. B. in einem Proseminar, persönliche Zuwendung entgegenbringt. Das Sagenmotiv, nach welchem ein Verzauberter das erste Wesen, das ihm begegnet, lieben muß (etwa im »Sommernachtstraum«), hat einen sehr realen Kern. Die Sprache kann nun die Möglichkeit geben, die emotionale Bereitschaft beim Partner, sofern sie nicht durch die Situation schon vorgegeben ist, zu erzeugen oder zu verstärken bis zum Zustand des Aufgewühltseins - mit Hemingway (»The Sun also rises«) ausgedrückt als: »I am all jelly inside«. Dies meinen wir, wenn wir von Beunruhigung sprechen. Dem Drang nach Beunruhigung entspringen viele sprachliche Äußerungen am Anfang der Beziehung: eine Art von Neck- und Balzkomponente, die manchmal beinahe feindselig, auf jeden Fall angriffig klingt: sich wichtig machen, den Partner ärgern - auch die schon erwähnten ritualisierten Trutzlieder und ähnliche Spiele; all dies dient dazu, dem Partner seine emotionelle Gelassenheit zu nehmen; er mag sogar eine negative Haltung einnehmen, wenn er nur aus der Neutralität herausgerissen wird. Zugleich (oder zeitlich später) treffen wir aber auch als notwendige Komponente die Beruhigung. Keineswegs im Sinne des Einschläferns, wohl aber mit der Absicht, den Partner gelöst, 72 Sprache als erotisches Stimulans <?page no="73"?> entspannt zu machen, vor allem durch Stärkung des Verhältnisses zu sich selbst. Dies betonen viele Lehrbücher der Partnerschaft. Etwa: »Jeder Partner sollte sein eigenes Verhalten in der Ehe daraufhin überprüfen, wie gut er Gelegenheiten nutzt, seinem Partner das Gefühl zu geben, als Mann oder Frau erfolgreich, attraktiv und liebenswert zu sein. Durch Worte oder Verhalten zu sagen: › Du bist herrlich im Bett! ‹ oder › Wir stimmen gut zusammen ‹ oder › Du warst himmlisch gestern abend! ‹ führt dazu, daß einer seine Sexualität höher einschätzt; um so leichter wird er das nächste Mal liebevoll, leidenschaftlich und hingebungsvoll sein.« (H. und C. Clinebell, »Ehe intim«, s. Anm. 3 ; S. 8 , Anm.). Die beiden Komponenten der Beruhigung und Beunruhigung, welche, wie gesagt, durchaus nicht als Gegensätze verstanden werden müssen, gehen dem eigentlichen erotischen Zureden voraus. Auch hier lassen sich mehrere Komponenten oder Aspekte unterscheiden. Einmal die allgemeine Liebeserklärung. Wir haben bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß das Bedürfnis danach bei verschiedenen Menschen verschieden sein kann. Ganz sicher ist bei vielen Partnern ein elementares Bedürfnis vorhanden, vom anderen Partner immer wieder versichert zu bekommen, daß er ihn noch liebt. Dann darf dieser nicht so reagieren, wie der Held in Somerset Maughams Komödie »A Man of Honour«, der auf die Frage »Liebst du mich noch? « antwortet: »Of course I love you. I ’ ve told you so till I am blue in the face.« Eine Liebeserklärung ist keine Kommunikation, die man einmal macht, allenfalls in Erinnerung ruft, sondern sie ist ein Teil des erotischen Rituals und muß deshalb wie Gruß und Weihnachten wiederholt werden. 45a Nun aber zu den konkreten Sprechhandlungen innerhalb des erotischen Zuredens. Hier kann man unterscheiden zwischen Kompliment, Tabubruch und Kundgabe eigener Absichten. Allen ist eine starke erotische Wirkung eigen. Sie erscheinen oft zusammen und gehen bisweilen so ineinander über, daß man die Grenzen nicht genau ziehen kann. Sprache als erotisches Stimulans 73 <?page no="74"?> Das Kompliment, mindestens soweit es in unseren Zusammenhang gehört, ist ein Verbalisieren und Aussprechen von Vorzügen, natürlich ganz besonders von erotischen Reizen des Partners. Also: »Das ist aber ein hübsches Kleid«, »Deine Haare schimmern« und so fort. Was geschieht dabei? Der Sprecher setzt die Reize des Partners in Worte um, und mit einem einzigen Sprechakt werden eine ganze Reihe von Effekten ausgelöst. Erstens wird der angesprochene Partner auf seine eigenen Reize punktuell hingewiesen; er darf sich einen Augenblick lang mit ihnen beschäftigen, was der immer vorhandenen narzißtischen Komponente entgegenkommt. Zweitens dokumentiert der Sprechende, daß er diese Reize bemerkt hat, daß also der Partner Eindruck auf ihn gemacht hat. Es ist auch wahrscheinlich, daß sich der Sprecher beim Aussprechen von mehr oder weniger erotischen Einzelheiten selbst erregt (ganz sicher ist Ausgesprochenes in dieser Beziehung wirksamer als bloß Gedachtes). Endlich ist im erotischen Kontext ein Kompliment nicht eine bloße Feststellung - nicht »interesseloses Wohlgefallen«, wie Kant das Schöne definiert hat - sondern impliziert auch Kundgabe des Wunsches, sich mit diesen Reizen näher zu beschäftigen. Es ist nun eine Binsenwahrheit, daß Komplimente eine Kunst sind, in der es die einen weiter, die andern weniger weit bringen. Viele Menschen bleiben, wenn sie überhaupt Komplimente machen, an Konventionelles gebunden: schöne Augen, schöne Haare, schöne Beine. Nur eine kleine Zahl kommt darauf oder getraut sich, Unkonventionelles zu sehen oder gar auszusprechen: schöne Schläfen, schöne Schlüsselbeine, schöner Gang, schöne Stimme. Das Kompliment dieser Art ist schon seltener; es ist auch schwer zu handhaben, weil es zwar einerseits ins Poetische, Romantische führt, aber andererseits leicht den allzu scharfen Beobachter verrät, dem man preisgegeben ist und vor dem man sich etwas hüten muß. Besonders Intellektuelle müssen sich ja vor einer Über-Verbalisierung erotischer Beziehungen hüten; wir werden noch darauf zurückkommen. Gewiß ist, daß die Wirksamkeit von Komplimenten nicht quantitativ und 74 Sprache als erotisches Stimulans <?page no="75"?> eindimensional ist; sie hängt vielmehr von einem Mittelmaß und vor allem von der Einfühlung in die Konventionen und Bedürfnisse des Partners ab. Ein Wort noch zur Rollenverteilung zwischen männlichen und weiblichen Partnern. Aus unseren Beispielen geht hervor, daß eher der Mann der Werbende ist. Dies ist wohl nicht, wie heute oft gemeint wird, eine veränderbare gesellschaftliche Konvention, sondern etwas, was tiefer, ins biologisch Vorgegebene, hineinreicht. Wir beobachten ja auch bei den höheren Tieren, daß im ganzen Werberitual der männliche Teil die primär-aktive, der weibliche eine mehr responsive Rolle spielt - wobei responsiv keineswegs mit passiv gleichgesetzt werden soll; denn auch in dieser Rolle sind zahllose spontane Varianten möglich. Es gibt also hier für die Rollenverteilung biologische Grundlagen. Das hindert aber nicht, daß die Rollen variiert, sogar bis ins Gegenteil umgekehrt werden können. Es gibt den Typus der verbalen Verführerin, nicht nur in der Kunst, aber dort besonders prächtig, wie etwa Venus im »Tannhäuser« und Dalilah in Saint-Saëns ’ »Samson und Dalilah« (beide Rollen für einen sinnlichen Alt geschrieben); es gibt weibliche Verführungs- Arien, in Prosa, wie etwa die aufregenden Kommentare von Mme. Houpflé über den hübschen Liftboy (Mann: »Felix Krull«), und in Versen, wie etwa die Reden der Venus in Shakespeares »Venus and Adonis«. Die Werbe-Rolle kann also durchaus vertauscht werden, obwohl diese Vertauschung eher die Ausnahme ist und es vermutlich auch bleiben wird. Andere begleitende Konventionen können sich stärker ändern. Das schöne Bein zum Beispiel, heute vorwiegend mit der Frau assoziiert und Gegenstand männlicher Komplimente, ist zu Shakespeares Zeit ein erotisches Attribut des Mannes: die Frauen trugen lange Röcke, die Männer dagegen eine Art Strumpfhose, die das Bein abzeichnete; das schöne Bein (good leg) gehört zur Vorstellung eines erfreulichen Mannes, und Shakespeares Mädchen und Frauen kommentieren es ausgiebig. Sprache als erotisches Stimulans 75 <?page no="76"?> So wie das Machen von Komplimenten eine Kunst ist, so ist auch das Annehmen von Komplimenten eine Kunst. Es gibt hier eine große Spannweite, von verlegenem Schweigen oder »Na ja«, über ein konventionelles »Sie sind aber ein Schlimmer« bis zu einem weiterführenden: »Du darfst nicht so reden, mir wird ja ganz schwindlig«. Zustimmung kann sich in Worten oder auch anders äußern; Abwehr kann echt sein oder auch gespielt, so daß das typische »Geplänkel« entsteht: Beatrice und Benedikt und andere lustige Paare Shakespeares verstehen sich besonders gut darauf 46 . Köstlich ist die Reaktion der »Prinzessin« (in »Schloß Gripsholm« von Tucholsky) auf einen verbalen Vorstoß ihres Partners: »Ich machte Plüschaugen und sprach über Literatur (. . .). Und dann sprachen wir von der Liebe. Das ist wie bei einer bayerischen Rauferei - die raufen auch erst mit Worten. Und als ich ihr alles auseinandergesetzt hatte (. . .) und das war nicht wenig, und ich war so stolz, was für gewagte Sachen ich da gesagt hatte, und wie ich das alles so genau und brennendrot dargestellt und vorgeführt hatte, in Worten, so daß nun eigentlich der Augenblick gekommen war, zu sagen: › Ja, also dann . . . ‹ - da sah mich die Prinzessin lange an. Und sprach: › Einen weltbefohrnen dschungen Mann - ! ‹ « Wie immer die erotische Konversation verläuft, einfach oder kompliziert, stets haftet ihr ein Element der Gegenseitigkeit und - um es genau zu sagen, muß man leider dieses Wort gebrauchen - der Rückkopplung an. In der Verhaltensforschung wird folgendes Beispiel angegeben: Der Mann macht der Frau ein Kompliment über ihre Schönheit. Dies bewirkt, daß sich ihre Pupillen (unbewußt) erweitern und sie noch schöner machen. Das gleiche geschieht bei sprachlichen Reaktionen oder bei paralinguistischen (der Sprache benachbarten), wie Lachen, Seufzen oder gar der Vereinigung von beidem: »stopping the career of laughter with a sigh« (Shakespeare, »Winter ’ s Tale« I 2 286 ), die wiederum den Partner erregen und ihm gleichzeitig Erlaubnis zum Weitergehen geben können. Hier noch zwei Zwischenbemerkungen. Wir haben zwar eingangs gesagt, daß wir keine systematische, alle Schichten 76 Sprache als erotisches Stimulans <?page no="77"?> und Länder berührende Übersicht geben können. Aber hierher gehört doch eine kurze Bemerkung darüber, wie die Vorstellungen vom notwendigen Ausmaß der vorausgehenden erotischen Konversation je nach sozialer oder geographischer Umwelt stark wechseln können. Dazu eine Tagebuchnotiz des Schweizer Schriftstellers Meinrad Inglin 47 : »Genf. Versuchte, die Festung wortlos im Sturm zu nehmen. Aber sie wunderte sich nur über dies blinde Ungestüm, sprach mir freundlich beruhigend zu und meinte, wir seien doch gesittete Menschen, die nicht wie Wilde drauflos gehen müßten, sondern auf menschliche Art in Verhandlungen eintreten könnten. Da merkte ich, daß ich im Welschland war (. . .)«. Die Verschiedenheit der Konventionen, wie sie hier der Deutschschweizer im »Welschland« (dem französischsprachigen Teil der Schweiz) nachdrücklich erlebt, kommt in der einen oder andern Weise immer wieder vor, sei es als erotische Anregung, sei es als Hindernis. Und noch eine zweite »ethnographische« Bemerkung. Im puritanischen England, d. h. im England von der viktorianischen Zeit bis etwas über den zweiten Weltkrieg hinaus, galt es in den höheren Schichten als unschicklich, »personal remarks« zu machen, also Bemerkungen, die sich mit Aussehen, Kleidung etc. des Gesprächspartners beschäftigen. Das mag einerseits damit zu tun haben, daß negative persönliche Bemerkungen leicht verletzen, also taktlos sind. Noch mehr gefürchtet wurde aber wahrscheinlich die positive persönliche Bemerkung; denn zwischen Mann und Frau wird sie leicht zum Kompliment mit allen seinen vom Puritaner zu befürchtenden Konsequenzen. In der Tat, das gesprochene Kompliment kann, wenn es nicht sofort abgestellt wird, unaufhaltsam weitergehen, und wird dann zum gewollten oder ungewollten Tabu-Bruch. Der Tabu-Bruch besteht darin, daß der Sprecher Wörter oder ganze Texte ausspricht, die wegen ihres erotischen Inhalts tabuiert, d. h. von der normalen Kommunikation, besonders zwischen Mann und Frau, ausgeschlossen sind - dabei gibt es natürlich Verschiedenheiten je nach Schicht und Generation. Sprache als erotisches Stimulans 77 <?page no="78"?> Es gibt mindestens zwei verschiedene Sorten von Tabu- Bruch: die Anzüglichkeit und das kühne Kompliment. Anzüglichkeit kann etwa bestehen im Erzählen von Zweideutigkeiten und erotischen Witzen 48 . Von diesen gilt das bereits im Zusammenhang mit der typischen »Männersprache« Gesagte (vgl. S. 49 f.): meist sind sie dem weiblichen Geschlecht gegenüber ambivalent bis aggressiv, auch sind sie im Prinzip unpersönlich, sowohl mit Bezug auf das Objekt des Witzes (die Weiber oder die Männer im allgemeinen) wie auch in bezug auf das Subjekt (Gemeingut, das jeder erzählen kann). Die Anzüglichkeit ist also im ganzen eher reproduktiv, deshalb eher von sprachlich weniger kreativen Personen verwendet. Die andere Art des Tabu-Bruches ist das gewagte Kompliment, also etwa: »deine Brüste sind wundervoll« oder »deine Schenkel sind wie Seide«. Hier befinden wir uns auf der anderen Seite des normalerweise gesellschaftlich Zugelassenen. Aber die Grenzen sind natürlich verschwimmend. Und im Prinzip geschieht fast das gleiche wie beim »harmlosen« Kompliment: das narzißtische Erwecken, die Selbsterregung beim Aussprechen und, sofern »Tätlichkeiten« nicht schon begonnen haben, die implizierte Kundgabe der Absicht. Dazu kommt nun die Durchbrechung der bekannten und vorgegebenen gesellschaftlichen Schranken, gleichsam eine Einladung, sich ebenfalls auf die andere Seite zu begeben; alles zusammen erzeugt beim (eingestimmten) Partner einen süßen Schock. Streicheln mit Worten. Es kann viel wirksamer sein als Streicheln mit Händen. Wiederum direkt und fast ohne Übergang anschließend ist die dritte Phase, die Kundgabe der eigenen erotischen Absicht. War sie in der ersten und zweiten (im harmlosen und im tabubrechenden Kompliment) nur implizit vorhanden, so wird sie hier explizit ausgesprochen: »Ich will . . .«, »Laß mich . . .«, »Jetzt werde ich . . .«. Die ausdrückliche Wortung einer gewagten Handlung erzeugt wieder den »süßen Schock«; sie kann auch einem ängstlichen Partner das Erschrecken nehmen - so, man verzeihe den Vergleich, wie gute Krankenschwestern vorher sagen, was sie einem jetzt tun werden. Diese erotischen Ankün- 78 Sprache als erotisches Stimulans <?page no="79"?> digungen können Teil des sozusagen technisch notwendigen Gesprächs sein, sie können aber auch ganz spielerisch werden, etwa zu einem Hin und Her von »Nein«, »Ja«, »Nein«, »Ja« führen; wie denn überhaupt auch diese Phase Spiel und Humor nicht ausschließt. Ein köstliches Beispiel, ganz ohne Schwüle, ist die Liebesrede, die Hans Castorp (in Thomas Manns »Zauberberg«) an Clawdia Chauchat hält - einstweilen rein theoretisch, denn wir befinden uns noch im Salon; sie wird aber später doch in die Tat umgesetzt. Die Rede besteht weitgehend aus der Formel »Laisse-moi . . .«, wobei Hans Castorp mit deutscher Gründlichkeit und Systematik alles aufzählt, was er tun will, und dabei seine jüngst erworbenen Kenntnisse in der Anatomie verwendet. Er erreicht damit die Antwort: »Tu es en effet un galant qui sait solliciter d ’ une manière profonde, à l ’ allemande«, eine indirekte, aber deutliche Zusage. Wir fassen zusammen: als wesentliche Komponenten erotisch stimulierender Sprache können gelten: die emotionale Einstimmung (was wir beruhigen-beunruhigen genannt haben), das selbst-bewußt machende Kompliment, welches unvermerkt in den Tabu-Bruch übergeht, endlich die Ansage eigener körperlicher Absichten. Wir haben diese Komponenten Phasen genannt; aber sie brauchen natürlich nicht immer in dieser Reihenfolge zu erscheinen. Nun wollen wir drei besonders eindrucksvolle und berühmte literarische Beispiele auf diese Komponenten hin ansehen. Das älteste und nach seinem Einfluß wohl bedeutendste ist das Hohelied der Bibel (Canticum Canticorum, The Song of Solomon), eine Reihe von innerlich zusammenhängenden erotischen Gedichten, teils gestaltet als Monolog des einen oder andern Partners, teil als Dialog beider Liebenden. Reihenfolge und Situationsdeutung sind umstritten, auch die Zeilenzählung ist verschieden. Hier geben wir Text und Zählung nach der »Neuen Zürcher Bibel«. Die Einstimmung findet sich vor allem in den Frühlings-Schilderungen mit bereits erotischer Metaphorik ( 2 . 11 ): Sprache als erotisches Stimulans 79 <?page no="80"?> Sieh nur, der Winter ist dahin; vorüber, fort ist der Regen. (. . . . . . . . . . . . . . . . . .) und das Gurren der Turteltaube hebt an. Am Feigenbaum röten sich die Früchte, die Reben blühen und duften - auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm! Besonders vielfältig und ausgedehnt ist dann der erotische Kommentar über die Reize der Geliebten, voll von kühnen Vergleichen (z. B. 4 . 3 ): Einem Karmesinband gleich sind deine Lippen, und dein Plaudermund ist lieblich. Gleich dem Riß im Granatapfel schimmert deine Schläfe hinter deinem Schleier hervor. Dabei bleibt im Dialog auch die Partnerin nicht zurück; wobei sie sich allerdings nicht bis zur direkten Anrede vorwagt, sondern in der dritten Person verbleibt ( 5 . 15 ): sein Leib ein Elfenbeingebilde, bedeckt mit Saphiren, seine Schenkel sind Marmorsäulen, stehend auf goldenen Sockeln, (. . .) Und hieran schließen sich dann bereits Tabu-Brüche (wohl auch in einer andern Zeit und Gesellschaft als solche beabsichtigt und empfunden), besonders in 7 . 3 : Die Biegungen deiner Hüften sind wie Halsgeschmeide, gefertigt von Künstlerhänden. Dein Schoß ist ein verschlossenes Becken; nicht mangle der Mischtrank! Dein Leib ist ein Weizenhaufen, umgeben von Lilien. 80 Sprache als erotisches Stimulans <?page no="81"?> Deine Brüste sind gleich zwei Böcklein, Zwillingen der Gazelle. Davon kaum mehr zu trennen ist dann die Kundgabe der Absicht ( 7 . 8 ): Wie du da stehst, gleichst du der Palme und deine Brüste den Trauben. Ich dachte: Ich will die Palme ersteigen, will nach ihrer Rispe greifen. Deine Brüste sollen mir sein wie Trauben, und der Atem deiner Nase wie Äpfel, und dein Mund wie köstlicher Wein, der meinem Gaumen sanft eingeht und Lippen und Zähne mir netzt. Die Wirkung solcher Reden bezeugt 5 . 4 , wo es heißt: mir schwanden die Sinne bei seinem Reden. In der lateinischen Bibel, der Vulgata: Anima mea liquefacta est ut locutus est. Das weltliterarische Echo des Hohen Liedes ist ungeheuer. Wir haben bereits von den Kantaten Bachs gesprochen, wo das Liebesverhältnis geistlich ausgedeutet wird; man kann daran erinnern, daß der Chor aus der Matthäuspassion »Wo ist denn dein Freund hingegangen« wörtlich der Zeile 6 . 1 entspricht. Zahlreiche Beinamen für Maria (s. oben S. 41 ) sind aus dem Hohen Lied entnommen, so: »hortus conclusus, fons signatus« (verriegelter Garten, versiegelter Quell, 4 . 12 ). Der bekannte Film »The Little Foxes« bezieht sich mit seinem Titel auf die »kleinen Füchse«, die den Weinberg verwüsten ( 2 . 15 ). Lord Peter (im Kriminalroman »Busman ’ s Honeymoon« von Dorothy Sayers) sagt zu seiner Braut: »You are black but comely«, Sprache als erotisches Stimulans 81 <?page no="82"?> mit Anspielung auf 1 . 5 : »Braun bin ich zwar, doch hübsch« - auf die literarischen Chiffern Lord Peters werden wir zurückkommen (S. 121 f.). Das Gedicht »On his Mistress going to Bed« von John Donne ( 1572-1631 ) ist einer der Höhepunkte der englischen erotischen Dichtung; nicht einmal Marlowes »Hero and Leander« oder Shakespeares »Venus and Adonis« erreichen es an Intensität. Auf das komplexe Ineinander von Spiritualität und Leiblichkeit bei Donne gehen wir hier nicht ein; es genügt, zu sagen, daß hier wieder die wesentlichen Phasen oder Komponenten vereinigt sind, und zwar liegt diesmal das Gewicht deutlich auf der Beunruhigung - Aufforderungen zum Ausziehen, beinahe im Befehlston - worauf, ineinander, der Tabu-Bruch und die Kundgabe der Absichten in verschiedenen Varianten folgen. Sprachlich kulminiert das Gedicht in dem Satz Licence my roving hands, and let them go Before, behind, between, above, below. Ein Satz, der jedem Linguisten schon wegen seiner Menge von Präpositions-Adverbien teuer sein müßte - dem Nichtlinguisten sei gesagt, daß licence › Erlaubnis erteilen ‹ , rove › umherschweifen ‹ heißt. Neben diesem »heißen« erotischen Angriff gibt es auch den kalten, berechnenden. Eines der berühmtesten Beispiele der Literatur ist die Szene I 2 aus »Richard III« von Shakespeare, in der ein Mörder die Witwe des Ermordeten in kürzester Zeit von der Bahre eines zweiten Opfers ins Bett überredet. Die Szene 49 läßt sich in ihrer Ermöglichung des Unmöglichen auffassen als eine Art theatralischer Fingerübung; wie ein Komponist sich eine Etüde mit fast unmöglichen Terzen- oder Oktavengängen schreibt, mag sich auch ein Dramatiker etwas besonders Schwieriges absichtlich vornehmen; Christopher Fry hat, möglicherweise in dieser Absicht, eine ähnlich unmögliche Situation aufgegriffen in »A Phoenix too Frequent«, dessen 82 Sprache als erotisches Stimulans <?page no="83"?> Stoff auf das Thema der »Witwe von Ephesus« von Petron zurückgeht. Folgendes ist die Situation: Richard hat sowohl Edward, Annes Mann, wie auch König Henry VI, Annes Schwiegervater getötet. Er begegnet Anne, die ihm im Trauerzug mit der Bahre des Königs entgegenkommt; sie weiß, daß er der doppelte Mörder ist; daß er körperlich mißgestaltet ist, kommt noch dazu. In einer kurzen Szene, in der Rede und Gegenrede lebhaft wechseln, gelingt es ihm, sie umzustimmen und ihr so etwas wie ein Jawort zu entlocken. Wieder sind unsere Komponenten da: schon am Anfang steht Annes Aufgewühltheit - sie beschimpft ihn und spuckt ihn an, aber die negative Emotionalität ist bereits eine bessere Voraussetzung als die emotionelle Neutralität. Richard setzt sich zuerst gegenüber den Bahrenträgern durch, gibt ihnen Befehle, dann beginnt er die Kompliment-Phase, nennt Anne »angel«, macht ihre Schönheit für alles verantwortlich: Your beauty was the cause of that effect: Your beauty that did haunt me in my sleep (. . .) Er preist ihre Lippen, »nicht geeignet, Verachtung auszudrücken, mehr geeignet zum Küssen«. Dann läßt er den gezielten Tabu-Bruch, zusammen mit der Kundgabe der erotischen Absicht, folgen: Anne: »Für dich gibt es keinen Ort, außer der Hölle.« Richard: »Doch, es gibt einen andern: your bedchamber«. Ihren Fluch: »Mögest du in der Kammer, in der du (tot) liegst, keine Ruhe finden«, dreht er gleich um zu den Worten: »Ja, ich finde keine Ruhe, solange ich nicht bei dir liege.« Wir haben dieses erotische Zureden »kalt« genannt. Erstens ist es tatsächlich kalt berechnend, und es ist auch insofern kalt, als wir uns hier noch nicht in einer erotischen Situation befinden. Während beim Gedicht von Donne die körperliche Erotik mit der sprachlichen bereits vermischt ist oder doch unmittelbar bevorsteht, befinden wir uns hier von ihr noch weit entfernt, und Richards Voraussagen sind sozusagen eine »langfristige Prognose«. Sprache als erotisches Stimulans 83 <?page no="84"?> Wir kommen damit zu einem neuen Gesichtspunkt. Erotisches Zureden kann sich abspielen in der unmittelbaren Präsenz der körperlichen Erotik, es kann aber auch, räumlich und zeitlich noch weit von dieser entfernt, geschehen, wobei es dann ganz von selbst auch im Stil kühler, mehr argumentierend als mitreißend ist. Von diesem mehr argumentierenden Zureden sei hier noch kurz die Rede. Es findet sich wahrscheinlich bei zwei bestimmten Partnertypen. Auf der einen Seite gibt es den Typus des eiskalten Verführers, der langfristige Strategien anlegt, um sein Ziel zu erreichen; er ist am reinsten verkörpert im »Tagebuch eines Verführers« von Kierkegaard, wo etwa folgendes reflektiert wird: »Wie fange ich es an, Cordelia zu überraschen? Einen erotischen Sturm erzeugen, der Bäume entwurzeln könnte, sie von ihrem Ankergrund losreißen, heraus aus allem geschichtlichen Zusammenhang ihrer Existenz; dann ihre Erregung benützen und in heimlicher Zusammenkunft ihre Leidenschaft hervorlocken - nicht unmöglich, daß sich das machen ließe! (. . .). Allein ich fürchte, es wäre ästhetisch unrichtig. Eine solche Exaltation hervorzurufen, ist bei den Mädchen angebracht, die nur in diesem Zustand einen Abglanz des Poetischen bekommen. Meine Sache ist das eigentlich nicht, weil man dabei leicht um den Genuß kommt. Jedenfalls wäre es verfehlt, mit Cordelia so zu verfahren. Wohl wäre sie (. . .), aber (. . .)«. Der andere Typus des argumentierenden Liebhabers, dem eiskalten sonst ganz entgegengesetzt, findet sich gerne unter sehr jungen Intellektuellen; es ist der Typus, welcher sich - oft in langer, ermüdender Diskussion - von der Partnerin eine ausdrückliche, in Worte gefaßte Zustimmung zu Liebe und erotischen Aktivitäten einholt, bevor er damit beginnt - im Gegensatz zum erfahreneren, der »pragmatisch« vorgeht, jedes »Nicht-Nein« als »Ja« deutet und auf ausdrückliche verbale Zustimmungen gar nicht wartet. Gerade in diesem zweiten Fall ist die Zahl der Argumente anscheinend ziemlich beschränkt. Vor etwa 30 Jahren, als Jungfräulichkeit noch ein gehütetes Gut war, pflegte ein welterfah- 84 Sprache als erotisches Stimulans <?page no="85"?> rener holsteinischer Pfarrer seinen Konfirmandinnen kurz und bündig die vier »Touren« mitzuteilen, die von den Jungen angewendet werden, um die Mädchen zu überreden: Tour 1 : Du bist noch hinter dem Mond; die Zeiten haben sich längst geändert. Tour 2 : Sonst glaube ich dir nicht, daß du mich liebst. Tour 3 : Wir können sonst nicht wissen, daß wir zueinanderpassen. Tour 4 : Du kannst mich vor Schlimmem bewahren; ich gehe sonst vor die Hunde oder: ich falle sonst in schlechtere Hände. Dies sind tatsächlich häufige Typen der erotischen Argumentation; es gibt weitere, zum Beispiel in älteren Liebesgedichten; dort finden wir u. a. den Vorwurf des Geizes (du willst deine Schönheit, deine Reize, nur für dich selbst behalten) oder den der Grausamkeit (du treibst mit mir nur Spiel, lachst, wenn ich leide). Die Argumente der erotischen Überredung sind zwar zahlreich, sie können aber zum großen Teil mehr oder weniger konventionellen Typen zugerechnet werden. Natürlich ist damit der Mechanismus der Verführung noch nicht erklärt - zum Thema Überredung vgl. die Bücher von Brown und Mackensen 50 . Zur »langfristigen« erotischen Argumentation gehören auch die stilisierten, schriftlich niedergelegten Formen: Liebesbrief, Kontaktanzeige, Liebesgedicht, Opernarie und erotische Literatur. In allen von ihnen sind die Elemente, die wir als sprachliche Stimulantien aufgeführt haben, ganz oder teilweise enthalten. An sich gehören diese Formen der Literaturwissenschaft und nicht der Linguistik zu; wir werden uns hier auf ein paar kurze Bemerkungen beschränken. Den Liebesbrief gibt es zwar noch. Er ist aber in den letzten paar Jahrzehnten viel weniger häufig geworden. Die Frage warum ist nicht ohne weiteres zu beantworten. Das Telefon war vor dreißig Jahren auch schon da, es ist höchstens noch Sprache als erotisches Stimulans 85 <?page no="86"?> etwas selbstverständlicher und verbreiteter geworden. Aber die Kunst des Schreibens hat abgenommen und noch mehr die Kunst des Wartens; wir befinden uns in einem »Druckknopf- Zeitalter«, wo man dazu erzogen wird, die Erfüllung eines Wunsches sogleich nach der Äußerung zu erwarten 51 . Dem kommt das Telefon besser entgegen als die Briefantwort. Was immer die Gründe, der Liebesbrief könnte mehr gepflegt werden. Er hat vor der akustischen Kommunikation zweierlei voraus: das aufgeschriebene Wort wirkt (z. B. als Kompliment oder als Tabu-Bruch) noch stärker als das gesprochene. Und es hält sich länger, was zur Dauer und Stabilität einer Beziehung beitragen kann (vgl. auch das Kapitel Erinnerung). Die heute häufige Kontaktanzeige richtet sich zunächst einmal ins Leere oder an die Allgemeinheit; sie enthält aber dennoch einige erotische Elemente, z. B. Reizwörter, welche freilich meist sehr harmlos sind; im übrigen ist sie im Umfang minimal und stark typisiert 52 . Liebesgedicht, Arie (aus Oper und Operette), Schlager und Song, endlich die sogenannte erotische Literatur, sie alle sind stilisierte Formen erotischer Stimulation. Gemeinsam ist ihnen, daß sie häufig als literarische Vorbilder für Liebende wirken. Das Liebesgedicht ist von der Literaturwissenschaft schon ausgiebig behandelt worden. Musikalische Texte sind dagegen eher Stiefkinder der Wissenschaft. Schlager und Songs werden in neuerer Zeit intensiver betrachtet (vgl. unten S. 109 f.); der Operntext und der Operettentext (auch der Song im Musical) werden nach wie vor eher vernachlässigt; dabei erfreuen sich Operetten-Arien oder -Duette wie etwa »Schenkt man sich Rosen im Tirol« nach wie vor breitester Popularität - die Trivialliteratur-Forschung hätte hier noch ein weites, bisher unbeackertes Feld. Unter den Begriff der »erotischen Literatur« 53 faßt man sehr verschiedenes zusammen; einzige Gemeinsamkeit ist wahrscheinlich eine gewisse Freizügigkeit der erotischen Schilderung. Die Spannweite reicht von der didaktischen Literatur (angefangen mit dem indischen Lehrwerk »Kamasutram« und 86 Sprache als erotisches Stimulans <?page no="87"?> Ovids »Ars amatoria« bis zu den heutigen zahlreichen Anleitungen) über die galante Literatur bis zu eindeutiger Pornographie 54 . Für die letztere gewinnen wir aus der Überlegung, daß Sprache als erotisches Stimulans eine notwendige Komponente der Erotik ist, einen neuen Gesichtspunkt: Pornographie isoliert eine normalerweise ins Gesamte der Erotik eingebettete Komponente (nämlich die sprachliche Stimulation); sie ist damit in gewissem Sinne parallel zu Sadismus, Voyeurismus und anderen »Ismen«, bei denen jeweils eine Komponente der Erotik auf Kosten der anderen isoliert und alleinherrschend wird. Dies einige Bemerkungen zu den mehr stilisierten Formen sprachlich-erotischer Stimulation. In der direkten Stimulation erschöpft sich aber die Rolle der Literatur für die Erotik nicht. Die Literatur kann, weit über die körperliche Beziehung hinaus, Muster setzen, nach denen geliebt wird; davon ist im nächsten Kapitel die Rede. Sprache als erotisches Stimulans 87 <?page no="88"?> 3 . Lieben nach Texten a) Das Bedürfnis nach Identifikation Wir haben bis jetzt die Rolle der Sprache bei der Paarbeziehung auf zwei Aspekte hin betrachtet: wir haben gefragt, was der Privatcode für die Partner leistet, und wie Sprache als erotisches Reizmittel wirkt. Nunmehr wenden wir uns dem zu, was wir als »Lieben nach Texten« bezeichnen. Geschriebene Texte (hohe Literatur, aber auch Schlagertexte und ähnliches) können in zweierlei Weise wichtig werden: - die Literatur enthält potentielle Muster (Gefühls-, Handlungs- und Beziehungsmuster), denen sich Liebende einfügen können; dies ist unser »Lieben nach Texten« im engeren Sinne. - die Literatur enthält Chiffern (sprachliche Formulierungen), auf die die Partner zur Bereicherung ihres Privatcode greifen können. Wir beschäftigen uns zunächst mit dem ersten Aspekt, dem »Lieben nach Texten«. Die Formulierung hat etwas leicht Herablassendes, sie will aber den Tatbestand neutral wiedergeben. Nun ist es zweifellos so, daß hier ein gewisser Widerstand zu erwarten ist. Ein Paar nimmt normalerweise an, daß »unsere« Liebe etwas Einmaliges, Originelles und ausschließlich Selbstgeschaffenes sei. Aus diesem Grunde gibt es auch für dieses Kapitel noch weniger als sonst außerliterarische Zeugnisse, weil nur die wenigsten Menschen ein Lieben nach Vorbildern zugeben oder sich überhaupt bewußt machen; d. h. wir sind hier noch mehr als in den anderen Kapiteln auf literarische Beispiele angewiesen. Daß es ein Lieben nach Vorbildern häufig gibt, ist aber von der allgemeinen menschlichen Natur aus durchaus begründbar. Seit ältester Zeit, aber auch noch im Zeitalter des extremen Individualismus, gibt es ein menschliches Grundbedürfnis <?page no="89"?> zum Nachvollzug berühmter Muster. Man würde die Dinge zu stark vereinfachen, spräche man lediglich von Imitation: Imitation ist einerseits etwas Vormenschliches, und anderseits betrifft sie nur Teile oder äußerliche Elemente des Vorbildes. Was wir meinen, läßt sich am besten mit einigen Beispielen illustrieren. Fürsten der Renaissance und der Neuzeit ließen sich auf ihren Reiterstandbildern in römischer Tracht mit dem römischen Lorbeerkranz darstellen. Die Apotheose des Prinzen Eugen (Wien, von Balthasar Permoser) stattet den Prinzen mit den Attributen des Herkules aus: Keule und Löwenfell. Dürer malt sich selbst als Christus. In Raffaels »Schule von Athen« (in den Stanzen des Vatikans) sind die großen antiken Philosophen in einem lichten (übrigens die architektonische Zukunft vorwegnehmenden) Hallengebäude in Gruppen diskutierend dargestellt. Kenner von Raffaels Zeitgenossen haben entdeckt, daß Plato mit den Zügen von Leonardo, Archimedes mit denen von Bramante, Heraklit mit denen von Michelangelo dargestellt ist. Das kann durchaus so gedeutet werden, daß der Maler die größten seiner Zeitgenossen gleichsam als Wiedergeburten (man denke an den ursprünglichen Sinn des Wortes »Renaissance«) der großen antiken Vorbilder sieht. Mag hier die Identifikation lediglich durch den darstellenden Künstler empfunden und vollzogen worden sein, so gibt es doch zahlreiche Fälle, wo eine solche identifizierende Darstellung »bestellt«, also von der betreffenden Person selber bewußt gewählt worden ist. Geschichte, Kunstgeschichte und Religionsgeschichte geben wohl hunderte von Beispielen solcher nachvollziehender Identifikation. 55 Eines der bekanntesten literarischen Beispiele für den Nachvollzug ist Thomas Manns »Josephsroman«. Hier wird nicht nur die aus der biblischen Geschichte bekannte Josephs-Erzählung breit ausgesponnen und mit Details bereichert. Die eigentliche Besonderheit dieses Romans liegt vielmehr darin, daß Joseph, ein Mensch, der sich zu geschichtlich Bedeutendem bestimmt weiß, immer wieder in mythische Vorbilder »hinein- Das Bedürfnis nach Identifikation 89 <?page no="90"?> schlüpft«, ganz besonders, wenn er sich anderen gegenüber identifiziert. Als er von seinen Brüdern überfallen wird, als sie seinen bunten Rock zerreißen und ihn selbst in einen verlassenen Brunnen werfen, aus dem er von Reisenden wieder herausgeholt wird, empfindet er dieses Erlebnis so: er ist der Zerrissene (der Gott-Typus des Thammuz-Osiris), er ist der in die Grube Gefahrene und wieder Auferstandene. Das heißt, er sieht sich als Re-inkarnation göttlicher Archetypen, nicht wie jene Götter sondern als sie selbst 56 . Schon etwas gemildert und rationalisiert findet man die Idee der Re-inkaration in der Formel: »Es ist mir, als sei X. wieder auferstanden«, die in verschiedenen Abwandlungen zum Beispiel bei Shakespeare häufig vorkommt; bei ihm wird Heinrich V. als Mars vorgestellt (Henry V., General Prologue) und mit den Attributen des Kriegsgottes versehen; die Freier Portias, die von allen Enden der Welt über das Meer zu ihr fahren, sind Jasons (der Held Jason unternahm die Fahrt mit dem Schiff Argo, um im fernen Kolchis einen Gegenstand von höchstem Wert zu holen); der »höchst gerechte Richter« im »Kaufmann von Venedig« wird als Daniel oder als zweiter Daniel bezeichnet (Daniel in dem gleichnamigen apokryphen Buch der Bibel, Muster eines Richters, der Täuschungen durchschaut). Auch das alltägliche sprachliche Idiom sagt nicht »er ist wie Herkules« sondern: »Er ist ein Herkules«, es vergleicht nicht, es identifiziert 57 . Man könnte annehmen, daß die bewußte und gesamthafte Identifikation, wie wir sie hier geschildert haben, vor allem in hohen Bereichen vorkommt, also bei Menschen, die einerseits über ihren Platz in der Welt und über ihre (geschichtliche) Aufgabe eine bestimmte Vorstellung haben (selbst-bewußt sind in beiden Bedeutungen: «hoch von sich denkend« und »bewußt über sich nachdenkend«), Menschen anderseits, die genügend gebildet sind, um über ferne geschichtliche oder mythische Vorbilder Bescheid zu wissen. In Wirklichkeit ist aber ein hoher Bewußtseinsgrad oder das Bewußtsein einer Aufgabe nicht nötig. Sehr häufig ist eine nur 90 Lieben nach Texten <?page no="91"?> halbbewußte Identifikation; auch braucht das Vorbild keineswegs ein Held im üblichen Sinne zu sein. Große Vorbilder der neueren Zeit sind eher (real existierende oder literarisch-fiktive) Antihelden: Werther, Byron, Shelley 58 , James Dean, Rebellen, die der Gesellschaft und den Werten ihrer Zeit gegenüber standen. Als solche bildeten sie u. a. ein Gegengewicht zur befohlenen Identifikation: »Nehmt euch X. zum Vorbild! « Dieser Typ kann zum Idol werden. Die Identifikation ist hier, wie gesagt, weniger bewußt gesetzt. Und sie bleibt auch oft ein Geheimnis, das ungerne in Worten preisgegeben wird. Nur Symbole, wie der blaue Wertherfrack oder das starke Motorrad, verraten den »Fan«. Die Identifikation kann auch nur einzelne Aspekte betreffen, zum Beispiel dichterische Formulierungen von Gefühlen, in denen man die eigenen wiedererkennt oder erst wirklich bildet, wobei man die Person des Verfassers gar nicht zu kennen braucht. Alle diese Formen von Identifikation sind für den Menschen nötig. Seine Ziele, seine Gefühle, sein Selbst-Bewußtsein würden sonst im Leeren schweben. Es handelt sich also keineswegs um ein unerwünschtes oder unoriginelles Kopieren, wie man heute, wo der Wunsch nach Neuheit und Originalität sehr stark ist, gerne annimmt. b) Gesamthafter Nachvollzug Nach diesem mehr allgemeinen Exkurs über das Identifikationsbedürfnis zurück zu unserem eigentlichen Thema. Auch die Paarbeziehung muß sich, um Gestalt zu gewinnen und um nicht im rein Biologischen zu verbleiben, weitgehend an vorgegebenen Mustern orientieren. Es gibt deshalb auch innerhalb der Geschichte zahlreiche Wechsel; man kann mit Huxley von »fashions in love« sprechen 59 . Wir beschränken uns, unserem Thema gemäß, auf sprachliche Einflüsse und beschäftigen uns nicht weiter mit möglichen außersprachlichen Mustern (be- Gesamthafter Nachvollzug 91 <?page no="92"?> wunderte menschliche Konstellationen, Filmstars usw.). Auch innerhalb des sprachlichen Einflusses können wir nicht alles gleich behandeln. Nur berühren können wir hier die didaktische Literatur, Literatur also, die bewußt Anweisungen gibt, wie man sich in der Erotik verhalten solle, ebenso wissenschaftliche oder andere Literatur, die das Verhalten von Zeitgenossen schildert. Zwar ist zu erwarten, daß diese Arten von Literatur eine starke Wirkung, zum Beispiel auf die »Technik« des Liebens haben. Anderseits ist aber der direkte Einfluß schwer nachzuweisen, weil im Grunde ein dialektisches Verhältnis vorliegt. Hierzu zwei Beispiele, ein sehr altes und ein modernes. Das indische Buch der Liebeskunst »Kamasutra« des Vatsyayana ( 3 . Jahrhundert n. Chr.) gibt unter anderem ausgedehnte Anweisungen zur Technik des Beißens, vor allem des Beißens mit dem Zweck, hübschgeformte Male zu erzeugen. In der indischen schönen Literatur findet sich nun folgendes Motiv: nach den Hochzeitsnächten verläßt die Braut die Kammer und zeigt ihren Freundinnen stolz ihre neuerworbenen Beißmale. Man kann hier annehmen, daß die »Lehre« gewirkt hat, das heißt, daß die Aufforderung im didaktischen Text eine entsprechende Verhaltensweise im außersprachlichen Leben ausgelöst hat. Es ist aber nicht sicher, daß das Verhältnis von Ursache und Wirkung so einfach ist. Denn, was im Kamasutra systematisch geschildert wird, ist wahrscheinlich seinerseits eine Bestandsaufnahme von bereits vorhandenen, im realen außersprachlichen Leben geübten Verhaltensweisen. Das heißt, die Kausalität ist nicht einfach: »Literatur Leben« sondern eher »Leben Literatur Leben«, wenn nicht noch komplizierter. Die gleiche Beziehung der Dinge liegt vor beim sogenannten »Kinsey Report«, einem Bericht über das sexuelle Verhalten, der eine breite Wirkung im Sinne einer Enthemmung im Sexualleben hatte. Ein geschriebener Text wirkte also auf das außersprachliche Leben. Aber noch sicherer als beim ersten Beispiel wissen wir, daß dieser Text seinerseits nichts anderes war als eine (mehr oder weniger) getreue Darstellung bereits bestehender 92 Lieben nach Texten <?page no="93"?> Verhaltensweisen im außersprachlichen Leben. Das heißt, auch hier kann man am ehesten von einem dialektischen oder zirkulären Verhältnis sprechen. Aus diesem Grund ist der Einfluß von Texten auf das Leben bei didaktischen und referierenden Werken schwer festzustellen. Ein eindeutiger Einfluß ist eher dort auszumachen, wo das literarische Werk etwas Schöpferisches, Neues - im Extrem: Unerhörtes - bietet, wie etwa bei Sade. Was wir im folgenden genauer betrachten wollen, sind aber nicht körperlich-erotische Techniken, da aus den eben genannten Gründen der Einfluß der »erotischen Kochbücher« schwer nachzuweisen ist - sondern vielmehr der Einfluß von Literatur auf die Paarbeziehung und Liebe im allgemeinen. Allerdings gilt auch hier: der Einfluß ist schwer festzustellen, besonders heute, weil fast jedermann den Anspruch stellt, original und schöpferisch zu lieben und weil sich die meisten, sofern sie nicht über einen hohen Grad von Reflexion verfügen, des verhaltensleitenden literarischen Musters gar nicht bewußt sind. Wir können deshalb, wie bereits gesagt, vom lebenden Informanten kaum das Bekenntnis erwarten: »Ich liebe nach dem Buch X.«. Allenfalls kann so ein Bekenntnis lange nach dem Ereignis, im Rückblick erfolgen; so hat Goethe den literarischen Anteil seiner Sesenheimer Liebe zu Friederike Brion vierzig Jahre später, als er »Dichtung und Wahrheit«, seine Autobiographie, schrieb, sicher klarer gesehen als zur Zeit der Liebesbeziehung selbst. In Fällen, wo die starke Wirkung eines Buches seinem Autor selbst bewußt geworden ist, dürfen wir auch den Autor fragen und ihn als guten Zeugen betrachten. Tucholsky, in der Vorrede zum 50 . Tausend seines Buches »Rheinsberg«, weist in einem Nebensatz auf dessen gewaltige Wirkung hin: »Die Sache war damals so, daß ich das Buch, nach dem später generationsweise vom Blatt geliebt wurde, an der See schrieb . . .«. Und wenn uns die so vielfach prägende Wirkung von Goethes »Werther« nicht sonst bekannt wäre, so könnten wir uns auf Goethes eigenes Gedicht berufen: Gesamthafter Nachvollzug 93 <?page no="94"?> Jeder Jüngling sehnt sich, so zu lieben, Jedes Mädchen, so geliebt zu sein (. . .) das er der zweiten Auflage des »Werther« vorangestellt hat. Oder wir müssen uns zu literarischen Werken begeben, deren Figuren die Muster anderer literarischer Werke nachvollziehen. Wie und was wird nun - um Tucholsky zu zitieren - vom Blatt geliebt. Das Umfassendste, wahrscheinlich aber auch Seltenste ist der Nachvollzug von ganzen Beziehungsstrukturen, etwa in dem Sinne, daß eine bestimmte Art von Zweiheit, eventuell auch Dreiheit, also eine bestimmte Personenkonstellation nachgelebt wird 60 . In dem Roman »As if by Magic« ( 1973 ) von Angus Wilson wird in bezug auf die Liebesbeziehung von drei jungen Leuten, Alexandra, Ned und Rodrigo, immer wieder D. H. Lawrences Roman »Women in Love« (entstanden 1916 ) erwähnt. Alexandra, Ned und Rodrigo orientieren sich an Lawrences Helden Birking, Ursula und Gerald; auch sie streben nach neuen Lebens- und Liebesformen, frei von Konvention, und auch sie suchen, die Begrenztheit von Zweierbeziehungen zu überwinden. - In dem gleichen Roman von Wilson gibt es auch andere Muster: Tolkiens »Lord of the Rings« und »Trilby« von George du Maurier. »Trilby«, erschienen 1894 , war seinerzeit ein berühmter Bestseller, der sich bis in die Mode hinein auswirkte (Trilby hat, eine besondere Art von weichem Filzhut); in seinem Mittelpunkt steht die Sängerin Trilby, die in und aus dem hypnotischen Bann des geheimnisvollen Musikers Svengali lebt. Goethes Beziehung zu Marianne Willemer ist im deutschsprachigen Bereich das klassische Beispiel für Nachvollzug bei völliger Wahrung der eigenen Originalität. Im Juni 1814 las Goethe die Übersetzung der Werke des persischen Dichters Hafis ( 14 . Jahrhundert). Er fand in Hafis einen Typus, mit dem er sich identifizieren konnte, den weltfroh-mystischen Dichter, der keinen Gegensatz zwischen weltlichem Genuß und Frömmigkeit kennt und deshalb die Feindseligkeit der ihn umgebenden Moralisten erdulden muß. Im September und 94 Lieben nach Texten <?page no="95"?> Oktober des gleichen Jahres reiste Goethe an den Rhein und in die Gegend von Frankfurt und lernte dort Marianne von Willemer kennen. Die Liebe beider wird zum Nachvollzug persischer Muster: Goethe nennt sich Hatem, nach einer gleichfalls berühmten Figur der persischen Literatur, Marianne wird von ihm Suleika genannt (über diese Benennungen s. oben S. 37 f.). Im Hintergrund steht die ebenfalls dem Osten zugehörige Gestalt des Timur, der die Weltgeschichte so entscheidend verändert hat wie Napoleon, für den der Name steht. Diese Identifizierungen geschahen in der gelebten Wirklichkeit, in Briefen und Zetteln - über die dabei verwendeten literarischen Chiffern vgl. S. 114 ff. - und sie sind womöglich noch konsequenter durchgeführt in dem literarischen Spiegel dieses Nachvollzugs, dem »West-östlichen Divan« (Divan = Gedichtsammlung). In den Gedichten dieser Sammlung ist immer wieder von Mustern die Rede, denen nachgelebt werden kann, zum Beispiel in dem Gedicht »Musterbilder« (»Hör ’ und bewahre Sechs Liebespaare . . .«) 61 . Und Hatem und Suleika wollen ihrerseits in der Liebe musterhaft sein (»Musterhaft in Freud ’ und Qual« in dem Gedicht: »Ist es möglich . . .«). Wir sehen bereits hier, daß es ganze Ketten von Nachvollzug geben kann, indem ein Paar nach einem berühmten Muster liebt und seinerseits wieder zum Muster wird - dies kann ganz sicher von Goethe und Marianne von Willemer gelten, denen später oft nachgeliebt worden ist. Eines der berühmtesten Muster aus der französischen Literatur - wenn man von Rousseaus »Nouvelle Héloise« absieht, von der noch zu reden ist - sind Paul et Virginie aus dem gleichnamigen Roman von Bernardin de Saint-Pierre ( 1787 ): zwei Kinder, die im tropischen Paradies einer Südseeinsel aufwachsen und sich in völliger Unschuld frei von Zwängen lieben lernen. Théophile Gautier schreibt in »Fusains et Eaux-Fortes« (Paris 1880 , pp. 199-205 ), daß »man« allgemein nach Paul et Virginie geliebt habe (diesen Hinweis verdanke ich Pierrette Ullmann); und noch der blaue Leutnant in Colettes »Mitsou« sagt, als er endlich die erotische Konvention erfüllen und Mitsou Gesamthafter Nachvollzug 95 <?page no="96"?> in Besitz nehmen muß: »Reißen wir uns aus dieser Paul-et- Virginie-Romantik.« Im Zusammenhang mit »Paul et Virginie« sind zwei Dinge anzumerken. Das Muster des in völliger Naturverbundenheit aufwachsenden und ohne Zwang von der Kindheit zur Liebe übergehenden Paares ist vermutlich auch bei Saint-Pierre nicht neu. Es ist kaum denkbar ohne das Vorbild von »Daphnis und Chloe«; in diesem griechischen Hirtenroman des Longus ( 2 . oder 3 . Jahrhundert n. Chr.), der in der Weltliteratur von großem Einfluß war, findet sich bereits ähnliche Liebe und ähnliche Umgebung, nur sind wir hier nicht in der Südsee, sondern in der Aegäis, auf dem idyllisch-arkadischen Lesbos. Und was wir bei Saint-Pierre, wie auch schon bei Longus bemerken: das Liebespaar wird nicht nur um seiner selbst willen zum Muster, sondern vor allem seiner Umwelt wegen, die die Gefühle des Lesers in besonderer Weise anregt und für die Liebe gewissermaßen vorbereitet. Hierfür zwei berühmte Beispiele. Als Goethe (einundzwanzigjährig) in Straßburg wohnte, besuchte er oft die Familie Brion in Sesenheim (Sessenheim im Elsaß); der Vater war ein Landpfarrer. In die Tochter Friederike verliebte sich Goethe leidenschaftlich; die Liebe schlug sich in Liebes- und Landschaftslyrik nieder, welche literarisch darum bedeutsam ist, weil Goethe hier erstmals völlig von konventionellen Vorbildern loskommt und einen eigenen Ton findet. Interessant in unserem Zusammenhang ist nun folgendes: Bevor Goethe nach Sesenheim kam, hatte er eben den Roman »The Vicar of Wakefield« von Oliver Goldsmith gelesen und das dort gezeichnete Bild der Familie eines Landpfarrers (mit schönen Töchtern) in idyllischländlicher Umgebung in sich aufgenommen; er identifizierte die real erlebte Umwelt mit der bereits geliebten fiktiven und war dadurch für seine Liebe mindestens vorbereitet. Im 11 . Kapitel seiner Autobiographie »Dichtung und Wahrheit« heißt es: 96 Lieben nach Texten <?page no="97"?> Ein anderes Frauenzimmer, das sich zu uns gesellt, fragte nach einigen Romanen, ob Friederike solche (= diese) gelesen habe. Sie verneinte es; denn sie hatte überhaupt wenig gelesen; sie war in einem heiteren, sittlichen Lebensgenuß aufgewachsen und demgemäß gebildet. Ich hatte den »Wakefield« auf der Zunge, allein ich wagte nicht, ihr ihn anzubieten; die Ähnlichkeit der Zustände war zu auffallend und zu bedeutend. - »Ich lese sehr gern Romane«, sagte sie; »man findet darin so hübsche Leute, denen man wohl ähnlich sehen möchte.« Wir bemerken zwei Dinge. Das literarische Muster ist fast zu übermächtig; man darf es kaum nennen. Und auch die Freundin, obwohl an sich nicht sehr belesen, äußert den Wunsch, manchen Romanfiguren ähnlich zu sehen. Daß die Landschaft, in welcher sich eine erdichtete Liebe abspielt, von ganz großer Bedeutung werden kann, sehen wir etwa in der Apotheose von Clarens in Byrons »Childe Harold«. Diese Verserzählung (etwa zu übersetzen mit »Junker Harold«) schildert eine Reise durch Europa, die der Held unternimmt. Er, Harold, verkörpert übrigens auch einen literarischen Typus, dem später oft nachgelebt und nachgeliebt worden ist: den »Byronic Hero«, den gefühlsstarken, ruhelos umhergetriebenen Welt- und Gesellschaftsverächter, sündig, melancholisch und dabei gefährlich attraktiv. Er kommt auf seinen Wanderungen (Canto III, Strophe 99 ) auch nach Clarens (bei Montreux am Genfer See): Clarens! sweet Clarens, birthplace of deep Love! Thine air is the young breath of passionate thought; Thy trees take root in Love; the snows above The very Glaciers have his colours caught (. . .) Clarens! by heavenly feet thy paths are trod, - Undying Love ’ s, who here ascends a throne, To which the steps are mountains (. . .) 62 . Gesamthafter Nachvollzug 97 <?page no="98"?> Die Landschaft von Clarens, von den Seegestaden bis hinauf zu den geröteten Gletschern, wird erhoben zum Sitz des Liebesgottes selbst. Warum? Weil in und um Clarens die fiktive Liebe zwischen Julie und Saint-Preux sich abspielt, den Helden von Rousseaus Roman »La nouvelle Héloise«, einem Roman, der naturverbundene Liebe und Freiheit der Gefühle des (an sich guten und nur durch die Gesellschaft gefährdeten) Menschen vertrat, der romantisches Lieben auf Generationen hinaus prägte, so stark, daß schon die Örtlichkeit, in der sich diese fiktive Liebe abspielt, heilig gehalten und zum Gegenstand von Wallfahrten gemacht wurde. Und nun, nach den Beziehungsstrukturen und den Umwelten, die Partner dieser Strukturen und Bewohner der Umwelten, die Helden selbst. Ganz sicher ist der Einfluß literarischer Helden auf die Gestaltung von realen Liebesbeziehungen sehr groß. Er ist aber wie immer schwer nachzuweisen. Nur kurz erwähnen wollen wir deshalb diejenigen großen Liebes-Vorbilder, denen ganz sicher vielfältig nachgeliebt wurde, deren Einfluß (außerhalb der Literatur) aber schwer darzustellen ist: Don Giovanni, Casanova (er hat zwar sehr real gelebt, aber in seinen Memoiren ist er dennoch eine Gestalt der Literatur, ein sprachliches Muster), Romeo und Julia, Tannhäuser und so fort. Nicht zu unserem Thema gehören die vorbild-schaffenden wirklich existierenden Liebes-Idole des Films: Rudolf Valentino, Greta Garbo, Clark Gable, Marlene Dietrich, Marilyn Monroe und viele andere. Zu den eigentlich literarischen (also rein aus Sprache bestehenden) Handlungs- und Gefühlsvorbildern ebenfalls nur einige Beispiele. Werther wurde schon genannt; sein Einfluß auf das reale Verhalten ist in Kindlers Literaturlexikon so geschildert: »Das Werther-Schicksal wurde von einer ganzen Generation, die sich in dieser Romanfigur wiedererkannte, begierig aufgegriffen als Gebärde des Protests und der Selbstdarstellung (. . .). Man parfümierte sich mit › Eau de Werther ‹ , fand Werther-Nippes dekorativ, eine Epidemie stilechter Werther-Selbstmorde war zu verzeichnen, und die Werther-Mode schrieb vor: 98 Lieben nach Texten <?page no="99"?> blauer Frack mit Messingknöpfen, gelbe Weste, braune Stiefel, runder Filzhut und ungepudertes Haar.« Neben solchen ganzen »Epidemien« gibt es auch bedeutsame Einzelfälle. In der neueren italienischen Literatur hat sich u. a. der Dichter Guido Gozzano ( 1883-1916 ) mit dem Thema der literarischen Vorbilder beschäftigt 63 . Er stimmte voll und ganz Oscar Wilde zu, welcher in »The Decay of Lying« behauptet, daß nicht die Literatur die Welt nachmache, sondern die Welt die Literatur. In einem Artikel, der den bedeutungsvollen Titel »Intossicazione« (Vergiftung) trägt, berichtet Gozzano über einen wirklich geschehenen juristischen Fall. Der siebzehnjährige Älpler Stefano bringt aus Verzweiflung wegen einer unerwiderten Liebe das Mädchen Caterina Viola und dessen Verlobten (der Stefano vorgezogen wurde) um. Und zwar begeht Stefano die Mordtat mit dem Gedichtbuch seines Lieblingsautors Lorenzo Stechetti unter dem Arm. Gozzano sagt ausdrücklich, daß Stefano nie einen Mord begangen hätte, wäre er nicht durch die Literatur vergiftet worden; im besonderen sei Stefano das Opfer Lorenzo Stechettis und dessen Gedichtbands »Postuma«. - Lorenzo Stechetti ist heute ein wenig bekannter Dichter, dessen Gedichte aber Ende des letzten Jahrhunderts großen Anklang fanden; in ihnen wird häufig von unerwiderter Liebe und Eifersucht erzählt, die bis zum Mord führt 64 . Und noch ein neueres, weniger tragisches Beispiel: Isadora Wing, die »Heldin« des berühmt-berüchtigten Bestsellers »Fear of Flying« von Erica Jong (Panther Books 1974 ) »mißt« ihre erotischen Erlebnisse mindestens am Anfang an denjenigen von Lawrences Lady Chatterley. Wenn wir diese Vorbilder und ihre Nachvollzüge betrachten, können wir zu trennen suchen zwischen Subjekts- und Objektsidentifikation. Es gibt nämlich einerseits Vorbilder, mit denen man sich hauptsächlich selbst identifiziert. Werther ist das klassische Beispiel dafür: Wohl wollte man eine Lotte lieben, in erster Linie aber wie Werther lieben. Anderseits gibt es Vorbilder, mit denen man vor allem den (vorhandenen oder herbeigesehnten) Partner identifiziert. Ein typisches Beispiel dafür Gesamthafter Nachvollzug 99 <?page no="100"?> etwa Lolita, das verführerische, kaltschnäuzige Kind-Weib, dem Humbert Humbert völlig hörig wird (Wladimir Nabokov, Lolita, erschienen 1955 ). Hier ging es dem Leser nicht so sehr darum, wie Humbert Humbert zu lieben oder wie Lolita geliebt zu werden, sondern in erster Linie, eine Lolita zu finden und zu lieben, das heißt, hier stand sicher die Objekts-Identifikation im Vordergrund. Man kann versuchen, die literarischen Musterfiguren in Subjektsvorbilder oder Objektsvorbilder einzuteilen. Beide Formen lassen sich aber meist nicht so scharf trennen wie etwa Werther und Lolita. Bei dem ersten Identifikations-Typus, den wir behandelt haben, wo ganze Beziehungsstrukturen nachgelebt werden, muß das Muster sogar definitionsgemäß sowohl im Subjekt wie im Objekt liegen. Lolita führt uns zu einer weiteren Beobachtung. Wir bemerken, daß es oft ganze Ketten von Vorbild-Nachvollzug-Beziehungen gibt, das heißt, der (literarische) Nachvollzug kann seinerseits wieder zum Vorbild für (literarischen oder realen) Nachvollzug werden. Der um die Jahrhundertwende aufkommende Typus des Weibs-Dämons (der Ur-Vamp) hat sich besonders nachdrücklich und wirksam in Lulu (der Heldin von Frank Wedekinds »Erdgeist«) verkörpert; der Typus lebt leicht modifiziert wieder auf in Lola, der Heldin des Films »Der blaue Engel« mit dem Drehbuch von Carl Zuckmayer, nach dem Roman »Professor Unrat« von Heinrich Mann - wie man weiß wurde Lola großartig verkörpert durch Marlene Dietrich, deren Weltruhm und Image auf jene Rolle zurückgeht; die kleinere, aber nicht minder gefährliche Ausgabe von Lola ist Lolita. Alle drei waren zu ihrer Zeit sprichwörtliche Vorbilder. Man braucht kein Phonetiker zu sein, um zu empfinden, daß schon die Namen mit ihrem Zungenspiel »gefährlich« sind, was übrigens Nabokov auch ausdrücklich sagt. Eine zweite solche Vorbild-Kette verknüpft den bereits genannten Byronic Hero nach zwei Seiten. Als melancholischer, attraktiver Rebell - verkörpert durch Byrons Leben und durch Byrons Helden wie Manfred, Childe Harold, Don Juan - hat er seine Vorfahren in Shakespeares Hamlet und in Satan, einer 100 Lieben nach Texten <?page no="101"?> besonders liebevoll ausgeführten Figur aus Miltons Epos »Paradise Lost«. Und der Byronic Hero zeugt wiederum Nachkommen: z. B. den geheimnisvollen Mr. Rochester (in Charlotte Brontës »Jane Eyre«) und Eugen Onegin, den Helden von Puschkins gleichnamigen Epos - direkt oder über diese Gestalten hat er noch viele andere reale oder literarische Nachvollzieher. Auch Werther ist ein Glied in einer Kette von Nachvollzügen. Er selbst stützt sich bei der Bildung seiner Gefühle auf Klopstock, vor allem in einer berühmten Stelle, auf die wir noch kommen werden (S. 115 f.). Klopstock seinerseits beschreibt in seiner gleichfalls berühmt gewordenen Ode »Der Zürchersee« einen Ausflug junger Menschen auf die Halbinsel Au, bei dem sich literarisch vorgegebene und eigene Gefühle völlig vereinigen: eine Begleiterin singt einen Text, mit dem sie selbst weitgehend identifiziert wird, Und wir Jünglinge sangen, Und empfanden wie Hagedorn. Friedrich von Hagedorn, lyrischer Dichter, Anakreontiker, 1708-1754 , heute wohl nur noch den germanistischen Fachleuten bekannt, setzt also in seinen Texten Gefühle, denen die Jünglinge auf der Fahrt zur Au nachempfinden. Von ihm aus geht die Kette eines bestimmten Gefühlstypus - Liebe mit religöser Landschaftsseligkeit gepaart - über Klopstock und Werther bis zu den Werther-Nachahmern in Literatur und Leben. Nur als Anmerkung: es ist nicht von ungefähr, daß wir bei der Behandlung dieses Themas so viele heute noch berühmte oder mindestens bei ihren Zeitgenossen berühmte Werke antreffen. Denn die Identifikationsmöglichkeit ist natürlich eine der besten Vorbedingungen dafür, daß ein Werk einschlägt, mit anderen Worten, zum Bestseller wird 65 . Gesamthafter Nachvollzug 101 <?page no="102"?> c) Punktueller Nachvollzug Mit dem Ausflug auf die Halbinsel Au kommen wir zu einer anderen Art des Nachvollzuges. Bis jetzt haben wir Nachvollzüge betrachtet, die insofern total oder gesamt waren, als sie ganze Beziehungsstrukturen oder mindestens ganze Umwelten oder ganze Figuren zu wiederholen suchten. Noch häufiger ist aber der Fall der nur punktuellen Identifikation: Ein Mensch (oder ein Paar) stößt in einem Text (Roman, Gedicht, Schlager etc.) auf eine sprachliche Formel, die seine bisher gestaltlosen Gefühle plötzlich deutlich macht, so daß ihm fast schockartig bewußt wird: ja, das ist es! Hier wird also nicht eine Figur, wohl aber ein Gefühl nachvollzogen, oder, noch deutlicher gesagt: das Gefühl bildet sich erst am Textmuster im Augenblick des Lesens oder Hörens. Hierher gehört das wohl berühmteste Beispiel von Liebenden, die einen Text nachvollziehen, die Episode von Paolo und Francesca am Schluß des fünften Gesanges des »Inferno« in Dantes Divina Commedia. Auf seiner Wanderung durch die Hölle kommt Dante in den Bereich der Sünder aus Liebe und trifft auf Paolo und Francesca aus Rimini - beide wurden von Francescas Gatten überrascht und ermordet. Dante findet sie weinend und fragt nach ihrer Geschichte, im besonderen nach der Ursache ihres Ehebruchs. Francesca antwortet ihm darauf, und die für uns wichtige Stelle ist folgende: Noi leggevamo un giorno per diletto di Lancelotto, come amor lo strinse: soli eravamo e senza alcun sospetto. Per più fiate gli occhi ci sospinse quella lettura, e scolorocci il viso: ma solo un punto fu quel che ci vinse. Quando leggemmo il disiato riso esser baciato da cotanto amante, questi, che mai da me no fia diviso, la bocca mi baciò tutto tremante: 102 Lieben nach Texten <?page no="103"?> Galeotto fu il libro e chi lo scrisse; quel giorno più non vi leggemmo avante 66 . Zum besseren Verständnis muß man folgendes wissen: Das Buch, das die beiden Liebenden zusammen lasen, handelt von Lancelotto (Lancelot, Lanzelot), einem der Ritter aus dem Gefolge des sagenhaften Königs Arthur (Artus), besonders von seiner unglücklichen Liebe zur Frau seines Herrn, der Königin Ginevra (Genièvre, Guinevere, Jennifer). Der Lancelot-Roman existierte in verschiedenen Fassungen und begegnete zu seiner Zeit ungeheurem Interesse 67 . In der Fassung, auf die sich Dante bezieht, wagt es Lancelot trotz seiner Leidenschaft nicht, sich der Königin zu nähern; aber sein Freund Galeotto (Galehaud, Sir Galahad) bringt Ginevra dazu, dem schüchternen Lancelot einen Kuß zu geben, worauf die Liebe ihren Lauf nimmt. Galeotto übernimmt also die Rolle des Vermittlers. Und hierauf bezieht sich Francesca, wenn sie sagt, ihr Galeotto sei das Buch oder dessen Verfasser gewesen. Das Beispiel ist sicher nicht nur darum berühmt, weil es bei Dante steht, sondern darum, weil es die extreme Ausprägung des »kupplerischen Texts« erzählt: ein Paar, das, noch arglos, lediglich zum Vergnügen liest, wird durch die Lektüre eines bestimmten Textes blitzartig so entflammt, daß die Liebe mit allen ihren Konsequenzen ausbricht. Solche extremen Formen mögen seltener sein; ganz sicher aber gibt es das Prinzip, und ganz sicher sind mildere Formen ungeheuer häufig. Dazu ein moderneres und sicher repräsentatives Beispiel. Ein Kollege, Professor für Linguistik, erzählte: »Vor einigen Jahren, als die Beatles noch auf dem Höhepunkt ihres Ruhmes waren, lernte ich in einer fremden Stadt eine Studentin kennen, die sich bei mir über einige fachliche Probleme erkundigte. Als man damit fertig war, ging man noch auf einen Aussichtspunkt und aß ein Eis, alles in größter Harmlosigkeit. Nach einigen Tagen bekam ich zufällig von Bekannten eine Schallplatte der Beatles geschenkt, und als ich sie spielte, war ich getroffen von dem Song, der mit den Worten beginnt Punktueller Nachvollzug 103 <?page no="104"?> Something in the way she moves . . . Es schien mir, ich habe nun plötzlich den Grund für meine Verliebtheit erkannt - auch, daß ich überhaupt verliebt sei, wußte ich nun hinterher. Text und Melodie verfolgten mich, und ich sah dabei das Mädchen vor mir hergehen.« Das ist nun ein Vorgang, der sich vielfältig abspielt. Man kann geradezu sagen: es gehört zum Wesen der Dichtung (der »hohen« wie der trivialen), die Gefühle des Lesers/ Hörers, die erst halbbewußt und -geformt sind, in eine feste, bewußte und verfügbare Gestalt zu bringen. Wesentliche Funktion der Dichtung ist es, Geburtshelferin der Gefühle zu sein. Mit diesem Ausdruck ist angedeutet, daß diese Funktion nicht ausgeübt werden kann, wenn nicht ein Keim von Gefühl bereits da ist, daß aber diese Gefühle nicht zur Welt kommen können ohne sie. Eine solche Geburtshilfe kann auch durch andere Medien als die Sprache, z. B. die bildende Kunst oder den Film, geleistet werden. Wir beschränken uns hier auf die Sprache und fragen nunmehr etwas genauer nach der Natur dieses formenden oder bildenden Prozesses. Was geschieht, wenn etwas, was vorher wortlos empfunden wurde, sprachliche Gestalt erhält? Hierzu müssen wir etwas ausholen, und man gestatte mir ein längeres Zitat aus einem früheren Buch 68 , in dem der »Mechanismus des Verbalisierens oder Wortens« geschildert wird: »Die Kategorien der Erscheinungen sind nicht schon von der Natur aus klar abgegrenzt. Zwar gibt es in der außersprachlichen Welt viele ähnliche Erscheinungen, also Ansätze zu Klassenbildungen. Die endgültige Entscheidung darüber, was zu einer Kategorie gehört, fällt aber erst in der jeweiligen Sprache. Was wir im Deutschen in die zwei Kategorien Dunst und Nebel einteilen, zerfällt im Englischen in drei: haze, mist und fog. Solche kategoriellen Verschiedenheiten zwischen den Sprachen bestehen zu hunderten, sie reichen von den konkretesten Erscheinungen (etwa Bezeichnungen für Tiere) bis zu den abstraktesten. Man kann nicht sagen, daß die eine Sprache objektiver sei als die andere. Jeder Mensch aber ist geneigt, die Einteilung, die seine Muttersprache mit der Welt vornimmt, für die richtige zu 104 Lieben nach Texten <?page no="105"?> halten. Weite Bereiche unseres Erlebens sind von der Sprache gesteuert. Wir neigen dazu, nur diejenigen Erscheinungen wahrzunehmen, für die unsere Sprache Wörter besitzt, und wir ziehen die Grenzen im allgemeinen dort, wo unsere Sprache die Grenzen zieht. Neugeprägte Wörter (z. B. establishment) lenken unsere Aufmerksamkeit auf Erscheinungen, die es zwar vorher auch gegeben haben mag, die wir aber buchstäblich nicht gesehen haben. Hieraus geht hervor, daß ein Erlebnis in hohem Maße von den sprachlichen Mitteln, die dem Erlebenden zur Verfügung stehen, also von dem, was man heute seine sprachliche Kompetenz nennt, beeinflußt ist. Wer in einem bestimmten Gebiet eine reiche Terminologie besitzt, von dem ist anzunehmen, daß er auch differenzierter wahrnimmt. Wer über die Wörter Risalit, Lisene, Pilaster, Tympanon aktiv verfügt, der nimmt eine Gebäudefassade anders wahr als einer, dem diese Wörter nicht zur Verfügung stehen. Aber nicht nur für den Spezialisten, für jeden Menschen verändert sich eine Erfahrung, wenn er sie in Sprache umsetzt (wortet, verbalisiert). Sie wird aufgelöst (analysiert) in so und so viel Einzelteile, je nach der Zahl der erforderlichen Wörter und Konstruktionen; diese Bestandteile lassen sich mit anderen, schon bekannten der gleichen Kategorie in Zusammenhang bringen. Das Erlebnis wird zerlegt in Konzepte oder, wie man auch sagt, konzeptualisiert. Was geschieht dadurch? In positivem Sinne: wir können das Erlebnis bewältigen, das uns andernfalls möglicherweise überwältigt hätte. Es steht uns nicht als Knäuel, als Komplex gegenüber, sondern als gegliederte Struktur, über die wir nachdenken, die wir vergleichen, an die wir uns bewußt erinnern können. Es ist ganz sicher, daß die Verbalisierung von Erlebnissen dem Menschen zum Vorteil, ja zur Rettung gereichen kann. Man denke nur an die Psychoanalyse, die im Prinzip ein kunstvoll geförderter Verbalisierungsprozeß ist. Ganz allgemein kann die Verbalisierung eine Erfahrung reicher und menschlicher machen. Punktueller Nachvollzug 105 <?page no="106"?> Diese positive Seite ist bekannt und soll hier nicht in Frage gestellt werden. Wir müssen aber hier auch die problematischen Aspekte betrachten. Sobald ich ein Erlebnis in Worte fasse - es ist dazu nicht einmal notwendig, daß ich darüber spreche, es genügt, wenn ich die zugehörigen Ausdrucksmittel latent besitze - tritt der bereits geschilderte Zergliederungs- und Vergleichseffekt auf. Was ein völlig einmaliges Ganzes hätte sein können, wird zu einer Summe von bereits bekannten Teilen. Jede Verbalisierung, sei sie auch noch so subtil, wird den Erlebnissen nicht ganz gerecht, sie raubt den Dingen das, was Aldous Huxley nach Meister Eckhart ihre »Istigkeit« genannt hat. Man muß sich darüber Rechenschaft geben, daß die Sprache sehr viel stärker ist, als wir gemeinhin annehmen. Was die Sprache uns suggeriert, zum Beispiel, daß die Sonne aufgehe, hält sich unter Umständen jahrhundertelang gegen jede Erfahrung. Es wäre deshalb völlig verkehrt, das authentische Erlebnis a priori für das stärkere zu halten. › Gute ‹ Pornographie ist für viele Menschen um vieles wirksamer als die sinnliche Realität. So wie Angst allein mit Worten vertrieben werden kann, so kann sie auch allein mit Worten erzeugt werden; ja die durch Worte erzeugte Angst ist oft schlimmmer als die durch eine reale Situation erzeugte. Nicht von ungefähr hat der Sprachkritiker unter den neueren Dichtern, Peter Handke, den › Ritt über den Bodensee ‹ zum Titel eines Bühnenstücks gewählt; die Bedeutung des alten, aber immer noch berühmten Gedichtes von Gustav Schwab liegt ja gerade darin, daß der Reiter nicht durch die reale, sondern durch die gewortete Gefahr getötet wird. In › A High Wind in Jamaica ‹ von Richard Hughes finden sich mehrere Episoden, an denen das sprachliche Verhalten von Kindern offenbar wird. Eine Abschiedssituation wird zum Beispiel erst von dem Augenblick an voll empfunden, da dem Kind einfällt, › that this was a parting ‹ . Aber auch jeder Erwachsene kann sich an Situationen erinnern, wo ein Zorn, ein Verlust, eine Freude, ein bestimmtes Erlebnis überhaupt, erst durch die Fassung in Worte gefühlsmächtig wurde.« 106 Lieben nach Texten <?page no="107"?> Was hier allgemein zur Gestaltung unserer Erlebnisse durch die Sprache gesagt wird, gilt natürlich in ganz besonderem Maße für Gefühle, die an sich wechselnd, diffus und wenig faßbar sind, so daß, wie wir sagten, erst die Sprache sie eigentlich ans Licht bringt. Es ist also nicht ganz richtig, wenn jemand bei der Lektüre eines Gedichtes ausruft: ja, so ist es, dies sind meine Gefühle! Genau genommen müßte er ausrufen: hier habe ich die Form gefunden, in der meine Gefühle zur Welt kommen können. Aber es gehört natürlich gerade zum Wesen des Fühlenden, daß er sich nicht selbst analysiert, mindestens nicht im Augenblick einer bedeutsamen Lektüre. Was für Texte können nun in dem geschilderten Sinne gefühlsformend wirken? Die Frage kann natürlich nicht erschöpfend beantwortet werden. Einer Gruppe von Studenten wurde Gelegenheit gegeben, die folgende Frage (anonym) zu beantworten: »Welche Texte (hoch oder trivial) hatten einmal für Sie im Zusammenhang mit einer Paarbeziehung eine ganz besondere Bedeutung? « Die Antworten waren quantitativ eher spärlich; auch wußte man nicht, ob sie gleichmäßig auf mehrere Personen verteilt sind oder nur von wenigen stammen. Sie sollen deshalb nicht als repräsentativ oder typisch betrachtet werden, sondern einfach als mögliche und authentische Beispiele; aus diesem Grunde ist auch die Reihenfolge nicht geändert und systematisiert. Folgende Texte wurden genannt: Love me tender, love me sweet (E. Presley) One night with you (E. Presley) It ’ s now or never (E. Presley) And when I touch you I feel happy inside. (The Beatles: I wanna hold your hand) Follow me! (John Denver) Love means never having to say »I ’ m sorry«. (Segal: »Love Story«) Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten: wir sehen uns an, Punktueller Nachvollzug 107 <?page no="108"?> wir sagen uns Dunkles, wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis, (. . .) (Paul Celan, aus »Corona«) Across two counties he can hear And catch your words before you speak. (Robert Graves; aus »Lost Love«) This is just to say (ganzes Gedicht) (William Carlos Williams) Wie soll ich meine Seele halten, daß sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie hinheben über dich zu andern Dingen? (Ganzes Gedicht) (Rilke: »Liebes-Lied«) Du bist min, ich bin din: des soll du gewis sin (ganzes Gedicht) (Autor unbekannt) Shall I compare thee to a summer ’ s day? (Ganzes Gedicht) (Shakespeare) Souvenir, souvenir, que me veux-tu? (Ganzes Gedicht) (Verlaine) Dans le vieux parc solitaire et glacé (Ganzes Gedicht) (»Colloque sentimental«, Verlaine) Ein Jüngling liebt ein Mädchen, Die hat einen andern erwählt, (Ganzes Gedicht) (Heine) Ich hab im Traum geweinet, Mir träumte, du lägest im Grab (Ganzes Gedicht) (Heine). Diese wenigen Beispiele geben in jeder Beziehung ein breites Spektrum: verschiedene Gattungen, verschiedene Sprachen, verschiedenes Alter der Texte, und dazu verschiedenste, sehr differenzierte Gefühle - ein Intellektuellenspektrum! Es ist nicht ausgeschlossen, daß anspruchslose, triviale Texte aus intellektueller Schamhaftigkeit verschwiegen worden sind - sie können aber auch bei hochdifferenziert Fühlenden durchaus als Katalysatoren vorkommen. 108 Lieben nach Texten <?page no="109"?> Und damit kommen wir in den Bereich des Schlagers und des Trivialromans. Beide leben, noch mehr als andere Literaturgattungen, vom menschlichen Identifikationsbedürfnis. Zu beiden gibt es, nachdem sie längere Zeit nicht untersucht wurden, heute eine umfangreiche, noch wachsende Literatur. Wir beschränken uns hier auf die für uns wesentlichen Aspekte. Den Mechanismus der gesamthaften und der punktuellen Identifikation brauchen wir jetzt nicht mehr zu erklären; er ist bei den mehr trivialen Formen nicht anders als bei den »höheren«. Wahrscheinlich kann man sagen, daß der Trivialroman eher darauf hin angelegt ist, Muster für eine Gesamtidentifikation (mit dem Helden oder einer anderen Figur) zu sein. Schlagertexte dagegen führen eher zu dem, was wir punktuelle Identifikation oder punktuellen Nachvollzug genannt haben, das heißt, an ihren Formulierungen kristallisieren sich die noch ungeformten Gefühle des Hörers. Auch beim Schlager kommt aber die Gesamtidentifikation durchaus vor: der Sänger wird zum Ersatzpartner, der auf der Plattentasche oder im Fernsehen auch sichtbar wird; er redet die Hörerin (sie redet den Hörer) mit du direkt an (oft auch bereits in Titeln wie »Ich lebe nur für dich allein«, »O, wann kommst du«) und erklärt seine (ihre) Liebe. Das häufige und normale scheint also die Objekt-Identifikation zu sein; aber auch Subjekt-Identifikation kommt vor: man sieht und hört Vorbilder, die man weniger als Partner denn als Muster für sich selbst sieht. Idole, wie sie bei einer breiten Wirkung auf die Massen entstehen, können sowohl Subjektswie Objektsmuster sein. Wir können und wollen uns hier natürlich nicht mit allen Aspekten dieser Literaturformen beschäftigen; vielmehr beschränken wir uns wie immer auf die Rolle, die sie in der Paarbeziehung spielen. Aus diesem Grunde können wir uns mit dem Trivialroman hier nicht weiter befassen: wie alle Literatur kann er zwar einen Einfluß auf die Gestaltung von Beziehungen haben; er ist aber seiner Natur nach eher für partnerlose Leser, denen er eine Art Ersatz bietet. Auf einige Schriften zum Thema Trivialliteratur sei hier verwiesen 69 . Punktueller Nachvollzug 109 <?page no="110"?> Der Schlager dagegen greift auch direkt in bestehende Paarbeziehungen ein. Man hört ihn zum Beispiel - stumm und händehaltend in der Eisdiele, - in der Diskothek tanzend oder zusammensitzend bei lauter Musik, - getrennt vom Partner, im Zimmer auf dem Boden liegend, das heißt, besonders dann, wenn eine normale sprachliche Kommunikation gerade nicht stattfindet, sei es, daß die Partner nicht wissen, was sie sich sagen sollen, sei es, daß sie sich wegen der lauten Musik kaum verständigen können oder sei es, daß sie im Augenblick gar nicht zusammen sind. In allen diesen Fällen also hat der Schlager den Charakter einer Ersatzkommunikation. Davon ist sicher der erste Fall der interessanteste und bezeichnendste. Hier sind es keine äußeren Gründe, welche die normale sprachliche Kommunikation ausschließen, es sind vielmehr innere: Wortungsschwierigkeiten, die dann auftreten, wenn man statt von äußeren leichter formulierbaren Dingen zum Ausdruck der Gefühle übergehen sollte. Natürlich gibt es verschiedene Stufen der Begabung und Übung im Gefühlsausdruck und überhaupt im Reden über die eigene Beziehung. Aber auch der differenziert Fühlende, und gerade er, wird Schwierigkeiten zu spüren bekommen. Hier hat denn der Schlager für das zusammensitzende Paar eine wichtige und befreiende Funktion: er sagt, was »wir« eigentlich hätten sagen wollen, aber aus irgendeinem Grunde nicht können; er sagt es zwar ein bißchen anders, als wir es hätten sagen wollen, aber auf jeden Fall »schön«. Die Situation der sprachlichen Blockierung ist so klassisch, daß sie auch in vielen Schlagern selbst Platz gefunden hat, etwa in dem englischen »metasprachlichen« Text: I can rock with my baby, I can hold her tight, I can really put it over, I can do it alright, But I cannot find a way to say, Baby I love you. 110 Lieben nach Texten <?page no="111"?> Das ist das Selbstporträt des (sicher häufigen) Liebhabers, der alle Anforderungen des Liebens spielend erfüllt außer der schwierigsten, dem Sprechen. Über den Schlager gibt es ebenfalls eine zahlreiche Literatur 70 . Von den in der Anmerkung genannten Werken sei das Buch von Malamud, obwohl es sich auf etwa dreißig Jahre alte Verhältnisse bezieht, wegen seiner Sachlichkeit hervorgehoben. Manche Bücher zum Thema Schlager sind polemisch-moralistisch - in den Vordergrund gerückt werden die (existierenden) Mißstände: daß eine eigentliche Schlagerindustrie besteht, welche viel Geld verdient, daß der Schlager fade Allerweltsgefühle verbreite und daß er den Hörer dazu verleite, in einer hübschen Traumwelt zu verweilen, statt den Blick auf die Realitäten zu richten und die Welt aktiv verändern zu helfen. In diesem Zusammenhang wird auch häufig unterschieden zwischen dem »verlogenen« Schlager - dem Traumwelt-Industrieprodukt - und dem »ehrlichen«, wobei man unter dem letzteren je nach Standort entweder einen Schlager versteht, der mit sexuellen Tabus »aufräumt«, oder einen Schlager, der das Paar auffordert, aus seiner Zweisamkeit herauszutreten und sich aktiv in der Gesellschaft zu betätigen. Oft wird auch der Ausdruck »Schlager« nur für den ersten, »schlechten« Typus verwendet, wogegen man den guten als Song oder Lied bezeichnet. An diesen Vorwürfen ist zweifellos etwas. Nur werden sie oft so einseitig vorgetragen, daß sie der Korrektur bedürfen. Vor allem dann, wenn man, wie wir uns vorgenommen haben, von der Paarbeziehung ausgeht. Die serienmäßige industrielle Herstellung von etwas, was mit persönlichsten Gefühlen zu tun hat, hat etwas Abstoßendes. Man darf sich aber durch die große Zahl nicht in seiner Phantasie verführen lassen: eine Million Glückwunschkarten sind scheußlich, die einzelne Glückwunschkarte, die der »Verbraucher« schickt oder erhält - und nur auf sie kommt es an kann etwas Wunderbares sein; ähnlich verhält er sich auch mit der Massenware Schlager. Was übrigens die finanziellen Einnahmen Punktueller Nachvollzug 111 <?page no="112"?> betrifft, so ist es gerade bei den Beatles so, daß (für einmal) die Kreativität auch materiell reich belohnt wurde. Die Scheidung in »gute« und »schlechte« Schlager ist von unserem Thema aus gesehen problematisch. Wir haben bereits weiter oben vom »Alternativschlager« gesprochen (S. 62 ), der mit dem »irgendwann«, »morgen«, »San Franzisco«, »Schließ die Augen«, »So ist nun mal das Leben« aufräumen und statt dessen eine realistische Haltung verkünden will, also etwa (Schlagertexte aus der DDR): All unsere Träume, das ist doch klar, Werden durch uns und durch andere wahr. Und unsere Liebe, das weißt auch du, Braucht auch das Glück aller andern dazu . . . Oder: . . . und die Liebe soll mehr als ein Vergnügen sein für zwei . . . 71 . Solche Versuche sind gut gemeint. Sie können auch vom Staat aus gesehen durchaus wünschenswert erscheinen. Aber für die Festigung oder Verbesserung der Paarbeziehung leisten sie nichts, es sei denn, das Paar habe sich in politisch-sozialer Tätigkeit gefunden. Diese Texte mit ihren fordernden Hilfsverben wie soll und braucht (in einem anderen: muß) sind zu didaktisch; sie führen weder zur Identifikation noch zur Befreiung ungeborener Liebesgefühle. Die erfolgreichsten Schlager (etwa der Beatles und der Rolling Stones) sind nie didaktisch; wenn sie Imperative aussprechen, so sind es die Forderungen nach Liebe, nach absoluter Freiheit und Abwerfen von Hemmungen. Der Unterschied von Traum und Ehrlichkeit ist ebenfalls etwas Künstliches. Traum und Bedürfnis zum Träumen sind (wie Utopie und Bedürfnis nach Utopie) dem Menschen ein- 112 Lieben nach Texten <?page no="113"?> geboren und gehören damit ebenfalls zu den Realitäten des Lebens. Es ist charakteristisch, daß gerade die sogenannten »ehrlichen« Dichter das Traummotiv immer wieder wählen: Traum und Sexualität können selbstverständlich zusammengehen. Ein Text wie Sometimes I see her Undressing for me . . . (Leonard Cohen: »Tonight we ’ ll be fine«) und das mehrfach, u. a. bei den Beatles auftauchende Motiv des wet dream könnten das bestätigen, wenn eine Bestätigung nötig wäre. Es bleibt der Vorwurf der Undifferenziertheit: in der Hauptmasse etwa der deutschsprachigen Schlager wird ein bestimmtes Schema abgewickelt: die Liebe ist am Anfang oder sie ist zu Ende. Im ersten Fall heißen die Phasen etwa: ich war allein / brauchte jemand / habe dich gefunden / großes Glück - im zweiten ergeben sich die zwei Möglichkeiten: alles zu Ende oder: Hoffnung auf ein Wiedersehen. Es ist aber anzunehmen, daß auch ein primitiver Schlager zu einer Lebenshilfe werden kann, denn, wie bereits gesagt: zu einem geworteten Gefühl können wir uns irgendwie stellen, es überwältigt weniger als das ungewortete. Ob wir den Schlager als Verdränger der wirklichen Kommunikation betrachten müssen, bleibt offen. Wer Schlager hört, statt selbst zu sprechen und den Partner zu hören, versäumt eine Möglichkeit; aber wer den Schlager für sich reden läßt und zu sich reden läßt, gewinnt eine Möglichkeit. Daß man ohne Schlager auskäme, setzt eine Utopie voraus: eine Welt, in der jede Kommunikation, auch der verborgensten Gefühle, auf Anhieb gelingt. Da der Schlager die Massen anspricht, ist er ein ausgezeichneter Indikator für die in einer Zeit vorherrschenden Gefühle - wobei natürlich das bekannte dialektische Verhältnis gilt: der Schlager paßt sich der herrschenden Mentalität an und beeinflußt diese seinerseits. Malamud (S. 55 und Anm. 22 [s. Anm. 70 ]) Punktueller Nachvollzug 113 <?page no="114"?> berichtet, daß Schlager einer bestimmten Zeit gerne diejenigen Worte gebrauchen, die zu dieser Zeit ganz allgemein als schön gelten. Welches diese Worte sind, erfährt man aus Umfragen, deren wissenschaftlicher Wert allerdings nicht ganz gesichert sein dürfte. Um 1960 wurden als die »schönsten« Wörter (in dieser Reihenfolge) bezeichnet: Liebe, Heimat, Friede, Mutter, Treue, Glück, Gesundheit, Freude, Glaube, Frühling, Freiheit, Sonnenschein, Zufriedenheit, Hoffnung, Freundschaft, Urlaub, Musik, Schönheit, Sonne, Sehnsucht. Eine ähnliche Umfrage, 1933 , erbrachte (wobei die Reihenfolge hier alphabetisch und nicht rangmäßig ist): Andacht, Demut, Freiheit, Frieden, Heimat, holdselig, Liebe, Mutter, Wacholder, Wolke. Die zweite Reihe muß bereits kommentiert werden: holdselig ist ein bekanntes Beiwort der Muttergottes, Wacholder und Wolke sind erklärbar aus der in den Zwanziger- und Dreißigerjahren besonders intensiven Heide- und Landschaftsromantik. Es wäre interessant, die Ergebnisse einer neueren Umfrage zu dem selben Thema zu sehen. Ebenso interessant und notwendig wäre auch eine genaue Untersuchung zur Wortverwendung bei Schlagern verschiedener Autoren, Sprachen und Zeiten. Damit schließen wir die Betrachtung des Schlagers und allgemein die Betrachtung des »Liebens nach Texten«. Wir haben in diesem Abschnitt zu zeigen versucht, wie literarische Texte als Geburtshilfe von Gefühlen wirken können. Nunmehr fragen wir uns, wie literarische Texte als Teil des Privatcode eines Paares gebraucht werden können. Wir kommen damit zu dem Begriff der Chiffer. d) Die Chiffer Unter Chiffern verstehen wir hier Wörter, Sätze oder ganze Passagen, die aus einem literarischen Text stammen und vom Paar als Teil seines Privatcodes verwendet werden. Es sind also sprachliche Gebilde, ähnlich wie die bereits besprochenen Code-Elemente z. B. »auf den Steinen sitzen«; der Unterschied 114 Lieben nach Texten <?page no="115"?> besteht darin, daß Chiffern nicht vom Paar selbst geschaffen oder aus der gewöhnlichen Sprache umfunktioniert sind, sondern einem literarischen Text (Roman, Gedicht, Schlager usf.) entstammen. Im übrigen verhalten sich Chiffern ähnlich wie die übrigen Teile des Privatcodes, sie haben für das Paar eine besondere, für Außenstehende meist nicht durchschaubare Bedeutung. Voraussetzung für die Bildung einer Chiffer ist, daß ein Stück Literatur durch das Paar gemeinsam erlebt wird - entweder beiden schon bekannt, oder gemeinsam erworben, oder vom einen Partner dem andern vermittelt. Wichtig für die Bildung der Chiffer ist die starke Bezogenheit auf das Paar, dessen Beziehung und Gefühle, weiter die starke Konzentration (ein kurzes Wort kann »eine ganze Welt« bedeuten) und schließlich so etwas wie ein gemeinsamer Geschmack oder Bildungshintergrund. Das folgende Beispiel sollte vielleicht nicht am Anfang stehen, weil es bereits sehr kompliziert ist, doch zeigt es sehr schön die wesentlichen Aspekte der Chiffer, und es handelt sich um eine berühmte und vielbeachtete literarische Stelle. In Goethes Roman »Die Leiden des jungen Werther« wird, kurz nach dem Anfang, folgende Situation geschildert: Werther und Lotte befinden sich mit den Gästen einer Gesellschaft auf einem Gutshof. Ein herannahendes Gewitter verängstigt die Gäste. Deshalb schlägt Lotte, obwohl sie sich selbst fürchtet, ein Gesellschaftsspiel vor und vertreibt so den andern die Furcht. Wie sich das Gewitter verzieht, zerstreuen sich die Gäste in kleinen Gruppen im Haus. Werther begleitet Lotte in einen Saal. Und nun folgt die in unserem Zusammenhang wichtige Stelle: Wir traten ans Fenster. Es donnerte abseitwärts, und der herrlichste Regen säuselte auf das Land, und der erquickendste Wohlgeruch stieg in aller Fülle einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand auf ihren Ellenbogen gestützt, ihr Blick durchdrang die Gegend; sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte: »Klopstock! « - Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr in Gedanken Die Chiffer 115 <?page no="116"?> lag, und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie in dieser Losung über mich ausgoß. Ich ertrug ’ s nicht, neigte mich auf ihre Hand und küßte sie unter den wonnevollsten Tränen. Und sah nach ihrem Auge wieder - Edler! hättest du deine Vergötterung in diesem Blicke gesehen, und möcht ’ ich nun deinen oft entweihten Namen nie wieder nennen hören! In der Hamburger Goetheausgabe (Bd. 6 , S. 566 ) findet sich ein vorzüglicher Kommentar, den wir hier gekürzt wiedergeben: »Gemeint ist Klopstocks Ode › Die Frühlingsfeier ‹ , entstanden 1759 , im gleichen Jahre gedruckt und 1771 in die große Ausgabe der › Oden ‹ aufgenommen, die Klopstock damals in Hamburg veranstaltete. Doch schon vor dieser Ausgabe war das Gedicht in den Kreisen der Klopstock-Verehrer allgemein bekannt. (. . .). Mit ihm (Klopstock) setzt die neuzeitliche Erlebnislyrik für Deutschland in vollem Maße ein; zu den Erlebnissen, die er gestaltete, gehört neben der religiösen Erhebung, der Liebe und der Freundschaft vor allem das Erlebnis der Natur. Werther und Lotte haben sich schon vorher im Gespräch in gemeinsamem Interesse für Goldsmith und neue deutsche Romane gefunden. Jetzt, als Lotte den größten Lyriker nennt, erkennen beide eine Gemeinsamkeit in einem noch höheren Bereich. Klopstock empfand sein dichterisches Schaffen als eine priesterliche Aufgabe, und er schuf sich eine Gemeinde in denen, die ihn verstehen konnten und deren Seelen er nun weiterführte in die Bereiche, welche er erschloß. Indem Lotte seinen Namen nennt, erkennen sie und Werther einander als Angehörige dieser stillen und offenen Gemeinde, welche damals die Besten der jungen Generation umfaßte. Zugleich finden sie sich in einem Naturgefühl, das für alle Schönheiten einer Landschaft sich öffnet und sie mit religiöser Innigkeit erfaßt. Das Gedicht › Die Frühlingsfeier ‹ spricht in feierlicher beschwingter Sprache von einem Gewitter und von dem, was dabei in der Seele des anbetenden Betrachters vorgeht. (. . .) Dieses Bild der erquickten Landschaft ist es vor allem, an das Lotte hier denkt; es sind die beiden Schlußstrophen der Ode: 116 Lieben nach Texten <?page no="117"?> Ach, schon rauscht, schon rauscht Himmel und Erde vom gnädigen Regen! Nun ist - wie dürstete sie! - die Erd ’ erquickt, Und der Himmel Segens füll ’ entlastet! Siehe, nun kommt Jehova nicht mehr im Wetter, In stillem sanftem Säuseln Kommt Jehova, Und unter ihm neigt sich der Bogen des Friedens! Für Werther bedeutet es besonders viel, daß er sich mit Lotte in der Empfindung für Kunst trifft.« Dieser Kommentar sagt bereits wesentliches; wir brauchen nur noch zu ergänzen. Die Chiffer - hier das Wort »Klopstock« - ist eine kurze Formel, die sich auf den Zusammenhang und die Gefühle des Paares bezieht; wir beobachten sie hier in statu nascendi, eben im Entstehen. Sie fördert und bekundet die Gruppenzugehörigkeit: sie zeigt den Zusammenhang zwischen den Gliedern der Gruppe und sie schließt anderseits gegen außen - gegen die Uneingeweihten - ab. Zwei Dinge heben diese Chiffer von andern ab und machen sie sozusagen zum extremen Fall. Einmal die ungeheure Konzentration: das einzige Wort »Klopstock« sagt: »ich gehöre zu den Auserwählten der neuen Generation mit ihrem besonderen, neuen und reicheren Gefühl, und ich traue dir zu, daß du auch dazu gehörst und mich deshalb verstehst« - im Klartext wäre das fast nicht zu sagen. Weiter ist das Wort »Klopstock« bereits eine »Chiffer zweiten Grades«. Das literarische Werk, das hier die Chiffer ermöglicht, ist Klopstocks Werk, ganz besonders die genannte Ode. Schon ein kurzes Zitat daraus - etwa »schon rauscht, schon rauscht« könnte zur Chiffer werden. Statt dessen wird nur der Name des Autors ausgesprochen, gewissermaßen eine Chiffer für die Chiffer. Dies macht die Decodierung noch einen Grad schwerer: der bloße Name Klopstock setzt voraus, daß Werther des Hinweises auf bestimmte Textstellen gar nicht bedarf (was auch stimmt), sondern durch die bloße Erwähnung des Dichters schon auf die richtige Ode kommt. Das heißt: Lotte Die Chiffer 117 <?page no="118"?> traut Werther ungeheuer viel zu; sie betrachtet die seelische Gemeinsamkeit zwischen ihm und ihr als so selbstverständlich, daß der nachfolgende Handkuß nur noch eine Bekräftigung ist. Das Normale ist selbstverständlich die »Chiffer ersten Grades«: Das Zitat selbst (Wort, Wendung, Satz oder ganzes Gedicht) wird zur Chiffer. Die Chiffer kann auf das Zentrum der Beziehung verweisen, sie kann aber auch mehr peripher sein und einfach auf irgendeine Weise die Gemeinsamkeit in Erinnerung rufen. Zur normalen Chiffer ein tragikomisches Beispiel. In dem Film »Le carnet de bal« (um 1940 ) findet eine alternde alleinstehende Dame zufällig ein Ballheftchen aus ihrer Jugend - vor dem ersten Weltkrieg pflegte man in ein solches carnet die Namen der Tanzpartner eintragen zu lassen - und sie beschließt, gleichsam auf der Suche nach der Vergangenheit, ihre damaligen Tänzer ausfindig zu machen. Sie kommt dabei auch zu einem, mit dem sie seinerzeit eine enge Beziehung hatte, und als Begrüßung sagt sie leise zu ihm: Dans le vieux parc solitaire et glacé Deux formes ont tout à l ’ heure passé 72 . Der frühere Freund, unterdessen etwas herabgekommen und an den Rand der Kriminalität geraten, reagiert darauf so: er fährt zusammen, sieht sich rasch um und fragt erschrocken: »wer denn? was ist? « Die zwei Verse bilden den Anfang von Verlaines Gedicht »Colloque sentimental«, in dem von der Erinnerung an eine erstorbene Liebe die Rede ist. Offenbar hatten diese Zeilen für das Paar einmal Chifferncharakter, sie verbanden das Paar und spiegelten seine Gefühle. Für die Frau sind sie in diesem Sinne präsent geblieben, sie hofft mit ihnen, die Vergangenheit auch in ihrem Freund wachzurufen; er aber hat diese besondere Bedeutung, ja die Verse selbst längst vergessen und glaubt, es handle sich um eine wirkliche Mitteilung über ein verdächtiges Paar, vielleicht konkurrierende Gangster oder gar die Polizei. 118 Lieben nach Texten <?page no="119"?> Nicht jede Chiffer bezieht sich unmittelbar auf das Zentrum der Beziehung; auch von den andern Code-Worten sind ja nicht alle gleich bedeutend. Aber jede Chiffer zeigt, da sie einem bestimmten literarischen Werk entnommen und beiden Partnern gemeinsam ist, daß man zu der »stillen und offenen Gemeinde« derer gehört, denen der Dichter oder das Werk etwas bedeutet - man kann wie Lotte und Werther zur unsichtbaren Klopstock-Gemeinde gehören oder wie viele heutige Paare zur weniger stillen, aber als ganzes dennoch unsichtbaren Gemeinde der Beatles, Leonard Cohens oder noch neuerer Dichter oder Werke. Die Erkenntnis, daß man »ja« gemeinsam zu einer solchen Gemeinde gehört, ist für ein Paar immer beglückend. Im Beispiel »Klopstock« ist dies ausführlich gezeigt worden. In dem Roman »Dor und der September« von Karl Friedrich Boree (Frankfurt 1930 ), der Geschichte eines intellektuellen, in hohem Grade bewußt liebenden Paares, findet sich folgende Stelle: das Paar wandert und kommt zu einer Waldlichtung - »ein welliger Grasplatz, behaglich in die schönste Nachmittagssonne sich schmiegend, buschumhegt, der kurze grüne Plüsch ganz und gar verziert mit klarblauen Enzianen.« Sie »sprang mit Lust voraus und rief: › Das ist ja von bluomen eine betestat ‹ ! «, worauf er antwortet: »Also den von der Vogelweide liebt sie auch? - Er gehört allerdings hierher.« Wobei zu bemerken ist, daß das Paar sich gelegentlich nach der Weise des 18 . Jahrhunderts mit »sie« und »er« anredet. Die Zugehörigkeit und damit die Zusammengehörigkeit, welche die entstehende Chiffer anzeigt, wird von der bestehenden Chiffer immer wieder in Erinnerung gerufen. Ein Paar von Rilke-Freunden kann sich bei einem schönen Abendhimmel sagen »das Porzellan des Abends« (nach: »So reißt die Spur der Fledermaus durchs Porzellan des Abends«, 8 . Duineser Elegie), oder, wenn Kinder oder Vögel plötzlich zu lärmen beginnen: »Auf einmal kreischt ein Neid durch die Voliere« (aus »Die Flamingos«: »In Spiegelbildern, wie . . .«). Ein Paar, das den »Rosenkavalier« gut kennt, mag, wenn es die Situation Die Chiffer 119 <?page no="120"?> erfordert, sagen: »der Skandal, der Skandal« (. . .für Herrn von Faninal; 3 . Akt) oder bei einer Rose: »Hat einen starken Geruch« (. . .wie Rosen, wie lebendige; 2 . Akt). Morgenstern-Liebhaber, Shakespeare-Liebhaber, Liebhaber von »Alice in Wonderland«, alle haben als Paare einen fast unerschöpflichen Schatz von Signalen der Gemeinsamkeit, die sie jederzeit zur Bestätigung der Beziehung verwenden können, wie das geheime Codewort »auch«. Wenn ein literarischer Text für ein Paar bedeutend wird - wir haben weiter oben Beispiele dafür angeführt, so heißt das meist, daß er als Ganzes oder in Teilen zur Chiffer geworden ist. Die Chiffern tragen zum Zusammenhalt des Paares bei und sind damit eine ernsthafte Sache. Das heißt aber nicht, daß sie selbst ganz ernst genommen werden müssen. Sie können scherzhaft gebraucht werden und von Lachen begleitet sein, und sie können sogar den zitierten Dichter parodieren. Es ist ein Irrtum, zu glauben, Parodie eines Dichters und Liebe zu ihm stehen im Widerspruch; man kann durchaus einen Dichter hoch verehren und (zum Beispiel zur Abwehr von Sentimentalität) sich in freundlicher Weise über ihn lustig machen - man könnte das Zitieren und besonders das Spielen mit Zitaten auch unter den Begriff des Sprachspiels einreihen. Lustige oder spielerisch veränderte Chiffern gibt es haufenweise. Bei einem musikalischen Paar wurde das Pferd nur »das edle Raß« genannt - offenbar nach dem Rezitativ aus Haydns »Schöpfung«: »Mit fliegender Mähne springt und wiehert voll Mut und Kraft das edle Roß«; wobei man sich an eine bestimmte Aufführung erinnerte, bei der der Sänger ein affektiertes überoffenes o gebrauchte. Ein anderes opernfreudiges Paar sagt von Zeit zu Zeit »Frreikugeln sinds«, mit stark rollendem r, und denkt dabei an eine bestimmte Aufführung von Webers »Freischütz«. Ein anderes Paar freut sich immer wieder an den Worten: »Pray, my dear..have you not forgot to wind up the clock? « - in Sternes Roman «Tristram Shandy« hat der etwas pedantische Vater Tristrams die Gewohnheit entwickelt, einmal im Monat, am ersten Sonntagabend, die große Standuhr auf- 120 Lieben nach Texten <?page no="121"?> zuziehen und am gleichen Abend jeweils auch »eine andere Familienangelegenheit« zu erledigen; seine Frau unterbricht ihn dabei mit der Frage nach der Uhr. Die Gewohnheit, viel zu zitieren oder überhaupt zu zitieren, ist natürlich nicht an die Paarbeziehung gebunden. Man kann auch in andern Gruppen, zum Beispiel in der Familie, Chiffern haben, möglicherweise sogar als einzelner allein für sich. Aber die Chiffer bleibt gleichwohl für die Paarbeziehung besonders wichtig. Sie stärkt nicht nur, wie bereits gesagt, den Zusammenhang, sie dient auch der Überwindung von Sprachhemmungen: vieles, was man sonst schwer oder gar nicht sagen könnte, läßt sich in der Chiffer ausdrücken, nicht zuletzt, wenn die Chiffer in der Schwebe zwischen Spiel und Ernst gelassen wird. Dies läßt sich unter anderem zeigen an einer berühmten und vielgeliebten Romangestalt: Lord Peter. Lord Peter, der hochadelige, gutaussehende, etwas byronische Amateurdetektiv in Dorothy Sayers ’ Kriminalromanen, zitiert ganz allgemein sehr viel. Für uns besonders interessant ist der Roman, der seine unterbrochene »Flitterwoche« schildert: »Busman ’ s Honeymoon« (z. B. Penguin Crime). Der Titel selbst ist eine Abwandlung der Redensart busman ’ s holiday › ein Urlaub, bei dem man wieder dasselbe tut wie im Alltag ‹ , so wie bei einem Busfahrer, der auch im Urlaub wieder herumfährt. Bei Lord Peter ist es ebenso: er wird gezwungen, schon am Tag nach der Hochzeit wieder seinem »Beruf«, nämlich Verbrechen aufzuspüren, nachzugehen. Einige von seinen Zitaten: Nach der ersten Nacht erwacht Harriet vor Peter; sie befürchtet, daß er sie beim Aufwachen französisch anreden werde (wegen Berichten von früheren französischen Blondinen), und nachdem er nur ein unverbindliches »M ’ mmm? « von sich gegeben hat, redet sie ihn selber französisch an. Seine Antwort: »Yes, my Shulamite . . .You are Harriet, and you are black but comely. Incidentally, you are my wife . . .« Die Anrede und der darauffolgende Satz beziehen sich beide auf das Hohelied (vgl. S. 66 ff.): die Sulamitin ist dort die Geliebte (I. 7 ) und mit dem Satz: »Braun bin ich zwar, doch hübsch« (I. 5 ) charakterisiert sie sich selbst. Die Chiffer 121 <?page no="122"?> Dieses Zitat ist noch nicht Chiffer in dem von uns definierten Sinn: es wird (noch) nicht mehrmals und von beiden gebraucht. Aber es ist ein Ansatz dazu; mit dem Satz zeigt Peter, daß er Harriet zutraut, darauf »einzusteigen«, daß er ihre Beunruhigung wegen den »früheren Blondinen« kennt und sie nachdrücklich beruhigen will - die Geliebte des Hohenliedes ist selbstverständlich die Einzige. Beide singen wenig später, etwas beschwingt von einem Abendessen heimfahrend, unisono: »Auprès de ma blonde Qu ’ il fait bon dormir! «, ein sicheres Zeichen, daß das alte Blondinenproblem nun entschärft ist. Ein anderes Zitat, ebenfalls mit einer Spannungsquelle verknüpft: Lord Peter ist vor seiner Heirat ganz von seinem ausgezeichneten Kammerdiener Bunter betreut worden; Bunter ist auch jetzt anwesend, und es könnte sich eine leichte Rivalität zwischen ihm und Harriet herausbilden. Harriet und Peter diskutieren, ob sie zusammen auf eine einsame Insel gehen sollen oder wenigstens in einen Gasthof, wo man etwas Rechtes zu essen bekommt. Harriet schlägt vor, daß Bunter mitkomme. Peter: »Still harping on my Bunter«. Die Anspielung ist auf »Still harping on my daughter« (Hamlet II 2 189 ), wo Polonius feststellt, daß Hamlet immer wieder auf seine Tochter zu sprechen kommt. Peter signalisiert damit, daß ihm das Bunter- Problem bekannt ist. Harriet zitiert ebenfalls: Als Peter sie lobt, wie gut sie sich mit seinen Anfällen von schlechter Laune abzufinden weiß, »You show commendable patience with my bad temper.«, antwortet sie: »Is that what you call it? I ’ ve seen tempers in comparison with which you ’ d call that a burst of heavenly harmony.« Der Bezug ist auf »Through the Looking Glass« von Lewis Carroll, wo im Kapitel II die Königin nach diesem Schema redet, zum Beispiel: »You may call it nonsense, if you like (. . .) but I ’ ve heard nonsense, compared with which that would be as sensible as a dictionary! « Auch hier wieder die Ansätze zur Chiffer. Weite literarische Kenntnis wird vorausgesetzt; beide Partner haben einen ähnlichen kulturellen Schatz, der jederzeit verfügbar ist, beide 122 Lieben nach Texten <?page no="123"?> trauen einander ohne weiteres zu, daß sie darüber verfügen. Aber die Funktion der Zitate reicht noch weiter. Wohl gibt es auch vollkommen harmlose, rein spielerische Zitate, etwa wenn Peter bei der Ankunft des ersehnten Kaminfegers ausruft: »Oh frabjous day! I ’ m coming, my own, my sweep« (der erste Satz stammt aus »Jabberwocky«, ebenfalls in »Through the Looking Glass«, der zweite ist eine Parodie auf Tennysons »Maud«, wo es natürlich heißt: »I ’ m coming, my own, my sweet«). Aber es ist nicht von ungefähr, daß es neben diesen harmlosen Zitaten andere gibt. Die drei von uns angeführten Zitate beziehen sich auf hintergründige, spannungsträchtige Sachverhalte. Die Erinnerung an die »früheren Blondinen« könnte die Ehe stören. Peters Ausbrüche von schlechter Laune (die tempers) und seine starke Abhängigkeit von Bunter sind beide die Folgen eines noch nicht überwundenen Nervenzusammenbruchs aus dem Kriege. Das Zitat ermöglicht es, den Bereich dieser komplexhaften Dinge mit der Sprache zu berühren (ohne Zitat würde man wahrscheinlich irrational oder allzu grundsätzlich oder sentimental), und mit den Zitaten wollen sich die Partner sagen: ich bin bereit, dich mit allen deinen Fehlern und Schwierigkeiten anzunehmen und zu ertragen; es gelingt ihnen auch weitgehend, dies auszudrücken, was ohne Zitate wohl kaum möglich wäre. So wird das Zitat, auch wenn es noch nicht regelmäßig gebrauchte Chiffer geworden ist, zu einer ganz wesentlichen Kommunikationshilfe. Die zuletzt besprochenen Beispiele um Lord Peter waren typisch für höhere Bildungsschichten. Das gilt für viele Zitate und Chiffern, aber durchaus nicht für alle. Die Chiffer ist an sich nicht schichtenspezifisch: selbstverständlich gehört eine gegebene Chiffer jeweils zu einem ganz bestimmten kulturellen Hintergrund, aber je nach Chiffer kann dieser verschieden sein: es kann sich um allgemein anerkannte »bürgerliche« Kultur handeln oder um Trivialkultur oder um Subkultur. Eine Chiffer, die während einer gewissen Zeit von breitesten Schichten in der Paarbeziehung gebraucht wurde, war das Lied Lili Marleen von Hans Leip. Dieses Lied, das in etwas unbestimmten Worten von Die Chiffer 123 <?page no="124"?> einem früheren Glück, von Trennung und von der Möglichkeit eines geisterhaften Wiedersehens spricht, wurde während des zweiten Weltkriegs für Millionen von potentiell oder aktuell Liebenden zur Chiffer für ihre ganz persönlichen Gefühle. Und da das Lied von einem bestimmten Sender jeden Abend um neun Uhr ausgesendet wurde, konnten sich zehntausende von Paaren versprechen, jeweils um diese Zeit aneinander zu denken und füreinander zu fühlen. Bedeutsam ist, daß das Lied keineswegs auf die eine Kriegspartei beschränkt blieb; es übersprang vielmehr die politischen Schranken und war eine Zeitlang eine fast universale Chiffer der Getrennten. So ist denn die Chiffer sicher nicht für Intellektuelle oder Angehörige bestimmter Schichten reserviert. Gleichwohl bieten sich natürlich viele Möglichkeiten für intellektuelle Spiele. Man kann sie zum Beispiel als eigentliche Geheimschrift in Briefen verwenden. In den »Noten und Abhandlungen zum Divan« (Hamburger Ausgabe, Bd. 2 , S. 193 ) redet Goethe über stilistische Merkmale der orientalischen Poesie und geht nach dem Abschnitt über die Blumensprache zu einem Kapitel über, das er mit Chiffer betitelt - wer heute den Ausdruck in dem Sinne verwendet, wie wir ihn soeben verwendet haben, hat ihn wahrscheinlich von dort. In diesem Kapitel sagt er nach einer kurzen Einleitung: Im Orient lernte man den Koran auswendig, und so gaben die Suren und Verse durch die mindeste Anspielung ein leichtes Verständnis unter den Geübten. Das gleiche haben wir in Deutschland erlebt, wo vor funfzig Jahren die Erziehung darauf gerichtet war, die sämtlichen Heranwachsenden bibelfest zu machen. (. . .) Nun gab es mehrere Menschen, die eine große Fertigkeit hatten, auf alles, was vorkam, biblische Sprüche anzuwenden und die Heilige Schrift in der Konversation zu verbrauchen. Nicht zu leugnen ist, daß hieraus die witzigsten, anmutigsten Erwiderungen entstanden, wie denn noch heutigestags gewisse ewig anwendbare Hauptstellen hie und da im Gespräch vorkommen. 124 Lieben nach Texten <?page no="125"?> Gleicherweise bedient man sich klassischer Worte, wodurch wir Gefühl und Ereignis als ewig wiederkehrend bezeichnen und aussprechen. Auch wir vor funfzig Jahren, als Jünglinge, die einheimischen Dichter verehrend, belebten das Gedächtnis durch ihre Schriften und erzeigten ihnen den schönsten Beifall, indem wir unsere Gedanken durch ihre gewählten und gebildeten Worte ausdrückten und dadurch eingestanden, daß sie besser als wir unser Innerstes zu entfalten gewußt. Um aber zu unserm eigentlichen Zweck zu gelangen, erinnern wir an eine zwar wohlbekannte, aber doch immer geheimnisvolle Weise, sich in Chiffern mitzuteilen; wenn nämlich zwei Personen, die ein Buch verabreden und, indem sie Seiten- und Zeilenzahl zu einem Briefe verbinden, gewiß sind, daß der Empfänger mit geringem Bemühen den Sinn zusammenfinden werde. In der Tat hat Goethe zur Zeit seines »Divan« mit der entfernten Geliebten auf diese Weise korrespondiert und zwar auf Grund des »Divan« von Hafis, den beide, Marianne und Goethe, in der gleichen deutschen Übersetzung besaßen. Die Hamburger Goetheausgabe (Bd. 2 , S. 542 ; vgl. auch S. 580 unter Geheimschrift) berichtet darüber wie folgt: »Und sie [Marianne] erfand nun die Kunst, einzelne Zeilen und Strophen aus Hafis zusammenzustellen, um dem Geliebten sich mitzuteilen. Sie erfand die Chiffre-Gedichte, die nur ein paar Zahlen von Band, Seiten und Zeilen notieren, niemandem verständlich außer dem, der den Schlüssel besitzt. So sandte sie z. B. - später - einen Zettel mit folgenden Zahlen: I 404 , 1-20 201 , 23-24 Aufgelöst ergibt das: Lange hat mir der Freund schon keine Botschaft gesendet, Lange hat er mir Brief, Wort und Gruß nicht gesandt. Beglückt der Kranke, welcher stets Von seinem Freunde Kunde hat. Die Chiffer 125 <?page no="126"?> Daraus erwuchs dann wiederum Goethes Gedicht Und warum sendet . . . Die meisten ihrer Chiffer-Gedichte sind länger als dieses und übertreffen Goethes gleicherart komponierte Gegenbriefe. Beide haben in diesen und späteren Wochen immer wieder in Hafis geblättert, um solche Briefe zu formen. Fortan bedeutete Goethe dessen › Divan ‹ noch viel mehr als bisher. Nicht nur sich selbst fand er in ihm, auch die Geliebte. Es gibt Dichtungen oder Musikwerke, die Liebende gemeinsam erleben, die für sie zu › ihrem ‹ Werk werden und die sie später nie anders hören können als in entrückender Erinnerung an den anderen. Das war für Goethe und Marianne Hafis ’ Divan.« 126 Lieben nach Texten <?page no="127"?> 4 . Störungen a) Definition, Dialektik, Klassifikation Um einem möglichen und naheliegenden Mißverständnis vorzubeugen, schicken wir voraus, daß wir hier unter Störungen nicht einfach sprachliche Kommunikationsstörungen - das heißt Fälle von unvollständiger oder verfälschter Informationsübermittlung - verstehen. Vielmehr wollen wir unter Störung hier sprachlich bedingte Beziehungsstörungen verstehen, das heißt, Fälle, in denen eine sprachliche Ursache die Paarbeziehung beeinträchtigt. Wir werden sehen, daß sich diese beiden Begriffe, die wir hier ausdrücklich trennen, zwar teilweise decken, daß sie aber beide wichtige Eigenbereiche haben. Wir können jetzt schon vorausnehmen: eine Kommunikationsstörung kann - muß aber nicht - zu einer Störung der Paarbeziehung führen. Anderseits gibt es Kommunikationen, die als solche geglückt sind, aber zu Beziehungsstörungen führen (und umgekehrt: mißglückte Kommunikationen, die die Beziehung sogar stärken). Wir wollen den Unterschied noch etwas herausarbeiten: In den geläufigen Kommunikationsmodellen, wie man sie etwa in den Einführungen in die Linguistik findet, wird meist folgendes Schema gegeben: Wir haben einen Sprecher und einen Hörer (beide können natürlich ihre Rolle wechseln), und diese beiden kommunizieren mit Hilfe lautlich geformter Zeichen. Die Summe dieser Zeichen, ihre Organisation und die Beziehungen zwischen bestimmten Lauten und bestimmten Informationsinhalten, nennt man den Code (auch das Sprachsystem); damit der Code voll funktioniert, muß jenseits der Zeichen noch ein gemeinsamer Kultur- und Erlebnishintergrund (z. B. Bildungsstand) die Sprecher verbinden. Der Sprecher codiert (setzt seine Information in Laut- oder Schriftzeichen um); der Hörer decodiert (setzt Zeichen in Information um). Von geglückter Kommunikation können wir <?page no="128"?> dann reden, wenn beim Hörer die Information entsteht, die der Sprecher gemeint hat. Wir wenden absichtlich dieses etwas schematische Modell an und verstehen zunächst unter »Kommunikation« etwas eher Rationales und Oberflächliches - nicht von ungefähr verstehen Psychologen wie Watzlawick (vgl. S. 131 ) unter Kommunikation das Verstehen auf einer tieferen Ebene. Nun müssen wir einige Dinge festhalten. Beim Kommunikationsmodell haben wir zwei Personen, aber sie sind nicht notwendigerweise ein Paar - es kann sich um wildfremde Menschen handeln, die nur für kurze Zeit Worte tauschen. Also darf das Kommunikationsmodell nicht etwa mit einem Modell der Paarbeziehung gleichgesetzt werden. Natürlich kommuniziert das Paar, es tauscht Information aus; insofern hat es durchaus innerhalb des Kommunikationsmodells Platz. Aber die Beziehung des Paares erfordert natürlich mehr als ein wechselseitiges Übermitteln linguistischer Information. Zwar können rein linguistische Mißverständnisse, wie gesagt, eine Beziehung beeinträchtigen, aber sie müssen dann besonderer Art sein (s. unten S. 120 f.). Ein gewöhnliches Mißverständnis, selbst wenn es sich auf die Beziehung selbst bezieht, wird in 9 von 10 Fällen sogleich aufgeklärt und stört nicht weiter. Ein lustiges Beispiel: Ein Mädchen, dessen (englischsprechender) Freund ihr erotisch zu angriffig schien, sagte zu ihm: »I want to be chaste«, worauf er sie im Zimmer herumjagte. Er hatte chaste › keusch ‹ mit dem gleichlautenden chased › gejagt ‹ verwechselt. Solche Mißverständnisse dürften sich in Gelächter auflösen. Noch mehr: wir haben schon weiter oben gesehen, daß die normale, rationale sprachliche Kommunikation der Paarbeziehung unter Umständen schadet. Wir haben darauf hingewiesen, daß man sich, wenn die Partner durch die Schranke einer Fremdsprache »getrennt« sind, gern verliebt - diese Situation wird in gewissem Sinne »simuliert«, wenn in einem Tanzlokal die laute Musik das gewöhnliche Sprechen unmöglich macht. Kommunikationsschwierigkeiten können also die Kommunikation erleichtern. Dies ist selbstverständlich nur scheinbar ein 128 Störungen <?page no="129"?> Paradox, weil unter »Kommunikation« das erste Mal eine rationale, äußerliche Informationsübermittlung gemeint ist, das zweite Mal ein tieferes, innerlicheres Verständnis, wobei im zweiten Fall neben den begrifflichen noch andere Mittel aktiviert werden. Für diesen zweiten Fall, kontrastiert mit dem ersten, haben wir ein sehr gutes Beispiel in dem Schauspiel »Als der Krieg zu Ende war« 73 von Max Frisch. Das Stück spielt kurz nach Kriegsende im russisch besetzten Berlin. Eine junge Frau, Agnes, steht zwischen zwei Männern, ihrem eigenen, aus der Wehrmacht zurückgekehrten, im Keller versteckten Mann Horst, und einem russischen Oberst, der im Hause einquartiert ist. Für unser Thema ist die folgende Antithese besonders wichtig: Agnes und Horst haben scheinbar eine gemeinsame Sprache - beide sprechen deutsch - aber beide entfremden sich im Gespräch immer stärker (der Code ist äußerlich derselbe, aber Wortgebräuche, Stereotype, Wertungen Horsts befremden Agnes aufs tiefste). Andererseits versteht sie kein Russisch und der russische Oberst kein Deutsch. Er wird Agnes ’ Geliebter; beide reden zueinander in einer Sprache, die der andere nicht versteht, mindestens nicht im Sinne rationaler Information. Mit der gemeinsamen Sprache entfallen viele Unterschiede und Verschiedenheiten der Anschauung. Agnes versteht viel, was sie vielleicht nicht verstehen würde, wenn die Sprache mit im Spiel wäre. Natürlich gewinnen die paralinguistischen Mittel, zum Beispiel Gesten, Blicke, Berührungen, auch Tonfall und Pausen in der Sprache, kurz das, was bei Watzlawick-Beavin-Jackson (§ 2 . 5 [s. Anm. 3 ]) die analogen Kommunikationsmittel genannt wird, sehr stark an Gewicht; wir werden darauf zurückkommen. Gegen Ende des Stückes haben Agnes und Stepan schon viele gemeinsame Erfahrungen. So ruft zum Beispiel allein das Wort »Wannsee« in beiden schöne Erinnerungen wach, ähnlich verhält es sich mit dem Wort »Mercedes«. Aber diese Ansätze zu einem neuen sprachlichen Code sind gering. Agnes findet, Sprache sei Verstellung, und nur ohne Sprache könne man sich so geben, wie man wirklich sei. Sie Definition, Dialektik, Klassifikation 129 <?page no="130"?> sagt zu Stepan: »Und dabei bin ich so glücklich, weißt du, finde es schön, daß wir nicht verstehen, was der andere sagt (. . .) Du! vielleicht ist es nie anders, wenn Mann und Frau zusammen sprechen, und alles, was man noch mit Worten sagen kann, ist gleichgültig (. . .) ich wußte nicht, daß es das gibt; daß ich sein kann wie zu dir, so ohne Angst und Verstellung, so wirklich, so ganz und gar! « Auch der Oberst vertraut sich Agnes an - bühnentechnisch ist das Problem seiner Sprache so gelöst, daß dem Zuschauer eine deutsche Übersetzung gegeben wird, von der selbstverständlich die Agnes des Stückes nichts weiß. Er spricht zum Beispiel darüber, wie der Krieg die Menschen, auch seine eigenen Genossen, verändert habe, und Agnes gibt zur Antwort: »Laß uns jetzt nicht an Sorgen denken«. Sie kennt ihn also bereits so gut, daß sie spürt, wenn ihn etwas Unangenehmes beschäftigt. Es ist also in diesem Stück so, daß gerade das Nicht-Verstehen Hindernisse abbaut und die Beziehung begünstigt. Frisch spricht im »Tagebuch 1947 « von der »Sprache als Gefäß des Vorurteils«. Von den vielen, die nach 1945 die Sprache aus diesem Grund und aus ähnlichen anklagen, gehört seine Stimme zu den ersten. Frischs Darstellung ist, im Vergleich zu dem früher besprochenen Traum des wortlosen Verstehens, relativ realistisch, wenngleich es auch hier um eine fiktive und sogar innerhalb der fiktiven zeitlich eng umgrenzte Paarbeziehung geht. Wir fragen nochmals: worin besteht der Gewinn beim Ausfall des normalen sprachlichen Verständnisses? Indem wir einmal nur von den Vorteilen sprechen und die Nachteile außer acht lassen, werden wir zwei Aspekte bemerken: einen »negativnegativen« und einen positiven. Der erste besteht darin, daß alles wegfällt, was die Sprache an Trennendem und die Beziehung Störendem mit sich bringen kann: Vorurteil, Lüge, notwendige Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe mit ihren Beschränkungen. Dies läßt sich aus Frischs Text besonders gut ablesen. 130 Störungen <?page no="131"?> Was im Text des Stücks nicht so explizit enthalten ist, aber durch die Schauspieler sehr gut dargestellt werden kann, ist der positive Aspekt: Durch den Wegfall der digitalen Kommunikation erhält die analoge Kommunikation mehr Raum. Der Unterschied zwischen digitaler und analoger Kommunikation ist gut herausgearbeitet bei Watzlawick-Beavin-Jackson, Menschliche Kommunikation (Bern etc., 4 1974 ; § 2 . 5 ). Die beiden Begriffe beziehen sich auf das Verhältnis des ausdrückenden Zeichens zum auszudrückenden Gegenstand. »Es gibt zwei grundverschiedene Weisen, in denen Objekte dargestellt und damit zum Gegenstand von Kommunikation werden können. Sie lassen sich entweder durch eine Analogie (z. B. eine Zeichnung) ausdrücken oder durch einen Namen. (. . .) Namen sind Worte, deren Beziehung zu dem damit ausgedrückten Gegenstand eine rein zufällige oder willkürliche ist. Es gibt letztlich keinen zwingenden Grund, weshalb die fünf Buchstaben k, a, t, z und e in dieser Reihenfolge ein bestimmtes Tier benennen sollen - es besteht lediglich ein semantisches Übereinkommen für diese Beziehung zwischen Wort und Objekt. »In der analogen Kommunikation finden wir etwas besonders Dingartiges in dem zur Kennzeichnung des Dings verwendeten Ausdruck; schließlich liegt es ja im Wesen einer Analogie, daß sie eine grundsätzliche Ähnlichkeitsbeziehung zu dem Gegenstand hat, für den sie steht. Der Unterschied zwischen digitaler und analoger Kommunikation wird vielleicht etwas klarer, wenn man sich vor Augen hält, daß bloßes Hören einer unbekannten Sprache, z. B. im Radio, niemals zum Verstehen dieser Sprache führen kann, während sich oft recht weitgehende Informationen relativ leicht aus der Beobachtung von Zeichensprachen und allgemeinen Ausdrucksgebärden ableiten lassen, selbst wenn die sie verwendende Person einer fremden Kultur angehört. Analoge Kommunikation hat ihre Wurzeln offensichtlich in viel archaischeren Entwicklungsperioden und besitzt daher eine weitaus allgemeinere Gültigkeit als die viel jüngere und abstraktere digitale Kommunikationsweise.« Definition, Dialektik, Klassifikation 131 <?page no="132"?> Weinen, Lachen, Anblicken, Großes und Kleines, Hohes und Tiefes durch Gesten oder Stimmführung ausdrücken, das wären einige Beispiele von analoger Ausdrucksweise. Sicher ist, daß der Mensch, wenn seine digitale Kommunikation ausfällt, gerne auf seine Reserven von Analogiekommunikation greift - auch sie kann zwar nach Herkunft und Individuum etwas verschieden sein, aber sie ist sicher weniger begrenzt als die digitale. Man kann in diesem Zusammenhang auf Brechts Gedicht 1940 (»Mein junger Sohn fragt mich . . .«) verweisen: Mein junger Sohn fragt mich: Soll ich Französisch lernen? (. . .) Reibe du nur mit der Hand den Bauch und stöhne Und man wird dich schon verstehen. Die heutige Kultur ist hochgradig digital: eine der neuesten Veränderungen ist die Ausbreitung der digitalen Uhr auf Kosten der analogen; eine leichte Gegenbewegung zeigt sich in den analogen Wegweisern auf Bahnhöfen und Flugplätzen. Die Übung in der analogen Kommunikation wird eher vernachlässigt als systematisch gepflegt. Frischs Stück ist für die Schauspieler großartig, weil sie die Reserven der Analogiekommunikation allmählich mobilisieren können. Wir fassen diesen Abschnitt so zusammen: die Störung der (digitalen) sprachlichen Kommunikation ist keineswegs identisch mit der Störung der Beziehung. Sie kann die Beziehung stören, aber unter Umständen auch verbessern. Frischs Stück gibt dafür ein freilich extremes, aber bedenkenswertes Modell. Bevor wir die möglichen Arten von sprachlich bedingter Beziehungsstörung ansehen und einzuteilen versuchen, müssen wir eine weitere Einschränkung machen. Zunächst müssen wir uns daran erinnern, daß Paarsprache und Paarbeziehung in einem dialektischen Verhältnis stehen: eins beeinflußt das andere. Es gibt sogar Gründe, anzunehmen, die beiden seien nur verschiedene Aspekte derselben Sache (vgl. oben S. 28 ); wir müssen sie aber hier der Klarheit halber doch trennen. 132 Störungen <?page no="133"?> Wir haben den gegenseitigen Einfluß bereits auf seine positive Seite hin betrachtet, als wir sagten, daß eine gute Paarbeziehung einen intensiven Privatcode zur Folge hat und daß andererseits ein intensiver Privatcode die Beziehung stärkt. Wenden wir uns nun dem negativen Aspekt zu, so bemerken wir naturgemäß dasselbe reziproke Verhältnis: eine »schlechte« Sprache (z. B. Beschimpfung des Partners) schadet der Beziehung, und eine gestörte Beziehung drückt sich irgendwie auch in der Sprache aus. Von der Sprache aus gesehen, heißt das: »Gestörte« Sprache kann entweder Ursache oder aber Folge von gestörter Beziehung sein. Nun haben wir bereits eingeräumt, daß es nicht immer möglich ist, die Ursache zu lokalisieren. Wir wollen uns aber dennoch, wenigstens im Prinzip, auf die Betrachtung solcher Störungen beschränken, bei denen die Sprache die Ursache der Störung ist. Selbstverständlich wäre es an sich nicht nur möglich, sondern auch sehr lohnend, die Sprache als Folge von Störungen zu betrachten. Wenn sich die Partner solche Sätze sagen, wie die folgenden: Schön bist nicht, aber geil. (Kroetz, Männersache), Du machst mich noch wahnsinnig, du mit deinen idiotischen Sarkasmen (Bergman, Szenen einer Ehe), Do you want me to go around all night braying at everybody, the way you do? (Albee, Who ’ s afraid of Virginia Woolf), dann stimmt etwas mit dieser Beziehung nicht. Aber entweder müssen wir es bei dieser trivialen Feststellung bewenden lassen, oder wir müssen die Art der Störung beschreiben; dies aber wäre eine Aufgabe nicht der Linguistik, sondern der Psychologie. Von der Linguistik her könnte man allenfalls »Strategien des sprachlichen Fertigmachens« beschreiben, aber auch dann bewegt man sich auf dem Grenzgebiet zwischen Psychologie und Linguistik. 74 Wir werden also hier Sprache als Symptom und Folge gestörter Beziehungen (dazu gehört u. a. alle absichtlich aggressive Sprache) nicht behandeln, sondern uns auf die Sprache als Ursache von Störungen beschränken; gleichzeitig wollen wir auch jene Fälle Definition, Dialektik, Klassifikation 133 <?page no="134"?> ausscheiden, in denen die Sprache offensichtlich pathologische Züge trägt. Wenn wir die möglichen, im Bereich der Sprache liegenden Ursachen für Beziehungsstörungen zu systematisieren suchen, so können wir verschieden vorgehen. Zum Beispiel können wir versuchen (und dies wäre wohl, von der modernen Linguistik aus gesehen, beinahe das Gegebene), Störungen in der Kompetenz und Störungen in der Performanz zu unterscheiden; unter Kompetenz versteht man (kurz zusammengefaßt) das (latente) Verfügen des Menschen über die sprachlichen Mittel, unter Performanz die Anwendung dieser Mittel im konkreten Sprechakt. Tatsächlich werden wir im folgenden eine ähnliche Unterscheidung vornehmen, die sich aber mit dem Unterschied zwischen Kompetenz und Performanz nicht völlig deckt: wir werden von Störungen im Code und Störungen im Sprechakt reden. Diese Terminologie hat gegenüber der anderen zwei Vorteile. Erstens ist die Abgrenzung zwischen »Kompetenz« und »Performanz« sehr umstritten, d. h. bei bestimmten Erscheinungen ist man sich keineswegs einig, ob sie der Kompetenz oder der Performanz zuzurechnen sind; es wiederholt sich hier, was bei dem ähnlichen Begriffspaar Langue - Parole (zurückgehend auf F. de Saussure) seit über 50 Jahren geschieht. Dies hängt zusammen mit dem zweiten Punkt: die Begriffe »Kompetenz« und »Performanz« sind typisiert oder idealisiert. »Kompetenz« wird oft mit der potentiellen Fähigkeit des idealen Sprechers oder Hörers gleichgesetzt - wir haben es aber hier nicht mit idealen, sondern mit sehr realen Sprechern und Hörern zu tun; ja, die Abweichungen von einem gemeinsamen Norm-Kern stehen geradezu im Mittelpunkt unseres Interesses. Auch der Begriff »Performanz«, wie er normalerweise gebraucht wird, ist für unsere Bedürfnisse zu eng. Wir haben es nicht nur mit der Aktivierung oder Realisierung der eigentlichen Code-Elemente zu tun, sondern auch mit Phänomenen am Rande der Sprache, zum Beispiel Zeitpunkt und Ausmaß des Schweigens; wir müssen darum einen Begriff ge- 134 Störungen <?page no="135"?> brauchen, der möglichst alle Verhaltensweisen im Umkreis der Sprache deckt. Wir verwenden deshalb das Begriffspaar Code und Sprechakt. Unter einem Code verstehen wir grosso modo die Verbindung von bestimmten Inhalten (Bedeutungen) mit bestimmten Lauten, wobei ein Code nichts Schematisches oder Idealisiertes ist, sondern etwas Konkretes, dem jeweils neben den allgemeinsprachlichen Zügen auch regionale, soziale und sogar idiolektale Elemente eigen sind (idiolektal = für die Sprache eines Einzelnen charakteristisch). Unser Code entspricht also der Summe der Schichten in dem bereits besprochenen »Zwiebelmodell«. Zwei Codes können deshalb alle möglichen Abstufungen von Deckung oder Verschiedenheit aufweisen, sie können sich aber, da das idiolektale Element zum Code gehört, nie völlig decken. Ein Beispiel für eine Code-Verschiedenheit: Das Wort hocken bedeutet im Hochdeutschen ungefähr › kauern ‹ (stilistisch und wertmäßig neutral). Im West-Schweizerdeutschen (Bern) ist es weitherum das normale Wort für › sitzen ‹ , (mit dem Beiklang des Bäurischen, aber nicht Unfreundlichen). Im Ost-Schweizerischen (Zürich) bedeutet es ebenfalls › sitzen ‹ , ist aber nicht das Normalwort, sondern ein gröberes Synonym mit zwei deutlichen Konnotationen: 1 . der Agens (der, welcher »hockt«) wird nicht besonders respektiert, 2 . der Agens »klebt« an seinem Ort, von dem er eigentlich weg sollte. Diese Code-Differenz kann unter Umständen eine Trübung von Beziehungen zur Folge haben, zum Beispiel dann, wenn der Hörer ein Ostschweizer ist. Dann kann der bundesdeutsche oder Berner Sprecher in aller Harmlosigkeit mit diesem Wort Anstoß erregen. Und nun dagegen ein Sprechakt-Beispiel. Wir können annehmen, daß das Wort immer innerhalb des Deutschen keinen großen Code-Verschiedenheiten ausgesetzt ist, das heißt, es bedeutet für alle Deutschsprachigen im großen Ganzen dasselbe. Trotzdem kann ein Partner mit diesem Wort zur Entfremdung beitragen, dann nämlich, wenn er es unverhältnismäßig häufig auf den Partner bezogen gebraucht: »Immer sagst du . . .», Definition, Dialektik, Klassifikation 135 <?page no="136"?> »Immer nimmst du . . .«, »Immer vergißt du . . .«, etc. Es geht hier nicht um eine Verschiedenheit in der Relation von Laut und Bedeutung, sondern um eine bestimmte Art der Anwendung eines an sich durchaus gemeinsamen Code-Elements. Soviel zur Unterscheidung von Code und Sprechakt. Wenn wir im folgenden sprachliche Störungen betrachten, so wird dieser Abschnitt in gewissem Sinne eine Umkehrung der vorhergegangenen Kapitel. In jenen ging es im Prinzip um sprachliche Faktoren, welche die Beziehung festigen helfen: ein gemeinsamer Privatcode, erotische Stimulation durch Sprache, Anlehnung an gemeinsame, die Beziehung erhöhende Muster, Überwindung von Ausdrucksschwierigkeiten durch vorgegebene Texte, Chiffern für gemeinsam Erlebtes. Wenn wir nun von den negativen, der Beziehung schädlichen Elementen reden, so gehören diese Dinge naturgemäß nicht alle einer neuen Kategorie an. Viele von ihnen bestehen lediglich in der Abwesenheit der bereits geschilderten positiven Faktoren. Ein imaginativer Leser der vorausgegangenen positiven Abschnitte mag sich bereits an verschiedenen Stellen gefragt haben: »Wie aber, wenn nicht? «, »Was, wenn dies fehlt? « usw. Und an einzelnen Stellen haben wir zur klareren Illustration des Positiven bereits negative Gegenbeispiele gegeben (Männersprache, S. 51 f., Code-Verrat, S. 56 , Sprache als Dämpfung der Erotik, S. 70 f.). So können die nun folgenden Abschnitte ohne weiteres aus dem Vorausgegangenen ergänzt werden - andererseits bilden sie vom Negativen her auch eine Ergänzung zu dem, was vorher über die normale, ungestörte Beziehung gesagt wurde. b) Störungen durch den Code Störungen durch den Code können im Prinzip aus zwei verschiedenen Ursachen entstehen: 1 . Code-Verschiedenheiten zwischen den Partnern, 2 . Ungenügen des Codes beider Partner. Wir betrachten zuerst die Code-Verschiedenheiten. Ein Code hat mindestens die folgenden Ebenen: die lautliche (Aussprache 136 Störungen <?page no="137"?> einzelner Laute, Akzent, Tonfall), die morphologische (Wortbildung, Bildung der grammatischen Formen), die syntaktische (Verknüpfungsprinzipien) und die lexikalisch-semantische (Wörter und ihre Bedeutungen). Code-Verschiedenheiten können grundsätzlich alle diese Elemente betreffen. Wir können aber vermuten, daß störende Differenzen vor allem auf zwei Ebenen vorkommen, einerseits auf der lautlichen, andererseits auf der lexikalisch-semantischen. Das schließt keineswegs aus, daß es noch andere gibt - zum Beispiel kann beim schriftlichen Verkehr die Orthographie des einen Partners von dem, was der andere erwartet, so verschieden sein, daß es zu einer ernsthaften Störung kommt. Da eine Beschreibung von lautlichen Zügen (Tonfall, persönliche Artikulation etc.) einen beträchtlichen phonographischen Aufwand erfordern würde, und da von Differenzen in dieser Hinsicht wenig genaue Dokumente vorliegen, werden wir Störungen in dieser Schicht nur andeuten und uns im wesentlichen auf die lexikalisch-semantische Ebene beschränken. Hier lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Typen von störenden Code-Differenzen unterscheiden: a) Ein gegebenes Code-Element, zum Beispiel ein Wort, hat im Code des Partners A einen neutralen oder positiven Sinn, enthält dagegen im Code des Partners B ein negatives Merkmal. Wenn Partner A dieses Element gebraucht, kann er, ohne es zu beabsichtigen, den Hörer B kränken (besonders, wenn sich die Äußerung direkt auf B bezieht). b) Ein gegebenes Code-Element, zum Beispiel ein Wort, gehört bei A zum aktiven Sprachbesitz; er verwendet es normalerweise. Dasselbe Element ist B passiv bekannt; er gebraucht es aber selbst nicht, und der Gebrauch liegt außerhalb seiner Norm: er findet, so sollte man nicht reden. Wir werden beide Arten von Störungen, die auch Vermischungen eingehen können, an Hand von Beispielen noch klarer Störungen durch den Code 137 <?page no="138"?> machen. Vorerst aber noch ein Wort über Grad und Herkunft von Code-Differenzen. Interessanterweise sind große Code-Differenzen wahrscheinlich weniger störend als kleinere - man vergleiche die Fremdsprachen-Beispiele besonders bei Frisch. Es sind eher die kleineren Unterschiede, die problematisch werden können. Und hier wieder kann man, nach der Herkunft fragend, unterscheiden zwischen geographischen und sozialen Differenzen. Einige geographische Beispiele. Ein norddeutscher Partner und eine süddeutsche Partnerin diskutieren. Dabei nennt die Partnerin den Partner einen Flegel. Dieser ist ernstlich getroffen; die Beziehung scheint einen Moment gefährdet. Bis es sich herausstellt, daß Flegel im geographischen Dialekt der Partnerin einen viel geringeren (eher scherzhaft gemeinten) Tadel einschließt als in der Regionalsprache des Partners. Umgekehrt hat die Äußerung Was denn? im Norddeutschen eine neutrale oder positive Konnotation; sie ist die normale Reaktion auf eine Äußerung, die man nicht völlig verstanden hat, und soll den Partner ermuntern, sich genauer zu erklären. Im Süddeutschen (und Schweizerischen) dagegen enthält die Äußerung Was denn? ein deutliches Element von Ungeduld (ähnlich dem englischen What is it now? ); man zeigt damit, daß man den Sprecher mindestens in diesem Moment als störend und lästig empfindet. Eine Partnerin österreichischer Herkunft bemerkt, daß die kleinen Vögel aus dem Vogelbad Wasser saufen. Der Schweizer Partner erschrickt etwas über die Grobheit seiner Partnerin. Man muß aber folgendes wissen: im Dialekt der Partnerin stehen trinken - saufen genau parallel zu essen - fressen, das heißt das zweite Wort wird jeweils (neutral) für Tiere gebraucht. Im Dialekt des Schweizer Partners dagegen ist saufen einfach ein gröberer Ausdruck für › trinken ‹ , primär vom Menschen und im Zusammenhang mit viel Alkohol gebräuchlich. Das Verb schmusen bedeutet in vielen bundesdeutschen und österreichischen Regionalvarianten › schmeichlerisch reden ‹ , › schöntun ‹ etc. In der Schweiz dagegen entspricht die Bedeutung etwa dem englischen petting: › sexuelle Aktivität bis kurz 138 Störungen <?page no="139"?> vor dem Geschlechtsverkehr ‹ . Wenn nun eine Partnerin, die mit dem schweizerischen Sprachgebrauch nicht vertraut ist, ihrem Schweizer Partner berichtet, der Bekannte X habe gestern lange mit ihr »geschmust«, so ist mit Bestimmtheit eine Störung zu erwarten. Im Zusammenhang mit dem Unterschied zwischen Regionaldialekten muß noch kurz darauf verwiesen werden, daß hier natürlich auch das klangliche Element (Phonologie, Intonation etc.) eine Rolle spielen kann. Gewisse Dialekte machen auf die Sprecher anderer Regionen oft einen ganz bestimmten Eindruck; daraus wird dann ein stereotypes Bild eines bestimmten »Charakters« abgeleitet: so empfinden viele Schweizer den Zürcher als grob, den Basler als herablassend, den Appenzeller als zornig, den Norddeutschen als befehlshaberisch und so fort. Solche Stereotype können in gewissen Situationen, wenn noch andere Entfremdungsfaktoren dazukommen, durchbrechen. Ein Beispiel einer fast unüberwindlichen regionalsprachlichen Beziehungsbarriere findet sich wiederum in Thomas Manns »Buddenbrooks«: Tony Buddenbrook (aus Lübeck) fühlt sich von der Sprache Herrn Permaneders, ihres zweiten Mannes aus München, auf die Dauer so abgestoßen, daß dies wesentlich zur Entfremdung und nachherigen Scheidung beiträgt. Noch stärker als die regionalen Verschiedenheiten wirken sich aber wahrscheinlich die sozialen Code-Unterschiede aus. Auch sie können wie die regionalen zu Mißverständnissen führen; noch stärker im Vordergrund steht aber wohl der Aspekt der Normfremdheit, des Abgestoßenwerdens durch einzelne Elemente der Redeweise des Partners. Die Sprache des anderen kann einerseits »grob«, »vulgär« etc. (englisch rude, vulgar) erscheinen oder andererseits als »affektiert«, »geziert«, »verlogen«, »hochgestochen« (englisch etwa: affected, mealymouthed, superior, phoney, genteel, la-di-da etc.). Von den vielen sozial bedingten Sprachunterschieden stehen heute die schichtenspezifischen im Vordergrund des Interesses. 75 Man darf aber darüber die anders bedingten Unterschiede nicht vergessen. Sprachen von Gruppen (z. B. Berufsgruppen oder Familien) Störungen durch den Code 139 <?page no="140"?> und sogar idiolektale Züge (Züge, die dem Sprecher allein eigen sind) können unter Umständen ebenfalls trennend wirken. Die sogenannten schichtenspezifischen Sprachdifferenzen sind zweifellos wichtig. Man muß sich aber bewußt sein, daß »Schicht« sehr verschiedenes bedeuten kann. Sehr häufig bezieht man das Wort auf die ökonomische Schichtung, also die Abstufung zwischen arm und reich mit ihren Übergängen. Andererseits lassen sich, ebenfalls mit Übergängen, »gebildete Schichten« und »ungebildete Schichten« unterscheiden. Zwischen diesen beiden Schichtenbegriffen kann Parallelität herrschen (der Reichere kann zugleich der Gebildetere sein); in zahlreichen individuellen Fällen besteht aber die Parallelität nicht: der Hochgebildete kann arm sein, der Reiche ungebildet. Sehr oft werden in der Forschung die beiden Skalen nicht genügend auseinandergehalten; die Begriffe »Oberschicht« und »Unterschicht« werden auf beide Skalen bezogen, und Beobachtungen, die an der einen Skala gemacht werden, werden oft stillschweigend auf die andere übertragen. Versuche, die Skalen zwar zu unterscheiden, sie aber mit Hilfe eines Punktsystems wieder zu einer zu addieren, wie sie etwa von Trudgill 76 gemacht worden sind, beseitigen die Verwirrung nicht. Wenn man Bildungsgrad und Reichtumsgrad trennt - und beide sind nur allzuleicht zu trennen - dann kann man sich fragen: welcher Unterschied wirkt sich sprachlich stärker aus, das heißt, welcher führt eher zu sprachbedingten Störungen? Ganz sicher der Bildungsunterschied, denn er impliziert den Code-Unterschied per definitionem: es ist unmöglich, »Bildung« zu messen, ohne daß der Faktor »größere sprachliche Differenzierung, erweiterter Code« mit angerechnet würde. Die Differenziertheit des Code ist weder Folge noch Ursache der Bildung, sondern einfach ein Aspekt davon. Selbstverständlich kann auch ein Reichtums-Unterschied bei einem Paar zu vielen Arten von Spannungen führen, aber nicht primär zu Code-bedingten Spannungen. Erst mit dem Bildungs-Unterschied tritt auch der Code-Unterschied mit seinen möglichen Konsequenzen (Mißverständnis, Abgestoßensein) 140 Störungen <?page no="141"?> auf. Ein interessantes Beispiel in diesem Zusammenhang ist die Beziehung in E. Segals Roman »Love Story«: die beiden Partner entstammen, rein ökonomisch gesehen, polar verschiedenen Schichten (er enorm reich, sie ganz arm); da sie aber einen sehr ähnlichen Bildungsgrad haben, gibt es bei ihnen kaum nennenswerte Code-Unterschiede. Ein Reichtumsunterschied kann natürlich indirekt zum Code-Unterschied führen, dann nämlich, wenn er einen Bildungs-Unterschied zur Folge hat. Dies ist ein häufiger, aber nicht generell notwendiger Fall. Welche schichtenspezifischen Elemente geben zu Störungen Anlaß? Einmal grobe, undifferenzierte Wörter. Wenn zum Beispiel ein Schweizer alle Dinge, die er nicht schätzt oder nicht gerne tut, als einen »Seich« (wörtlich › Urin ‹ ) bezeichnet, dann spricht er so, daß er von manchem Partner als grob und undifferenziert empfunden und abgelehnt wird. Wichtig ist bei »groben« Wörtern folgendes: Erstens werden sie bei Männern als weniger störend empfunden, obwohl sich auch hier eine gewisse sprachliche »Emanzipation« der Frauen angebahnt hat. Zweitens sind sie nicht in allen Fällen gleich störend: wenn sie in wirklichem Affekt (z. B. im Zorn) oder aber mit einer gewissen Ironie gebraucht werden, stören sie nur den überempfindlichen Partner - erst wenn sie, als eingewurzelte Gewohnheit, zur Normalsprache gehören, dann klassieren sie den Sprecher und stören unter Umständen den Hörer. Es kommt also zum Code- Element eine gewisse Sprechakt-Komponente hinzu. Ähnliches gilt für die Gewohnheit des »Sprücheklopfens«: Sprüche wie: »Ran an den Speck! «, »Raus mit der Schwiegermutter an die frische Luft! « können als Einzelfälle von einem Partner durchaus ertragen werden, als häufige Gewohnheit aber vielleicht nicht mehr. Hier sehen wir Angehörige einer Oberschicht als Kritiker einer Unterschicht. Nun ist es aber durchaus nicht so, daß sprachliche Kritik nur von einer »etablierten« Oberschicht an einer Unterschicht ausgeübt wird. Genau so gut ist das Umgekehrte möglich: die Sprache des Partners kann von einer einfacheren, derberen Schicht aus gesehen »affektiert«, »hoch- Störungen durch den Code 141 <?page no="142"?> gestochen« etc. erscheinen. Besonders das Englische hat für diese »Kritik von unten nach oben« eine ganze Reihe von vielgebrauchten Ausdrücken verwendet, etwa affected ( › affektiert ‹ ), mealy-mouthed ( › ängstlich alles Grobe vermeidend ‹ ), genteel ( › fein sein wollend ‹ ), la-di-da ( › geziert aussprechend und intonierend ‹ ) und vor allem phoney ( › unecht, verlogen ‹ ). Der Held von Osbornes »Look Back in Anger« liest den Abschiedsbrief seiner Frau (sie gehört einer höheren Schicht an): »(. . .) I shall always have a deep, loving need for you. - Deep, loving need! That makes me puke! (. . .) I never knew she was as phoney as that.« Das gutgemeinte deep, loving need ( › ein tiefes, liebendes Verlangen nach dir ‹ ) löst beim Hörer die Reaktion »zum Kotzen« und »verlogen« aus, weil er nur andere Sprachformen als echt ansieht 77 . Ein ganz ähnliches, hundert Jahre altes, immer noch mögliches Beispiel findet sich in dem Gedicht »Die beschränkte Frau« von Annette von Droste-Hülshoff. Ein Kaufmann stößt sich dort an der sanften Ausdrucksweise seiner Frau und ganz besonders an dem Ausdruck »in Gottes Namen«, den sie viel gebraucht. Erst eine gemeinsame Krise, in der sie beweist, wie echt sie und ihre Sprache ist, bringt die Beziehung wieder ins Gleis. Es ist nicht ausgeschlossen, daß unter allen schichtenspezifischen Sprachgewohnheiten eine Mittelschicht, die man etwa als »halbgebildet« bezeichnen könnte, unter Partnern am meisten der Kritik ausgesetzt ist, also eine Schicht von Sprechern, die fein sein wollen, aber es doch nicht recht treffen. Im Einzelnen äußert sich das etwa als falscher Fremdwortgebrauch, Euphemismen (beschönigende Ausdrücke, auch für harmlose Dinge), Gebrauch von eingeschobenen Floskeln wie »nicht wahr«, »verstehen Sie« usf. Diese Schicht, die es besonders schwer hat, weil sie von zwei Seiten her kritisiert wird, gibt es auch im Englischen. Man spricht dort von genteelisms (Ausdrücken, die fein sein wollen, es aber doch nicht sind); und auch der Begriff non- U (zurückgehend auf das von A. S. C. Ross geschaffene Begriffs- 142 Störungen <?page no="143"?> paar U = upper class usage, Sprachgebrauch der Aristokratie, und non-U) steht dem hier Gemeinten nahe 78 . Die hier geschilderten Schichten-Unterschiede können innerhalb des Paars zu Spannungen führen. Nach Feststellungen von Soziolinguisten (z. B. Trudgill, s. Anm. 76 ) ist der Fall häufig, daß der weibliche Partner eher eine Anpassung seiner Sprache nach oben anstrebt und auch erreicht, wogegen der männliche, sprachlich konservativer, sich mit seiner ursprünglichen Sprachschicht solidarisch fühlt und sie eher beibehält. So wichtig die schichtenspezifischen Sprachunterschiede sind, gibt es doch neben ihnen noch andere sozial bedingte Unterschiede, die störend wirken können. Manche Gruppen, obwohl bildungsmäßig ungefähr gleichgestellt, können sich doch sprachlich voneinander unterscheiden. Wir nennen in diesem Zusammenhang als Beispiel den Fachjargon. Ein Partner, der Psychologie studiert, neigt möglicherweise auch im Alltag dazu, Ausdrücke wie frustriert, motiviert, sensibilisiert, paranoid, schizophren, orale Gelüste im Übermaß anzuwenden und damit seinen Partner zur Verzweiflung zu bringen. Dasselbe kann geschehen bei einer einseitigen Vorliebe für Wörter aus dem Slang - etwa wenn ein Schweizer als Ausdruck der lebhaften Zustimmung nur Wörter wie lässig, ’ s Wunder, ’ s Zäni gebraucht, oder wenn ein Engländer gay nur im Sinne von › homosexuell ‹ verwendet. Oder bei einer einseitigen Vorliebe für gerade in Mode befindliche Wörter (trendy words), wie etwa schulisch, verhaftet (»er ist Brecht verhaftet«), angesiedelt (»seine Prosa ist in der Nähe des noveau roman angesiedelt«), auflisten, einschulen usf. 79 . Mit solchem Jargon kann man einem Partner unter Umständen heftig auf die Nerven fallen. Wie dieses »auf die Nerven fallen« im einzelnen geschieht, kann hier nicht ausführlich besprochen werden. Möglich ist entweder, daß sich einzelne »Nadelstiche« bis zu einem bestimmten Punkt summieren, oder daß etwas ganz »Ungeheuerliches« dem Faß schon an sich den Boden ausschlägt. Ziemlich häufig ist nach unseren Informationen das, was wir etwas respektlos als »linguistischen Kater« bezeichnen möchten: Im Störungen durch den Code 143 <?page no="144"?> ersten Rausch beachtet man gewisse störende Züge, darunter auch sprachliche, gar nicht; ist man einmal wieder nüchterner, eventuell auch vom Partner auf kurze Zeit getrennt, so kommen die verdrängten Störungen mit Macht zurück, und die Zuneigung muß stark sein, daß sie ihnen standhält. Dieser »Kater« ist zum Beispiel dann besonders stark, wenn man von einem Partner, mit dem man bisher nur mündlich verkehrt hat, plötzlich einen Brief mit orthographischen, grammatischen und anderen Verstößen bekommt. Ein Informant berichtet, daß er in seinem dreizehnten Jahr leidenschaftlich verliebt war, aber durch einen Brief, in dem der Nominativ und der Akkusativ beharrlich verwechselt wurden, entscheidend abgekühlt worden sei - er wurde später Linguist. Die Störungen durch Code-Verschiedenheit sind natürlich auch in der erzählenden oder dramatischen Literatur behandelt worden; auf Osborne haben wir schon hingewiesen. Es gibt hier eine ganze Menge verschiedener Modelle und Lösungen. Die konservativste, heute beinahe nach Sexismus schmeckende Lösung bringt Bernard Shaw in der Komödie »Pygmalion«, die von A. J. Lerner als Text zum Musical »My Fair Lady« adaptiert worden ist. In der ursprünglichen Fassung bleibt es zwar in der Schwebe, ob man von einer eigentlichen Paarbeziehung sprechen kann, aber das Musical kann durchaus als Liebesgeschichte verstanden werden. Hier zieht Professor Higgins das Blumenmädchen Eliza, das zuerst ein gesellschaftlich unakzeptables Cockney spricht, sprachlich »zu sich empor«; sie ist auch von Anfang an darauf aus, die »bessere« Sprache zu lernen. Der Mann ist sozusagen der Schöpfer ihrer neuen Person - dies ist ja auch der Sinn des Titels, denn Pygmalion war nach der Sage ein Bildhauer, dessen schönes marmornes Geschöpf zum Leben erwachte. Eine Code-Übernahme aus Liebe, diesmal nur teilweise und in umgekehrter Richtung, findet sich in der Erzählung von Rudolf Graber: »Die Geschichte von dem erkaltenden Mädchen« (in: »Neue Basler Fährengeschichten«, Zürich 1951 , S. 124 ). Sie spielt in Basel, berühmt durch seine phantasievolle 144 Störungen <?page no="145"?> und orgiastische Fasnacht und durch seine für die Schweiz relativ großen soziolinguistischen Unterschiede. Margot, die Heldin, gehört zur obersten Oberschicht, in der die Mädchen vor lauter Vornehmheit schon um achtzehn herum zu »erkalten« pflegen. Sie zeigt eben die ersten Symptome, als sie einmal den »Morgenstreich«, den Beginn der Basler Fasnacht, mitmacht. Dabei gerät sie an einen wilden jungen »Cowboy«, der ihr zuschreit: »Machsch mit, hö? My Chatz het mi versegglet (= versetzt), verdaschi (verdammt) - jetz bisch du mi Schatz. Wie heissisch? « Zwei Tage zieht sie mit ihm herum; als die Fasnacht vorbei ist, trennen sich beide wieder - aber die Gefahr des Erkaltens ist endgültig gebannt. Geblieben ist mit der Erinnerung auch ein Teil des ganz anderen Code: »Und erst ihre Sprache . . . Letzthin im Garten sah sie vom Lesen auf; sie hatte irgend einen Nachmittags-Uhrenschlag im Ohr; sie fragte ihren Papa ganz traumverloren, statt › Was fir Zyt isch, Bappe? ‹ - auf die abgehackte Weise wildester Basler Stämme: › Was Zyt isch, hö? ‹ - und ihr Vater sagte leise zu ihr, auch vom Lesen aufblickend: › Dies noch einmal, liebe Margot, und ich schlage dich mit unserem Regulator [Wanduhr] tot. ‹ «. Eine detaillierte und problemreiche Schilderung einer Paarbeziehung mit Code-Differenz gibt »Lady Chatterley ’ s Lover« von D. H. Lawrence. Der Roman, bei dem es primär um eine Befreiung des Menschen durch eine befreite Sexualität geht, ist auch sprachsoziologisch sehr interessant 80 . Er spielt kurz nach dem ersten Weltkrieg, als in England die Lokaldialekte von der Hochsprache aus gesehen als gesellschaftlich unakzeptabel galten. Lady Chatterley als adelige Frau spricht die Hochsprache; Mellors, der Wildhüter der Chatterleys, ihr Liebhaber, gebraucht primär seinen Lokaldialekt, broad Derby, er verfügt aber auch über die Hochsprache. Lawrence sieht den Dialekt weniger als soziales Merkmal, sondern eher als Zeichen der Zugehörigkeit zur Natur und Unterwerfung unter ihre Gesetze. Mellors spricht vor allem dann Dialekt, wenn er gelöst und glücklich ist. In Connie ist die Wandlung des Bewußtseins an der Einstellung gegenüber Mellors ’ Dialekt abzulesen. Am An- Störungen durch den Code 145 <?page no="146"?> fang besteht trotz der sexuellen Vereinigung ein gespanntes Verhältnis - der Kontrast der beiden Sprachschichten wird immer dann thematisch, wenn die psychische oder physische Übereinstimmung der Partner gestört ist. Connie findet sich durch den Dialekt beleidigt: »Tha mun come to the cottage one time«, he said, »shall ta? We might as well be hung for a sheep as for a lamb.« It puzzled her, his queer, persistent wanting her, when there was nothing between them, when he never really spoke to her, and in spite of herself she resented the dialect. His »tha mun come« seemed not addressed to her, but some common woman. 81 Mellors empfindet den Dialekt seinerseits nicht als zu ihr passend und versucht, sie durch schulmeisterliches Korrigieren abzuschrecken: He laughed. Herattemp ts at the dialect were so ludicrous, somehow. »Coom then, tha mun goo! « he said. »Mun I? « she said. »Maun Ah! « he corrected. »Why should I say maun when you said mun« she protested. »You are not playing fair« 82 . Erst allmählich - ein anderes Symbol der Vereinigung ist die völlige sexuelle Erfüllung - geht sie vollständig auf seinen Dialekt ein, und er stößt sie nicht mehr zurück: »Tha mun come one naight ter th ’ cottage, afore tha goos; sholl ter? « he asked (. . .). »Sholl ter? « she echoed, teasing. He smiled. »Ay, sholl ter? « he repeated. 146 Störungen <?page no="147"?> »Ay! « she said, imitating the dialect sound. »Yi! « he said. »Yi! « she repeated. 83 Eine Liebesgeschichte mit unglücklichem Ausgang, an dem die Code-Differenz einen wesentlichen Anteil hat, erzählt der Film »La Dentellière« (Die Spitzenklöpplerin) von Claude Goretta, nach dem Roman von Pascal Laine (Paris, Gallimard). Ein junges Mädchen, Angestellte in einem Schönheits-Institut, lernt im Urlaub in einem kleinen französischen Küstenort einen Studenten kennen. Die beiden lieben sich; sie zieht zu ihm. Aber die Art, sich auszudrücken, ist bei beiden zu verschieden. Er verfügt über die Sprache des Akademikers, liebt es, zu diskutieren, bereitet sich mit Kollegen auf eine Prüfung vor (wobei er unter anderem die Definition des Phonems repetiert). Sie hat nicht nur einen »restricted code«, das heißt, es fehlen ihr die gelehrten Ausdrücke, sondern sie hat überhaupt kaum das Bedürfnis, Erlebnisse und Gefühle in Worte zu fassen: sie spricht fast nur in Antworten. Dafür hat sie einen großen Schatz von analogen Ausdrucksmitteln. Sie hat ein natürliches Gefühl für symbolische Ausdrucksweisen: Sie legt die geliebte Muschel (am ersten, glücklichen Urlaubsmorgen am Strand aufgelesen) auf dem Soldatenfriedhof einem Unbekannten auf den Grabstein; sie breitet sehnsüchtig ihr Nachthemd in der Form eines Brautkleides über das Bett; sie vertraut sich dem Geliebten oben an der Steilküste mit geschlossenen Augen an. Und ihr Gesicht ist der ausdrucksvollste Spiegel von Gefühlen (großartige schauspielerische Leistung von Isabelle Huppert). Aber der Student hält es auf die Dauer wegen ihrer - wie er es sieht - Ausdrucksarmut mit ihr nicht aus; er schickt sie fort, und die Erschütterung ist für sie so groß, daß sie den Verstand verliert und als Klöpplerin in einem Heim dahinlebt. Wir haben bis jetzt von Code-Unterschieden gesprochen, welche die Paarbeziehung gefährden können, wenn nicht starke Gegenkräfte vorhanden sind. Nun ist aber neben dem Fall des Code-Unterschiedes noch ein anderer Fall denkbar: beide Part- Störungen durch den Code 147 <?page no="148"?> ner haben einen so mangelhaften Code, daß die Beziehung darunter leidet. Von allen möglichen Störungen ist dieser Fall besonders schwer objektiv festzustellen. Es wäre dazu nötig: Entweder: ein Dritter beobachtet die beiden Partner und ihre Sprache - dies ist an sich schon problematisch, und es würde wahrscheinlich zu einer »Unschärferelation«, das heißt zur Beeinflussung des zu beobachtenden Tatbestandes durch die Beobachtung führen. Oder, als andere Möglichkeit: das Paar äußert sich selbst über sein sprachliches Ungenügen: »unser Code reicht nicht für das, was wir uns zu sagen hätten, seine Beschränktheit (oder was immer es ist) stört unsere Beziehung«. Nun kommen solche Äußerungen tatsächlich sehr oft vor - aber sie sind ein Zeichen von Nachdenken über die eigene Kommunikation und ihre Grenzen, also metasprachlich (mit Hilfe von Sprache über Sprache redend). Die Klage über die Unzulänglichkeit des eigenen Code kommt deshalb in der Regel gerade dort vor, wo man bereits über einen differenzierten Code verfügt, aber weiß, daß er noch nicht hinreicht, das Eigentliche, Wesentliche zu sagen - besonders häufig findet sich diese Klage über die Grenzen der eigenen Sprache oder der Sprache überhaupt bei Dichtern (man denke etwa an Hofmannsthals »Brief des Lord Chandos«). Das subjektive Gefühl des sprachlichen Ungenügens - als Einzelner oder als Paar - ist möglicherweise fast umgekehrt proportional zum objektiven Ungenügen, sofern es so etwas überhaupt gibt. Man hat also in der gewöhnlichen, außerliterarischen Wirklichkeit Schwierigkeiten mit dem Fall des beidseitig schlechten Code, von dem wir durchaus annehmen können, daß er existiert. Hingegen finden wir in der Literatur, vor allem im modernen Drama, etwa bei Ödön von Horváth (»Geschichten aus dem Wiener Wald«, »Kasimir und Karoline«) oder bei Harold Pinter (z. B. »The Room«) Beschreibung von Auswirkungen ungenügender Codes. Am konsequentesten ausgeführt sind diese Dinge in den Stücken von Franz Xaver Kroetz (z. B. »Michis Blut«, »Heimarbeit«, »Hartnäckig«, »Männersache«, »Oberöster- 148 Störungen <?page no="149"?> reich«); man kann hier geradezu von Modellen oder von einem Modell sprechen 84 . Kroetz schreibt (S. 6 der Vorbemerkung zu »Heimarbeit«, »Hartnäckig«, »Männersache« (Neufassung): Drei Stücke, Frankfurt 2 1973 ): »Ich wollte eine Theaterkonvention durchbrechen, die unrealistisch ist: Geschwätzigkeit. Das ausgeprägte Verhalten meiner Figuren liegt im Schweigen; denn ihre Sprache funktioniert nicht. Sie haben keinen guten Willen. Ihre Probleme liegen so weit zurück und sind so weit fortgeschritten, daß sie nicht mehr in der Lage sind, sich wörtlich auszudrücken«. Kroetz ’ Figuren leiden also an der Unfähigkeit, ihre Probleme sprachlich zu bewältigen. Sie sprechen eine äußerst »restringierte« Sprache. Zwischen langen Pausen versickern ihre kurzen, grammatisch oft hilflosen und unlogischen Sätze; diese wieder bestehen weitgehend aus vorgeprägten Phrasen, Floskeln, Sprichwörtern, abgenutzten Redensarten. Diese zum größten Teil »geliehene« Sprache ermöglicht es, sich und anderen ein Bescheidwissen vorzumachen, das auch zu Entscheidungen führt, die aber in Wirklichkeit keine eigenen Entscheidungen sind. Sie führt auch nicht zu Klarheit über den eigenen Zustand. Gleichzeitig raubt sie als »Allerweltssprache« den »Helden« ihre Individualität, und da mit ihr kein Sich-Aussprechen möglich ist, ergeben sich innerhalb der Beziehung oft Stauungen, die sich sogar als Verbrechen entladen können. Die Sprache ist, nach Kroetz ’ Modell, das Schicksal der Figuren, so wie im Naturalismus, etwa bei Hauptmann, die Vererbung das Schicksal war. Einen stärkeren Einfluß einer bestimmten Art Sprache auf die Beziehung kann man sich kaum denken. Man wird Kroetz im Zusammenhang mit unserem Thema immer nennen müssen. Nun sind aber einige ergänzende Bemerkungen auch nötig. Zunächst: es sind nicht in erster Linie die »Unterschichtsmerkmale«, die sprachlichen Hilflosigkeiten, die falsche Grammatik, die unvollständigen Sätze, welche die Kommunikation behindern und die Beziehung stören. Noch mehr ins Gewicht fallen: das Aneinander-vorbeireden, Ausflüchte, Scheinlogik, Ge- Störungen durch den Code 149 <?page no="150"?> brauch von Phrasen und Klischees, und dies alles kommt, wenn auch nicht immer dermaßen gehäuft, auch in sogenannter gebildeter Sprache vor. Noch wichtiger aber ist auch hier die Frage nach der Kausalität, die wir bereits weiter oben (S. 132 f.) aufgeworfen haben. Wenn Kroetz ’ »Helden« zum Partner sagen: »Schön bist nicht, aber geil«, »Wenn du wissn tätst, wiest ausschaust, tätst anders redn« und so weiter, dann ist keineswegs eine abstrakte »Sprache« schuld, sondern der Sprecher. Man kann also auch sagen: Kroetz ’ Figuren (besonders die Männer) sind, aus Frustrationen heraus, die mit der Sprache an sich wenig zu tun haben, aggressiv, und deshalb reden sie so wie sie reden, gehen nicht auf den Partner ein, fechten mit Scheinargumenten, weichen wichtigen Themen aus - genau so, wie es auf sprachlich differenzierter Ebene die Figuren - Doktoren und Professoren - Albees und Bergmans (in »Who ’ s afraid of Virginia Woolf« und »Szenen einer Ehe«) tun. Kroetz selbst sagt von seinen Figuren: »Sie haben keinen guten Willen«. Wir entnehmen der Betrachtung von Kroetz ’ Figuren und ihrer Sprache, daß der gute Wille der Kommunizierenden von ganz großer Wichtigkeit ist. Jede Kommunikation, jeder Code, ist im Grund fragmentarisch und gibt potentiell Anlaß zu Mißverständnissen und anderen Störungen. Der Wille, eine gegebene undeutliche oder mehrdeutige Kommunikation so positiv wie möglich aufzufassen, ist ganz entscheidend für das Bestehen einer guten Partnerbeziehung. Durch ihn werden Verschiedenheiten und Unzulänglichkeiten des Codes weitgehend abgefangen. Hierauf sollte auch die Linguistik vermehrt hinweisen. c) Störungen im Sprechakt Auch wenn der Code selbst keinen Anlaß zu Störungen bietet, kann es doch Störungen geben, die in der Anwendung der Sprache durch die beiden Partner, also im Sprechakt begründet 150 Störungen <?page no="151"?> sind. Die Möglichkeiten sind hier so zahlreich, daß wir uns notwendigerweise wieder beschränken müssen. Zunächst erinnern wir uns an das S. 132 f. erwähnte dialektische Verhältnis von sprachlichen und anderen Störungsursachen. Und wir werden uns auch hier auf solche Störungen beschränken, die (soweit sich dies feststellen läßt) primär von der Sprache herkommen. Wir werden also hier den Fall nicht behandeln, daß die Partner, einer oder beide, aus irgend einem nichtsprachlichen Grunde darauf aus sind, sich »fertigzumachen«, und sich zu diesem Zwecke bestimmter sprachlicher Mittel bedienen, die vom Schimpfwort bis zur gezielten sprachlichen Strategie reichen können 85 . Wir setzen also den guten Willen der Partner mindestens so weit voraus, daß wir die absichtliche und bewußte Aggression aus unserer Betrachtung ausschließen; hingegen könnte man bei manchem, von dem wir im folgenden zu sprechen haben, von »fahrlässigem Sprachgebrauch« reden; das heißt, bei näherer Überlegung hätten sich die Folgen absehen und die sprachlichen Äußerungen entsprechend ändern lassen. Über die Grenzen der Fahrlässigkeit kann man sich natürlich streiten, ebenso über die Präsenz und Rolle unbewußter Aggressionen. Was ebenfalls vorausgeschickt werden muß: Wenn wir im folgenden einen Katalog von störenden sprachlichen Verhaltensweisen aufstellen, so heißt das noch nicht, daß diese Verhaltensweisen unter allen Umständen vermieden werden müssen. Jedes erfahrene Paar weiß, daß es auch in guten Beziehungen gelegentlich zu Aggressionen kommen muß; wenn sich diese in einem reinigenden Gewitter entladen haben, ist das Klima der Beziehung vielleicht so gut wie nie zuvor - man möchte geradezu »Klopstock« ausrufen! Die Frage, ob in einem bestimmten einzelnen Fall die Störung vermieden oder aber gerade bewußt herbeigeführt werden soll, muß jedes Paar selber entscheiden. Auch mit diesen Einschränkungen ist unser Gebiet noch grenzenlos; wir können deshalb nur einige uns besonders häufig Störungen im Sprechakt 151 <?page no="152"?> oder typisch erscheinende Fälle von beziehungswidrigen Sprechakten herausgreifen. Störungen können zum Beispiel durch Generalisierungen erfolgen. Wenn der Partner aus irgend einer gegebenen Einzelursache heraus kritisiert wird, werden gerne die Wörter immer und nie verwendet: »Immer vergißt du . . .«, »Nie darf ich . . .«. Mit diesen Ausdrücken nimmt die Auseinandersetzung, die bis dahin um das Verhalten in einer bestimmten, begrenzten Situation ging, eine Wendung ins Grundsätzliche: der Partner wird als Ganzes und als Charakter in Frage gestellt; er erfährt zu seiner Überraschung, daß er es »immer schon falsch gemacht hat«, daß der Partner ihn bisher schweigend ertrug, und er muß annehmen, daß noch andere ähnliche Enthüllungen bevorstehen. Eine ähnliche Generalisierung geschieht durch die Form, die wir hier das »aggressive Perfekt« nennen wollen: »Auch letzte Weihnachten hast du . . .«, »schon die ganze Zeit bist du . . . gewesen«. Das heißt, unangenehme Dinge, die zur damaligen Zeit nicht erwähnt worden sind, werden jetzt im Nachhinein »ausgekramt«; wieder bekommt der Hörer den Eindruck, der Partner habe sich bisher entweder mit großer Mühe zurückgehalten oder sich sogar in heuchlerischer Weise verstellt. Interessant ist, daß bei solchen rückwirkenden Generalisationen der Eindruck entsteht, man habe jetzt endlich »die Wahrheit entdeckt«: der Kritisierende glaubt zu merken, daß der andere »immer schon« so war; der Getadelte glaubt, entdecken zu müssen, daß der andere ihn die ganze Zeit über seine Gefühle betrogen habe. In diesem Zusammenhang muß noch erwähnt werden, daß die meisten Leute den Begriff »Wahrheit« oder »die Wahrheit herausfinden« fast nur für Unangenehmes gebrauchen, wahrscheinlich, weil man als Glücklicher weniger reflektiert und sich mit der »Oberfläche« der Dinge zufrieden gibt. Bergmans Film (und Buch) »Szenen einer Ehe«, von unzähligen Paaren als Bild ihrer eigenen brüchigen Ehe gesehen (vgl. »Spiegel«, Januar 1975 ), schildert ein Paar, das neben vielen anderen 152 Störungen <?page no="153"?> Eigenschaften die Neigung hat, nur die schlechten Stimmungen und deren Äußerungen für die Wahrheit zu halten. Manche Störungen ergeben sich durch verschiedene Gewohnheiten in bezug auf direkte und indirekte Sprache. Hierunter kann man Verschiedenes verstehen. Einmal gibt es den Unterschied zwischen freimütiger und zurückhaltender Ausdrucksweise; er spiegelt oft den Unterschied verschiedener Familientraditionen. Hierher gehören zum Beispiel die bereits erwähnten personal remarks. In der einen Familie kann eine Äußerung wie »Du hast eben ein langes Kinn« zum normalen Gebrauch gehören, in einer anderen als taktlos abgelehnt werden. Ebenfalls zum Thema direkt-indirekt gehört die verschiedene Gestalt von Aufforderungen. Daß Aufforderungen oft nicht in direkter Form geschehen, ist heute im Zusammenhang mit der Sprechakttheorie wieder in den Vordergrund des Interesses gerückt worden 86 . Aber auch die Psychologie interessiert sich dafür. In A. und K.-H. Mandel et al.: Einübung in Partnerschaft durch Kommunikationstherapie, München 8 1975 , werden S. 206 folgende zwei Beispiele zitiert: Bei Menschen aus verschiedenen Herkunftsfamilien bestehen immer (wenn auch unterschiedlich ausgeprägte) Differenzen in der Koordination von Bedürfnis und Ausdrucks form. Rabkin (. . .) berichtet zwei Beispiele, in denen daraus Konflikte entstehen: I: Die Frau kommt aus einer Familie, in der Wünsche vorsichtig als indirekte Anfragen geäußert werden, damit sie bestimmt nicht als Befehle wirken. Der Mann kommt dagegen aus einer Familie, in der eine direkte Frage, ein Verlangen nicht als bedrängend empfunden wurden: Frau: Würdest du gern ins Kino gehen? Mann: Nein. Frau (nach zehn Minuten): Du gehst nie mit mir aus; warum hast du das Kino abgelehnt? Störungen im Sprechakt 153 <?page no="154"?> Mann: Du hast mich ja nie darum gebeten. Frau: Nie gebeten. Vor zehn Minuten! Du hörst mir nie zu! Ich bin dir gleichgültig. II: Frau: Würdest du den Hahn in der Küche zumachen? Mann: O. K. (er geht in die Küche, verärgert) Die Frau kommt hier aus einem Familiensystem, in dem Wünsche frei geäußert und leicht abgelehnt werden konnten. In der Familie des Mannes konnten Wünsche, Bitten nicht abgeschlagen werden; man äußerte sie nur, wenn es absolut notwendig war. Beide Partner »decodieren« hier den Beziehungsaspekt mit zwei verschiedenen »Schlüsseln« aufgrund ihrer verschiedenartigen individuellen Lerngeschichte! Aber sie sind sich dessen nicht bewußt. Nützlich sind in diesem Zusammenhang die Ausdrücke Beziehungsaspekt und Inhaltsaspekt: Inhalt steht für die Information als solche, Beziehungsaspekt für den Hinweis darauf, wie der Sender die Information verstanden haben möchte - ausführlich dargelegt ist der Unterschied in Watzlawick et al.: Menschliche Kommunikation, 2 . 3 . Das Begriffspaar direkt - indirekt kann schließlich noch etwas anderes bedeuten: den Unterschied zwischen eigentlicher Redeweise und uneigentlicher Rede (scherzhaftem, ironischem, metaphorischem Sprachgebrauch). Es kann der Fall eintreten, daß ein Sprecher vom Partner gerade dann ernst genommen wird, wenn er scherzhaft spricht, oder daß der Hörer meint, er rede ironisch, wo es ihm durchaus ernst ist. Die »Lügensignale« (H. Weinrich, Linguistik der Lüge, Heidelberg 1966 ), das heißt, die Anzeiger der uneigentlichen Rede, also etwa besondere Intonation, übertriebene Betonung, Inkongruenz zum Kontext, sind oft so geringfügig und subtil, daß sie nur aus einem hohen Grade von Eingestimmtheit heraus richtig interpretiert werden können. 154 Störungen <?page no="155"?> Ein wichtiger, noch wenig erforschter Faktor ist der zeitliche Einsatz des Sprechaktes. Im Grunde genommen ist es beinahe ein Wunder, wenn zwei Partner ihre Sprechakte so regeln, daß jeder, der das Bedürfnis zu sprechen hat, in diesem Augenblick auch »drankommt«. Im großen ganzen funktioniert diese Regelung meist so, daß wir sie gar nicht bemerken. Aber es gibt natürlich auch Störungen. Es kann zum Beispiel nach einer kurzen Sprechpause geschehen, daß beide Partner ungefähr im gleichen Augenblick von verschiedenen Dingen zu sprechen beginnen. Dann setzt sich meist einer durch und der andere gibt nach. Störungen entstehen dann, wenn keiner nachgeben will, d. h. wenn keiner die Hörerfunktion übernehmen will; sie entstehen auch dann, wenn einer der Partner gewohnheitsmäßig die Rolle des Nachgebenden zugewiesen erhält und wenn er diese Rolle als Einschränkung empfindet. Nicht nur beim Sprecher, sondern auch beim Hörer gibt es verschiedene Grade der Rücksichtnahme. Der Hörer kann dem Sprecher auf zweierlei Weise die Lust am Sprechen nehmen. Entweder, indem er sich bei der ersten möglichen Gelegenheit mit einer Assoziation einhängt und eine eigene Erzählung beginnt - es gibt hier förmliche Wettkämpfe um das Rederecht. Oder er läßt den Partner »versanden«, indem er ihn eine längere Äußerung (Geschichte, Bericht) tun läßt, ohne je mit einer Reaktion zu zeigen, daß er sie aufnimmt. Die Sprecher reagieren in diesem Fall individuell verschieden. Es gibt den Typus, der auch ohne Antwort mit größter Beständigkeit weiterredet und auf eine Reaktion der Hörers nicht angewiesen ist. Andere Sprecher müssen von Zeit zu Zeit (durch Zwischenrufe, Fragen und andere Aufmerksamkeitszeichen) ermuntert werden, sonst ist es ihnen nicht möglich, weiterzureden 86a . Verschiedenheiten im Einsatz der Sprache zeigen sich besonders auch im Gespräch des Paares mit Drittpersonen. Dort fallen sie natürlich auch mehr auf und erhalten unter Umständen mehr Gewicht. Wenn ein Paar, bestehend aus den Partnern A und B mit einer Drittperson X zusammen spricht, so können die Sprechakte sehr verschieden verteilt sein. Das Normale wäre Störungen im Sprechakt 155 <?page no="156"?> eine gleichmäßige Verteilung, etwa in dem Sinne, daß A mit B, A mit X und B mit X wechselseitig spricht. Also: A B X Häufig beobachtet man indessen, daß der Querverkehr weitgehend reduziert ist, daß praktisch A und B abwechselnd nur mit X sprechen: X X X A B A Dieses Schema ist bei vielen Paaren eine feste Konvention und braucht die Beziehung an sich nicht zu stören. Eine Störung ergibt sich allenfalls, wenn das Gespräch mit X von dem einen Partner monopolisiert wird, wenn also der Partner A sich nur noch an X wendet, keinen Bezug auf B nimmt und B geradezu zu vergessen scheint. In Dreiergesprächen kommt auch vieles von dem zum Ausdruck, was man als Takt einerseits oder als Mangel an Takt anderseits empfindet und bezeichnet. Beispiele für das letztere: A korrigiert B auffällig vor X, macht B vor X lächerlich, fällt B ins Wort, richtet nie das Wort an B, erzählt Dinge von B, die X nicht zu wissen braucht, etc. Solche Verhaltensweisen, die der Beziehung intensiv schaden können, sind, wie auch ihr Gegenteil, nicht an eine bestimmte soziale Schicht gebunden. Eine bestimmte Sprechhandlung, bei der es wesentlich darauf ankommt, wie sie geschieht, ist das Zitieren von Äußerungen des Partners. Es gibt hier Begehungssünden und Unterlassungssünden. Eine die Beziehung störende Gewohnheit ist das parodierende Zitieren eines ungeschickten oder unnützen Partnerausspruchs, also etwa: A »Ich habe halt nicht daran gedacht.« B »Ich habe halt nicht daran gedacht, ha ha! « 156 Störungen <?page no="157"?> Neben diesem flagranten und als offene Aggression kaum mehr hierher gehörenden Fall gibt es auch, viel weniger beachtet, die Umkehrung: das Unterlassen von Zitaten. Zu einer sprachlich guten Partnerbeziehung gehört es auch, in irgend einer Form dem Partner zu bestätigen, daß einem seine Aussprüche und Formulierungen lieb sind. Etwas Ähnliches geschieht in der Code-Übernahme, von der wir bereits gesprochen haben. Es gibt Menschen, die ihren Partner in ganz besonderer Weise dadurch glücklich zu machen verstehen, daß sie dessen Äußerungen, wenn sich die Gelegenheit gibt, spontan selbst gebrauchen - kurz danach oder vielleicht Monate später - und damit dem Partner bezeugen, daß sie seine Worte »im Herzen bewegen«. Anderseits gibt es Partner, bei denen jeder Ausspruch, jede Formulierung wie weggeworfen ist und nie wieder erscheint. Auch hier können die Erwartungen sehr verschieden sein: die Gewohnheit, einander freundlich zu zitieren, gehört wahrscheinlich zu den Familientraditionen; möglicherweise neigen auch Frauen im ganzen eher als Männer zu solcher »Sinnigkeit«. Eine Quelle grundsätzlicher Konflikte ist sodann das Ausmaß der Verbalisierung. Wir verstehen darunter den Grad des Bedürfnisses und der Fähigkeit, Erlebnisse überhaupt in Worte zu fassen. Hier sind wiederum verschiedene Aspekte zu unterscheiden. Wir beginnen mit dem Gegenteil der Rede, dem Schweigen 87 . In dem schon mehrfach zitierten Buch von Watzlawick et al. steht der nunmehr weithin bekannte Satz, daß es für den Menschen unmöglich sei, nicht zu kommunizieren. Auch eine scheinbare Nicht-Kommunikation, zum Beispiel ein Nichtreden in einem bestimmten Augenblick, wird vom Partner irgendwie interpretiert. Da es keine verbindlichen Regeln in bezug auf den Gebrauch des Schweigens gibt, neigt jeder Mensch dazu, seine Interpretation (oft aus Familientradition stammend) für die normale zu halten. Da die Konventionen aber verschieden sind, kann es unter Umständen zu folgenreichen Mißverständnissen kommen. Störungen im Sprechakt 157 <?page no="158"?> Hierzu ein Beispiel: Ein Mädchen ist in einer Familie aufgewachsen, wo während des familiären Zusammenlebens, z. B. des Essens, oft minutenlang geschwiegen wird. Dieses Schweigen bedeutet nichts Böses, es kann auch jederzeit von jedem Familienmitglied wieder unterbrochen werden. Durch die Heirat kommt das Mädchen in eine Familie, in der das Schweigen eine ganz andere Funktion hat: es ist Zeichen von »dicker Luft«, von ernsthaften Verstimmungen (sowohl beim Ehemann wie bei der übrigen Familie). Daraus entsteht bei der jungen Frau eine Art Phobie vor dem Schweigen; sie erträgt es schwer und gibt sich Mühe, die Sprechpausen mit Konversation aufzufüllen, wodurch sie die Situation aber eher schlimmer macht. Mandel et al. (Einübung in Partnerschaft durch Kommunikationstherapie, München 8 1975 ) haben S. 234 f. auf ähnliche Fälle von verschiedenen Konventionen mit Bezug auf das Schweigen hingewiesen. Und nun zum Gegenteil des Schweigens. Ganz allgemein ist das Bedürfnis, sich über das, was man äußerlich und innerlich erlebt, mit Worten auszudrücken, von Mensch zu Mensch sehr verschieden. In E. M. Forsters »Howards End« sagt eine der Figuren: »They [some people] can go into a picture-gallery (. . .) and say straight off what they feel, all round the wall. I never could do that.« Es gibt tatsächlich Menschen, die, z. B. nach einer Theateraufführung oder einem Galeriebesuch, ihre Urteile in festen und ausführlichen Formulierungen sogleich zur Hand haben, während andere nur zögernd herumreden und vielleicht im Grunde lieber gar nichts sagen würden, um den Eindruck nicht festzulegen und zu verfälschen. Der erste Typus erscheint vom zweiten aus gesehen als oberflächlich und geschwätzig, der zweite vom ersten aus gesehen als meinungslos oder unfreundlich. Es gibt in dieser Beziehung markante nationale Unterschiede. Bei Paaren kann es dann zu Störungen kommen, wenn die Partner zu den entgegengesetzten Typen gehören und sich entweder totgeredet oder totgeschwiegen vorkommen. 158 Störungen <?page no="159"?> Eine andere Verschiedenheit, welche zu Störungen führen kann, betrifft das Verhältnis zwischen dem Inhalt des Gesprochenen einerseits und dem gleichzeitig erlebten außersprachlichen Kontext andererseits. Angenommen, A und B machen eine Wanderung. Dann kann A das Bedürfnis haben, sich in seinen sprachlichen Äußerungen ganz an das anzuschließen, was er jetzt und hier erlebt - also zu reden von den Bäumen, von den Wolken, von den Schafen, von den Eidechsen, die unmittelbar erlebt werden. B dagegen kann das Bedürfnis haben, angeregt durch die schöne Landschaft, von anderen Dingen zu sprechen - von früheren Wanderungen, vom Charakter gemeinsamer Bekannter, vielleicht sogar von einem Aufsatz über die späte Lyrik von Benn. Auch in diesem Bereich gibt es wieder keine Regel, die das eine als richtig, das andere als falsch erklären würde. Es wird möglicherweise den beiden Partnern gar nicht zum Bewußtsein kommen, warum sie in einer solchen Situation nicht recht froh werden können. Beide werden ein vages Unbehagen spüren, beide werden es schwierig finden, auf die Rede des anderen einzugehen. Im schlimmsten Falle werden zwei Monologe nebeneinander herlaufen, oder der eine Partner wird sich zwingen, sich dem anderen anzupassen. Das Beste ist in einer solchen Situation vielleicht ein Ausbruch mit nachfolgender Klärung. Zu diesem Thema noch eine Seitenbemerkung: Es ist ein wichtiger und wenig bemerkter Zug unserer modernen Kultur, daß die Fähigkeit, eine Sache zu erleben, sehr gering geworden ist. Die Vervollkommnung und Ausbreitung der Medien hat es u. a. mit sich gebracht, daß der Mensch zugleich liest und Musik hört (obwohl es schwer, wenn nicht unmöglich ist, beides zugleich aufzunehmen), daß er auf Reisen zusätzliche Unterhaltung genießt, zum Beispiel bei einer Überquerung der Alpen im Flugzeug eine Illustrierte liest, und so weiter. Die Möglichkeit zum Erleben ist für die meisten Menschen innerhalb des letzten Jahrhunderts an sich sehr viel größer geworden. Aber nur relativ wenige nehmen diese Möglichkeit auch wahr. Wir sind nahe an der Situation von Huxleys »Brave New World«, Störungen im Sprechakt 159 <?page no="160"?> wo man übers Wochenende rasch zum Nordpol fährt, dort Filmvorführungen und andere Unterhaltungen genießt, und mit dem Eindruck von etwas sehr Nettem, aber keineswegs Außergewöhnlichem wieder nach Hause kommt. Aus diesem Grund hat der Partner A in unserem Beispiel eher meine Sympathie als der Partner B, solange er nicht dogmatisch wird. Kritisch, das heißt, Partner unterscheidend und unter Umständen entzweiend, ist aber nicht nur das Verhältnis des gegenwärtig Gesprochenen zum gegenwärtig Erlebten. Verschiedenheiten gibt es auch im Verhältnis des Sprachinhaltes zu zukünftigen Erlebnissen. In einem Aufsatz über »Sprachliche Vorwegnahme« 88 habe ich (hier kurz zusammengefaßt) folgenden Gedankengang ausgeführt: Es ist in der modernen Kultur für den Menschen fast unmöglich, etwas Bedeutendes zu erleben, ohne daß ihm bereits vorher Wesentliches über das Erlebnis in sprachlicher Form mitgeteilt worden ist. Diese sprachliche Vorwegnahme reicht vom Erlebnis der ersten Mondlandung - wo der Zuschauer am Fernsehen vor lauter Kommentaren nicht mehr wußte, was er selbst wahrgenommen hatte und was ihm vom Kommentator mitgeteilt worden war - bis zur sexuellen Aufklärung, die, möglicherweise in bester Absicht, dem jungen Menschen alles, was ihn erwartet (inklusive seine eigenen Gefühle) schon vorher in Worten mitteilt, so daß für spontanes, sprachlich nicht vorbelastetes Erleben nur mehr wenig Raum bleibt. Wir wollen das Problem der sprachlichen Vorwegnahme hier nicht als Ganzes betrachten - es sei auf den genannten Aufsatz verwiesen - sondern nur nach der möglichen Wirkung auf die Paarbeziehung fragen. Hierzu wieder ein Beispiel. In dem Roman »Die Rote« von Alfred Andersch gibt es zwei den Kern des Problems berührende Stellen (Neue Fassung, Zürich 1972 , S. 18 / 9 , 24 / 5 ). Franziska, die Heldin, hat sich soeben von ihrem Mann (Herbert), mit dem sie es nicht mehr aushielt, getrennt. Sie fährt mit dem Zug von Mailand nach Venedig und erblickt an der Strecke ein ganz gewöhnliches 160 Störungen <?page no="161"?> italienisches Haus, das ihr irgendwie anziehend und geheimnisvoll vorkommt: (. . .) du bist romantisch, hat Herbert immer zu mir gesagt, wenn ich bat, das Auto zu stoppen, weil ich mir eines dieser Häuser ansehen wollte, irgendwo, er hatte nie einen Blick für sie, er hatte nur Blicke für Kirchen und Palazzi, für seine Palladios und Sansovinos und Bramantes, den ganzen kunstgeschichtlichen Tinnef. (. . .) Unglaublich, daß ich es mir so lange habe gefallen lassen. (. . .) Weißt du, Franziska, San Maurizio ist ein vorzügliches Beispiel für den sensualistischen Spätstil von Solari. Du tätest mir einen Gefallen, wenn du dir ’ s nachher mit mir zusammen ansehen würdest. Sie erinnerte sich, wie er sein Cognacglas gehoben und daran gerochen hatte. Ein Satz, eine Bewegung haben eine Entscheidung ausgelöst, auf die ich drei Jahre gewartet habe, wie auf ein Gottesurteil. Nachdem Franziska wenig später in Venedig angekommen ist, geht sie durch die Stadt und tritt dabei völlig unversehens aus einer Gasse auf den nächtlichen Markusplatz: (. . .) Franziska geriet in einen Durchgang, in dem es zog, und stand plötzlich auf der Piazza San Marco. Vielleicht habe ich nie etwas Schöneres in einer Stadt gesehen, gerade jetzt, wo es mich nichts angeht, muß es mir passieren, daß ich in einer Januar-Nacht auf die Piazza San Marco gerate. Sie mußte sich einen Augenblick lang zwingen, nicht in Tränen auszubrechen. Warum kann Franziska, die vorher verächtlich von dem »kunstgeschichtlichen Tinnef« gesprochen hat, kurz darauf über ein Kunstwerk beinahe in Tränen ausbrechen? Weil das Erlebnis des Markusplatzes ein völlig spontanes, von keiner vorausgegangenen sprachlichen Fassung »verunreinigtes« Erlebnis ist. Daß Franziska von Herbert so endgültig genug hat, beruht - der Störungen im Sprechakt 161 <?page no="162"?> direkte Anlaß der Trennung zeigt es - zu einem großen Teil darauf, daß er ihr keine Gelegenheit zu solchem ursprünglichem Erleben gab. Gewöhnliche, unberühmte Häuser wollte er sie nicht ansehen lassen, bei berühmten lieferte er ihr immer schon vorher das sprachliche Gerüst (Formulierungen wie »sensualistischer Spätstil«), durch das sie das Erlebnis dann sehen mußte. Auch in diesem Punkt gibt es wieder keine allgemeine Regel. Es mag nicht wenige Paare geben, die zusammen mit heißen Backen den Baedeker lesen, sich in bezug auf kommende Erlebnisse in jeder nur denkbaren Weise (sprachlich) informieren und sich dabei völlig wohl fühlen. Aber nicht selten geschieht es auch, daß »Bildung« als Belastung auftritt, dann nämlich, wenn sie in Gestalt von sprachlicher Vorwegnahme (beim Manne oft zusammen mit einem Schuß Schulmeisterei) den kommenden realen Erlebnissen die Spontaneität nimmt. Und nun noch eine letzte Art von Störungen im Sprechakt. Wir möchten sie mit »falsches Ausmaß der Metakommunikation« umschreiben. Unter Metakommunikation versteht man die Kommunikation über Kommunikation. Ein Paar metakommuniziert dann, wenn es über die kommunikativen Aspekte und Probleme seiner Beziehung redet. Metakommunikation reicht vom Kommentar zu einem Einzelfall (etwa: »Das hättest du nicht sagen sollen«) bis zu grundsätzlichen Urteilen (»es ist leider so, daß wir eine ganz verschiedene Sprache sprechen«). Unter den Menschen gibt es nun sehr verschiedene Grade des Bedürfnisses nach Metakommunikation. Und es kann theoretisch drei Fälle von Störungen geben: A und B haben zuwenig Metakommunikation, A und B haben zu viel Metakommunikation, A hat ein großes Bedürfnis nach Metakommunikation, B dagegen kein Bedürfnis oder keine Fähigkeit. Wir nehmen den letzten Fall vorweg. Er korrespondiert wahrscheinlich oft, aber durchaus nicht immer, mit einer Code-Verschiedenheit. Der Partner mit dem differenzierteren Code wird normalerweise eher das Bedürfnis und vor allem eher die Fähigkeit haben, über Kommunikationsprobleme zu reden, als der Partner mit dem eingeschränkten Code. Aber auch ein 162 Störungen <?page no="163"?> differenzierter Code enthält nicht automatisch die Befähigung zur Metakommunikation. In dem Film »La Dentellière« ist nicht nur das Mädchen mit dem einfachen Code, sondern auch der an sich differenziert redende Student unfähig zu sagen, warum die Fortführung der Beziehung nicht möglich scheint, oder noch allgemeiner: über Verständigungsprobleme überhaupt zu sprechen. Daß mangelnde Metakommunikation schaden kann, läßt sich unter anderem den Beispielen aus Nabl (s. S. 57 f.) und Kroetz (s. S. 148 ff.) entnehmen. Es ist interessant zu beobachten, daß in mehrern von Shakespeares Tragödien der tragische Ausgang vor allem durch Mangel an Metakommunikation zustande kommt. Wenn Othello zu Desdemona sagen könnte: »Hör mal, deine privaten Gespräche mit Cassio mißfallen mir; was hat er eigentlich gesagt« usf.; wenn Posthumus (in: »Cymbeline«), dessen sprachliche Raserei wir oben (s. S. 27 ) gehört haben, zu seiner Frau über ihre und anderer Leute Aussagen reden könnte; wenn Leontes in »The Winter ’ s Tale« seiner Frau, bevor er sie anschuldigt, zuerst einmal zu einem klärenden Gespräch Gelegenheit gäbe - all dies wäre für die Kunst ein Verlust, aber für die Beziehung ein Gewinn. Aber auch ein Übermaß an Metakommunikation, ein Zerreden der Verständnisprobleme und darüber hinaus der ganzen Beziehung, kann Schaden anrichten. Die Figuren Bergmans (in: »Szenen einer Ehe«), manche Figuren von Frisch, viele Personen in Lawrence Durrells »Alexandria Quartet«, die Helden von Malcolm Bradburys »The History Man« ( 1975 ; in »fortschrittlichen« Universitätskreisen spielend) - sie alle lassen fast keinen Winkel ihrer Beziehungen unbesprochen. Die Metakommunikation kann im Übermaß einen oder beide Partner erschöpfen und aushöhlen, sie kann Aggressionen provozieren oder selbst zur Aggression werden. Störungen im Sprechakt 163 <?page no="164"?> 5 . Sprache und Erinnerung Man ist sich im allgemeinen wenig bewußt, in welchem Maße die Sprache die Erinnerung stärkt. Aber ohne Zweifel ist etwas, was einmal in sprachlicher Form festgehalten wurde, besser erinnerbar als das nur sprachlos Erlebte. Dabei müssen wir allerdings präzisieren: es gibt überwältigende (schöne oder traumatische) sprachlose Erlebnisse, an die man sich noch nach Jahren intensiv erinnert. Aber: die sprachlich festgehaltene Erinnerung steht höher im Bewußtsein, sie ist deshalb abrufbar, wir können über sie verfügen; die nicht sprachlich gestützte Erinnerung dagegen ruht in tieferen Schichten, folgt den Gesetzen des Unbewußten, das heißt, sie kommt und geht ohne bewußtes Zutun des Menschen; er verfügt weniger über sie als sie über ihn. Wie wirkt sich der Zusammenhang von Sprache und Erinnerung auf die Paarbeziehung aus? Wir wollen diese Frage hier etwas näher betrachten und zwar vor allem an zwei Aspekten, die sich etwa mit »Erhaltung des Partners« und »Erhaltung der gemeinsamen Welt« umschreiben ließen; sie gehören eng zusammen, und wir trennen sie nur um der klareren Darstellung willen. In seinem auch sprachphilosophisch wichtigen Buch »Human Knowledge: Its Scope and Limits« (London 1948 ) entwickelt Bertrand Russell folgenden Gedankengang: Ein menschliches Wesen verändert sich sozusagen beständig. Mr. Jones im Profil, Jones en face, Jones als Baby und als Erwachsener, Jones nüchtern oder betrunken, das sind im Grunde sehr verschiedene Personen. Nur der Name schafft die Identität: er bewirkt, daß alle diese Joneses als derselbe angesehen werden 89 . Diese Erscheinung, die Postulierung von Identität durch den Namen und noch allgemeiner, durch die Sprache, zeigt sich nun in ganz besonderer Weise in der Paarbeziehung. Es ist möglich, ja sogar häufig, daß sich eine Paarbeziehung über Jahrzehnte hin erstreckt. Es gibt sehr viele alte Liebespaare. Unter anderem <?page no="165"?> solche, die sich noch in hohem Alter leidenschaftlich verlieben - aber nicht von ihnen soll hier die Rede sein, sondern von denen, die zusammen mit ihrer Liebe gemeinsam alt geworden sind. Daß es sie gibt, ist wenigstens zum Teil ein Werk der Sprache. Wenn sich eine Paarbeziehung über längere Zeit hält, also etwa über Jahrzehnte, dann altern die Partner. Von außen gesehen, ist dies völlig klar, und es ist jungen Menschen fast immer peinlich, zusehen zu müssen, wie sich alte Leute (mit schlaffen Hälsen und schütteren Haaren usf.) zärtlich benehmen, sei es sprachlich oder außersprachlich. Viele junge Menschen, auch scheinbar freidenkende, sind hier nicht tolerant, sondern vertreten die Meinung, Liebe und Zärtlichkeit sollte für junge und einigermaßen schöne Menschen reserviert sein. Von den alten Partnern aus gesehen sieht die Situation aber anders aus, vor allem, wenn die Beziehung sprachlich produktiv war und es vielleicht noch ist. Es wird nämlich innerhalb des Paares durch die Sprache die Identität des jetzigen Partners mit dem früheren (jungen) postuliert. Vor allem geschieht das durch die Namen, aber auch durch andere Teile des Privatcode. Ein extremes Beispiel: In Thomas Manns »Joseph und seine Brüder« (Viertes Hauptstück) erscheinen die uralten Eltern Potiphars, Huij und Tuij, halbblind, mit wackelnden Köpfen, von Dienern geführt, um sich leise krächzend über ihren Sohn zu unterhalten; dabei reden sie sich beständig mit Kosenamen wie mein Erdmäuschen, mein Sumpfbiber, mein Löffelreiher usf. an. Wir haben hier Sprache, die nach außen erschreckt, nach innen aber stärkt und erhält. So kann ein Mäuschen, achtzigjährig geworden, in den Augen des Partners ein Mäuschen bleiben, und ein Katerchen in den Augen der Partnerin ein Katerchen. An den bewahrten Namen haftet immer noch die Jugendlichkeit und Attraktivität aus der Zeit der Bezeichnung. Der Partner jenseits des Namens mag sich »ein wenig« gewandelt haben, aber das ist von geringer Bedeutung. So wie wir auch glauben, die Sonne gehe auf, weil unsere Sprache sagt »die Sonne geht auf« und nicht »die Erde hat sich gedreht«, so erweist sich auch Sprache und Erinnerung 165 <?page no="166"?> hier die Sprache den außersprachlichen Eindrücken gegenüber als sehr mächtig. Natürlich dürfen wir auch hier wieder das dialektische Verhältnis zwischen Sprache und Zusammenhalt nicht vergessen. Nur die bewahrte Liebe macht, daß die zärtlichen Namen unvergessen weiter gebraucht werden; aber auch wenn die Liebe guten Willens ist, hätte sie es ohne den identifizierenden Namen schwerer. Wir brauchen nicht zu den Achtzigjährigen zu gehen. Und es sind auch nicht nur die das Jugendliche und Liebenswerte betonenden eigentlichen Kosenamen, die die Identität in eine spätere Zeit hinüberretten, sondern alle die gemeinsamen Sprachgebräuche, die zusammen den Code des Paares bildeten. Der Code mag sich etwas verändern oder zum Teil in Vergessenheit geraten; wir können aber annehmen, daß, wenn einmal ein intensiver Privatcode vorhanden war, ein großes Arsenal von gemeinsam geschaffenen Namen und anderen sprachlichen Ausdrücken erhalten bleibt, in dem sich die früheren Identitäten spiegeln und erhalten, so daß es gelingt, den Partner dem Einfluß der Zeit bis zu einem gewissen, erstaunlich hohen Grad zu entziehen. Ein Dritter, Außenstehender wird diese Bewahrung natürlich als nur subjektiv ansehen. Er wird sie mit seinem eigenen Eindruck, den er objektiv nennt, kontrastieren und erschrecken oder lächeln. Aber das sogenannte Objektive, wenn es sich überhaupt erfassen läßt, spielt in der Liebesbeziehung eine geringe Rolle - dies gilt für alte und für junge Liebende. Allein das (subjektive) Gefühl der Beteiligten zählt, wie merkwürdig und grundlos es auch dem »objektiven« Dritten erscheinen mag. Gerade in unserer Zeit ist es nötig, daß auf die erhaltende Funktion der Sprache, wie wir sie hier beschrieben haben, mit Nachdruck hingewiesen wird. In neuerer Zeit, besonders seit 1945 , ist das Gefühl der Unbeständigkeit der Welt bei der jüngeren Generation bis zur Panik angewachsen. Einen ganz besonderen Anteil an diesem Gefühl hat die Idee der Unstabilität der eigenen Person. Eine ganze Generation scheut sich 166 Sprache und Erinnerung <?page no="167"?> davor, bindende Verpflichtungen (etwa in Gestalt von Eiden, Gelöbnissen, »Treue fürs Leben«) einzugehen. Diese Abneigung stützt sich wahrscheinlich auf die Idee der unaufhaltsamen Veränderung, ganz besonders der unaufhaltsamen Veränderung der eigenen Person. Dieser Gedanke grenzt das Lebensgefühl der Generation nach 1945 entscheidend von einem früheren Lebensgefühl mit Idealen wie Treue, Beständigkeit, Treue zu sich selbst (This above all: to thine own self be true, Hamlet I 3 78 ) ab. Klar und schon früh ausgedrückt, findet er sich im Schlußkapitel von J. D. Salingers Roman »The Catcher in the Rye«: »A lot of people (. . .) keep asking me if I ’ m going to apply myself when I go back to school next September. It ’ s such a stupid question, in my opinion. I mean how do you know what you are going to do till you do it. The answer is, you don ’ t« 90 . Dieses starke Gefühl der Ungewißheit über das künftige Selbst macht es subjektiv unmöglich, Entschlüsse, die auf die Dauer binden, zu fassen. Dies kann auch die Paarbeziehung belasten. Hier bringt nun die Sprache ein gewisses Element der Konstanz. In den Namen und anderen Code-Elementen wird die Identität der eigenen Person und die des Partners bis zu einem gewissen Grade bewahrt; man ist der Vergänglichkeit weniger ausgeliefert, als man es sonst wäre. Da das Gefühl dieser Vergänglichkeit in den letzten drei Jahrzehnten besonders stark geworden ist, ist auch die Rolle der Sprache in diesem Punkt besonders wichtig. Nun zu einer anderen Funktion der Sprache, die im Grunde mit der eben beschriebenen »Erhaltung des Partners« beinahe identisch ist: beide sind nur verschiedene Aspekte derselben Sache, der erhaltenden Funktion der Sprache. Während die »Erhaltung des Partners« sich auf die Gegenwart bezieht, fassen wir nunmehr die Vergangenheit ins Auge und stellen fest: die Sprache verhilft den Partnern zu einem besseren Verfügen über die Vergangenheit. Personen, die in einer längeren (Jahre oder Jahrzehnte dauernden) Paarbeziehung miteinander verbunden sind, haben rückblickend oft den Eindruck, daß ihre Vergangenheit deutlich Sprache und Erinnerung 167 <?page no="168"?> in zwei Abschnitte zu trennen ist. Der Abschnitt vor Beginn der Beziehung scheint immer mehr im Nebel der Vergangenheit zu versinken: die zeitliche Reihenfolge von Erlebnissen und wie sie eigentlich waren, dies alles hat die Tendenz, sich zu verwirren. Anders dagegen der Zeitabschnitt nach Beginn der Beziehung. Oft besteht in der Erinnerung ein eigentlicher Liebes-Kalender, der wichtige Daten der Beziehung festhält - aber auch sonst ist hier die ganze Erinnerung klarer und überschaubarer. So entsteht oft die Vorstellung, man habe vor der Liebe »geschlafen« oder »im Dunkeln« gelebt. Dichter haben dieses Gefühl festgehalten. In dem Gedicht: »The Good-Morrow« sagt John Donne: I wonder by my troth what thou and I Did, till we lov ’ d? Were we not wean ’ d till then? But suck ’ d on country pleasures, childishly? Or snorted we in the seven sleepers den? 91 Und noch eine Stelle aus Gottfried Keller: als Reinhard, der Held der Erzählung »Das Sinngedicht«, nach verschiedenen Versuchen endlich die Rechte gefunden hat - sie heißt Lucie, aber er nennt sie Lux - da »nannte er die Zeit, da er sie noch nicht gekannt hatte - ante lucem, vor Tagesanbruch.« Diese Vorstellung, daß mit der Liebe erst die Helligkeit oder das Wachsein beginne, mag verschiedene Ursachen haben. Eine davon liegt sicher in der Erinnerungsfunktion der Sprache. Erlebnisse, die nie sprachlich formuliert worden sind, versinken relativ rasch in den Bereich des Nichtverfügbaren. Sie mögen eines Tages plötzlich wieder zum Bewußtsein kommen, aber wie schon gesagt, nach eigenen Gesetzen und nicht dem Willen unterworfen. Sie können deshalb nicht abgerufen und übersichtlich ausgebreitet werden. Das sprachlich Gefaßte dagegen ist weitgehend verfügbar; von manchen Linguisten wird die Sprache geradezu als das Instrument der bewußten Erinnerung bezeichnet. 168 Sprache und Erinnerung <?page no="169"?> Nun kann das, was ein Paar zusammen erlebt, auf zweierlei Weise sprachlich erfaßt sein. Schon beim Erleben selbst tauscht das Paar normalerweise Worte über das Erlebte aus - möglicherweise mag das Erlebnis sogar zum Gebrauch oder zur Bereicherung des Privatcode Anlaß geben. Damit ist das Erlebnis bereits in eine sprachliche Form gegossen. Nun kommt aber noch dazu, daß das Paar auch später oft auf vergangene gemeinsame Erlebnisse zu sprechen kommt; das »weißt du noch, damals« ist ein sehr wesentlicher Teil vieler Paargespräche. Dieses »weißt du noch« kann sogar zum Wettspiel werden: man streitet sich, wie und wann, was eigentlich geschehen ist: »das war damals, als du den Schlüssel verlorst«, »nein, das war zu Pfingsten«, »damals haben wir doch den X. schon gekannt« usw. Das heißt, die Erinnerungen werden um die Wette immer wieder auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft. Die erstmalige sprachliche Prägung einerseits und andererseits die korrigierende sprachliche Wiederaufnahme, beide führen dazu, daß das gemeinsam Erlebte als »Tag« oder als »waches Erlebnis« empfunden wird, ganz verschieden von dem allein Erlebten und nicht Geworteten, das dem verunklärenden Einfluß der Zeit und der unbewußten Kräfte preisgegeben ist. Es mag »Mythen« geben - man mag gemeinsam eine objektiv falsche Erinnerung pflegen - ganz sicher aber bleibt der subjektive Eindruck einer erhellteren Vergangenheit. Es ist zu sagen, daß das Paar natürlich nicht die einzige Gruppe ist, die durch Wortung und Besprechung gemeinsame Erlebnisse besser in der Erinnerung behält: auch in der Familie und in anderen Gruppen (z. B. Militärkameraden) spielt sowohl die Wortung des Erlebnisses wie auch das spätere »weißt du noch? « eine große Rolle. Aber die Intensität des Erlebens und die sprachliche Kreativität ist nirgends so hoch wie in der Paarbeziehung, und deshalb ist hier auch die geschilderte Erscheinung, das Verfügen über die Vergangenheit, am stärksten. Dieses Verfügen kann so stark werden, daß sogar nach einer Trennung der verlorene Partner noch gegenwärtig erscheint. Dafür zum Schluß zwei Beispiele aus der Literatur, die in hohem Sprache und Erinnerung 169 <?page no="170"?> Maße »wahr«, das heißt für die außerliterarische Welt repräsentativ sind. Bei der Besprechung des Privatcode haben wir (S. 54 f.) die von Thomas Mann in den »Buddenbrooks« erzählte Liebesgeschichte zwischen Tony Buddenbrook und Morten Schwarzkopf erwähnt. In den paar Wochen, da die beiden zusammen sind, haben sie bereits Ansätze zu einem eigenen Code entwickelt, darunter das berühmt gewordene »auf den Steinen sitzen«. Abgesehen von den eigentlichen Code-Wörtern übernimmt Tony von Morten (der ihr in jeder Beziehung, auch intellektuell, »etwas zu sagen hat«) eine ganze Menge von Formulierungen. Er erzählt ihr beiläufig einiges über seine Medizin (unter anderem vom Lungenödem oder Stickfluß) und macht sie heimlich mit seinen fortschrittlichen politischen Ansichten bekannt: daß der Adel »im Prinzip gesprochen« verächtlich sei, daß der König von Preußen sich ungerecht über die Presse geäußert habe, daß die Lokalzeitung keine ordentliche Information biete, und man stattdessen die und jene andere Zeitung lesen müsse. Diese sprachlichen Formulierungen prägen sich in Tony tief und wörtlich ein. Als ihr Urlaub zu Ende ist und sie nach Hause zurückfährt, im Grunde wissend, daß sie Morten nicht mehr sehen wird, da ist sie zwar verzweifelt traurig; aber als festen Besitz hat sie Mortens Formulierungen mitgenommen: (. . .) es wurde ihr ganz ruhig und heiter dabei zu Sinn. Sie rief sich alles ins Gedächtnis zurück, was sie in vielen Gesprächen von ihm gehört und erfahren hatte, und es bereitete ihr eine beglückende Genugtuung, sich feierlich zu versprechen, daß sie dies alles als etwas Heiliges und Unantastbares in sich bewahren wollte. Daß der König von Preußen ein großes Unrecht begangen, daß die Städtischen Anzeigen ein klägliches Blättchen seien, ja selbst, daß vor vier Jahren die Bundesgesetze über die Universitäten erneuert worden, das würden ihr fortan ehrwürdige und tröstliche Wahrheiten sein, ein geheimer 170 Sprache und Erinnerung <?page no="171"?> Schatz, den sie würde betrachten können, wann sie wollte. Mitten auf der Straße, im Familienkreise, beim Essen würde sie daran denken . . . Wer weiß? vielleicht würde sie ihren vorgezeichneten Weg gehen und Herrn Grünlich heiraten, das war gleichgültig; aber wenn er zu ihr sprach, würde sie plötzlich denken: Ich weiß etwas, was du nicht weißt . . . Die Adeligen sind - im Prinzip gesprochen - verächtlich! Und tatsächlich: in vielen Situationen hält Tony sich an Mortens Formulierungen. Als ihre Mutter viele Jahre später am Stickfluß stirbt, ist ihr diese Krankheit geheimnisvoll geläufig. Und als ihr Schwiegersohn wegen Unterschlagung verhaftet wird und Tony und Tochter in einer freudlosen Situation zurückläßt, da entfährt ihr sogar, zur Verwunderung des Gesprächspartners, der bis dahin immer sorgfältig gehütete Ausdruck »auf den Steinen sitzen«. Wir erinnern uns auch, und damit kommen wir zum zweiten Beispiel, an das Benennungsspiel, das, im Roman »Homo Faber« von Max Frisch, Faber und Sabeth zusammen spielen. Dieses Sprachspiel hat eine solche Beständigkeit, daß es sogar noch weiterlebt, als Sabeth schon gestorben ist - sie kommt durch einen Sturz am Strand in der Nähe von Korinth ums Leben. Faber fliegt einige Zeit nach ihrem Tod auf einer Reise nach Athen kurz vor Sonnenuntergang über die Alpen; die optischen Eindrücke, die das Spätlicht mit sich bringt, sind schwer in Worte zu fassen. Da spielt er nochmals das Benennungsspiel: Die Gletscherspalten: grün wie Bierflaschenglas. Sabeth würde sagen: wie Smaragd! Wieder unser Spiel auf einundzwanzig Punkte! Die Felsen im späten Licht: wie Gold. Ich finde: wie Bernstein, weil matt und beinahe durchsichtig, oder wie Knochen, weil bleich und spröde. Unser Flugzeugschatten (. . .) Sprache und Erinnerung 171 <?page no="172"?> So geht es weiter. Das Spiel enthält eine Spur von Trost. Das wird besonders klar, wenn man es mit einer anderen Form von Fabers »Erinnerung« vergleicht, dem Ablaufenlassen der Filme mit Sabeth. Obwohl sie dort körperlich, farbig und bewegt »gegenwärtig« ist, ist das einzige Gefühl das des Verlustes: »Ihr Körper, den es nicht mehr gibt«, »Ihre Hände, die es nirgends mehr gibt«. Der Technik, obwohl sie Gestalt, Bewegung und Ausdruck festhält, gelingt es nur, den Verlust noch deutlicher zu machen - dies gehört in den Zusammenhang der Thematik von »Homo Faber«. Die Sprache aber kann wenigstens einen Teil des verlorenen Partners zurückholen, und zwar eben nicht nur als statisches oder mechanisch lebendes Bild, sondern als etwas, das sich noch entwickelt. Die Formel »Sabeth würde sagen . . .« heißt, daß die Sprache Faber ein Bild Sabeths gegeben hat, in dem auch für Potentialitäten noch Platz ist, ein im Sinne Chomskys kreatives Bild. Er kann deshalb das Sprachspiel mit ihr fast wie mit einer Lebendigen weiterspielen. Das heißt, die Sprache erhält die Erinnerung an den Partner, auch an den verlorenen, in höherem Maße lebendig, als andere Mittel es könnten. 172 Sprache und Erinnerung <?page no="173"?> Anmerkungen 1 Zur Soziolinguistik vgl. u. a.: Lehrgang Sprache, hg. von K. Baumgärtner u. H. Steger, Weinheim, Basel, Tübingen 1974 , S. 909 ff.; N. Dittmar, Soziolinguistik Frankfurt 1973 (Bibliographie); Peter Brang u. Monika Züllig, Kommentierte Bibliographie zur slawischen Soziolinguistik. 3 Bde. Bern/ Frankfurt a. M. 1981 . 2 Vgl. z. B. Colin Cherry, Kommunikationsforschung - eine neue Wissenschaft, deutsche Ausgabe, Frankfurt 2 1967 . 3 Beispiele für praktisch-psychologische Information zur Paarbeziehung: H. u. Ch. Clinebell, Ehe intim - Wie gemeinsames Leben besser gelingt, deutsche Ausgabe, München 1974 ; A. Mandel, K. H. Mandel, E. Stadter, D. Zimmer, Einübung in Partnerschaft durch Kommunikationstherapie und Verhaltenstherapie, München 8 1975 ; J. Willi, Die Zweierbeziehung, Reinbek, Rowohlt 1975 . Eine für den sprachlichen Aspekt besonders fruchtbare psychologische Studie ist: P. Watzlawick, J. H. Beavin, D. D. Jackson, Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien, deutsche Ausgabe Bern 4 1974 . Zur Pathologie der Paar-Interaktion vgl. auch Ronald D. Laing, Knots, London 1971 (deutsch als Knoten, Rowohlt). 4 Ein umfangreiches Lexikon sexueller Ausdrücke ist: E. Bornemann, Sex im Volksmund, 2 Bde. Rowohlt, Reinbek 1974 . 5 Vgl. das Kapitel über die Namensgebung, bes. S. 41-43 ; ferner Leisi, Der Wortinhalt, bes. das Kapitel über die indirekte Metapher, S. 72 , und Praxis der englischen Semantik, Abschnitt über Locke, S. 18 , und Abschnitt über General Semantics, S. 238 . 6 In der Nachdichtung von Mörike: Hassen und lieben zugleich muß ich. - Wie das? - Wenn ichs wüßte! Aber ich fühls, und das Herz möchte zerreißen in mir. 7 In der Übersetzung von Schlegel-Tieck, hg. von L. L. Schücking, Tempel- Klassiker: Rechtmäß ’ ges Glück verweigerte sie mir, Und bat mich oft um Mäß ’ gung; tat es mit So ros ’ ger Sittsamkeit; dies süße Bild Hätt ’ auch Saturn erwärmt; mir schien sie rein Wie ungesonnter Schnee - oh all ’ ihr Teufel! Der gelbe Jachimo, in einer Stunde, - Nicht wahr? - Nein, schneller, - gleich: er sprach wohl kaum! Wie ein gemäst ’ ter deutscher Eber schrie er Nur Oh! und tat ’ s . . . 8 Neben dem vielschichtigen Aufbau und der unbegrenzten Ausdrucksfähigkeit liegt das Besondere der menschlichen Sprache u. a. darin, daß man in ihr auch vom Nichtseienden, z. B. vom Künftigen und Vergangenen, vom Abwesenden und vom Hypothetischen sprechen kann; all dies fehlt, so viel wir wissen, in den sogenannten Tiersprachen. <?page no="174"?> Vgl. auch G. Steiner, After Babel: Aspects of Language and Translation, Oxford 1975 . 9 B. L. Whorf, Language, Thought and Reality, Kapitel: »The Relation of habitual Thought . . .«, Abschnitt »Historical Implications«: Which was first: the language patterns or the cultural norms? In main they have grown up together, constantly influencing each other. 10 Alle nun folgenden Beispiele wurden von und bei Schweizer Anglistikstudenten (anonym) gesammelt. Die gesammelten Namen sind zum Teil reiner Dialekt, zum Teil spielerische hochdeutsche oder auch Mischformen. 11 Erläuterung einiger schweizerdeutscher und fremdsprachiger Ausdrücke: Mungg Murmeltier, Tigerli getigerte Katze, Büsi Katze, Füdli Hinterteil, Rugi zu Rugel rundes Holzstück, Sugus (Markenname) Fruchtcaramel, Cremeschnitte Süßigkeit aus wechselnden Schichten von Blätterteig etc., Schnorre Schnauze, Chaib, Chog gebräuchliche allgemeine Schimpfwörter, Dubel Idiot, Knorrli Reklamefigur (rundliches Kind-Männchen), Pfüder Dreikäsehoch, Tabisnuggerli Cartoonfigur; hedgehog Igel. Piglet Schweinchen, Figur aus Winnie-the-Pooh von A. A. Milne; Siamoise Siamkatze (? ). 12 Über Wesen und Probleme der Metapher s. u. a.: Leisi, Praxis der englischen Semantik, mit weiterer Lit. 13 Vgl. die Register in den »old-spelling and old-meaning editions« von Measure for Measure (E. Leisi) und As You Like It (C. Trautvetter), Heidelberg 1964 und 1972 , und jetzt auch die im Erscheinen begriffene englisch-deutsche Studienausgabe der Dramen Shakespeares, bis jetzt 11 Bände, Tübingen 1976 ff. 14 Vgl. z. B. Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Kap. X. 15 Interessantes zu diesem Thema gibt U. Cerutti: Sinn und Gegensinn im Englischen, Diss. Zürich 1957 . 16 Über ungestützte Wörter und ihre Probleme, vgl. u. a. Leisi, Das heutige Englisch, S. 57 ff. - Ungestützte Wörter sind oft »Zauberwörter«, wie Mörikes Ulmon und Orplid, oder wie viele Wörter aus Morgensterns Galgenliedern. 17 Vgl. z. B. H. Koziol, Handbuch der englischen Wortbildungslehre, Heidelberg, 1937 ; G. D. A. Tietze, Einführung in die Wortbildung des heutigen Englisch, Tübingen 1974 , beide mit weiterer Lit. 18 O. Jespersen, Language, London 1922 und öfter, p. 153 und 116 19 Vgl. B. Imhasly, Der Begriff der sprachlichen Kreativität in der neueren Linguistik, Tübingen 1974 . 20 Die besten Erklärungen zu »Alice in Wonderland« findet man in The Annotated Alice, ed. Martin Gardner, Penguin, zuletzt 1975 . Über »Alice« vgl. auch E. Leisi, Aufsätze, Heidelberg 1978 . 21 Vgl. H. H. Stuckenschmidt: Alban Bergs verliebte Buchstabenspiele, Neue Zürcher Zeitung 30 . 4 ./ 1 . 5 . 1977 - möglicherweise wußte Thomas Mann davon, da er in »Doktor Faustus« (Stockholmer Gesamtausgabe S. 207 ) den Helden eine ähnliche geheime Klangchiffer gebrauchen läßt. 22 A. v. Gennep, Les rites de passage, Paris 1909 ; vgl. auch Richard Weiss, Volkskunde der Schweiz, Erlenbach-Zürich 1946 , S. 174 ; allg. zur Namens- 174 Anmerkungen <?page no="175"?> gebung auch Hans Berger, Volkskundlich-soziologische Aspekte der Namensgebung in Frutigen, Bern 1967 , mit Lit. 23 Für Hinweise zu diesem Gebiet, besonders bibliographische, bin ich Margrith Sieber dankbar. Über Wort- und Namensmagie vgl. u. a. J. G. Frazer, The Golden Bough, viele Fassungen und Ausgaben; T. Segerstedt, Die Macht des Wortes, Zürich 1947 ; G. Storms, Anglo-Saxon Magic, Den Haag 1948 ; T. Izutsu, Language and Magic, Tokyo 1956 ; E. Leisi, Praxis der englischen Semantik, Heidelberg 2 1985 ; S. 10 , 15 , 210 ff.; J. Campell, The Masks of God: Primitive Mythology, Harmondsworth 1976 ; Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 1927 ff. 24 Cantate: Gesang- und Gebetbuch für das Bistum Chur, Einsiedeln 1957 , S. 559 . 25 Zu Hergiswald u. a. Reclams Kunstführer der Schweiz; zur Geschichte der Marienbenennungen: A. Salzer, Die Sinnbilder und Beiwörter Mariens, Nachdruck, Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt 1967 . 26 E. Leisi, Der Wortinhalt, Taschenbuchausgabe, S. 74 . 27 Eine kurze Darstellung der Ziele der »General Semantics«findet sich in E. Leisi, Praxis der englischen Semantik, Heidelberg 2 1985 , S. 238 ff. 28 Vgl. u. a. W. Riehle, Studien zur englischen Mystik des Mittelalters unter besonderer Berücksichtigung ihrer Metaphorik, Heidelberg 1977 . 29 Ihr wohl bekanntestes Gedicht findet sich übersetzt in Griechische Lyrik, deutsch von E. Staiger, erläutert von G. Schoeck, Zürich 1961 . 30 Über die Aufzählung als poetische Figur orientiert: H. S. Hegnauer, Systrophe, Bern 1981 . 31 Zum Thema Privatsprache vgl. George Steiner: After Babel: Aspects of Language and Translation, Oxford University Press 1975 , jetzt auch Paperback; deutsche Übersetzung von M. Plessner. Dieses Buch ist für unser gesamtes Thema von Bedeutung, weil es u. a. betont, daß neben der kommunikativen Funktion auch die verhüllende, ausschließende Funktion der Sprache wichtig ist; vgl. die Besprechung in Neue Zürcher Zeitung 11 ./ 12 . 10 . 1975 . 32 Warren B. Smerud: Can there be a Private Language? An Examination of some principal Arguments, The Hague 1970 . 33 G. Steiner, After Babel, das Kapitel »Word against Object«, bes. S. 191 ff. 34 Über Slang vgl. die Standardwerke von Eric Partridge: Slang today and Yesterday und A Dictionary of Slang and Unconventional English (beide mehrfach aufgelegt); für eine kurze Zusammenfassung mit Lit. auch E. Leisi, Das heutige Englisch, S. 184 , 212 ff. 35 Es ist das Vorrecht des Bräutigams, ein bisher behütetes Mädchen in einen Schatz von Witzen und Anekdoten einzuführen, die ihr bis dahin verschlossen waren. (Nur) ein kleiner Teil der Witze über Geschlechtsbeziehungen enthält nicht eine - wie der Knüppel im Blumenstrauß - versteckte Verachtung für die Frauen. 36 Über das sprachliche Feld vgl. z. B. H. Geckeler, Strukturelle Semantik und Wortfeldtheorie, München 1971 , und E. Leisi, Praxis der englischen Semantik, Heidelberg 2 1985 , bes. Kapitel 6 . Anmerkungen 175 <?page no="176"?> 37 Nach der Übersetzung von E. Rechel-Mertens, Suhrkamp 1959 . 38 Kapitel 8 - Eine gute semantische Analyse dieses Beispiels findet sich bereits in E. Wellander, Studien zum Bedeutungswandel im Deutschen, Uppsala 1917-1928 , S. 141 ff. 39 Zum Thema Spiel ist immer noch unentbehrlich: J. Huizinga, Homo Ludens: Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der Kultur, deutsche Übersetzung, jetzt auch als Taschenbuch. Über Sprachspiele: A. Liede, Dichtung als Spiel: Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache, Berlin 1963 ; E. Kreutzer, Sprache und Spiel in J. Joyces › Ulysses ‹ , Bonn 1969 ; Franz J. Hausmann, Studien zu einer Linguistik des Wortspiels, Tübingen 1974 ; Margaret E. Sewell, The field of Nonsense, London 1952 , Toronto 1973 ; Annemarie Schöne, Untersuchungen zur engl. Nonsense-Literatur, Bonn 1951 ; H. Helmers, Sprache u. Humor des Kindes, Stuttgart 1965 . 40 Vgl. E. Leisi, Rilkes Sonette an Orpheus, Tübingen 1987 ; zu Orpheus und Narziß vgl. auch H. Marcuse, Eros and Civilization, als Taschenbuch: Sphere Books, Kapitel 8 . 41 Eine kurze Linguistik der dichterischen Abweichung vom Normalen auf generativer Grundlage gibt H. Burger in »Stil und Grammatikalität«, Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 209 . Bd., Jan. 1973 , S. 241 ff. Vgl. auch H. Burger u. H. Jaksche, Idiomatik des Deutschen, Tübingen 1973 . Über Valenz u. semantische Kongruenz, s. die kurze Zusammenfassung in E. Leisi, Praxis der engl. Semantik, S. 206-213 ; ausführlicher: G. Helbig u. W. Schenkel, Wörterbuch zur Valenz u. Distribution deutscher Verben, Leipzig 3 1975 . 42 Mozarts Briefe sind in Taschenbuch-Ausgabe erhältlich. Zu seinen Sprachspielen vgl. Irma Hoesli, W. A. Mozart: Briefstil eines Musikgenies, Zürich 1948 . Zu Lewis Carroll vgl. M. Gardner (ed.), The Annotated Alice, Penguin 1965 u. ö., R. Philips (ed.), Aspects of Alice, Penguin 1974 . 43 Zusammen mit Übersetzung z. B. in Liebe, Liebe: Gedichte der Antike, ed. W. Weber, Zürich 1972 . 44 Deutschsprachige, besonders Schweizer, seien aufmerksam gemacht auf die den Ton ausgezeichnet treffenden schweizerdeutschen Übersetzungen von Burns-Gedichten von August Corrodi, 1870 , zuletzt: Berichthaus Zürich, 1971 . Die Anfänge der genannten Gedichte tönen dann so: »Wänn Ihri mamä usgaht, Dörti so frei dänn sy. . .« oder: »O Vreneli los, säg schlafst du scho? « oder: »Wer böpperlet a der chammer a? Nu ich bi ’ s, seit de Heiri.« 45 Vgl. die Interpretation bei P. Watzlawick et al.: Menschliche Kommunikation, Bern 4 1974 , Kap. 5 . 45a Auch bei der Liebeserklärung lassen sich die von uns geschilderten Aspekte des erotischen Zuredens beobachten. Eine neue, mit modernen linguistischen Methoden (Sprechaktteorie) vorgehende Studie hierzu ist: Alexander Schwarz, »Die Liebeserklärung - Ein Sprechakt in der deutschen Literatur des XII. Jahrhunderts«, erschienen in Mediaevalia Lovaniensia Series I/ Studia VIII. In dieser Arbeit wird auch hingewiesen auf ein für das gesamte 176 Anmerkungen <?page no="177"?> Thema der Liebessprache wichtiges Buch: Roland Barthes, Fragment d ’ un discours amoureux, Paris 1977 46 In der elisabethanischen Zeit wurden Mädchen- und Frauenrollen durch Knaben gespielt. Dem Zuschauer war das bewußt. Deshalb kam eine handfeste, in Umarmungen und Berührungen sich ausdrückende Erotik auf der Bühne nicht in Frage. Erotische Beziehungen sind deshalb weitgehend in Worte umgesetzt; Shakespeare ist darum eine besonders reiche Quelle für gesprochene Erotik. 47 Beatrice von Matt, Meinrad Inglin, Eine Biographie, Zürich 1976 , S. 61 . 48 Allgemein zum Witz vgl. Bernhard Marfurt, Textsorte Witz: Möglichkeiten einer sprachwissenschaftlichen Textsorten-Bestimmung, Linguist. Arbeiten Nr. 52 , Tübingen 1977 . 49 Vgl. W. Clemen, Kommentar zu Richard III., Göttingen 1957 , S. 46 ff; verschiedene Hinweise verdanke ich Thomas Spörri. 50 Vgl. J. A. C. Brown, Techniques of Persuasion, Penguin 1963 u. ö.; Lutz Mackensen, Verführung durch Sprache: Manipulation als Versuch, München 1973 . 51 Vgl. E. Kowalski, Die Magie der Drucktaste, Wien u. Düsseldorf 1975 . 52 Zur Kontakt- und Heiratsanzeige vgl. Birgit Stolt, Hier bin ich, wo bist du? , Scriptor-Verl., Kronberg Ts. 1976 . 53 Vgl. Paul Englisch, Geschichte der erotischen Literatur, Stuttgart 1927 ; Carl van Bolen, Geschichte der Erotik, St. Gallen 3 1952 . 54 Zu Wesen und Typologie der Pornographie vgl. E. Mertner und H. Mainusch, Pornotopia: das Obszöne und die Pornographie in der literarischen Landschaft, Frankfurt 1970 . 55 Vgl. den Artikel »Apotheose« im Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. I, Stuttgart 1937 ; A. Pigler, Barockthemen. Eine Auswahl von Verzeichnissen zur Ikonographie des 17 . u. 18 . Jahrhunderts, 2 Bde. deutsch Budapest 1956 (nach freundlicher Mitteilung v. Adolf Reinle). 56 Zum Josephsroman vgl. u. a. Thomas Manns eigene Kommentare und den Briefwechsel mit dem Mythenforscher Karl Kerényi. 57 Eine große Sammlung von Eigennamen, die zu Allgemeinbegriffen geworden sind, enthält Eric Partridge, Name into Word: A Discursive Dictionary, London 1950 u. ö. 58 Shelley, der englische Dichter-Revolutionär ertrank 1822 im Golf von Spezia. Gabriele d ’ Annunzio, der ihn bewunderte, wollte seinen Tod nachvollziehen, besann sich aber und schwamm zur Küste. 59 Über Moden in der Liebe vgl. Max Nordau, »Inhalt der poetischen Literatur«, in: Paradoxe, Leipzig 1896 ; A. Huxley, »Fashions in Love«. Essay, u. a. abgedruckt in: Stories, Essays and Poems, London n. d.; A. und W. Leibbrand, Formen des Eros: Kulturu. Geistesgeschichte der Liebe, Freiburg und München 1971 ; Horst Breuer, Historische Literaturpsychologie, Tübingen 1989 . 60 Nähere Aufschlüsse über die im folgenden zitierten Werke findet man u. a. im Lexikon der Weltliteratur, Bd. II: Werke, hg. v. G. v. Wilpert, Stuttgart 1968 Anmerkungen 177 <?page no="178"?> und in Kindlers Literaturlexikon. Den Hinweis auf Angus Wilson verdanke ich Pia Horlacher. 61 Besonders interessant ist in unserem Zusammenhang das erste der zitierten Paare, eingeführt durch die Formel »Wortbild entzündet«. In der Hamburger Goetheausgabe, Bd. 2 , S. 557 , findet sich folgende Erläuterung: Es wird erzählt, »wie die schöne Rodawu und der Held Sal bereits auf Grund bloßer Erzählungen füreinander entbrennen, erst recht dann, als sie einander sehen«. Auch hier also: Liebe nach einem Erzählmuster und gleichzeitig: Sprache als erotisches Stimulans. 62 Clarens, süßes Clarens, Geburtsstätte tiefer Liebe. Deine Luft ist der junge Atem leidenschaftlicher Gedanken. Deine Bäume wurzeln in der Liebe; der Schnee in der Höhe und noch die Gletscher haben ihre Farbe eingefangen. - Clarens, himmlische Füsse haben deine Pfade betreten - die Füsse der unsterblichen Liebe; hier ersteigt sie einen Thron, dessen Stufen die Berge sind. 63 Den Hinweis auf Gozzano verdanke ich der freundlichen Mitteilung von Carmelina Conoci. 64 Vgl. E. Sanguineti, Guido Gozzano, Indagini e letture, Torino 1966 . 65 Zum Phänomen des Bestsellers vgl. Sonja Marjasch, Der amerikanische Bestseller, Bern 1946 ; Heinz E. Arnold, Deutsche Bestseller, deutsche Ideologie, Stuttgart 1975 . 66 Wir lasen eines Tages zur Unterhaltung von Lanzelot, wie die Liebe ihn bedrängte; wir waren allein und völlig arglos. Mehrmals ließ diese Lektüre unsere Augen schweifen und entfärbte uns das Gesicht - doch eine einzige Stelle überwältigte uns schließlich: als wir lasen, wie der begehrte Mund von dem so heftig Liebenden geküsst wurde, da küßte der, der jetzt nie mehr von mir getrennt sein wird, mich am ganzen Leibe zitternd auf den Mund. Galeotto war das Buch und der es geschrieben hat. An jenem Tage lasen wir nicht weiter. 67 Vgl. Lancelot und Ginevra, Ein Liebesroman am Artushof, den Dichtern des Mittelalters nacherzählt von Ruth Schirmer, Zürich, Manesse, 1961 , mit Lit. 68 Praxis der englischen Semantik, Heidelberg 2 1985 , S. 261 f. 69 H. O. Burger, Studien zur Trivialliteratur, Frankfurt 1968 ; D. Bayer, Der triviale Familien- und Liebesroman im 20 . Jahrhundert, Tübingen 2 1971 ; A. Kaes, B. Zimmermann, H. Kreuzer, Literatur für viele, Göttingen 1975 ; J. Anderegg, J. Hienger, K. H. Spinner, Unterhaltungsliteratur: zu ihrer Theorie und Verteidigung, Göttingen 1976 ; F. Ruloff-Häny, Liebe und Geld: der moderne Trivialroman und seine Struktur, Zürich 1976 ; A. Rucktäschel, H. D. Zimmermann, Trivialliteratur, München 1976 ; A. Klein, H. Hecker, Trivialliteratur, Opladen 1977 ; V. E. Neuburg, Popular Literature, Penguin 1977 ; Anglistik und Englischunterricht: Trivialliteratur, hg. von H. J. Diller et al., Trier, Volksfreund Druckerei N. Koch, 1977 , bes. die Aufsätze von E. Otto über die Wirkung und von G. und H. Schütz über marxistische Triviallit. Zum Thema Comics vgl. vor allem: G. Perry and A. Aldrige, The Penguin Book of Comics, Harmondsworth 1975 ; J. Steranko, The Steranko 178 Anmerkungen <?page no="179"?> History of Comics, Reading, Penn. 1970 ; R. Greiner Arbeitstexte für den Unterricht: Comics, Reclam, Stuttgart 1975 . 70 Für bibliographische Angaben und andere Mitteilungen zum Schlager bin ich Thomas Weber zu Dank verpflichtet. Als primäre Quelle kann dienen: top- Schlagertexthefte, H. Sikorski, Hamburg. Zu Schlager und Song: Lenny Bruce, How to Talk Dirty and Influence People: An Autobiography, Panther Books 1975 ; M. Buselmeier, Das glückliche Bewußtsein, Darmstadt 1974 ; Dietrich Kayser, Schlager - Das Lied als Ware, Stuttgart 1975 ; R. Malamud, Zur Psychologie des deutschen Schlagers, Diss. Zürich 1964 ; Werner Mezger, Schlager - Versuch einer Gesamtdarstellung unter bes. Berücksichtigung des Musikmarktes der BRD, Diss. Tübingen 1975 ; E. Stölting, Deutsche Schlager und englische Popmusik in Deutschland: Ideologiekrit. Untersuchungen zweier Textstile während der Jahre 1960-1970 , Bonn 1975 ; B. Busse, Der deutsche Schlager, Wiesbaden 1976 . 71 Hinweise auf versch. Schlagertypen verdanke ich Susann Treichler. 72 In dem alten verlassenen, frostigen Park sind eben zwei Gestalten vorübergegangen. - Es ist interessant, daß dieses Gedicht auch von jemand aus der heutigen Studentengeneration als für eine Paarbeziehung bedeutend angegeben wurde, vgl. oben S. 107 f. 73 Den Hinweis auf dieses Stück verdanke ich Heidi Hablützel. 74 Zu dieser Art der Annäherung vgl. das bereits genannte Buch von Watzlawick, Beavin, Jackson (s. Anm. 3 ); E. Haugen and M. Bloomfield, Language as a Human Problem, London 1975 . 75 Einen sehr guten Überblick über den Stand der Forschung im Zusammenhang mit den Theorien von B. Bernstein geben H. Burger und P. von Matt in Zeitschrift für germanistische Linguistik, 1974 , S. 269 ; s. auch unten, Anm. 84 . 76 Peter Trudgill, The Social Differentiation of English in Norwich, Cambridge Univ. Press 1974 . Zum Thema vgl. auch: Wolfgang Viereck, Regionale und soziale Erscheinungsformen des britischen und amerikanischen Englisch, Tübingen 1975 . 77 Interessante Fälle von Sprachkritik von unten (oft mit phoney und puke verbunden) finden sich auch in J. D. Salinger, The Catcher in the Rye, Signet Books, S. 12 und 15 : Jemand hat das Wort grand als Anerkennung gebraucht; der Held reagiert: »Grand. There ’ s a word I really hate. It ’ s a phoney. I could puke every time I hear it.« Ähnlich äußert sich der Held von Sillitoes The Loneliness of the Long-Distance Runner. 78 Über U und non-U, genteelisms und andere Begriffe für Sprachschichten im Englischen vgl. Fowler, Dictionary of Modern English Usage, 2 nd ed., Oxford 1965 ; E. Leisi, Das heutige Englisch, Heidelberg 7 . Aufl. 1985 : Kapitel »Die Schichtung des Englischen«. 79 Über Neuwörter s. u. a.: L. Mackensen, Die deutsche Sprache in unserer Zeit, Heidelberg 2 1971 ; Ernest Gowers, The Complete Plain Words, auch als Taschenbuch, Pelican 1975 ; über Slang s. oben S. 48 f. 80 Verschiedene Detailbeobachtungen verdanke ich den Analysen von Peter Hegetschweiler und Herbert Schenk. Anmerkungen 179 <?page no="180"?> 81 »Einmal mußt du auch in die Hütte kommen, ja? Es kommt jetzt schon nicht mehr drauf an«. Es berührte sie merkwürdig, wie er sie immer auf diese seltsame Weise begehrte, wo sie doch nichts Gemeinsames hatten und wo er doch nie richtig zu ihr sprach. Gegen ihren Willen haßte sie den Dialekt. Sein »tha mun come« schien ihr nicht an sie, sondern an irgend ein ordinäres Weib gerichtet. (Penguin-Ausgabe S. 132 , eine ähnliche Äußerung. S. 176 ). 82 Penguin S. 185 . Tha steht für thou. Mun ist ein im Norden gebräuchliches Hilfsverb mit der Bedeutung › sollen ‹ oder mit futurischem Sinn; vgl. Shorter Oxford Dictionary. 83 Penguin S. 184 . Die Schreibform sholl soll anzeigen, daß das a von shall dunkel, etwa wie ein deutsches a ausgesprochen wird; ter repräsentiert eine reduzierte Aussprache von thou oder von to. Ay (aye) und yi (yea) = › ja ‹ . 84 Eine ausgezeichnete Einführung in die Problematik von Kroetz ’ Figuren an Hand des Stückes »Oberösterreich« geben H. Burger und P. von Matt in »Dramatischer Dialog und restringiertes Sprechen: F. X. Kroetz in linguistischer und literaturwissenschaftlicher Sicht«, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 2 , 1974 , S. 269-298 ; dort wird Kroetz u. a. im Zusammenhang mit dem in der deutschen Literatur nach 1945 vermehrten Reflektieren über Sprache gesehen. Wertvolle Hinweise auf Kroetz verdanke ich auch Markus Stuber. 85 Über Strategien zur »Erledigung« des Partners s. u. a.: Watzlawick, Beavin, Jackson, Menschliche Kommunikation (bes. Kap. 5 über Albee ’ s Who ’ s Afraid of Virginia Woolf); Bergmans Szenen einer Ehe; die Stücke von F. X. Kroetz und den eben genannten Aufsatz von Burger und von Matt über Kroetz. 86 Zur Sprechakttheorie vgl. J. L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte/ How to do things with Words, deutsch von E. Savigny, Stuttgart 1972 . Für eine Anwendung der Sprechakttheorie auf das Thema Liebessprache s. Anm. 45 a. 86a Die Erforschung der Konversation, bes. des turn-taking (wer nimmt oder erhält wann das Wort? ), ist in den letzten Jahren sehr gefördert worden. Vgl. Klaus P. Schneider, Small Talk, Marburg 1988 . 87 Zum Thema Schweigen vgl. u. a.: M. Picard, Die Welt des Schweigens, Erlenbach, 1950 ; H. Oblinger, Schweigen und Stille in der Erziehung, München, Ehrenwirth 1968 ; George Steiner, Language and Silence, London 1967 ; J. R. Hollis, H. Pinter: The Poetics of Silence; Illinois Pr. 1970 ; V. Roloff, Reden und Schweigen: Zur Tradition und Gestaltung eines mittelalterlichen Themas, München 1973 (vgl. auch die Besprechung durch S. Siegrist in: Vox Romanica 34 , 1975 ); Hinweise auf Literatur über das Schweigen verdanke ich Christof Kunz. 88 In Aufsätze, Heidelberg 1978 , vgl. auch Praxis der englischen Semantik Kap. 12 . 89 »To the question › what are you looking at? ‹ , you may answer › Mr. Jones ‹ , although at one time you see him full-face, at another in profile, and at another from behind, and although at one time he may be running a race and at another time dozing in an arm-chair. (. . .) What you are experiencing is very different on these various occasions, but for many practical purposes it is convenient to regard them as all having a common object, which we suppose 180 Anmerkungen <?page no="181"?> to be the meaning of the name › Mr. Jones ‹ . This name, especially when printed, though it cannnot wholly escape the indefiniteness and transience of all physical objects, has much less of both than Mr. Jones has. Two instances of the printed words › Mr. Jones ‹ are much more alike than (for instance) the spectacle of Mr. Jones running and the memory of Mr. Jones as a baby. (. . .) The name, accordingly, makes it much easier than it would otherwise be to think of Mr. Jones as a single quasi-permanent entity, which though untrue, is convenient in daily life.« p. 75 f. 90 Eine Menge Leute fragen mich die ganze Zeit, ob ich mich dann anstrengen werde, wenn ich im September wieder an die Schule zurückgehe. Meiner Meinung nach ist das eine ganz blöde Frage. Wie kann man denn wissen, was man tun wird, bevor man es wirklich tut? Das kann man überhaupt nicht wissen. 91 Wahrhaftig, ich frage mich, was haben du und ich denn getan, bevor wir uns liebten? Waren wir noch nicht entwöhnt und sogen noch kindisch an einfältigen Vergnügungen; oder schnarchten wir in der Höhle der Sieben Schläfer? Anmerkungen 181 <?page no="183"?> REGISTER Abrufbarkeit von Erinnerungen 164, 168 Adamitismus 53, 61 Affekt und Sprachproduktion 48 Aggression 151 aggressives Perfekt 152 Albee, Edward 69, 133 Alternativschlager 62, 112 Ambivalenz 50 Amtsstil 65 analoge Kommunikation 129, 131, 147 Andersch, Alfred 160 Anpassung, sprachliche 143 ff. Antiheld 91 Antiwelt 61, 65 Arie 75, 86 Aufforderung, sprachliche Formulierung 153 außersprachlicher Kontext 159 Bach, Johann Sebastian 81 Beatles 103, 107, 112, 119 Benennungsspiel 68, 171 Benn, Gottfried 159 Berg, Alban 36 Bergman, Ingmar 133, 152, 163 Beruhigung 72 Beschränkung durch das Wort 42, 45 Bestseller 101 Beunruhigung 72 Bewahrung durch Sprache 164 Beziehungsaspekt 154 Bildung und Code 140 Böll, Heinrich 51 Boree, Karl Friedrich 119 Bradbury, Malcolm 163 Brecht, Bert 132 Brion, Friederike 93 Brontë, Charlotte 101 Burns, Robert 67 Byron, Lord 91, 97 Byronic Hero 97, 100, 121 Carroll, Lewis 35, 65, 123 Catull 44 Celan, Paul 108 Chiffer 114 - , als Ausdrucksmittel 120 - , und Sozialschicht 123 Chiffre-Gedichte 125 Chomsky, Noam 34, 172 Cockney 144 Code 23, 45, 135, 166 ff. - , Intensität 24 - , Übernahme 144, 157 - , Ungenügen 148 ff. - , Verrat 57 - , Verschiedenheit 137 ff. Cohen, Leonard 113, 119 Colette 70, 95 Dante 44, 102 Datenbeschaffung, Probleme 19, 88, 93, 148 Dean, James 91 Denver, John 107 Dialekt und Hochsprache 145 digitale Kommunikation 131 Diminutiv 30 direkter und indirekter Ausdruck 153 Donne, John 82, 168 <?page no="184"?> Dreiergespräche 155 ff. Drittpersonen 155 Droste-Hülshoff, Annette von 142 Druckknopf-Zeitalter 86 du Maurier, George 94 Dürer, Albrecht 89 Durrell, Lawrence 163 eigentliche und uneigentliche Sprache 154 Erhaltung des Partners 164 ff. Erinnerung 164 ff. Erlebnis und Sprache 157 erotische Literatur 86 erotische Stimulierung 70 ff. erotischer Wortschatz 49 erotisches Zureden 73, 76 Ersatzkommunikation 110 Fachjargon 143 fahrlässiger Sprachgebrauch 151 Familie 34, 169 Familiensprache 48 Feld, sprachliches 52 Film-Idole 98 Forster, Edward Morgan 158 Frauen als Werbende 75 Freud, Sigmund 20, 50, 60 Frisch, Max 26, 68, 129, 163, 171 Fry, Christopher 82 Gautier, Théophile 95 Geheimhaltung 51, 56, 69 Geheimschrift 124 General Semantics 43 general slang 48 Generalisierungen 152 Gennep, Arnold v. 37 geographische Differenzen 138 Goethe, Johann Wolfgang v. 37, 44, 93, 116, 124 Goldsmith, Oliver 96, 116 Goretta, Claude 147, 163 Gozzano, Guido 99 Graber, Rudolf 144 Graves, Robert 108 Gryphius, Andreas 41 Hafis 94, 125 Hagedorn, Friedrich v. 101 Handke, Peter 106 Hauser, Heinrich 26 Heine, Heinrich 108 Helmers, Hermann 61 Hergiswald, Wallfahrtskirche 41 Hofmannsthal, Hugo v. 26 Hofmannswaldau, Christian Hoffmann v. 44 Hohelied 79 Hohenlied 122 Horaz 67 Horváth, Ödön v. 148 Hughes, Richard 106 Humboldt, Wilhelm v. 34 Huxley, Aldous 91, 106, 159 Identifikationsbedürfnis 88, 99 Identität, Bewahrung 164 Idol 91, 98, 109 Inhaltsaspekt 154 Intensität des Codes 25 Ironie 154 Istigkeit 106 Jargon 143 Jong, Erica 99 Kater, linguistischer 143 Keller, Gottfried 35, 168 184 Register <?page no="185"?> Ketten von Nachvollzügen 95, 100 Kierkegaard, Søren 84 Kind und Sprachspiel 61 Kinsey Report 92 Klopstock Friedrich Gottlieb 101, 116 ff. Kohärenz 24, 28 Kommunikationsforschung 17 Kommunikationsmodell 127 Kompetenz 134 Kompliment 51, 73, 78 Kontaktanzeige 86 Konventionen der Liebessprache 77 Konzeptualisierung 105 Kosenamen 30 Kreativität, sprachliche 34 Kroetz, Franz Xaver 133, 148 ff. kulinarische Metapher 31 Kundgabe der Absicht 74, 78, 81 Laine, Pascal 147 Landschaften, literarische 96 Lawrence, David Herbert 26, 50, 94, 99, 145 Leip, Hans 123 Lerner, Alan Jay 144 lexikalische Besonderheiten 48 Lieben nach Texten 64, 88 ff. Liebesbrief 85 Liebeserklärung 52, 73 Longus 96 Lügensignale 154 Maccaronisches Sprachspiel 66 Malamud, René 111, 113 Mann - , Heinrich 63, 100 - , Thomas 54, 75, 79, 89, 139, 165, 170 Männersprache 50 ff., 78, 141, 143 Marienverehrung 41, 81 Marlowe, Christopher 27, 82 Maugham, Wiliam Somerset 23 Medien 159 Meister Eckhart 106 Metakommunikation 58, 70, 110, 148 - , Ausmaß 162 Metapher 30, 65 Mißverständnis 128 Moden der Liebe 91 morphologische Besonderheiten 48 Mozart, Wolfgang Amadeus 32, 44, 52, 65 Musterbilder 95 Mystik 43 Mythos 69 Nabl, Franz 57 Nabokov, Wladimir 100 Nachvollzug 89 - , gesamthaft 91 ff. - , Ketten von 95 - , punktuell 102 ff. Nachvollzüge, Ketten von 100 namarupa 39 Name - , Magie 36 - , und Identität 164 ff. Namen 29 - , Magie 39 - , Morphologie 30 - , neue 29 ff. - , Verehrung 35 - , Vermeidung 36 - , Vielfalt 40 ff. Register 185 <?page no="186"?> Namenskatalog 44 Objektsidentifikation 99 Orthographie der Partner 137, 144 Osborne, John 142, 144 Ovid 70, 87 Paarsprache, Definitionen 47 paralinguistische Kommunikation 26, 76, 129 Performanz 134 personal remarks 77, 153 Petron 83 Pinter, Harold 148 Politsex 62 Pornographie 87, 106 Präfiguration 43 Presley, Elvis 107 Privatcode 23 - , Dauer 166 ff. - , Entstehung 46 Privatmythos 69 Privatsprache 46 Proust, Marcel 54 Psychoanalyse 105 Puschkin, Alexander 101 Raffael 89 Rechtschreibung 137, 144 regionale Differenzen 138 Reichtum und Code 140 Renaissance 89 Rilke, Rainer Maria 41, 62, 108, 119 rites de passage 37 Ritual 59, 73 Rollenverteilung 75 Rolling Stones 112 Rousseau, Jean-Jacques 95, 98 Rückkopplung 76 Russell, Bertrand 164 Sade, Marquis de 93 Saint-Pierre, Bernardin de 95 Saint-Saëns, Camille 75 Salinger, Jerome David 167 Sappho 44 Saussure, Ferdinand de 134 Sayers, Dorothy 81, 121 Schicht, soziale 140 Schlager 109 Schweigen 157 Segal, Eric 42, 141 Sexismus 51, 144 Sexualkunde 18 Shakespeare, William 27, 31, 38, 44, 76, 82, 90, 108, 122, 163 Shaw, Bernard 144 Shelley, Percy Bysshe 91 Situation und Code 53 Situation und Sprachinhalt 160 Slang 48, 143 soziale Differenzen 138 ff. Soziolinguistik 17 Spiel 58, 79 Sprache - , Definitionen 46 - , Einfluss auf das Denken 104 ff. - , Einfluss auf die Gefühle 107 - , und Zusammenhalt 24, 28, 166 Sprachhemmungen, Überwindung 121 sprachliche Urzeugung 33 Sprachliche Vorwegnahme 160 sprachlose Liebe 26, 129 ff. Sprachspiel 35, 41, 58 ff., 171 Sprechakt 135 - , mit Drittpersonen 155 - , zeitlicher Einsatz 155 Sprechakttheorie 153 186 Register <?page no="187"?> Sterne, Lawrence 120 Störungen 51, 127 ff. - , Definition 127 - , durch den Code 137 ff. - , im Sprechakt 150 ff. - , Ursachen 133 Struck, Karin 51 stumme Liebe 25 Subjektsidentifikation 99 Synästhesie 53 syntaktische Besonderheiten 48 tabu 36, 38 Tabu-Bruch 77, 80 Tennyson, Alfred 123 Tolkien, John Ronald Reuel 94 Traum und Schlager 113 trendy words 143 Trivialroman 109 Trudgill, Peter 140 Trutzlieder 67 Tucholsky, Kurt 46, 64, 67 f., 93 U und non-U 142 Überredung 82 ff. Unbeständigkeit 166 uneigentlicher Ausdruck 154 ungestützte Wörter 32 Valenz 65 Vamp 100 Vatsyayana 92 Verbalisierung 104 - , Ausmaß 74, 157 Vergangenheit und Sprache 167 Verlaine, Paul 108, 118 Verzweckung 62 vocational slang 48 Vogelweide, Walter von der 119 Vorwegnahme, sprachliche 160 Wagner, Richard 75 Watzlawick, Paul 154 Wedekind, Frank 100 Weinrich, Harald 154 Werbung durch Frauen 75 Wertherismus 93, 98 Wettbewerb 68 Wilde, Oscar 99 Willemer, Marianne 94, 125 Williams, William Carlos 108 Wilson, Angus 94 Witze, erotische 78 Wortbildung 32 Wortung 104 zeitlicher Einsatz des Sprechaktes 155 Zerreden der Beziehung 163 Zitat, literarisches 122 Zitieren des Partners 156 Zuckmayer, Carl 67, 100 zukünftige Erlebnissen 160 Zukunftsangst 166 Zureden, erotisches 73, 76 Zusammenhalt, und Sprache 24 Zusammenhalt und Sprache 28, 166 Zwecklosigkeit und Spiel 61 Zweig, Arnold 25 Zwiebelmodell 47, 135 Register 187 <?page no="189"?> Ilse und Ernst Leisi Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden? 4., unveränderte Auflage 2016 227 Seiten €[D] 20,- ISBN 978-3-8233-8018-4 Wie rede ich? Was rede ich? In Gesellschaft, mit Schüchternen, mit Vielrednern, mit großen Tieren, mit Titelträgern, mit kleinen Leuten, auf Reisen, bei Kunstgenüssen, mit Trauernden, im Examen, beim Arzt, am Telefon, mit Schwerhörigen, mit Fremdsprachigen, mit der Geliebten, mit dem Geliebten. Wann soll ich reden, schweigen, Kraftausdrücke gebrauchen, diskret sein, indiskret sein, unterbrechen, persönlich werden, schreiben, telefonieren? Auf diese und andere Fragen gibt dieses Buch Antwort: aus langer Erfahrung, auf wissenschaftlicher Grundlage, mit erfrischendem Humor. NEUAUFLAGE \ APRIL 2016 JETZT BESTELLEN! Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 9797-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="190"?> Das Englische Seminar der Universität Zürich, das älteste und grösste der Schweiz, kann auf eine facettenreiche Geschichte zurückblicken. Im Jahr 1887 wurde an der Universität Zürich ein Romanischenglisches Seminar gegründet, im Jahr 1891 - also vor 125 Jahren - folgte die Berufung von Theodor Vetter als Extraordinarius für Englische Sprache und Literatur, und seit 1894, nach der Trennung von Romanistik und Anglistik, gibt es ein eigenständiges Englisches Seminar. Veranstaltungen zur englischen Sprache und Literatur wurden allerdings vereinzelt schon seit der Gründung der Universität im Jahr 1833 angeboten. Das Buch erzählt diese Geschichte von den Anfängen der Anglistik in Zürich bis zur Gegenwart in vier reich dokumentierten Kapiteln. Ergänzt werden diese durch separat lesbare «Streiflichter» zu interessanten Ereignissen in der Geschichte des Englischen Seminars (ein kleiner Kunstskandal, die ersten Anglistinnen, die Geschichte des Hauses Plattenstrasse 47) wie auch zu Institutionen ausserhalb der Universität (Anglistik an der ETH, die Swiss-British Society, die James Joyce Stiftung). Andreas Fischer Es begann mit Scott und Shakespeare Eine Geschichte der Anglistik an der Universität Zürich Andreas Fischer Es begann mit Scott und Shakespeare Eine Geschichte der Anglistik an der Universität Zürich Mai 2016. ca. 224 S., ca. 50 Abb. Geb. ca. CHF 48 / ca. EUR 43 ISBN 978-3-0340-1326-0 <?page no="191"?> Verliebte geben sich nicht nur Kosenamen, sondern entwickeln bisweilen, bewusst oder unbewusst, eine Sprache die nur von ihnen verstanden wird und Außenstehende oft ratlos zurücklässt. Das Phänomen einer solchen „Privatsprache“ ist zwar bekannt, aber psychologisch und sprachwissenschaftlich nur wenig erforscht. Der Zürcher Sprachwissenschaftler Ernst Leisi (1918-2001) hat 1978 eine hinreißende Studie zum Thema „Paar und Sprache“ verfasst, die bis heute einschlägig geblieben ist. Leisi kommt darin zum Ergebnis, dass die Sprache eines Paares - die er auch „Privatcode“ nennt - einen überaus wichtigen Bestandteil einer nahen Beziehung von zwei Menschen darstellt, ohne dass sich dabei genau sagen lässt, ob die Sprache aufgrund der Nähe oder die Nähe aufgrund der Sprache entsteht. www.narr.de ISBN 978-3-8233-8023-8