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Wissen - Sprache - Raum

Zur Multimodalität der Interaktion im Chemieunterricht

0613
2016
978-3-8233-9032-9
978-3-8233-8032-0
Gunter Narr Verlag 
Eva-Maria Putzier

Der Band ist ein empirischer Beitrag zur Analyse von Unterrichtskommunikation. Auf der Grundlage von Videoaufzeichnungen werden interaktive Prozesse im gymnasialen Chemieunterricht unter einer multimodalen Perspektive untersucht. Neben der thematischen Fokussierung sprachlicher Aktivitäten der Beteiligten stehen vor allem körperlich-räumliche Aspekte von Interaktion im Vordergrund. Hinsichtlich des Ergänzungsverhältnisses von Wissenskommunikation und Wahrnehmungswahrnehmung ist der Chemieunterricht ein besonders interessanter Fall: Wissensvermittlung erfolgt immer dann, wenn auch etwas wahrgenommen, d.h. beobachtet werden soll. So werden fachsprachliche Begriffe fast immer im Rahmen von Demonstrationsphasen eingeführt. Der Band reinterpretiert in einem abschließenden Kapitel die Analyseergebnisse unter einer didaktischen Perspektive, der ,De-facto-Didaktik'. Dabei werden Verfahren und Strategien offengelegt, die Lehrer zur Lösung zentraler Anforderungen situativ einsetzen. Ziel der De-facto-Didaktik ist es, Chancen und Risiken aufzudecken, die bestimmte Strategien im Rahmen spezifischer Unterrichtsbedingungen mit sich bringen.

<?page no="0"?> Eva-Maria Putzier Wissen - Sprache - Raum Zur Multimodalität der Interaktion im Chemieunterricht STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE <?page no="1"?> STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE 71 <?page no="2"?> Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg und Angelika Wöllstein Band 71 STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE <?page no="3"?> Eva-Maria Putzier Wissen - Sprache - Raum Zur Multimodalität der Interaktion im Chemieunterricht <?page no="4"?> Redaktion: Melanie Steinle Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2014 auf Antrag der Promotionskommission [Prof. Dr. Heiko Hausendorf (hauptverantwortliche Betreuungsperson), Prof. Dr. Lorenza Mondada] als Dissertation angenommen. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz und Layout: Joachim Hohwieler Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Gomaringen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-8032-0 <?page no="5"?> DANKSAGUNG Mein erster Dank richtet sich an meinen Doktorvater Prof. Dr. Heiko Hausendorf, der durch seine fortwährende Unterstützung, kritischen Anmerkungen und gelungene Mischung aus Freiräumen und wertvollen Anregungen wesentlich zur Entstehung dieser Studie beigetragen hat. Im Rahmen der Arbeitsgruppe „Interaktionsarchitektur und Sozialtopografie“ des Forschungsschwerpunkts „Sprache und Raum“ an der Universität Zürich hatte ich immer wieder die Möglichkeit, Forschungsergebnisse zu präsentieren und kritisch zu diskutieren. Herzlichen Dank dafür! Als Zweitgutachterin der Arbeit konnte ich dankenswerterweise Prof. Dr. Lorenza Mondada gewinnen, von deren Forschungsarbeiten wichtige Impulse für diese Studie ausgingen. Der gemeinsame Austausch auf zahlreichen Arbeitstagungen diente vielen neuen Anregungen. Die Idee dieser Arbeit geht zurück auf meinen Mentor Dr. Reinhold Schmitt vom Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim, dem ich fachlich und menschlich zu großem Dank verpflichtet bin. Er hat mich in der Entstehung der Arbeit stets unterstützt und mich darin ermutigt, meine seit jeher vorhandene Begeisterung an Sprach- und Naturwissenschaften in dieser Studie zu verbinden. Meine Ausbildung in der multimodalen Interaktionsanalyse, die mir durch unzählige Analysesitzungen zu Eigen- und Fremddaten, Videoaufnahmen vor Ort, kritischen Austausch über verfasste Texte und gemeinsame Vorträge zuteil wurde, habe ich in erster Linie ihm zu verdanken. Er hat die Arbeit vom Beginn bis zum Abschluss in beispielhafter Weise begleitet. Durch ihn war es mir möglich, an den Arbeitstreffen zur Multimodalität im Institut für Deutsche Sprache teilzunehmen und in den regelmäßigen Austausch mit anderen Wissenschaftlern des Forschungsbereichs zu treten. Dafür möchte ich ihm von Herzen danken. Mein besonderer Dank richtet sich an alle Chemielehrerinnen und Chemielehrer, die mir durch ihre Offenheit und ihr Vertrauen den Zugang zu ihrem Unterricht gewährten. Ohne ihre Kooperationsbereitschaft und ihr Interesse wäre diese Studie nicht möglich gewesen. Für zahlreiche wertvolle Anregungen und Korrekturen danke ich Serap Öndüc. Einem beständigen Kreis an Freunden, deren Neugier und Zuspruch mich immer wieder motivierten, möchte ich an dieser Stelle ebenfalls herzlich danken. Über all die Jahre wirkten meine Eltern als unerschütterliche Begleiter, deren Interesse und unerlässliche Freude an meiner Freude für meinen Lebensweg prägend sind. <?page no="6"?> Danksagung 6 Der abschließende Dank gebührt meinem Ehemann Alexander Putzier, der durch seine bedingungslose menschliche Unterstützung entscheidend zum Gelingen der Arbeit beigetragen hat. Sein ungebrochenes Vertrauen und seine konstruktive Kritik sind für mich unersetzlich. Ihm ist diese Arbeit gewidmet. Mannheim, im April 2016 Eva-Maria Putzier <?page no="7"?> INHALT 1. Einleitung .......................................................................................................... 11 2. Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung ..................... 19 2.1 Fragestellung ..................................................................................................... 19 2.2 Forschungsstand .............................................................................................. 33 2.2.1 Ethnomethodologische Konversationsanalyse ............................... 33 2.2.2 Multimodale Interaktionsanalyse ..................................................... 43 2.2.3 Unterrichtskommunikation als Thema wissenschaftlicher Forschung .................................................................................... 51 2.2.4 Fachsprachenforschung zum Thema Chemie und Chemiedidaktik ................................................................................... 54 2.3 Datenerhebung ................................................................................................. 58 2.3.1 Entstehungsprozess und Feldeinstieg .............................................. 58 2.3.2 Korpus ................................................................................................... 61 3. Der Chemiesaal ............................................................................................... 67 3.1 Die Konzepte Interaktionsarchitektur und Sozialtopografie ................... 69 3.2 Standbildanalyse des Chemiesaals ............................................................ 73 3.2.1 Der leere Chemieraum ........................................................................ 75 3.2.2 Der genutzte Chemieraum ................................................................. 88 3.3 Das Konzept Räumliche Relevanztiefe ....................................................... 102 3.3.1 Raumnutzerkonstellation ................................................................. 103 3.3.2 Begriffsentwicklung .......................................................................... 104 3.3.3 Relevanzbereiche des Chemieraums .............................................. 105 3.4 Falltranszendierendes Resümee ............................................................... 109 4. Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht .................... 113 4.1 Das Konzept Demonstrationsraum ............................................................. 116 4.2 Die Herstellung des Demonstrationsraums ............................................. 118 4.2.1 Verbale Fokussierungsaktivitäten ................................................... 119 4.2.2 Synchronisierung von praktischen und verbalen Aktivitäten ..... 122 4.2.3 Der Laufweg des Lehrers ................................................................. 124 <?page no="8"?> Inhalt 8 4.3 Die territoriale Struktur des Demonstrationsraums .............................. 126 4.4 Die Aufrechterhaltung des Demonstrationsraums ................................ 131 4.4.1 Statische Konstellation ...................................................................... 131 4.4.2 Dynamische Konstellationen ........................................................... 133 4.5 Die Auflösung des Demonstrationsraums ................................................ 143 4.6 Die Teilautonomie des Demonstrationsraums ........................................ 145 4.7 Fazit .................................................................................................................... 151 5. Verfahren der Einführung von Objekten ............................................ 153 5.1 Die klaren Fälle (I) - Beispiel 1: Siedesteinchen ................................... 157 5.1.1 Der relevante Kontext ....................................................................... 158 5.1.2 Die sequenzielle Struktur des Ausschnitts ..................................... 158 5.2 Das multimodale Verfahren ‘Objektdemonstration’ .......................... 176 5.2.1 Die Außenstruktur der Objektdemonstration .................................... 178 5.2.2 Die interne Strukturierung der Objektdemonstration ..................... 184 5.3 Die klaren Fälle (II) - Beispiel 2: Bromthymolblau ............................. 205 5.3.1 Außenstruktur .................................................................................... 207 5.3.2 Interne Strukturierung ...................................................................... 211 5.4 Modifizierung des Konzepts Objektdemonstration ............................... 216 5.5 Die Randfälle ................................................................................................... 218 5.5.1 Beispiel 3: Cobaltchloridpapier ....................................................... 218 5.5.2 Beispiel 4: Backhefe ........................................................................... 223 5.6 Kontrastive Fälle ............................................................................................ 224 5.6.1 Beispiel 5: Schwefelsäure .................................................................. 225 5.6.2 Beispiel 6: Haargummi ..................................................................... 227 5.7 Übersichtsgrafik zum Verfahren Objektdemonstration ........................ 229 5.8 Zusammenfassung ........................................................................................ 229 5.8.1 Gegenstand und Objekt .................................................................... 230 5.8.2 Manipuliertes vs. demonstriertes Objekt ....................................... 231 5.8.3 Selbstreferenzielles vs. fremdreferenzielles Objekt ...................... 232 5.8.4 Fachspezifisches vs. fachunspezifisches Objekt ............................ 234 <?page no="9"?> Inhalt 9 6. Didaktische Reflexion zentraler Analyseergebnisse ...................... 237 6.1 Die Konzeption De-facto-Didaktik ............................................................. 238 6.2 Das Anforderungsprofil von Chemielehrern ....................................... 240 6.2.1 Praktische Durchführung des Chemieexperiments ..................... 242 6.2.2 Wissensvermittlung ........................................................................... 242 6.2.3 Wahrnehmungsstrukturierung ........................................................ 243 6.2.4 Interaktionsmanagement .................................................................. 244 6.3 Strategien zur Bearbeitung interaktiver Anforderungen im Chemieunterricht .................................................................................... 245 6.3.1 Nutzung des Raums .......................................................................... 245 6.3.2 Koordinierung unterschiedlicher Ausdrucksmöglichkeiten ....... 248 6.3.3 Inszenieren des Chemieexperiments .............................................. 250 6.3.4 Alltagsweltliche Verankerung der Sprache ................................... 254 6.4 Fazit .................................................................................................................... 256 7. Schlussbetrachtung und Ausblick ......................................................... 259 Literatur ............................................................................................................................ 265 <?page no="11"?> 1. EINLEITUNG An integrated approach to the study of interaction [...] refuses to assume that any particular modality of communication is more salient than another. 1 Adam Kendon 10 LE: so: : nehm=wir mal, 11 (6.93) 2 Chemielehrer Wird die Chemie als Lehre von den Eigenschaften, dem Aufbau und der Umsetzung von Stoffen nicht nur theoretisch vermittelt, ist Interaktion im Chemieunterricht unweigerlich an praktische Tätigkeiten gebunden. Meist obliegt es dem Lehrer, 3 den Schülern anhand von Experimenten Einblicke in die Denk- und Arbeitsweise der Chemie zu geben und Grundkenntnisse zu vermitteln, „die für das Verständnis von chemischen Prozessen in der Natur, Umwelt, Technik und Alltag unabdingbar sind“ (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport 2004, S. 194). Um Experimente durchzuführen, muss der Lehrer praktisch aktiv werden, indem er Laborgeräte arrangiert, Chemikalien einsetzt und sie beispielsweise mit dem Bunsenbrenner zur Reaktion bringt. Die einzelnen praktischen Aktivitäten können zwar schrittweise realisiert werden, sind jedoch an die Logik des Experiments gebunden und nicht beliebig austauschbar. Ist die chemische Reaktion einmal in Gang gesetzt, wird sie der Zeitlichkeit des Experiments entsprechend ablaufen. Der Lehrer führt das Experiment jedoch nicht im Labor zur eigenen Erkenntnisgewinnung durch, sondern es ist Teil einer didaktisierten, auf Wissensvermittlung basierenden Unterrichtssituation, in der er permanent von Schülern wahrgenommen wird und vor allem wahrgenommen werden will. Sprache ist ein zentrales Vehikel der Wissenskommunikation, gerade weil diese im Chemieunterricht eng verwoben mit der Wahrnehmungswahrnehmung auftritt. So werden Fachbegriffe in der Regel nicht theoretisch eingeführt, sondern anhand von Experimenten, chemischen Substanzen oder Modellen visuell veranschaulicht. Der Lehrer steht also vor der Aufgabe, fachsprachliches 1 Siehe Kendon (1990a, S. 16). 2 Der Transkriptausschnitt dokumentiert die Äußerung eines Chemielehrers während einer Experimentalphase im Chemieunterricht. Zur ausführlichen Analyse des zugrundeliegenden Videoausschnitts vgl. Kapitel 5. 3 Im Folgenden verwende ich aus ökonomischen Gründen die Singularform „der Lehrer“ als Bezeichnung für alle potenziellen Chemielehrerinnen und Chemielehrer. Darüber hinaus verwende ich „Schüler“ zur Bezeichnung aller Schülerinnen und Schüler. <?page no="12"?> Einleitung 12 Wissen zu vermitteln und gleichzeitig die Wahrnehmung der Schüler auf die spezifischen Objekte zu lenken. Zweifelsohne kommt der sprachlichen Deixis dabei eine Schlüsselrolle zu (vgl. Kap. 5). Im Gegensatz zu verbal-dominierten Unterrichtsfächern (Deutsch, Englisch, Französisch etc.) muss Sprache im Chemieunterricht hinsichtlich der Wahrnehmungsstrukturierung Zusätzliches leisten, da naturwissenschaftlich-experimentelle Fächer stärker an Materialität und Bewegung gebunden sind. Die Schüler sind in ihrer sinnlichen Wahrnehmung gefordert: Es geht nicht nur darum, dem Lehrer bei der Durchführung des Experiments zuzuschauen oder selbst tätig zu werden. Das Experiment dient nicht (nur) der Unterhaltung, wie dies etwa bei Schauexperimenten 4 oftmals der Fall ist. Soll das Experiment zur Wissensvermittlung wirklich genutzt werden, gilt es, die chemischen Vorgänge genau zu beobachten und das sichtbar, hörbar und olfaktorisch wahrnehmbar Gemachte hinsichtlich bestimmter Fragestellungen zu deuten. Da es sich bei Schülern jedoch nicht um ausgebildete wissenschaftliche Mitarbeiter handelt, die mit experimentellen Abläufen und wissenschaftlichen Auswertungen vertraut sind, sondern um Lernende, die anhand des Experiments einen Unterrichtsgegenstand erschließen sollen, ist es die Aufgabe des Lehrers, diesen Weg mit den Schülern gemeinsam zu bestreiten. Nimmt man die hier skizzierten Komponenten und die daraus resultierende Komplexität von Chemieunterricht ernst, muss die Analyse von Interaktion im Chemieunterricht unter einem ganzheitlichen Ansatz erfolgen. Die zentrale Bedeutung des praktischen Tuns im Chemieunterricht, der Umgang mit Objekten und die Bewegung des Lehrers im Raum machen eine Analysemethode erforderlich, die den körperlich-räumlichen Bedingungen der Interaktion Rechnung trägt und gleichzeitig die verbalen Aktivitäten der Teilnehmer berücksichtigt. In dem der Arbeit vorangestellten Zitat formuliert Kendon die Bedeutung eines solchen ganzheitlichen Ansatzes („integrated approach“), der alle den Teilnehmern zur Verfügung stehenden Ausdrucksmodalitäten („modality of communication“) als gleichwertig betrachtet. Das wiederum impliziert einen empirischen Zugang auf der Grundlage von Videoaufnahmen authentischer Interaktion, der eine umfassende Dokumentation all jener Komponenten von Chemieunterricht gewährleistet. Der dem Zitat Kendons folgende Ausschnitt aus einem Verbaltranskript verdeutlicht, wie schwierig es ist, Interaktion im Chemieunterricht unter einer ausschließlich verbalen Perspektive zu untersuchen. In Experimentalphasen ist es keine Seltenheit, dass Lehrer Aktivitäten nicht genau verbalisieren (so: : nehm=wir mal, Z. 10) oder über längere Zeit hinweg ihre verbalen Tätigkeiten 4 Die Terminologie verweist bei dieser Form des Experiments auf die (einzige) und oft umstrittene Funktionalität: Es geht in erster Linie um das ‘Schauen’ an sich, d.h. um den Unterhaltungswert des Experiments. <?page no="13"?> Einleitung 13 völlig einstellen ((6.93), Z. 11). Dadurch führt eine ausschließlich verbal-orientierte Dokumentation meist zu kryptischen Transkripten, bei denen auch der Beitrag der Sprache für die Interaktion nach der Analyse im Verborgenen bleibt. Gleichwohl würde eine Untersuchung, die ausschließlich praktische Aktivitäten berücksichtigt, ebenso wenig aufschlussreich sein, wenn es das Ziel sein soll, Prozesse der Wissenskommunikation im Chemieunterricht zu beschreiben und nachzuvollziehen. Es geht vielmehr um das Zusammenspiel (‘multimodal complex’) aller von den Beteiligten eingesetzten Ressourcen, das immer mehr ist als die Summe seiner Teile. So bringt es Goodwin (2009) in seiner Studie „Things, bodies, and language“ auf den Punkt: The inadequacy of either language alone, or the object alone, is well demonstrated by the way in which what Father is saying cannot be grasped by focusing in any single modality - his talk, his gesture or the object - in isolation. Instead he builds a multimodal complex in which the signs provided by each meaning-making resource, including his language, are partial and incomplete, but which construct a whole that is more than the sum of its parts. This is made possible by the way in which diverse elements with complementary properties mutually contextualize each other. (ebd., S. 108) Was für die Interaktion im Chemieunterricht unter fachspezifischen Aspekten ausbuchstabiert wurde, kann also auf jegliche interaktive Ereignisse übertragen werden: Soziale Bedeutungskonstitution erfolgt immer auf der Grundlage zahlreicher, den Interaktionsbeteiligten zur Verfügung stehender Ausdrucksressourcen, die sie zur Umsetzung ihrer Handlungsziele entsprechend einsetzen. Unter dem Begriff der ‘Multimodalität’ hat sich in den 2000er Jahren im deutschsprachigen Raum ein Forschungsschwerpunkt herausgebildet, der die Gleichwertigkeit und Gleichzeitigkeit aller Ausdrucksressourcen in der Interaktion konsequent verfolgt und das Primat der Verbalität gänzlich aufgibt (Schmitt 2004). Der Analyseansatz verfolgt dabei eine holistische Konzeption von Interaktion, in der soziale Bedeutung erst durch das Zusammenspiel einzelner Ausdrucksressourcen konstituiert wird (Dausendschön-Gay/ Krafft 2002). In den letzten Jahren sind im deutschsprachigen und internationalen Forschungskontext zahlreiche Studien entstanden, die sich mit der ‘Multimodalität’ von Interaktion auf konzeptioneller, analytischer und methodischer Ebene auseinandersetzen (Deppermann/ Schmitt 2007; Goodwin 1986, 1994, 2000a, 2000b, 2003a, 2003b, 2007a, 2007b; Hausendorf/ Mondada/ Schmitt (Hg.) 2012; Heath 1986, 2002, 2011; Heath/ Luff 2007; Kesselheim/ Hausendorf 2007; Mondada 2007a, 2007b; Mondada/ Schmitt (Hg.) 2010; Schmitt 2004, (Hg.) 2007, 2007b, 2013a). Davon ausgehend gilt es nun, die videobasierte (multimodale) Interaktionsanalyse weiter voranzubringen, indem interaktive Prozesse unter der Prämisse analysiert werden, dass alle den Teilnehmern zur Verfügung stehenden Ausdrucksressourcen gleichwertig sind. <?page no="14"?> Einleitung 14 Darauf aufbauend setzt die vorliegende Arbeit an: Sie leistet auf analytischer und konzeptioneller Ebene einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Forschungsschwerpunkts zur ‘Multimodalität’. Unter einer konsequent multimodalen Perspektive sollen hierfür interaktive Prozesse im Chemieunterricht auf der Grundlage authentischer Videoaufnahmen untersucht und dabei folgende Fragen bearbeitet werden: Welche Rolle spielen etwa Sprache, Blickverhalten, Laufwege, Körperposition und -positur der Beteiligten bei der Realisierung ihrer handlungspraktischen Ziele? Wie nutzen sie materialisierte Strukturen zur Wissensvermittlung und Wahrnehmungsstrukturierung? Welchen Beitrag leistet dabei die Sprache? Der Untersuchungsgegenstand ‘Chemieunterricht’ ist im Hinblick auf diese Zielsetzung besonders geeignet: Die interaktiven Prozesse werden maßgeblich durch das praktische Tun der Beteiligten (mit)strukturiert und materialisieren sich im Einsatz von Objekten und der Vermittlung handlungspraktischer Fertigkeiten. Im Sinne der ethnomethodologischen Forschungspraxis 5 verlangen die Daten selbst eine Analysemethode, die diesen materialisierten Strukturen Rechnung trägt. Neben diesem wissenschaftlichen Motiv gibt es noch einen weiteren Grund für die Wahl des Untersuchungsgegenstandes: Als ausgebildete Chemielehrerin bin ich mit der Praxis des Unterrichtsfaches, seiner Terminologie und seiner Didaktik bestens vertraut und habe dadurch neben meinem wissenschaftlichen auch ein didaktisches Erkenntnisinteresse. Die eingangs skizzierte Komplexität von Chemieunterricht ist mir aus meinem Schulalltag bekannt, in dem man sich nicht selten mit Fragen auseinandersetzt, wie etwa „Baue ich den Versuch vor oder während des Unterrichts auf? “, „Ist die Apparatur für alle Schüler sichtbar? “, „Wie kann ich meine Aktivitäten so strukturieren, dass mir die Schüler folgen können? “ usw. Derartige Fragen werden im Rahmen der Lehrerbildung bisher vor allem unter einer evaluativen und interaktionsvorgängigen Perspektive diskutiert. Es ist zwar eine Zunahme an videobasierten Analysen zu verzeichnen, jedoch sind sie, wie fast der gesamte Schulkontext, ebenfalls evaluativ angelegt. Daher besteht aus meiner Sicht eine große Chance und Notwendigkeit in der Entwicklung einer videobasierten Unterrichtsanalyse (Putzier 2011; Schmitt (Hg.) 2011), die auf den wissenschaftlichen, methodisch fundierten Ergebnissen der multimodalen Interaktionsanalyse aufbaut. Daher wird in dieser Arbeit nach dem empirischen Teil auch der Versuch unternommen, zentrale Analyseergebnisse unter einer didaktischen Perspektive zu reinterpretieren und für die Lehrerbildung nutzbar zu machen. 5 Siehe Kapitel 2.2. <?page no="15"?> Einleitung 15 In der vorliegenden Arbeit werden auf der Grundlage eines umfassenden Video-Korpus zu gymnasialem Chemieunterricht drei zentrale Fragestellungen bearbeitet, die sich aus der Beschäftigung mit den empirischen Daten selbst unter einer konsequent multimodalen Perspektive ergeben haben. Die erste Fragestellung fokussiert die zunächst interaktionsvorgängigen materiellen Strukturen des Chemieraums und stellt dessen interaktionsarchitektonisches Potenzial sowie seine sozialtopografische Nutzung in das Zentrum des Erkenntnisinteresses. Der Fluchtpunkt bleibt dabei jedoch immer die Interaktion selbst. Wenn Teilnehmer Raum als interaktive Ressource nutzen, geschieht dies immer unter der Voraussetzung, dass Raum in seiner architektonischen Ausstattung bereits interaktionsvorgängig vorhanden ist. Daher soll nach den Implikationen für die Interaktion gefragt werden, die mit dem (gebauten) Raum verbunden sind. Im Anschluss wird eine zentrale interaktive Aufgabe im Chemieunterricht näher beleuchtet, die für Experimentalphasen konstitutiv ist und körperlichräumliche Aspekte von Interaktion fokussiert: Das praktische Tun erfolgt immer unter „Wahrnehmungswahrnehmungsstrukturen“ (Hausendorf 2003) und ist im Hinblick auf die Vermittlung fachspezifischen Wissens funktional. - Wie gelingt es den Beteiligten, diese Wahrnehmungswahrnehmungsstrukturen zu etablieren und so zu strukturieren, dass das Experiment verstehbar durchgeführt werden kann? - Wie setzen sie dabei die ihnen zur Verfügung stehenden Ausdrucksressourcen ein? - Und wie wirken sprachliche und körperlich-räumliche Ressourcen bei der Bearbeitung dieser interaktiven Aufgabe zusammen? Der dritte, darauf aufbauende Schritt lenkt den Blick abschließend auf ein multimodales Verfahren, das dem Einsatz körperlich-räumlicher Ausdrucksressourcen Rechnung trägt, weil es unweigerlich mit der Materialität des Raumes verbunden ist: - Wie führen Interaktionsbeteiligte Objekte im Rahmen von Experimentalphasen in den Interaktionsverlauf ein? - Welchen Beitrag leistet dabei die (Fach-)Sprache? - Gibt es Unterschiede in der Relevanzgewichtung der Objekte für das Experiment? - Wenn ja, wie machen Beteiligte diese Unterschiede in ihrem Verhalten deutlich? <?page no="16"?> Einleitung 16 Die vorliegende Studie verfolgt dabei ein analytisch-empirisches (1), ein konzeptionelles (2) und ein methodisches Ziel (3): 1) Das erste Ziel der Studie besteht darin, einen empirischen Beitrag zu der Entwicklung des multimodalen Forschungskontextes zu leisten: Die interaktiven Prozesse im Chemieunterricht werden unter einer multimodalen Perspektive videobasiert untersucht. Dabei stehen neben sprachlichen Aktivitäten vor allem körperlich-räumliche Aspekte von Interaktion im Vordergrund, die der materialisierten Form von Chemieunterricht Rechnung tragen. 2) Darüber hinaus soll die Studie die Entwicklung multimodal basierter Konzepte voranbringen. Aufgrund der Spezifik des Untersuchungsgegenstandes werden dabei vor allem raumbasierte Konzepte im Vordergrund stehen. 3) Ein drittes Ziel besteht in der methodischen und methodologischen Reflexion multimodaler Forschungspraxis. Die Studie begibt sich dabei vor allem mit dem jüngst etablierten Forschungsschwerpunkt Interaktionsarchitektur und Sozialtopografie auf methodisches Neuland und kann als Nachweis für die Produktivität dieser Forschungspraxis für die Analyse von Interaktion gelten. Der Aufbau der Arbeit gliedert sich folgendermaßen: Im ersten Teil der Arbeit, der „Gegenstandskonstitution“, wird die zentrale Fragestellung anhand einer explorativen Fallanalyse aus den Daten selbst entwickelt (Kap. 2.1). Davon ausgehend sollen der methodische Rahmen sowie der Forschungszusammenhang (Kap. 2.2) vorgestellt und die Konstitution des Datenkorpus sowie das Untersuchungsfeld ‘Schule’ eingehend reflektiert werden (Kap. 2.3). Der folgende empirisch-analytische Teil der Arbeit ist in drei Teilbereiche untergliedert: Zunächst wird im Kapitel „Der Chemiesaal“ der Unterrichtsort hinsichtlich seiner Implikationen für Interaktion im Chemieunterricht allgemein untersucht (Kap. 3). Im anschließenden Kapitel „Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht“ (Kap. 4) steht die interaktive Realisierung von Experimentalphasen durch Interaktionsbeteiligte im Zentrum des Erkenntnisinteresses. Das letzte Kapitel des analytischen Teils „Verfahren der Einführung von Objekten“ (Kap. 5) fokussiert ein multimodales Verfahren, das zur Einführung von Objekten im Rahmen von Experimentalphasen eingesetzt wird. <?page no="17"?> Einleitung 17 Dem empirischen Teil der Arbeit folgt ein didaktisch orientiertes Kapitel (Kap. 6), das zentrale Analyseergebnisse des analytischen Teils unter einer didaktischen Perspektive reinterpretiert. In einem abschließenden Fazit (Kap. 7) sollen wesentliche Erkenntnisse zusammengefasst und im Hinblick auf ihr Potenzial zur Weiterentwicklung des multimodalen Forschungsansatzes im Bereich videobasierter Unterrichtsanalyse reflektiert werden. <?page no="19"?> 2. FRAGESTELLUNG, FORSCHUNGSSTAND UND DATENERHEBUNG In der Einleitung wurde die der Arbeit zugrundeliegende multimodale Perspektive auf interaktive Phänomene präsentiert. Sie trägt der audiovisuellen Komplexität von Interaktion Rechnung, die den forschungsgeschichtlich frühen Fokus auf verbale Anteile von Interaktion nunmehr (auch) auf das Sichtbare, d.h. zahlreiche andere Ausdrucksressourcen lenkt. Gemäß dem ethnomethodologischen Forschungsansatz, aus dem die multimodale Interaktionsanalyse hervorgegangen ist, erfolgt die Gegenstandskonstitution in der analytischen Auseinandersetzung mit den Daten selbst. Im Folgenden wird in diesem Sinne die zentrale Fragestellung der Arbeit (Kap. 2.1) als explorative Fallanalyse entwickelt. Dabei sollen wesentliche Untersuchungsaspekte aufgezeigt werden, anhand derer ein erster Überblick über die einzelnen Kapitel des empirischen Teils der Arbeit gegeben werden kann. Davon ausgehend ergeben sich die methodische Rahmung der Arbeit und deren Verortung im aktuellen Forschungszusammenhang (Kap. 2.2). Abschließend soll mit der Beschreibung der Datenerhebung (Kap. 2.3) das Untersuchungsfeld ‘Schule’ reflektiert und die empirische Basis der Studie vorgestellt werden. 2.1 Fragestellung Die Skizzierung der zentralen Fragestellung erfolgt anhand eines ca. 50sekündigen Videoausschnitts, der Teil einer Chemiestunde zum Thema „Eigenschaften von Säuren“ ist und in einer 9. Klasse eines Gymnasiums in Baden-Württemberg im Jahr 2008 erhoben wurde. In der dokumentierten Unterrichtssituation stellt der Lehrer (LE) den Schülern (u.a.: Helena (HE); Anna (AN); Milena (MI); Elisabeth (EL)) einige Indikatoren als Nachweisreagenzien für Säuren und Basen vor. Nachdem er den Einsatz des so genannten Universalindikatorpapiers demonstriert hat, baut er einige Reagenzgläser in der Mitte des Lehrertisches auf, um den Schülern die Farbwechsel flüssiger Indikatoren zu präsentieren (Abb. 1). <?page no="20"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 20 EL AN HE LE MI 1 In der ausgewählten Sequenz werden die im nachfolgenden Audiotranskript wiedergegebenen verbalen Aktivitäten realisiert: 01 LE: das heißt, 02 wir=haben indikaTORen? 03 (---) 04 äh: m 05 das GANze gibt=s auch flüssig- 06 nicht auf papIER nur, 07 (6.63) 08 <<p>das brauchen=wir vielleicht nachher noch,> 09 (2.50) 10 so: : nehm=wir mal, 11 (6.93) 12 JA: is=das jetzt rote bete oder rotkohlsaft, 13 was sie (nachher) nehmen- 14 ( ) 15 LE: das=ist RICHtig? 16 mit rote bete haben=wir auch schon indikator dann geMACHT, 17 (---) 18 also naTÜRliche stoffe, 19 (---) 20 verändern AUCH (.) die farbe- 21 (6.65) 22 WIR haben zum beispiel stoffe 23 wie=wir jetzt wie HIER? (--) 24 diesen FARBstoff der in WASser oder ALkohol je nach dem gelöst ist- 25 je nach dem welche EIGenschaften der hat. (---) 26 äh: : (--) 27 das=ist jetzt BROM(.)thyMOL(-)BLAU; Der Lehrer formuliert zu Beginn der Sequenz das Thema der Unterrichtsphase: Indikatoren (das heißt, wir=haben indikaTORen? , Z. 01-02). In gesprächsstruktureller Hinsicht ist die Formulierung des Lehrers insofern interessant, <?page no="21"?> Fragestellung 21 als sie Hinweise darauf gibt, dass die Unterrichtsphase nicht gerade beginnt, d.h. mit dem Beginn der ausgewählten Sequenz zusammenfällt. Vielmehr ist ein Teil der Erarbeitungsphase bereits abgeschlossen, während ein anderer Teil noch bevorsteht: Mit dem Fazitindikator das heißt, (Z. 01) verdeutlicht der Lehrer retrospektiv den Abschluss einer Sequenz im Sinne einer Zusammenfassung. In der vorangegangenen Phase präsentierte er den Schülern den Einsatz des Universalindikatorpapiers als Nachweis für saure und basische Lösungen. Darüber hinaus kann die Äußerung auch projektiv verstanden werden, da sie eine Reihe von Anschlusshandlungen erwartbar macht, die in irgendeiner, sei es in ergänzender oder gegenüberstellender Form inhaltlichthematisch auf indikaTORen (Z. 02) bezogen sind. Dieser Zusammenhang wird in der darauffolgenden Äußerung unmittelbar deutlich, als der Lehrer ankündigt, dass Indikatoren auch flüssig- (Z. 05) und nicht auf papIER nur (Z. 06) vorliegen. Hiermit läutet er den zweiten Teil der Unterrichtsphase ein: die Vorstellung der flüssigen Indikatoren. Der weitere Verlauf der Interaktionssequenz kann auf der Grundlage der folgenden Transkriptzeilen (Z. 07-11) nur noch bruchstückhaft rekonstruiert werden: Der Lehrer stellt seine verbale Tätigkeit zunächst ein (Z. 07) und referiert anschließend auf ein nicht zu identifizierendes Objekt <<p>das brauchen=wir vielleicht nachher noch,> (Z. 08), wobei die Prosodie der Äußerung auf eine eher selbstbezogene Äußerung verweist: Der Lehrer kann bei der Reduktion der Lautstärke auf ein so geringes Maß nicht mehr davon ausgehen, dass die Schüler in den hinteren Reihen die Äußerung wahrnehmen. Im Anschluss daran wird er wieder „verbal abstinent“ (Z. 09) (Heidtmann/ Föh 2007) und geht der bruchstückhaften Äußerung so: : nehm=wir mal, (Z. 10) zufolge einer Tätigkeit nach, die jedoch weitgehend im Verborgenen bleibt. Die folgende, dritte Gesprächspause (Z. 11) ist für die Rekonstruktion des Interaktionsverlaufs wieder kaum aufschlussreich, da sie nur den Verzicht des Lehrers auf verbale Aktivitäten dokumentiert. Der durch die Transkriptzeilen 07-11 dokumentierte Ausschnitt ist ein prototypisches Beispiel für eine Interaktionssequenz aus dem Chemieunterricht. Die zahlreichen Gesprächspausen (Z. 07, 09, 11) und die Verwendung objektdeiktischer Ausdrücke (Z. 08) erschweren eine Rekonstruktion der Interaktionssequenz allein auf der Grundlage des Audiotranskriptes. Die Interaktionssequenz kann nur aufgrund des Videoausschnitts unter einer multimodalen Perspektive lückenlos rekonstruiert werden. Dann wird buchstäblich sichtbar, dass es sich bei Gesprächspausen nicht auch um ‘Interaktionspausen’ handelt (Schmitt 2004): Verbalität ist nur eine von vielen Ausdrucksressourcen, die der Lehrer hier bei der Vorstellung der flüssigen <?page no="22"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 22 Indikatoren einsetzt. Während der ersten Gesprächspause (Z. 07) geht er zum Chemikalientisch und holt einen Reagenzglasständer mit einigen leeren Reagenzgläsern (Abb. 2), die er in der Mitte des Pultes auf einem Holzblock erhöht aufbaut (Abb. 3). Für die Schüler wird sichtbar und antizipierbar, was im Transkript zu keinem Zeitpunkt dokumentiert ist: Der Lehrer wird einen Versuch durchführen, in dem er Reagenzgläser benutzt, die es im Folgenden zu beobachten gilt. Der Blick des Lehrers ist dabei kontinuierlich auf den Reagenzglasständer gerichtet und auch während seiner darauffolgenden Äußerung blickt er nicht zu seinen Schülern, sondern zu dem auf einem der Reagenzgläser befindlichen Stopfen mit Glasrohr. Er berührt den Stopfen mit beiden Händen und formuliert unmittelbar darauf den ersten Teil der Äußerung das brauchen=wir vielleicht (Z. 08) (Abb. 4) und entfernt den Stopfen mit der rechten Hand, während er den zweiten Teil der Äußerung nachher noch (Z. 08) vollzieht (Abb. 5). 6 05 LE: das GANze gibt=s auch flüssig- 06 nicht auf papIER nur, 07 (6.63) 2 3 4 5 08 <<p> das brauchen=wir vielleicht nach her noch,> 6 Die Präsentation der Standbilder zur Dokumentation der visuellen Anteile von Interaktion wird im Folgenden in das Audiotranskript eingebunden, indem sie unmittelbar unter der entsprechenden Transkriptzeile erscheinen. Simultaneität wird dabei durch Fettdruck der entsprechenden Äußerung gekennzeichnet. <?page no="23"?> Fragestellung 23 4 5 Die Blickorientierung, die Manipulation der Objekte und die Verbalität sind also nicht zufällig, sondern in systematischer Weise koordiniert. Für die Schüler wird durch den auf den Stopfen gerichteten Blick des Lehrers und das ‘Begreifen’ (Schmitt 2013b) mit beiden Händen augenscheinlich, worauf der Lehrer mit dem Ausdruck das (Z. 08) referiert. 7 Darüber hinaus stellt sich der Aspekt der Selbstbezogenheit dieser Äußerung, die auf der Grundlage der prosodischen Informationen des Transkripts zunächst nur im Bezug auf diese eine Äußerungseinheit relevant erschien, unter einer multimodalen Perspektive in veränderter Weise dar: In der gesamten Interaktionssequenz, also bereits zu Beginn des Ausschnitts (Z. 01), blickt der Lehrer nicht zu den Schülern, sondern verfolgt kontinuierlich seine eigenen experimentellen Tätigkeiten. Da er für den Einsatz der flüssigen Indikatoren einen anderen Versuchsaufbau und neue Chemikalien benötigt, ist er zunächst gezwungen, experimentell aktiv zu werden und die entsprechenden Vorbereitungen zu treffen. In seinem Blickverhalten und in den zahlreichen Phasen verbaler Abstinenz wird dabei deutlich, dass er durch seine experimentellen Aktivitäten weitgehend absorbiert ist. Während seiner vorbereitenden Aktivitäten ist jedoch die Interaktion nicht eingestellt, wie es etwa der Fall wäre, wenn der Lehrer einen Versuch vor dem Unterricht alleine im Chemieraum aufbauen würde. Die Schüler können sein Verhalten und seine Aktivitäten kontinuierlich wahrnehmen und der Lehrer selbst nimmt ebenfalls wahr, dass er wahrgenommen wird. Diese Wahrnehmungswahrnehmungsstrukturen (Hausendorf 2003), die eine allgemeine Voraussetzung von Interaktion darstellen, haben im Chemieunterricht eine besondere Qualität, die über das bloße Wahrnehmen hinausgehen: Während 7 Die Verwendung des Demonstrativpronomens (das (Z. 08)) im Neutrum statt im Maskulinum (der Stopfen) findet sich in systematischer Weise dann, wenn der Lehrer nicht auf einzelne Gegenstände, sondern auf eine Kombination mindestens zweier Gegenstände im Sinne einer Apparatur (hier: Stopfen mit Glasrohr) Bezug nimmt. <?page no="24"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 24 der Experimente sind die lehrerseitigen Aktivitäten nicht nur als Durchführung, sondern immer auch als Vorführung relevant. Selbst wenn der Lehrer zeitweise blicklich nicht auf die Schüler orientiert ist, verdeutlicht er ihnen kontinuierlich durch andere Ausdrucksressourcen, dass sein Verhalten für die Schüler wahrnehmungsrelevant ist und er es in den Dienst einer gemeinsamen inhaltlich-thematischen Erarbeitung stellt: - Verbal setzt er eine kommentierende Äußerung (so: : nehm=wir mal, (Z. 10)) ein, die in gesprächsstruktureller Hinsicht zur Segmentierung seiner Aktivitäten dient (so (Z. 10)), sodass ihm die Schüler problemlos folgen können. Gleichzeitig leistet diese Äußerung einen wesentlichen Beitrag zur Bedeutungskonstitution: Der Lehrer adressiert die Schüler in besonderer Weise, da er als ‘Wir-Agent’ (nehm=wir mal (Z. 10)) Aktivitäten vollzieht, die er als gemeinsame Aktivitäten versteht. - Darüber hinaus setzt er körperlich-räumliche Ausdrucksressourcen ein: Seine zu den Schülern gerichtete Körpervorderseite, die er auch während der Laufwege (Abb. 2) zum Chemikalientisch aufrechterhält und seine zentrale Körperposition hinter dem Pult (Abb. 5) machen seine Orientierung auf die Schüler und den Aktivitätsvollzug für die Schüler sichtbar. Die Schüler dokumentieren ihrerseits immer wieder ihre Wahrnehmungsaktivitäten und verdeutlichen dem Lehrer durch ihr Verhalten, dass sie seinen Aktivitäten folgen können. So greift Jan (JA) die Äußerung des Lehrers so: : nehm=wir mal, (Z. 10) auf, indem er sein eigenes Wissen zum Thema einbringt und den Lehrer fragt, ob er Rotkohlsaft als Indikator nehmen werde: 12 JA: is=das jetzt rote beete oder rotkohlsaft, 13 was sie (nachher) nehmen- Mit dem Hinweis auf die Dokumentation der schülerseitigen Wahrnehmungsaktivitäten ist der Beitrag jedoch nicht hinreichend erfasst: Besonders interessant ist der genaue Zeitpunkt von Jans Beitrag. Indem er nämlich die Sprechpause des Lehrers (Z. 11) nutzt, um selbst verbal aktiv zu werden, verdeutlicht er sein Verständnis der aktuellen Aktivitäten des Lehrers. 8 Er versteht sie als relevanzrückgestufte Aktivitäten, die es ihm erlauben, eigene unterrichtsbezogene Äußerungen zu vollziehen. Durch die ratifizierende Antwort des Lehrers (das=ist RICHtig? , Z. 14) bestätigt dieser wiederum Jans Einschätzung, er ginge aktuell relevanzrückgestuften Aktivitäten nach. Dabei wird die unterschiedliche Funktionalität der lehrerseitigen Aktivitäten deutlich: Während der Aufbau des Versuches mehr der praktischen Realisierung des Experiments dient, ist die im Reagenzglas stattfindende Reaktion 8 Im Sinne von Deppermann (2008) und Deppermann/ Schmitt (2008) handelt es sich hier um eine Verstehensdokumentation. <?page no="25"?> Fragestellung 25 des Indikators zentral und sollte daher von allen Schülern beobachtet werden. Eine zentrale Anforderung des Lehrers besteht also darin, Relevanzen seines Verhaltens zu verdeutlichen und die Wahrnehmung der Schüler dahingehend zu strukturieren. Betrachtet man den Raum, in dem der Lehrer agiert, wird die Komplexität der Anforderung einer solchen Wahrnehmungsstrukturierung deutlich: Beim Lehrerexperimentiertisch handelt es sich um eine, relativ zu herkömmlichen Lehrerpulten, große Arbeitsfläche, auf der sich zahlreiche Gegenstände befinden, die für die Durchführung des Experiments unterschiedlich relevant sind. Darüber hinaus wird die Arbeitsfläche durch einen Chemikalientisch zusätzlich erweitert, der ebenfalls eine Fülle von Gegenständen aufweist, welcher sich der Lehrer im Rahmen eines Experiments immer wieder bedient (Abb. 2). Der Raumbereich wird außerdem für Schreibaktivitäten genutzt, wie es die teilweise beschriftete Tafel hinter dem Lehrer zeigt. Der Lehrer ist also in einem multifunktionalen Raumbereich aktiv, in dem zunächst einmal alles unter Wahrnehmungsverdacht steht. Daher stellt sich die Frage, woher die Schüler wissen, welchen Raumbereich es genau zu beobachten gilt. Wie genau gelingt es dem Lehrer unter den räumlichen Bedingungen, den Schülern situativ zu verdeutlichen, welche seiner Aktivitäten jeweils wahrnehmungsrelevant sind? Kann er voraussetzen, dass die Schüler seinen Aktivitäten weitgehend folgen, ohne explizit einen Beobachtungsauftrag formulieren zu müssen? Und wenn ja, welche Auswirkungen hat dies für das Beteiligungsformat der Schüler? Im Bezug auf die vorliegende Sequenz liefert die Beobachtung der Koordinierung unterschiedlicher Ausdrucksressourcen wie Prosodie, Blickverhalten und Körperposition des Lehrers erste Hinweise. Diese führt zu folgenden, allgemein analytischen Fragen: Welche multimodalen Verfahren setzt der Lehrer zur Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht ein? Und wie kann die Funktionalität multimodaler Verfahren als Form der Wahrnehmungsstrukturierung auf konzeptueller Ebene dargestellt werden? Diesen Fragen wird im vierten Kapitel „Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht“ (Kap. 4) nachgegangen. Bezieht man das konkrete Verhalten des Lehrers während der Äußerung von Jan in die Analyse mit ein, wird ein weiterer Aspekt erkennbar, der mit Jans Einschätzung einer relevanzrückgestuften Aktivität des Lehrers zusammenhängt: Der Lehrer nimmt nach der Äußerung so: : nehm=wir mal, (Z. 10) zwei Reagenzgläser und geht zu dem Wasserhahn, der auf der rechten Seite des Tisches installiert ist. Dort befüllt er beide Reagenzgläser zur Hälfte mit Wasser, während Jan den ersten Teil seiner Frage formuliert (Z. 12) (Abb. 6). Der Lehrer kehrt anschließend zur Mitte des Pultes zurück, wobei Jan seine Frage abschließt (Z. 13-14) (Abb. 7). Als der Lehrer die Reagenzgläser zurückstellt, formuliert er seine ratifizierende Antwort das=ist RICHtig? (Z. 15) (Abb. 8). <?page no="26"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 26 Dabei blickt er wieder zu keinem Zeitpunkt zu Jan, sondern verfolgt kontinuierlich seine experimentellen Tätigkeiten. Die Relevanzrückstufung der Aktivität resultiert nicht nur aus der interaktiven Herstellung der Interaktionsbeteiligten, indem sie sich unterschiedlicher Ausdrucksressourcen bedienen. 10 LE: so: : nehm=wir mal, 11 (6.93) 12 JA: is =das jetzt rote bete oder rotkohlsaft, 6 13 was sie (nachher) nehmen- 14 ( ) 7 15 LE: das =ist RICHtig? 8 <?page no="27"?> Fragestellung 27 Es ist offensichtlich kein Zufall, dass Jan in dem Moment verbal aktiv wird, als der Lehrer am Wasserhahn die Reagenzgläser befüllt: Der Lehrer befindet sich in einer von der Apparatur randständigen Position und nutzt einen Teil des Experimentiertischs, der aus pragmatischen Gründen installiert wurde: Zum Experimentieren wird immer wieder auch Wasser benötigt, zu dem der Lehrer auf diese Weise bequem Zugriff erhält. So erfolgt das Abfüllen von Wasser aus pragmatischen Gründen und hat keine demonstrierende Qualität. Allein durch die Art und Weise, wie der Lehrer den Raum nutzt, d.h. welche Position er einnimmt und welche Geräte er bedient, können die Schüler also Rückschlüsse auf die Relevanz seiner Aktivitäten ziehen. Im Rückschluss auf die Anforderung der Wahrnehmungsstrukturierung ist der Lehrer offensichtlich teilweise handlungsentlastet, da der Raum selbst mit weitreichenden Implikationen für die Interaktion verbunden ist. Bezogen auf die lehrerseitigen Aktivitäten stellt der Raum einen multifunktionalen Bereich zur Verfügung, der für die Durchführung von Experimenten hergerichtet ist. Der Wasserhahn und die Kacheln des Tisches liefern dafür starke Hinweise. Der Lehrer kann aber auch die Tafel nutzen und wichtige Ergebnisse notieren. Die besondere Herrichtung des Raums für die dort stattfindende Interaktion wird besonders deutlich, wenn man die Sitzreihen der Schüler betrachtet. Alle Sitzreihen sind in die gleiche Richtung ausgerichtet (Abb. 9) und konstituieren dadurch ein ‘Vorne’, das unter anderem durch den Experimentiertisch und die Tafel repräsentiert ist. Angesichts der Orientierung der Schüler kann der Lehrer also davon ausgehen, bei all seinen Aktivitäten wahrgenommen zu werden. Er ist zu einem gewissen Grad handlungsentlastet, da er nicht permanent dafür sorgen muss, die Aufmerksamkeitsausrichtung der Schüler aufrechtzuerhalten. Das Standbild 9 zeigt darüber hinaus die an einen Hörsaal erinnernde, ansteigende Anordnung der Sitzreihen, wodurch die Ausrichtung auf das ‘Vorne’, das es zu beobachten gilt, noch signifikanter wird. 9 <?page no="28"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 28 Man kann also einen Schritt „hinter die Interaktion“ zurück gehen und nach dem interaktiven Potenzial fragen, das der Chemieraum interaktionsvorgängig zur Verfügung stellt. Aus dieser Perspektive ergibt sich eine Reihe von Fragen, die alle aus der Annahme erwachsen, dass die Architektur des Raums mit Implikationen für die Interaktion verbunden ist: In einem ersten Schritt kann beispielsweise nach der Strukturierung des Raums gefragt werden. Wodurch werden einzelne Raumbereiche konstituiert und welche Auswirkungen haben sie auf die spezifischen Beteiligungsformate der Interaktionsbeteiligten? Welche Präsenzformen werden durch die Raumarchitektur besonders nahegelegt? Und allgemeiner: Welches interaktive Problem soll durch die Ausstattung des Raums gelöst werden? In einem zweiten Schritt soll die tatsächliche Raumnutzung von Teilnehmern untersucht werden: Wird das interaktionsarchitektonische Potenzial des Raums von den Teilnehmern genutzt? Welche Positionen nehmen sie im Raum ein und welche Konstellationen ergeben sich daraus für die Teilnehmer untereinander? Mit diesen Fragen beschäftigt sich das dritte Kapitel im analytischen Teil „Der Chemiesaal“. Im weiteren Verlauf des Beispiels wird die vorangegangene Frage-Antwort- Sequenz im Sinne einer Expansion fortgeführt: 16 LE: mit rote bete haben=wir auch schon indikator dann geMACHT, 17 (---) 18 also naTÜRliche stof fe , 10 19 (---) 11 <?page no="29"?> Fragestellung 29 20 ver ändern AU CH (.) die farbe- 12 13 Der Lehrer bestätigt Jans Annahme zunächst insofern, als er darauf verweist, dass sie rote Beete bereits als Indikator eingesetzt haben (Z. 16). Währenddessen sortiert er die mit Wasser gefüllten Reagenzgläser im Reagenzglasständer nebeneinander ein (Abb. 10). Den Blick hält er dabei kontinuierlich auf die Apparatur gerichtet. In einer durch das Wort also eingeleiteten Zusammenfassung verallgemeinert er seine vorherige Aussage, indem er nicht mehr nur von roter Bete (Z. 16), sondern grundsätzlich von natürlichen Stoffen (Z. 18) spricht, die ihre Farbe auch (Z. 20) verändern können. Dabei senkt er die Arme und geht einen Schritt zurück (Abb. 11), dreht seinen Oberkörper nach rechts (Abb. 12) und wechselt schließlich auch seine Blickrichtung, indem er nun zum Chemikalientisch schaut (Abb. 13). Das körperlich-räumliche Verhalten des Lehrers ist insofern projektiv, als es bereits seine Vororientierung auf etwas verdeutlicht, das in Zusammenhang mit dem Chemikalientisch stehen muss, während er auf verbaler Ebene zurückliegende Relevanzen bearbeitet. Wenngleich der Einsatz unterschiedlicher Ausdrucksressourcen immer simultan, also gleichzeitig erfolgt, müssen sie nicht auch inhaltlich-thematisch aufeinander bezogen sein. In der Gesprächspause läuft er schließlich zum Chemikalientisch und nimmt aus der Fülle von Gegenständen ein Glasfläschchen in die Hand, in der sich eine rote Flüssigkeit befindet (Abb. 14). 21 (6.65) 14 <?page no="30"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 30 Auf der Grundlage des Sequenzanfangs, in dem der Lehrer sein Vorhaben verdeutlichte, flüssige Indikatoren einzusetzen, ist davon auszugehen, dass es sich bei dem Fläschchen um einen solchen flüssigen Indikator handelt. Dem Glasfläschchen kommt daher eine für die Unterrichtsphase zentrale Bedeutung zu, da der Lehrer damit fachspezifische Inhalte vermitteln kann. Er steht also vor der Aufgabe, den Schülern die Relevanz des Objekts zu verdeutlichen. Als der Lehrer zur Apparatur zurückkehrt, formuliert er folgende Äußerung: 22 LE: WIR haben zum beispiel stof fe 15 23 wie=wir jetzt wie HIER? (--) 24 die sen FARB stoff der in WASser oder ALkohol je nach dem gelöst ist- 16 17 25 je nach dem welche EIGenschaften der hat. (---) Der Lehrer referiert mit dem deiktischen Ausdruck diesen (Z. 24) auf das Objekt und öffnet gleichzeitig seine linke Hand so, dass die Farbe des Indikators für die Schüler sichtbar wird (Abb. 16). Das Sichtbarmachen des Objekts wird unmittelbar im Anschluss durch die vertikale Armbewegung des Lehrers zusätzlich verdeutlicht, wobei er das Objekt inhaltlich als Farbstoff (Z. 24) spezifiziert (Abb. 17). Hierbei wird eine zentrale Eigenschaft von fachspezifischen Gegenständen im Chemieunterricht deutlich: Oft sind es nicht die Labor- <?page no="31"?> Fragestellung 31 geräte selbst, die inhaltlich-thematisch relevant und daher von Schülern zu beobachten sind. Gegenstand der Wissensvermittlung sind vielmehr die Substanzen, d.h. Chemikalien, die in den Glasgeräten aufbewahrt werden. Es ist also nicht nur die Aufgabe des Lehrers, Objekte im Unterricht einzuführen, sondern auch zu verdeutlichen, ob das Objekt oder sein Inhalt für seine Unterrichtszwecke von Bedeutung sind. Nach dem Hochhalten des Objekts nennt der Lehrer abschließend den Fachterminus für den von ihm eingesetzten Indikator: 26 LE: äh : : (--) 18 27 das=ist jetzt BROM(.)thyMOL(-) BLAU; 19 Dabei gibt er einige Tropfen des Indikators in das Reagenzglas mit Wasser (Abb. 18) und stellt mit Abschluss der Formulierung des Fachbegriffs Bromthymolblau (Z. 27) das Glasfläschchen auf dem Experimentiertisch ab (Abb. 19). Das vom Lehrer eingeführte Objekt wird nun also auch experimentell eingesetzt. Im Hinblick auf die Koordinierung von verbalen und körperlichräumlichen Ausdrucksressourcen ist interessant, dass die Formulierung des Fachbegriffs ‘Bromthymolblau’ erst nach dem experimentellen Einsatz des Indikators erfolgt. Während der Lehrer auf den Indikator zunächst allgemein mit Farbstoff (Z. 24) referiert, führt er beim Abschluss des Experiments den <?page no="32"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 32 Fachbegriff ein. Für die Objekteinführung ist also auch die Einführung von Fachlexik konstitutiv, die hier zeitlich nach der Manipulation des Objektes erfolgt. Der Lehrer kann hierfür die klassische Ostension nutzen, sodass die Begriffseinführung höchst ökonomisch erfolgt. Das ostentative Zeigen manifestiert sich nicht nur in der spezifischen Manipulation und Gestikulation, sondern ist auch in den sprachlichen Aktivitäten (jetzt wie HIER (Z. 23), diesen (Z. 24), das=ist jetzt (Z. 27)) hoch markant enthalten. Bei der Analyse des letzten Teils der Sequenz zeigt sich, wie komplex sich die Einführung von Objekten im Chemieunterricht darstellt. Der Lehrer muss aus einer Fülle von Gegenständen einzelne Objekte relevant setzen, ihren Status für das Experiment verdeutlichen, sie im Experiment konkret einsetzen und nebenbei fachsprachliches Wissen vermitteln. Wie gelingt es dem Lehrer, dieses komplexe Unterfangen so zu meistern, dass ihm die Schüler folgen können? Kann hierfür das Demonstrieren von Objekten als generelle Strategie verstanden werden? Diese Frage ist in methodischer Hinsicht implikationsreich: Um sie adäquat beantworten zu können, ist es erforderlich über die Einzelfallanalyse hinaus mehrere Fälle im Sinne einer Kollektion zu vergleichen. Dies erfolgt im fünften Kapitel der Studie „Verfahren der Einführung von Objekten“ (Kap. 5). Insgesamt gliedert sich der analytische Teil der Arbeit in drei aufeinander aufbauende Bereiche: Zunächst werden in Kapitel 3 „Der Chemiesaal“ das interaktionsarchitektonische Potenzial des Chemieraums und seine Implikationen für Interaktion im Chemieunterricht analysiert. In Kapitel 4 „Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht“ erfolgt eine Fokussierung auf die Durchführung von Experimenten im Chemieunterricht, deren multimodale, interaktive Realisierung durch Interaktionsbeteiligte im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht. In Kapitel 5 „Verfahren der Einführung von Objekten“ soll, den empirisch-analytischen Teil abschließend, eine spezifische (multimodale) Praktik im Rahmen von Experimentalphasen rekonstruiert werden. Nach dem zentralen analytischen Teil der Arbeit folgt ein didaktisch-orientiertes Kapitel, in dem ausgewählte Analyseergebnisse des ersten Teils unter einer didaktischen Perspektive reinterpretiert werden. Dabei soll nicht nur allgemein nach dem Nutzen des multimodalen Ansatzes für die Didaktik und Lehrerbildung gefragt werden, sondern es sollen konkret Strategien aufgezeigt werden, die sich für das faktische Handeln der Lehrer zur Bearbeitung fach- und unterrichtsspezifischer Anforderungen als produktiv erwiesen haben. <?page no="33"?> Forschungsstand 33 2.2 Forschungsstand 2.2.1 Ethnomethodologische Konversationsanalyse Die der Arbeit zugrundeliegende Perspektive auf Interaktion und die damit zusammenhängende Analysemethode geht aus der ethnomethodologischen Konversationsanalyse hervor, deren Ansatz im Folgenden skizziert werden soll. Dabei geht es nicht um eine detaillierte, an Vollständigkeit orientierte Beschreibung der Forschungsrichtung, als vielmehr um die Darlegung der methodisch-methodologischen Kerngedanken, die den Ausgangspunkt meines analytischen Vorgehens bilden und für mein spezifisches Erkenntnisinteresse von Bedeutung sind. Eine umfassende Darstellung der ethnomethodologischen Konversationsanalyse findet sich in zahlreichen Beiträgen, von denen hier einige genannt sein sollen: Bergmann (1981, 1994), Heritage (1995), Ten Have (1999), Hutchby/ Wooffitt (1998), Silverman (1998) und die jüngst erschienen Arbeiten von Seedhouse (2004), Sidnell (2010) und Mondada (2013a). Die Konversationsanalyse hat sich in den 1960er Jahren im Rahmen der von Harold Garfinkel begründeten Ethnomethodologie als Anwendungsbereich herausgebildet und teilt daher die soziologische Perspektive auf interaktive Prozesse. Soziale Wirklichkeit ist dem Untersuchungsansatz zufolge nicht interaktionsvorgängig vorhanden, sondern wird erst im Vollzug alltäglicher Handlungen durch die Beteiligten lokal ausgehandelt und hergestellt. Diese „Vollzugswirklichkeit“ (Bergmann 1994, S. 6) ist durch die Anwendung verschiedener Methoden und Praktiken charakterisiert, mittels derer Beteiligte ihre Handlungen noch während des Vollzugs verstehbar machen: Ethnomethodological studies analyze everyday activities as members' methods for making those same activities visibly-rational-and-reportable-for-all-practical-purposes, i.e., ‘accountable’, as organizations of commonplace everyday activities. (Garfinkel 1967, S. vii) Die sinnhafte Hervorbringung gesellschaftlicher Wirklichkeit ist daher als interaktive Leistung der Beteiligten zu verstehen, die ihre Handlungen wechselseitig aufeinander beziehen, abstimmen und interpretierbar machen. Neben der Gleichzeitigkeit von Handlungsbeschreibung und praktischer Handlungsrealisierung wird die Reflexivität unserer Handlungen in Form der ‘Indexikalität’ sichtbar. Unser Handeln ist im Moment des Vollzugs auf die „situativen und kontextuellen Gegebenheiten“ (Bergmann 1981, S. 13) bezogen, die wiederum im Laufe des Geschehens fortwährend verändert und neu hergestellt werden. Die ‘Indexikalität’ verweist demzufolge auf die wechselseitige Konstitution von Handlungen, Situation und Kontext. 9 9 Kontext wird in der Konversationsanalyse verstanden als „inherently locally produced, incrementally developed and, by extension, as transformable at any moment“ (Drew/ Heritage 1992, S. 21). <?page no="34"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 34 Der ethnomethodologische Forschungsansatz bildet den Ausgangspunkt der von Harvey Sacks und Emanuel Schegloff begründeten Konversationsanalyse, die es sich zur Aufgabe macht, sprachliche Interaktion zu untersuchen. Sie fragt nach sprachlichen Methoden, Mechanismen und Verfahren, mittels derer Beteiligte im Gespräch gemeinsam Bedeutung konstituieren. Dabei gilt für alle interaktiven Phänomene das Prinzip der Geordnetheit, auf das Sacks erstmals mit der Prämisse ‘order at all points’ (Sacks 1984) explizit verwies. Die Geordnetheit des empirisch analysierten Materials ergibt sich nicht nur für den Konversationsanalytiker, sondern ist in erster Linie eine von den Beteiligten füreinander methodisch produzierte Geordnetheit, die untrennbar mit dem jeweiligen interaktiven Phänomen verbunden ist. Ausgehend von dieser Prämisse ist es nur zu verständlich, dass der ethnomethodologischen Konversationsanalyse kein Methodenkanon zugrundeliegt, wie etwa eine Anleitung zur schrittweisen Erschließung empirischer Daten. Das Erkenntnisinteresse des Analytikers bildet nicht nur das interaktive Phänomen selbst, sondern auch die Methoden und analytischen Verfahren, die er zur Entdeckung und Identifizierung des Phänomens anwendet. Die Untrennbarkeit von Untersuchungsgegenstand und seiner methodischen Erschließung wurde früh von Garfinkel als Maxime ’unique adequacy requirement’ (Garfinkel 1967, 2002) formuliert. In dem Postulat Garfinkels wird bereits deutlich, dass die Arbeit des Konversationsanalytikers, trotz der Absage an jegliche Kanonisierung methodischer Regeln, nicht willkürlich ist. Im Sinne der ‘analytischen Mentalität’ (Bergmann 1981; Schenkein 1978) geht es darum, Fragestellungen aus den empirischen Daten selbst zu entwickeln und keine analysevorgängigen Annahmen an die Daten heranzutragen, die gegebenenfalls den Blick auf die zentralen Fragen des Untersuchungsmaterials versperren würden. Sacks expliziert diese Form von Suchheuristik in seinem 1984 erschienenen Aufsatz „Notes on methodology“: I mean not merely that if we pick any data we will find something, but that if we pick any data, without bringing any problems to it, we will find something. And how interesting what we may come up with will be is something we cannot in the first instance say. (Sacks 1984, S. 27) Die analytische Mentalität kann durch eine Reihe von Maximen und Arbeitsprinzipien charakterisiert werden, von welchen hier einige exemplarisch genannt sein sollen: 10 10 Zu einer ausführlichen Darstellung der Arbeitsprinzipien siehe Bergmann (1981). <?page no="35"?> Forschungsstand 35 1) Untersuchungsgegenstand bilden immer ‘natürliche’, sprachliche oder nichtsprachliche Interaktionen. 2) Dokumentiert werden die Interaktionen als Audio- oder Videoaufnahmen, die die Interaktionen beliebig oft reproduzierbar machen und daher eine detaillierte Rekonstruktion der von den Beteiligten eingesetzten Methoden überhaupt erst ermöglichen. Während Sacks (1995) und Schegloff (1968) zunächst mit Audioaufnahmen von Telefongesprächen einen spezifischen Interaktionstypus untersuchten, in dem Beteiligte nur verbal interagierten, weitete sich der Gegenstandsbereich der Konversationsanalyse auf andere Interaktionstypen aus und fokussierte vor allem face-to-face-Interaktion, in der die Beteiligten auch visuell in Kontakt treten. Auf der Grundlage der audiovisuellen Daten werden Transkripte erstellt, die vor allem verbale Äußerungen eins zu eins als Text fixieren und somit das Material jederzeit verfügbar und rezipierbar machen. Die Detailgenauigkeit der Transkripte kann sich je nach Untersuchungsgegenstand unterscheiden und findet von der einfachen Notation der Äußerungsrealisierung bis hin zu prosodischen und intonatorischen Feinheiten Verwendung (Selting et al. 1998, 2009). 3) Im ersten analytischen Arbeitsschritt geht es darum, durch Beobachtung relevante Untersuchungsgegenstände und Fragestellungen aus den Daten zu entwickeln, die eine Geordnetheit und Struktur erkennen lassen. 4) Alle interaktiven Phänomene werden dabei als Lösung für ein strukturelles Problem verstanden, das im zweiten analytischen Arbeitsschritt zu identifizieren ist. 5) In einem dritten Arbeitsschritt soll schließlich die gesamte ‘Maschinerie’ der Gesprächsentwicklung durch die sequenzielle Rekonstruktion der kleinsten, sinnstiftenden Äußerungseinheiten (‘turn’) beschrieben werden. Eine Äußerungseinheit stellt immer ein strukturelles Angebot für die nächste Äußerungseinheit dar, die Beteiligte in präferierter oder dispräferierter Form nutzen können (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974). So identifizieren beispielsweise Sacks und Schegloff bestimmte Sequenzpaare als Teil dieser Maschinerie, die im Falle der ‘Aufforderung-Antwort’-Sequenz (‘summonsanswer-sequence’) Beteiligten in Eröffnungssequenzen einen koordinierten Einstieg in die Interaktion erlauben (Schegloff 1968). Werden die durch den ersten Teil der Paarsequenz hervorgerufenen Erwartungen nicht erfüllt, manifestiert sich die Nichterfüllung als interaktiv relevantes Phänomen, wie etwa in der Wiederholung der Aufforderung (Schegloff/ Sacks 1973). Interaktionsbeteiligte setzen die ‘Gesprächsmaschine’ einerseits also dadurch in Gang, dass ihre Äußerungseinheiten bestimmte Strukturzwänge etablieren (‘structural provisions’). Gleichzeitig steht den Beteiligten im- <?page no="36"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 36 mer auch eine Reihe von Handlungsalternativen zur Verfügung, derer sie sich bedienen können (‘participants′ work’), auch wenn das formal beschreibbare Strukturschema eine andere Handlung erwartbar macht (Jefferson 1972). 6) Ein weiteres Arbeitsprinzip ist die Kombination von Fallanalyse und kollektionsbasierter Analyse. Der wechselseitige Beitrag beider Arbeitsweisen für das zu untersuchende Phänomen folgt ebenfalls dem von Garfinkel formulierten Postulat der ‘unique adequacy requirement’. Je nach Untersuchungsgegenstand können sich Fallanalyse und kollektionsbasierte Analyse in der Reihenfolge ihrer Anwendung und ihrer Funktion unterscheiden. Die ethnomethodologische Konversationsanalyse ist seit ihren Anfängen methodisch, theoretisch und konzeptionell an den verbalen Anteilen menschlicher Interaktion orientiert. Obwohl die Priorisierung des Verbalen durch die technischen Bedingungen theoretisch nicht motiviert wurde, war der Einsatz von Tonbandaufnahmen als alleinige Datengrundlage für die analytische Perspektive durchaus folgenreich. Ausgehend von dem ethnomethodologischen Prinzip, analytische Fragestellungen „from the data themselves“ (Schegloff/ Sacks 1973, S. 291) zu entwickeln, stellten Tonbandaufnahmen eo ipso nur sprachliche Phänomene zur Verfügung, da sie die visuellen Anteile von Interaktion methodisch nicht zugänglich machten. Der Begriff ‘Conversation’ war sozusagen Programm und verdeutlichte, auch nachdem er später durch den Begriff ‘talk-in-interaction’ ersetzt wurde, die selbst auferlegte Restriktion auf die sprachlichen Anteile von Interaktion. 11 Fast alle Konzepte der klassischen Konversationsanalyse, wie etwa ‘turn-taking’, ‘overlap’, ‘conditional relevance’ oder ‘repair’, sind Ergebnis der Rekonstruktion unterschiedlicher „speech exchange systems“ (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974, S. 696). Der technologische Fortschritt veränderte somit nicht nur die Datengrundlage, sondern auch die analytischen Fragestellungen, die sich immer aus den Daten ergeben. Die heutigen technischen Möglichkeiten der digitalen Videodokumentation machen neben der Hörbarkeit auch die Sichtbarkeit interaktiver Bedeutungskonstitution analytisch zugänglich. Es können nun nicht mehr nur die verbalen Anteile der Interaktion untersucht werden, sondern das gesamte körperliche Verhalten, das Teilnehmer zur Herstellung von Interaktion einsetzen, wie etwa Blickkontakt, Gestikulation oder Körperorientierung. Die veränderte technologische Forschungspraxis ist mit weitreichenden Implikationen für die ethnomethodologische Konversationsanalyse auf unterschiedlichen Ebenen verbunden (Schmitt 2005): 11 Eine Definition beider Begriffe findet sich bei Schegloff (1968, 1987, S. 101). <?page no="37"?> Forschungsstand 37 1) Modifikation und Re-Konzeptualisierung konversationsanalytischer Gegenstände: Bereits in den 1980ern beschäftigte sich eine kleine Gruppe von Forschern mit face-to-face-Interaktion auf der Grundlage von audiovisuellen Daten und versuchte der Vielschichtigkeit von Interaktion durch die Beachtung anderer Modalitäten Rechnung zu tragen. So untersuchte beispielsweise Goodwin (1980), inwiefern das Blickverhalten den Äußerungsbeginn von Teilnehmern strukturiert und die ‘Gesprächsmaschine’ fortwährend beeinflusst. Andere Studien rekonstruierten im Rahmen professioneller Settings den Zusammenhang von Verbalität und Körperbewegungen in Arzt- Patienten-Gesprächen (Heath 1984). Die Analyse der nur visuell wahrnehmbaren Modalitäten stand jedoch immer im Dienste der Rekonstruktion sprachlicher Interaktion und hielt an verbal-orientierten Konzepten, wie etwa der Sprecher- und Hörer-Kategorie, fest. Auch die Dichotomie von verbaler und nichtverbaler (auch: nonverbaler) Interaktion (Goodwin 1980, S. 272), die der Komplexität von Interaktion zumindest beschreibungssprachlich nicht gerecht wurde, offenbarte die anhaltende Priorisierung des Gesprochenen. Im Zuge der Analyse weiterer Modalitäten wurde die ethnomethodologische Konversationsanalyse unter der Bezeichnung ‘Multimodale Konversationsanalyse’ 12 ausgeweitet und modifizierte oder re-konzeptualisierte bisherige konversationsanalytische Konzepte und Gegenstände (Goodwin 1981, 2000b; Heath 1986; Streeck 1993, 2009; Mondada 2007a, 2007b, 2009a; Schmitt 2004, 2005). So wurde beispielsweise die ‘turn-taking-Maschinerie’ im Hinblick auf das Blickverhalten und die Gestikulation von Teilnehmern modifiziert (Mondada 2007b; Schmitt 2005). Gesprächspausen werden nunmehr als ‘verbale Auszeiten’ re-konzeptualisiert, in der die ‘turn-taking- Maschinerie’ im Rahmen wechselseitiger Wahrnehmung, wenn auch lautlos, strukturiert weiterläuft (Schmitt 2004). 2) Konstitution neuer Gegenstände: Die veränderte, audiovisuelle Datengrundlage hat neben Modifikationen konversationsanalytischer Konzepte insbesondere für den Bereich der Gegenstandkonstitution weitreichende Konsequenzen. So bildet beispielsweise die kognitive Arbeit in kooperativen Arbeitsbeziehungen einen neuen Untersuchungsgegenstand, in dem Monitoring-Aktivitäten und ihre inszenatorische Darstellung ein Dokument kognitiver Arbeit repräsentieren (Schmitt 2005; Schmitt/ Deppermann 2007). Die Ausweitung des Komplexitätsgrades von alltäglicher Interaktion zu professionellen Settings, die eng mit dem audiovisuellen Medium verbunden ist, geht ebenfalls mit der Etablierung neuer Analysegegenstände einher. In den 1990er Jahren entsteht eine ganze Reihe von Studien, die 12 Zur Begriffsdifferenzierung Multimodale Konversationsanalyse und multimodale Interaktionsanalyse siehe Positionspapier Ko-Konstruktion Schmitt (i.Dr.). <?page no="38"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 38 ‘workplace studies’, die sich erstmals im Rahmen professioneller Handlungsbedingungen mit der Beschreibung und Analyse von Kooperationsformen am Arbeitsplatz auseinandersetzen (Suchman 1987; Heath 1984; Goodwin 1984, 1996; Schegloff 1984; Bergmann 1991) und damit Pionierarbeit auf diesem Gebiet leisten. Eine zentrale Studie untersucht beispielsweise unterschiedliche Arbeitssettings am Flughafen, die mit bis zu sieben Kameras dokumentiert werden (Suchman 1993; Goodwin/ Goodwin 1996). Neben Kooperationsformen, die durch Ko-Präsenz und Ko-Orientierung von Interaktionsbeteiligten charakterisiert sind, untersuchen die Autoren der ‘workplace studies’ auch technisch vermittelte Interaktion, wie in der von Heath initiierten Studie zur Interaktion in Kontrollräumen der Londoner U-Bahn (Heath/ Luff 1992, 2000). Das Erkenntnisinteresse weitet sich mit den ‘studies of work’ 13 also relativ früh auf neue Untersuchungsgegenstände aus, wie etwa Räumlichkeit, Wahrnehmbarkeit und Materialität. So untersuchen Hindmarsh und Heath, wie Gegenstände in der Interaktion als Arbeitsinstrumente eingesetzt und manipuliert werden (Hindmarsh/ Heath 1998, 2000a). Es folgen zahlreiche weitere Studien zur Interaktion in Call Centern und Notrufzentralen (Whalen/ Zimmermann 1987; Whalen 1995), in Operationssälen (Koschmann et al. 2007; Mondada 2003, 2007c), in Fernsehstudios (Broth 2008) etc. 3) Reflexion konversationsanalytischer Konzepte: Im Bezug auf einige konversationsanalytische Konzepte ist die veränderte technologische Forschungspraxis mit sehr weitreichenden Implikationen verbunden. Dies geht soweit, dass einige dieser Konzepte im Rahmen einer multimodalen Perspektive auf Interaktion nicht mehr haltbar sind, weil sie nur auf der Grundlage des Verbalen Gültigkeit besitzen. Schmitt (2005) verdeutlicht dies anhand des konversationsanalytischen Konzepts des overlap. Unter einer verbal-orientierten Perspektive auf Interaktion ist der overlap ein konstitutiver Bestandteil der turn-taking-Maschinerie und wird als Zeitspanne definiert, in der zwei oder mehrere Interaktionsbeteiligte gleichzeitig sprechen (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974). Die Simultaneität von Gesprächsbeiträgen stellt hierbei eine kurzzeitige Aufhebung der grundlegenden Orientierung „one party talks at a time“ (ebd., S. 706) dar. Geht man jedoch davon aus, dass Interaktionbeteiligte nicht nur verbal aktiv sind, sondern alle zur Verfügung stehenden Ressourcen einsetzen, erweist sich die Simultaneität als Normalfall (Deppermann/ Schmitt 2007). Beteiligte produzieren im Laufe 13 Die ‘studies of work’ gehen aus der Ethnomethodologie hervor und beschäftigen sich ursprünglich v.a. mit der Arbeit von Wissenschaftlern (Knorr-Cetina/ Mulkay (Hg.) 1983; Lynch 1985, 1993; Lynch/ Livingston/ Garfinkel 1983). Die Forschungsrichtung ‘workplace studies’ bezieht sich hingegen auf die jüngsten Arbeiten, die initiativ am Xerox PARC entstanden sind (Mondada 2013a, S. 216). Einen ausführlichen Überblick über Inhalte und Methoden der Studien siehe Mondada (2002b). <?page no="39"?> Forschungsstand 39 der Interaktion permanent und simultan Verhaltensweisen, die für den gemeinsamen Aktivitätszusammenhang relevant sind. Insofern stellt die Simultaneität unter multimodaler Sicht neben dem Konstruktionsprinzip der Sequenzialität sogar einen weiteren konstitutiven Mechanismus dar. Einen wichtigen Ausgangspunkt der multimodalen Konversationsanalyse 14 bilden die sogenannten ‘gesture studies’, die sehr früh den Zusammenhang von Sprache und Gestikulation untersuchen (Kendon 1972, 1980, 1994, 2004; McNeill 1987, 1992, 2000, 2005). Dabei wird deutlich, wie präzise Sprache und Gestikulation zeitlich koordiniert und wechselseitig aufeinander abgestimmt sind. Den ‘gesture studies’ zufolge entstehen Gesten im Äußerungsprozess 15 (Kendon 1980) und produzieren gemeinsam mit der verbalen Äußerung sogenannte „visible acts of utterance“ (Kendon 2004). Ausgehend von den ‘gesture studies’ bildet die Gestikulation von Beteiligten auch in der multimodalen Konversationsanalyse immer wieder einen zentralen Untersuchungsgegenstand (Goodwin 1986, 1994, 2000a, 2000b, 2003a, 2003b, 2007a, 2007b; Heath 1986, 2002, 2011; Heath/ Luff 2007; LeBaron/ Streeck 2000; Schegloff 1984; Streeck 1988, 1993, 1994, 1995, 2008, 2009). Gestikulation wird hier jedoch als eine Ausdrucksressource neben vielen anderen Ressourcen verstanden, die situationssensitiv ist, in der Interaktion lokal hergestellt wird und nicht losgelöst von der materiellen und räumlichen Umgebung betrachtet werden kann. Goodwin zeigt in seinen Studien, in welchen er Archäologen bei Ausgrabungen dokumentiert, dass Gestikulation immer im Rahmen des gesamten ‘participation framework’ verstanden werden muss, also sowohl die Aktivitäten des Produzenten als auch die des Adressaten einzubeziehen sind: [...] a particular class of gestures cannot be understood by taken into account only a gesturing body and its accompanying talk. [...]. However, systematically placing a gesture within a relevant participation framework, in other words, designing it to be seen and taken into account by an addressee, is one method for publicly establishing the communicative of a particular class of gestures. (Goodwin 2007a, S. 209) Ein ähnlicher interaktiver Zugang zeigt sich auch bei LeBaron und Streeck, die Gestikulationen im Rahmen von Architekturklassen und Do-it-yourself- Workshops untersuchen: Gestures, in our view, originate neither in the speaker's mind nor in the process of speaking, even though speech and gesture are routinely coordinated. Rather gestures originate in the tactile contact that mindful human bodies have with the physical world. (LeBaron/ Streeck 2000, S. 119) 14 Einen detaillierten Überblick zur Entstehung, Fragestellungen und aktuellen Forschungsschwerpunkten der multimodalen Konversationsanalyse findet sich bei Mondada (2013b). 15 McNeill (1985) leitet die Entstehung der Gesten aus den ‘mental representations’ ab. <?page no="40"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 40 Den ersten multimodal orientierten Studien (Goodwin 1986; Heath 1986; Schegloff 1984; Streeck 1988) folgt eine Reihe weiterer Studien, die in systematischer Weise nicht nur den Einsatz spezifischer Ausdrucksressourcen, wie etwa Mimik, Blickverhalten, Körperposition und Körperorientierung, Kopfbewegungen etc. untersuchen, sondern auch die Koordination einzelner Ressourcen in ihrer gesamten Komplexität. Heath (1989) betrachtet beispielsweise das Zusammenspiel von Körperposition, Körpermanipulation und Blickverhalten und Streek (1993) untersucht die Koordination von Gestikulation und Blickverhalten. In diesem Zusammenhang entstehen im englischsprachigen und im deutschsprachigen Raum zahlreiche Arbeiten zur Deixis in der face-to-face-Interaktion (Clark 2003, 2007; Goodwin 1994, 2003a; Hausendorf 2003; Heath 1986, 2002; Hindmarsh/ Heath 2000b; Mondada 2002a, 2007b, 2012b; Stukenbrock 2008, 2009a, 2009b, 2014, 2015), die neben der Sprache systematisch andere interaktive Faktoren, wie etwa Köpergebundenheit, Wahrnehmung, Raumbezogenheit, Simultaneität von Ausdrucksressourcen etc. mit einbeziehen. Die Studien zeigen, welche interaktive Arbeit bei einer ‘deictic action’ notwendig ist, indem Beteiligte nicht nur durch deiktische Referenzen, d.h. den Einsatz von Verbalität und Gestikulation, den Aufmerksamkeitsfokus anderer Beteiligter gewinnen, sondern ihre gesamten Körper auf das Referenzobjekt hin ausrichten müssen. Goodwin (2000b) zeigt beispielsweise, wie Beteiligte ein gemeinsames sogenanntes ‘visual field’ herstellen müssen, das kontinuierlich aufrechterhalten, überprüft und verstanden werden muss, um herauszufinden, wohin einzelne Beteiligte zeigen. Hindmarsh/ Heath (2000b) untersuchen das Recipient Design von ‘pointing gestures’ die von Beteiligten immer nur dann realisiert werden, wenn sie sicherstellen können, dass das Referenzobjekt für alle Beteiligten sichtbar ist. Mondada (2007a) zeigt im Rahmen ihrer Arbeit zum Interaktionsraum, wie Beteiligte ihre Körper in der Interaktion ausrichten und bestimmte räumliche Konfigurationen etablieren, bevor überhaupt verbale Deiktika und gestikulatorische Referenzen realisiert werden (können). Deiktische Ausdrücke und Referenzen müssen daher immer im Rahmen und als Teil von Aktivitäten verstanden werden, die den Kontext stetig mitkonstituieren, erneuern und verändern und den Interaktionsraum so mitstrukturieren, dass die ‘pointing gestures’ für die interaktiven Zwecke entsprechend ausgeführt werden können. Wie eng deiktische Referenzen mit den räumlichen Bedingungen und den Aktivitäten der Beteiligten zusammenhängen, wird auch in der Studie Goodwins „pointing as situated practice“ (2003a) deutlich: <?page no="41"?> Forschungsstand 41 Pointing provides an opportunity to investigate within a single interactive practice the details of language use, the body as a socially organized field for temporally unfolding displays of meaning tied to relevant action, and material and semiotic phenomena in the surround. (Goodwin 2003a, S. 29) Insofern ist es eine zentrale Aufgabe neuerer und zukünftiger multimodaler Studien, nicht nur die Koordination einzelner Ausdrucksressourcen zu untersuchen, sondern den Blick auf den Gesamtzusammenhang von relevanten Aktivitäten und den körperlich-räumlichen Bedingungen von Interaktion zu richten (Streeck/ Goodwin/ LeBaron (Hg.) 2011). Damit rücken Aspekte wie Materialität, Raum, Wahrnehmung und Bewegung zunehmend in den Fokus des Erkenntnisinteresses (vgl. Kap. 2.2.2). Einen - insbesondere für die vorliegende Studie - zentralen Forschungsschwerpunkt bilden dabei Objekt-Manipulationen in der Interaktion. Im Zuge der ersten Videodokumentationen wird zunächst das Handling von Texten und Visualisierungen in der Interaktion untersucht. Diese Objekte sind dabei in zweierlei Hinsicht interessant: Einerseits sind sie (in Form von Papier etc.) haptisch fassbar und können mit den Händen manipuliert werden. Andererseits handelt es sich bei Texten und Visualisierungen um semiotisch relevante Objekte, die gelesen werden können. So untersucht beispielsweise Heath im Rahmen von Arzt-Patienten-Interaktion, wie Ärzte während der Beratung auf derartige Objekte orientiert sind (Heath 1986) oder selbst Texte produzieren (Heath 1982; Heath/ Luff 1996). Auf die Bedeutung von Artefakten und Inskriptionen 16 im Rahmen von professionellen Settings verweisen die ‘workplace studies’ und richten den Fokus vor allem darauf, wie Beteiligte materielle Strukturen als relevante Objekte konstituieren, deren Bedeutung lokal herstellen und die gemeinsame Orientierung aller Beteiligten auf diese Objekte ausrichten (Goodwin 1996, 2000a; Hindmarsh/ Heath 2000a; Mondada 2006b; Streeck 2011). Diese materiellen Strukturen sind dabei durch eine Reihe unterschiedlicher Objekte und Werkzeuge charakterisiert: In this way, we use the term objects very loosely, as a way of glossing a diverse range of (features of) tools; technologies and materials; paper documents such as logbooks and manuals; digital displays of text; diagrams and images; and artifacts such as pens, keyboards, telephones, and the like. (Hindmarsh/ Heath 2000a, S. 527) Clark (2003) stellt in seiner Studie zur Deixis eine spezifische Manipulation von Artefakten, das ‘placing’, Zeigehandlungen (‘pointing’) gegenüber. An- 16 Zum Einsatz von ‘Inskriptionen’ in (natur)wissenschaftlichen Praktiken siehe ‘Science Studies’ (Latour 1987; Latour/ Woolgar 1986; Lynch (Hg.) 1990, 1993). <?page no="42"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 42 hand einer Interaktionssituation in einer Drogerie zeigt er, wie Objekte in den Aufmerksamkeitsfokus der Beteiligten gelangen, indem sie entsprechend platziert werden. So verdeutlicht beispielsweise ein Kunde dem Verkäufer durch die Platzierung bestimmter Produkte auf dem Ladentisch, dass er diese kaufen möchte. Im Gegensatz zum ‘pointing’, bei dem der Sprecher den Aufmerksamkeitsfokus der anderen Beteiligten auf das Referenzobjekt lenken möchte, wird das Referenzobjekt beim ‘placing’ durch unmittelbare Manipulation in den Aufmerksamkeitsfokus der Beteiligten gerückt. Zeigehandlungen sind in der Regel durch Deiktika wie etwa Demonstrativpronomen oder das Lokaldeiktikum hier charakterisiert, 17 während das Platzieren von Objekten nicht unbedingt an Verbalität gebunden ist. Dabei wird die Bedeutung der Objekte durch ihre spezifische Manipulation in der Situation lokal hergestellt: „The objects of placement usually get their interpretations from the place where they are placed“ (Clark 2003, S. 256). Interessant ist hierbei Clarks Verständnis von ‘material things’, da er neben Artefakten auch beteiligte Personen mit einbezieht. Durch spezifische Positionierungen im Raum (vgl. Kap. 3.2.2) 18 machen Beteiligte auf sich aufmerksam und verdeutlichen ihre interaktiven Absichten: People also place themselves across a variety of situations. [...] When I place myself at the end of a queue in a bank, I indicate myself as ‘the next customer for service after the person in front of me’. I indicate this not only to the bank teller and the customers in front of me, but to anyone who arrives after me; I expect them to indicate themselves as later customers by getting into the queue behind me. People communicate by placing themselves in a variety of circumstances. (Clark 2003, S. 257) Stukenbrock zeigt in ihrer umfassenden Studie zur Deixis in der face-to-face- Interaktion in ähnlicher Weise, wie die Manipulation von Objekten dem Zweck der Aufmerksamkeitsorientierung dient. Sie unterscheidet zwischen dem ‘Zeigen mit Objekten’, bei dem Beteiligte irgendwelche Gegenstände als deiktische Zeiginstrumente nutzen und dem ‘Zeigen an Objekten’, bei dem das Objekt selbst das Zeigeziel konstituiert (vgl. Kap. 5): Während beim Zeigen mit Objekten die gegenständlichen Zeighilfen in dem Augenblick irrelevant werden, in denen sie ihre zeigende Funktion erfüllt und die Aufmerksamkeit des Adressaten auf das Zeigeziel gelenkt haben, dient das Zeigen an Objekten dazu, die visuelle Wahrnehmung des Adressaten voll und ganz auf das gezeigte Objekt zu lenken. (Stukenbrock 2015, S. 214f.) 17 Zum Zusammenhang von Zeigegesten und der Verwendung von hier siehe Fricke (2007). 18 So verdeutlicht auch der Chemielehrer durch spezifische Positionen im Raum, welche interaktive Rolle er aktuell einnimmt und mit welchem interaktiven Beteiligungsstatus diese für die Schüler verbunden ist (Kap. 3.2.2). <?page no="43"?> Forschungsstand 43 Das Interesse daran, wie Interaktionsbeteiligte die materielle Umgebung für ihre interaktiven Zwecke nutzen, rückt schließlich auch die gesamten Körper der Beteiligten in den Aufmerksamkeitsfokus. Während ältere Studien vor allem Interaktion in statischen Settings zum Gegenstand hatten, beschäftigen sich jüngste Studien vor allem mit Settings, die durch Mobilität charakterisiert sind. 19 Neben Interaktionssituationen im Auto (Haddington 2012; Haddington/ Nevile/ Keisanen 2012; Mondada 2012c) oder im Flugzeug (Auvinen 2009; Nevile 2004) stellt das Gehen (‘walking’) in der Interaktion einen zentralen Untersuchungsgegenstand dar (Broth/ Lundström 2013; Broth/ Mondada 2013; De Stefani 2013; Kesselheim 2010; Schmitt 2012a; Schmitt/ Deppermann 2010). 20 Interaktive Praktiken des Gehens, wie etwa ‘gemeinsam gehen’ (Schmitt 2012a) oder ‘weggehen’ (Broth/ Mondada 2013), sind unter anderem deshalb als Gegenstand prädestiniert, da sich in der Spezifik der Bewegung [...] die sich online vollziehende Interpretation der aktuellen Situation durch den Gehenden [verkörpert]. Aus interaktionistischer Sicht ist die in der spezifischen Art der Bewegung verkörperte und wahrnehmbare - und in vielen Fällen auch für Wahrnehmung realisierte - situative Verkörperung des Gehenden interessant, für welche die Nutzung des Raumes als interaktive Ressource unabdingbare Voraussetzung ist. (Schmitt 2012a, S. 8) Die interaktiven Praktiken des Gehens wirken sich dabei strukturierend auf die Verbalität der Beteiligten aus (vgl. Kap. 4.4.2). Darüber hinaus können sie auch transitorische Phasen aufweisen, wie etwa der Wechsel zu statischen Präsenzformen wie Stehen, Sitzen etc., die für die Beteiligten mit unterschiedlichen Anforderungen verbunden sind (Mondada 2013b). In solchen transitorischen Phasen manifestiert sich die Komplexität interaktiver Ordnung (Goffman 1983), wenn sie nicht nur auf das körperlich-räumliche Verhalten der Beteiligten reduziert, sondern im Bezug auf die Implikationen dieser sozialen Praxis rekonstruiert werden (Schmitt 2012a). 2.2.2 Multimodale Interaktionsanalyse Die in der multimodalen Konversationsanalyse praktizierte Auseinandersetzung mit anderen Interaktionsmodalitäten führte im deutschsprachigen Raum zu der Etablierung eines Forschungsschwerpunktes, der als multimodale Interaktionsanalyse bezeichnet wird. Während die Konversationsanalyse, der Bezeichnung des Forschungsfeldes folgend, in erster Linie verbale Interaktion 19 Zur ausführlichen Beschreibung des aktuellen Forschungsstandes siehe Haddington/ Mondada/ Nevile (2013) und Mondada (2013b). Zu Studien zur Interaktion in mobilen Settings siehe Haddington/ Mondada/ Nevile (Hg.) (2013). 20 Erste Grundlagen für die Konzeption von Gehen als interaktive Praktik finden sich bei Ryave/ Schenkein (1974) und Goffman (1971). <?page no="44"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 44 untersucht und alle anderen Verhaltensweisen (‘channels of behavior’, Goodwin 1996) als Ressourcen für diese verbale Interaktion begreift, gibt der Forschungsschwerpunkt der multimodalen Interaktionsanalyse das Primat der Verbalität gänzlich auf. Die Verbalität erscheint nun als eine Modalität unter vielen, derer sich Interaktionsbeteiligte bedienen, um „in angemessener und zielorientierter Weise an der Interaktion teilnehmen zu können“ (Deppermann/ Schmitt 2007). Eine wesentliche Grundlage für die Herausbildung einer dezidiert multimodalen Konzeption von Interaktion bilden im deutschsprachigen Raum die Arbeitstreffen zur multimodalen Kommunikation, die seit 2003 am Institut für Deutsche Sprache stattfinden (Schmitt 2004, 2009; Mondada/ Schmitt 2007). Schmitt expliziert erstmals in seinem Beitrag zu der multimodalen Analyse von Gesprächspausen, was unter der Konzeption zu verstehen ist: Unter multimodaler Kommunikation wird eine Konzeption verstanden, die davon ausgeht, dass es für Interaktionsbeteiligte unterschiedliche Modalitäten gibt, sich in kommunikationsrelevanter Weise auszudrücken, Handlungsziele zu erreichen, soziale Bedeutung zu konstituieren und alle möglichen Arten interaktiver Arbeit zu betreiben. Hierzu zählen beispielsweise: Verbalität, Prosodie, Mimik, Gestik, Körperpositur, Körperkonstellation und Blickverhalten. (Schmitt 2004, S. 61) In späteren Beiträgen wird die Ganzheitlichkeit des Interaktionsprozesses noch stärker betont, der sich durch das „gleichzeitige Zusammenspiel unterschiedlicher Modalitäten“ (Schmitt 2007b, S. 29) auszeichnet, wobei alle Modalitäten als gleichwertig zu betrachten sind und jeweils bestimmte Möglichkeiten bereitstellen, sich selbst und andere in interaktionsrelevanter Weise zu positionieren, spezifische Handlungsziele zu verfolgen und soziale Bedeutung zu konstituieren. Die an der Interaktionskonstitution beteiligten Modalitäten oder Ausdrucksressourcen sind von der Körperlichkeit der Beteiligten nicht zu trennen, da Interaktionsteilnehmer ihren Körper als zentrale Ressource nutzen, um all diese Modalitäten zu realisieren. Gleichzeitig hängen die Modalitäten eng mit der Räumlichkeit und der Materialität von Interaktion zusammen. Übersichtshalber seien hier die zentralen Ausdrucksressourcen noch einmal einzeln genannt (zitiert nach Mondada/ Schmitt (Hg.) 2010, S. 24f.): - Verbalität (Prosodie inbegriffen) und ihre Körperlichkeit, - Vokalität, - Blick, - Kopfbewegung, - Mimik, - Gestikulation, <?page no="45"?> Forschungsstand 45 - Körperpositur, - Bewegungsmodus, - Präsenzform, - Proxemik, d.h. Verteilung im Raum, genauer Positionierung der Beteiligten ( face to face, side by side, back to face ...), Nähe/ Distanz, - Räumlichkeit/ Materialität: Manipulation von Objekten (Tools, Instrumente etc.). Das „gleichzeitige Zusammenspiel“ (Schmitt 2007b, S. 29) der Ausdrucksressourcen verdeutlicht das raum-zeitliche Bezugssystem, in dem sich Interaktionsbeteiligte befinden. Sequenzialität ist nunmehr ein generativer Mechanismus neben dem Prinzip der Simultaneität, das unter einer multimodalen Perspektive den Normalfall darstellt. Die multimodale Konzeption wird der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes gerecht und ermöglicht es durch ihren integrativen Ansatz, alle auf Wahrnehmung beruhenden Erscheinungsformen von Interaktion empirisch und theoretisch zugänglich zu machen. So werden konversationsanalytische Konzepte nicht nur modifiziert oder re-konzeptualisiert, sondern gegebenenfalls zugunsten neuer Konzepte aufgegeben, die dem Komplexitätsgrad des Untersuchungsgegenstandes von vornherein Rechnung tragen (Hausendorf/ Mondada/ Schmitt (Hg.) 2012). Die Fokussierung auf Multimodalität als konstitutive Eigenschaft von Interaktion ist mit weitreichenden analytischen Implikationen verbunden, die unter einer verbal-orientierten Perspektive jedoch kaum eine Rolle gespielt haben. Die Berücksichtigung dieser neuen, interaktionskonstitutiven Aspekte, wie insbesondere Raum, Materialität, Wahrnehmung und Koordination, geht mit der Konstitution neuer Untersuchungsgegenstände einher und hat auch im deutschsprachigen Raum zu einer ganzen Reihe von Studien geführt (Schmitt (Hg.) 2007; Mondada/ Schmitt (Hg.) 2010; Hausendorf/ Mondada/ Schmitt (Hg.) 2012). Die Auseinandersetzung mit Raum bildet dabei einen thematischen Schwerpunkt und hat zur Herausbildung basaler raumbezogener Konzepte geführt, die in der einschlägigen Literatur zentrale Bezugspunkte darstellen und mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen weiterentwickelt worden sind. Die Perspektive unterscheidet sich dabei maßgeblich von dem in der Linguistik erforschten Zusammenhang von Sprache und Raum: Raum wird hier entweder als Sprachraum im Sinne der Dialektologie oder als sprachliche Sedimentation untersucht, die sich in der Grammatik oder Lexik niederschlägt. 21 Das 21 Vertreten ist dieser Ansatz beispielsweise in den zahlreichen Arbeiten zur Deixis (z.B. Fricke 2007; Shin 2011). <?page no="46"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 46 Konzept des Interaktionsraums (Mondada 2007a, 2009a) trägt der Tatsache Rechnung, dass Interaktionsbeteiligte spezifische, sich verändernde räumliche Konfigurationen hervorbringen, die auf ihre praktischen Handlungsziele hin ausgerichtet sind. Durch den Einsatz bestimmter Ausdrucksressourcen wenden sie unterschiedliche Verfahren zur Etablierung und Umgestaltung des Interaktionsraums an, die der Organisation und Koordination ihrer Aktivitäten dienen. Ein weiteres raumbezogenes Konzept, das die grundsätzliche Raumgebundenheit jeglicher Interaktion reflektiert und mit dem Interaktionsraum eng verknüpft ist, ist das Interaktionsensemble (Schmitt 2012b, 2013a). Interaktionsteilnehmer bilden als Form sozialer Beteiligung und Kooperation „personelle, räumliche und thematisch-pragmatische Konstellationen“ (Schmitt 2012b, S. 79) aus, die unter der Voraussetzung von face-to-face-Interaktion auch als sichtbare Räume erkennbar werden. Die multimodale Interaktionsanalyse lenkt insbesondere im Rahmen raumbezogener Analysen den Fokus auf den interaktionskonstitutiven Aspekt der Wahrnehmung und der Wahrnehmungswahrnehmung (Hausendorf 2003). Im Laufe der Interaktion verfolgen Interaktionsbeteiligte permanent, was gerade passiert (Monitoring, Goodwin 1980; Schmitt/ Deppermann 2007) und nehmen nicht nur die Aktivitäten anderer Beteiligter wahr, sondern auch die Tatsache, dass sie selbst wahrgenommen werden. Die für Interaktion grundsätzlich konstitutive Wahrnehmungswahrnehmung ist für manche Interaktionstypen zentral (Putzier 2012) und wird von den Beteiligten auch explizit thematisiert. Neben der Konstitution neuer Gegenstände ist die multimodale Interaktionsanalyse auch mit zahlreichen methodischen und methodologischen Implikationen verbunden. 22 Der theoretisch erhobene Anspruch, alle Ausdrucksressourcen als gleichwertig zu betrachten, läuft Gefahr, analysefaktisch dadurch unterlaufen zu werden, dass im Vorfeld relevante Untersuchungsphänomene bereits auf der Grundlage des Gesprochenen selektiert werden. Ein methodisches Verfahren, diesem Zirkelschluss zu entgehen ist die visuelle Erstanalyse (Schmitt 2007a). Sie ist eine Form der Modalitätsfokussierung, die in einem ersten Analyseschritt bewusst die verbale Ebene ausschließt. Der zu untersuchende Videoausschnitt wird zunächst unabhängig vom Verbalen segmentiert und rekonstruiert. In kategorienbildender Hinsicht erweist sich das Verfahren als äußerst produktiv, da es dem Analytiker den Rückgriff auf bereits etablierte, verbal-orientierte Konzepte verbietet und die Entwicklung neuer Konzepte erforderlich macht. 22 Zu einer ausführlichen Darstellung der Implikationen audiovisueller Daten für die Analyse von Interaktion siehe Schmitt (2006, 2007a, b). <?page no="47"?> Forschungsstand 47 Eine methodologische Implikation des Einsatzes audiovisueller Daten zur Analyse multimodaler Interaktion ist der „Status der Videotechnologie als reflexives Dokumentationsmedium“ (Schmitt 2007a, S. 43). Die Technik schreibt sich unweigerlich in die dokumentierte Interaktionssituation ein und verweist reflexiv auf sich selbst (Mondada 2006a, 2008, 2009b; Schmitt/ Fiehler/ Reitemeier 2007; Heath/ Hindmarsh 2002). Die Kameraführung ist immer bereits eine Interpretation des Interaktionsgeschehens und dokumentiert nicht die Interaktion als objektives Ganzes, sondern jeweils einen spezifischen Ausschnitt und Blickwinkel. Diese nicht hintergehbare Tatsache muss in methodischer und methodologischer Hinsicht stets reflektiert werden und kann darüber hinaus für die Analyse nutzbar gemacht werden. So entwickeln Schmitt/ Deppermann beispielsweise das Konzept der Fokusperson (Schmitt/ Deppermann 2007; Schmitt 2013a), das nicht nur einer spezifischen Funktionsrolle in professionellen Settings, wie etwa dem Lehrer oder dem Regisseur, Rechnung trägt, sondern Dokument der spezifischen Kameraführung ist, die einen Ausdruck der „relevanzgeleiteten Orientierung“ (Schmitt 2007a, S. 44) des Kameramanns darstellt. Neben der ethnomethodologischen Konversationsanalyse sind für die Forschungsrichtung der multimodalen Interaktion zwei weitere Bezüge zentral: Der Forschungsansatz der ‘context analysis’ (Birdwhistell 1970; Scheflen 1964, 1972; Kendon 1990a) und Goffmans Konzeption der interaction order (Goffman 1983). Zwischen dem Forschungsansatz der ‘context analysis’ und der multimodalen Interaktionsanalyse gibt es sowohl in konzeptioneller als auch in empirischer Hinsicht wichtige Berührungspunkte. Dies betrifft beispielsweise die Rolle der Simultaneität als ein generativer Mechanismus multimodaler Bedeutungskonstitution neben dem Prinzip der Sequenzialität. Darüber hinaus wird das Primat der Verbalität zugunsten eines integrierten Ansatzes aufgegeben, da alle Modalitäten als grundsätzlich gleichwertig betrachtet werden (Kendon 1990a). Bei Scheflen ist der Begriff ‘multimodale Interaktion’ bereits terminologisch angelegt, da er im Zusammenhang mit der Körperpositur von einer „modality of communication“ (Scheflen 1972, S. 230) spricht. Während der Forschungsansatz in der auf Verbalität fokussierten Konversationsanalyse zunächst nicht zur Kenntnis genommen wurde, 23 stellen in den letzten Jahren einzelne Autoren Bezüge zu dem Ansatz her, die neben empirischen vor allem körperlich-räumliche Aspekte betreffen (Müller/ Bohle 2007; Schmitt 2007a und 2013a). 23 Im Rahmen der ethnomethodologischen Konversationsanalyse weist Schegloff allerdings bei seiner Untersuchung des ‘body torque’ auf Kendons Arbeiten zu körperlich-räumlichen Konfigurationen hin (Schegloff 1998). <?page no="48"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 48 Ein weiterer zentraler Bezugspunkt für die Konzeption multimodaler Forschung bildet Goffmans Vorstellung der interaction order: Social interaction can be identified narrowly as that which uniquely transpires in social situations, that is, environments in which two or more individuals are physically in one another's response presence. [...] My concern over the years has been to promote acceptance of this face-to-face domain as an analytically viable one [...] - the interaction order, a domain whose preferred method of study is microanalysis. (Goffman 1983, S. 2; Kursivsetzung im Original) Wenngleich Goffman seine Beobachtungen, Vorstellungen und Konzepte nicht anhand empirischer Analysen entwickelt hat, sind seine Arbeiten auf unterschiedliche Forschungskontexte übertragbar. Das Konzept der interaction order verdeutlicht die Komplexität interaktiver Ordnung und legt damit den Grundstein für den Ansatz einer multimodalen Bedeutungskonstitution. Früh weist Goffman im Sinne der multimodalen Forschungspraxis darauf hin, dass die zeitweilige Abwesenheit von Sprache durchaus einen Normalfall darstellt: „Note then that the natural home of speech is one in which speech is not always present“ (Goffman 1964, S. 135). Durch seine Idee der face-to-face domain wird die Bedeutung alles Sichtbaren in der Interaktion auch terminologisch evident. Das gesamte, von den Interaktionsbeteiligten produzierte sichtbare Verhalten und alles, was Beteiligte darüber hinaus wahrnehmen können, ist im Sinne interaktiver Relevanz zu verstehen und muss unter dieser Perspektive analysiert werden. Die für die Interaktion konstitutive, wechselseitige Koordination und Wahrnehmungswahrnehmung der Interaktionsbeteiligten wird in einem seiner zentralen Konzepte, den focused gatherings (Goffman 1963) deutlich. Unter multimodaler Perspektive kann das Konzept der interaction order reformuliert werden als „Gesamtzusammenhang aller simultan realisierten, sequenziell strukturierten und aufeinander bezogenen interaktiven Beteiligungsweisen aller Teilnehmer zu jedem Zeitpunkt im Interaktionsverlauf“ (Schmitt 2007a, S. 31). In jüngster Zeit sind die Forschungsaktivitäten im Bereich der multimodalen Interaktionsanalyse vor allem durch drei systematische Sammelbände repräsentiert, die im Rahmen der „Arbeitstreffen zu Fragen multimodaler Kommunikation“ am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim entstanden sind. 24 Ausgehend von der Annahme, dass körperlich-räumliche Aspekte für die Interaktion grundsätzlich konstitutiv sind, bildete sich mit dem Sammelband „Koordination“ (Schmitt (Hg.) 2007) ein erster thematischer Schwerpunkt 24 Zur detaillierten Beschreibung der Entstehung und Schwerpunktsetzung der Sammelbände siehe Schmitt (2013a). <?page no="49"?> Forschungsstand 49 heraus. Dabei standen, in zunächst sehr unterschiedlichen Interaktionssituationen, die koordinativen Anforderungen und Verfahren im Mittelpunkt, die Teilnehmer bearbeiten bzw. einsetzen, um ihr Verhalten wechselseitig und zielorientiert aufeinander abzustimmen. Die Beschäftigung mit Koordination als zentrale Voraussetzung räumlich-personaler Konstellationen ging mit der Reflexion grundlegender, raumbezogener Aspekte von Interaktion einher. Der zweite Sammelband „Situationseröffnungen“ (Mondada/ Schmitt (Hg.) 2010) baut unmittelbar auf die in dem ersten Sammelband gewonnenen Erkenntnisse auf und setzt die multimodale Perspektive in fokussierter Weise fort. Durch die thematische Schwerpunktsetzung auf Situationseröffnungen in unterschiedlichen Kontexten, wie etwa im Gottesdienst, bei Videokonferenzen oder bei Ausbildungsseminaren, konnten koordinative und raumbezogene Aspekte schließlich unter vergleichbaren Bedingungen untersucht werden. Dabei trat der Raum als konstitutive Voraussetzung von Interaktion immer mehr in den Vordergrund und die Relevanz des Konzepts Interaktionsraum trat als zentrale Anforderung für die Herstellung von Interaktion noch stärker als im Koordinationsband zutage. Als Konsequenz der grundlegenden Bedeutung von Raumnutzung und Raumbezug widmet sich der dritte Sammelband „Raum als interaktive Ressource“ (Hausendorf/ Mondada/ Schmitt (Hg.) 2012) ausschließlich der Analyse von räumlichen Aspekten der Interaktion. Hierbei wurden sehr unterschiedliche Situationen und Kontexte untersucht, um in dem theoretisch und methodisch weitgehend unerschlossenen Forschungsfeld erste fallbezogene Erkenntnisse zu gewinnen. Im Rahmen des raumbezogenen Forschungsfeldes ist darüber hinaus der Band „Körperlich-räumliche Aspekte der Interaktion“ (Schmitt 2013a) zu nennen, der die Ergebnisse des dritten Sammelbandes weiterentwickelt und vor allem in methodisch-methodologischer Hinsicht das Konzept Raum als interaktive Ressource reflektiert. Hierbei ist vor allem die Entwicklung einer ‘dualen Begrifflichkeit’ zu nennen, die der grundsätzlichen Dialektik des Raums Rechnung trägt. Raum ist zunächst einmal immer als etwas objektiv Gegebenes vorhanden, dessen sich Interaktionsbeteiligte, sozusagen in einem zweiten Schritt, als Ressource bedienen. Die duale Begrifflichkeit, wie etwa die Unterscheidung von Gegenstand und Objekt oder von Ort und Position, liefert dem Analytiker einen beschreibungssprachlichen Zugang, der es ihm ermöglicht und ihn gleichzeitig dazu zwingt, methodologisch immer genau zu reflektieren, auf welcher räumlichen Bezugsebene er sich gerade befindet. Auf die Relevanz interaktionsvorgängiger räumlicher Strukturen für einen spezifischen Typus von Interaktion haben bereits Kesselheim/ Hausendorf (2007) im Rahmen der Analyse von Ausstellungskommunikation hingewie- <?page no="50"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 50 sen. Aus der Untersuchung des gebauten und gestalteten Raums als Voraussetzung spezifischer Erscheinungsformen von Kommunikation wurde das Konzept der Benutzbarkeitshinweise (Hausendorf 2012a) entwickelt. Räumliche bzw. materielle Strukturen stellen für Interaktionsbeteiligte kommunikative Angebote zur Verfügung, die ihnen bei der Lösung wiederkehrender, interaktiver ‘Probleme’ dienen können. Benutzbarkeitshinweise werden beispielsweise im Rahmen von Situierungsaktivitäten genutzt und erhalten ihre interaktive Relevanz im Moment der Realisierung. Ausgehend von der Bedeutung materialer Sedimentierungen von Interaktion fanden in jüngster Zeit Arbeitstreffen zur Interaktionsarchitektur und Sozialtopografie an der Universität Zürich statt, die sich zur Aufgabe gemacht haben, Implikationen von Architektur und konkreter Raumnutzung für die Interaktion zu untersuchen (Hausendorf/ Schmitt 2013). Der methodische Zugang erfolgt zunächst über eine Standbildanalyse eines spezifischen Raumausschnittes, im Optimalfall ohne die Anwesenheit von Interaktionsteilnehmern. Der entsprechende Raumausschnitt wird dann hinsichtlich seines Potenzials für spezifische Formen von Interaktion analysiert, indem die interaktionsarchitektonischen Grundkategorien Sichtbarkeit, Begehbarkeit, Begreifbarkeit, die der Raum zur Verfügung stellt, beschrieben werden. Die architektonischen Erscheinungsformen werden also als Lösung für spezifische Interaktionsprobleme rekonstruiert. 25 Die Produktivität einer multimodalen Perspektive zeigt sich inzwischen nicht nur im eigenen Forschungskontext der multimodalen Interaktionsanalyse, sondern auch für die Linguistik allgemein. In dem Sammelband „Sprache Intermedial“ (Deppermann/ Linke (Hg.) 2010) hat sich trotz der Unterschiedlichkeit der Beiträge der gemeinsame Aspekt der räumlichen Bedingtheit von Kommunikation herauskristallisiert, der den analytischen Fokus bildet. Gleichermaßen liefert der Band „Dinge und Maschinen in der Interaktion“ (Klein/ Habscheid (Hg.) 2012), in dem der Einsatz von Gegenständen als Ressource für die Interaktionskonstitution untersucht wird, hierfür ein deutliches Zeichen. Hervorzuheben ist außerdem das Handbuch „Body - language - communication“ (Müller et al. (Hg.) 2013), das einen umfassenden Einblick in Fragestellungen zur multimodalen Kommunikation und zum Zusammenhang von Körper und Sprache aus unterschiedlichen Perspektiven und Disziplinen gibt. 25 Zu einer detaillierten Beschreibung des Ansatzes siehe Kapitel 3. <?page no="51"?> Forschungsstand 51 2.2.3 Unterrichtskommunikation als Thema wissenschaftlicher Forschung Schule und Unterricht gehören zu den Gegenstandsbereichen wissenschaftlicher Forschung, die durch eine enorme Anzahl und Vielfalt von Studien charakterisiert sind. Die Auswahl des hier zusammengestellten Überblicks der einschlägigen Forschung erfolgt nach meinem spezifischen Erkenntnisinteresse und berücksichtigt daher nur solche Studien, die das Thema Schule und Unterricht dezidiert empirisch, auf der Basis authentischer Daten erschließen und im weitesten Sinne an Unterricht als ‘Kommunikationssituation’ interessiert sind. Die empirische Analyse von Unterrichtskommunikation erfolgt je nach Forschungsfeld auf der Grundlage verschiedener methodisch-methodologischer, theoretischer und konzeptueller Ansätze, die mit ganz unterschiedlichen Fragestellungen verbunden sind. 26 Eine fast durchgängige Gemeinsamkeit der Studien besteht in der Verwendung von Transkripten als Datengrundlage, die in der Regel auf der Basis von Audioaufnahmen erstellt worden sind. Im Bezug auf die Gegenstandskonstitution weisen demzufolge die meisten Studien einen verbal-orientierten Fokus auf, der erst in neueren Untersuchungen durch die audiovisuelle Dokumentation von Unterricht zugunsten eines multimodalen Fokus abgelöst wird. Je nach Forschungspraxis und Datengrundlage haben sich im Laufe der Jahre unterschiedliche thematische Schwerpunktsetzungen herauskristallisiert: Die Perspektive auf Unterricht als eine Form institutioneller Kommunikation 27 (Ehlich/ Rehbein (Hg.) 1983, 1986; Rehbein 1985; Bauersfeld 2002; Sucharowski 2001; Becker-Mrotzek 1993, 2002) findet sich vor allem bei Autoren der funktionalen Pragmatik, die beispielsweise verbalsprachliche Handlungsmuster, wie das Aufgabe-Lösungs-Muster, 28 auf ihre institutionelle Spezifik und Funktion hin untersuchen (Bauersfeld/ Voigt 1986; Kalthoff 1995; Ehlich/ Rehbein 1986). In der pädagogisch-psychologischen Forschung steht ganz allgemein 26 Einen detaillierten Überblick über die empirische Unterrichtsforschung in den 1970er und 1980er Jahren findet sich beispielsweise bei Goeppert (Hg.) (1977) und Redder (1983). Einen systematischen Überblick in linguistischer Unterrichtsforschung unter Berücksichtigung neuerer Untersuchungen bieten Becker-Mrotzek/ Vogt (2001). Die Gegenüberstellung unterschiedlicher Forschungsansätze erfolgt bei Becker-Mrotzek (2002), der die funktional-pragmatische Perspektive pädagogisch-psychologischen Ansätzen (vgl. Richardson (Hg.) 2001) kritisch gegenüberstellt. Zur Soziolinguistik der Unterrichtsforschung siehe Michaels/ Sohmer/ O'Connor (2006). Unter linguistisch-fachdidaktischer Perspektive stellen Kobarg/ Prenzel/ Schwindt (2009) die Literatur zur naturwissenschaftlichen Unterrichtsforschung der letzten Jahre zusammen. 27 Zur Definition und Untersuchung institutioneller Kommunikation im Rahmen der Konversationsanalyse siehe Drew/ Heritage (Hg.) (1992). 28 Studien zu Aufgabe-Lösungssequenzen unter konversationsanalytischer Perspektive siehe McHoul (1978, 1990); Mehan (1985). <?page no="52"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 52 das pädagogische Handeln im Zentrum des Erkenntnisinteresses, das beispielsweise im Hinblick auf Professionalität (Helsper et al. 2008), Lernmotivation (Sann/ Preiser 2008) oder Konfliktbewältigung (Neubauer 2008) empirisch untersucht wird. Dabei wird das sprachliche Handeln meist als didaktisches Handeln konzeptualisiert und unter einer eher interaktionistischen (Hecht 2009) oder einer hermeneutisch-handlungstheoretischen Perspektive (Combe/ Helsper 1994) rekonstruiert. 29 Wissenserwerb und Wissensvermittlung sind neben pädagogisch-psychologischen Studien (Moschner 2008) vor allem auch in funktional-pragmatischen Untersuchungen Thema (Ehlich/ Rehbein 1986), jedoch nicht im Sinne einer multimodal-interaktiven Herstellung, sondern als Form von Wissenstransfer „aus dem Kopf des einen in den Kopf einer anderen Person“ (Becker-Mrotzek/ Vogt 2001, S. 66). Erst neuere Studien der multimodalen Konversationsanalyse konzeptualisieren Wissenstransfer als multimodale Aushandlung von Lehrer und Schülern unter Einsatz aller ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen. Daher kommen erstmals auch materielle Strukturen in den Blick, wie etwa die Tafel oder Inskriptionen, die einen wesentlichen Beitrag zur interaktiven Wissensgenerierung leisten (Pitsch 2006; Steinbring/ Nührenbörger 2010). 30 Im Rahmen der Forschungen zu Wissenserwerb und Wissensvermittlung werden zahlreiche verbalsprachliche Handlungsmuster rekonstruiert, wie etwa die Lehrerfrage (Becker-Mrotzek/ Vogt 2001; Ehlich 1981; Mehan 1986) oder der Lehrervortrag mit verteilten Rollen (Ehlich/ Rehbein 1986). Globalere, über längere Redesequenzen reichende Konzepte wie Diskutieren (Grundler/ Vogt 2009; Vogt 2002), Erklären (Spreckels 2009) oder Argumentieren (Spiegel 2006) werden vor allem in der Gesprächsforschung untersucht. Obgleich diese verbalsprachlich-orientierten, globalen Konzepte, analog zu interaktiven Verfahren, „zeitlich begrenzte, abgrenzbare Einheit[en]“ (ebd., S. 34) repräsentieren, erfolgt die Konzeptbildung doch weitgehend anhand der in den Bildungsstandards verankerten kommunikativen Kompetenzen, die zum Beispiel in eigens dafür vorgesehenen Unterrichtsphasen eingeübt werden sollen. Insofern ist das Argumentieren oder Erklären eine vom Lehrer für die Zwecke der Vermittlung kommunikativer Kompetenzen erfolgte Setzung, die zwar von den „Gesprächsbeteiligten als solche [Argumentation] bezeichne[t]“ (ebd., S. 33) wird, auf strukturanalytischer Ebene aber gegebenenfalls keine faktische Relevanz besitzt. 29 Zu Grundlagen, Methodik und Anwendung der pädagogisch-psychologischen Ausrichtung auf die Lehrer-Schüler-Interaktion siehe auch Schweer (Hg.) (2008). 30 Allgemein zur Multimodalität im Prozess der Wissensgenerierung siehe Dausendschön-Gay/ Domke/ Ohlhus (2010) und speziell zu interaktiven Verfahren der Wissensgenerierung siehe Bergmann/ Quasthoff (2010). <?page no="53"?> Forschungsstand 53 Während in früheren Arbeiten zur Unterrichtskommunikation vor allem lehrerseitige Anforderungen in den Blick genommen wurden, ist in neueren Untersuchungen die Schülerperspektive stärker vertreten (Breidenstein 2006; Schmitt 2009; Steinbring/ Nührenbörger 2010; Koschmann/ LeBaron 2002). Eine Ausnahme bilden die Untersuchungen zur Nebenkommunikation (Baurmann/ Cherubim/ Rehbock (Hg.) 1981), in welchen zu einem forschungsgeschichtlich sehr frühen Zeitpunkt bereits die Schülerperspektive fokussiert wird. Durch die analytische Auseinandersetzung mit dem (nicht-offiziellen) Schülerverhalten, das unter anderem durch Aktivitäten wie ‘Briefchen schreiben’ charakterisiert ist, werden neben der Verbalität insbesondere räumlich-materielle Ausdrucksressourcen berücksichtigt, wenngleich die Referenz auf dergleichen noch durch das dichotome Begriffspaar ‘non-verbal’ - verbal’ erfolgt (Ahrend 1981). Eine Analyse des Schülerverhaltens unter multimodaler Perspektive erfolgt bei Schmitt (2009), der (subversive) interaktionssteuernde Aktivitäten von Schülern auf der Grundlage von Blickorganisation untersucht. Das körperlich-räumliche Verhalten von Interaktionsbeteiligten im Unterricht ist bisher vor allem unter den Begriffen ‘Körpersprache’ und ’nonverbale Kommunikation’ im Rahmen pädagogisch-didaktischer Studien (Rosenbusch/ Schober (Hg.) 1995; Retter 2002) untersucht worden und findet als Gegenstand in der pädagogischen Ratgeberliteratur rege Beachtung (Heidemann 1996). Die Berücksichtigung räumlich-territorialer Aspekte, wie etwa die Bedeutung des Klassenzimmers als Raum, in dem Unterricht gewöhnlich stattfindet, erfolgt meist insofern interaktionsvorgängig, als das spezifische Potenzial rekonstruiert wird, das der Raum für mögliche Interaktionen (nicht) zur Verfügung stellt. So beschreibt Hausendorf (2008) die Interaktion im Klassenzimmer als ‘riskante Kommunikationspraxis’, in der auf die strukturelle Unwahrscheinlichkeit des Interaktionsereignisses durch räumliche Vorkehrungen, wie etwa die Bestuhlung, reagiert wird. Die innenarchitektonische Ausstattung des Klassenzimmers bietet eine mögliche Lösung für die Herstellung eines gemeinsamen Fokus an, der für die Kommunikationspraxis ‘Unterricht’ konstitutiv ist. Bei der Rekonstruktion räumlich-situativer Bedingungen von Unterricht erweist sich der Aspekt der Wahrnehmung und Wahrnehmungswahrnehmung als zentral, der neben seiner visuellen Dimension auch haptische und akustische Relevanz aufweist (Breidenstein 2006). Betrachtet man die Bandbreite der Unterrichtsfächer, die als Datengrundlage für die empirische Analyse von Unterrichtskommunikation dienen, ist eine klare Ausrichtung auf geisteswissenschaftliche Fächer festzustellen. 31 Deutschunterricht gehört zu den am häufigsten untersuchten Fächern, was angesichts der primären Orientierung an verbalen (Lehrer-)Aktivitäten im Unterricht 31 Siehe z.B. Becker-Mrotzek/ Vogt (2001); Spreckels (2009); Spiegel (2006). <?page no="54"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 54 nicht verwundert (Bremerich-Vos 2002). Umgekehrt erfolgt durch ein geisteswissenschaftliches Unterrichtsfach als Datengrundlage, in dem thematischpragmatische Zusammenhänge vor allem verbal ausgehandelt werden, auch eher eine verbal-orientierte Gegenstandskonstitution, für die eine Berücksichtigung anderer Ausdrucksressourcen weniger notwendig erscheint. Bei den wenigen Untersuchungen zu naturwissenschaftlichem Unterricht, wie etwa Biologie (Harren 2009), Mathematik (Bauersfeld 1978; Krummheuer/ Voigt 1991; Jörissen 2011) oder Sport (Friedrich 1991), gestaltet sich eine rein konversations- oder gesprächsanalytische Perspektive als unzureichend, da sie die Rekonstruktion interaktiver Strukturen beispielsweise durch lange Gesprächspausen, die durch Übungs- oder Experimentalphasen zustande kommen, nur sehr eingeschränkt möglich macht. Die Analyse praktischer Tätigkeiten als konstitutiver Bestandteil von Unterricht ist bisher nur im Rahmen der schriftlich manifestierten Dokumentation von Wissenstransfer (Pitsch 2006; Steinbring/ Nührenbörger 2010; Jewitt et al. 2001) und schülerseitigen Nebenaktivitäten (Baurmann/ Cherubim/ Rehbock (Hg.) 1981) untersucht worden. Praktische Aktivitäten als zentraler Bestandteil von Interaktion im naturwissenschaftlichen Unterricht finden bisher keinerlei Berücksichtigung. Eine Ausnahme bildet die Untersuchung zu Lehr- Lern-Prozessen in der betrieblichen Ausbildung (Brünner 2005), in der die verbale Analyse von Instruktionen im Rahmen praktisch dominierter Tätigkeiten durch die Berücksichtigung ‘nonverbaler Kommunikation’ überwunden wird. Das spezifische Erkenntnisinteresse Brünners besteht jedoch nicht in der konstitutionsanalytischen Rekonstruktion der de-facto-Realisierung praktischer Tätigkeiten und ihrer interaktiven Relevanz, sondern im interaktionsunabhängigen „Sollwert der Tätigkeit“ (ebd., S. 82), d.h. einer der schriftlichen Instruktion entsprechenden Ausführung, deren „zugrunde liegende Struktur durch Vergleich, Interpretation, Klassifizierung und Abstraktion“ (ebd., S. 82) ermittelt werden soll. Diese Perspektive ist insofern für die Untersuchung folgenreich, als im Vorfeld eine Evaluation und damit auch Selektion praktischer Tätigkeiten stattfindet, die vorab als „falsch[e]“ oder dem „über den normalen Ablauf hinausgehen[d]“ (ebd., S. 83) konzeptualisiert werden. 2.2.4 Fachsprachenforschung zum Thema Chemie und Chemiedidaktik Chemieunterricht zeichnet sich, in gewisser Weise offensichtlicher als andere Unterrichtsfächer, durch eine Fachspezifik aus, die bereits beim Betreten des Chemiesaals, etwa durch Sicherheitstüren, Fluchtwege und Gaszuleitungen, sichtbar und begreifbar wird. Die materiale Manifestation des Faches ‘Chemie’ zeigt sich in einer ungeheuren Fülle an Laborgeräten, chemischen Substanzen und technischen Geräten, die ein Laie vielleicht nicht zu bezeichnen, <?page no="55"?> Forschungsstand 55 aber meist problemlos dem naturwissenschaftlichen Fachgebiet der Chemie zuzuordnen wüsste. Wir haben ein kulturell geprägtes und weitgehend implizites Wissen davon, was Chemie ist, ohne dass wir im Stande sind, mit den Geräten und Chemikalien fachgerecht umzugehen. Ohne den Begriff der ‘Fachlichkeit’ in all seinen Dimensionen 32 zu erschließen, sollen im Folgenden einige Aspekte von Fachlichkeit genannt werden, die - zunächst interaktionsunabhängig - eine Aktivität als fachbezogene Tätigkeit oder Handlung charakterisieren (zitiert nach Kalverkämper 1998a, S. 2): Fachlichkeit zeichnet sich aus durch a) ein Selbstverständnis, das sich als systematisch, als gegenseitig strukturbezogen, als eingebettet in eine übergeordnete Ganzheit bestimmt, die als solche Rahmenbedingungen und unmittelbare Voraussetzungen schafft [...]; b) ihre Gerichtetheit auf ein Erkenntnisziel oder produktives Ziel, auf ein Ergebnis hin [...]; c) ihre methodisch bewußte, kriteriengeleitete Vorgehensweise [...]; d) eine soziale Beachtung, Beobachtung, ja Kontrolle durch die Transparenz bei den Ablaufstrukturen der Handlungen, Tätigkeiten, Arbeiten „im Fach“ [...]; e) ihre Erfassbarkeit in einem Regel- oder Anweisungswerk [...]; f) ihre Lehrbarkeit [...]. Die definitorischen Aspekte sind für die vorliegende Arbeit unter einer interaktionistischen Perspektive interessant und sollen im Analysekapitel auf der Grundlage von konkreten Interaktionssituationen hinsichtlich ihrer interaktiven Relevanz überprüft, modifiziert und gegebenenfalls verworfen werden. Einige Kriterien, wie etwa die Erfassbarkeit in einem Regelwerk (e), spielen für eine interaktiv relevante Fachlichkeit keine Rolle. Fachlichkeit und Fachspezifik werden in der vorliegenden Arbeit als dynamisch-prozessuale Komponenten von Chemieunterricht verstanden, die sowohl der Lehrer als auch die Schüler in der Interaktion durch ihre spezifischen Tätigkeiten hervorbringen. Fachlichkeit und Fachspezifik konstituieren sich neben räumlich-materiellen Strukturen auch in der Sprache, deren Untersuchung als ’Fachsprache’ zur Etablierung eines ganzen Forschungsfeldes geführt hat. 33 Die Beschaffenheit des Objekts ‘Fachsprache’ erweist sich als äußerst komplex (Kalverkämper 1998b) und hat bisher keine einheitliche Definition hervorgebracht. Meist wird 32 Kalverkämper (1998a) liefert eine ausführliche Begriffsklärung von ‘Fachlichkeit’ hinsichtlich der gesellschaftsbezogenen, soziokulturellen und referenziellen Dimension. 33 Die Forschungsfelder Fachsprache und Terminologiewissenschaft sind in theoretischer, methodischer und empirischer Hinsicht im Handbuch zur Fachsprachenforschung umfassend dokumentiert (Hoffmann/ Kalverkämper/ Wiegand (Hg.) 1998). <?page no="56"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 56 der Begriff mithilfe konstitutiver Merkmale umschrieben, wie etwa an Fachleute gebunden, grundsätzlich öffentlich oder durch hohe Normhaftigkeit charakterisiert (ebd., S. 48). Bei Hoffmann/ Kalverkämper/ Wiegand (Hg.) (1998) findet sich eine vielfach zitierte Definition von ‘Fachsprache’: Fachsprache - das ist die Gesamtheit aller sprachlichen Mittel, die in einem fachlich begrenzbaren Kommunikationsbereich verwendet werden, um die Verständigung zwischen den in diesem Bereich tätigen Menschen zu gewährleisten. (Kalverkämper 1998b, S. 53) Eine stärker terminologische Ausrichtung findet sich bei Möhn/ Pelka (1984), die Fachsprache als „Variante der Gesamtsprache“ begreifen, die der Erkenntnis und begrifflichen Bestimmung fachspezifischer Gegenstände sowie der Verständigung über sie dient und damit den spezifischen kommunikativen Bedürfnissen allgemein im Fach Rechnung trägt. (ebd.,S. 26ff.) Die ‘Fachsprache Chemie’ wurde lange nur unter lexikalischen Gesichtspunkten, d.h. auf ihre Terminologie hin untersucht, die ein exaktes Begriffssystem für „die Bestimmung fachspezifischer Gegenstände“ (ebd., S. 26ff.) bereitstellt. Der Fachbereich Chemie hat seit seiner Herausbildung ein ganzes System von Nomenklaturen, Formel-, Symbol- und Zeichensprachen hervorgebracht, das lange mit der chemischen Fachsprache gleichgesetzt wurde und als solches den Gegenstand linguistischer Untersuchungen bildete. 34 Seit der Gründung der International Union of Pure and Applied Chemistry (IUPAC) gibt es international gültige Richtlinien für eine einheitliche Namensgebung von chemischen Substanzen im englischsprachigen Raum (IUPAC 1971a, b), die von Chemikerverbänden anderer Länder entsprechend übertragen werden. Neben linguistischen Untersuchungen zur Normung und Nomenklatur gibt es eine ganze Reihe fachsprachendidaktischer Untersuchungen, in welchen die chemische Fachsprache ebenfalls unter lexikalischen Gesichtspunkten analysiert und die Begriffsbildung von Kindern im Chemieunterricht oder in anderen naturwissenschaftlichen Kontexten erforscht wird (Vollmer 1980; Weerda 1978). Die empirische Grundlage bilden meist chemische Fachtexte, die die mündliche Fachkommunikation im Chemieunterricht unberücksichtigt lassen. Die Fachsprachenforschung ist ein von der Textlinguistik geprägtes Forschungsfeld, in dem das Hauptaugenmerk zunächst auf Aspekten der schriftlichen Sprache lag. Obwohl mit der Entwicklung der Pragmatik vermehrt Forderungen aufkamen, auch Aspekte mündlicher Fachkommunikation zu berücksichtigen, wurden keine geeigneten analytischen und methodischen Zugänge aufgezeigt, die zu einer Etablierung des Untersuchungsgegenstandes ‘mündliche Fachkommunikation’ geführt hätten (Munsberg 1994). Erst 34 Einen detaillierten Überblick über fachsprachenlinguistische Untersuchungen zur Chemie liefert Munsberg (1994). <?page no="57"?> Forschungsstand 57 mit der Gesprächsforschung, die sich in den 1970er Jahren als Teildisziplin der Linguistik entwickelte, stand ein geeignetes Analyseinstrumentarium zur Verfügung, „Theorien und Terminologien [...] nicht (vollständig) vorab“ (ebd., S. 94), sondern auch auf der Grundlage authentischer (Fach-)Gespräche empirisch zu entwickeln. Im Rahmen der Erforschung mündlicher Fachkommunikation wird ‘Fachsprache’ meist als Sprache in bestimmten Institutionen definiert, deren Gesetzmäßigkeiten und Charakteristika anhand von Transkripten ermittelt werden sollen. Der Gesprächstypologisierung (Ehlich 1986) kommt hierbei eine zentrale Rolle zu, mittels derer sich im Fach Chemie, beispielsweise im Hochschulbereich, eine Differenzierung in Vorlesungen, Seminare, theoretisch oder praktisch orientierte Laborgespräche etc. als geeignet erweist. Auf der Grundlage einer gesprächstypologischen Perspektive untersucht Munsberg die mündliche Fachkommunikation am Beispiel der Chemie und versucht, spezifische interaktive Strukturen der chemischen Fachsprache anhand von Turn-Organisation, Korrekturen und Themenwahl bzw. -wechsel zu ermitteln (Munsberg 1994). Dabei nimmt er auch auf die Bedeutung praktischer Tätigkeiten Bezug, die er neben dem sprachlichen Handeln unter der übergeordneten Kategorie des fachlichen Handelns subsumiert. Das praktische Handeln umfasst „außersprachliche Tätigkeiten [...], die dem Fortgang des institutionellen Arbeitsprozesses dienen“ (ebd., S. 58) und weitreichende Konsequenzen für die thematische Orientierung der Kommunikationssituation haben. Die Evidenz praktischen Handelns zeigt sich insbesondere bei der Analyse praktisch orientierter Laborgespräche, bei welchen die Gesprächssequenzierung paradoxerweise nur anhand der Abfolge praktischer Aktivitäten erfolgen kann (ebd., S. 117). Das körperlich-räumliche Verhalten von Beteiligten spielt bei der Untersuchung neben praktischen Tätigkeiten in Form der sogenannten fachspezifischen Gestik eine Rolle, welcher eine „semantisch unterstützende Rolle“ (ebd., S. 331) zugeschrieben wird. Die fachspezifische Gestik ist im Sinne der Gestikforschung 35 durch klar abgrenzbare, redebegleitende Einheiten (Müller 1998) gekennzeichnet, wie etwa bei der Imitation der Form von Gegenständen, bei der Beteiligte chemische Strukturen mithilfe ihrer Hände nachbilden, während sie verbal auf die jeweiligen Strukturen referieren. Fachsprache stellt immer nur eine Repräsentationsform von Fachwissen und Fachlichkeit dar und kann gerade in einem praktisch orientierten Fachbereich wie der Chemie, für die praktische Aktivitäten konstitutiv sind, nur bedingt 35 Zur Rolle der Gestik bei der Produktion von sprachlichen Äußerungen siehe Kendon (1994, 2004); Müller (1998); Fricke (2007, 2012); Wulff/ Fischer-Lichte (Hg.) (2010). <?page no="58"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 58 losgelöst vom körperlich-räumlichen Verhalten der Beteiligten untersucht werden. Die Gefahr einer ausschließlich verbal-orientierten Analyse besteht darin, dass der Aspekt der Fachlichkeit nur sehr eingeschränkt und aspektualisiert herausgearbeitet werden kann und ein ganzheitliches, dem gesamten Anforderungsprofil eines Chemikers entsprechendes Konzept von Fachlichkeit gänzlich unberücksichtigt bleibt. Darüber hinaus werden bestimmte Begriffe, Äußerungen und Gesprächsbeiträge unter Umständen nicht als fachsprachlich erkannt, weil eine verbalsprachliche Analyse hier keinen Zugang zu deren Situations- und Kontextsensitivität ermöglicht. Übersetzt in den fachdidaktischen und unterrichtlichen Kontext heißt dies, dass Wissensvermittlung nicht nur fachsprachlich erfolgt und fachsprachliche Aspekte immer im Zusammenhang mit praktischen Aktivitäten zu untersuchen sind. Fachlichkeit wird in der vorliegenden Arbeit als gemeinsame Herstellungsleistung von Interaktionsbeteiligten unter Zuhilfenahme aller ihnen zur Verfügung stehenden Ausdrucksressourcen konzeptualisiert. Fachsprache verweist dabei auf die verbalsprachliche Komponente von Fachlichkeit, deren Strukturen nur kontextabhängig und situationssensitiv zu rekonstruieren sind und im Hinblick auf die bloße Verwendung chemischer Termini nicht ausreichend beschrieben sind. Im Rahmen eines fachlichen Kontextes können daher auch Äußerungen fachsprachliche Merkmale aufweisen, die interaktionsvorgängig als alltagssprachlich bezeichnet werden können. 2.3 Datenerhebung 2.3.1 Entstehungsprozess und Feldeinstieg Die Entstehungsgeschichte meines Dissertationsprojekts reicht weit über den eigentlichen Beginn der ersten Feldkontakte und der Datenerhebung hinaus und kann im Hinblick auf ihre Anfänge nicht genau lokalisiert werden. Das Untersuchungsfeld ‘Schule’ war für mich zunächst nicht unter einer wissenschaftlichen, sondern einer praxisbezogenen Perspektive interessant, da ich die Fächer Chemie und deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft für das gymnasiale Lehramt studierte. Ich verfügte als ehemalige Schülerin und angehende Lehrerin in erster Linie über alltagsweltliche Erfahrungen mit dem Feld, wobei meine Aufgabe zunächst vor allem darin bestand, den Perspektivenwechsel von der Schülerin zur Lehrerin zu vollziehen. Hierfür boten das Studium und private Kontakte zahlreiche Möglichkeiten, da ich dem Unterricht als Hospitantin beiwohnen konnte und das Feld ‘Schule’ erstmals unter der neuen Perspektive reflektierte. Im Rahmen meines Lehramtsstudiums absolvierte ich das 13-wöchige, sogenannte ‘Schulpraxissemester’ (PS), das in Baden-Württemberg obligatori- <?page no="59"?> Datenerhebung 59 scher Bestandteil des gymnasialen Studiums ist und eine Voraussetzung für die Zulassung zum Ersten Staatsexamen darstellt. Die Ziele des Schulpraxissemesters bestehen in einer ersten „Qualifizierung für die Schulpraxis“ und werden in den Handreichungen vom Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg folgendermaßen formuliert: Das PS dient der Berufsorientierung und Stärkung des Bezugs zur Schulpraxis bei den Studierenden für das gymnasiale Lehramt. Es ermöglicht ihnen ein frühzeitiges Kennenlernen des gesamten Tätigkeitsfeldes Schule unter professioneller Begleitung der Schulen, Staatlichen Seminare und der Hochschulen. Der Schulalltag mit den verschiedenen Unterrichtssituationen, mit unterschiedlichen Lehrerprofilen, aber auch den spezifischen Belastungen des Berufs wird von den Studierenden unmittelbar erfahren. Gleichzeitig erfolgt der erste Schritt der Qualifizierung für die Schulpraxis, die im Vorbereitungsdienst fortgeführt wird und mit dem Zweiten Staatsexamen soweit abgeschlossen wird, dass eine Einstellung in den Schuldienst möglich wird. (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport 2013, S. 1) Durch die Hospitation, die Erfahrungen in meinem eigenen, angeleiteten Unterricht und durch die pädagogischen und didaktischen Begleitseminare setzte ich mich mit der Rolle als Lehrerin reflexiv auseinander und bemerkte erstmals eine Diskrepanz zwischen unterrichtsvorgängigen, didaktischen Handlungsanweisungen einerseits und tatsächlicher Handlungsrealisierung im Unterricht andererseits. Die didaktischen Begleitseminare stellten uns Lehramtsanwärtern zahlreiches, inhaltlich nützliches Material zur Verfügung, mit dem wir Unterricht planen und vorbereiten konnten. Sie bereiteten uns aber kaum auf konkrete Unterrichtssituationen, d.h. auf die Interaktion mit den Schülern selbst vor, in der wir eine weitaus größere Fülle an Anforderungen zu bearbeiten hatten, als wir mit der Planung unserer Stunde abdecken konnten. Die Diskrepanz von Theorie und Praxis erschien mir im Fach Chemie besonders evident, da sich das faktische Anforderungsprofil durch die praktischen Tätigkeiten als wesentlich komplexer erwies und ich mich während des Unterrichts mit einer Fülle von Aufgaben konfrontiert sah, deren Bearbeitung wir im Didaktikseminar nie reflektierten. - Wie sollte es beispielsweise gelingen, den Aufmerksamkeitsfokus der Schüler nicht zu verlieren, während man sich auf ein nicht ungefährliches Experiment konzentrieren musste, das zudem ein hohes Maß an Zeitmanagement verlangte? - Wie konnte man zeitlich umfangreiche Experimente, wie etwa die Alkoholdestillation, in den Unterricht integrieren, ohne permanent mit dem Verlauf des Experiments beschäftigt zu sein? - Wann sollte ich fachsprachliche Begriffe verwenden, und wann waren alltagsweltliche Formulierungen zweckmäßiger? <?page no="60"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 60 Diese unbeantworteten und von der Didaktik oft unberücksichtigten Fragen bildeten einen wesentlichen Ausgangspunkt und die Motivation meiner wissenschaftlichen Beschäftigung mit (Chemie-)Unterricht. Ich begann mich immer mehr für die konkrete Interaktion im Unterricht zu interessieren, da ich zunächst intuitiv davon ausging, dass die Antworten auf meine Fragen nur in der Interaktion selbst liegen konnten. Zeitgleich lernte ich am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim durch Reinhold Schmitt das Forschungsfeld der multimodalen Interaktionsanalyse kennen, deren methodische, analytische und konzeptionelle Perspektiven mir von Anfang an als als Zugang für mein spezifisches Erkenntnisinteresse prädestiniert erschienen. Erstes Ergebnis der inzwischen langjährigen, kontinuierlichen Zusammenarbeit mit Reinhold Schmitt und dem Austausch bei den „Arbeitstreffen zu Fragen der multimodalen Kommunikation“ war meine Examensarbeit „Zur Spezifik des lehrerseitigen Anforderungsprofils im Chemieunterricht: Eine exemplarische, videobasierte Interaktionsanalyse“ (Putzier 2008). Datengrundlage bildeten Videoaufnahmen einer Doppelstunde Chemie zum Thema Säuren und Basen, die wir in meiner Praxissemester- Schule erhoben. Durch die kontinuierliche Auseinandersetzung mit Unterricht unter einer multimodalen Perspektive zeigte sich die Produktivität der Methode für den Bereich der Didaktik insgesamt und wir entwickelten ein handlungsgegründetes Konzept, das dem didaktischen Handeln des Lehrers in der Interaktion Rechnung trägt. Das Konzept der De-facto-Didaktik (Schmitt (Hg.) 2011 ) begreift das Lehrerverhalten im Unterricht als didaktisches Handeln und ist insofern analyseleitend, als es die situative und kontextspezifische, didaktische Qualität des Lehrerverhaltens in der Interaktion zu rekonstruieren versucht. Wir wählten einige prototypische Belege aus, anhand derer wir die didaktische Qualität solcher Verhaltensweisen rekonstruieren und demonstrieren konnten. So wurde das professionsspezifische Handeln im Chemieunterricht unter dem Aspekt der Inszenierung in Experimentalphasen untersucht und didaktisch ausgeleuchtet (Putzier 2011). Meine Rolle im Feld veränderte sich schließlich durch die Absolvierung des Referendariats, d.h. der Zweiten Staatsprüfung, und der anschließenden Einstellung in den staatlichen Schuldienst als Lehrerin für die Fächer Chemie und Deutsch. Einerseits konnte ich durch die Arbeit an unterschiedlichen Gymnasien Kontakte knüpfen und meinen Zugang zum Untersuchungsfeld ‘Schule’ für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Unterricht ausbauen und verfestigen. Andererseits wurde mir der immense Bedarf an einer empirisch fundierten, anwendungsbezogenen Didaktik für die Ausbildung und die alltägliche Schulpraxis bewusst. Die doppelte Rolle als Agierende im Handlungsfeld ‘Schule’ einerseits und als Analytikerin andererseits ermög- <?page no="61"?> Datenerhebung 61 lichen es mir, die Relevanzen des Wissenschaftsbereichs für die Praxis einschätzen und konkret umsetzen zu können. Gleichzeitig bin ich als Fachlehrerin mit dem gesamten Wissenschaftsbereich der Chemie, d.h. mit seinen Methoden und Praktiken, aber auch mit seinen Theorien und Terminologien vertraut. Diese doppelte Perspektive galt es, insbesondere bei der Datenkonstitution, zu reflektieren. Im Bezug auf die Dokumentation des Unterrichts achtete ich beispielsweise darauf, nur solche Lehrer auszuwählen, die mir zwar bekannt waren, aber mit welchen ich nicht in persönlichem Kontakt stand. Der Forschungsansatz der multimodalen Interaktionsanalyse faszinierte mich über den didaktischen Anwendungsbezug hinaus, und ich setzte mich im Rahmen meines Untersuchungsgegenstandes, d.h. der Durchführung von Experimenten im Chemieunterricht, tiefergehend mit dem Aspekt der Multimodalität auseinander. Ich arbeitete an dem im Rahmen der „Arbeitstreffen zur multimodalen Kommunikation“ am IDS entstandenen Sammelband „Raum als interaktive Ressource“ (Hausendorf/ Mondada/ Schmitt (Hg.) 2012) mit und entwickelte dabei das Konzept des Demonstrationsraums als Form der Wahrnehmungsstrukturierung (Putzier 2012). Aktuell bin ich an der Arbeitsgruppe „Interaktionsarchitektur und Sozialtopografie“ (Hausendorf/ Schmitt 2013) des Forschungsschwerpunktes „Sprache und Raum“ an der Universität Zürich beteiligt. Diese Arbeitsgruppe untersucht, mit welchen Implikationen die Architektur und die konkrete Nutzung des Raums für die Interaktion verbunden ist und bereitet in methodischer, analytischer und konzeptioneller Hinsicht die Etablierung eines neuen Forschungsbereichs vor. 36 2.3.2 Korpus Den Feldzugang musste ich mir zwar qua Profession nicht direkt erarbeiten, jedoch war meine aktive Rolle im Feld als Lehrerin kein Garant dafür, problemlos Videodaten für mein Dissertationsprojekt erheben zu können. Schule und Unterricht bilden ein äußerst sensibles Untersuchungsfeld, das sehr weitgehend von Bewertungsmechanismen geprägt ist. Neben der Qualitätsentwicklung und Evaluation von Schulen, in der bestimmte Bereiche schulischer Wirklichkeit analysiert, beurteilt und modifiziert werden sollen, 37 36 Zur detaillierten Beschreibung des Forschungsbereichs siehe Hausendorf/ Schmitt (2013). 37 In Baden-Württemberg ist das Landesinstitut für Schulentwicklung für die Fremdevaluation und Qualitätsentwicklung an Schulen zuständig. Siehe hierfür: www.ls-bw.de/ qeeva/ (Stand: 29.4.2013). <?page no="62"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 62 spielen Bewertungen und Beurteilungen auch für Lehrer, Schüler und Eltern als Einzelpersonen eine große Rolle. So werden Schüler beispielsweise während ihrer gesamten Schulzeit hinsichtlich ihrer Leistungen bewertet und beurteilt. Lehrer sind mit der Evaluation ihres professionellen Handelns seit ihrer Ausbildung konfrontiert und reagieren erfahrungsgemäß äußerst sensibel auf jegliche Form von Unterrichtsbesuchen und Unterrichtsbeurteilungen. Da scheint es nur verständlich, dass für viele Lehrer eine Dokumentation ihres Unterrichts durch Videoaufnahmen zunächst mit Widerständen verbunden ist. Eine wesentliche Voraussetzung für den Feldzugang bilden Glaubwürdigkeit und Vertrauen, die der Analytiker bei den ersten Feldkontakten herstellen muss. Meine professionelle Ausbildung, d.h. fachliche Qualifikation und die eigene Involviertheit in das Untersuchungsfeld ersparten mir sicherlich einige Hürden. Das Vertrauen hingegen musste ich mir, wie ein externer Analytiker, durch zahlreiche Gespräche im Vorfeld über die Zielsetzung, die Methode, den didaktischen Nutzen, die Dokumentation selbst oder datenschutzrechtliche Bestimmungen und durch Kontakte mit der Klasse erarbeiten. Obwohl sich einige Lehrer nach den vorbereitenden Gesprächen gegen eine Datenerhebung in ihrem Unterricht entschieden, reagierten die meisten sehr offen und interessiert. Leider scheiterten viele, bereits vereinbarte Aufnahmen an dem schülerseitigen bzw. elternseitigen Einverständnis, da die Befürchtung aufkam, die Schüler könnten auf der Grundlage der Videodaten bewertet werden. Dieser allgemeinen Dokumentationsproblematik im Untersuchungsfeld ‘Schule’ könnte man teilweise entgehen, indem man mit einer Kamera nur den Lehrer dokumentiert und das Schülerverhalten durch Audiodaten zugänglich macht, wobei sich auch diese Dokumentationsform gegebenenfalls als problematisch erwiesen hätte. Für ein spezifisch multimodales Interesse an Interaktion, an der Schüler und Lehrer gleichermaßen beteiligt sind, würde eine derartig monoperspektivische Dokumentation jedoch zu einer unbefriedigenden Verzerrung führen, die sich auch auf die Gegenstandskonstitution auswirken könnte. Die empirische Basis des Dissertationsprojekts bildet ein Korpus von insgesamt sechs Unterrichtsstunden, die im Zeitraum von 2008 bis 2010 an zwei unterschiedlichen Gymnasien erhoben wurden. Die Dissertation war von Anfang an als explorative Untersuchung angelegt: In einem ersten Schritt sollten auf der Grundlage von detaillierten Konstitutionsanalysen ausgewählter Fallbeispiele relevante Aspekte rekonstruiert werden, die in analytischer, methodischer und auch didaktischer Hinsicht, zunächst nur fallspezifisch, für die Interaktion im Chemieunterricht konstitutiv sind. In einem zweiten Schritt sollte das falltranszendierende Potenzial dieser Aspekte untersucht und ihre Übertragbarkeit auf andere Fälle überprüft werden. Dieser zweite Schritt er- <?page no="63"?> Datenerhebung 63 folgte bei der Analyse „Verfahren der Objekteinführung“ (vgl. Kap. 5) durch die Arbeit mit Kollektionen. Unter einer konstitutionsanalytisch-multimodalen Perspektive ist es diesbezüglich eine methodische Herausforderung, die vorliegenden Daten umfassend zu erschließen. Zu keinem Zeitpunkt der Dissertation ging es um eine quantitative Auswertung bzw. die Generierung statistisch relevanter Ergebnisse. Lerngruppe 1 Lerngruppe 2 Lerngruppe 3 Erhebungsdatum 21.4.2008 8.2.2010 3.3.2010 Schule Gym 1 Gym 1 Gym 2 Klassenstufe Sek I (9. Klasse) Sek II (10. Klasse) Sek I (6. Klasse) Gruppengröße 29 20 15 Lehrer A A B Klassenraum Stufensaal Stufensaal Praktikumsraum Unterrichtseinheit Säuren und Basen Alkohole Luft und Sauerstoff Stundenthema Eigenschaften von Säuren Alkoholische Gärung Verbrennung Experimenttyp Lehrerexperimente Lehrerexperimente Schülerexperimente Unterrichtsstunden 2 2 2 Kameraposition K1: Hinten mittig K2: Neben Lehrerpult K1: Hinten mittig K2: Neben Lehrerpult K1: Hinten links K2: Neben Lehrerpult Kamerafokus K1: Lehrer K2: Schüler K1: Lehrer K2: Schüler K1: Lehrer K2: Schüler Kameraführung K1: dynamisch K2: statisch K1: dynamisch K2: dynamisch K1: dynamisch K2: dynamisch Die Daten sind an zwei unterschiedlichen, allgemein bildenden Gymnasien (Gym 1 und Gym 2) in Baden-Württemberg erhoben worden. Dabei wurden drei verschiedene Klassenstufen dokumentiert, sodass sowohl die Sekundarstufe I als auch die Sekundarstufe II in den Daten repräsentiert sind. Während die Lerngruppe 1 (9. Klasse) und 2 (10. Klasse) bereits erfahren im Umgang mit chemischen Fachwissen sind, wurde bewusst eine Lerngruppe (3) ausgewählt, die diesbezüglich noch ganz am Anfang steht: Es handelt sich um eine 6. Klasse, die im Rahmen des sogenannten Naturphänomene-Unterrichts 38 erstmals Chemieexperimente durchführt. Durch den erheblichen Wissensunterschied der Lerngruppen konnten bestimmte interaktive Anforderungen, wie etwa die Demonstration von Objekten (vgl. Kap. 5), kontrastiv erfasst 38 Siehe Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (2004, S. 175). <?page no="64"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 64 werden. Der thematische Kontext ist ebenfalls durch eine große Varianz gekennzeichnet, da sowohl Themen der anorganischen (Lerngruppe 1 und 3) als auch der organischen Chemie (Lerngruppe 2) vertreten sind. Im Hinblick auf die Räumlichkeiten sind sowohl der klassische Stufensaal (Lerngruppe 1 und 2), in dem die Tische und Bänke stufenweise angeordnet sind, als auch der Praktikumsraum mit Schülerexperimentiertischen (Lerngruppe 3) repräsentiert. Die Sozialformen und Methoden des dokumentierten Unterrichts variieren innerhalb der jeweiligen Unterrichtsstunden, wobei einige Stunden insgesamt eher lehrerzentriert gestaltet sind (Lerngruppe 1 und 2), während andere Unterrichtsstunden vor allem schülerzentrierte Praktikumseinheiten repräsentieren (Lerngruppe 3). Im Bezug auf das Chemieexperiment sind also alle (didaktischen) Formen von Versuchen vertreten: Das Lehrerdemonstrationsexperiment, das Schülerdemonstrationsexperiment und Schülerexperimente in Partnerbzw. Gruppenarbeit. In den Fallanalysen wurden in erster Linie die lehrerzentrierten Sozialformen und Experimente fokussiert, während die Aufnahmen der schülerzentrierten Arbeitsformen vor allem als Hintergrundfolie für die Analyse dienten. Alle Unterrichtsstunden wurden mit zwei Kameras dokumentiert, wobei eine dynamische Kamera (K1) im hinteren Bereich des Klassenzimmers positioniert wurde und das Verhalten des Lehrers fokussierte. Eine zweite, zunächst statische Kamera (K2) wurde rechts neben dem Eingang platziert und dokumentierte das Schülerverhalten. Bei den Lerngruppen 2 und 3 wurde die statische Kameraführung zugunsten einer dynamischen Kameraführung aufgegeben, weil es mir bei diesen Aufnahmen ermöglicht wurde, einzelne Schüler, etwa bei Schülerbeiträgen oder Partnerexperimenten, fokussieren zu dürfen. Der Ton ist mit einem internen Mikrofon der Kamera 2 aufgenommen worden, wobei der Lehrer zusätzlich mit einem externen Funkmikrofon ausgestattet war, das mit der dynamischen Kamera (K1) verbunden wurde. Dadurch konnte sichergestellt werden, dass die Äußerungen des Lehrers auch während kurzzeitiger akustischer Beeinträchtigungen durch Experimente uneingeschränkt dokumentiert wurden. Da die Unterrichtsräume des Fachbereichs Chemie in der Regel mit den Sammlungen und Vorbereitungsräumen direkt verbunden sind, kam es häufiger vor, dass die Lehrer während des Unterrichts kurz den Raum verließen, um Chemikalien oder Laborgeräte zu holen, die beispielsweise von Schülern als Arbeitsinstrumente für aktuelle Experimente vorgeschlagen wurden. Die Vorbereitungsräume dienen den Chemielehrern sozusagen als zusätzliche Ressource, auf das Verhalten der Schüler flexibel reagieren zu können. Durch das externe Funkmikrofon können solche Raumwechsel der Lehrer akustisch verfolgt und im Bezug auf die verbale Organisationsstruktur genau rekonstruiert werden. <?page no="65"?> Datenerhebung 65 Zusätzlich zu den 12 Stunden Video- und Audiomaterial umfasst das Korpus zahlreiche Kopien von den jeweiligen Unterrichtsmaterialien, d.h. Arbeitsblätter, Erwartungshorizonte, Unterrichtsverläufe, Lernziele etc. Die Aufnahmen liegen etwa zu 80% transkribiert vor, wobei es sich aufgrund des spezifischen Erkenntnisinteresses um Basistranskripte 39 in Anlehnung an GAT 2 (Selting et al. 2009) handelt, die zunächst nur den verbalen Aspekt der Interaktion erfassen. Die Schülernamen sind maskiert und die Lehrer werden einheitlich mit der Sigle LE gekennzeichnet werden. erlenmeyer-kolb[en]; Simultansprechen [ei]n wie=wir schneller, unmittelbarer Anschluss .h .hh / h hh Einatmen/ Ausatmen (.) Mikropause (-)/ (--)/ (---) geschätzte Pausen von 0.25-0.75 Sek. (4.94) gemessene Pause frau: so: : Dehnung, Längung je nach Dauer DESTillation Fokusakzent ! SAFT! extra starker Akzent (nachher) vermuteter Wortlaut ((lachen)) außersprachliche Ereignisse ( ) unverständliche Passagen je nach Dauer <p> > piano, leise <pp> > pianissimo, sehr leise <f> > forte, laut <ff> > fortissimo, sehr laut <all> > allegro, schnell so? so, hoch/ mittel steigend sogleichbleibend so; so. mittel/ tief fallend Die Transkripte weisen keine multimodale Notation auf. Das körperlich-räumliche Verhalten wird in der vorliegenden Arbeit stattdessen mithilfe von Standbildern dokumentiert. Diese werden aus Rezeptionsgründen bewusst nicht direkt in die Verbaltranskripte eingefügt, sondern an passenden Stellen in die Analyse integriert. Das Ziel dieser Dokumentation besteht nicht darin, das gesamte körperlich-räumliche Verhalten aller Teilnehmer möglichst umfassend darzustellen, sondern zentrale, in der Analyse besprochene Aspekte sichtbar zu machen. Die Simultaneität von verbalem und visuellem Verhalten wird durch Fettdruck der entsprechenden Äußerungssilbe oberhalb des Standbilds angegeben. 39 Lautstärke- und Sprechgeschwindigkeitsveränderungen sind den Feintranskript-Konventionen entsprechend erfasst. <?page no="66"?> Fragestellung, Forschungsstand und Datenerhebung 66 18 LE: sondern das sind jetzt=so filterpapier STREI fen; 20 Nota: Aus datenschutzrechtlichen Gründen können die Videoaufnahmen nur einzelnen, durch die Autorin verifizierten Nutzer(inne)n zur Verfügung gestellt werden. <?page no="67"?> 3. DER CHEMIESAAL Wenn wir miteinander sprechen, einander zuhören oder gemeinsam praktischen Aktivitäten nachgehen, ist unser Sprechen, Zuhören und praktisches Tätigsein unweigerlich an Raum gebunden. So setzen wir dabei meist einen gebauten, d.h. physikalisch-territorial existenten Raum voraus, bei dem es sich je nach Interaktionssituation um einen geschlossenen oder ‘freien’, privaten oder öffentlichen Raum handeln kann. Die Bedeutung des gebauten und ausgestatten Raums für die Interaktion wird im Chemieunterricht besonders evident: Die Durchführung von Experimenten, bei der Chemikalien eingesetzt und Objekte im Raum arrangiert und präsentiert werden, verlangt eine spezifische Raumausstattung, die sich von einem herkömmlichen Klassenzimmer unterscheidet. Der Chemiesaal oder -praktikumsraum ist ein funktional hochgradig ausgestatteter Raum, der mit weitreichenden Implikationen für die Interaktion verbunden ist. Im Rahmen der multimodalen Interaktionsanalyse bildet Raum einen thematischen Schwerpunkt, der zur Herausbildung neuer, multimodaler Raumkonzepte geführt hat. 40 Der Einsatz von Videokameras als Dokumentationsmedium rückte die visuelle Qualität von Interaktion stärker in den Vordergrund und damit auch die Beobachtung, dass Interaktion und Raum untrennbar miteinander verbunden sind: Raum wird in der Interaktion immer unweigerlich benutzt, hergestellt und modifiziert. Im deutschsprachigen Kontext wurde der Zusammenhang von Raum und Interaktion beispielsweise unter den Schwerpunkten „Koordination“ (Schmitt (Hg.) 2007) und „Raum als interaktive Ressource“ (Hausendorf/ Mondada/ Schmitt (Hg.) 2012) in analytischer, theoretischer und methodisch-methodologischer Hinsicht eingehend untersucht. Dabei liegt der Fokus vor allem auf dem körperlich-räumlichen Verhalten der Interaktionsteilnehmer, die durch ihre Ko-Orientierung, Koordinierung und Kooperation permanent im Raum mit Raum umgehen (Hausendorf 2010). Einen wesentlichen Bezugspunkt 41 für diese Untersuchungen bilden Goffmans Arbeiten „Asylums“ (Goffman 1961) und „Behavior in public places“ (Goffman 1963), in welchen er das wechselseitige Verhältnis von Raum und menschlichem Handeln untersucht und seine Vorstellung von einem raumbezogenen situated activity system (Goffman 1961) entwickelt. Neben Goffman stellt die Forschungsrichtung der ‘context analysis’ (Birdwhistell 1970; Scheflen 1964, 1972 und Kendon 1990b) einen weiteren wichtigen Vorläufer der 40 Vgl. Forschungszusammenhang in Kapitel 2.2. 41 Eine ausführliche Darstellung der forschungsgeschichtlichen Tradition zum Thema Raum und Interaktion findet sich bei Schmitt (2013a). <?page no="68"?> Der Chemiesaal 68 multimodalen Perspektive auf Raum dar, obwohl hier Raum nicht als Untersuchungsgegenstand selbst, sondern als zentrale Grundlage menschlichen Handelns thematisiert wird. Während sich die Konversationsanalyse aufgrund ihres Primats des Verbalen vor allem mit sprachlichen Raumbezügen und Raumreferenzen beschäftigt (Schegloff 1972), wurde Raum in den ‘workplace studies’ (Luff/ Hindmarsh/ Heath (Hg.) 2000; Heath/ Luff 2000; Goodwin 2000a; Bergmann 1991) unter den Aspekten der Raumnutzung, des Umgangs mit Werkzeugen und technischen Geräten untersucht. Gemeinsam ist all jenen Studien, dass sie Raum im Interaktionsvollzug bzw. als relevante Ausdrucksressource für die Interaktion betrachten. Dabei kann jedoch leicht übersehen werden, welches Potenzial der gebaute oder gestaltete Raum bereits ‘mitbringt’, da er ja oftmals gerade für bestimmte Interaktionsformen hergerichtet wurde. In Anlehnung an den in der Konversationsanalyse formulierten Ansatz, nach dem Problem zu fragen, für das das Verhalten der Beteiligten eine Lösung darstellt, kann auch der physikalischterritoriale Raum als Lösung für ein interaktives Problem verstanden werden. Unter dieser Perspektive kann der Chemieraum als Lösung für das interaktive Problem gesehen werden, dass Chemieunterricht gemacht werden muss: Eine wesentliche (interaktive) Anforderung besteht in der fachspezifischen Wissensvermittlung, die zu einem großen Teil aus Experimenten, also dem Umgang mit Objekten besteht. Der Raum spielt hierbei eben nicht nur in der interaktiven Herstellung und Modifizierung eine Rolle, sondern ist zunächst einmal architektonisch existent: Dem Lehrer steht beispielsweise ein spezifischer Experimentiertisch zur Verfügung, der sich in seiner Beschaffenheit und Bebauung signifikant von anderen Lehrertischen unterscheidet und daher eine bestimmte Form von Interaktion nahelegt oder ermöglicht. Im ersten Analysekapitel soll also zunächst der ‘Ort des Geschehens’, der Chemiesaal, in den Blick genommen werden, der, wie sich bei der Analyse noch herausstellen wird, in seiner architektonischen Erscheinungsform und räumlichen Ausstattung mit weitreichenden Implikationen für die dort stattfindende Interaktion ‘Chemieunterricht’ verbunden ist. Ziel des Kapitels ist es also, zunächst einen Schritt ‘zurück’ zu gehen und das interaktionsarchitektonische Potenzial des Chemieraums sowie seine konkrete Raumnutzung zu beschreiben. Den Fluchtpunkt bildet dabei immer die Interaktion. Die zentralen Bezugspunkte für die Rekonstruktion der Implikationen bilden die Konzepte Interaktionsarchitektur und Sozialtopografie, 42 die im ersten Abschnitt skizziert werden sollen (Kap. 3.1). Anschließend soll zunächst der von Teilnehmern unbesetzte Chemieraum beschrieben und hinsichtlich seines 42 Die Begriffe werden erstmals im Beitrag „Interaktionsarchitektur und Sozialtopografie. Umrisse einer raumlinguistischen Programmatik“ eingeführt, der im Rahmen des UFSP Sprache <?page no="69"?> Die Konzepte Interaktionsarchitektur und Sozialtopografie 69 interaktionsarchitektonischen Potenzials ausgeleuchtet werden (Kap. 3.2.1). In einem zweiten Schritt wird dann im Sinne der Sozialtopografie die konkrete Nutzung des Chemieraums untersucht (3.2.2). Auf der Grundlage der Analyseergebnisse erfolgt im letzten Schritt die Konzeptentwicklung (3.3), die in einem abschließenden Resümee auf ihr falltranszendierendes Potenzial hin überprüft wird (3.4). 3.1 Die Konzepte Interaktionsarchitektur und Sozialtopografie Interaktionsarchitektur ist ein analyseleitendes Konzept, das die Implikationen für die Interaktion zu rekonstruieren versucht, die mit dem gebauten, gestalteten und ausgestatteten Raum verbunden sind. Die Auseinandersetzung mit Raum erfolgt bei der Architekturanalyse daher immer unter einer interaktionistischen Perspektive: Räume legen in ihrer architektonischen Erscheinungsform eine bestimmte interaktive Nutzung nahe, d.h. sie machen bestimmte Formen von Interaktion wahrscheinlich und möglich. Während die Interaktionsanalyse die faktische Nutzung des Raums als interaktive Ressource beschreibt, geht es bei der interaktionsarchitektonischen Analyse um die Rekonstruktion des interaktiven Potenzials, das durch die physikalisch-territorialen Strukturen des Raums zur Verfügung gestellt wird. Der analytische Zugang erfolgt dabei auf der Grundlage der interaktionsarchitektonischen Basiskonzepte, wie etwa - Sichtbarkeit, - Begehbarkeit, - Verweilbarkeit, - Begreifbarkeit und - Besetzbarkeit. Die Begriffsbildung der Basiskonzepte erfolgte nicht zufällig, sondern trägt den zentralen Aspekten Rechnung, die für die Interaktionsarchitekturanalyse leitend und untrennbar miteinander verbunden sind: das interaktionsbezogene Erkenntnisinteresse und das interaktionsarchitektonische Potenzial des Raums. Die Begriffe verweisen grundsätzlich auf Wahrnehmungen (sichtbar, begreifbar etc.) und Handlungen (begehbar, besetzbar etc.), die durch spezifische räumliche Voraussetzungen ermöglicht werden. Beispielsweise liegt es in einem Wartezimmer nahe, einen Stuhl zu besetzen und zu verweilen (wobei die positive Konnotation des Begriffes ‘verweilen’ nicht unbedingt mit der und Raum entstanden ist (Hausendorf/ Schmitt 2013). Zur Sozialtopografie des Raums siehe auch Schmitt (2013a). <?page no="70"?> Der Chemiesaal 70 Situation ‘Wartezimmer’ zu vereinbaren ist, die meist im Kontext von Behördengängen oder Arztbesuchen erfolgt). Eine Sporthalle hingegen, die im Bezug auf Gestaltung und Ausstattung im ungenutzten Zustand durch eine weitgehende ‘Leere’ gekennzeichnet ist, stellt in erster Linie eine freie Fläche zur Verfügung, die dynamische, raumgreifende Nutzungsformen wahrscheinlich(er) macht. 43 Wenngleich die Interaktionsarchitektur interaktionsvorgängige räumliche Strukturen zu rekonstruieren versucht, geschieht dies immer vor dem Hintergrund des Erkenntnisinteresses an Interaktion. Der Aspekt der Potenzialität des Raums manifestiert sich in der Begrifflichkeit der Basiskonzepte durch das Suffix ‘bar’: Bei der Raumanalyse geht es nicht darum, wie der Raum von Beteiligten in der Interaktion für ihre spezifischen Handlungszwecke als Ressource de facto genutzt wird, sondern um das „Möglich und Wahrscheinlich-Machen von Interaktion und Nutzung durch Architektur“ (Hausendorf/ Schmitt 2013, S. 6). Die interaktionstheoretische Grundlage der Raumanalysen wird besonders in der analytischen und methodischen Zielsetzung deutlich, „architektonische Erscheinungsformen als Lösungen interaktiver Probleme bzw. Aufgaben zu rekonstruieren“ (ebd., S. 7). Die „Probleme bzw. Aufgaben“ betreffen in erster Linie grundsätzliche interaktive Anforderungen, wie etwa die Ko-Orientierung, die Koordinierung und Kooperation von Beteiligten. So ist der zu analysierende Raum beispielweise dahingehend zu befragen, welche interaktiven Präsenzformen (sitzen, stehen etc.) oder sozialen Praktiken (reden, zuhören, demonstrieren) durch die Architektur nahegelegt werden. Nachgeordnet scheinen hingegen interaktive Anforderungen zu sein, die die Gesprächsorganisation betreffen. Man kann sich nur schwerlich einen Raum vorstellen, der allein durch seine Bebauung und Gestaltung implikationsreich im Hinblick auf die Sprecherwechselorganisation ist, obwohl der gestaltete Raum durchaus erste Hinweise auf eine symmetrische oder asymmetrische Verteilung von Rederechten geben könnte. Die Ausstattung von Räumen kann jedoch durchaus eine spezifische Lösung für solche ‘nachgeordneten’ Interaktionsprobleme darstellen. So gibt beispielsweise die technische Ausstattung eines Senderaums durch das Ensemble zweier Mikrofone und einer LED- Signalsäule Hinweise auf eine planvolle, von äußeren Faktoren abhängige Sprecherwechselorganisation (Mondada/ Oloff i.Vorb.). Betrachtet man Architektur als Lösung interaktiver Probleme, ist es heuristisch produktiv, institutionelle Räume zu analysieren, die als materiale Manifestation der Institutionalisierung gelten können. Die Institution ‘schreibt’ sich in die meist eigens für die Institution gebauten Räume ein und reproduziert sich, in sensu Oevermann, permanent selbst. Die Architektur eines 43 Zur Interaktionsarchitektur und Sozialtopografie der Sporthalle vgl. Schmitt (i.Vorb.). <?page no="71"?> Die Konzepte Interaktionsarchitektur und Sozialtopografie 71 typischen Klassenzimmers, das durch Tische und Stühle für viele Personen einerseits und einem einzelnen, meist entgegengesetzt ausgerichteten Tisch andererseits charakterisiert ist, kann als Lösung des interaktiven Problems beschrieben werden, dass eine Person vielen Personen Wissen vermitteln soll. 44 Wenngleich die Wissensvermittlung nicht aus der spezifischen Bestuhlung rekonstruierbar ist, legt die Raumausstattung mit Tafel und Projektoren doch nahe, dass etwa Fixierung oder Präsentation von Wissen stattfindet. Die interaktionsarchitektonische Analyse institutioneller Räumen führt vor Augen, dass architektonische Erscheinungsformen immer schon „Ausdruck und Manifestation gesellschaftlich wie kulturell vermittelter und geprägter Interaktionsorientierungen“ (Hausendorf/ Schmitt 2013, S. 3f.) sind. Raumnutzer müssen die Architektur eines Raums nicht erst grundlegend analysieren, weil ihnen das entsprechende ‘Raumnutzungswissen’ bereits vertrautheitsabhängig zur Verfügung steht. Das Konzept Sozialtopografie beschreibt genau diese „sozial und kulturell geprägten Orientierungen und handlungspraktischen Wissensgrundlagen von Raumnutzern“ (Schmitt 2013a, S. 353). Räume sind neben ihrer ‘objektiven’ architektonischen Erscheinungsform hochgradig sozial strukturierte Gebilde, 45 deren adäquate Nutzung kulturelles Spezialwissen voraussetzt. Bereits beim ersten Betreten eines Raums wird das gesellschaftliche Spezialwissen immer ‘mitgedacht’ und manifestiert sich in der konkreten Raumnutzung als Interpretation der interaktionsarchitektonischen Potenziale. Die Raumnutzung kann dabei der Realisierung usueller oder nicht-usueller Potenziale entsprechen. Das Spezialwissen kann in Anlehnung an Cicourel als „Normalform“ (Cicourel 1975, S. 34) beschrieben werden, 46 wodurch deutlich wird, dass es sich auch bei der situationssensitiven Interpretation interaktionsarchitektonischer Implikationen immer um gesellschaftliches und nicht um individuelles Wissen handelt. Während Interaktionsarchitektur interaktionsvorgängige Implikationen und Relevanzen von Raum für die Interaktion zu rekonstruieren versucht, setzt die Sozialtopografie immer schon einen Raumnutzer voraus. Sie verweist auf die sozialgeografischen Dimensionen des Raums, die sich in der konkreten Raumnutzung manifestieren. Dabei geht es noch nicht um den Interaktionsraum (Mondada 2007a), d.h. um die Frage, wie Beteiligte den Raum für ihre spezifischen Handlungszwecke als Ressource nutzen. Sozialtopografische Aspekte 44 Zur strukturfunktionalistischen Konzeption von Institutionen als Lösungen gesellschaftlicher Probleme siehe Berger/ Luckmann (1966). 45 Goodwin spricht von Raum als „highly structured cultural entity“ (Goodwin 2003a, S. 218). 46 Den Bezug zu Cicourels Konzept Normalform stellt erstmals Schmitt in seiner Ausführung zur Sozialtopografie her (Schmitt 2013a, S. 353). <?page no="72"?> Der Chemiesaal 72 des Raums sind bereits relevant und damit für den Analytiker empirisch zugänglich, sobald eine einzige Person den Raum für ihre Zwecke nutzt. Interaktionsarchitektur, Sozialtopografie und Interaktionsraum bilden ein Kontinuum, wobei die Interaktionsarchitektur weiter von der Interaktion ‘entfernt’ ist als die Sozialtopografie. Beide Konzepte sind indessen interaktionsvorgängig. Eine interaktionsarchitektonische Analyseperspektive führt zwangsläufig zur Konstitution neuer Daten und verlangt eine neue methodische Herangehensweise. Videoaufnahmen sind als Dokumente denkbar ungeeignet, da die interaktionsarchitektonischen Potenziale des Raums zugunsten der konkreten Realisierung in der Interaktion bereits eingeschränkt sind. Es bieten sich daher vor allem Standbilder, gegebenenfalls auch Zeichnungen und Skizzen an, 47 die im besten Fall zunächst die Architektur des Raums ohne Anwesende dokumentieren. Die Dokumente können den Raum dynamisch (z.B. 360°- Schwenk) oder statisch (Monoperspektive, Multiperspektivität etc.) abbilden (Hausendorf/ Schmitt 2013, S. 26). Die Standbildanalyse ist keine Bildbeschreibung, sondern erfolgt immer auf der Grundlage einer interaktionstheoretischen Perspektive. Das konkrete Analyseverfahren kann je nach Untersuchungsgegenstand variieren und besteht beispielsweise in einer - segmentalen Einzelbildanalyse (Schmitt/ Dausendschön-Gay i.Vorb.), - aspektualisierten Bildanalyse (Hausendorf/ Schmitt 2013) oder einer - Gesamtbildanalyse (Kesselheim i.Vorb.). Für die Gegenstandskonstitution gilt der gleiche Grundsatz wie in der Interaktionsanalyse: Der Untersuchungsgegenstand wird aus den Daten selbst entwickelt. Nachdem in einem ersten Analyseschritt die interaktionsarchitektonischen Implikationen des Raums rekonstruiert werden, erfolgt in einem zweiten Analyseschritt, weiterhin auf der Grundlage von Standbildern, die Fokussierung der konkreten Raumnutzung durch Beteiligte. Im zweiten Analyseschritt wird folglich das sozialtopografische Wissen analysiert, das einzelne oder mehrere Personen in ihrer spezifischen Nutzung des Raums, beispielsweise durch ihre Position oder ihre Präsenzform, verkörpern. 47 Standbilder sind aufgrund der interaktionstheoretischen Perspektive besonders geeignet. Im Verlauf der Analyse können Standbilder hinzugezogen werden, die die Nutzung des Raums durch Beteiligte zeigen. Da Skizzen und Zeichnungen in der Regel nicht für interaktionistische Zwecke angefertigt werden, kann die Sozialtopografie des Raums unter Umständen nicht rekonstruiert werden. Eigens für die Analyse von Interaktionsarchitektur angefertigte Skizzen und Zeichnungen müssten neben dem leeren Raum immer auch konkrete Raumnutzungen dokumentieren. <?page no="73"?> Standbildanalyse des Chemiesaals 73 Die schrittweise Analyse von Interaktionsarchitektur einerseits und Sozialtopografie andererseits stellen methodisch insofern eine Herausforderung dar, als wir als Alltagsmenschen von unserem sozialtopografischen Wissen permanent Gebrauch machen. Eine methodisch fundierte Analyse der Interaktionsarchitektur setzt voraus, dass wir das sozialtopografische Wissen möglichst ausblenden und uns die zu analysierenden Daten zunächst „fremd machen“ (Hausendorf/ Schmitt 2013, S. 22). Andernfalls wissen wir immer schon, was ein Chemiesaal oder eine Sporthalle ist und was sie von einem Wartezimmer unterscheidet. Das gesamte Spektrum interaktionsarchitektonischer Potenziale kann aber nur rekonstruiert werden, wenn alle Implikationen ‘sichtbar’ werden, die mit der Raumarchitektur verbunden sind. Und nur wenn die ‘Objektivität’ und Potenzialität des Raums erfasst wurden, kann die konkrete Raumnutzung, d.h. die Verkörperung sozialtopografischen Wissens als motivierte Auswahl aus dem Spektrum an Möglichkeiten verstanden werden. Bezogen auf den Chemiesaal erhebt diese methodisch motivierte Verfremdung den Anspruch, zunächst gerade nicht von einem Raum auszugehen, in dem Experimente als Form der Wissensvermittlung durchgeführt und demonstriert werden, sondern der Frage nachzugehen, welche interaktiven Probleme durch die spezifische Gestaltung und Ausstattung des Chemiesaals tatsächlich gelöst werden sollen. Dabei muss das Vorwissen nicht soweit ausgeblendet werden, dass eine Tafel nicht mehr als Tafel erkannt wird. Jedoch ist das gesamte chemische Fachvokabular für die Ausstattung des Raums, wie etwa Lehrerdemonstrationstisch, im Bezug auf das gesellschaftliche Spezialwissen so voraussetzungsreich, dass es eine umfassende Rekonstruktion des interaktiven Potenzials unnötig erschweren würde. 3.2 Standbildanalyse des Chemiesaals Im Folgenden soll der Chemiesaal unter einer interaktionsarchitektonischen (Kap. 3.2.1) und sozialtopografischen Perspektive (Kap. 3.2.2) anhand von ausgewählten Standbildern näher betrachtet werden. In der Analyse wird sich zeigen, dass die Gestaltung und Ausstattung des Raumes mit weitreichenden Implikationen für die Interaktion verbunden sind. Der Analyse sollen einige methodische und analytische Vorüberlegungen vorangestellt werden, die in erster Linie das Standbild als zentrale Dokumentationsgrundlage betreffen. Der analytische Zugang erfolgt durch die aspektualisierte Bildanalyse (Hausendorf/ Schmitt 2013), da es auffällige und dominante Raumaspekte gibt, die, wie die Analyse des ersten Standbildes deutlich machen wird, sichtbar im Vordergrund stehen. Die Auswahl der Standbilder erfolgte im Bezug auf mein spezifisches Erkenntnisinteresse schrittweise und ging gewissermaßen <?page no="74"?> Der Chemiesaal 74 aus der Analyse des ersten Standbildes hervor. Dabei erwies sich ein Raumaspekt, der fest installierte Lehrerdemonstrationstisch, als besonders auffällig, weswegen eine Abfolge von Standbildern nahelag, die Raumnutzungen im Bezug auf genau diesen Aspekt dokumentiert. Alle Standbilder wurden aus einer Videoaufnahme zum Chemieunterricht in einer 10. Klasse extrahiert, d.h. ihnen liegen Daten zugrunde, die speziell für die Analyse von Interaktion erhoben wurden. Die Vorteile einer solchen Datengrundlage bestehen im unbegrenzten Zugang zu Standbildern, die die Raumnutzung von Beteiligten dokumentieren und damit dem sozialtopografischen Erkenntnisinteresse entsprechen. Die ausgewählten Standbilder folgen der Sequenzialität des Interaktionsdokuments und können in analytischer wie methodischer Hinsicht daher auch als ‘Vorwissen’ in die Analyse des nachfolgenden Standbildes mit einbezogen werden. Die Nachteile eines aus einem Interaktionsdokument extrahierten Standbildes betreffen meist die interaktionsarchitektonische Perspektive, werden unter einem interaktionistischen Erkenntnisinteresse doch meistens Räume dokumentiert, in denen Interaktionsbeteiligte bereits anwesend sind. Der Analytiker steht folglich vor der methodischen Herausforderung, den Raum allein in seiner architektonischen Erscheinungsform zu beschreiben, ungeachtet aller Beteiligten, deren Anwesenheit 48 bereits eine Interpretation des interaktionsarchitektonischen Potenzials darstellt. Für die vorliegende Analyse stehen Standbilder zum leeren, ‘unbesetzten’ Chemiesaal zur Verfügung, die zum Teil unmittelbar vor dem Unterricht im Rahmen von Probeaufnahmen entstanden sind. Einzelne Detailaufnahmen der Raumausstattung, wie etwa Aufnahmen von der Rückseite des Lehrerdemonstrationstisches oder von der Verankerung der Tische, wurden nachträglich erhoben. Ein weiterer Aspekt besteht in der Perspektive der Dokumentationskameras, die jeweils auch für die Untersuchung von Interaktion positioniert und ausgerichtet wurden. So fokussiert die statische Kamera der den Standbildern zugrundeliegenden Videoaufnahme den Raumbereich der Schüler, während die dynamische Kamera das Verhalten des Lehrers dokumentiert und entsprechend regelmäßig von der Totalperspektive auf Naheinstellungen wechselt. Es liegt auf der Hand, dass solche Naheinstellungen für die Dokumentation der Raumarchitektur denkbar ungeeignet sind. 48 Hier ist Anwesenheit nicht im Sinne Goffmans als „immediate presence“ von zwei oder mehr Beteiligten zu verstehen, die durch ihre Anwesenheit und ihre wechselseitige Wahrnehmung eine soziale Situation konstituieren (Goffman 1964, S. 135; zum interaktionistischen Konzept von Anwesenheit siehe auch Hausendorf 2004). Anwesenheit meint hier die physikalische Gegebenheit, dass mindestens eine Person körperlich präsent ist und den Raum dadurch, in welcher Form auch immer, nutzt. <?page no="75"?> Standbildanalyse des Chemiesaals 75 Wenngleich die Nachteile von Standbildern, die aus Interaktionsdokumenten extrahiert wurden, nicht zu leugnen sind, stehen sie einer Beschäftigung mit den Daten unter einer interaktionsarchitektonischen und sozialtopografischen Perspektive keinesfalls im Weg. Sie sollten bei der Analyse allerdings reflektiert und hinsichtlich ihrer methodischen und analytischen Implikationen bedacht werden. Für die zukünftige Entwicklung der Forschungsperspektive Interaktionsarchitektur und Sozialtopografie gilt es neben methodischen Aspekten vor allem Fragen neuer bzw. anderer Dokumentationsformen zu klären. 3.2.1 Der leere Chemieraum In einem ersten Analyseschritt soll auf der Grundlage des ersten Standbildes (Abb. 21), das den Chemieraum als leeren, ‘unbesetzten’ Raum dokumentiert, die interaktionsarchitektonische Struktur des Raums rekonstruiert werden. Dabei erfolgt zunächst eine „deskriptive Erfassung“ (Hausendorf/ Schmitt 2013, S. 32) aller Raumaspekte, die für mein spezifisches Erkenntnisinteresse von Bedeutung sind. Die interaktionsarchitektonischen Basiskonzepte sind dabei analyseleitend und verhindern eine ungeordnete Deskription aller wahrnehmbaren Raumaspekte im Sinne einer Bildbeschreibung. Gleichzeitig wird die deskriptive Erfassung durch das Dokument immer auch selbst strukturiert, da die spezifische Raumgestaltung und -ausstattung relevante Raumaspekte anbieten und deren Untersuchung geradezu „einfordern“ (ebd, S. 33). Bevor ich mit der Analyse beginne, sei noch auf einen terminologischen Aspekt hingewiesen: Zunächst werde ich aus methodischen und analytischen Gründen bewusst auf den allgemein gebräuchlichen Begriff des ‘Chemiesaals’ verzichten und stattdessen den Begriff ‘Chemieraum’ verwenden. Die interaktionsarchitektonische Rekonstruktion dient der Beschreibung eines möglichst ‘kulturfreien’ Raums in seiner physikalisch-materialen Gestaltung und Ausstattung im Hinblick auf ihr interaktives Potenzial. Dabei ist es hilfreich, wenn die beschreibungssprachlichen Kategorien kulturell möglichst wenig ‘aufgeladen’ sind, wohlwissend, dass Sprache immer kulturell, semiotisch, soziologisch und ästhetisch geprägt ist. Während ‘Raum’ ganz global als ein „durch Boden, Decke und Wände begrenzter, in sich abgeschlossener Teil eines Gebäudes“ (DWDS 2013) definiert wird, ist der Begriff des ‘Saals’ als „großer Gesellschaftsraum“ (ebd.) kulturhistorisch wesentlich ‘gesättigter’, verweist er doch auf spezifische Aktivitätstypen und Formen der Vergesellschaftung. Der Rückgriff auf die Konstruktionsterminologie der Architektur, in der ‘Saal’ ganz allgemein als „der größte oder weiteste Raum [...] eines öffentlichen Gebäudes“ (Lueger (Hg.) 1909, S. 535) definiert wird, ist nur wenig hilfreich, da sich ein Chemiesaal hinsichtlich seiner Größe meist nur wenig von herkömmlichen Unterrichtsräumen unterscheidet. <?page no="76"?> Der Chemiesaal 76 Der bewusste und reflektierte Einsatz adäquater Beschreibungskategorien dient einerseits der begrifflichen Schärfung des Analysegegenstands, andererseits zwingen die Kategorien den Analytiker in methodischer Hinsicht kontinuierlich zu überprüfen, ob er gerade eine interaktionsarchitektonische oder eine sozialtopografische Perspektive einnimmt. Bei der deskriptiven Erfassung des Raums lasse ich mich von der Struktur des Standbildes selbst (Abb. 21) leiten, durch das einzelne Raumaspekte relativ zur Erkenntnisperspektive stärker hervorgehoben werden als andere. Die spezifische Dokumentation des Chemieraums ist nicht zufällig: Die Kamera ist mittig, am Ende eines Mittelgangs platziert und erkennbar auf ein Vorne (Tafel, Lehrerpult etc.), d.h. die Stirnseite des Raums ausgerichtet. Sie folgt in dieser Ausrichtung genau der Orientierung, die Beteiligte einnehmen, wenn sie auf den Stühlen Platz nehmen. Zudem wird die stark symmetrische Ausrichtung des Raums im Bereich der Sitzbänke durch die Kameraposition augenfällig. Die Raumdeskription erfolgt immer im Rahmen der Perspektivität des ausgewählten Standbildes. Ziel der deskriptiven Erfassung ist es, das, was wir fraglos als Vorne wahrnehmen, auf der Grundlage der Basiskonzepte in seiner Spezifik zu rekonstruieren. Die Deskription des ersten Standbildes dient daher der interaktionsarchitektonischen Präzisierung der intuitiven Wahrnehmung von einem ‘Vorne’. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, welche Raumaspekte auf ein ‘Vorne’ verweisen und ob sie Teil des ‘Vorne’ sind oder einem ‘Hinten’ angehören. Darüber hinaus ist nach der Struktur des ‘Vorne’ zu fragen: Handelt es sich um einen klar abgrenzbaren, einheitlich strukturierten Raumbereich oder weist das ‘Vorne’ eher eine unscharfe Kontur auf? Handelt es sich um eine Binnenstruktur, die in einzelne Teilbereiche gegliedert ist? Wie verhält es sich mit der Begeh-, Begreif- und Sichtbarkeit des ‘Vorne’, und gibt es in dieser Hinsicht Unterschiede zu einem möglichen ‘Hinten’? Zur Beantwortung dieser Fragen werde ich zunächst den Raumbereich der Sitzbänke deskriptiv erfassen und dann die Stirnseite von links nach rechts beschreiben. Die an die Stirnseite angrenzenden Wände sollen abschließend in der Erfassung relevanter Raumaspekte berücksichtigt werden. Die Reihenfolge der Deskription der einzelnen Raumaspekte ist also methodisch motiviert, wobei eine andere Reihenfolge zu demselben Ergebnis führen sollte, wenn man - im Sinne der objektiven Hermeneutik (Oevermann et al. 1979; Wagner/ Oevermann 2001) - davon ausgeht, dass sich eine Fallstruktur permanent reproduziert. <?page no="77"?> Standbildanalyse des Chemiesaals 77 3.2.1.1 Sitzreihen 21 Das Standbild zeigt insgesamt drei Sitzreihen, die durch einen circa einen Meter breiten, d.h. bequem begehbaren Mittelgang in zwei Blöcke unterteilt sind. Die Tische sind zum ‘Vorne’ hin leicht abgestuft angeordnet und ermöglichen damit auch in den hinteren Reihen die freie Sicht auf das Vorne. Wenngleich eine Verankerung der Tische im Boden anhand des Standbildes nicht zweifelsfrei zu erkennen ist, lassen die auf den Tischen mittig installierten Konstruktionen auf eine Invarianz der Tische schließen. Bei den Konstruktionen handelt es sich um symmetrisch gebaute, kastenförmige Elektronikleisten, die neben vier Stromanschlüssen links und rechts jeweils einen Gashahn aufweisen. An den beiden vorderen Tischen befinden sich jeweils vier Stühle, die im Gegensatz zu den Tischen zum mobilen Inventar des Raums gehören. Sowohl die Position der vorderen Stühle, die unmittelbar an die Tische gerückt sind, als auch die unterschiedliche Stellung der Stühle in den hinteren Reihen liefern klare Hinweise auf ihre Mobilität. Obwohl das Standbild in den hinteren Reihen nur drei bzw. zwei Stühle pro Tisch dokumentiert, ist anzunehmen, dass die übrigen Tische, die durch die Kameraperspektive nicht vollständig einzusehen sind, ebenfalls vier Stühle aufweisen. Das ‘Hinten’ weist also eine einheitliche Bestuhlung auf, die auch für andere Unterrichtsräume charakteristisch ist (vgl. Schmitt/ Dausendschön-Gay i.Vorb.). In methodischer Hinsicht gilt es zu reflektieren, dass bei der Standbildanalyse immer wieder nicht sichtbare Raumaspekte ergänzt werden, bei welchen es sich erkennbar um wiederkehrende Strukturelemente handelt (ebd.). Ausgehend von den vorderen, in Gänze einsehbaren Tischen und Stühlen können Rückschlüsse auf die Struktur der hinteren Tische gezogen werden, da es wiederkehrende Strukturelemente wie die symmetrisch und gleichartig beschaf- <?page no="78"?> Der Chemiesaal 78 fenen Tische oder die mittig platzierten Elektroinstallationen gibt. Hinzu kommt die symmetrische Anordnung der Elektroinstallation, die offensichtlich vier Stromanschlüsse zur Verfügung stellt. Fragt man nach den Implikationen, die mit den beschriebenen Raumaspekten für die (mögliche) Interaktion verbunden sind, steht hier vielen, genau genommen 24 Benutzern ein Raumbereich zur Verfügung, der vornehmlich zum Sitzen und Sehen eingerichtet ist. Die Tische können als Arbeitstische verwendet werden, da sie neben potenziellen Schreib- oder Leseaktivitäten aufgrund der installierten Elektronikleisten auch praktische Handlungen ermöglichen. Wenn tatsächlich vier Personen am Tisch handlungspraktisch aktiv werden, ist eine ‘side-by-side-Position’ naheliegend, da der begrenzte Platz zwischen den Stühlen und der angrenzenden hinteren Reihe eine kreisförmige Anordnung um den Tisch erschweren würde. Selbst im Falle praktischer Handlungszusammenhänge würde sich das Vorne in die Position und Ausrichtung der Benutzer unvermeidlich ‘einschreiben’. Die Begehbarkeit und vor allem die Bestehbarkeit der Tische sind durch die Stühle und die enge Anordnung der Tische stark eingeschränkt, sodass eine klare Präferenz in der Präsenzform ‘Sitzen’ besteht. Die beengte Anordnung der Sitzreihen steht in gewisser Weise im Gegensatz zu dem breiten Mittelgang, der genug freie Fläche zur Verfügung stellt, um nebeneinander oder aneinander vorbei zu gehen. Gleichzeitig verweist die Koexistenz von Sitzreihen einerseits und Mittelgang andererseits darauf, dass der Gang nicht zum Verweilen, Spazieren oder Schlendern 49 gedacht ist, sondern einen Zubzw. Ausgang der Sitzreihen darstellt, der gleichzeitig von beiden Seiten unbehindert begangen werden kann. Sowohl auf der linken als auch auf der rechten Seite der Sitzreihen befindet sich ein Außengang, dessen Breite nicht ohne Weiteres aus dem Standbild ersichtlich ist. Die beiden seitlich installierten Hähne der vorderen Tischreihen lassen jedoch ein Mindestmaß an Begehbarkeit vermuten, das für die usuelle Nutzung der Hähne erforderlich ist. Die Sitzreihen sind bereits für sich genommen für die Rekonstruktion des interaktionsarchitektonischen Potenzials des Raums sehr aufschlussreich: Auf der Grundlage der Basiskonzepte kann der Raumbereich - zunächst ohne 49 Die Konzepte Schlendern und Spazieren sind auf der Ebene der Interaktion im Sinne einer situierten Praktik (vgl. „Gehen als situierte Praktik“, Schmitt 2012a) zu verorten. Die hinreichende architektonische Erscheinungsform zur Realisierung dieser Praktiken besteht jedoch nicht nur in einer freien, gut begehbaren Fläche, sondern ist wesentlich voraussetzungsreicher. Unter anderem ist die Größe an begehbarer Fläche relevant, die hier nicht über ein paar Meter hinausreicht. Vor allem aber ist es die Ausrichtung des Gangs auf ein Vorne, das den Fluchtpunkt bildet und die Funktionalität des Gangs als Zubzw. Ausgang entsprechend konstituiert. <?page no="79"?> Standbildanalyse des Chemiesaals 79 Bezug auf andere Raumaspekte - hinsichtlich seines interaktiven Potenzials wie folgt beschrieben werden: - Sichtbarkeit: Die gestufte Anordnung der Tische und die Ausrichtung auf ein Vorne gewährleistet unabhängig vom jeweiligen Ort eine weitgehend uneingeschränkte Wahrnehmung. - Besetzbarkeit: Die Anzahl und Ausrichtung der Tische und Stühle legen nahe, dass viele Benutzer gleichzeitig - insbesondere sitzend - anwesend sind. - Begreifbarkeit/ Handhabbarkeit: Die Ausstattung der Tische mit Elektronikleisten, Gas- und Wasserhähnen ermöglicht handlungspraktische Aktivitäten, die jedoch aufgrund der eingeengten - Bestehbarkeit der Tische erschwert sind. - Begehbarkeit: Durch den Mittelgang und die Außengänge wird der Zugang zu bzw. Ausgang aus den Sitzreihen auch für mehrere Personen ermöglicht. Die Ausrichtung des Mittelgangs auf das Vorne legt gleichzeitig nahe, dass die Gänge nicht für Verweilbarkeit ausgelegt sind. 3.2.1.2 Die Stirnseite Auf den ersten Blick stellt sich das, was bisher als ‘Vorne’ bezeichnet wurde, als eine zergliederte, multiaspektuelle Stirnseite dar, deren interaktionsarchitektonisches Potenzial nicht ohne Weiteres erkennbar ist. Daher sollen im Folgenden alle relevanten Raumelemente von links nach rechts deskriptiv erfasst und im Bezug auf die Basiskonzepte interaktionsarchitektonisch ‘ausgeleuchtet’ werden. (1) Tür und Tafel Links befindet sich eine geschlossene Tür, die offensichtlich nach innen geöffnet werden muss, will man sie als Durchgang nutzen. Durch die verschlossene Tür sind Sichtbarkeit und Begehbarkeit in diesem Bereich eingeschränkt. Aus dem Standbild lässt sich nicht ersehen, ob die Tür zu einem Gang oder einem angrenzenden Raum führt. Die Tatsache jedoch, dass sich die Tür an der Stirnseite, d.h. in einem für Wahrnehmung hergerichteten Raumbereich befindet und an der rechten Seite des Raums eine zweite, nach außen zu öffnende Tür vorhanden ist, lässt auf eine Funktionalität der Tür schließen, die über die Zugänglichkeit des Chemieraums hinausgeht. Wenn die Tür zu einem angrenzenden Raum führt, kann es sich um eine Art Hinterbühne (Goffman 1959) handeln, 50 die nicht allen Raumnutzern in gleicher Weise zur Verfügung steht. 50 Im Rahmen der Standbildanalyse eines Altarraums charakterisieren Hausendorf/ Schmitt die unmittelbar am Altarraum angrenzende Sakristei als Hinterbühne, die ebenfalls durch eine an der Stirnseite befindliche Tür zugänglich ist (Hausendorf/ Schmitt 2013). <?page no="80"?> Der Chemiesaal 80 Einen sicheren Hinweis auf eine spezifische Funktion der Tür liefert das über dem Türrahmen montierte grüne Schild, das die Tür als Notausgang kennzeichnet. Mit dem Schild sind Implikationen für die (mögliche) Interaktion im Chemieraum verbunden, da die Bezeichnung der Tür als „Notausgang“ - eine Interaktionssituation nahelegt, an der viele Personen beteiligt sind, - die bei einem Notfall den Raum schnell verlassen können, ohne dass jemand dabei zu Schaden kommt und - Hinweise auf einen handlungspraktischen Kontext gibt, in dem ein solcher Notfall wahrscheinlicher als in anderen Unterrichtsräumen ist, die in der Regel nicht über einen eigenen Notausgang verfügen. Die durch die Farbe produzierte Signalwirkung des Schildes wird durch ein zweites, seitlich vom Türrahmen angebrachtes rotes Schild verstärkt, das mit einem „F“ gekennzeichnet ist. Die beiden Feuerlöscher links neben der Tür liefern ähnliche Hinweise auf einen möglichen Notfall, der sich durch die Gegenstände als Brandgefahr spezifizieren lässt. Die Handhabbarkeit der Feuerlöscher wird dadurch evident, dass sie gerade nicht in einer Vorrichtung an der Wand angebracht sind, sondern für den sofortigen Gebrauch auf einem Ablagetisch stehen. Seitlich und oberhalb von der Tür sind einige Gegenstände angebracht, wie etwa ein Lautsprecher, von dem ein zweiter am rechten Bereich der Stirnseite montiert ist. Die Lautsprecher liefern einen ersten expliziten Hinweis auf den Aspekt der Hörbarkeit: Durch die technische Ausstattung wird die auditive Wahrnehmung von Informationen (oder Lehrinhalten) für viele Personen ermöglicht, wobei die Lautsprecher aufgrund der überschaubaren Größe des Raums nicht als Lösung von „Hörbarkeitsproblemen“ (Hausendorf/ Schmitt 2013, S. 35) zu interpretieren sind. Die Lautsprecher können vielmehr als Ensemble mit dem an der Decke montierten Videoprojektor verstanden werden, das eine kombinierte Nutzung der technischen Geräte, beispielsweise im Rahmen von Präsentationen und Referaten, nahelegt. Es ist also nicht das von den Beteiligten gesprochene Wort, das technisch verstärkt werden muss, sondern Lehrinhalte, die sowohl visuell als auch auditiv wahrgenommen werden sollen. Im Zentrum der Stirnseite befindet sich eine circa zwei Meter breite Schiebetafel, die aus zwei hintereinander angeordneten Tafelflächen besteht. Hinter der Tafel ist der obere Teil einer weißen Projektionsfläche zu erkennen. Die Tafel ist unter interaktionsarchitektonischer Perspektive in zweierlei Hinsicht aufschlussreich: Im Hinblick auf die handlungspraktischen Aktivitäten des Lehrers wird durch die Tafel die Dokumentation und Fixierung von Lehrinhalten im Vollzug des Unterrichts ermöglicht. Das ‘Vorne’ ist also auch ein <?page no="81"?> Standbildanalyse des Chemiesaals 81 Schreibbereich, der vom Lehrer in Anspruch genommen werden kann. Die Benutzung der Tafel als Schriftträger schließt einen gleichzeitigen Einsatz des Video- oder Overheadprojektors aus, da die Schreibflächen die entsprechende Projektionsfläche verdecken. Aus dem Blickwinkel der Schüler erweitert die Tafel das auf Wahrnehmung ausgerichtete Vorne auf den Aspekt der Lesbarkeit. Das vom Lehrer schriftlich Fixierte ist nur dann funktional, wenn es auch in den hinteren Sitzreihen lesbar ist. Gleichzeitig können die fixierten Lehrinhalte nicht nur gelesen, sondern auch mitbzw. abgeschrieben werden, da den Schülern die Tische als Schreibfläche für ihre Hefte zur Verfügung stehen. Der Chemieraum ist daher, ausgehend von seiner allgemein auf Wahrnehmung ausgerichteten Spezifik, auch als ein „Vor-, Mit- und Aufschreib-, ein Vor- und Mit-Leseraum, ein Schriftraum“ (Hausendorf 2012b, S. 50) zu charakterisieren. (2) Lehrertisch Vor der Tafel befindet sich, einen halben Meter nach rechts abgesetzt, das Lehrerpult oder - um eine ‘kulturfreiere’ Bezeichnung zu wählen - der Lehrertisch, wenngleich damit eine spezifische Form des Beteiligungsformats impliziert ist. Der Lehrertisch ist nicht nur Teil der Stirnseite, sondern steht im Zentrum des Vorne und unterscheidet sich signifikant von allen anderen Elementen der Stirnseite. Der Lehrertisch ist im Boden verankert und besteht aus einem visuell undurchlässigen Bauelement, sodass der Lehrer, der - von den Sitzreihen ausgehend - hinter dem Tisch steht, nur etwa ab der Hüfte sichtbar ist. An der Frontseite des Tisches befinden sich zwei Steckdosen sowie ein gelb-rot markierter Schalter. An der rechten Seite des Lehrertisches ist ein Waschbecken mit drei Wasserhähnen angebracht, das unmittelbar an den Unterbau anschließt. Die Frontseite, die in den Farbtönen Weiß und Grau gehalten ist, weist auf der linken Seite eine Schranktür auf, die einen Hinweis darauf gibt, dass der Unterbau des Tisches nicht aus ästhetischen, sondern aus praktischen Gründen visuell undurchlässig ist. Das Ensemble von Schranktür, Steckdosen und Schalter lässt etwa auf eine technische Versorgung des Unterbaus schließen, auf die auch die Verankerung des Lehrertisches zurückzuführen ist. Die Tischplatte hebt sich in zweierlei Hinsicht von dem Unterbau des Lehrertisches ab: Einerseits besteht ein farblicher Kontrast zwischen der roten Tischplatte und dem weiß-grau gehaltenen Unterbau, andererseits ist die Tischplatte gefliest, während der Unterbau aus Kunststoff oder Holz gefertigt ist. Die Fliesen legen - interaktionsarchitektonisch gesprochen - in erster Linie praktisch orientierte Handlungszusammenhänge nahe: Durch ihre Materialeigenschaften wie etwa <?page no="82"?> Der Chemiesaal 82 Hitzebeständigkeit und Abriebfestigkeit sind sie als Teil von Arbeitsflächen meist im Bezug auf den Einsatz von Flüssigkeiten oder Hitze funktional. So ist es beispielsweise für Küchen oder Bäder konstitutiv, dass sie in bestimmten Bereichen mit Fliesen ausgestattet sind. Neben dem Waschbecken liefern vor allem die auf dem Lehrertisch befindlichen Gegenstände zusätzliche Hinweise auf die spezifische Funktionalität der Fliesen. Rechts auf der Tischplatte, oberhalb vom Waschbecken, stehen zwei Plastikflaschen, die als Putzbzw. Spülmittel identifiziert werden können. In der Mitte des Lehrertischs sind zwei Bunsenbrenner platziert, die jeweils mit einem hinter den Lehrertisch verlaufenden Schlauch verbunden sind. Offensichtlich ist im Lehrertisch auch eine Gasversorgung integriert, die die Arbeit mit einer offenen Flamme ermöglicht. Eine zentrale Voraussetzung zur Nutzung des durch die spezifische Bebauung des Lehrertischs nahegelegten Potenzials ist die Begehbarkeit bzw. Bestehbarkeit des Lehrertischs. Im Gegensatz zum Raumbereich der Sitzreihen ist das Vorne durch eine wesentlich großzügiger begehbare Fläche ausgestattet. Der Abstand zwischen dem Lehrertisch und der ersten Sitzreihe ist auffällig groß, vergleicht man dies mit herkömmlichen Unterrichtsräumen, in welchen der Lehrertisch oft unmittelbar an die Schülertische anschließt (vgl. Schmitt/ Dausendschön-Gay i.Vorb.). Wenngleich der Abstand zwischen Tafel und Lehrertisch durch die vom Standbild zur Verfügung gestellte Perspektive nicht genau bestimmt werden kann, ist die allseitige Begehbar- und Zugänglichkeit des Tisches nicht zu übersehen. Die Tischplatte ist ein ganzes Stück höher als die der Schülertische und liefert daher Hinweise darauf, dass Beteiligte an diesem Tisch im Stehen und nicht im Sitzen (inter-)agieren. Auch die im Kontrast zu den Sitzreihen auffällige Abwesenheit von Stühlen (bis auf den neben dem Overheadprojektor platzierten Stuhl, der aufgrund seiner Position und Ausrichtung eher abgestellt als hergerichtet erscheint) verdeutlicht die interaktionsarchitektonisch nahegelegte Präsenzform des Stehens oder Gehens im Raumbereich des Vorne. Obgleich der Lehrertisch prinzipiell von allen Seiten begehbar und bestehbar ist, wird vor allem durch die Ausrichtung der Sitzreihen der Schüler eine präferierte Nutzung des Lehrertisches sichtbar: Der Lehrer steht aus Sicht der Schüler hinter dem Lehrertisch, sodass sich eine ‘face-to-faces-Konstellation’ 51 51 Die Begriffe ‘face-to-faces’, ‘back-to-faces’, oder ‘side-to-faces’ werden im Folgenden verwendet, um die sogenannte „Raumnutzerkonstellation“ (Kap. 3.3.1) zu beschreiben. Sie sind daher im Rahmen einer sozialtopografischen Perspektive zu verstehen und nicht im Sinne interaktiver Relevanzen. Näheres hierzu siehe Kapitel 3.2.2. In diesem Zusammenhang erscheint auch die Verwendung des Plural „faces“ plausibel, da der Lehrer nicht auf einen einzelnen Schüler, sondern auf die gesamte Klasse ausgerichtet ist. <?page no="83"?> Standbildanalyse des Chemiesaals 83 ergibt und die Nutzung des Tisches durch den Lehrer für die Schüler sichtbar und vor allem wahrnehmbar ist. Eine längerfristige ‘back-to-faces-Konstellation’ wäre mit weitreichenden Implikationen für die Interaktion verbunden, die der „Normalformerwartung“ (Cicourel 1975) der Lehrerrolle im Unterricht entgegenstünden. Die Anforderungen des Lehrers bestünden in diesem Falle nicht im Zeigen und Demonstrieren von Experimenten, sondern im ‘Vormachen’ im Sinne eines „Vorbeters“, 52 dem die anderen durch die Ausführung identischer Aktivitäten gemeinschaftlich folgen. Die deskriptive Erfassung des Lehrertischs führt insbesondere unter Bezugnahme der drei Basiskonzepte Sichtbarkeit, Begehbarkeit, Bestehbarkeit und Begreifbarkeit bzw. Handhabbarkeit zu einer weitgehend präzisen Erfassung des interaktionsarchitektonischen Potenzials: - Sichtbarkeit: Die Position des Lehrertischs in der Mitte des Raumbereichs und seine im Vergleich zu den Schülertischen höher gesetzte Tischplatte ermöglichen eine uneingeschränkte Wahrnehmung der praktischen Aktivitäten des Lehrers bzw. all derjenigen Personen, die am Lehrertisch praktisch tätig werden. Dabei erfolgt durch die visuelle Undurchlässigkeit der Frontseite, die zu einer Relevanzhochstufung der praktischen Aktivitäten führt, sowie die kontrastive Farbgebung der Tischplatte eine zusätzliche Fokussierung auf das, was auf dem Tisch geschieht. - Begreifbarkeit/ Handhabbarkeit: Die spezifische Ausstattung des Lehrertischs gibt zahlreiche Hinweise auf einen (ermöglichten) praktischen Handlungszusammenhang: Die Tischplatte ist mit hitzebeständigen und abriebfesten Fliesen versehen, der Lehrertisch verfügt über ein unmittelbar angrenzendes Waschbecken wie auch eine Strom- und Gasversorgung, die für die praktischen Aktivitäten genutzt werden kann. - Begehbzw. Bestehbarkeit: Die Begeh- und Bestehbarkeit des Lehrertisches ist eng mit dem Basiskonzept der Begreifbarkeit verknüpft: In praktisch dominierten Handlungszusammenhängen ist das Stehen oft die präferierte Präsenzform, zumal es für die Durchführung des Chemieunterrichts notwendig ist, Gegenstände zu holen, zu arrangieren und wegzuräumen, wofür in der Regel Laufwege zurückgelegt werden müssen, die eine gute Begehbarkeit des Lehrertisches voraussetzen. Gleichzeitig wird mit der Bestehbarkeit des Tisches eine Reihe von Aktivitäten unwahrscheinlicher: Die Bauhöhe des Tisches, die Abwesenheit von Stühlen und die allseitige Verkleidung des Tisches laden nicht zum Verweilen und Sitzen ein, sondern zu Aktivitäten, die im Stehen am besten absolviert werden können. 52 Eine vergleichbare Funktion kommt im religiösen Kontext beispielsweise dem Imam zu, der beim gemeinschaftlichen Gebet in der Moschee vor den anderen Gläubigen steht, die dessen Verse und Verbeugungen nachsprechen bzw. -machen (Khoury/ Hagemann/ Heine 2001). <?page no="84"?> Der Chemiesaal 84 Auf der Grundlage der spezifischen Ausstattung des Lehrertisches kann also eine weitgehend präzise Aussage darüber gemacht werden, welcher Aktivitätstypus in diesem Raumbereich wahrscheinlich ist: Im Gegensatz zu anderen Unterrichtsräumen ist im Chemieraum das ‘praktische Tun’ des Lehrers zentral, das von den Schülern wahrgenommen werden soll. Der Lehrertisch ist der Ort, an dem die für den Chemieunterricht konstitutiven Experimente durchgeführt werden, und kann in seiner Ausstattung als Lösung für das interaktive Problem gelten, dass der Lehrer im Unterricht für die Schüler im Sinne der Vermittlung von Lehrinhalten Experimente durchführt. (3) Abzug und Vitrinenschrank Rechts neben der Tafel befindet sich ein in die Wand integrierter Abzug, der in Material und Ausstattung dem Lehrertisch gleicht: Der Unterbau weist zwei Schranktüren auf, die hinsichtlich der oberhalb angeordneten, mit zahlreichen farbigen Schaltern versehenen Versorgungsleiste auf den Zugang zu Strom- und Gasanschlüssen schließen lassen. Die durch das Standbild gerade noch sichtbare Arbeitsfläche ist, wie der Lehrertisch, rot gefliest, sodass auch hier praktische Aktivitäten wahrscheinlich sind. Im Gegensatz zum Lehrertisch ist die Arbeitsfläche aufgrund einer senkrecht verschiebbaren Abdeckung jedoch nicht vollständig sichtbar. Hinzu kommt die im Gegensatz zum Lehrertisch eingeschränkte Begehbarkeit des Abzugs: Er ist, soweit dies durch das Standbild eingesehen werden kann, nur von vorne begehbar, und im Falle einer usuellen Nutzung des interaktionsarchitektonischen Potenzials stünde der Lehrer gezwungenermaßen in einer ‘back-to-face-Konstellation’ zu den Schülern. Zusammen mit der seitlich-randständigen, in die Wand eingelassenen Position des Abzugs liegt hier kein explizit zu Wahrnehmungszwecken hergerichteter Raumbereich vor. Die Nutzung des Abzugs für Wahrnehmungszwecke würde eine andere, nicht unmittelbar durch die Interaktionsarchitektur nahegelegte Teilnehmer- Konstellation voraussetzen, wie etwa die Gruppierung der Schüler vor dem Abzug. Dieser Raumbereich erscheint in gewisser Weise wie ein Kompromiss, der die Lösung eines interaktiven Problems der Lösung eines praktischen Problems unterordnet. Die Existenz eines solchen Abzugs gibt Hinweise darauf, dass im Chemieunterricht Experimente durchgeführt werden (müssen), die aufgrund ihres Gefahrenpotenzials nicht auf dem Lehrertisch stattfinden dürfen, auch wenn die Sichtbarkeit nicht mehr uneingeschränkt gewährleistet werden kann. Sollte der Aspekt der Sichtbarkeit auch in diesem Raumbereich eine Rolle spielen, müssen die Beteiligten die durch den Raum nahegelegte <?page no="85"?> Standbildanalyse des Chemiesaals 85 Konstellation zeitweise auflösen. Gleichzeitig verfügt der Abzug über eine Schiebetür, mit welcher die Sichtbarkeit und Begehbzw. Bestehbarkeit reguliert werden können. Rechts neben dem Abzug als letztes Element der Stirnseite befindet sich ein Vitrinenschrank, der unmittelbar an die Wand angrenzt. Die Funktionalität des Schranks ist nur als möglicher Stauraum zu rekonstruieren. Der obere Teil des Schranks ist verglast und weist vier Regalböden auf, wovon nur das unterste Fach mit einigen Gegenständen belegt ist. Der untere Teil kann aufgrund zweier Schranktüren nicht eingesehen werden. Im Gegensatz zu allen anderen Elementen der Stirnseite weist der Vitrinenschrank relativ zu den Basiskonzepten keine spezifische Funktion für den Raumbereich des Vorne auf. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die zunächst voranalytisch als zergliedert und multiaspektuell charakterisierte Stirnseite sich im Hinblick auf die Basiskonzepte als ein Raumbereich zeigt, der durch seine spezifische Ausstattung ein breites Spektrum an Aktivitäten nahelegt. Gemeinsam ist diesen Aktivitäten, dass sie alle in einem für die visuelle Wahrnehmung hergerichteten Raumbereich stattfinden und daher grundsätzlich unter Wahrnehmungsverdacht stehen. So liegt es nahe, alle in diesem Raumbereich realisierten Aktivitäten als Zeigen oder als Demonstration eben dieser Aktivitäten für die in den Tischreihen sitzenden Schüler zu verstehen. Im Rahmen dieser Wahrnehmungsstruktur konstituieren die einzelnen Raumaspekte das Vorne als binnenstrukturiert, sodass je nach Raumbereich unterschiedliche Aktivitätszusammenhänge wahrscheinlich werden: So ist das Vorne gleichermaßen - Schreibraum (Tafel), - Experimentierraum (Lehrertisch, Abzug), - Projektionsraum (Projektor), - Fluchtraum (Tür) und - Stauraum (Vitrine). 3.2.1.3 Fensterfront und Wandseite Links von den Sitzbänken befindet sich eine Fensterfront, die im Bereich der Sitzreihen durch den Bildrand ‘abgeschnitten’ ist. Am vorderen Fenster ist eine Jalousie angebracht, die zu drei Vierteln heruntergelassen ist. Wie bei der deskriptiven Erfassung der ebenfalls eingeschränkt sichtbaren Sitzreihen, die aufgrund wiederkehrender Strukturelemente nach links und rechts ‘verlängert’ wurden, kann davon ausgegangen werden, dass die linke Seite zumindest ein weiteres Fenster in vergleichbarer Größe aufweist. Im Bezug auf das Basiskonzept Sichtbarkeit sind mit der Fensterfront Implikationen für die mögliche Interaktion verbunden: Obwohl die Ausstattung des Raums ein Vorne <?page no="86"?> Der Chemiesaal 86 konstituiert, das für Wahrnehmungswahrnehmung hergerichtet ist, ermöglicht die Fensterfront durch ihre visuelle Durchlässigkeit die Sichtbarkeit auf Draußen und ‘erweitert’ damit den gebauten Raum um einen zusätzlichen Sichtraum. Dieser weist interaktionsarchitektonisch durchaus das Potenzial auf, die vom Chemieraum nahegelegte Interaktion zu behindern. Einen Hinweis auf diese mögliche Gegenläufigkeit gibt die heruntergelassene Jalousie, die die visuelle Durchlässigkeit des Fensters größtenteils aufhebt: Das einfallende Licht behindert die Nutzung der Stirnseite als Projektionsraum, der einen gewissen Grad an Abdunkelung voraussetzt. Unterhalb des vorderen Fensters befindet sich ein circa ein Meter hohes Schrankmodul, das gleichzeitig als Ablagefläche genutzt werden kann und auf dem die beiden Feuerlöscher abgestellt sind (vgl. Kap 3.2.1). Unmittelbar neben dem Schrankmodul ist ein Overheadprojektor auf einem kleinen Tisch platziert. Es ist anzunehmen, dass es sich bei dem Tisch um einen mobilen Rolltisch handelt, da der Overheadprojektor in dieser Position nicht für Wahrnehmungszwecke eingesetzt werden kann, weil er weder auf die Stirnseite gerichtet noch vor einer weißen Projektionsfläche platziert ist. Der Overheadprojektor verweist, ähnlich wie der Videoprojektor, auf das interaktionsarchitektonische Potenzial der Stirnseite als Projektions- oder Vorführraum. Im Gegensatz zum fest installierten Videoprojektor ist jedoch klar, dass für den Einsatz des Overheadprojektors zusätzliche Anstrengungen unternommen werden müssen. Rechts wird der Raum durch eine Wand begrenzt, wobei sich etwa auf der Höhe des Arbeitstisches eine Tür befindet, die im Gegensatz zu der Tür der Stirnseite von innen nach außen geöffnet werden kann. Links neben der Tür befinden sich auf Augenhöhe zwei DINA4-große Schilder, die relativ zu den Signalschildern der Stirnseite viel Text aufweisen, der jedoch aufgrund der Schriftgröße nicht lesbar ist. Die Texte sind für die Rekonstruktion des interaktionsarchitektonischen Potenzials des Chemieraums nicht uninteressant, auch wenn es hierfür nicht notwendig ist, den genauen Inhalt der Texte zu kennen. Die Zugänglichkeit der Schilder durch ihre spezifische Position auf Augenhöhe in einem Raumbereich, der problemlos bestehbar ist und beim Verlassen des Raums notwendigerweise begangen wird, lässt auf eine entsprechende Relevanz der Schilder schließen. Es scheint also doch einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Raumnutzung und Schildern zu geben. Die zahlreichen Schilder und Schalter, die meist farblich markiert sind, haben gerade durch ihre Farblichkeit und Position Signalcharakter. Ob sich die Signalisierung auf die Raumnutzung im Allgemeinen oder im Spezifischen bezieht, wie beispielsweise auf die Nutzung der angrenzenden, farbigen Schalterleiste, ist nicht eindeutig zu beantworten. <?page no="87"?> Standbildanalyse des Chemiesaals 87 Offensichtlich ist jedoch die unterschiedliche Zugänglich- und Begreifbarkeit der farbigen Schalter. Im Gegensatz zu den Schaltern am Abzug, am Arbeitstisch und neben der Tafel, die alle dem Raumbereich des Vorne zuzuordnen sind und damit in erster Linie in den Raumbereich des Lehrers fallen, kann die Schalterleiste neben der Tür problemlos von allen Beteiligten betätigt werden. Rechts neben der Tür ist an der Wand ein Holzkreuz angebracht, das auf einen Relevanzrahmen verweist, der außerhalb des Kontextes Schule liegt. Für die Analyse der Interaktionsarchitektur ist das Kreuz insofern interessant, als es per se mit keinerlei Implikationen für Interaktion verbunden ist und erst auf der Ebene der Sozialtopografie in seiner Relevanz für die (mögliche) Interaktion rekonstruiert werden kann. Unterhalb des Kreuzes steht ein Metallgestell, das neben einem Kehrbesen und einem aufgehängten Handtuch drei Kunststoffbehälter mit blauen Deckeln aufweist. Kehrbesen und Handtuch geben interaktionsarchitektonisch, ähnlich wie die Gegenstände auf dem Lehrertisch, Hinweise darauf, dass Aktivitätszusammenhänge wahrscheinlich sind, in welchen mit Flüssigkeiten und anderen Materialien gearbeitet wird, die entsprechend entsorgt werden müssen. 53 Rechts von dem Metallgestell ist ausschnitthaft noch eine Tischplatte erkennbar, deren Funktionalität nicht erschlossen werden kann. Als potenzielle Ablagefläche ist sie jedoch unmittelbar mit der Ablagefläche am Fenster vergleichbar, wobei sie als Teil des hinteren Raumbereichs schlechter zugänglich und durch ihre Distanz zum Vorne eher dem Randbereich zuzuordnen ist. Zusammenfassend geben sowohl Fensterfront als auch Wandseite durch ihre spezifische Ausstattung vergleichbare, wenn auch weniger markante Hinweise auf die durch den Raum ermöglichte Interaktion wie etwa die Sitzreihen und die Stirnseite. Die Raumausstattung kann auch hier als Lösung für interaktive Probleme wie die Herstellung und Absicherung von Wahrnehmungswahrnehmung (Jalousie am Fenster) und die Realisierung praktischer Aktivitätszusammenhänge (Hinweisschilder, Behälter an der Wand) gelten. Gleichzeitig wird der Aspekt der Fachlichkeit, d.h. der zu einem bestimmten fachlichen Zweck ausgestattete Raum, mehr als deutlich. Man kann daher in Analogie zur Interaktion von einer sich permanent reproduzierenden und damit verdichtenden Fallstruktur sprechen. 53 Auf sozialtopografischer Ebene unter Berücksichtigung kulturellen und fachspezifischen Wissens können die Behälter schließlich als Feststoffbehälter identifiziert werden, die der Entsorgung von Stoffen dienen, die nicht über den Hausmüll beseitigt werden dürfen. <?page no="88"?> Der Chemiesaal 88 3.2.1.4 Zwischenfazit Die Rekonstruktion der Interaktionsarchitektur des Chemieraums folgte den räumlichen Relevanzen des Standbilds. Mit der deskriptiven Erfassung der Sitzreihen und durch deren eigenständige, von anderen Raumelementen unabhängige Beschreibung kristallisierten sich bereits zwei interaktionsarchitektonische Implikationen heraus. Diese sind für die ermöglichte Interaktion im Chemieraum zentral und hängen eng mit der Ausrichtung des Raums auf ein Vorne zusammen: die visuelle Wahrnehmung und die Ausstattung des Vorne als ein für praktische Aktivitäten hergerichteter Raumbereich. Bei der Deskription der Ausstattung der multiaspektuellen Stirnseite wurde deutlich, dass es sich bei der visuellen Wahrnehmung nicht nur um die Bearbeitung und Ermöglichung von Ko-Orientierung als zentrale Voraussetzung für Interaktion im Sinne einer Situierungsaktivität handelt (Hausendorf 2010) handelt, sondern um eine qualifizierte Form der Wahrnehmung, nämlich der Ermöglichung der Beobachtung dessen, was im Vorne gemacht, gezeigt und geschrieben wird. Das Vorne wird als binnenstrukturierter Raumbereich erkennbar, in dem vor allem praktische Handlungszusammenhänge wahrscheinlich sind, die in erster Linie durch den gefliesten, mit Waschbecken, Strom- und Gaszugängen ausgestatteten Lehrertisch nahegelegt werden, der das Zentrum der Stirnseite darstellt. Der Experimentierbereich wird durch einen in die Stirnseite integrierten Abzug erweitert. Neben dem Experimentierbereich kann das Vorne auch als Projektionsbereich und Schreibbereich verstanden werden, die sich exkludieren: Der Lehrer kann nicht gleichzeitig die Tafel und den Projektor nutzen, da sich die Projektionsfläche hinter der Tafel befindet. Die Binnenstruktur des Vorne konstituiert sich also durch die einzelnen Raumaspekte und verweist gleichzeitig auf den Aspekt der Zeitlichkeit, da ein Nacheinander der unterschiedlichen Aktivitätstypen nahegelegt wird. Da alle durch den Raum ermöglichten Aktivitätstypen im Vorne stattfinden und daher generell unter Wahrnehmungsverdacht stehen, können sie relativ zur jeweiligen Situation als gegenläufig oder sogar konkurrent betrachtet werden. 3.2.2 Der genutzte Chemieraum Die Multiaspektualität der Stirnseite hat sich durch das Standbild als zentraler Untersuchungsgegenstand regelrecht ‘aufgedrängt’. Die damit verbundene Binnenstruktur des Vorne ist so evident, dass ich mich im Folgenden mit dem Vorne unter sozialtopografischer Perspektive beschäftigen und der Frage nachgehen werde, wie der Lehrer als strukturell vorgesehener Raumnutzer <?page no="89"?> Standbildanalyse des Chemiesaals 89 die unterschiedlichen Raumbereiche (Experimentierbereich, Projektions- und Schreibbereich) de facto nutzt und welches wechselseitige Verhältnis der unterschiedlichen Raumbereiche daraus resultiert. 3.2.2.1 Der Lehrer am Experimentiertisch Das Standbild 22 zeigt die Nutzung des Lehrertischs als ‘Experimentierbereich’ und dokumentiert damit eine Realisierung der durch die Interaktionsarchitektur „auferlegte[ ] Benutzbarkeitsrelevanz“ (Hausendorf/ Schmitt 2013, S. 49). Die Analyse der konkreten Nutzung des Lehrertischs wird zeigen, dass neben dem Lehrer als Raumnutzer auch die veränderte Ausstattung bzw. die ‘materiale Anreicherung’ des Raumbereichs zu einer Seh-Art führt, die den Lehrertisch als ‘Experimentierbereich’ begreift. Der Experimentierbereich ist über die Interaktionsarchitektur hinausgehend sozialtopografisch stark ‘aufgeladen’, was sich in der verbalen Analyse der Raumnutzung vor allem in der Fachsprache des Lehrers zeigen wird. Im Bezug auf bestimmte Aspekte, wie etwa die zahlreichen Gegenstände, wirkt es fast künstlich, wenn man auf eine fachsprachliche Semantik verzichtet. Außerdem würde eine bewusste Vermeidung fachsprachlicher Semantik die Beschreibung der de-facto-Nutzung ins Unermessliche anwachsen lassen, wenn beispielsweise ein Reagenzglas als „kleiner, länglicher und mit einer Öffnung versehener Glasbehälter“ umschrieben werden müsste. Neben der zusätzlichen Ausstattung des Raums manifestiert sich die Sozialtopografie im gesamten Erscheinungsbild und Verhalten des Lehrers, der einen Laborkittel trägt und den Lehrertisch für das Experiment konkret nutzt. 22 <?page no="90"?> Der Chemiesaal 90 Die Raumnutzung zeigt sich nicht nur im Verhalten des Lehrers, sondern manifestiert sich in der relativ zum leeren Chemieraum veränderten und erweiterten Ausstattung: Der Lehrertisch ist auf der linken Seite durch ein offensichtlich mobiles Tischelement ergänzt worden, das ebenfalls eine geflieste Arbeitsfläche aufweist. Im Gegensatz zum Lehrertisch ist es jedoch visuell durchlässig, da die Tischplatte auf Metallfüßen befestigt ist. Bei dem Tischelement handelt es sich nicht um eine Verlängerung des Lehrertisches, die dem Lehrer eine größere Arbeitsfläche zur Verfügung stellen würde. Die Tischplatte ist mit zahlreichen Gegenständen, wie etwa Reagenzgläsern, Bechergläsern und Stativmaterialien nahezu zugestellt, die der Lehrer für sein Experiment nutzen kann, sodass das Konzept des Beistelltisches für das Tischelement besonders naheliegend erscheint. Auf dem Lehrertisch befinden sich nun ebenfalls zahlreiche Gegenstände, die sich in ihrer Funktionalität jedoch unterscheiden. Während die Blätter und der aufgeschlagene Ordner direkt neben dem Beistelltisch schriftliche Dokumente des Chemieunterrichts darstellen und insofern beispielsweise als Versuchsvorschrift oder zur Protokollierung des Versuchs genutzt werden können, sind die übrigen Gegenstände für das Chemieexperiment, d.h. experimentelle Aktivitäten funktional. Die Nutzung des Lehrertisches als Experimentierbereich wird also unter anderem durch die Fülle an Glasgeräten und Substanzen deutlich, die dem Lehrer auf dem Tisch zur Verfügung stehen und aufgrund ihres Arrangements als ‘im Einsatz befindlich’ charakterisiert werden können: der Erlenmeyer- Kolben, den der Lehrer mit einer Substanz befüllt, und die zwei Bechergläser, wovon eins erkennbar mit einer Flüssigkeit gefüllt und unmittelbar vor dem Lehrer platziert ist. Die Weinflasche und das Schraubdeckelglas sind aufgrund ihrer - relativ zu den anderen Geräten - größeren Entfernung zum Lehrer als ‘schon benutzt’ oder ‘noch nicht in Benutzung’ identifizierbar. Neben den Gegenständen weist auch die Position und Positur des Lehrers das Vorne als Experimentierbereich aus: Er steht etwa mittig hinter dem Arbeitstisch und gibt eine Substanz in den Erlenmeyer-Kolben, den er auch blicklich fokussiert. Er trägt einen Laborkittel, der nicht im Sinne einer Schutzbekleidung zugeknöpft, sondern offen ist. Unter Bezugnahme auf unser kulturelles und semiotisches Wissen verstehen wir einen Laborkittel nicht nur als Schutzbekleidung, sondern auch als Symbolisierung von Professionalität in spezifischen Handlungsfeldern, wie etwa den Naturwissenschaften und der Medizin, die durch fachlich präzises und detailgenaues Arbeiten charakterisiert sind: Lab coats are the prototypical attire of scientists and doctors. Wearing a lab coat thus signifies a scientific focus and an emphasis on being careful and attentive - attributes that involve the importance of paying attention to the task at hand and not making errors. (Adam/ Galinsky 2012, S. 919) <?page no="91"?> Standbildanalyse des Chemiesaals 91 Der Laborkittel kann in seiner praktischen und symbolischen Bedeutung als (optionale) Ausstattung des Lehrers für die im spezifischen Raumbereich realisierten Aktivitäten verstanden werden. Dieser steht damit im unmittelbaren Zusammenhang mit der Sozialtopografie des Raums: Der Lehrer nutzt den Lehrertisch als professionell Handelnder, der die fachliche Expertise aufweist, die Glasgeräte und Chemikalien adäquat und präzise einzusetzen. Die Symbolisierung einer spezifischen Nutzung des Vorne als Arbeitsbereich wird daher durch den Laborkittel wesentlich mit konstituiert. Bei der isolierten Betrachtung der Blickorientierung des Lehrers könnte seine Raumnutzung als selbstbezogene Aktivität rekonstruiert werden. Die auf dem Standbild sichtbaren Schülerinnen verdeutlichen jedoch, dass die Raumnutzung im Rahmen von Wahrnehmungswahrnehmungsstrukturen stattfindet. Einen weiteren Hinweis hierfür liefert der Laborkittel des Lehrers. Die Symbolisierung von Professionalität durch den Laborkittel ist nur unter der Voraussetzung von Wahrnehmungswahrnehmung relevant, also nur dann, wenn der Lehrer am Lehrertisch im Beisein und unter der Beobachtung von Schülern agiert. Der Lehrer ist also nicht allein im Raum anwesend, um beispielsweise Vorbereitungen zu treffen. Einen Hinweis auf eine face-to-faces-Konstellation liefern die Position des Lehrers und das Arrangement von Objekten. Der Lehrer steht in der Mitte des Arbeitstisches und hat den Erlenmeyer-Kolben erkennbar nah am Tischrand platziert, der zu den Schülern zeigt, wodurch eine uneingeschränkte Sichtbarkeit auf den Kolben ermöglicht wird. Darüber hinaus ist die Arbeitsfläche um den Kolben herum, bis auf die am Arrangement beteiligten Gegenstände, frei und damit für das Experiment nutzbar. Im Hinblick auf die vorliegende Raumnutzerkonstellation (vgl. Kap. 3.3.1) kann der auf den Erlenmeyer-Kolben ausgerichtete Blick des Lehrers interpretiert werden. Er nutzt den Raum fraglos im Rahmen einer Wahrnehmungssituation und geht davon aus, dass die Schüler ihn und seine Aktivitäten wahrnehmen. Wenngleich die zeitliche Dauer seines Blicks durch das Standbild nicht rekonstruiert werden kann, dient es als Dokument für eine Form der Raumnutzung, die nicht unbedingt den wechselseitigen Blickkontakt, wohl aber die Wahrnehmung praktischer Aktivitäten erforderlich macht. Verlässt man den Bereich des Standbildes, der die Raumnutzung des Lehrers dokumentiert und wendet sich dem Bereich der Sitzreihen zu, erhält man schließlich einen sicheren Hinweis darauf, dass es sich um eine face-to-faces- Konstellation handelt: Das Standbild zeigt in der unteren Hälfte die Köpfe von vier Schülerinnen, die alle auf den Lehrer orientiert sind. Unter einer sozialtopografischen Perspektive werden die Sitzreihen also auch im Sinne der durch die Interaktionsarchitektur nahegelegten Präsenzform (Sitzen) und Orientierung (Ausrichtung auf das Vorne) genutzt. <?page no="92"?> Der Chemiesaal 92 Das Standbild dokumentiert die Nutzung des interaktionsarchitektonischen Potenzials des Lehrertisches in seiner Primärfunktionalität als Experimentierbereich: - Der Lehrer steht am Tisch und realisiert damit die durch die Interaktionsarchitektur erwartbar gemachte Präsenzform. - Seine Raumnutzung entspricht der durch den Raum nahegelegten Wahrnehmungsrichtung, da er durch seine Position (hinter dem Lehrertisch) und durch das Arrangement der Objekte maximale Sichtbarkeit für die Schüler produziert. - Er nutzt den Tisch de facto als Arbeitsfläche, indem er Glasgeräte und Chemikalien, wie etwa Flüssigkeiten oder Feststoffe, im Experiment einsetzt. - Die Erweiterung der Arbeitsfläche durch den Beistelltisch ist durch die architektonische Erscheinungsform des Vorne nicht unmittelbar vorhersehbar, wenngleich die freie, begehbare Fläche um den Lehrertisch herum eine derartige Nutzung problemlos möglich macht. - Die Ausstattung des Lehrers mit dem Laborkittel ist zwar durch die Interaktionsarchitektur nicht direkt nahegelegt, steht aber im engen Zusammenhang mit der im Raum verankerten ‘Fachlichkeit’: So wie der Raum und insbesondere die Stirnseite fachspezifisch mit Fliesen, Waschbecken, Brenner, Gashähnen, Notschaltern etc. ausgestattet ist, verweist auch der Laborkittel auf die Fachspezifik des naturwissenschaftlichen Kontextes. Im Gegensatz zur interaktionsarchitektonischen Perspektive liefert die Analyse der Raumnutzung im Sinne der Sozialtopografie hier zusätzliche Informationen, wie etwa über die Professionalität und Arbeitsweise des Raumnutzers. Die übrigen Raumbereiche der Stirnseite sind im Standbild 22 nicht relevant, was nicht nur mit dem eingeschränkten Ausschnitt zusammenhängt: Der Lehrer nutzt hier das Vorne nur als Arbeitsbereich und liefert in seiner spezifischen Nutzung keine Hinweise darauf, dass die anderen Raumbereiche in irgendeiner Form Relevanz besitzen, wie dies etwa durch eine offene Tür oder eine beschriftete Tafel denkbar wäre. Ausgehend von den Ergebnissen der Analyse des zweiten Standbildes werden im Folgenden die Begriffe des Lehrertischs und des Beistelltischs mit den sozialtopografisch gehaltvolleren und fachlich präziseren Begriffen Lehrerexperimentiertisch und Chemikalientisch ersetzt. 3.2.2.2 Der Lehrer im Projektionsbereich Das vorliegende Standbild 23 zeigt eine Raumnutzung, die sich signifikant von der Nutzung im zweiten Standbild unterscheidet. <?page no="93"?> Standbildanalyse des Chemiesaals 93 23 Der Lehrer steht rechts von der Projektionswand, auf die mit dem Overheadprojektor zwei Abbildungen projiziert werden. Er hat die linke Hand in der Hosentasche, während er mit der rechten Hand auf die rechte Abbildung schräg nach oben zeigt. Sein Blick ist ebenfalls in diese Richtung orientiert. Wenngleich der Lehrer nicht experimentell aktiv ist, kann die hier dokumentierte Raumnutzung ebenfalls als Realisierung des interaktionsarchitektonischen Potenzials der Stirnseite gelten. Diese ist mit technischen Geräten ausgestattet, wovon der Lehrer hier den mobilen Overheadprojektor nutzt, um bestimmte Unterrichtsinhalte auf der Projektionswand zu visualisieren. Entscheidend für den Projektionsbereich ist hierbei nicht nur der Einsatz der technischen Geräte, sondern vielmehr die Position und Positur des Lehrers an der Projektionswand, die mit bestimmten Implikationen verbunden sind. Besonders deutlich werden diese Implikationen, wenn man die Position des Lehrers als motivierte Abwahl anderer möglicher Positionen begreift. Denkbar wäre beispielsweise eine Position am Overheadprojektor, auf dessen Auflagefläche er direkt auf die Abbildung zeigen könnte. Diese Position wäre jedoch mit drei unterschiedlichen Orientierungsrichtungen verbunden, da der Lehrer die Abbildung auf dem Overheadprojektor betrachten würde, gleichzeitig die Projektion der Abbildung im Blick haben müsste und darüber hinaus mit den Schülern in Blickkontakt stünde. Die Position direkt an der Projektionsfläche impliziert nur eine bifokale Orientierung, die für die Koordination von Körperposition, Verbalität und Blickorientierung für den Lehrer komfortabler ist. Darüber hinaus gewährleistet er damit die Sichtbarkeit der projizierten Abbildung für alle Schüler, die bei einer Position unmittelbar am Overheadprojektor für die Schüler in der ersten Sitzreihe eingeschränkt wäre. Bei der Nutzung des Projektionsbereichs ist also in erster Linie die projizierte Abbildung relevant, für deren Sichtbarkeit der Lehrer durch sein spezifisches Verhalten Sorge tragen muss. Die in an- <?page no="94"?> Der Chemiesaal 94 deren Raumbereichen präferierte face-to-faces-Konstellation wird zeitweilig aufgelöst: Die Nutzung des Projektionsbereichs erfolgt in einer side-to-faces- Konstellation, weil sie für die Schüler mit einer maximalen Sichtbarkeit der projizierten Abbildung verbunden ist. Die Position und Positur des Lehrers ist über die Raumnutzerkonstellation hinaus im Bezug auf einen weiteren Aspekt interessant, der unmittelbar mit der Raumnutzung des Experimentierbereichs (Standbild 22) vergleichbar ist. In beiden Fällen weisen die Hände des Lehrers in den aktuell relevanten Raumbereich hinein. Während er im Standbild 22 experimentellen Aktivitäten nachgeht, indem er eine Substanz in einen Erlenmeyer-Kolben füllt, zeigt er im Standbild 23 mit der rechten Hand auf die projizierte Abbildung. Aus interaktionsarchitektonischer Perspektive ermöglichen die Raumbereiche durch ihre spezifische Ausstattung einen unterschiedlichen Einsatz des Körpers und speziell der Hände eines Raumnutzers. So liegt es beispielsweise im Experimentierbereich nahe, mit den Händen Objekte zu manipulieren. Unter der sozialtopografischen Perspektive kann die faktische Raumnutzung im Hinblick auf seine Hände analysiert werden, die je nach relevantem Raumbereich unterschiedlich eingesetzt werden. Die Hände des Lehrers dienen ihm sozusagen als ‘Werkzeuge’, die sich hinsichtlich ihrer Funktionalität in Abhängigkeit vom Raumbereich unterscheiden. Würde man die Positur des Lehrers aus den Standbildern extrahieren, d.h. unabhängig von den räumlichen Strukturen betrachten, könnte man präzise Annahmen darüber formulieren, welcher Raumbereich des Vorne vom Lehrer aktuell genutzt wird. Der nach oben ausgestreckte Arm und der Einsatz des Zeigefingers, begleitet vom Blick des Lehrers, geben starke Hinweise darauf, dass der Lehrer den Schreib- oder Projektionsbereich der Stirnseite relevant setzt und etwa den Experimentierbereich - zumindest zeitweilig - abwählt. Die Nutzung des Projektionsbereichs ist unweigerlich mit einer Relevanzrückstufung anderer Raumbereiche der Stirnseite verbunden. Die Tafelflächen sind nach unten verschoben und die Objekte im Experimentierbereich werden nicht eingesetzt. Darüber hinaus ist der Overheadprojektor vor dem Arbeitstisch platziert, was die Sicht auf die Arbeitsfläche zumindest teilweise behindert. Dennoch ist der Experimentierbereich nicht in gleicher Form wie der Schreibbereich relevanzrückgestuft: Während die Tafel nur noch zu einem Drittel sichtbar ist und für einen Einsatz manipuliert werden müsste, bleibt der Experimentierbereich samt seiner Objekte weiterhin einsatzbereit. Im Gegensatz zum ‘Sprech- und Zeigebereich’ (vgl. Kap. 3.2.2.4) vor dem Arbeitstisch ist der wechselseitige Bezug des Projektionsbereichs zu den anderen Raumbereichen nicht unmittelbar evident. Es besteht weder ein Abbildungsverhältnis von gezeigtem und skizziertem Objekt, noch existiert ein Text, der einen expliziten Bezug zu einem anderen Raumbereich herstellen würde. <?page no="95"?> Standbildanalyse des Chemiesaals 95 Dieser Aspekt ist unter methodischer Hinsicht interessant: Entweder man benötigt an dieser Stelle Fachwissen, um zu erkennen, dass es sich bei der Abbildung um Hefezellen handelt, die zur Herstellung von Alkohol notwendig sind. Damit bestünde ein zentraler Zusammenhang von Projektions- und Experimentierbereich: Auf der Abbildung werden theoretisch Prozesse erläutert, die im Erlenmeyer-Kolben auf dem Arbeitstisch ablaufen. Die alternative und methodisch gehaltvolle Variante lässt solches Fachwissen außer Betracht und nimmt den scheinbar unklaren Bezug von Projektionsbereich und den übrigen Raumbereichen ernst: Die aktuelle Raumnutzung des Projektionsbereichs bedarf offensichtlich zusätzlicher Informationen, um deren Bedeutung für den Handlungszusammenhang zu rekonstruieren. Dies liefert starke Hinweise darauf, dass der Lehrer hier auch verbal aktiv sein muss, um das Sichtbare für die Schüler zu erläutern. Die Nutzung des Projektionsbereichs ist also im Gegensatz zur Nutzung des Experimentierbereichs unweigerlich an Verbalität gebunden und macht im Hinblick auf die dort stattfindende Interaktion Phasen verbaler Abstinenz weniger erwartbar. Der Projektionsbereich dient im Rahmen des Chemieunterrichts der verbalen Wissensvermittlung, während die Nutzung des Experimentierbereichs im Dienste der Vermittlung experimenteller Aktivitäten steht. Zusammenfassend zeichnet sich die Nutzung des Projektionsbereichs durch - die motivierte Abwahl einer face-to-faces-Konstellation zugunsten maximaler Sichtbarkeit aus, - wobei die Kernaktivität in der Präsentation einer Abbildung besteht, - die nicht in unmittelbarem Zusammenhang zum Experimentierbereich steht und - zusätzlich verbal durch den Lehrer erläutert wird, - wodurch sie Phasen verbaler Wissensvermittlung zuzuordnen ist. Die dokumentierte Nutzung des Projektionsbereichs folgt der Nutzung des Experimentierbereichs im Standbild 22 zeitlich nach, da die Auswahl der Standbilder dem Prinzip der Sequenzialität des tatsächlichen Ablaufs folgt. Daher kann die Nutzung des Projektionsbereichs auch im Dienste des Experimentierbereichs interpretiert werden. Der funktionale Bezug des Raumbereichs zu den anderen Raumbereichen ist jedoch weniger evident als dies beispielsweise beim Schreibbereich der Fall ist (vgl. Kap. 3.2.2.3), sodass über die zeitliche Position der Nutzung des Projektionsraums keine generalisierbaren Aussagen getroffen werden sollten. Als Phase der verbalen Wissensvermittlung ist die Nutzung des Projektionsbereichs sowohl vor als auch nach einer experimentellen Phase wahrscheinlich. <?page no="96"?> Der Chemiesaal 96 3.2.2.3 Der Lehrer im Schreibbereich Das folgende Standbild 24 zeigt die Nutzung eines weiteren Raumbereichs der Stirnseite: Der Lehrer steht an der Tafel und skizziert eine Versuchsapparatur. Das interaktionsarchitektonische Potenzial der Tafel als ‘Schreibbereich’ wird de facto vom Lehrer genutzt, wobei sich bei der Standbildanalyse zeigen wird, dass der Schreibbereich nicht losgelöst von dem Experimentierbereich zu betrachten ist. 24 Die obere Hälfte der Tafel befindet sich im Gegensatz zum Standbild 23 auf Augenhöhe des Lehrers, der, zur Tafel orientiert, mit der rechten Hand den Aufsatz eines Erlenmeyer-Kolbens skizziert. Sein Blick ist auf die Skizze gerichtet, sodass sich hier eine andere Raumnutzer-Konstellation ergibt als die face-to-faces-Orientierung, die im Standbild 22 dokumentiert wurde. Durch die Nutzung der Tafel ist es für den Lehrer nahezu unumgänglich, den Schülern den Rücken zuzuwenden und eine back-to-faces-Konstellation in Kauf zu nehmen, in der er die Schüler noch weniger wahrnehmen kann als bei der side-to-faces-Konstellation im Standbild 23. Dies ist mit Implikationen für die spezifische Raumnutzung verbunden: Unter sozialtopografischer Perspektive geht die Nutzung der Stirnseite als Schreibbereich zeitweilig mit einer Reduktion von Verbalität einher, wenn es um die Vermittlung zentraler Unterrichtsinhalte geht. Eine anhaltende Gleichzeitigkeit der Nutzung von Schreib- und Sprechbereich ist vor allem dann denkbar, wenn sich der Lehrer den Schülern immer wieder blicklich und körperlich zuwendet oder das Gesprochene auf das Geschriebene im Sinne einer Kommentierung oder eines Diktats bezogen ist. Wenn ein Raumnutzer den Benutzbarkeitsrelevanzen des Raumbereichs der Tafel folgt, indem er an der Tafel steht und sie beschriftet, treten andere, für <?page no="97"?> Standbildanalyse des Chemiesaals 97 die übrigen Raumbereiche der Stirnseite relevante Aktivitäten, wie etwa andere Formen des praktischen Tuns, hinter diese Kernaktivität zurück. Gleichzeitig gehört die im Standbild 24 dokumentierte Raumnutzung dem übergeordneten Handlungszusammenhang ‘Unterricht’ an und ist daher von den Aktivitäten in den übrigen Raumbereichen nicht losgelöst. Der funktionale Bezug von Schreib- und Experimentierbereich ist hier im Gegensatz zu der Nutzung des Projektionsbereichs evident. Das Beschriften der Tafel kann also als Verschriftlichung dessen verstanden werden, was im Vorfeld praktisch realisiert wurde. Einen zentralen Hinweis hierfür liefert der konkrete, durch das Tafelbild des Lehrers fixierte Text: Offensichtlich handelt es sich um eine Gesamtgestalt im Sinne eines Versuchsprotokolls mit der Überschrift „Bildung von Alkohol“ 54 und einer Versuchsskizze, die mit der Beschriftung „V Skizze “ versehen ist. Die für ein vollständiges Versuchsprotokoll notwendige Versuchsbeobachtung und Auswertung ist im vorliegenden Standbild nicht dokumentiert, wobei Überschrift und Skizze diesbezüglich projektiv sind (vgl. Standbild 25). Das Ineinandergreifen von Schreibbereich- und Experimentierbereich zeigt sich insbesondere in der vom Lehrer angefertigten Skizze, mit der er einen Gegenstand abbildet, der auf dem Experimentiertisch gegenwärtig ist: Es ist der auf der rechten Seite im unteren Drittel des Standbildes sichtbare Erlenmeyer-Kolben, in dem sich eine gelbliche Substanz befindet und der in einem Becherglas mit Wasser steht. Wenngleich das Standbild keine Hinweise liefert, ob der Versuch noch bevorsteht oder bereits abgeschlossen ist, so wird doch deutlich: Die Tafel dient der Verschriftlichung des praktischen Tuns und steht daher im Dienste der experimentellen Aktivitäten. 55 Der Experimentierbereich ist im Verhältnis zum Schreibbereich zeitlich vorgängig. Aspekte des Experimentierbereichs werden hier de facto in andere Raumbereiche eingeschrieben und sind im Sinne der Sozialtopografie immer an eine konkrete Raumnutzung gebunden. Es gibt zahlreiche weitere (Text-)Hinweise für die kontinuierliche Relevanz ausgewählter Aspekte des Experimentierbereichs: 56 54 Die Überschrift enthält außerdem noch einen Teil, der in Klammern geschrieben, durch das Standbild jedoch nicht dokumentiert ist. 55 Im Rahmen der ‘Science Studies’, die sich der Erforschung wissenschaftlicher Praktiken verschrieben haben, wird u.a. untersucht, wie Wissenschaftler naturwissenschaftliche Phänomene und Objekte in Skizzen, Bildern und Diagrammen darstellen und im Diskurs einsetzen (Latour 1987; Latour/ Woolgar 1986; Lynch (Hg.) 1990, 1993). 56 Die folgende Liste an Hinweisen ist Ergebnis einer sozialtopografischen Perspektive auf den Raumausschnitt, die fachspezifisches Wissen zunächst weitgehend unbeachtet lässt. Ein Chemiker oder Chemielehrer würde neben den hier genannten Aspekten eine Reihe weiterer Hinweise bemerken, die den engen Zusammenhang von ‘Experimentier- und Schreibbereich’ verdeutlichen, wie etwa den Zucker auf dem Chemikalientisch, das leere Obstglas oder das <?page no="98"?> Der Chemiesaal 98 - Die Überschrift „Bildung von Alkohol“ steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Weinflasche, die auf der linken Seite des Lehrerexperimentiertisches steht. - Der Laborkittel des Lehrers verdeutlicht darüber hinaus, dass der Tafelaufschrieb im Rahmen praktischer Aktivitäten erfolgt. - Die zahlreichen Laborgeräte und Chemikalien stehen aufgrund ihrer exponierten Position auf dem Lehrerexperimentiertisch grundsätzlich unter Wahrnehmungsverdacht und bleiben auch dann kontinuierlich sichtbar, wenn der Tafelaufschrieb des Lehrers verfolgt wird. Durch die Berücksichtigung der Sozialtopografie kristallisiert sich nach und nach eine Binnenstruktur des Vorne heraus, die sich unter einer ausschließlich interaktionsarchitektonischen Perspektive anders dargestellt hätte. Das Ineinandergreifen von Experimentier- und Schreibbereich ist aufgrund der Position von Tafel und Tisch, die als Ensemble verstanden werden können, erwartbar und naheliegend. Die enorme Relevanz des Experimentierbereichs jedoch ist interaktionsarchitektonisch durch seine zentrale Position bereits angelegt, ergibt sich jedoch vor allem aus der konkreten Raumnutzung des Vorne durch den Lehrer. 3.2.2.4 Der Lehrer im Sprech- und Zeigebereich Die Beschreibung architektonischer Erscheinungsformen und ihres Potenzials für mögliche Interaktionen führen meist nur dann explizit zum Aspekt der Verbalität, wenn Räume über technische Ausstattungen verfügen, um das Gesprochene zu verstärken, wie etwa Mikrofone oder Kopfhörer (vgl. Mondada/ Oloff i.Vorb.; Hausendorf/ Schmitt 2013). Darüber hinaus wird Verbalität interaktionsarchitektonisch auch dann relevant, wenn Räume Verbalität nur in reduzierter Form (Wartezimmer) oder überhaupt nicht (Toilette) nahelegen. Da ein interaktionsarchitektonisches Erkenntnisinteresse immer der Frage nachgeht, für welches allgemeine interaktive Problem der Raum eine Lösung darstellt, ist der Aspekt der Verbalität immer (mit)impliziert, da Verbalität eine zentrale Ausdrucksressource für jegliche Form von Interaktion darstellt. Im Hinblick auf die interaktionsarchitektonischen Basiskonzepte Sichtbarkeit, Begehbarkeit, Begreifbarkeit etc. wurde dennoch ein gewisser ‘Sonderstatus’ der Verbalität deutlich, da bis auf den Aspekt der Hörbarkeit keines der Basiskonzepte direkt auf den Aspekt der Verbalität verweist. So kann ein Raum began- Gärröhrchen auf dem Lehrerexperimentiertisch, die alle eng mit der Überschrift „Bildung von Alkohol“ in Verbindung stehen. Eine derartige Berücksichtigung von fachspezifischem Wissen in der Standbildanalyse und die damit verbundenen Implikationen müssten unter einer methodischen Perspektive an anderer Stelle eingehend reflektiert werden. <?page no="99"?> Standbildanalyse des Chemiesaals 99 gen, eine Tafel beschriftet und ein Stuhl besetzt werden, ohne ein einziges Wort zu sprechen, obwohl die Beschreibbarkeit dem Aspekt der Verbalität noch am nächsten kommt. Dieser Sonderstatus von Verbalität mag daran liegen, dass Verbalität weitgehend unabhängig von der interaktionsarchitektonischen Erscheinungsform fast immer gegenwärtig sein kann: Räume sind daher immer auch ‘Sprechräume’ und verweisen mit dieser Implikation relativ unmittelbar auf Interaktion. Wenn Räume für mehr als eine Person gebaut und ausgestattet sind, mögliche Raumkonstellationen und Aktivitäten rekonstruiert werden können, gehen wir immer davon aus, dass Verbalität stattfinden kann. Im Hinblick auf interaktionsarchitektonische Vorgaben und Angebote besteht eine weitgehende ‘Autonomie’ und Flexibilität von „Sprechen“ und „Zeigen“. Unter der Voraussetzung von Sicht- und Hörbarkeit ist „Sprechen“ und „Zeigen“ überall möglich. Verbalität impliziert meist sofort Interaktion, die unter einer interaktionsarchitektonischen und sozialtopografischen Perspektive ja zunächst möglichst unberücksichtigt bleiben soll, wenngleich die Grenzen der unterschiedlichen Ebenen unscharf sind. Im folgenden Standbild 25 wird das Vorne im Sinne eines spezifischen ‘Sprech- und Zeigebereichs’ (von vielen möglichen Sprech- und Zeigebereichen) relevant, wobei die Interaktionsarchitektur des Raums auf keinen der beiden Aspekte direkte Hinweise gibt. 25 Der Lehrer steht vor dem Experimentiertisch und ist sowohl blicklich als auch körperlich zu den Schülern orientiert. In der rechten Hand hält er etwa auf Brusthöhe den Erlenmeyer-Kolben mit Aufsatz, in dem sich eine gelbliche Flüssigkeit befindet. Die linke Hand hat er auf der Hüfte abgestützt. Ausgehend von der Mimik des Lehrers ist anzunehmen, dass er in der dokumentier- <?page no="100"?> Der Chemiesaal 100 ten Situation etwas sagt oder gerade gesagt hat. Einen möglichen Hinweis hierfür liefern zwei Schüler, die sich mit ihrer Hand melden, was im Rahmen einer Frage-Antwort-Sequenz auf eine Frage des Lehrers schließen lassen könnte, die die Schüler beantworten möchten. Das Standbild 25 zeigt also weder eine Situation, in der der Lehrer experimentellen Aktivitäten nachgeht noch die Tafel als Verschriftlichung dieser praktischen Aktivitäten nutzt. Er nutzt den Raumbereich der Stirnseite unmittelbar vor dem Lehrerexperimentiertisch, der sich durch eine relativ große, begehbare Fläche auszeichnet. Das von der Interaktionsarchitektur zur Verfügung gestellte Potenzial wird vom Lehrer jedoch nicht im Sinne der Begehbarkeit, sondern im Sinne der Bestehbarkeit genutzt, da er eine Position vor dem Lehrerexperimentiertisch einnimmt, die durch Stabilität und Invarianz gekennzeichnet ist: Der feste Stand, das Einstützen des Armes und der zu den Schülern gerichtete Blick lassen auf eine gewisse zeitliche Dauer der Position schließen. Dies wird auch durch die Entfernung des Lehrers von der Tafel und vom Experimentiertisch und die damit einhergehende räumliche Nähe zu den Schülern deutlich. Gleichzeitig ist er im Gegensatz zu den anderen Raumpositionen (vgl. Standbiler 22-24) für die Schüler vollständig sichtbar und verdeutlicht dadurch seine Verfügbarkeit (availability), die im Kontrast zu den Raumnutzungen im zweiten oder vierten Standbild steht, in welchen er von seinen Aktivitäten weitgehend absorbiert wurde. Die im Standbild 25 dokumentierte Raumnutzung lässt also über die Momentaufnahme hinaus auf eine Phase des Unterrichts schließen, in welcher der verbale Austausch bzw. die verbale Wissensvermittlung im Vordergrund stehen - wie der Lehrer auch. Eine Phase verbaler Wissensvermittlung besteht auch bei der Nutzung des Projektionsbereichs (Standbild 23), wobei sich die side-to-faces-Konstellation, bei der sich der Lehrer hinter dem Experimentiertisch befindet, wesentlich von der face-to-faces-Konstellation im Standbild 25 unterscheidet. Der Lehrer signalisiert durch seine Position am Projektionsbereich nur eingeschränkte Verfügbarkeit, da sein Primärfokus in der projizierten Abbildung besteht. Der Einsatz verbaler Ressourcen wird also in erster Linie im Dienste der Erläuterung der Abbildung stehen. Die Voraussetzung für einen zeitlich andauernden, verbalen Austausch mit den Schülern ist - ganz im Gegensatz zum fünften Standbild - bei dieser Form von Ko-Orientierung kaum erwartbar. Da hier die spezifische Raumnutzung an der Stirnseite des Chemieraums erfolgt und damit im Raumbereich des Vorne stattfindet, ist sie von den übrigen Raumbereichen der Stirnseite nicht losgelöst zu betrachten. Der funktionale Bezug der unterschiedlichen Raumbereiche wird am sichtbarsten durch den Gegenstand deutlich, den der Lehrer mit der rechten Hand hochhält. Es handelt sich um den Erlenmeyer-Kolben, den der Lehrer zunächst befüllt (22), an <?page no="101"?> Standbildanalyse des Chemiesaals 101 der Tafel skizziert hat (24) und schließlich vor dem Experimentiertisch hochhält (25). Der Erlenmeyer-Kolben durchläuft also im Hinblick auf die unterschiedlichen Stadien der Raumnutzung des Lehrers eine gewisse ‘Karriere’. Ein Blick auf die Tafel zeigt, dass das Tafelbild weiter ausgeführt wurde, indem die Skizze zu dem Kolben mit einzelnen Fachbegriffen, wie etwa „Gärröhrchen“, beschriftet wurde. Auf der rechten oberen Seite der Tafel befindet sich außerdem die Bezeichnung „V B “, die im Bezug auf die Gesamtgestalt des Tafelbildes als Ankündigung der Versuchsbeobachtung verstanden werden kann, zu der zu diesem Zeitpunkt noch keine Stichpunkte notiert worden sind. Es ist also naheliegend, dass die im Standbild 25 dokumentierte Raumnutzung im Sinne eines Sprechraums im Dienste der Besprechung der Versuchsbeobachtung steht. Unter einer sozialtopografischen Perspektive handelt es sich bei dem durch den Lehrer genutzten Raumbereich nicht nur um einen Sprechbereich, sondern auch um einen Zeigebereich, der durch die Manipulation des Erlenmeyer-Kolbens konstituiert wird. Der Begriff „Zeigebereich“ impliziert eine spezifische Form deiktischer Zeigehandlungen, da das Zeigen am Objekt selbst erfolgt (Stukenbrock 2015): Der Lehrer rückt den Erlenmeyer-Kolben durch seine unmittelbare Manipulation in den visuellen Aufmerksamkeitsfokus der Schüler. Das Zeigen am Objekt selbst kann als dabei motivierte Abwahl anderer Zeigehandlungen verstanden werden, die durch die Interaktionsarchitektur ebenso naheliegend wären (vgl. Standbild 23). Der Lehrer könnte beispielsweise den Erlenmeyer-Kolben auf dem Arbeitstisch stehen lassen und auf das Objekt im Sinne einer „pointing action“ (Kendon 2004, S. 201; Goodwin 2003a, S. 232; Clark 2003; Kita (Hg.) 2003) verweisen. Dies wäre jedoch mit vergleichbaren Implikationen für die Interaktion verbunden, wie bei der Nutzung des Projektionsbereichs: Das Zeigen auf ein hinter ihm liegendes Objekt (Projektionswand, Erlenmeyer-Kolben) ist mit einer partiellen Auflösung der face-to-faces-Konstellation und mit der Etablierung eines zusätzlichen Fokus verbunden. Bei der im Standbild 25 dokumentierten Konstellation erfolgt der deiktische Verweis unmittelbar durch die Manipulation und manuelle Berührung des Objekts, die es dem Lehrer ermöglicht, sich den Schülern vollständig zuzuwenden und gleichzeitig die Relevanz des Objekts zu verdeutlichen. Er bringt ihnen einen für Chemie wichtigen Aspekt buchstäblich nahe. Wenngleich der Lehrer hier den Raumbereich vor dem Arbeitstisch für diese spezifische Form des Zeigens im Sinne des ‘Hochhaltens’ eines thematisch relevanten Objekts nutzt, würde sich jeder andere Raumbereich der Stirnseite als Zeigeraum anbieten. Es ist die Kombination von interaktiver Verfügbarkeit und uneingeschränkter Sichtbarkeit, die diesen Raumbereich als Zeigebereich in besonderem Maße ausweist. <?page no="102"?> Der Chemiesaal 102 3.3 Das Konzept Räumliche Relevanztiefe Die Standbildanalyse des leeren Chemieraums rückte zunächst die Stirnseite ins Zentrum des Erkenntnisinteresses, die sich aufgrund ihrer interaktionsarchitektonischen Ausstattung als multiaspektuell erwies. Dieser Raumbereich, der zu einem frühen Zeitpunkt der Analyse bereits als Vorne qualifiziert werden konnte, wurde in einem zweiten Analyseschritt unter einer sozialtopografischen Perspektive hinsichtlich seiner konkreten Nutzung untersucht. Die unterschiedlichen Formen der Raumnutzung legten es nahe, von einer Binnenstruktur des Vorne zu sprechen: Das von der Ausstattung des Raums zur Verfügung gestellte, interaktive Potenzial nutzt der Lehrer insgesamt als Arbeitsbereich, der in einzelne, durch die jeweilige Aktivitätsspezifik definierte Teilbereiche gegliedert ist: Er nutzt ihn - als Experimentierbereich, indem er auf dem Arbeitstisch experimentellen Aktivitäten nachgeht, - als Projektionsbereich, der ihm zur Visualisierung von Inhalten dient, - als Schreibbereich, wo wichtige Inhalte fixiert und dokumentiert werden und - als Sprech- und Zeigebereich, in dem neben der Manipulation von Objekten vor allem die verbale Wissensvermittlung im Zentrum steht. Auf der Grundlage der Analyseergebnisse, die sich aus der interaktionsarchitektonischen und sozialtopografischen Perspektive auf den Chemieraum als zentral erwiesen haben, soll nun das Konzept der räumlichen Relevanztiefe entwickelt werden. Das Konzept wird zunächst fallbezogen ausgeleuchtet und anschließend hinsichtlich seiner falltranszendierenden Qualität reflektiert. Dabei verbindet es die interaktionsarchitektonische und sozialtopografische Perspektive auf Raum. Das Konzept ist mit spezifischen interaktionsarchitektonischen Voraussetzungen verbunden, insofern es sich auf Räume bezieht, - die für fokussierte Interaktion („focused gatherings“, Goffman 1963) - mit vielen Teilnehmern (‘multiparty interaction’) hergerichtet sind, - wobei viele Teilnehmer auf einen einzelnen oder wenige andere Teilnehmer ausgerichtet sind, - sodass grundsätzlich von einem Vorne des Raums gesprochen werden kann und - dieses Vorne aufgrund seiner multiaspektuellen Ausstattung eine eigene Binnenstruktur aufweist, - die in der konkreten Raumnutzung schließlich deutlich wird. <?page no="103"?> Das Konzept Räumliche Relevanztiefe 103 In Anlehnung an die Tiefenschärfe 57 einer Fotografie trägt die räumliche Relevanztiefe der Tatsache Rechnung, dass in Abhängigkeit von der situativen Raumnutzerkonstellation (vgl. Kap. 3.3.1) die Gesamtheit der Ausstattung stets sichtbar, aber nur ein Teil des Raumbereichs relevant, d.h. ‘scharf gestellt’ ist. 3.3.1 Raumnutzerkonstellation Bevor ich auf das Konzept der Relevanztiefe näher eingehe, soll zunächst der Begriff der ‘Raumnutzerkonstellation’ erläutert werden, der sich im Rahmen der Analyse unter sozialtopografischer Perspektive als zentral erwiesen hat. Im Analyseteil wurde bereits darauf hingewiesen, dass es sich bei der Beschreibung von face-to-faces- oder back-to-faces-Konstellationen nicht um interaktiv hergestellte Teilnehmerarrangements 58 handelt, sondern lediglich die Konstellation der Raumnutzer erfasst werden soll. Unter ‘Raumnutzerkonstellation’ verstehe ich die Positionen, die alle im Raum anwesende Personen zueinander dadurch einnehmen, dass sie den Raum in irgendeiner Form konkret nutzen. Die Raumnutzerkonstellation ergibt sich aus einer sozialtopografischen Perspektive und hat zunächst keine interaktive Relevanz, auch wenn sie starke Hinweise darauf gibt, welche Interaktionssituation besonders naheliegend ist. Eine Raumnutzerkonstellation muss nicht notwendigerweise mit der Teilnehmerkonstellation in der Interaktion übereinstimmen. So kann beispielsweise eine Raumnutzerkonstellation zweier paralleler Menschenschlangen an Kassen im Supermarkt als side-by-side-Konstellation beschrieben werden, wobei sie keinerlei Relevanz für tatsächliche Interaktion zwischen den beiden Menschenschlangen hat und die Personen sich faktisch gegebenenfalls nicht einmal wahrnehmen. Sie ist aber unter Umständen hinsichtlich des Basiskonzepts der Bestehbarkeit interessant, weil der Kassenraum durch seine Ausstattung eine solche Konstellation besonders nahelegt. Die Raumnutzerkonstellation kann also auch gerade Hinweise darauf geben, welche Interaktion nicht stattfinden bzw. nicht nahegelegt wird. 57 Ich verwende den Begriff Tiefenschärfe synonym zum Begriff der Schärfentiefe. Vgl. hierzu Stefanowitsch (2011): www.scilogs.de/ wblogs/ blog/ sprachlog/ sprachgebrauch/ 2011-04-04/ im-rausch-der-sch-rfentiefe (Stand: 30.8.2013). 58 Mit dem Begriff der ‘F-formation’ (Kendon 1990b) befasste sich Kendon als einer der ersten mit der räumlichen Konfiguration von Teilnehmern in der Interaktion. Dabei griff er den Gedanken des ‘participation framework’ von Goffman (1981) auf und entwickelte ihn entsprechend weiter. Die F-Formation, die unterschiedliche Formen (face-to-face, side-by-side) haben kann, ergibt sich aus der fokussierten Interaktion von Teilnehmern und ist daher ein explizit interaktives Konzept. Im Gegensatz dazu bezieht sich der Begriff der Raumnutzerkonstellation nur auf die Positionen der Nutzer im Raum, die zunächst keinerlei interaktive Qualität besitzen. <?page no="104"?> Der Chemiesaal 104 Für das Konzept der Relevanztiefe ist die Raumnutzerkonstellation ein konstitutives Element: Nur unter der Voraussetzung, dass mehrere Raumnutzer auf einen oder wenige andere Raumnutzer ausgerichtet sind, indem sie den Raum seines Potenzials entsprechend nutzen, ist es sinnvoll, von ‘räumlichen Relevanzbereichen’ (vgl. Kap. 3.3.3) zu sprechen. Ein Raumnutzer verdeutlicht durch seine Position und Positur, welcher Teil des insgesamt sichtbaren Vorne de facto für die anderen Raumnutzer Relevanz haben soll. 3.3.2 Begriffsentwicklung In Wikipedia wird die Tiefenschärfe einer Fotografie als „Maß für die Ausdehnung des scharfen Bereichs im Objektraum“ definiert, wobei der Begriff „die Größe des Entfernungsbereichs“ beschreibt, „innerhalb dessen ein Objekt hinlänglich scharf im Abbild der Kameraoptik erscheint“. 59 Eine Fotografie kann also je nach Kameraeinstellung eine große oder eine geringe Tiefenschärfe besitzen. Wenngleich der physikalische Begriff der Tiefenschärfe ein Phänomen der Optik beschreibt, eo ipso nur begrenzt auf meinen Untersuchungsgegenstand übertragen werden kann, ist er für die Entwicklung des Konzepts der Relevanztiefe des Raums im Hinblick auf unterschiedliche Aspekte ungemein produktiv. Zunächst handelt es sich bei dem Begriff explizit um ein raumbezogenes Phänomen, wobei bei der Fotografie vom „Objektraum“ die Rede ist, während es hier um den gebauten, ausgestatteten und konkret genutzten Raum geht. Der Objektraum kann in unterschiedliche „Bereiche“, sogenannte Tiefenschärfebereiche, eingeteilt werden. Bei dem Konzept der räumlichen Relevanztiefe geht es um ein ähnliches Phänomen: Das Vorne kann in unterschiedliche Raumbereiche unterteilt werden, die sich in ihrer interaktionsarchitektonischen Ausstattung signifikant voneinander unterscheiden. Diese Raumbereiche sind immer gleichzeitig sichtbar, 60 jedoch nicht gleichzeitig gleichermaßen relevant. Je nachdem, welchen Raumbereich der Lehrer nutzt und welche Position im Raum er einnimmt, ist ein bestimmter Raumbereich relevant, d.h. ‘scharf gestellt’ und die Schüler können diesen spezifischen Raumbereich fokussieren. Es werden jedoch auch die Grenzen der Übertragbarkeit des Begriffes deutlich: Im Gegensatz zur Tiefenschärfe einer Fotografie, bei der nur das Merkmal ‘scharf’ oder ‘unscharf’ distinktiv ist, sind bei dem interaktionsarchitektoni- 59 Nachzulesen auf: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Schärfentiefe (Stand: 30.8.2013). 60 Nur beim Projektions- und Schreibbereich kann die gleichzeitige Sichtbarkeit eingeschränkt sein. Vgl. dazu Kapitel 3.2.2. <?page no="105"?> Das Konzept Räumliche Relevanztiefe 105 schen und sozialtopografischen Konzept auch Aspekte wie die Beschaffenheit, d.h. die Ausstattung der Bereiche und ihr wechselseitiger Bezug, zentral. Um diesem wesentlichen Unterscheidungskriterium Rechnung zu tragen, sollen die unterschiedlichen Raumbereiche im Folgenden nicht als Tiefenschärfebereiche, sondern als ‘Relevanzbereiche’ bezeichnet werden. Abschließend sei noch auf zwei weitere Aspekte verwiesen, die den Begriff der Tiefenschärfe für mein spezifisches Erkenntnisinteresse produktiv machen: Zunächst setzt der Begriff einen den Objektraum abbildenden Gegenstand, d.h. die Kamera, voraus und nicht zuletzt den Beobachter, der die Tiefenschärfe des Bildes schließlich wahrnimmt. So fußt das Konzept der Relevanztiefe des Raums ebenfalls auf Raumnutzern, die auf das Vorne ausgerichtet sind und es wahrnehmen. Gleichzeitig zeigt sich hier eine zentrale Erweiterung des Begriffes: Es geht nicht um die bloße Wahrnehmung des Vorne, sondern vielmehr um die Wahrnehmung desjenigen, der die unterschiedlichen Raumbereiche des Vorne nutzt. Die räumliche Relevanztiefe impliziert also immer eine Nutzerkonstellation, d.h. zwei Parteien, die entweder die Sitzreihen nutzen, indem sie auf das Vorne ausgerichtet sind oder aber die Raumbereiche im Vorne konkret nutzen. Auf den zweiten Aspekt, der aus der spezifischen Dokumentengrundlage der Analyse resultiert, sei an dieser Stelle nur kurz verwiesen: Die Entwicklung des Konzepts erfolgt anhand der Analyse von Standbildern, die trotz ihres eigenständigen methodischen, empirischen und analytischen Status auch Gemeinsamkeiten mit Fotografien aufweisen, wie beispielsweise ihr Abbildcharakter oder der Aspekt der Momentaufnahme. 61 Sie sind beide statisch in dem Sinne, dass sie keine Zeitlichkeit und daher auch keine (interaktiven) Prozesse abbilden können. Daher ist das Konzept der Relevanztiefe auch kein dynamisches Konzept, das interaktiven Relevanzen Rechnung trägt, sondern ein raumbezogenes Konzept, das interaktionsarchitektonischen und sozialtopografischen Relevanzen folgt. 62 3.3.3 Relevanzbereiche des Chemieraums Das Vorne wird durch drei Relevanzbereiche konstituiert, die nicht mit den in der Standbildanalyse rekonstruierten Raumbereichen (Experimentierbereich, Projektionsbereich, Schreibbereich, Sprech- und Zeigebereich) deckungsgleich 61 Der unterschiedliche Status von Standbild und Fotografie ist insbesondere in methodischer Hinsicht noch weitgehend ungeklärt und stellt für die Zukunft ein spannendes Untersuchungsfeld dar. Hinweise finden sich bei Hausendorf/ Schmitt (2013). 62 Vgl. dazu den Demonstrationsraum als raumbezogenes Konzept, das auf der Grundlage von Videoaufnahmen entwickelt wurde und daher den interaktiven Relevanzen Rechnung trägt (Kap. 4.). <?page no="106"?> Der Chemiesaal 106 sind, auch wenn es Überschneidungen gibt. Während die Raumbereiche der interaktionsarchitektonischen Ausstattung des Raums und ihrer konkreten Nutzung Rechnung tragen, ist der Begriff des ‘Relevanzbereichs’ im Hinblick auf die Raumnutzerkonstellation voraussetzungsreicher: Der Schreibbereich kann auch dann genutzt werden, wenn sich der Raumnutzer allein im Raum befindet. Ebenso verhält es sich mit dem Experimentier- oder Projektionsbereich. Es ist durchaus denkbar, dass der Lehrer probeweise bereits vor dem Unterricht ein Experiment auf dem Arbeitstisch ausführt oder eine Folie auf seine Lesbarkeit überprüft. Erst durch die spezifische Position und Positur des Lehrers wird in den Standbildern deutlich, dass die Raumnutzung in Anwesenheit anderer Raumnutzer erfolgt und für diese ‘designt’ ist. Nur so kann das Zeigen auf die projizierte Abbildung und das Hochhalten des Erlenmeyer- Kolbens vor dem Arbeitstisch als sinnhaft verstanden werden. Der Begriff ‘Relevanzbereich’ fokussiert also einen bestimmten Aspekt der Raumnutzung: Ein Relevanzbereich wird durch die Position und Positur desjenigen konstituiert, der das Vorne konkret nutzt. Zentral sind dabei die Hände bzw. Arme des Raumnutzers, die jeweils auf den spezifischen Relevanzbereich verweisen. Dabei impliziert der Begriff immer auch diejenigen Raumnutzer, für welche diese konkrete Raumnutzung sichtbar ist, weil sie körperlich-räumlich darauf ausgerichtet sind. Die untenstehende Grafik (Abb. 26) stellt die drei Relevanzbereiche schematisch dar, die unterteilt werden in: Tafel Relevanzbereich 3 Relevanzbereich 2 Relevanzbereich 1 Lehrerexperimentiertisch 26 <?page no="107"?> Das Konzept Räumliche Relevanztiefe 107 a) Relevanzbereich 1: Der Lehrer steht, in seiner gesamten Köperlichkeit sichtbar, in einer face-to-faces-Konstellation mit den Schülern. Seine Hände sind entweder in Ruheposition oder werden zur Manipulation von Objekten eingesetzt. b) Relevanzbereich 2: Der Lehrer ist nur ab der Hüfte sichtbar und ebenfalls face-to-faces zu den Schülern orientiert. Seine Hände dienen ihm als ‘Werkzeuge’, um praktischen Aktivitäten nachzugehen. c) Relevanzbereich 3: Der Lehrer ist back-to-faces oder side-to-faces zu den Schülern orientiert und nur ab der Hüfte sichtbar. Er setzt seine Hände zum Schreiben oder Zeigen (‘pointing’) ein. Die Relevanzbereiche können hinsichtlich ihrer Aktivitätsspezifik klassifiziert werden, die mit Implikationen für die beobachtenden Raumnutzer, also die Schüler, verbunden sind: Für den Relevanzbereich 1 sind Zeige- oder verbale Aktivitäten, für den Relevanzbereich 2 experimentelle Aktivitäten und für den Relevanzbereich 3 Schreibaktivitäten konstitutiv. Die Schüler wissen, dass mit den Raumbereichen des Vorne eine bestimmte Aktivitätsstruktur assoziiert ist und stimmen ihr Verhalten darauf ab. Der Lehrer kann also durch seine Position und Positur einen Relevanzbereich wirksam machen, der immer auch das Verhalten der Schüler ‘dirigiert’. Oder anders formuliert: Mit der Einnahme einer bestimmten Position im Raum positioniert er die Schüler gleichzeitig mit. 63 Im Rahmen der Raumnutzerkonstellation findet also eine Form der Navigation statt, die von dem Raumnutzer ausgeht, der im Vorne aktiv ist. Durch die Grafik wird der Unterschied des Chemieraums zu herkömmlichen Klassenzimmern deutlich: Der gesamte zweite Relevanzbereich entfällt in Klassenzimmern, die nicht für naturwissenschaftliche Experimente hergerichtet und mit einem Arbeitstisch ausgestattet sind. Daher kann dann maximal von zwei Relevanzbereichen gesprochen werden, die den Relevanzbereichen 1 und 3 des Chemieraums gleichen: Der Lehrer steht entweder zu den Schülern oder zu der Tafel orientiert. Um mit Sicherheit von zwei Relevanzbereichen ausgehen zu können, müsste jedoch die faktische Raumnutzung in einem herkömmlichen Klassenzimmer fallspezifisch untersucht werden. 63 Diese ‘Mitpositionierung’ der Schüler ist unter einer didaktischen Perspektive interessant: Der Lehrer kann durch die spezifische Nutzung der Raumbereiche das Verhalten der Schüler navigieren. So können Gelenkstellen im Unterrichtsverlauf beispielsweise durch den Wechsel des Raumbereiches gestaltet werden. <?page no="108"?> Der Chemiesaal 108 Darüber hinaus soll die Grafik nicht den Eindruck erwecken, dass es sich bei einem Relevanzbereich um einen spezifischen Raumbereich mit klaren Grenzen handelt. Im Folgenden wird sich zeigen, dass die Relevanzbereiche je nach Raumnutzung ineinander hineinreichen können. Das Vorne weist dann entweder eine große oder geringe Relevanztiefe auf. Da ein Relevanzbereich immer erst durch die Position und Positur des Lehrers, also seine spezifische Raumnutzung, konstituiert wird, können Räume per se keine Relevanzbereiche besitzen. Die interaktionsarchitektonische Ausstattung kann unterschiedliche Relevanzbereiche nahelegen, diese werden jedoch erst unter einer sozialtopografischen Perspektive bedeutungsvoll. Bei der Standbildanalyse zeigte sich mehrfach der funktionale Bezug der einzelnen Raumbereiche: Während im vorliegenden Fall dem Projektions-, Schreib- und Sprechbereich bei der Durchführung eines Experiments auf dem Arbeitstisch keinerlei Relevanz zukam, wurde ein enger Zusammenhang von Schreib- und Experimentierbereich deutlich, wenn der Lehrer sein vorheriges praktisches Tun an der Tafel verschriftlichte. Bezogen auf das Konzept räumliche Relevanztiefe kann im ersten Fall von einer geringen Relevanztiefe (Relevanzbereich 2) gesprochen werden: Der Lehrer setzt durch seine Position und Positur nur das relevant, was er unmittelbar nutzt. Im zweiten Fall hingegen reicht der Relevanzbereich 3 in den Relevanzbereich 2 hinein, da es einen erkennbaren Bezug hinsichtlich der Raumnutzung gibt: Das im Experimentierbereich manipulierte Objekt wird nun an der Tafel reproduziert. Die Relevanztiefe des Raums ist im zweiten Fall also wesentlich größer als im ersten Fall. Ähnlich verhält es sich mit der Raumnutzung im fünften Standbild, als der Lehrer den Erlenmeyer-Kolben hochhält und zu den Schülern orientiert ist. Es handelt sich um den Erlenmeyer-Kolben, der im Vorfeld an der Tafel skizziert wurde und daher im Hintergrund sichtbar ist. Hier besteht ebenfalls eine gewisse ‘Durchlässigkeit’ vom Relevanzbereich 1, sodass die räumliche Relevanztiefe größer ist. Da der Lehrer immer nur eine Position einnehmen kann, ist grundsätzlich nur von einem Relevanzbereich auszugehen, der dann gegebenenfalls größer oder kleiner ausfällt, bzw. mehr oder weniger durchlässig ist. Eine maximale Relevanztiefe würde neben der Unmöglichkeit der Omnipräsenz des Lehrers voraussetzen, dass alles, was sichtbar ist, gleichzeitig auch relevant ist. Es ist evident, mit welcher Überforderung der beobachtenden Schüler dies einhergehen würde. Hier wird der Aspekt der Zeitlichkeit wirksam, der eng mit der Aktivitätsspezifik des Raumnutzers verbunden ist: Es spielt keine Rolle, in welcher Reihenfolge der Lehrer die Raumbereiche nutzt. Er kann beispielsweise mit einem <?page no="109"?> Falltranszendierendes Resümee 109 Tafelbild beginnen und anschließend ein Experiment durchführen, das zuletzt inhaltlich besprochen wird. Die umgekehrte Reihenfolge, also ein Experiment theoretisch zu besprechen, es durchzuführen und die Ergebnisse schließlich zu fixieren, ist ebenso denkbar. In jedem Fall aber sind die Relevanzbereiche zeitlich nachgeordnet wirksam. 3.4 Falltranszendierendes Resümee Die Interaktionsarchitektur und Sozialtopografie ermöglichen eine Perspektive auf Raum, die zur Entwicklung neuer raumbezogener Konzepte führt, für welche die Interaktion zwar den Fluchtpunkt darstellt, die selbst jedoch keine interaktive Qualität besitzen. Dadurch werden Strukturen und Zusammenhänge von Architektur und Interaktion offengelegt, die bei einer sofortigen interaktionsanalytischen Perspektive leicht übersehen werden könnten und gegebenenfalls vorschnell der gemeinsamen Herstellung durch Interaktionsbeteiligte zugeschrieben würden. Dabei geht es nicht darum, den Raum als determinierendes Kriterium zu verstehen, sondern das interaktive Potenzial zu erfassen und die faktische Nutzung des Raums als Umsetzung interaktionsräumlicher Relevanzen zu begreifen. Bezogen auf mein spezifisches Erkenntnisinteresse konnte mit der interaktionsarchitektonischen und sozialtopografischen Perspektive auf Raum das Konzept der räumlichen Relevanztiefe entwickelt werden. Versteht man die Architektur und Ausstattung von Räumen als mögliche Lösungen für interaktive Probleme, stellt insbesondere das Vorne des Chemieraums eine Lösung für Chemieunterricht dar, d.h., dass der Lehrer unterschiedliche Aktivitäten für die Schüler unter der Bedingung der Sichtbarkeit ausführen muss. Diese Anforderung manifestiert sich in der multiaspektuellen Stirnseite, die in unterschiedliche Raumbereiche unterteilt werden kann, mit welchen wiederum eine bestimmte Aktivitätsstruktur assoziiert ist: Im Projektionsbereich kann der Lehrer Informationen visualisieren, am Arbeitstisch Experimente durchführen und vor dem Arbeitstisch hat er eine geeignete Position, um mit den Schülern in den verbalen Austausch zu kommen. Diese Binnenstruktur des Vorne schafft jedoch ein neues Problem: Für die Schüler ist das Vorne immer als Ganzes sichtbar, obwohl es im Unterricht selbst nicht gleichermaßen relevant ist. Lediglich Schreib- und Projektionsbereich können durch das Verschieben der Tafel ‘verschwinden’. Unter einer interaktionistischen Perspektive begreift man die Bearbeitung dieses Problems als interaktive Anforderung: Die Relevanzsetzung unterschiedlicher Aspekte aus der Fülle an Sichtbarem erfolgt als gemeinsame Herstellung von Lehrer und Schülern in der Interaktion. Daraus ergibt sich das Konzept des Demonstrationsraums, das im folgenden Analysekapitel (Kap. 4) dargelegt <?page no="110"?> Der Chemiesaal 110 wird. Wenn man ausschließlich dem interaktionsanalytischen Konzept folgt, rückt schnell in den Hintergrund, in welchem Maße die Architektur des Raums und dessen konkrete Nutzung Einfluss auf die Interaktion haben. Das Konzept der räumlichen Relevanztiefe trägt diesem Einfluss Rechnung und verdeutlicht, inwiefern die alleinige Nutzung des gebauten, gestalteten und ausgestatteten Raums Relevanzbereiche des Raums wirksam macht, ohne dass etwas wie Interaktion bereits stattfindet. Die Raumnutzerkonstellation dient also - fern jeglicher Interaktion - bereits zur Lösung des durch den Raum geschaffenen Problems, dass Vieles sichtbar, aber nicht alles ‘scharf gestellt’ ist. Das Konzept der räumlichen Relevanztiefe wurde fallspezifisch entwickelt, weist jedoch über den Kontext von Chemieunterricht und Schule hinaus. Die interaktionsarchitektonischen Voraussetzungen für die Relevanz des Konzepts wurden bereits im dritten Kapitel erläutert. Grundsätzlich fokussiert es die Lösung des durch die Interaktionsarchitektur resultierenden Problems, dass innerhalb eines multiaspektuellen Vorne allein durch die Raumnutzung von Personen (Position, Positur, Raumnutzerkonstellation) eine Relevantsetzung von Raumbereichen und ihnen assoziierten Aktivitäten erfolgt. Das Konzept kann beispielsweise auf Räume übertragen werden, die sich in sogenannten Kochstudios (Abb. 27 64 ) befinden, die meist ebenfalls drei Relevanzbereiche aufweisen. Hier führen Köche ihr Handwerk unter der Beobachtung eines Publikums aus und nutzen ein vergleichbar multiaspektuelles Vorne: In der Regel gibt es einen Arbeitstisch, auf dem sich auch die Kochplatten befinden. In einem hinteren Bereich befinden sich weitere elektrische Geräte oder Schränke. Die Köche können aber auch den Raumbereich vor dem Arbeitstisch nutzen, um etwa in Kontakt mit dem Publikum zu treten (Abb. 28 65 ). So sind auch diese Raumbereiche durch eine Aktivitätsspezifik charakterisiert. Obwohl stets das gesamte Vorne sichtbar ist, verdeutlichen die Köche durch ihre Position und Positur, welcher der drei Relevanzbereiche unmittelbar wirksam ist. 64 Die Abbildung stellt das Kochstudio des prominenten Kochs Tim Mälzer dar, das von seiner Internetpräsenz entnommen wurde (www.tim-maelzer.info/ wp-content/ uploads/ 2009/ 04/ meinekueche.jpg, Stand: 3.9.2013). Rechts vom Bild befinden sich die Zuschauerplätze. 65 Quelle: http: / / img.fotocommunity.com/ Prominente-des-oeffentl-Lebens/ Prominente-Kuenstler/ Tim-Maelzer-II-a18627997.jpg (Stand: 3.9.2013). <?page no="111"?> Falltranszendierendes Resümee 111 27 28 Die Existenz des (Arbeits-)Tisches darf jedoch nicht zu der Generalisierung führen, grundsätzlich von drei Relevanzbereichen auszugehen. Darüber hinaus bliebe zu untersuchen, inwiefern von Relevanzbereichen die Rede sein kann, wenn sich die Fokusperson in den Zuschauerraum oder - bezogen auf den Chemieraum - in die Sitzreihen der Schüler begibt und das Vorne gleichzeitig ungenutzt bleibt. <?page no="113"?> 4. WAHRNEHMUNGSSTRUKTURIERUNG IM CHEMIEUNTERRICHT 66 Im vorangegangenen Analysekapitel wurden die interaktionsarchitektonischen und sozialtopografischen Voraussetzungen des Chemieraums und seine Implikationen für die Interaktion untersucht. Ein zentrales Analyseergebnis bestand dabei in der Beobachtung, dass der Lehrer das multiaspektuelle Vorne durch seine konkrete Raumnutzung, wie etwa seine Position, für die Schüler (vor)strukturiert und dadurch verdeutlicht, welcher Raumbereich aktuell relevant ist. Mit dem Konzept der räumlichen Relevanztiefe wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass Vieles im Vorne sichtbar, aber nur ein bestimmter Bereich relevant gesetzt ist. Die Interaktion selbst, also der interaktive Vollzug des Chemieunterrichts, bildete dabei den Fluchtpunkt, stand jedoch (noch) nicht im Zentrum des Erkenntnisinteresses. Bei der Rekonstruktion der Interaktionsarchitektur zeigte sich, dass der Chemieraum in erster Linie experimentelle Aktivitäten nahelegt und ermöglicht. Daher ist diese Perspektive für mein zentrales Erkenntnisinteresse an der Interaktion im Chemieunterricht bereits implikativ. Die vom Raum nahegelegten experimentellen Aktivitäten erfolgen im Chemieunterricht jedoch nicht, wie etwa im Labor, zur eigenen Erkenntnisgewinnung, sondern stehen im Dienste der interaktiven Wissensvermittlung. Chemieunterricht unterscheidet sich in der Form der Wissensvermittlung wesentlich von anderen Unterrichtsfächern. Der vorwiegend sprachlichen Wissensvermittlung in geisteswissenschaftlichen Unterrichtsfächern steht das ‘Machen’, also die experimentellen Aktivitäten im Chemieunterricht, gegenüber. Die Schüler erlernen das fachspezifische Wissen im Chemieunterricht entweder durch selbstständig durchgeführte Experimente oder durch die Beobachtung der experimentellen Aktivitäten des Lehrers, die er auf dem Experimentiertisch im Vorne realisiert. Der Lehrer charakterisiert seine Aktivitäten im Rahmen einer Versuchsphase selbst als ‘Machen’: 32 LE: ok; 33 machen wir das (.) HIER; (---) 34 VO: rne’ Mit ‘Machen’ ist das zentrale Fachspezifikum von Chemieunterricht bezeichnet, das zunächst noch ganz allgemein der Tatsache Rechnung trägt, dass Chemie de facto realisiert werden muss, sei es im Einsatz einzelner Objekte 66 Das Kapitel basiert zu großen Teilen auf dem 2012 erschienenen Aufsatz „Der Demonstrationsraum als Wahrnehmungsstrukturierung“ (Putzier 2012). <?page no="114"?> Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht 114 oder in der Durchführung komplexer Experimente. Das ‘Machen’ ist per definitionem an Materialität und Räumlichkeit gebunden und kann davon nicht losgelöst gedacht werden. Wann immer die Beteiligten im Chemieunterricht Objekte arrangieren, auf- oder wegräumen, Chemikalien einsetzen, umgießen oder anzünden, wann immer sie auf dem Pult oder den Labortischen Experimente durchführen, gehen sie im Raum mit Raum um. Qua Funktionsrolle obliegt das ‘Machen’ von Chemie in erster Linie dem Lehrer. Als zentrale „Fokusperson“ (Deppermann/ Schmitt 2007) steht er unter der kontinuierlichen Beobachtung der Schüler und agiert immer unter der Voraussetzung von Wahrnehmungswahrnehmungsstrukturen. Sein ‘Chemie- Machen’ ist permanent sichtbar gemacht, und es kann und soll von den Schülern wahrgenommen werden. Auch wenn die Wahrnehmungsrichtung und der Fokus auf den zentral im Raum verankerten Lehrerexperimentiertisch bereits in der Interaktionsarchitektur angelegt sind (vgl. Kap. 3), muss der Lehrer die Wahrnehmung der Schüler im Bezug auf seine Kernaktivität kontinuierlich strukturieren. Im vorangegangenen Analysekapitel wurde deutlich, dass der Lehrer allein durch seine Position und Positur den Schülern den aktuellen Relevanzbereich verdeutlicht und damit gleichzeitig andere Raumbereiche, wie etwa die Tafel, sichtbar abwählt. Auf dem Lehrerpult befindet sich jedoch in der Regel eine Fülle fachspezifischer Gegenstände, die in dem entsprechenden Relevanzbereich zunächst alle unter Wahrnehmungsverdacht stehen. Durch sein Verhalten und sein praktisches Tun verdeutlicht der Lehrer den Schülern, welche der zahlreichen Gegenstände im Rahmen eines Versuches zu beobachten sind. Hinzu kommt, dass nicht alle Aktivitäten des Lehrers der Kernaktivität zuzurechnen sind und als solche von ihm gerahmt werden müssen. Oftmals weisen praktische Versuchsphasen Nebensequenzen (Jefferson 1972) auf, in denen der Lehrer anderen Relevanzen nachgeht, wie etwa der verbalen Erarbeitung von versuchsrelevantem Wissen. Die Wahrnehmungsstrukturierung manifestiert sich in der konkreten Interaktionssituation jeweils in einer spezifischen Form des ‘Chemie-Machens’. Im Rahmen von Unterrichtsphasen, die durch die Realisierung von Experimenten gekennzeichnet sind, erhalten die Aktivitäten des Lehrers demonstrative Qualität und stehen im Dienste der Wissensvorführung oder -demonstration. Das ‘Chemie-Machen’ kann im Rahmen solcher Versuchsphasen daher als ‘Vorführen’ spezifiziert werden. Vorführen von Chemie verweist wie auch ‘Machen’ auf Raum. Nur auf der Grundlage räumlicher Relevanzen kann Chemie vorgeführt werden. Dabei stellt der Raum nicht nur eine Ressource dar, der sich der Lehrer zur Realisierung seiner Handlungszwecke bedient, sondern er wird auch in Form räumlicher Kontingenzen evident: Der Lehrer ist den vorliegenden räumlichen Strukturen zwangsläufig ausgesetzt, <?page no="115"?> Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht 115 wenngleich er sie für seine handlungspraktische Zielorientierung produktiv nutzen kann. Der kontinuierliche Umgang mit Raum als einer interaktiven Ressource manifestiert sich in seinem gesamten Verhalten und schreibt sich in seiner Multidimensionalität in allen den Interaktionsbeteiligten zur Verfügung stehenden Ausdrucksebenen ein. Ziel dieses Analysekapitels ist es, die für den Chemieunterricht konstitutive interaktive Anforderung der Wahrnehmungsstrukturierung unter einer multimodalen Perspektive zu untersuchen. Obwohl es in erster Linie dem Lehrer als Fokusperson obliegt, diese Anforderung zu bearbeiten, handelt es sich dabei um ein interaktives Ereignis: Die Schüler verdeutlichen dem Lehrer durch ihr spezifisches Verhalten, wie sie seine Aktivitäten verstehen und interpretieren. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Nutzung des Raums als interaktive Ressource: Wie gelingt es dem Lehrer durch sein körperlich-räumliches Verhalten, die Schüler auf das Experiment zu fokussieren? Wie verdeutlicht er die unterschiedlichen Relevanzen einzelner Objekte? Daraus ergibt sich auf konzeptioneller Ebene die Frage nach den von den Beteiligten eingesetzten multimodalen Verfahren: Wie zeigt sich der gemeinsame Fokus im körperlich-räumlichen Verhalten aller Beteiligten? Welche Ausdrucksressourcen setzen die Beteiligten dabei ein? Welche Rolle spielt Verbalität bei der Wahrnehmungsstrukturierung und manifestiert sie sich auch auf gesprächsorganisatorischer Ebene? Das methodische Verfahren dieses Kapitels besteht in der Fallanalyse eines ausgewählten Videoausschnitts, der aufgrund seiner Typikalität als Zentraldokument für die spezifische Fragestellung gelten kann. Im Rahmen einer Unterrichtsstunde zum Thema ‘alkoholische Gärung’ führt der Lehrer den Schülern mithilfe eines gemeinsam erarbeiteten Versuchsaufbaus den Nachweis von Alkohol vor. Das Kapitel ist so aufgebaut, dass als Rahmung zunächst eine Begriffsklärung erfolgt, in dem das aus den Analyseergebnissen entwickelte Konzept des Demonstrationsraums kurz beschrieben werden soll (Kap. 4.1). Im Anschluss erfolgt die Fallanalyse des ausgewählten Videoausschnitts, die eine dreiteilige Struktur aufweist: Zunächst steht die Etablierung des Demonstrationsraums (Kap. 4.2) im Zentrum, d.h. die Frage nach der interaktiven Herstellung eines gemeinsamen Wahrnehmungsfokus. Das anschließende Kapitel beschäftigt sich mit den multimodalen Verfahren, die von den Beteiligten zur Aufrechterhaltung des Demonstrationsraums (Kap. 4.3) eingesetzt werden. Die Fallanalyse wird mit dem Kapitel zur Auflösung des Demonstrationsraums (Kap. 4.4) abgeschlossen. Im Anschluss erfolgt auf der Grundlage der Analyseergebnisse die Konzeptentwicklung (Kap. 4.5), wobei der Demonstrationsraum unter dem Aspekt partieller Eigenständigkeit und Teilautonomie betrachtet werden soll. <?page no="116"?> Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht 116 4.1 Das Konzept Demonstrationsraum Unter einer multimodalen Perspektive erwies sich bei der Analyse der Durchführung von Experimenten die Wahrnehmungsstrukturierung als eine zentrale interaktive Anforderung im Chemieunterricht. Diese Anforderung ist untrennbar mit der Kernaktivität des Experimentierens verbunden und davon nicht losgelöst zu betrachten. Die vorwiegend praktisch dominierte Interaktion (Fiehler 1993, S. 343) wirkt sich vor allem auf das Raummanagement von Beteiligten aus, da sie den Raum einerseits praktisch für das Experiment nutzen und andererseits diese Nutzung für die anderen Beteiligten permanent verstehbar machen müssen. Um den Zusammenhang von Wahrnehmungsstrukturierung, Raummanagement und Kernaktivität zu verdeutlichen, habe ich das Konzept des Demonstrationsraums entwickelt, das allen drei Aspekten Rechnung trägt. Es handelt sich dabei um ein Konzept ‘zweiter Ordnung’ (Schütz 1971), da es den Interaktionsbeteiligten nicht direkt zugänglich ist. Mit dem Konzept Demonstrationsraum wird ein Beitrag zu bisherigen multimodalen Raumkonzepten in der einschlägigen Forschung geleistet. Im Hinblick auf die Wahrnehmungswahrnehmung in Lehr-Lern-Interaktionen bilden einige Studien zum körperlich-räumlichen Verhalten von Beteiligten wichtige Bezugspunkte, die hier nur kurz genannt werden sollen: 67 Schüler und Lehrer konstituieren innerhalb des physikalisch-territorialen Raumes einen Interaktionsraum (Mondada 2007a, 2012a), in dem sie sich in unterschiedlichen körperlich-räumlichen Konstellationen, sogenannten formations (Kendon 1977, 1990b), handelnd aufeinander beziehen und ihre Wahrnehmung auf ein gemeinsames Ziel hin ausrichten (Interaktionsensemble, Schmitt 2012b, 2013a). Das Lehrerpult bildet als sedimentiertes, gemeinsames Vorne das Zentrum der Wahrnehmungsrichtung, die Streeck als fokale Zone bezeichnet (Streeck 1983, S. 46). Die fokale Zone ist ganz wesentlich durch die Position der Fokusperson, d.h. des Lehrers bestimmt, der „einen Anspruch auf die Aufmerksamkeit aller Anwesenden“ (ebd., S. 46) erhebt. Genau diesen Anspruch erhebt auch der Demonstrationsraum, der einen Teil der fokalen Zone darstellt, jedoch durch die lokale Organisation des Experiments eingegrenzt ist. Ausgehend von dem Phänomen des Experiments stellt der Demonstrationsraum ein von der Fokusperson teilautonomes Bezugssystem her (vgl. Kap. 4.5), das eine qualifizierte Form der Wahrnehmung für sich beansprucht: Im Sinne der Epistemologie des Experimentes gilt es, die Aktivi- 67 Zur ausführlichen Beschreibung und Verortung der Konzepte im Forschungszusammenhang siehe Kapitel 2.2. <?page no="117"?> Das Konzept Demonstrationsraum 117 täten im Demonstrationsraum zu beobachten, d.h. die visuelle Wahrnehmung für den Zweck der Wahrheitsgewinnung zu nutzen (vgl. „symbiotische Mechanismen“, Luhmann 1984, S. 33f.). Der Demonstrationsraum ist ein empirisch entwickeltes Konzept, das den in der Einleitung skizzierten Dimensionen von Räumlichkeit und Materialität, d.h. der Wahrnehmungsstrukturierung, den räumlichen Relevanzen und der spezifischen Kernaktivität Rechnung trägt und den Beteiligten weder aktiv in der konkreten Interaktionssituation noch reflexiv zugänglich ist. Für den Demonstrationsraum sind zweierlei Beteiligungsstatus konstitutiv: Er erfordert einerseits eine demonstrierende Person, die ihre Aktivitäten hinsichtlich ihrer demonstrativen Qualität erkennbar strukturiert und andererseits die wahrnehmenden Personen, die die Aktivitäten der demonstrierenden Person wahrnehmen und hinsichtlich ihrer demonstrativen Qualität interpretieren. Obwohl die Perspektive der Wahrnehmenden, d.h. der Schüler, durch die zweite, die Schüler dokumentierende Kamera empirisch rekonstruierbar wäre, erfolgt die Analyse auf der Grundlage der ersten Kamera, die das Verhalten des Lehrers dokumentiert. Das lehrerseitige Verhalten enthält verschiedene Hinweise darauf, dass auch ohne systematische Rückversicherung davon ausgegangen werden kann, dass der Lehrer kontinuierlich wahrnimmt, dass er wahrgenommen wird. So kann er beispielsweise während des Versuchsaufbaus einen sich meldenden Schüler aufrufen, ohne seinen Blick aufzurichten. Es ist gerade ein konstitutiver Bestandteil des Demonstrationsraums, dass die Beteiligten das ‘hier Vorne’ 68 als Fokuszone etablieren, von der beide Parteien als wahrgenommen ausgehen können, solange keine zu der Experimentalphase konkurrierenden Aktivitäten erfolgen. Der Demonstrationsraum verfügt - einmal etabliert - über eine Teilautonomie, die es den Beteiligten ermöglicht, zeitweise andere Relevanzen zu verfolgen, ohne die Aufrechterhaltung des Demonstrationsraums zu gefährden. Aktivitäten zur Etablierung und Aufrechterhaltung des Demonstrationsraums müssen daher immer vor dem Hintergrund dieser Teilautonomie rekonstruiert werden. Die Teilautonomie hängt wesentlich mit dem Phänomen des Experiments zusammen: Einmal in Gang gebracht, verfügt das Experiment über eine eigene temporale Struktur, die sich auf die gesamte Interaktionssituation organisierend auswirkt: Es müssen Vorbereitungen getroffen werden, den initiierten 68 Auf die Kombination des Lokaldeiktikons ‘hier’ und dem deiktischen Lokaladverb ‘vorne’ verweist auch Stukenbrock (2015, S. 149). Eine Stadtführerin referiert hierbei auf eine bestimmte Brunnenfigur. Im Gegensatz zum Lehrer setzt sie jedoch gleichzeitig eine spezifische Gestikulation (offene Hand, Handfläche vertikal) ein. Ob es sich dabei bereits um die Etablierung eines Demonstrationsraumes handelt, bliebe zu untersuchen. <?page no="118"?> Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht 118 chemisch-physikalischen Prozess gilt es zu beobachten, die Beobachtungen werden schriftlich dokumentiert und schließlich inhaltlich ausgewertet. Mit dem Experiment wird so eine ganze Reihe fachspezifischer Relevanzen eingeführt, die oft unabhängig vom demonstrierenden Agenten existieren, wie etwa der in Betrieb gesetzte Bunsenbrenner, der seine eigene Relevanz hör- und sichtbar ins Klassenzimmer bringt (vgl. Kap. 4.5). Zuletzt sei eine abschließende Bemerkung zu der Terminologie Demonstrationsraum gemacht: In Anlehnung an Bühlers demonstratio ad oculos et ad aures geht es auch beim Demonstrationsraum um das „Zeigen am Anwesenden“, das „einen gemeinsamen Wahrnehmungsraum als einer Ordnung, in welcher alles beisammen ist: Zeigobjekte, Sender und Empfänger der Zeiganweisungen“ (Bühler 1999, S. 125) voraussetzt. Im Unterschied zu einzelnen Zeigewörtern und Zeigegesten können nicht alle im Demonstrationsraum realisierten Aktivitäten als ‘Demonstration’ oder eben demonstratio bezeichnet werden. Der Lehrer muss de facto ‘Chemie machen’, um es den Schülern vorzuführen. So zündet er den Brenner in erster Linie einfach an und ‘demonstriert’ nicht das Anzünden des Brenners. Um den erwünschten chemischen Prozess in Gang zu bringen, ist dies ein notwendiger und unumgänglicher Arbeitsschritt. Durch den spezifischen Ort des Anzündens jedoch führt er seine Tätigkeit in der etablierten Fokuszone durch, in der alles, was passiert, unter Beobachtungsverdacht fällt. Die Aktivitäten sind nicht nur für das Experiment relevant, sondern sollen von den Schülern in qualifizierter Weise wahrgenommen werden. Insofern können alle Aktivitäten, die im Demonstrationsraum realisiert werden, ganz allgemein als beobachtungsverdächtig gelten, anhand derer ein spezifischer chemischer Aspekt gezeigt werden soll. 4.2 Die Herstellung des Demonstrationsraums Im folgenden Abschnitt werde ich mich mit der Herstellung des Demonstrationsraums beschäftigen: Dabei sollen die Verfahren und Aktivitäten des Lehrers rekonstruiert werden, die er selbst zur Wahrnehmungsstrukturierung der Schüler einsetzt. Wie verdeutlicht er den Schülern, welcher Bereich auf dem Pult zu beobachten ist und welche Objekte dabei eine Rolle spielen? Es gehört zu den zentralen Anforderungen des Lehrers, den Raumbereich, der im Rahmen eines Experiments als Wahrnehmungsfokus zentral ist, für seine handlungspraktischen Zwecke herzustellen und ihn darüber hinaus als solchen für die Schüler zu verdeutlichen. Der Lehrer muss das Hier und Jetzt des Experiments für die Schüler erkennbar und transparent gestalten, wobei es dabei weniger darum geht, seine Aktivitäten zur Herstellung des Demonstrationsraums ‘accountable’ (Garfinkel 1967) zu machen als sie de facto zu explizieren und zu beschreiben, um sie den Schülern inhaltlich und struk- <?page no="119"?> Die Herstellung des Demonstrationsraums 119 turell zugänglich zu machen. Er bedient sich unterschiedlicher Ausdrucksressourcen, um die Schüler zunächst vor allem verbal auf die kommende Experimentalphase zu fokussieren (Kap. 4.2.1). Durch die Synchronisierung von praktischen und verbalen Aktivitäten (Kap. 4.2.2) und den spezifischen Laufweg des Lehrers (Kap. 4.2.3) erfolgt schließlich die Herstellung des Demonstrationsraums. 4.2.1 Verbale Fokussierungsaktivitäten In der dem Ausschnitt unmittelbar vorangehenden Sequenz befindet sich der Lehrer in einer Interaktionsdyade mit der Schülerin Melanie (ME). Das Thema des Lehrer-Schüler-Gesprächs besteht in der theoretischen Entwicklung einer möglichen Nachweismethode für Alkohol. Der Lehrer steht dabei mittig vor dem Lehrerpult und hält in der rechten Hand den Erlenmeyer- Kolben mit der Lösung, die hinsichtlich ihres Alkoholgehalts überprüft werden soll (Abb. 29A/ B). LE ME 29A 29B Der zu analysierende Ausschnitt beginnt mit der Reaktion des Lehrers auf Melanies Vorschlag, den Alkohol mittels einer Destillation nachzuweisen: 32 LE: okay; 33 machen wir das (.) HIER; (---) 34 VO: rne’ 35 (1.80) Der Lehrer signalisiert durch die Gesprächspartikel okay (Z. 32) einerseits sein Einverständnis mit Melanies Beitrag, andererseits kann die Partikel als gesprächssteuerndes Endsignal der vorangegangenen Diskussion verstanden werden, die aus der theoretischen Erarbeitung der Nachweismethode für Alkohol bestand. Der Abschluss dieser Phase wird darüber hinaus im körperlichen Verhalten des Lehrers deutlich: Er löst die über viele Minuten stabile face-to-face-Konfiguration in eine side-to-face-Konfiguration auf, indem er sich während der Äußerung okay (Z. 32) zum Pult dreht und den Erlenmeyer- Kolben absenkt (ohne ihn zunächst abzustellen) (Abb. 30). <?page no="120"?> Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht 120 32 LE: ok ay; 30 In der anschließenden Äußerung rahmt er die folgende Unterrichtsphase als eine Phase, in der nun das (Z. 33), d.h. die von Melanie vorgeschlagene Alkoholdestillation, HIER (Z. 33) gemacht wird. Die ankündigende Beschreibung eines noch nicht realisierten, aber aktuell relevanten und de facto folgenden Handlungszusammenhangs, die von Heidtmann und Schmitt als Konzeptformulierung (Heidtmann/ Schmitt 2011) bezeichnet wird, ist für die Eröffnung von neuen Unterrichtsphasen charakteristisch. Dies hängt mit der grundsätzlichen Anforderung der Wissensvermittlung zusammen, da der Lehrer seine Handlungen für die Schüler explizit, im Sinne von accounts (Scott/ Lyman 1968; Heritage 1988) beschreiben und verstehbar machen muss. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, wenn man die durch die Konzeptformulierung aufgebaute Projektion nur hinsichtlich des sequenziell nachfolgenden Aktivitätszusammenhangs interpretieren würde. Die Konzeptformulierung machen wir das (.) HIER (Z. 33) projiziert ein Handlungsmuster, das für die Schüler nicht nur die praktischen Aktivitäten des Lehrers, sondern auch ein spezifisches, eigenes Beteiligungsformat antizipierbar macht. Diese Funktionalität der Konzeptformulierung setzt ein stabiles und routiniertes Lehrer-Schüler-Verhältnis voraus, in dem sich die Beteiligten wechselseitig darauf verlassen können, dass die Handlungen des jeweils anderen im Rahmen dieses spezifischen Handlungsmusters verstanden und interpretiert werden. So wird das Personalpronomen wir (Z. 33) von den Schülern nicht im Sinne einer Aufforderung zum Experimentieren missverstanden. Die Kollektivformulierung des Lehrers ist den Schülern im Rahmen experimenteller Phasen bereits bekannt und verweist mehr auf die didaktische Methode des Lehrers, als ‘Wir-Agent’ im Auftrag der Schüler theoretisch entwickelte Aktivitäten praktisch auszuführen. Die Etablierung des Demonstrationsraums wird also auch wesentlich von Routinen getragen, die von Lehrer <?page no="121"?> Die Herstellung des Demonstrationsraums 121 und Schülern über Monate oder Jahre hinweg ausgebildet wurden. Der Lehrer müsste in einer ihm unbekannten Schulklasse unter Umständen rekurrente und explizitere Verdeutlichungsleistungen unternehmen, um das für experimentelle Phasen adäquate schülerseitige Beteiligungsformat einzuholen. Die Wahrnehmung der Schüler ist während der Äußerung von HIER (Z. 33) jedoch noch nicht auf ein spezifisches Objekt hin ausgerichtet. Der Demonstrationsraum ist noch nicht etabliert. Versteht man unter der Verwendung von Deixis die implizite Aufforderung eines Interaktionsteilnehmers an die übrigen Interaktionsteilnehmer, sein Wahrgenommenes wahrzunehmen (Hausendorf 2003, 2010), erweist sich das Wahrgenommene des Lehrers, auf das er mit der Lokaldeixis HIER (Z. 33) referiert, als noch weitgehend diffus: Obwohl sein Blickverhalten durch keine der beiden Kameraperspektiven direkt zugänglich ist, lassen seine stockende Körperbewegung und seine wechselnde Kopforientierung auf ein noch unbestimmtes ‘hier’ schließen, das sich zunächst nur auf den Gesamtbereich des Pultes eingrenzen lässt. Fricke verweist in ihrer Studie zur Lokaldeixis darauf, dass das Lokaldeiktikon hier immer einen Raumbereich bezeichnet, welcher erst durch eine Zeigegeste u.ä. auf einen Raumpunkt spezifiziert wird (Fricke 2007, S. 275). Insofern referiert der Lehrer mit HIER (Z. 33) zunächst auf den gesamten Pultbereich und es erfordert weitere Aktivitäten seinerseits, um das HIER genauer einzugrenzen. Sein verbales und körperliches Verhalten kann den für jegliche Interaktion konstitutiven „Situierungsaktivitäten“ (Hausendorf 2007, 2010) zugeordnet werden, mittels derer er einen gemeinsamen neuen Wahrnehmungs- und Handlungsfokus etabliert und die Schüler auf diesen Raum fokussiert. Zweifelsohne kommt der Sprache dabei eine Schlüsselrolle zu: Der Lehrer konkretisiert das HIER (Z. 33) zusätzlich mit der Richtungsangabe VO: rne (Z. 34), die im Hinblick auf den institutionalisierten, architektonisch weitgehend vorstrukturierten Raum auf einen spezifischen Teil des Klassenzimmers verweist 69 (Breidenstein 2004; Hausendorf 2008). Mit der Äußerung realisiert er einen ‘Benutzbarkeitshinweis’ (Hausendorf 2012a) des Raums, der in der spezifischen Architektur des Klassenzimmers (Bestuhlung) bereits angelegt ist, und stellt das zu fokussierende VO: rne (Z. 34) faktisch durch sein verbales und körperliches Verhalten her. Verstärkt wird die Markierung des VO: rne zusätzlich durch das Abstellen des Erlenmeyer-Kolbens auf der Mitte des Pultes. Bezogen auf das Konzept des Demonstrationsraums können auf der Grundlage der Analyseergebnisse der ersten Etablierungsphase folgende wesentlichen Aspekte festgehalten werden: 69 Vgl. auch Abbildung 26 in Kapitel 3.3.3. <?page no="122"?> Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht 122 - Für den Demonstrationsraum sind praktische Aktivitäten konstitutiv. Der Verbalität kommt im Gegensatz zu verbal dominierten Unterrichtsphasen keine primäre Funktion zu, wenngleich sie ebenfalls zur Wahrnehmungsstrukturierung eingesetzt wird. In dem vorliegenden Fall steht der Lehrer vor der Anforderung, die sprachlich in der Theorie entwickelte Nachweismethode im Hier und Jetzt des Chemieunterrichts zu implementieren. Dafür nutzt er seine gesamte Körperlichkeit, indem er von der statischen in eine dynamische Position wechselt, eine andere Blickorientierung einnimmt und seine Hände einsetzt, die ihm bezogen auf sein praktisches Tun als zentrale Werkzeuge dienen. - Die Visualität ist für die Herstellung des Demonstrationsraums zentral. Der Lehrer fokussiert die Schüler durch sein spezifisches verbales wie körperliches Verhalten auf den vorderen Teil des Klassenzimmers und schließlich auf den Lehrertisch, auf dem er den Erlenmeyer-Kolben abstellt. Mit der Äußerung HIER VO: rne (Z. 33f.) macht er sein eigenes Sehen sichtbar und fordert die Schüler implizit zur visuellen Wahrnehmung auf. Mit der Äußerung wird die Grundlage für die Invarianz und räumliche Stabilität des Demonstrationsraums (Kap. 4.5) gelegt. 4.2.2 Synchronisierung von praktischen und verbalen Aktivitäten Die folgenden Aktivitäten des Lehrers modifizieren den bis dorthin diffusen Demonstrationsraum hinsichtlich seiner physikalisch-territorialen Konturierung. Aus dem unbestimmten HIER (Z. 33), das zunächst nur allgemein auf den Pultbereich eingegrenzt werden konnte, wird schließlich ein spezifisches, lokalisierbares ‘hier’. Die Herstellung des klar markierten, wahrzunehmenden Raumbereichs erfolgt durch ein Verfahren, das ich als „Modalitätssynchronisierung“ (Putzier 2011) bezeichnet habe. Es stellt eine spezifische Qualität der Simultaneität von Ausdrucksmodalitäten dar, die durch die Synchronisierung von Handlungsbeschreibung und Handlungsvollzug charakterisiert ist. Dabei impliziert ‘Synchronisierung’ mehr als die einfache Gleichzeitigkeit von Modalitäten und geht über das von Garfinkel entwickelte accountability-Konzept (Garfinkel 1967) hinaus. Demnach vollziehen Interaktionsbeteiligte ihre Handlungen nicht nur, sondern beschreiben und stellen sie in kontinuierlicher Gleichzeitigkeit als spezifische Handlungen dar. Die Modalitätssynchronisierung verweist nicht auf diese grundsätzliche, kontinuierliche Gleichzeitigkeit, sondern hat durch ihre strukturellen Eigenschaften, wie etwa Lokalität und Kontrastivität, Verfahrenscharakter und wird von Interaktionsbeteiligten gezielt zur <?page no="123"?> Die Herstellung des Demonstrationsraums 123 Umsetzung ihrer handlungspraktischen Zielorientierung eingesetzt. Sie ist eine spezifische Form der Relevanzgewichtung, die sich durch das gegenseitige Stützungsverhältnis von Verbalität und Visualität auszeichnet: Nachdem der Lehrer den Erlenmeyer-Kolben auf das Pult gestellt hat und eine Bewegung nach links in Richtung Chemikalientisch realisiert, orientiert er sich kurzerhand um, indem er den Kolben wieder in die Hand nimmt und auf den Dreifuß der Versuchsapparatur auf der rechten Seite des Pultes abstellt (Abb. 31-34). Gleichzeitig vollzieht er folgende Äußerung: 36 LE: stel len= ma das hier entsprech end HIN? 31 32 33 34 Der Lehrer beschreibt seine praktische Aktivität simultan zu ihrem Vollzug (im Sinne des ‘Kommentierens’). Dadurch etabliert er ein ‘hier’, das im Gegensatz zu dem zunächst diffusen HIER (Z. 33) der vorangegangenen Äußerung eindeutig lokalisierbar ist. Das aktuell relevante ‘hier’ ist die Versuchsapparatur bestehend aus einem Stativ, einem Dreifuß und einem Brenner, der neben der Apparatur platziert ist. Der vom Lehrer etablierte Raum hat nun seine klaren Grenzen und zeichnet sich nicht mehr durch allgemeine Aktivitäten wie etwa ‘machen’ aus, sondern ist durch die konkrete Realisierung spezifischer praktischer Aktivitäten charakterisiert: In diesem ‘hier’ kann der Lehrer den Kolben abstellen, er könnte ihn aber auch - aus seiner Perspektive - daneben, davor oder dahinter platzieren. Durch die vom Lehrer vorgenommene Platzierung (‘placing’) wird die Wahrnehmung der Schüler im Bezug auf ein konkretes, räumliches Arrangement hin strukturiert. Im Unterschied zur Konzeption Clarks (2003) bildet also nicht nur das manipulierte Objekt den Aufmerksamkeitsfokus, sondern das ihn umgebende Arrangement von Objekten. Hinsichtlich der internen Strukturierung des Demonstrationsraums ist die Verwendung der Präposition entsprechend (Z. 36) in der Äußerung des Lehrers besonders interessant. Die Versuchsapparatur legt eine spezifische usuelle <?page no="124"?> Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht 124 Verwendung nahe, welcher ‘entsprechend’ der Lehrer den Kolben auch abstellt. Die vertikale Anordnung der Apparatur mit dem Brenner, dem Dreifuß und dem Stativ legt eine derartige Nutzung nahe. Der Dreifuß dient in der Chemie als Halterung von Laborgefäßen, die auf einem Draht- oder Keramiknetz erhitzt werden sollen. Es ist aber nur eine Lesart, die Präposition im Sinne ‘der Versuchsapparatur entsprechend’ zu verstehen und sie in Verbindung mit der simultanen praktischen Aktivität als Aktivierung eines durch die Objektmaterialität angelegten Benutzbarkeitshinweises zu interpretieren. Ähnlich zu der vorangehenden Äußerung machen wir das (Z. 33), mit der die Projektion eines Handlungsmusters verbunden war, wird durch die Form der Versuchsapparatur ebenfalls ein spezifischer Aktivitätszusammenhang projiziert, der im Wissensvorrat der Schüler bereits vorhanden ist. Als Zehntklässler verfügen sie bereits über einige Jahre Erfahrung mit dem Erhitzen von Substanzen im Chemieunterricht, und ihnen dürfte bekannt sein, dass dies immer eine derartige Versuchsapparatur voraussetzt. 4.2.3 Der Laufweg des Lehrers Nachdem der Lehrer das Becherglas auf dem Dreifuß abgestellt hat, läuft er rechts um das Pult herum und positioniert sich hinter der Versuchsapparatur. 35 LE: (1.80) 35 36 37 38 Der Laufweg des Lehrers kann als spezifische Form des Gehens beschrieben werden, die auf ein räumliches Zentrum ausgerichtet ist. Dieses räumliche Zentrum wird erst durch den Laufweg konstituiert, indem es als ‘umgangener’ Ort den Mittelpunkt eines imaginären Halbkreises darstellt (Abb. 35-38). Hinzu kommt der auffallend fokussierende Blick des Lehrers, der erkennbar auf dieses Zentrum ausgerichtet ist. Geht man von einer räumlich kontingenten Struktur aus, so hätte der Lehrer alternativ auch links um das Pult herumlaufen können. Dabei ist nicht wichtig, weswegen er sich für die rechte Seite entschieden hat, sondern mit welchen Implikationen es verbunden ist, dass der Lehrer die Apparatur auf dieser (Abb. 36) und nicht auf der anderen Seite umgeht. <?page no="125"?> Die Herstellung des Demonstrationsraums 125 Lehrerexperimentiertisch Chemikalientisch Versuchsapparatur tatsächlicher Laufweg des Lehrers möglicher, alternativer Laufweg Tafel 39 40 Würde der Lehrer links um die Apparatur herumgehen (Abb. 39 und Abb. 40), - wäre er wesentlich weiter von der Apparatur entfernt, - hätte einen deutlich längeren Laufweg und - würde eine Reihe anderer Gegenstände umgehen, die dadurch in Verdacht geraten könnten, ebenfalls für den kommenden Versuch zentral zu sein. Umgekehrt formuliert, hat er durch die rechtsseitige Umgehung der Apparatur eine größere Nähe zur relevant gesetzten Versuchsapparatur, er muss dafür einen kürzeren Weg zurücklegen und läuft nur an fachspezifischen Gegenständen vorbei, die für den folgenden Versuch Relevanz haben. Inwiefern der von fachspezifischen Gegenständen freigeräumte rechte Pultbereich und der linke, zugestellte Pultbereich den Demonstrationsraum wechselseitig durch ihre Kontrastivität konstituieren, wird in Kapitel 4.3 ausführlich erläutert. In jedem Fall dient der Laufweg um den wahrzunehmenden Raumbereich als implizites Fokussierungsverfahren, das keine zusätzliche Verbalisierung erfordert. Im Gegenteil verzichtet der Lehrer auf jegliche verbale Aktivität, während er die Apparatur umgeht. Im Gegensatz zur Modalitätssynchronisierung besteht hier kein subsidiäres und synchrones Verhältnis von Verbalität und Visualität, indem sie sich wechselseitig stützen. Hier gilt das Primat der Visualität, das nur hinreichend gewährleistet ist, wenn der Lehrer seine verbalen Aktivitäten weitgehend einstellt: Der Lehrer fokussiert seine Schüler auf das visuell Wahrnehmbare, weil er verbal abstinent und gleichzeitig praktisch aktiv ist. Dadurch verdeutlicht er ihnen implizit die Relevanz des aktuell Sichtbaren und fordert gleichzeitig ein schülerseitiges Beteiligungsformat ein, das sich primär durch ‘Beobachten’ auszeichnet. Das sprachlich-interaktive Verfahren, mit dem der Lehrer Schüler auf visuell Wahrnehmbares durch die Minimierung verbaler Aktivitäten fokussiert, habe ich in einem anderen Zusammenhang als Fokussierung durch Informationsreduktion (Putzier 2011) beschrieben. Es sagt allerdings nichts über die Implikationen des Laufweges des Lehrers aus, der hier für die Etablierung des Demonstrationsraums wesentlich ist. <?page no="126"?> Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht 126 Mit dem Laufweg um die Apparatur ist ein Positionswechsel des Lehrers verbunden, der hinsichtlich seiner lokalen Anforderungsstruktur unterschiedlich implikationsreich ist. Während seine Hauptanforderung vor dem Pult darin besteht, die in der Theorie erarbeiteten Ergebnisse in die aktuelle experimentelle Unterrichtsphase zu transformieren und dafür einen geeigneten Raum zu etablieren, ist er hinter der Apparatur mit der Kernanforderung der Wissensvermittlung konfrontiert. Auf der verbalen Ebene manifestiert sich dieser Positionswechsel und der damit verbundene Wechsel der Anforderungsstruktur durch den Übergang vom ‘Wir-Agenten’ zum ‘Ich-Agenten’. Hat der Lehrer vor dem Pult noch die Kollektivorientierung ‘wir’ (machen wir das (Z. 33); stellen=ma das hier entsprechend HIN (Z. 36)), expliziert er seine Aktivitäten nunmehr in ‘ich’-Form: 38 LE: .h ah (.) vielleicht GIEß ich das erst nochmal AB, Dieser Übergang ist natürlich auch mit seinem Perspektivenwechsel verbunden: Während er vor dem Pult die Versuchsapparatur von der gleichen Perspektive aus wie die Schüler wahrnimmt und sie für beide Parteien als Vorne lokalisierbar ist (back-to-face Konstellation), steht er hinter der Apparatur den Schülern gegenüber und agiert im Teil des Raumbereichs, auf den die Schüler fokussiert sind. 4.3 Die territoriale Struktur des Demonstrationsraums Zunächst erscheint die Annahme naheliegend, das gesamte Lehrerpult als Demonstrationsraum zu bezeichnen. Der Lehrerexperimentiertisch ist zwar materieller Träger des Demonstrationsraums, jedoch sind die beiden Räume alleine hinsichtlich ihres konzeptionellen Status nicht miteinander kongruent. Ziel des Kapitels soll sein, den Demonstrationsraum separat und kontrastiv zu den angrenzenden räumlichen Strukturen zu beschreiben. Dabei soll überprüft werden, inwieweit sich die Konstitution des Demonstrationsraums in der spezifischen räumlichen Struktur manifestiert. Die vorliegenden räumlichen Verhältnisse können als ‘motivierte räumliche Kontingenz’ verstanden werden, insofern sie durchaus kontingent sind, d.h. „auch anders möglich [wären]“ (Luhmann 1984, S. 152), aber vom Lehrer in dieser spezifischen Form interaktionsvorgängig und in motivierter Weise hergestellt wurden. Obwohl der Lehrerexperimentiertisch und der Demonstrationsraum nicht identisch sind, lohnt sich gerade aufgrund der ‘materiellen Trägerschaft’ die Überlegung, um welche Art von Tisch es sich eigentlich handelt (vgl. Kap. 3). Die Bezeichnung ‘Lehrerpult’ scheint beispielsweise für diese Art von Tisch ungeeignet zu sein, ist es doch kein Tisch, hinter dem in erster Linie gesprochen oder auf dem in erster Linie geschrieben wird. Im Hinblick auf das Geschehen in der Klasse ist die Position hinter dem Tisch zentral mit dem praktisch han- <?page no="127"?> Die territoriale Struktur des Demonstrationsraums 127 delnden Chemielehrer verbunden, der in diesen Situationen aufgrund seiner Absorbiertheit oft auf verbale Beiträge verzichtet. Die Position des Lehrers vor dem Tisch ist mit anderen Implikationen für die Interaktionssituation verbunden (vgl. Relevanzbereiche des Raums, Kap. 3.3.3): Hier findet vorwiegend die verbale Wissensvermittlung statt. Der Lehrer ist von der ‘Bürde’ des praktischen Tuns entlastet und kann sich fachspezifischen Themen widmen, die eine verbale Erarbeitung erfordern. Der Tisch im Chemiesaal unterscheidet sich bereits auf den ersten Blick signifikant von dem herkömmlichen Lehrerpult: Er ist in seiner gesamten Architektur als Experimentiertisch erkennbar (gemacht). Im Gegensatz zu einem Lehrerpult besteht er aus hitze- und schlagbeständigem Kunststoff oder ist mit entsprechenden Kacheln gefliest. Die Höhe des Tischs liefert starke Benutzbarkeitshinweise darauf, dass ein Stehender und nicht ein Sitzender am Tisch agieren soll, wobei ein passender Stuhl ohnehin nicht existiert. Selbst ein von Laborgeräten leer geräumter Tisch im Chemiesaal ist durch das installierte Waschbecken und die Reihe an Knöpfen, die die Gas- und Stromzugänge regeln, erkennbar als Arbeitstisch, gleich einer Werkbank, gestaltet. Zuletzt ist es die Position des Tisches, die das praktische Handeln des Stehenden in spezifischer Weise rahmt: Durch die Architektur des Raums kommt der Werkbank eine exponierte, auf Wahrnehmung ausgerichtete Position zu (vgl. Kap. 3), die sich organisierend auf das gesamte Unterrichtsgeschehen auswirkt, und im engeren Sinne die territoriale Struktur des Demonstrationsraums betrifft. Bei der Beschreibung des Demonstrationsraums relativ zu den angrenzenden räumlichen Strukturen gibt es zwei Bezugskategorien, die die Qualität des Demonstrationsraums auf unterschiedlichen Ebenen perspektivieren: 1) die Anzahl der Gegenstände im Raum und 2) die Qualität der Gegenstände im Raum. Tafel Versuchsapparatur große Anzahl von Gegenständen auf Tischfläche geringe Anzahl von Gegenständen auf Tischfläche freie Tischfläche 41 <?page no="128"?> Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht 128 Geht man von einem größtmöglichen Demonstrationsraum aus, der vom Lehrer anfänglich weitgehend unbestimmt mit HIER VO: rne (Z. 33f.) kategorisiert wurde, so muss man zunächst den gesamten Experimentiertisch als potenziellen Kandidaten berücksichtigen. Das Standbild (Abb. 41) verdeutlicht schematisch die räumliche Gliederung des Lehrerpultes. Im Bezug auf die Anzahl der Gegenstände im Raum (Bezugskategorie 1) kann das gesamte Lehrerpult grob in zwei Teile unterteilt werden, die im 1: 2-Verhältnis stehen (vgl. auch Abb. 42): 42 Der kleinere, linke Teil des Tischs ist mit zahlreichen Gegenständen ‘zugestellt’, während der zweite, rechte Teil nur im Zentrum einige, sichtbar zusammengehörende Gegenstände aufweist. Rechts von beiden Teilen gibt es jeweils einen Grenzbereich, der in beiden Fällen eine vergleichbare Anzahl von Gegenständen aufweist. Ausgehend von der Konzeption des Demonstrationsraums als ein für die visuelle Wahrnehmung konstituierter Raum ist es bereits auf der Grundlage dieser Beschreibung möglich, präzise Aussagen über die Grenzen und den Kernbereich des Demonstrationsraums zu treffen: Beim linken, zugestellten Pultbereich ist eine Demonstration nicht erwartbar, da aus der ungeordneten Fülle an Gegenständen kein Gegenstand sichtbar herausgehoben ist, den es bei einer Demonstration zu beobachten gälte. Darüber hinaus bedecken diese Gegenstände die gesamte Fläche des Experimentiertischs und sind damit einer Versuchsdurchführung, bei der Objekte arrangiert, abgestellt und umgestellt werden, in jeder Hinsicht hinderlich. Der rechte Bereich verfügt hingegen über die für Chemieversuche notwendige, ‘freie’ Fläche und ist insofern für die Demonstration von Versuchen prädestiniert. Hier hat der Lehrer ausreichend Platz zur Verfügung, um sein ganzes Repertoire an Labormaterialien ungehindert einzusetzen. Es ist also naheliegend, von der Übereinstimmung der Grenzen des Demonstrationsraums und der Grenzen der freien Fläche auszugehen. Die freie Fläche weist ihrerseits wiederum ein Zentrum aus, das sich durch sein vertikales Arrangement von Gegenständen signifikant von den übrigen Gegenständen des gesamten Tischs abhebt. Das Arrangement rückt insbeson- <?page no="129"?> Die territoriale Struktur des Demonstrationsraums 129 dere deshalb in den Fokus des Betrachters, da es durch die freie Fläche exponiert ist, wie etwa ein Ausstellungsstück in einem Museum meist separat und nicht in einer ungeordneten Fülle anderer Exponate präsentiert wird. Im Unterschied zur Ausstellungssituation im Museum kommt der das Arrangement umgebenden freien Fläche mitunter eine pragmatische Funktionalität zu: Der Lehrer benötigt für die Durchführung von Versuchen ausreichend Platz, weil er mit dem Arrangement von Gegenständen nicht nur Chemie zeigen, sondern vor allem ‘machen’ wird, wofür er nicht nur das Arrangement, sondern auch zahlreiche andere Laborgeräte und Chemikalien benötigt. Die pragmatische Funktionalität der freien Fläche im Bezug auf das Objektarrangement zielt bereits auf die zweite Bezugskategorie ab, die Qualität der Gegenstände im Raum (2), hinsichtlich der die Struktur des Demonstrationsraums analysiert werden kann. Bei diesem Arrangement handelt es sich nicht um übereinander gestapelte Bücher oder Getränkekisten, sondern um Laborgeräte, mit welchen ein Repertoire an fachspezifischem Wissen verbunden ist. Sie stellen starke Benutzbarkeitshinweise im Sinne einer vertrautheitsabhängigen Materialisierung von Chemiewissen zur Verfügung. Insofern zeugen die Gegenstände selbst von der Wissenschaft Chemie und projizieren durch ihr faktisches Vorhandensein im Chemieunterricht und ihre spezifische Position im Raum das Machen und das Demonstrieren von Chemie. Im Gegensatz dazu befinden sich auf dem linken Pultbereich hauptsächlich Unterlagen des Lehrers, die als Objekte nur für ihn, nicht aber für die Schüler Relevanz besitzen. Darüber hinaus handelt es sich bei den Unterlagen um unterrichtsspezifische Materialien, die von einem Englischlehrer ebenso wie von einem Mathematiklehrer eingesetzt werden (können). Ihre Materialität und ihre Funktionalität sind von keiner fachspezifischen Relevanz und insofern für die Demonstration von Chemie nicht evident. Mit den wenigen fachspezifischen Gegenständen auf dem linken Pultbereich, wie etwa dem Messzylinder oder der Weinflasche (vgl. Abb. 42), sind im Gegensatz zum Arrangement auf der rechten Pultseite keinerlei projektive Implikationen verbunden. Durch die Position, das Arrangement und die Materialität der Gegenstände wird deutlich, dass sie weder aktuell noch in unmittelbar zeitlicher Nähe einen Einsatz finden werden oder in irgendeiner Form für die Demonstration von Chemie hergerichtet sind. Der Messzylinder liegt, kaum sichtbar, zwischen den Unterlagen des Lehrers und ist insofern in seiner Funktionalität Relevanz abgestuft, als er nur stehend zum Einsatz kommen kann. Bei der Weinflasche handelt es sich nicht um einen dezidiert fachspezifischen Gegenstand, wenngleich sie im Rahmen des Unterrichtsthemas ‘Alkoholische Gärung’ als solcher klassifiziert werden kann. Die Weinflasche steht im Gegensatz zum Messzylinder links deutlich sichtbar am vorderen Rand des Tischs und könnte, ihrer Position nach zu urteilen, für die visuelle Wahrnehmung <?page no="130"?> Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht 130 hergerichtet sein. Sie hat ihre Verwendung jedoch bereits zu Unterrichtsbeginn gefunden, als der Lehrer die Flasche den Schülern zeigte und die problemorientierte Einstiegsfrage formulierte: Wie kommt denn der Alkohol hier rein? Während der linke Tischbereich also eine Fülle von hauptsächlich unterrichtsspezifischen Gegenständen und in ihrer Relevanz rückgestuften, fachspezifischen Gegenständen enthält und insofern eine Demonstration unwahrscheinlich macht, weist das exponierte, durch Laborgeräte wohlstrukturierte Arrangement des rechten Tischbereichs in Verbindung mit der freien (Arbeits-) Fläche auf genau diesen Aktivitätszusammenhang hin. Einen Sonderfall bilden die ‘Grenzbereiche’, die sich hinsichtlich der vorhandenen Anzahl an Gegenständen unwesentlich unterscheiden. Im äußeren rechten Grenzbereich liegen ausschließlich unterrichtsspezifische Gegenstände, wie etwa der Schwamm und der Behälter für die Kreide. Gerade weil es sich bei ihnen um unterrichtsspezifische Gegenstände handelt, die in jedem Klassenzimmer auf dem Pult liegen (können), sind sie für den Chemieunterricht nicht wahrnehmungsrelevant und bergen daher nicht die Gefahr, von den Schülern als zentrale Gegenstände interpretiert zu werden. Anders verhält es sich mit dem Grenzbereich zwischen dem linken, zugestellten und dem rechten, freien Tischbereich. Er wird durch zwei fachspezifische Objekte konstituiert und verfügt sonst, ebenso wie die rechte Seite, über eine freie Fläche. Daher scheint es unklar zu sein, ob der Demonstrationsraum diesen Bereich inkludiert oder von ihm abzugrenzen ist. Der Erlenmeyer-Kolben am vorderen mittigen Rand des Pultes hat mit der Weinflasche gemein, dass sie beide eine visuell einwandfrei wahrnehmbare Position besitzen und daher in den Verdacht geraten können, für die folgende Demonstration relevant zu sein. Im Unterschied zur Weinflasche ist der Kolben durch seine Position, etwa in der Mitte des Tischs, und durch die ihn umgebende freie Fläche weitaus exponierter. Er steht nicht in einer ungeordneten Menge von Gegenständen und ist darüber hinaus an der Tafel hinter dem Experimentiertisch in der Versuchsskizze dargestellt (vgl. das Ineinandergreifen von Relevanzbereichen, Kap. 3). Es handelt sich offenbar um einen zentralen Unterrichtsgegenstand, mit dem aufgrund seiner Position projektive Implikationen verbunden sind: Es ist durchaus naheliegend, dass der Kolben wieder in irgendeiner Form zum Einsatz kommt. Allein auf der Grundlage der Position kann keine Aussage getroffen werden, ob der Kolben dem Demonstrationsraum zuzuordnen ist. Im Zusammenhang mit dem Tafelbild ist jedoch klar, dass es sich bei dem Kolben um eine eigenständige Versuchsapparatur handelt und daher nicht notwendigerweise mit der relevanten rechten Versuchsapparatur zusammenhängen muss. <?page no="131"?> Die Aufrechterhaltung des Demonstrationsraums 131 Zusammenfassend können aus der Analyse der räumlichen Strukturen des Lehrerexperimentiertischs folgende Aspekte für die Konzeption eines Demonstrationsraums festgehalten werden: - Der Demonstrationsraum verfügt über keine scharfen Grenzen, die eine eindeutige Zuordnung von Gegenständen als Teil oder als Nicht-Teil dieses Raums ermöglichen würden. - Der Randbereich des Demonstrationsraums ist eher diffus und kann je nach Aktivität des Lehrers erweitert oder begrenzt werden. - Der Demonstrationsraum verfügt über einen Kernbereich, der von dem Randbereich kontrastiv abgesetzt ist. Der Kernbereich ist durch das Arrangement fachspezifischer Gegenstände charakterisiert und stellt den zentralen Wahrnehmungsfokus des Demonstrationsraums dar. - Für den Demonstrationsraum ist dieser Kernbereich konstitutiv, der durch eine freie Fläche von seiner Umgebung gleichermaßen abgegrenzt und gerahmt ist und dadurch Platz für das Machen von Chemie zur Verfügung stellt. 4.4 Die Aufrechterhaltung des Demonstrationsraums Aufgrund der Teilautonomie des Demonstrationsraums (vgl. Kap. 4.6) ist der Lehrer nicht permanent mit der Anforderung konfrontiert, die Fokussierung der Schüler auf die Apparatur aufrechtzuerhalten. Durch die Eigenständigkeit des Experiments erfolgt die Wahrnehmungsstrukturierung auch ohne das permanente Zutun des demonstrierenden Agenten. Für die Wahrnehmung der Schüler ist die Position des Lehrers zum wahrzunehmenden Raumbereich jedoch mit unterschiedlichen Implikationen verbunden. 4.4.1 Statische Konstellation Als der Lehrer den entsprechenden Raumbereich umgangen hat, nimmt er den Kolben wieder von der Versuchsapparatur und stellt ihn auf dem Experimentiertisch ab, um die Lösung in einen sauberen Kolben abzugießen (Abb. 43). Den sauberen Kolben holt er vom Chemikalientisch und nimmt auf dem Rückweg zur Versuchsapparatur auch den Kolben mit der alkoholischen Lösung wieder in die Hand. Er positioniert sich direkt hinter der Versuchsapparatur und gießt die Lösung auf eine markierte Art und Weise ab, die den von den Schülern wahrzunehmenden Bereich mit Bedeutung auflädt. <?page no="132"?> Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht 132 43 Während des Abgießens umgreift er die Versuchsapparatur (Abb. 43) und behält diese Position solange unverändert bei, bis er die gesamte Lösung in den sauberen Kolben umgegossen hat. Die mit seiner Position verbundene Bedeutungsaufladung des Kernbereichs des Demonstrationsraums wird besonders evident, wenn man mögliche Handlungsalternativen imaginiert. Der Lehrer hätte die alkoholische Lösung ebenso neben der Apparatur abgießen und damit eine wesentlich komfortablere und ökonomische Position wählen können. Eine solche Alternative wäre im Bezug auf die Wahrnehmungsstrukturierung die deutlich unmarkiertere Variante. Dieses ‘Mehr’ an Aufwand, das weder aus pragmatischer noch aus didaktischer Perspektive erforderlich wäre, ist für die Herstellung und Aufrechterhaltung des Demonstrationsraums konstitutiv. Der Lehrer gießt die Lösung nicht einfach ab, sondern er realisiert diese Aktivität auf eine markierte, demonstrative Art und Weise, die nicht Resultat der Handlung selbst, sondern der spezifischen Position der Handlung ist. Charakterisiert ist diese Position durch folgende Aspekte: - Körperliche Nähe der demonstrierenden Person und des Kernbereichs des Demonstrationsraums. - Statik und Invarianz: Der Lehrer hält diese Position sichtbar unverändert bei. - Dauerhaftigkeit: Die Position ist nicht von kurzer Dauer, sondern hebt sich durch ihre zeitliche Erstreckung deutlich von den vorangegangenen und folgenden Aktivitäten ab. <?page no="133"?> Die Aufrechterhaltung des Demonstrationsraums 133 4.4.2 Dynamische Konstellationen Während der Versuchsphase entfernt sich der Lehrer immer wieder von der Versuchsapparatur. Die Distanzierung kann pragmatisch motiviert sein oder mit dem aktuellen Entwicklungsstand des Chemieexperiments zusammenhängen. Im ersten Fall verlässt der Lehrer nur kurzzeitig die Apparatur (A), um von einem anderen Ort (B) notwendige Materialien zu holen oder andere Vorbereitungen für den Versuch zu treffen. Direkt im Anschluss daran kehrt er wieder zur Versuchsapparatur (A) zurück (Kap. 4.4.2.1). Im zweiten Fall verlässt der Lehrer die Apparatur (A) und positioniert sich an einem anderen Ort (B), an dem er über einen längeren Zeitraum verweilt (Kap. 4.4.2.2). Der Laufweg von A nach B erfolgt jedoch nur, wenn der aktuelle Entwicklungsstand des Versuches es zulässt, dass der Lehrer über einige Minuten hinweg nicht in direkter körperlicher Nähe zu der Versuchsapparatur steht. Dies ist beispielsweise der Fall, als der Lehrer die Apparatur soweit aufgebaut hat, wie er es Melanies Beitrag zufolge machen sollte. Der Brenner wurde zum Erhitzen der Lösung unter den Dreifuß platziert und der Lehrer hat nun ausreichend Zeit, um den weiteren Verlauf des Versuchs zu erfragen oder zeitweise anderen Relevanzen nachzugehen. Die kurzzeitige Entfernung vom Demonstrationsraum ist hinsichtlich seiner Aufrechterhaltung mit weniger Risiken verbunden und erfordert daher weniger explizite Vollzugsmarkierungen als der Laufweg von A nach B, wobei der Lehrer bei B über einen längeren Zeitraum verweilt. Dies erfordert vom Lehrer explizite Verdeutlichungsleistungen, um den Demonstrationsraum als Fokus erkennbar konstant zu halten. Da der Lehrer jedoch nicht kontinuierlich auf den Demonstrationsraum referiert, kann anhand solcher Laufwege die ‘Selbstprojektion’ des Demonstrationsraums empirisch rekonstruiert werden. 4.4.2.1 Kurzzeitige Abwesenheit vom Demonstrationsraum Im Folgenden werde ich zwei Sequenzen des Videoausschnitts analysieren, die den Laufweg von A zu B und zurück zu A zeigen. In beiden Fällen distanziert sich der Lehrer aus pragmatischen Gründen kurzzeitig von der Versuchsapparatur, da er einen sauberen Kolben und ein Feuerzeug benötigt, um mit dem Experiment fortfahren zu können. Er wendet dabei unterschiedliche Strategien an, um das eingeforderte Beteiligungsformat der Schüler als ‘Versuchsbeobachter’ nicht zu gefährden. Während der Lehrer in der ersten Sequenz vor allem verbale Aktivitäten einsetzt (a), erfolgt in der zweiten Sequenz die Wahrnehmungsstrukturierung durch verbale Abstinenz (b). <?page no="134"?> Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht 134 a) Fokuskontinuität durch Verbalisierung Nachdem der Lehrer hinter der Versuchsapparatur (A) angekommen ist, nimmt er wieder den Erlenmeyer-Kolben und entschließt sich, nach einem kurzen Blick auf das Gefäß (Abb. 44), die Lösung abzugießen: 38 LE: .h ah (.) vielleicht GIEß ich das erst nochmal AB, 39 weil hier unt en noch so=n bisschen HEFe drin ist- 44 Er stellt den Kolben auf dem Tisch ab, läuft in Richtung Chemikalientisch (B) und holt einen sauberen Kolben (Abb. 45 und 46), den er anschließend zur Versuchsapparatur trägt. Während seines Laufwegs von A nach B und wieder zurück nach A realisiert er folgende Äußerung: 40 LE: .hh wenn die mir sonst Anbrennt,= 41 =ist das (1.64) etwas EKlig; 45 <?page no="135"?> Die Aufrechterhaltung des Demonstrationsraums 135 42 (3.40) 46 Die Äußerung des Lehrers kann als Expansion seiner Entscheidung zum Abgießen der Lösung verstanden werden. Inhaltlich liefert sie keine substanziell neuen Informationen (‘lautes Denken’), die etwa für die Schüler thematische Relevanz besäßen. Betrachtet man die Äußerung jedoch im Zusammenhang mit der Distanzierung des Lehrers von der Versuchsapparatur werden die Implikationen, die mit seinem verbal-körperlichen Verhalten verbunden sind, deutlich: Die Verbalisierung thematisch marginaler Sachverhalte führt zu einer Relevanzrückstufung seiner praktischen Aktivitäten. Dadurch produziert seine Bewegung von A nach B und wieder zu A weniger Aufmerksamkeit. Mit der Relevanzrückstufung seiner aktuellen Aktivität lenkt er also die Wahrnehmung der Schüler auf die Apparatur und nicht auf seine eigenen Aktivitäten. Die Äußerung thematisch marginaler Sachverhalte kann unter einer funktionalen Perspektive auch als „Verbale Verstehensabsicherung“ (Putzier 2011) konzeptualisiert werden. Der thematisch-pragmatische Kontext unterscheidet sich jedoch bei der verbalen Verstehensabsicherung von dem der vorliegenden Interaktionssituation: Verbale Verstehensabsicherungen werden vom Lehrer meist als Reaktion auf Phasen verbaler Abstinenz eingesetzt, um zumindest punktuell mit den Schülern in verbale Interaktion zu treten und sicherzustellen, dass auch die schwachen oder unaufmerksamen Schüler seinen Aktivitäten folgen können. Im Unterschied dazu stellt die Äußerung hh wenn die mir sonst ANbrennt ist das (1.64) etwas Eklig (Z. 40f.) eine Expansion seiner vorangegangenen Äußerung dar und ist daher nicht funktional im Sinne einer verbalen Verstehensabsicherung. Die Äußerung dient vielmehr der Relevanzrückstufung des visuell Wahrnehmbaren, das durch die kontinuierliche Verbalisierung während seines Laufwegs hinter den Augenschein zurücktritt. <?page no="136"?> Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht 136 b) Fokuskontinuität durch verbale Abstinenz Die Wahrnehmungsstrukturierung kann neben sprachlich-interaktiven Verfahren, die dem Lehrer als Relevanzrückstufung seiner Distanzierung von der Apparatur dienen, auch durch verbale Abstinenz erfolgen. Sein Laufweg wird dabei erkennbar in den Dienst der Aktivitäten an der Versuchsapparatur gestellt. Das Experiment muss bei einem solchen Verfahren bereits weiter fortgeschritten sein, damit die verbal abstinente Distanzierung von der Apparatur als funktional für das Experiment interpretiert werden kann. Zu einem frühen Zeitpunkt des Experiments nimmt sich der Lehrer für die einzelnen praktischen Aktivitäten in der Regel länger Zeit, wodurch die Dramaturgie des Versuchsaufbaus noch nicht derart zugespitzt ist, wie es zu einem späteren Zeitpunkt der Fall sein wird, wenn er die praktischen Aktivitäten kurz getaktet hintereinander realisiert. Mit zunehmender Verdichtung seines praktischen Tuns nimmt auch die Absorbiertheit des Lehrers zu, die sich sprachlich in der Minimierung verbaler Aktivitäten manifestiert. Verbal abstinente Phasen produzieren dann also weniger Aufmerksamkeit, da sie für das lehrerseitige Verhalten zu einem späten Zeitpunkt des Experiments konstitutiv sind. Die zweite Distanzierung von der Apparatur erfolgt zu einem späten Zeitpunkt des Chemieexperiments. Der Lehrer hat die alkoholische Lösung bereits umgegossen und den Kolben mit einer Klammer am Stativ befestigt. Bereits während dieser Aktivitäten ist der Lehrer die meiste Zeit verbal abstinent, wodurch der hohe Grad an praktischer und kognitiver Absorption des Lehrers durch sein praktisches Tun deutlich wird. Als der Kolben für die Erhitzung der Lösung ausreichend befestigt ist, realisiert er folgende Äußerung: 53 (4.09) 54 .hh BUNSenburner? (--) 47 <?page no="137"?> Die Aufrechterhaltung des Demonstrationsraums 137 55 XX: ((lachen)) 56 LE: (17.49) Der Lehrer nimmt den neben der Apparatur stehenden Brenner, auf den er zeitgleich mit dem englischen Ausdruck BUNSenburner (Z. 54) referiert, und stellt ihn unter den Dreifuß. Im Blickverhalten und der Körperorientierung des Lehrers wird sein aktuell-situativer Fokus sichtbar ‘verkörpert’ (Abb. 47). Der Lehrer wendet sich durch all seine zur Verfügung stehenden Modalitäten dem Brenner zu, der durch die „Redundanzmarkierung“ (Gumperz 1982) als relevant hochgestuft wird. Darüber hinaus sind mit dem Verhalten des Lehrers projektive Implikationen verbunden, die mit der Funktionalität des Objekts zusammenhängen: Ein zentraler Benutzbarkeitshinweis des Brenners ist seine Verwendung als Energiequelle. In dem Moment, in dem der Lehrer den Brenner an dem Ort platziert, an dem die Aktivierung dieses Benutzbarkeitshinweises pragmatisch sinnvoll ist, wird der nächste Schritt des Lehrers antizipierbar: Er wird den Brenner in Kürze anzünden. Für die folgende Distanzierung des Lehrers von der Versuchsapparatur spielen diese fokussierenden und projektiv-implikativen Aktivitäten eine große Rolle. Sie rahmen den Laufweg des Lehrers, der dadurch nicht mehr die Gefahr birgt, zu einer Defokussierung oder gar Auflösung des Demonstrationsraums zu führen. Hinzu kommt die spezifische Qualität der Distanzierung als nur kurzzeitige, im Dienst des Versuchs stehende Aktivität. Die Qualität wird durch den spezifischen Einsatz der Ausdrucksmodalitäten und ihrer Koordination produziert: - Blickverhalten: Der Lehrer richtet seinen Blick während des Laufwegs nicht auf, sondern hält ihn schräg nach unten, entweder auf den Chemikalientisch (B) oder auf den Experimentiertisch gerichtet. - Laufweg: Der Lehrer entfernt sich nicht weit von der Versuchsapparatur. Seine Schritte sind relativ zügig, und er verankert sich nicht am Chemikalientisch, sondern verlagert sein Gewicht schnell auf das linke Bein, um wieder zur Apparatur zurückzukehren (vgl. ‘Gehen als situierte Praktik’, Goodwin 1997, 2003a; Schmitt 2012a; Schmitt/ Deppermann 2010). - Praktische Aktivitäten: Der Lehrer realisiert sichtbar Aktivitäten, die als ‘Suchen eines Gegenstands’ beschrieben werden können. Als er am Chemikalientisch angekommen ist, ergreift er kurz einen Gegenstand, den er sofort wieder loslässt. Er fasst mit der rechten Hand in seine Hosentasche. Mit der linken Hand nimmt er dann das gesuchte Feuerzeug vom Lehrerpult und kehrt zur Versuchsapparatur zurück. - Verbalität: Der Lehrer ist während seines Laufwegs verbal abstinent. Der Verzicht auf Verbalität führt zu einer Relevanzrückstufung seiner aktuellen Aktivität. Er fokussiert die Schüler auf das Experiment, indem er seine <?page no="138"?> Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht 138 Äußerungen einstellt. Mit der verbalen Abstinenz wählt er eine Verhaltensform, die für das Chemieexperiment zu diesem späten Zeitpunkt charakteristisch ist und führt die in den unmittelbar vorangegangenen Aktivitäten dominante Präsenzform kontinuierlich fort. Die Distanzierung von der Apparatur steht also in keinerlei Kontrast zu seinen vorangegangenen Aktivitäten und ist insofern in der Entwicklungsdynamik des Versuchs inkorporiert. Auch während seiner folgenden Aktivitäten an der Apparatur führt er diesen Präsenzmodus fort, indem er beispielsweise über einen längeren Zeitraum (17.49 Sekunden) hinweg verbal abstinent bleibt (Z. 56). Insofern können auch Phasen verbaler Abstinenz als Hinweis zur Fokuskontinuität eingesetzt werden und damit zur Aufrechterhaltung des Demonstrationsraums beitragen. 4.4.2.2 Längerfristige Abwesenheit vom Demonstrationsraum Der Lehrer entfernt sich von der Apparatur auch über einen längeren Zeitraum, indem er beispielsweise am Ort B verweilt. Im Gegensatz zur kurzzeitigen Abwesenheit (Kap. 4.3.2.1) erfordert eine längerfristige Distanzierung explizite Vollzugsmarkierungen, um die Aufrechterhaltung des Demonstrationsraums zu verdeutlichen und zu gewährleisten. Während der Demonstrationsraum bei der kurzzeitigen Distanzierung als zentraler Fokus unverändert konstant bleibt, ist eine längerfristige Distanzierung immer mit einer situativen Relevanzrückstufung (a) oder einer partiellen Defokussierung (b) verbunden. a) Situative Relevanzrückstufung Nachdem der Lehrer den Brenner schließlich angezündet hat, läuft er wieder nach rechts in Richtung Chemikalientisch, ist diesmal jedoch mit seinem Blick auf die Schüler orientiert. Spätestens als er am Chemikalientisch vorbei läuft, ist klar, dass er nicht unmittelbar wieder zur Versuchsapparatur zurückkehren wird. Sowohl sein Laufweg als auch seine Blickorientierung sind kontrastiv zu seinem Verhalten bei der kurzzeitigen Distanzierung von der Versuchsapparatur. Außerdem wird der Lehrer verbal aktiv, wobei er keine marginalen Sachverhalte verbalisiert (vgl. Fokuskontinuität durch Verbalisierung), sondern mit einer Frage ein Lehrer-Schüler-Gespräch initiiert, in der er den Aufbau der Versuchsapparatur thematisiert: 57 LE: <<f>SO was sollt ich hier noch=s noch ÄNdern; 58 damit ich auch WIRklich: : anna=den>- 59 (1.51) 60 äh: : (---) <?page no="139"?> Die Aufrechterhaltung des Demonstrationsraums 139 61 MEli <<all>tschuldigung>- 62 ME: ja 63 LE: .hh damit ich hier WIRklich den (.) ALkohol; 64 v=vom wasser (nachher) ge TRENNT habe- 48 Der Lehrer hat die Versuchsapparatur soweit aufgebaut, wie Melanie es im Vorfeld vorgeschlagen hatte. Nun fragt er die Schülerin, was er an dieser Apparatur noch ändern müsse, um den Alkohol tatsächlich vom Wasser trennen zu können. Es ist nicht nur die Realisierung einer Frage, die diese Sequenz von der kurzzeitigen Distanzierung von der Versuchsapparatur unterscheidet. Es ist auch die Kombination des veränderten Einsatzes der Ausdrucksmodalitäten des Lehrers, die den Schülern verdeutlicht, dass es sich um eine längerfristige Distanzierung und gegebenenfalls um einen Methodenwechsel handelt. Am auffälligsten ist dabei der Positionswechsel des Lehrers, der sich nun vor dem Pult mit der rechten Hand am Overheadprojektor regelrecht ‘verankert’ (Abb. 48). Auch seinen linken Arm bringt er in eine stabile, invariante Position, indem er ihn in die Seite einstützt. Seine für die Konstitution des Demonstrationsraums zentralen ‘Werkzeuge’ stellt er also in erkennbarer Weise ruhig. Die längerfristige Abwesenheit vom Demonstrationsraum unterscheidet sich also hinsichtlich der kurzfristigen Distanzierung durch folgende Aspekte: - Der Lehrer stellt eine offene w-Frage (Z. 57), - er adressiert eine Schülerin namentlich (Z. 58, 61), - sein Blick ist auf die Schüler gerichtet, - sein Laufweg führt ihn deutlich weiter von der Apparatur weg, - er nimmt eine neue Position vor dem Pult am Overheadprojektor ein und - verankert sich in einer stabilen, invarianten Positur. <?page no="140"?> Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht 140 Welche Konsequenzen hat die längerfristige Abwesenheit nun für die Aufrechterhaltung des Demonstrationsraums? Der visuelle Fokus auf den Demonstrationsraum wird zeitweise aufgelöst, obgleich seine Funktionalität als Form der Wissensvermittlung unverändert beibehalten wird. Das Blickverhalten der Schüler ist weitgehend durch den Lehrer als Fokusperson bestimmt. Mit dem Positionswechsel des Lehrers verändert sich also auch der visuelle Wahrnehmungsfokus der Schüler. Obwohl einige wichtige Konstituenten des Demonstrationsraums, wie etwa die praktischen Aktivitäten, die körperliche Nähe der Fokusperson und der visuelle Wahrnehmungsfokus der Schüler, zeitweise eingestellt werden, wäre es zu weit gegriffen, wenn man von einer Defokussierung oder einer Auflösung des Demonstrationsraums spräche. Der Demonstrationsraum wird lediglich in seiner Relevanz situativ zurückgestuft, da der aktuelle Unterrichtsgegenstand in der (sprachlichen) Bearbeitung der vom Lehrer gestellten Frage besteht. Der thematische Bezug auf die Apparatur bleibt jedoch während des gesamten Lehrer-Schüler-Gesprächs erhalten: 1) Zunächst betrifft die Frage des Lehrers unmittelbar die Apparatur, da er die Schüler nach möglichen, weiteren Arbeitsschritten fragt, die zum gewünschten Alkoholnachweis führen könnten. Dabei bleibt der Wahrnehmungsfokus auch sprachlich unverändert erhalten, indem der Lehrer zweimal mit hier (Z. 57, 63) auf die Versuchsapparatur referiert. 2) Die Referenz auf die Apparatur erfolgt mitunter durch die spezifische Gestikulation des Lehrers. Bereits zu Beginn seiner Frage macht er eine Handbewegung, die erkennbar in Richtung der Versuchsapparatur ausgerichtet ist (Abb. 49). Als er seine Frage schließlich reformuliert (Z. 66), realisiert er eine Gestikulation (Abb. 50), die in der Gestikforschung als „Zeigegeste“ (Müller 1998; Fricke 2007) mit einer „palm up open hand“ (Kendon 2004) konzeptualisiert wird. 70 70 Eine derartige Zeigegeste weist den ‘gesture studies’ zufolge als verbindendes Merkmal mit ähnlichen Zeigegesten das Charakteristikum auf, dass sie den Akt des Nehmens und Gebens oder Bittens und Anbietens kontextualisieren: „[...] the speaker is offering, giving or showing something or requesting the reception of somethiing“ (Kendon 2004, S. 248). <?page no="141"?> Die Aufrechterhaltung des Demonstrationsraums 141 66 LE: wie sollt= ich das ÄNdern? = 67 =ich mein wenn ich das jetzt erHITZe? (--) 49-51 Diese Gestikulation realisiert er direkt im Anschluss ein zweites Mal in fast identischer Form (Abb. 51). 3) Der Lehrer blickt zudem während des Lehrer-Schüler-Gesprächs immer wieder auf die Versuchsapparatur (vgl. Abb. 50-51). b) Partielle Defokussierung Die Schüler entwickeln gemeinsam mit dem Lehrer den nächsten praktischen Arbeitsschritt, den er gleich im Anschluss daran ausführt: Er setzt ein Steigrohr auf den Kolben, das zum Abfangen des Alkohols dient. Danach verlässt er die Versuchsapparatur und läuft rechts am Experimentiertisch vorbei, wobei er sich diesmal nicht am Overheadprojektor positioniert, sondern von vorne an den Experimentiertisch herantritt. Seinen Blick hält er während seines Laufwegs kontinuierlich auf die Apparatur gerichtet und vollzieht folgende Äußerung: 114 LE: ah=jetzt erhitzen wir das BISschen ERSTmal. (--) 115 muss ja erstmal ANfangen natürlich zu SIEden; 116 (2.79) Durch seine Äußerung verdeutlicht er den Schülern den aktuellen Stand des Experiments: Für dessen Progression sind keine weiteren Arbeitsschritte erforderlich und die Beteiligten müssen nun abwarten, bis die Lösung zu sieden beginnt. Hierbei kommt wieder die Eigenständigkeit des Experiments zum Tragen: Es besitzt seine eigene Zeitlichkeit und wirkt sich dadurch erkennbar auf die Unterrichtsstrukturierung aus. Den Beteiligten bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis der Alkohol seinen Siedepunkt erreicht. Im Unterschied zu der Konstellation, bei der sich der Lehrer am Overheadprojektor positioniert hatte und bei den Schülern weitere Arbeitsschritte erfragte, dreht er sich nun mit dem Rücken zur Versuchsapparatur und nimmt eine zentrale Position vor dem Pult ein (Abb. 52). Dadurch verdeckt er die <?page no="142"?> Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht 142 Versuchsapparatur teilweise durch seinen Körper und schränkt die Sicht auf die Apparatur für einige Schüler ein. Gleichzeitig wendet er sich einer Apparatur zu, die zu Beginn der Unterrichtsstunde thematisiert wurde, indem er sie manipuliert und seinen Blick und Körper auf sie ausrichtet. Die Zuwendung zum neuen Unterrichtsgegenstand erfolgt gleichzeitig auch verbal, wobei der Lehrer die beginnende Unterrichtphase als „Nebensequenz“ (Jefferson 1972) rahmt: 117 LE: währ enddessen gucken wir uns jetzt mal unseren (-) 52 118 modELLansatz an im warmen WASser, (---) 119 da sieht man erstmal hier UNten schon mal,(--) 120 ne deutlichere BLA: senbildung; (---) 121 und 122 (1.01) 123 NAtalie’ (---) 124 was beobachtest du hier OBen? Mit dem temporalen Konnektor währenddessen (Z. 117), der an die Ankündigung des Lehrers anschließt, den Siedepunkt des Alkohols abwarten zu müssen, rahmt er seine Aktivitäten als kurzzeitige Unterbrechung der Kernaktivität. Durch den Konnektor wird die Parallelität unterschiedlicher Aktivitätszusammenhange implizit angekündigt. Nebensequenzen zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass die Aktivitäten für die Kernaktivität keinerlei Relevanz besitzen. So steht auch die Zuwendung zur neuen Apparatur in keinem direkten Zusammenhang zur Erarbeitung des Alkoholnachweises. Was bedeutet dies nun für die Wahrnehmungsstrukturierung der Schüler? Der Demonstrationsraum ist trotz Fokuswechsel präsent. Durch die Eigenständigkeit des Experiments, das während der Aktivitäten des Lehrers im Hin- <?page no="143"?> Die Auflösung des Demonstrationsraums 143 tergrund weiterläuft, wird die Wahrnehmung der Schüler auch weiterhin strukturiert. Sie werden immer wieder durch Blicke überprüfen, wie weit das Experiment bereits fortgeschritten ist. Die Kernaktivität besteht unverändert im experimentellen Nachweis von Alkohol, wenngleich sie durch andere Aktivitäten des Lehrers kurzzeitig unterbrochen ist. Die visuelle Wahrnehmung der Apparatur ist jedoch durch die Position des Lehrers für viele Schüler stark eingeschränkt. Die Wahrnehmungsstrukturierung erfolgt in der Nebensequenz maßgeblich durch das lehrerseitige Verhalten. Der Lehrer ist derjenige, der den neuen Fokus etabliert und die Schüler explizit auffordert, ihre Wahrnehmung auf das neue Objekt auszurichten. Im Gegensatz zu dem ‘hier Vorne’ des Demonstrationsraums wird an dieser Stelle ein aktueller Wahrnehmungspunkt markiert (Natalie’ was beobachtest du hier OBen? (Z. 123f.)). 4.5 Die Auflösung des Demonstrationsraums Im letzten Abschnitt soll nun der Frage nachgegangen werden, wann der Demonstrationsraum als Form der Wahrnehmungsstrukturierung aufgelöst wird. Zu welchem Zeitpunkt sind die Schüler nicht mehr als Beobachter der Versuchsapparatur gefordert und richten ihre Wahrnehmung auf andere Objekte oder Aktivitäten des Lehrers aus? 53 Ähnlich wie die Herstellung des Demonstrationsraums erfolgt auch die Auflösung in mehreren Schritten. Der erste und zentrale Schritt des Auflösungsprozesses besteht in der Realisierung der anfänglichen Projektion: In dem Moment, in dem der Lehrer mit dem Arrangement von Objekten den Alkohol durch Entzünden nachweist (Abb. 53), hat die Apparatur ihren Zweck erfüllt und die Schüler müssen nicht mehr darauf fokussiert werden. <?page no="144"?> Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht 144 Dennoch wäre es an dieser Stelle des Videoausschnitts zu weit gegriffen, wenn man von einer vollständigen Auflösung des Demonstrationsraums sprechen würde. Der Lehrer bleibt zunächst bei der Apparatur stehen und geht zu einer verbalen Phase über. Er beschreibt retrospektiv sein Vorgehen und erläutert den experimentellen Prozess anhand der Versuchsapparatur. Der thematische und visuelle Fokus bleibt also zunächst bestehen. Erst im Anschluss daran entfernt sich der Lehrer räumlich von der Apparatur und wendet sich seinen Unterlagen auf der linken Tischhälfte zu, indem er eines der Blätter in die Hand nimmt. Er dreht sich zur Tafel um und schaltet das Licht wieder an, das er für die bessere Sichtbarkeit des brennenden Alkohols im Versuch ausgeschaltet hatte. Während seines Laufwegs realisiert er folgende Äußerung: 172 LE: okay, (--) 173 das HEISST (--) wir KÖNnen hiermit auch- 174 (1.56) 175 indirekt (1.37) nachweisen 176 dass ALkohol entstanden ist. 177 (3.24) 178 äh: : m wie schreiben=wir das auf? Der Diskursmarker okay (Z. 172) dient dem Lehrer als Strukturierungsmittel: Die Erläuterungen sind abgeschlossen, und er wendet sich nun neuen Aktivitäten zu. Da er gleichzeitig die Versuchsapparatur verlässt und seine Unterlagen zur Hand nimmt, ist klar, dass die Schüler die Apparatur nicht mehr beobachten müssen. Das Experiment und die entsprechenden Erläuterungen am Objekt sind abgeschlossen. Im Anschluss formuliert der Lehrer das Fazit, das auf die vorangegangene experimentelle Phase bezogen ist: das HEISST wir KÖNnen hiermit auch- (1.56) indirekt (1.37) nachweisen dass ALKohol entstanden ist (Z. 173-176). Die im faktischen Nachweis von Alkohol realisierte Projektion wird also retrospektiv auch verbal thematisiert. Dem Lehrer ist das angekündigte Experiment gelungen und er kann sich schließlich weiteren Themen zuwenden, die er im Rahmen der alkoholischen Gärung bearbeiten möchte. Neben der Realisierung der Projektion sind es also auch andere Aktivitäten des Lehrers, die zur schrittweisen Auflösung des Demonstrationsraums beitragen. Ganz zentral ist dabei die Etablierung eines neuen Fokus, der schließlich zur Defokussierung des Demonstrationsraums führt. Der Lehrer fängt an, sein zu Stundenbeginn erstelltes Tafelbild fortzusetzen. Die Wahrnehmungsstrukturierung erfolgt nun primär wieder durch den Lehrer und die Schüler sind gefordert, ihren Blick auf das Tafelbild auszurichten und den Anschrieb in ihre Hefte zu übertragen. <?page no="145"?> Die Teilautonomie des Demonstrationsraums 145 Während der gemeinsamen Erarbeitung des Tafelbildes beginnt der Lehrer schließlich die Apparatur teilweise abzubauen (Abb. 54). Dieser Arbeitsschritt ist jedoch aufgrund der vorangegangenen Etablierung des neuen Fokus nicht mehr im Rahmen der Auflösungsaktivitäten zu verstehen, sondern nur noch unter pragmatischen Gesichtspunkten. Da die Defokussierung bereits erfolgt ist, sind die bis zum Unterrichtsende auf dem Pult vorhandenen Teile der Apparatur im Bezug auf die Wahrnehmungsstrukturierung unerheblich. Sie erfordern keine Aufmerksamkeit mehr seitens der Schüler. 54 4.6 Die Teilautonomie des Demonstrationsraums Auf der Grundlage der vorangegangenen Analyse hat sich eine Eigenschaft des Demonstrationsraums als zentral herauskristallisiert: seine Teilautonomie. Diese hängt eng mit dem Phänomen des Experiments zusammen. Ein Experiment besitzt seine eigene Zeitlichkeit und läuft in seiner Eigenständigkeit immer auf einen Endpunkt zu. Bei dem im Videoausschnitt realisierten Alkoholnachweis erhitzt der Lehrer die Lösung mit dem Brenner und setzt damit das Experiment in Gang. In dem Moment, in dem er den Brenner unter den Kolben stellt, beginnt das Erhitzen der Lösung, ohne dass ein weiteres Zutun des Lehrers erforderlich ist. Abgeschlossen ist das Experiment jedoch erst, wenn der Lehrer den Alkohol nachweisen oder erkennbar nicht nachweisen kann, wofür er weitere Arbeitsschritte unternehmen muss. Es gibt offensichtlich eigenständige Experimentphasen, in denen der Lehrer anderen Relevanzen nachgehen kann. In solchen Phasen muss der Lehrer den Schülern nicht permanent verdeutlichen, dass das Experiment weiterhin Unterrichtsthema ist und daher beobachtet werden soll. Die Apparatur macht sich <?page no="146"?> Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht 146 sozusagen selbst bemerkbar: Sie steht sichtbar in der Mitte des Experimentiertischs, der Brenner rauscht hörbar weiter und die Lösung beginnt - visuell und olfaktorisch wahrnehmbar - zu sieden. Die Wahrnehmungsstrukturierung erfolgt nicht nur durch das Verhalten des Lehrers im Rahmen spezifischer physikalisch-territorialer Grenzen, sondern sie ist - einmal initiiert - partiell losgelöst von seinen Aktivitäten. Teil-autonom ist der Demonstrationsraum deshalb, weil er nicht losgelöst von jeglichen Interaktionsbeteiligten existiert. Er ist zwar nicht an den demonstrierenden Agenten gebunden, jedoch sind die wahrnehmenden Interaktionsbeteiligten für seine Aufrechterhaltung konstitutiv. Wahrnehmung kann nur dort strukturiert werden, wo auch wahrgenommen wird. Im Folgenden werde ich die Teilautonomie des Demonstrationsraums anhand zweier unterschiedlicher Stellen des Ausschnitts fallanalytisch herausarbeiten. Im ersten Videoausschnitt läuft der Lehrer, nachdem er den Brenner der Versuchsapparatur angezündet hat, zu dem seitlich platzierten Overheadprojektor, auf dem er sich mit der rechten Hand abstützt (Abb. 55). Ausgehend von der Konzeption der „Fokusperson“ (Schmitt/ Deppermann 2007), die im Unterrichtskontext von der Lehrperson repräsentiert wird, spricht zunächst alles dafür, dass die Schüler mit ihren Blicken dem Lehrer folgen und mit der Positionierung des Lehrers ein neuer Fokus etabliert wird. Mit dem Laufweg des Lehrers findet jedoch keine Fokusverschiebung statt, auch wenn die Schüler zeitweise durchaus auf den Lehrer orientiert sind. Die Versuchsapparatur bleibt unverändert sichtbar und der Brenner ist kontinuierlich hörbar im Gange. Für den Lehrer ist die der Apparatur eingeschriebenen Relevanz mit einer Entlastung verbunden: Er muss nicht permanent auf die Apparatur verweisen, um die Schüler entsprechend zu fokussieren, sondern kann ungestört anderen Relevanzen nachgehen. DR 55 <?page no="147"?> Die Teilautonomie des Demonstrationsraums 147 Interessant ist nun das Verbalverhalten des Lehrers, in dem sich die Teilautonomie des Demonstrationsraums manifestiert: Er erkundigt sich bei der Schülerin Melanie, welche Änderungen an der Apparatur noch vorgenommen werden müssten, um den Alkohol wie gewünscht nachweisen zu können: 57 LE: <<f> SO was sollt ich hier noch =s noch ÄNdern; 56 58 damit ich auch WIRklich: : anna=den>- 59 (1.51) 60 äh: : (---) 61 MEli <<all>tschuldigung>- 62 ME: ja 63 LE: .hh damit ich hier WIRklich den (.) ALkohol; 57 64 v=vom wasser (nacher) geTRENNT habe- 65 (2.99) 66 wie sollt=ich das ÄNdern? = 67 =ich mein wenn ich das jetzt erHITZe? (--) 68 was sollte deiner meinung nach PASsieren? 69 (1.31) 70 ME: <<p> das WASser sollte verdampfen> <?page no="148"?> Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht 148 Auffallend ist hierbei die deiktische Referenz des Lehrers auf die Versuchsapparatur: Obwohl er einige Meter von der Apparatur entfernt ist, verwendet er nicht die Lokaldeiktika ‘da’ oder ‘dort’, sondern verweist mit hier (Z. 57, 63) auf das Arrangement seines Versuchs. Während der Lehrer unmittelbar nach dem ersten hier (Z. 57) eine Handbewegung in Richtung Versuchsapparatur realisiert (Abb. 56), hält er seinen Blick während des zweiten hier auf die Apparatur gerichtet (Abb. 57). Die invariante Verwendung von hier als Referenz auf die Versuchsapparatur ist mit unterschiedlichen Implikationen verbunden: - Im Bezug auf die Anforderung der Wahrnehmungsstrukturierung dient die Lokaldeixis dem Lehrer als Fokuskontinuitätshinweis: Er verdeutlicht den Schülern implizit, dass der Primärfokus weiterhin auf der Versuchsapparatur liegt. Das Hier und Jetzt der aktuellen Interaktionssituation hat sich nicht verändert. Die Schüler sollen weiterhin die Apparatur im Blick behalten. - Gleichzeitig manifestiert sich in der spezifischen Referenz auch die eigene Orientierung des Lehrers auf die Apparatur. Den aktuell relevanten Unterrichtsfokus definiert er nicht ausgehend von seiner Person als „dort“, sondern schreibt ihm eine gewisse Eigenständigkeit zu. Das hier ist nicht an die Person des Lehrers gebunden. Die Wahrnehmungsstrukturierung der Schüler ist also teilweise losgelöst von der Person des Lehrers. Auch wenn sich der Lehrer weitgehend von der Apparatur entfernt und seine experimentellen Aktivitäten einstellt, bleibt das hier der Interaktionssituation unverändert erhalten. Im zweiten Videoausschnitt, in dem die Teilautonomie des Demonstrationsraums sichtbar zum Tragen kommt, führt der Lehrer sein in der vorangegangenen Stunde begonnenes Tafelbild fort. Da er mit dem Experiment erst fortfahren kann, wenn der Alkohol zu sieden beginnt, wendet er sich kurzzeitig der Besprechung einer Apparatur zu, die er vor dem Alkoholnachweis errichtet hatte. Nun notiert er die Beobachtungen der Schüler an der Tafel (Abb. 58). Sein Tafelanschrieb kollidiert jedoch mit der Zeitlichkeit des Experiments: Die Lösung kocht über und der Lehrer ist gezwungen, seine aktuellen Aktivitäten einzustellen (Abb. 59) und sich dem Experiment zuzuwenden (Abb. 60). <?page no="149"?> Die Teilautonomie des Demonstrationsraums 149 129 LE: (11.92) 58 130 UPS 59 60 131 (9.73) 132 so jetzt SCHAUN wir mal- (---) 133 OB hier wirklich auch- 134 (1.06) 135 alkohol rauskommt? Der Videoausschnitt verdeutlicht in prototypischer Weise die Eigenständigkeit des Experiments. Es ist hier nicht der Lehrer, der das Experiment an die Unterrichtsstunde anpasst, sondern das Experiment zwingt ihn zur Anpassung an dessen Zeitlichkeit. Will der Lehrer den Alkohol nachweisen, muss er sofort handeln. Er kann seine begonnenen Aktivitäten an der Tafel nicht erst abschließen, weil sonst der gesamte Alkohol in die Luft entweichen würde. Wie sehr er dabei in Zugzwang ist, formuliert er selbst, als es ihm nicht gelingt den Glimmspan anzuzünden, der ihm als Zündquelle dient: <?page no="150"?> Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht 150 137 LE: schnell: sonst ist er ! WEG! , 138 (2.24) 139 oh: : 140 (6.16) 141 KOMM schon- Das Experiment macht sich selbst bemerkbar und strukturiert damit die Wahrnehmung der Schüler ohne das Zutun des Lehrers. Im Videoausschnitt wird wie an keiner anderen Stelle die Unabhängigkeit der Wahrnehmungsstrukturierung vom demonstrierenden Agenten evident. Es ist vielmehr das Gegenteil der Fall: Die Eigenständigkeit des Experiments zwingt den Lehrer in die Funktion des demonstrierenden Agenten, obwohl der Lehrer eigentlich im Begriff war, anderen Relevanzen zu folgen. Zuletzt sei noch auf eine weitere Situation des Videoausschnitts hingewiesen, in dem sich die Teilautonomie des Demonstrationsraums im Rahmen eines Lehrer-Schüler-Gesprächs bemerkbar macht: Es kommt zu akustischen Verständigungsproblemen zwischen Anna (AN) und dem Lehrer, da er sie aufgrund des rauschenden Brenners nicht verstehen kann (Abb. 61): 103 AN: ja was DRÜber machen wo der alkohol reingeht- 104 LE: da RAUSCHT=s so laut- 105 ich HÖR nix ; (--) 61 Unabhängig davon, ob der Lehrer Anna tatsächlich nicht versteht oder die Äußerung als implizite Aufforderung an Anna richtet, lauter zu sprechen, zeigt sich hier wieder die kontinuierliche Eigenständigkeit des Experiments, die sich auf unterschiedlichen Ebenen der Interaktionssituationen einschreibt. <?page no="151"?> Fazit 151 4.7 Fazit Ausgehend von der videobasierten Fallanalyse einer Sequenz im Chemieunterricht, in welcher der Lehrer für die Schüler ein Experiment zum Alkoholnachweis durchführt, wurde das Konzept des Demonstrationsraums als eine Form der Wahrnehmungsstrukturierung entwickelt. Nach der ersten konzeptionellen Vororientierung stand die Etablierungsphase des Demonstrationsraums im Zentrum der Analyse, wobei zunächst die für die Etablierung konstitutiven Verfahren rekonstruiert wurden. Als zentralem Agenten obliegt es dem Lehrer, den zu beobachtenden Raumbereich aus der zunächst diffusen Aufmerksamkeitsausrichtung auf das Vorne kenntlich zu machen. Dafür setzt er sprachlich-interaktive oder körperlich-räumliche Verfahren ein (Modaliätssynchronisierung, Umgehen des Demonstrationsraums), ist gleichzeitig jedoch handlungsentlastet, da seine Formulierung machen wir das HIER VO: rne (Z. 33f.) ein Handlungsmuster projiziert, das im Wissensbestand der Schüler verankert ist. Das Handlungsmuster impliziert für die Schüler ein spezifisches Beteiligungsformat, nämlich das des Beobachters, dessen Explizierung somit hinfällig ist. Bereits hier wird deutlich, wie eng die Etablierung des Demonstrationsraums mit Handlungsroutinen und vertrautheitsabhängigen Verhaltensmustern verbunden ist. In einem zweiten Schritt wurde die territoriale Struktur des Demonstrationsraums in seiner internen Struktur und in Abhängigkeit zum ihn umgebenden Raum analysiert. Der Demonstrationsraum ist durch keine klaren Grenzen markiert und kann in einen Kern- und Randbereich unterteilt werden. Der Randbereich des Demonstrationsraums ist eher diffus, während der durch das Arrangement fachspezifischer Gegenstände charakterisierte Kernbereich durch eine freie Fläche von seiner Umgebung gleichermaßen abgegrenzt und gerahmt ist und dadurch Platz für das ‘Machen’ von Chemie zur Verfügung stellt. Gegenstand des anschließenden Kapitels bildete die Aufrechterhaltung des Demonstrationsraums. In Analogie zur Etablierung ist der Lehrer teilweise handlungsentlastet: Er wendet zwar Strategien zur Verdeutlichung der Fokuskontinuität (durch Verbalisierung und verbale Abstinenz) an, kann sich aber längerfristig vom Demonstrationsraum entfernen, ohne die Schüler von ihrer Beobachtungsrolle zu entbinden. Sogar in Sequenzen, in denen er Aktivitäten nachgeht, die nicht unmittelbar im Zusammenhang mit dem Experiment stehen, bleibt die Relevanz des Demonstrationsraums durch die eigene Zeitlichkeit des Experiments - visuell, auditiv und olfaktorisch wahrnehmbar - erhalten. <?page no="152"?> Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht 152 Im abschließenden Kapitel der Fallanalyse stand die Auflösung des Demonstrationsraums im Zentrum, die, wie die Aufrechterhaltung, vorwiegend durch die Struktur des Experiments organisiert wird. Mit dem Nachweis des Alkohols hat das Experiment seinen Zweck der Wissenserkenntnis erfüllt, wodurch sich auch der Zweck des Demonstrationsraums als Form der Wahrnehmungsstrukturierung erübrigt. Mit dem Wechsel von praktischen zu verbalen Aktivitäten des Lehrers, seiner vom Demonstrationsraum abgewendeten Position und schließlich dem schrittweisen Abbau der Apparatur sind zahlreiche Folgeaktivitäten genannt, in denen sich die Auflösung des Demonstrationsraums sichtbar manifestiert. Das zentrale Unterscheidungskriterium für den Demonstrationsraum von anderen Raumkonzepten der einschlägigen Forschung wurde im abschließenden Kapitel des Beitrags vorgestellt: Die Teilautonomie ist ein für den Demonstrationsraum konstitutives Charakteristikum, das aus der Eigenständigkeit des Experiments resultiert. Einmal in die Welt gesetzt, wirkt sich das Experiment organisierend auf die gesamte Interaktionssituation aus und bleibt solange relevant, bis es schließlich seinen Zweck erfüllt hat. Ein zentrales Indiz für die Teilautonomie des Demonstrationsraums ist die Lokaldeixis hier, mit welcher der Lehrer - unabhängig von seiner eigenen Position im Raum - auf den zentralen Wahrnehmungsfokus der Schüler referiert. Zu untersuchen bleibt, ob die Realisierung von Experimenten für das Konzept Demonstrationsraum konstitutiv ist oder ob die Wahrnehmungsstrukturierung von beobachtenden Teilnehmern durch die Etablierung eines Demonstrationsraums auch in anderen Interaktionszusammenhängen, wie etwa Kochshows, 71 erfolgen könnte (vgl. Kap. 3.4). Das Konzept des Demonstrationsraums trägt der multimodalen Bearbeitung der allgemeinen Anforderung Rechnung, dass Chemielehrer die Wahrnehmung der Schüler relativ zu ihren (meist experimentellen) Aktivitäten strukturieren müssen. Während im vorliegenden Videoausschnitt die Durchführung eines Experiments unter multimodaler Perspektive fallanalytisch rekonstruiert wurde, fokussiert das folgende Kapitel „Verfahren der Einführung von Objekten“ (Kap. 5) kollektionsbasiert die Einführung einzelner Objekte, die bei der Durchführung von Experimenten konkret eingesetzt werden. 71 Stukenbrocks Studie zur Deixis in der face-to-face-Interaktion basiert unter anderem auf einem Videokorpus zu Kochsendungen unterschiedlicher Formate (Stukenbrock 2015, S. 45f.). <?page no="153"?> 5. VERFAHREN DER EINFÜHRUNG VON OBJEKTEN Die vorangehenden Kapitel haben gezeigt, dass eine dezidiert multimodale Perspektive auf Interaktion einen Zugang zu zentralen Aspekten der Interaktion im Chemieunterricht ermöglicht, da sie körperlich-räumliche und verbale Ausdrucksressourcen gleichermaßen berücksichtigt. So ist bereits die Interaktionsarchitektur des Chemieraums im Bezug auf die dort stattfindende Interaktion mit weitreichenden Implikationen verbunden. Der Lehrer nutzt neben anderen Ausdrucksmodalitäten den Raum als interaktive Ressource, um das interaktive Problem der Wahrnehmungsstrukturierung im Chemieunterricht zu bearbeiten. Während das vierte Kapitel die Wahrnehmungsstrukturierung als allgemeines interaktives Problem in Experimentalphasen fokussierte, soll hier ein konkretes multimodales Verfahren vorgestellt werden, für das die Wahrnehmungsstrukturierung funktional ist und das vom Lehrer eingesetzt wird, um einzelne Objekte innerhalb von Experimentalphasen einzuführen. Im Chemieunterricht ist der Einsatz von Stoffen grundlegend und trägt wesentlich zur Vermittlung chemischen Fachwissens bei. Neben chemischen Substanzen gibt es im Chemieunterricht eine ganze Reihe weiterer fachspezifischer Gegenstände, die ebenfalls konstitutiv für Chemie sind. Mit dem Bunsenbrenner, dem Becherglas, der Pipette, dem Erlenmeyer-Kolben und dem Gärröhrchen sind nur einige der Laborgeräte genannt, die für die Praktizierung von Chemie eingesetzt werden. Im Gegensatz zu Chemikalien kommt ihnen aber ein anderer Relevanzstatus zu, da sie ‘nur’ als Hilfsmittel oder Werkzeug dienen und in der Regel nicht den zentralen Unterrichtsgegenstand darstellen, wie etwa Metalle oder Alkohole. Unabhängig von ihrem jeweiligen Status ist allen Gegenständen im Chemieunterricht eins gemein: ihre Materialität. Ob es sich um eine chemische Substanz oder ein Laborgerät handelt, die Gegenstände sind haptisch zugänglich. Sie können berührt, transportiert, arrangiert, hochgehoben und abgestellt werden. Man kann auch um die Gegenstände herumlaufen und sie von allen Seiten betrachten. Viele chemische Substanzen zeichnen sich außerdem durch charakteristische Gerüche aus und können daher nicht nur haptisch und visuell, sondern auch olfaktorisch wahrgenommen werden. Und auch die Akustik spielt im Chemieunterricht eine große Rolle: Das Strömen des Gases im Bunsenbrenner, das Zischen von Natrium in Wasser und die klimpernden Siedesteinchen im Erlenmeyer-Kolben sind Teil der auditiven Wahrnehmbarkeit von Chemie. Obwohl die Materialität den Gegenständen zu einem bestimmten Grad eingeschrieben ist, wie etwa der Erlenmeyer-Kolben durch seine Form den ‘Benutzbarkeitshinweis’ (Hausendorf 2012a) gibt, ihn mit Stoffen zu befüllen, <?page no="154"?> Verfahren der Einführung von Objekten 154 sind die Chemikalien und Laborgeräte im Chemieunterricht erst dann wahrnehmbar, wenn sie durch ihren spezifischen Einsatz im Unterrichtsverlauf relevant gesetzt werden. Dem Lehrer obliegt als Situationsmächtiger der Interaktion in der Regel die Aufgabe, diese Gegenstände im Unterricht für die Schüler konkret sinnlich wahrnehmbar zu machen. Dafür müssen die Gegenstände in das Unterrichtsgeschehen eingebracht und eingeführt werden, unabhängig davon, ob die Schüler selbst sie im Experiment einsetzen oder der Lehrer derjenige ist, der Chemikalien und Laborgeräte manipuliert. Da es sich bei ihnen nicht allein um inhaltlich-thematische Unterrichtsgegenstände handelt, sondern um dreidimensionale, durch unterschiedliche Sinne wahrnehmbare Objekte, ist die ‘Einführung’ von Objekten zwangsläufig nicht nur an Verbalität, sondern auch an den praktischen, d.h. räumlichen Einsatz gebunden. Gleichzeitig muss der Lehrer den Schülern den unterschiedlichen Relevanzstatus der Objekte für die Unterrichtssituation verdeutlichen. Handelt es sich bei dem entsprechenden Objekt etwa um - den zentralen Unterrichtsgegenstand, - den Ausgangsstoff für die Herstellung eines anderen Stoffes, - den Repräsentanten eines Stoffes in der Welt oder um - ein Werkzeug, das als Hilfsmittel im Unterrichtsverlauf dient? Im Zentrum dieses Kapitels steht das multimodale Verfahren, mit dem Lehrer Objekte im Sinne einer Demonstration in das Unterrichtsgeschehen einführen. Konstitutiv ist hierfür eine spezifische Bewegung, das ‘Hochhalten’, mit welcher der Lehrer die entsprechenden Objekte demonstriert. Ob im Chemie-, Naturphänomene- oder im Naturwissenschaft- und Technik-Unterricht, ob in der fünften oder der zwölften Klasse der Kursstufe: Bei allen Unterrichtseinheiten und Unterrichtsformen können Objekte hochgehalten und gezeigt werden, bevor sie im Experiment zum Einsatz kommen. Das Hochhalten von Laborgeräten und Chemikalien ist eine Möglichkeit für Lehrer, fachspezifische Gegenstände 72 in den Unterrichtsverlauf einzuführen und sinnlich wahrnehmbar zu machen. Das Kapitel fokussiert also eine spezifische Form der Einführung von Objekten, die sich in ihrer Gesamtgestalt (Bewegung, Verbalität, Blickorientierung, Manipulation) von anderen Verfahren grundlegend unterscheidet. 73 72 Die Begriffe ‘Gegenstand’ und ‘Objekt’ werden nicht synonym verwendet. Gegenstände werden dann zu Objekten, wenn sie von Interaktionsbeteiligten als interaktive Ressource genutzt werden. Diese Begriffsdifferenzierung hat sich im Rahmen der Analyse als produktiv erwiesen und wird im Fazit des Kapitels ausführlich erläutert. 73 Vgl. die Einführung von Objekten, die in den kontrastiven Fällen vorgestellt wird (Kap. 5.6). <?page no="155"?> Verfahren der Einführung von Objekten 155 Zweifelsohne spielt auch die Sprache bei der Einführung von Objekten eine zentrale Rolle. Die folgenden Analysen werden zeigen, wie eng die Manipulation von Objekten mit verbalen Aktivitäten koordiniert ist. Für die Objektdemonstration ist es in fast allen Fällen konstitutiv, dass nicht nur ein Objekt manipuliert, sondern auch ein Fachwort eingeführt wird. Die Einführung der Fachlexik weist dabei, ähnlich wie die Objektmanipulation, ein spezifisches Format auf, das sich kontextsensitiv verhält und im Bezug auf verschiedene Kriterien variieren kann (vgl. u.a. Kap. 5.2.2.2). Der Lehrer nutzt das ostentative, objekttaktile Zeigen auf sehr ökonomische Weise, um zugleich einen Fachbegriff einzuführen. Sprache leistet außerdem für die Anforderung der Wahrnehmungsstrukturierung einen entscheidenden Beitrag. In den verbalen Aktivitäten sind sprachliche Deiktika, wie etwa hier, jetzt oder das, hochmarkant enthalten. Sprache bildet daher gerade an der Schnittstelle von Wissenskommunikation und Wahrnehmung(swahrnehmung) ein zentrales Vehikel, das im Verfahren der Objekteinführung in mehrfacher Hinsicht besonders augenscheinlich wird. Objektdemonstrationen werden auch bei Stukenbrock (2015) in ihrer Arbeit zur Deixis in der face-to-face-Interaktion untersucht. Dabei unterscheidet sie zwischen dem ‘Zeigen mit Objekten’ und dem ‘Zeigen an Objekten’. Beim ‘Zeigen mit Objekten’ dienen die Gegenstände lediglich als Zeigeinstrument, um den Aufmerksamkeitsfokus der Beteiligten auf ein spezifisches Zeigeziel zu lenken. Dahingegen wird das Zeigeziel beim ‘Zeigen an Objekten’ durch das Objekt selbst konstituiert. Stukenbrock unterscheidet dabei verschiedene Formen des ‘Zeigen an Objekten’: Die [...] Fälle des Zeigens an Objekten reichen von Präsentativgesten, in denen das präsentierte Objekt durch den Zeigenden lediglich hochgehalten oder angehoben wird, bis hin zu gestischen Präsentationen, in denen das Objekt ausführlich manipuliert wird. (Stukenbrock 2015, S. 215) Das Hochhalten oder Anheben von Objekten ist also eine neben vielen anderen Formen des ‘Zeigen an Objekten’. Im Gegensatz zu Stukenbrocks Untersuchung haben die hier vorgestellten Objektdemonstrationen Verfahrenscharakter und bestehen eben nicht nur in einfachen Präsentativgesten, sondern weisen eine komplexere Gesamtgestalt auf. Was genau heißt es aber, wenn ein Lehrer Schülern Objekte durch die spezifische Bewegung des Hochhaltens zeigt? Zeigt er die Objekte, damit die Schüler sie visuell wahrnehmen und in ihrer Form oder ihrem Inhalt begreifen können? Oder ist das Zeigen stellvertretend für die Legitimation des Lehrers, im folgenden Unterrichtsverlauf mit dem entsprechenden Objekt arbeiten zu können? Sind mit dem Zeigen der Objekte Instruktionen verbunden oder <?page no="156"?> Verfahren der Einführung von Objekten 156 dient das Hochhalten ausschließlich der Demonstration des manipulierten Objekts? Die zentrale fachbezogene Funktionalität des ‘Zeigens’ ist ein wichtiger Aspekt, der in der folgenden Analyse zu klären ist. Das ‘Zeigen’ oder ‘Hochhalten’ impliziert eine Handlungsstruktur, die im Regelfall durch das Nicht-Zeigen oder Nicht-Hochhalten charakterisiert ist. Der Lehrer löst im Verlauf einer Unterrichtsphase bestimmte Objekte aus dem Aktivitätsprozess des Arrangierens, Transportierens usw. heraus und misst ihnen damit einen besonderen Relevanzstatus bei. Dabei stellen Handlungen wie Anheben, Aufnehmen und Hochhalten eine besonders starke Form der Aufmerksamkeitsfokussierung auf das präsentierte Objekt dar, da das Objekt [...] von seinem Grund räumlich und perzeptorisch losgelöst [...] wird. (Stukenbrock 2015, S. 227) In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Aktivitätsstruktur, die möglicherweise etabliert sein muss, um dieses Herauslösen überhaupt realisieren zu können. Und welche sequenzielle Position nimmt dann das Herauslösen des Objekts ein? Bei der Analyse der folgenden - von mir als ‘klar’ titulierten - Beispiele geht es zunächst darum, die spezifische Form der Objekteinführung zu rekonstruieren. Dabei orientiere ich mich an folgenden Leitfragen: 1) Welche segmentale Struktur liegt der Objekteinführung zugrunde? 2) Was ist die zentrale fachbezogene Funktion des Zeigens bzw. Hochhaltens? 3) Welche Ausdrucksmodalitäten werden von dem Lehrer neben der Manipulation des Objektes eingesetzt? Welchen Beitrag leistet dabei die Sprache? 4) Wie ist die Einführung in die zugrundeliegende Aktivitätsstruktur und in den thematisch-pragmatischen Kontext eingebettet? 5) Wie ist die Objekteinführung mit der Einführung von Fachbegriffen koordiniert? 6) Wie ist der Abschluss der Objekteinführung organisiert? Gibt es Formen der Expansion oder wird das Objekt mehrfach gezeigt? 7) Inwiefern kann man bei der Objekteinführung von einer adressatenspezifischen Aktivität sprechen und worin manifestiert sich die Adressatenbezogenheit? Das multimodale Verfahren zur Einführung von Objekten wird in diesem Kapitel nicht fallanalytisch, sondern auf der Grundlage einer Kollektion von Fällen rekonstruiert. Die Kollektion von Beispielen, die die Objekteinführung in unterschiedlichen Jahrgangsstufen bei unterschiedlichen Lehrern dokumentiert, stellt ein breites Varianzspektrum zur Verfügung, das der Komplexität des Analysegegenstands Rechnung trägt. Ziel meiner Analyse ist es, den <?page no="157"?> Die klaren Fälle (I) - Beispiel 1: Siedesteinchen 157 invarianten Kern, der sich hinter dem ‘fallspezifischen Gewand’ verbirgt, zu extrahieren. Welche stabile Kernstruktur findet sich in allen Fallbeispielen unabhängig vom jeweiligen situativen Kontext? Welchen Voraussetzungen unterliegt diese Kernstruktur, und durch welche Elemente wird sie konstituiert? Zunächst soll nun ein ‘klarer Fall’ analysiert werden, der aufgrund seiner Prototypikalität als Zentraldokument gelten kann 74 (Kap. 5.1). Ausgehend vom Zentraldokument erfolgt im anschließenden Kapitel die Konzeptentwicklung (Kap. 5.2). Anschließend dienen weitere klare Fälle zur Überprüfung des Konzepts (Kap. 5.3). Nach einer Modifizierung des Konzepts (Kap. 5.4) erfolgt die Analyse der Randfälle (Kap. 5.5) und der kontrastiven Fälle (Kap. 5.6). Eine Übersichtsgrafik zum multimodalen Verfahren der Einführung von Objekten dient als Zusammenfassung zentraler Analyseergebnisse (Kap. 5.7). Zum Abschluss sollen Aspekte fokussiert werden, die über die Einzelfälle hinausgehen und die von allgemeiner Bedeutung für die multimodale Rekonstruktion von Interaktion sind, in welchen der Umgang mit Objekten eine große Rolle spielt (Kap. 5.8). 5.1 Die klaren Fälle (I) - Beispiel 1: Siedesteinchen Die klaren Fälle zeichnen sich durch die Auffälligkeit und Deutlichkeit der Objekteinführung aus, die sich in diesen Videosequenzen besonders sichtbar von der zugrundeliegenden Aktivitätsstruktur abhebt. Sie weisen folgende Kriterien aus, die sich aus den einzelnen Analysen herauskristallisiert haben: - Maximale Extension der Bewegung, - kurze zeitliche Erstreckung, - Lokalität, - Kontrastivität, - eine Bewegung im oberen Gestikulationsbereich, - Expressivität, - Verbalität, - Referenzialität und - Simultaneität. Um die einzelnen klaren Fälle systematisch vergleichen zu können, ist es zunächst notwendig, eine detaillierte Einzelfallanalyse eines Ausschnitts vorzunehmen, der hinsichtlich der formulierten Auswahlkriterien besonders prototypisch erscheint (Deppermann 1999, S. 96). Das erste Beispiel ‘Siedesteinchen’ dient für die gesamte Analyse als Zentraldokument. 74 Zur näheren Ausführung der Prototypikalität als Zentraldokument siehe Kapitel 5.1. <?page no="158"?> Verfahren der Einführung von Objekten 158 Das Zentraldokument ist ein prototypisches Beispiel für das Verfahren der Einführung von Objekten, da alle Auswahlkriterien besonders evident sind. Der Lehrer führt in diesem Videoausschnitt Siedesteinchen in einem Erlenmeyer-Kolben ein, indem er den Kolben hochhält und auf die Steinchen referiert. 5.1.1 Der relevante Kontext Im Rahmen des Unterrichtsthemas ‘alkoholische Gärung’ möchte der Lehrer Alkohol in einer Zucker-Hefe-Lösung nachweisen. Die dafür notwendige Apparatur wurde in der Mitte des Pultes aufgebaut. Um die Lösung erhitzen zu können, ohne dass die Heferückstände anbrennen, möchte der Lehrer die Lösung abgießen. Er holt den Erlenmeyer-Kolben mit den Siedesteinchen vom Chemikalientisch, der neben dem Lehrerpult steht und läuft zurück zur Versuchsapparatur. Bevor er die Lösung in den anderen Kolben abgießt, hebt er den Erlenmeyer-Kolben mit den Siedesteinchen kurz hoch und beschreibt den Schülern seinen Inhalt. Siedesteinchen bestehen aus porösem Mineral und werden zur Unterbindung des Siedeverzugs beim Erhitzen von Flüssigkeiten eingesetzt. Bezogen auf ihren Relevanzstatus fallen sie im Kontext des Unterrichtthemas ‘alkoholische Gärung’ unter die Kategorie der ‘Hilfsmittel’ oder ‘Werkzeuge’, weil sie dem Lehrer für eine möglichst ökonomische und unproblematische Versuchsdurchführung dienen: Die Siedesteinchen erleichtern seinen Arbeitseinsatz erheblich, denn er kann den Kolben nun problemlos eine längere Zeit über den Brenner stellen und erhitzen, bis der erwünschte Alkohol entweicht. Gleichzeitig hat er die Möglichkeit, anderen organisatorischen oder interaktiven Aufgaben nachzugehen. 5.1.2 Die sequenzielle Struktur des Ausschnitts Die vorliegende Objekteinführung ist durch eine komplexe, multimodale Gestalt gekennzeichnet, die nur hinreichend erschlossen werden kann, wenn man 1) ihre sequenzielle Entwicklung in der entsprechenden Unterrichtsphase rekonstruiert und 2) die Aktivitätsstruktur, in dem die Einführung eingebettet ist, mit einbezieht. 5.1.2.1 Beginn der Versuchsphase Die der Versuchsphase unmittelbar vorangehende Unterrichtsphase ist eine typische Aufgabe-Lösungs-Sequenz (Ehlich/ Rehbein 1986), in der die Schüler eine mögliche Nachweismethode für Alkohol entwickeln sollen. <?page no="159"?> Die klaren Fälle (I) - Beispiel 1: Siedesteinchen 159 08 ME: ja (ich könnte) die konzentraTION vom alkohol (erhöhen) 09 LE: ok; 62 10 wie kannst du die erhöhen; 11 (1.91) Die Schülerin Melanie formuliert mit dem selbstinitiierten Beitrag ja (ich könnte) die konzentraTION vom alkohol (erhöhen) (Z. 08) eine erste Idee und der Lehrer fordert sie daraufhin implizit zu einer Spezifizierung ihres Lösungsvorschlags auf: ok wie kannst du die erhöhen (Z. 09f.). In den folgenden 30 Sekunden vollzieht sich das Unterrichtsgespräch maßgeblich in der Interaktionsdyade von Lehrer und Schülerin (vgl. Abb. 62), die mit Hilfe des Lehrers ihren ursprünglichen Lösungsvorschlag schließlich so weit spezifizieren kann, dass sie die Destillation als mögliche Nachweismethode für Alkohol anführt. Der Lehrer bestätigt die Gültigkeit ihrer Aussage, indem er sich in Reaktion auf ihren Beitrag in Bewegung setzt, zum Pult umdreht (Abb. 63-65) und die Versuchsphase folgendermaßen ankündigt: 32 LE: ok; 63 <?page no="160"?> Verfahren der Einführung von Objekten 160 33 machen wir das (.) HIER; (---) 64 34 VO: rne, 65 35 (1.80) Die Aussage der Schülerin wird bis auf das ok (Z. 32) vor allem durch die einsetzende praktische Aktivität des Lehrers positiv bewertet. Er erkennt Melanies Lösungsvorschlag nicht explizit durch lobende Worte an, sondern verdeutlicht ihr implizit die weit-reichenden Konsequenzen ihrer Antwort: Er wird ihren Vorschlag VO: rne’, auf dem Lehrerexperimentiertisch, praktisch durchführen. 75 Den Schülern wird der Phasenwechsel vom Lehrer-Schüler-Gespräch zur praktisch dominierten Tätigkeit durch mehrere Ausdrucksressourcen ver- 75 Diese implizite Form von positiver Evaluierung der Schülerbeiträge findet sich in zahlreichen Videoaufnahmen von Experimentalphasen, vor allem dort, wo Lehrer weitgehend auf explizite Äußerungen verzichten und einen impliziten, indirekten Lehrstil pflegen. Sie bildet ein alternatives Verfahren zur klassischen verbalen Positiv-Evaluierung und kann bei einem ausschließlich verbal-orientierten Fokus auf Unterricht leicht übersehen werden. In der Didaktik ist die implizite Evaluierung von Schülerbeiträgen durch praktische Tätigkeiten bisher völlig unbeachtet geblieben. Dieses Verfahren birgt aber im Gegensatz zur verbalen Evaluierung andere Chancen, wie etwa die starke Anbindung an die Fachspezifik von Chemie (oder wie sollte ein Deutschlehrer dieses Verfahren adäquat einsetzen? ), und müsste noch hinreichend untersucht werden. <?page no="161"?> Die klaren Fälle (I) - Beispiel 1: Siedesteinchen 161 deutlicht: durch die Ankündigung des Lehrers, seine einsetzende Bewegung (Abb. 63-64) und das Abstellen des Kolbens auf dem Stativ der Versuchsapparatur. Hinzu kommt die Veränderung seiner räumlichen Position, da er während des Lehrer-Schüler-Gesprächs noch vor dem Pult zur Klasse orientiert war (vgl. Abb. 62) und hinter das Pult zu der Versuchsapparatur läuft. Er nimmt das direkt neben der Apparatur stehende Gefäß mit Siedesteinchen in die rechte Hand und führt die linke Hand zum Deckel des Glasgefäßes. Zeitgleich hat er seinen Blick kontinuierlich auf den Kolben gerichtet. Er öffnet das Gefäß jedoch nicht, sondern stellt es wieder ab und realisiert im Anschluss folgende Äußerung: 38 LE: .h ah: (.) vielleicht GIEß ich das erst nochmal AB, 39 weil hier unten noch so=n bisschen HEFe drin ist - 66 67 Während der Äußerung nimmt er den Kolben vom Stativ in die Hand, hebt ihn soweit hoch, dass er den Kolbenboden betrachten kann (Abb. 66) und stellt ihn neben der Versuchsapparatur ab (Abb. 67). Offensichtlich nimmt der Lehrer hier eine Planänderung vor, da er die Lösung im Kolben doch nicht direkt erhitzen, sondern sie aufgrund möglicher Heferückstände zunächst abgießen möchte. Der Lehrer verdeutlicht durch sein spezifisches Verhalten den Entscheidungsprozess, der zu dieser Planänderung führt, und qualifiziert ihn dadurch als Teil des chemischen Arbeitens. Der Entscheidungsprozess wird in mehrfacher Hinsicht ‘sichtbar’ und weist eine zweigliedrige Struktur auf, die auch auf andere Entscheidungssituationen im Chemieunterricht übertragen werden kann. 1) Antizipation Im Entscheidungsprozess gibt es zwei Möglichkeiten, die den Lehrer zu der Planänderung bewegt haben könnten. Entweder ist es eine professionsspezifische Antizipation, bei dieser vor einer Woche angesetzten Lösung von Hefe- <?page no="162"?> Verfahren der Einführung von Objekten 162 rückständen auszugehen, oder er hat durch seinen kontinuierlichen Blick auf den Kolben die Heferückstände tatsächlich beobachtet. Ein erstes sichtbares Indiz für seine Planänderung ist das Abstellen des zunächst angehobenen Gefäßes mit den Siedesteinchen. Die darauf folgende Interjektion ah: (Z. 38) reflektiert den kognitiven Entscheidungsprozess des Lehrers und impliziert durch ihre spezifische prosodische Realisierung die Spontaneität 76 seiner Entscheidung. Sie ist Ausdruck der Antizipation des Lehrers, es könnten sich mögliche Heferückstände im Kolben befinden. 2) Prüfverfahren Der Antizipation folgt ein Prüfverfahren, das zumindest als solches demonstriert wird: Der Lehrer nimmt den Kolben in die Hand und betrachtet den Kolbenboden (Abb. 66), an dem er die Rückstände gegebenenfalls vorfinden würde. Offensichtlich wird seine Annahme bestätigt, da er den Kolben abstellt und die Existenz der Hefe in der Äußerung weil hier unten noch so=n bisschen HEFe drin ist- (Z. 39) postuliert. Wenn er keine Heferückstände festgestellt hätte, könnte er den Kolben wieder zurück auf das Stativ stellen und ihn direkt erhitzen. Die Demonstration des Entscheidungsprozesses, der schließlich zu einer Änderung der praktischen Durchführung des Versuchs führt, wird durch das spezifische Verhalten des Lehrers bewerkstelligt und reflektiert gleichzeitig sein didaktisches Konzept von Chemieunterricht: Die Chemie wird hier als Wissenschaft dargestellt, in der - antizipiert, beobachtet und geprüft, - mit den vorliegenden Kontingenzen umgegangen wird und - Entscheidungen getroffen, - gegebenenfalls Planänderungen vorgenommen werden. Letztlich ist es ein integratives Unterrichtskonzept, das sich durch einen kontinuierlichen Arbeitsprozess auszeichnet, in dem es nicht nur um das Ergebnis der praktischen Aktivitäten geht, sondern auch um den Prozess, der zu genau diesem Ergebnis führt. 5.1.2.2 Der Hinweg zum Chemikalientisch Simultan zum Abstellen des Kolbens auf den Experimentiertisch und dem Ende der Intonationseinheit der Äußerung weil hier unten noch so=n bisschen HEFe drin ist- (Z. 39) dreht der Lehrer seinen Kopf nach rechts zum Chemika- 76 Zur Funktionalität der Interjektion ah (Z. 38) siehe z.B. Ehlich (1986). <?page no="163"?> Die klaren Fälle (I) - Beispiel 1: Siedesteinchen 163 lientisch (Abb. 67). Dieser dient ihm während des Unterrichts als eine Art ‘Werkzeugkasten’, weil er die Utensilien, chemischen Substanzen und Laborgeräte direkt greifbar macht, die der Lehrer vor der Stunde darauf bereitgestellt hat. Insofern wird durch den Chemikalientisch immer auch der interaktionsvorgängige Unterrichtsplan des Lehrers sichtbar, da man anhand des Arrangements erkennen kann, welche Gegenstände er für den Unterricht ursprünglich vorgesehen hatte. Während der Äußerung .hh wenn die mir sonst Anbrennt,=ist das (1.64) (Z. 40f.) läuft er zum Chemikalientisch. Dabei hält er seinen Blick kontinuierlich auf den Erlenmeyer-Kolben gerichtet, der in der Mitte des Chemikalientisches steht (Abb. 68). Er nimmt ihn in die rechte Hand (Abb. 69), dreht sich wieder zu der Versuchsapparatur hin und wechselt nun auch mit seinem Blick in diese Richtung (Abb. 70). 40 .hh wenn die mir sonst An brennt,= 68 41 =ist das (1.64) etwas EKl ig ; 69 70 In dem Kolben befinden sich bereits einige Siedesteinchen, die ‘hörbar’ werden, als der Lehrer den Kolben in die Hand nimmt, weil sie an der Gefäßwand klimpern. Außerdem schüttelt er den Kolben leicht und verstärkt damit das <?page no="164"?> Verfahren der Einführung von Objekten 164 Geräusch. Bevor der Lehrer verbal auf die Siedesteinchen Bezug nimmt, macht er sie einerseits visuell, vor allem aber auditiv für die Schüler wahrnehmbar, indem er ihre materiellen Eigenschaften nutzt. Obwohl Siedesteinchen als Material durchaus Thema für den Chemieunterricht sein könnten, dienen sie hier nur als Hilfsmittel. Aufgrund des übergeordneten Handlungszusammenhangs, des joint project (Clark 2007), den Alkohol in der Lösung nachzuweisen, und der implizit formulierten Motivierung des Lehrers, den Kolben mit den Siedesteinchen vom Chemikalientisch zu holen (vielleicht GIEß ich das erst noch mal AB (Z. 38)), wird der Relevanzstatus des Kolbens für die Schüler verständlich. Es handelt sich weder beim Kolben noch bei den enthaltenen Siedesteinchen um für den Versuch primäre fachspezifische Objekte, sondern um ‘Werkzeuge’, die für die Realisierung des Versuchs notwendig sind. Dieses Wissen wird den Schülern wieder nicht explizit mitgeteilt, sondern im Unterrichtsprozess und im spezifischen Verhalten des Lehrers demonstriert. Die Motivierung, zum Chemikalientisch zu laufen und einen sauberen Kolben zu holen, ist einerseits das Ergebnis seiner eigens produzierten Handlungsstruktur: Der Lehrer hat die Lösung im Kolben belassen, in der er sie eine Woche vorher angesetzt hatte. Das hat zur Folge, dass sich in der Lösung Heferückstände befinden, die nicht vollständig verbraucht wurden. In dem Moment, in dem er nun die Lösung erhitzen will, ist er mit den vorliegenden Strukturen konfrontiert und muss mit den räumlichen Kontingenzen umgehen. Er selbst hat sich durch seine Beobachtung und das anschließende Prüfverfahren dazu entschlossen, die Lösung abzugießen. Andererseits hat der Lehrer bereits vor der Unterrichtstunde antizipiert, dass sich Heferückstände im Kolben befinden, die beim Erhitzen der Lösung anbrennen könnten. Denn er hat den sauberen Kolben offensichtlich vor der Unterrichtsstunde auf dem Chemikalientisch bereitgestellt und mit einigen Siedsteinchen befüllt. Hier wird das Ineinandergreifen von Unterrichtsvorbereitung und De-facto- Didaktik 77 (Schmitt (Hg.) 2011) des Lehrers evident: Eine fundierte Unterrichtsplanung besteht unter anderem darin, zu antizipieren, mit welchen Problemen und Aufgaben der Lehrer während des Unterrichts konfrontiert sein könnte. Für einen Chemielehrer ist aufgrund seines fachspezifischen Anforderungsprofils besonders sein praktisches Tun von Bedeutung, das hinsichtlich möglicher Komplikationen durchdacht werden muss. Im Fallbeispiel zeigt sich dieser planende, antizipierende Arbeitsschritt im Erlenmeyer-Kolben, den er in Antizipation möglicher Heferückstände auf dem Chemikalientisch vorbereitet hat. 77 Zur detaillierten Beschreibung der De-facto-Didaktik siehe Kapitel 6. <?page no="165"?> Die klaren Fälle (I) - Beispiel 1: Siedesteinchen 165 Der Aspekt der De-facto-Didaktik des Lehrers manifestiert sich darüber hinaus in seinem Entscheidungsprozess. Er reagiert spontan auf die räumlichen Kontingenzen und macht sie gleichzeitig für sich nutzbar, indem er den Schülern fachspezifisches Wissen über bestimmte Arbeitsprozesse in der Chemie vermittelt, wie etwa der Dreischritt von Beobachtung, Prüfverfahren und Planänderung. Die Unterrichtsplanung stellt für ihn also keine starre Form dar, der unbedingt zu folgen ist. Ganz im Gegenteil ermöglicht diese Art der Vorbereitung dem Lehrer eine hohe Flexibilität, da er während des Unterrichts entscheiden kann, ob er auf die Vorbereitungen zurückgreift oder den durch die konkrete Unterrichtssituation hervorgebrachten Relevanzen folgt. 5.1.2.3 Sprechpause I: Der Rückweg zum Chemikalientisch Während der Lehrer zur Versuchsapparatur zurückgeht, bleibt er für circa vier Sekunden verbal abstinent (Heidtmann/ Föh 2007): 42 LE: (3.40) 71 Der Lehrer hält seinen Blick kontinuierlich auf die Versuchsapparatur gerichtet. Er wechselt den Kolben von der rechten in die linke Hand (vgl. Abb. 70), wodurch die Siedesteinchen im Kolben wieder hörbar werden. Mit seiner freigewordenen rechten Hand greift er noch auf dem Weg zur Versuchsapparatur den Kolben mit der alkoholischen Lösung, den er auf dem Experimentiertisch abgestellt hatte. Er hebt ihn eine Handbreit über der Pultfläche hoch und führt, jetzt hinter der Apparatur stehend, den sauberen Kolben mit der linken Hand zum Dreifuß (Abb. 71). Hier wird das hohe Maß an Ökonomie deutlich, dem er bei seiner Versuchsdurchführung folgt: Die einzelnen Aktivitäten werden nicht einfach schrittweise durchgeführt, sondern - wenn die räumlichen Strukturen es erlauben - werden mehrere Tätigkeiten gleichzeitig ausgeführt. Dadurch erhält sein praktisches Tun eine Dynamik, die alle einzelnen Tätigkeiten in einen Gesamtzusammenhang integriert. <?page no="166"?> Verfahren der Einführung von Objekten 166 Die hochgradig ökonomische Realisierung des Versuchs manifestiert sich außerdem in seiner Position hinter der Versuchsapparatur. Obwohl das Umgießen der Lösung neben der Apparatur wesentlich komfortabler bewerkstelligt werden könnte, wählt der Lehrer eine Position, in der er um das Stativ und den Dreifuß herumgreifen muss. Da er den Kolben auf dem Dreifuß abstellen und den folgenden Versuch aber genau von dieser Position aus durchführen muss, wäre es unter Umständen aufwändiger, wenn er sich nach dem Umgießen nochmals neu positionieren müsste. Insofern ist seine Position auch projektiv im Bezug auf die präferierten Folgeaktivitäten. Der Laufweg des Lehrers von der Apparatur zum Chemikalientisch und wieder zurück produziert für die Schüler in zweierlei Hinsicht Aufmerksamkeit. Einerseits ist die einsetzende Bewegung des Lehrers kontrastiv zum Lehrer- Schüler-Gespräch, in dem er über einen längeren Zeitraum hinweg eine stabile Position vor dem Pult eingenommen hatte. Der Kontrast von Statik und Dynamik ist besonders auffällig, und die Schüler können dem Phasenwechsel visuell folgen und den bevorstehenden Versuch dadurch antizipieren. Andererseits holt der Lehrer ein neues, bisher unbekanntes Objekt vom Chemikalientisch, das als solches ebenfalls Aufmerksamkeit produziert. 5.1.2.4 Zeigen der Siedesteinchen und verbale Referenz Der Lehrer hat sich hinter der Versuchsapparatur positioniert und hält in der linken Hand den sauberen Kolben mit den Siedesteinchen und in der rechten den Kolben mit der abzugießenden Lösung (Abb. 71). Seine Bewegung hat zunächst den Anschein, als wolle er den sauberen Kolben mit den Siedesteinchen auf den Dreifuß stellen und in diesen die Lösung aus dem anderen Kolben abgießen. Stattdessen nimmt der Lehrer nun aber verbal Bezug auf die Siedesteinchen und hebt den Kolben mit der linken Hand auf Augenhöhe hoch (Abb. 72-74): 43 LE: dann hab ich hier noch sol che KÖR N chen drin ? (--) 72 73 74 <?page no="167"?> Die klaren Fälle (I) - Beispiel 1: Siedesteinchen 167 72 73 74 75 76 77 Zeitgleich mit dem Einsatz seiner verbalen Aktivität beginnt er den Kolben zu heben (Abb. 72). Die Bewegung nach oben wird von seinem Blick begleitet, und bei der Äußerung von hab ich (Z. 43) schaut er am Kolben vorbei zu den Schülern (Abb. 72). Als er auf die Siedesteinchen referiert (solche KÖRNchen (Z. 43)), hat er seinen Blick auf den Kolben gerichtet (Abb. 73-74), der zu diesem Zeitpunkt, ungefähr auf Augenhöhe des Lehrers, seine maximale Höhe erreicht hat (Abb. 75). Simultan zur verbalen Referenz auf die Steinchen schüttelt er erneut den Kolben und lässt die Steinchen an der Gefäßwand klimpern. Das Schütteln des Kolbens erfolgt auf dem höchsten Punkt seiner Bewegung (vgl. Abb. 75). Das Verhalten des Lehrers produziert an dieser Stelle der Versuchssequenz wieder in mehrfacher Hinsicht Aufmerksamkeit: 1) Bewegung: Seine Bewegung besitzt im Gegensatz zu den vorangegangenen Tätigkeiten eine andere Bewegungsrichtung. Wie ein Peak in einem physikalischen Diagramm, wird der Kolben aus der Handlungsdynamik herausgelöst, sichtbar gemacht und anschließend wieder zurückgeführt. 2) Blickverhalten: Der Lehrer wechselt zum ersten Mal nach zwanzig Sekunden seine Blickrichtung, da er blicklich nicht mehr nur seinen Aktivitäten folgt, sondern erkennbar zu den Schülern sieht. 3) Verbale Aktivitäten: Der Lehrer wird nach einer vier Sekunden langen Gesprächspause wieder verbal aktiv. 4) Objektreferenz: Der Inhalt des Kolbens wird explizit thematisiert. 5) Auditive Wahrnehmbarkeit: Die Siedesteinchen klimpern durch das Schütteln des Kolbens hörbar an der Gefäßwand. Durch die Gesamtheit dieser Aspekte stuft der Lehrer seine Aktivität in ihrer Relevanz für das Unterrichtsgeschehen hoch. Er teilt den Schülern mit, worum es sich bei dem von ihm manipulierten Objekt, oder genauer, seinem Inhalt handelt. Die einzelnen Aspekte sollen noch einmal im Detail betrachtet werden: <?page no="168"?> Verfahren der Einführung von Objekten 168 1) Die Bewegung und 2) Das Blickverhalten Durch seinen Blick in die Klasse (Abb. 72) kann er einerseits überprüfen, ob ihm die Schüler in diesem offenbar relevanten Moment folgen, und andererseits forciert er dadurch die Adressierung an die Schüler. Hier ist es jetzt im Gegensatz zu den vorangegangenen Aktivitäten wichtig, dass alle Schüler zuhören und wahrnehmen, was sich in dem Kolben befindet. Während andere Objekte nicht benannt wurden, wie etwa der Dreifuß, fokussiert der Lehrer die Schüler nun mit der Bewegung, dem Blickverhalten und dem deiktischen Ausdruck hier (Z. 43) auf das entsprechende Objekt. Die Relevanzhochstufung seiner Aktivität darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie in die gesamte Versuchsdurchführung integriert ist und zur Entwicklungsdynamik der Sequenz beiträgt. Der Lehrer unterbricht durch seine Bewegung den Handlungszusammenhang nicht, sondern verdeutlicht im Gegenteil durch seine Position hinter der Apparatur und durch das gleichzeitige Halten beider Kolben die Inkorporierung der Aktivität in den Versuchsprozess. Dieser Aspekt tritt besonders durch die Verwendung des temporalen Konnektors dann (Z. 43) zutage. Er dient dem Lehrer als ‘Kontinuitätshinweis’ insofern, als er damit die aktuelle Tätigkeit als zeitliche Folge von seinen vorangegangenen Aktivitäten qualifiziert. 3) Verbale Aktivitäten Der Einsatz seiner verbalen Aktivität nach einer kurzen Phase verbaler Abstinenz verdeutlicht einen grundlegenden Aspekt des lehrerseitigen Anforderungsprofils: Der Lehrer muss sein praktisches Tun für die Schüler transparent und verstehbar machen, denn nur dann kommt er der zentralen Anforderung der Wissensvermittlung in angemessener Weise nach. Es gibt unterschiedliche Verfahren, die er dafür einsetzen kann, wie etwa das präsentative Aufbauen von Objekten, die Modalitätssynchronisierung oder die verbale Verstehensabsicherung (Putzier 2011). Das Verfahren des präsentativen Aufbauens folgt in der sukzessiven Realisierung von praktischen Arbeitsschritten dem Anspruch der Verstehbarkeit und nicht der Ökonomie. Während jedoch für das präsentative Aufbauen eine Minimierung verbaler Aktivitäten konstitutiv ist, wählt der Lehrer hier ein Bearbeitungsverfahren, in dem die Verbalität ein zentrales Element darstellt. Er referiert verbal auf den manipulierten Kolben bzw. seinen Inhalt (KÖRNchen (Z. 43)) und verwendet einen lokaldeiktischen (hier (Z. 43)) wie auch einen objektdeiktischen (solche (Z. 43)) Ausdruck, durch welche die Referenzialität ebenfalls zum Tragen kommt. <?page no="169"?> Die klaren Fälle (I) - Beispiel 1: Siedesteinchen 169 Dennoch liegt keine Modalitätssynchronisierung vor (vgl. Kap. 4), da der Lehrer keine Handlungsbeschreibung seines aktuellen Handlungsvollzugs vornimmt. Er produziert durch die Koordination seiner Bewegung und seiner verbalen Äußerung zwar ebenfalls die wechselseitige Stützung von Verbalität und Visualität, aber nicht in Form einer Synchronisierung von Sprache und praktischem Tun. Das Verfahren zeichnet sich vielmehr durch den qualifizierten Aspekt der Simultaneität aus. Dieser Aspekt stellt auch das Unterscheidungskriterium zum Verfahren der verbalen Verstehensabsicherung dar. Mit diesem Verfahren stellt der Lehrer nämlich unabhängig von der aktuellen praktischen Aktivität punktuell sicher, dass seine Schüler dem Handlungszusammenhang folgen können. Äußerungen, die der verbalen Verstehensabsicherung dienen, zeichnen sich meist durch unspezifische, alltagsweltliche Formulierungen aus, die oft keine substanziellen Informationen zur Unterrichtssituation liefern. Insofern kann das Verfahren verbale Verstehensabsicherung nicht mit der expliziten Thematisierung des Objekts bei dieser Objekteinführung in Übereinstimmung gebracht werden. 4) Objektreferenz und 5) auditive Wahrnehmbarkeit Bei der expliziten Thematisierung des Objekts durch die Äußerung solche KÖRNchen (Z. 43) verzichtet der Lehrer zunächst auf eine fachsprachliche Bezeichnung und wählt einen weitgehend alltagsweltlichen Ausdruck, welcher der materiellen Beschaffenheit der Objekte nahekommt. Der Begriff KÖRNchen referiert auf das Vorhandensein vieler, kleiner Entitäten. Stellt man außerdem die Tatsache in Rechnung, dass der Lehrer ein materielles Charakteristikum der Siedesteinchen, ihre ‘Hörbarkeit’, zur Einführung des Objekts nutzt, wird seine Primärorientierung bei der Einführung von Objekten deutlich: Die Materialität der Objekte, nicht ihre Benennung, ist das zentrale und primäre Kriterium, mit dem er fachspezifische Gegenstände in den Chemieunterricht einführt. Ein weiteres Indiz für die Alltagssprachlichkeit des Ausdrucks ist die Diminutivform, wobei sie jedoch aufgrund der analogen Diminutivform des Fachbegriffs ‘Siedesteinchen’ nicht überbewertet werden sollte. Es kann empirisch letztlich nicht überprüft werden, ob der Lehrer die Diminutivform funktional einsetzt oder sie einfach in Analogie zum Fachbegriff wählt. Zum Abschluss der Intonationseinheit führt der Lehrer den Kolben wieder auf die Höhe des Dreifußes zurück (Abb. 76), stellt ihn jedoch nicht ab, sondern hält ihn ein Stück davor fest (Abb. 77), um nun die Lösung in diesen Kolben abzugießen. Die Abwärtsbewegung des Kolbens wird auch im Blickverhalten deutlich: Der Lehrer senkt seinen Blick kontinuierlich ab, ohne dabei zu den Schülern zu schauen (Abb. 76-77). <?page no="170"?> Verfahren der Einführung von Objekten 170 Folgt man während der gleichen Intonationseinheit der rechten Hand des Lehrers, kann man feststellen, dass der Kolben mit der alkoholischen Lösung ebenso angehoben wird. Allerdings stoppt der Lehrer die Bewegung ungefähr auf Brusthöhe (hab ich (Z. 43)) (Abb. 74) und hält den Kolben konstant auf dieser Höhe, bis er den sauberen Kolben zum Dreifuß zurückgeführt hat (drin? (Z. 43)) (Abb. 77). Durch diese Konstellation, in der der Kolben mit der alkoholischen Lösung einige Zentimeter über dem Kolben mit den Siedesteinchen ist, kann er problemlos mit dem Abgießen beginnen. Die gleichzeitige Manipulation der beiden Kolben folgt wieder dem Aspekt der Ökonomie: Der Kolben mit der alkoholischen Lösung muss nicht zwischendurch abgestellt werden, sondern wird im Gegenteil vorbereitend in die Position gebracht, von der aus er schließlich zum Einsatz kommt. Insofern ist die Manipulation dieses Kolbens projektiv im Bezug auf den weiteren Versuchsverlauf. Insgesamt werden in diesem Segment des Gesamtausschnitts die zwei Grundanforderungen praktische Durchführung des Versuchs und Wissensvermittlung bearbeitet, die jeweils unterschiedlichen Prinzipien folgen (vgl. Kap 6). Bei der praktischen Durchführung des Versuchs stellt die Ökonomie das leitende Prinzip für den Handlungsvollzug dar: Es ist die Aufgabe des Lehrers, den Versuch experimentell durchzuführen und sein Handlungsziel - hier die Herstellung von Alkohol - zu erreichen. Dafür benötigt er unterschiedliche Laborgeräte, die teilweise noch organisiert werden müssen und teilweise bereits arrangiert sind. Außerdem muss er für einen möglichst reibungslosen Versuchsablauf sorgen und entscheidet sich daher für das Abgießen der Lösung, damit die Heferückstände nicht beim Erhitzen der Lösung anbrennen. Das gesamte praktische Tun des Lehrers ist ökonomisch organisiert und trägt der Tatsache Rechnung, dass dieser Versuch nur einen von vielen weiteren Versuchen innerhalb der Unterrichtsstunde darstellt. Es ist aber nicht nur die Zeitökonomie, welcher der Lehrer durch seine spezifische Realisierung des Versuchs folgt. Ihm steht auch nur eine begrenzte Menge an Laborgeräten zur Verfügung, deren Einsatz kalkuliert und sparsam erfolgen muss, damit sie beim nächsten Versuch wieder verwendet werden können und verfügbar sind, ohne dass der Lehrer sie alle zusammensuchen muss. Und zuletzt sollte die Anforderung des Interaktionsmanagements nicht unbeachtet bleiben, weil auch sie wesentlich zur ökonomischen Realisierung des Versuches beiträgt. Während den experimentellen Aktivitäten muss der Lehrer die Schüler in irgendeiner Form im Blick behalten: Er wird mit Schülerfragen oder mit Störungen konfrontiert und muss die Schüler auf den Versuch fokussieren. <?page no="171"?> Die klaren Fälle (I) - Beispiel 1: Siedesteinchen 171 Der Lehrer folgt jedoch nicht nur dem Prinzip der Ökonomie sondern auch dem Prinzip der Verstehbarkeit. Unabhängig davon, ob die Objekte als zentrale Ausgangsstoffe oder als Hilfsmittel eingesetzt werden, besteht die Aufgabe des Lehrers darin, ihre Funktion für den Handlungsvollzug zu verdeutlichen und relevantes Wissen über sie zu vermitteln. Einige Objekte erfordern keine explizite Thematisierung, weil sie aus anderen Unterrichtsstunden bereits bekannt und daher Bestandteil des fachlichen Schülerwissens sind, wie etwa der Dreifuß oder der Bunsenbrenner. Andere Objekte sind so zentral für den Versuch, dass sie verbal thematisiert werden. Wieder andere Objekte sind den Schülern unter Umständen gänzlich unbekannt und müssen daher als neue Objekte eingeführt werden. Die Verstehbarkeit des Handlungsvollzuges kommt nicht zwangsläufig durch verbale Aktivitäten zustande. Handlungen können auch durch eine deutliche, präsentative Realisierung für die Schüler verstehbar werden (vgl. das Verfahren präsentatives Aufbauen). Hier wählt der Lehrer ein Verfahren aus der Kombination präsentativer und verbaler Elemente, um die Verstehbarkeit seiner Aktivitäten zu gewährleisten: Die Siedesteinchen werden sichtbar hochgehalten und geschüttelt, während er gleichzeitig verbal auf sie Bezug nimmt. Es bleibt jedoch nicht beim Zeigen der Siedesteinchen und der verbalen, alltagssprachlichen Referenz. Als der Lehrer die beiden Kolben zusammenführt, um die Lösung abzugießen (Abb. 78), realisiert er eine zweite Äußerung, mit der er auf die Siedesteinchen referiert: 44 LE: das sind sogenann te SIEDesteinchen. 78 Die Äußerung kann auf thematisch-inhaltlicher Ebene als Explikation der vorangehenden Äußerung dann hab ich hier noch solche KÖRNchen drin? (Z. 43) <?page no="172"?> Verfahren der Einführung von Objekten 172 verstanden werden. Die zunächst alltagssprachlich als KÖRNchen (Z. 43) bezeichneten Siedesteinchen, werden als sogenannte SIEDesteinchen (Z. 44) in der korrekten Fachterminologie eingeführt. Hier ist zunächst die sequenzielle Position der Äußerung im Bezug auf den Handlungsvollzug des Lehrers interessant. Die fachsprachliche Referenz erfolgt nicht bei der Manipulation des explizierten Objekts oder gar bei der maximalen Extension der Bewegung, sondern ist ihr nachgestellt. Der Blick des Lehrers ist zu diesem Zeitpunkt wieder auf seine experimentelle Aktivität gerichtet. Alltagsweltlich könnte man davon ausgehen, dass im naturwissenschaftlichen Unterricht fachsprachliche Ausdrücke im Gegensatz zu alltagssprachlichen Ausdrücken präferiert werden. So wird die Fachspezifik eines Unterrichtsfachs auf verbaler Ebene meist mit Fachsprachlichkeit assoziiert. Zweifelsohne ist der naturwissenschaftliche Unterricht durch unterschiedliche fachspezifische Terminologien geprägt, und Teile des fachspezifischen Wissens werden durch Fachsprachlichkeit überhaupt erst konstituiert. So ist beispielsweise die Vorstellung vom Atomkern und der Atomhülle eines Elements ganz wesentlich mit der verbalen Beschreibung eines spezifischen Atommodells verbunden. Einige, vor allem strukturelle Aspekte der Chemie sind im Chemieunterricht hauptsächlich durch verbale Konzepte verfügbar (Atombau, chemische Bindung u.a.). Die Bedeutsamkeit und Funktionalität der Alltagssprache gerade in fachsprachlich orientierten Unterrichtsfächern sollte nicht unterschätzt werden. Im Verlauf des Kapitels wird das Verhältnis von Alltagssprachlichkeit und Fachsprachlichkeit bei der Objekteinführung weitergehend untersucht. An dieser Stelle soll nur darauf hingewiesen werden, dass bei der Analyse von Fachsprache wie Alltagssprache in einem praktisch dominierten Unterrichtsfach immer die Koordination von Verbalität und experimentellen Aktivitäten im Auge behalten werden sollte. Nur so kann die Sprachpraxis im Unterricht in ihrer Funktionalität für die Kernaktivität rekonstruiert werden. Im vorliegenden Beispiel entscheidet sich der Lehrer offensichtlich dafür, zunächst das Objekt einzusetzen, indem er es hochhält und visuell zugänglich macht. Diese Aktivität ist für ihn so relevant, dass er sein Blickverhalten manifest ändert und die Aufmerksamkeit der Schüler überprüfen kann. Die alltagssprachliche Formulierung (KÖRNchen (Z. 43)) unterstreicht genau die Aspekte der Materialität, die er auch beim Hochhalten und Schütteln des Kolbens präsentiert. Sowohl durch die Diminutivform als auch durch die Semantik des ‘Korns’ wird den Schülern verdeutlicht, dass es sich um kleine Entitäten handelt, die in fester Form vorliegen. Im Anschluss realisiert er die fachsprachliche Referenz, ohne dabei den Blick auf die Schüler zu richten. Dabei ist <?page no="173"?> Die klaren Fälle (I) - Beispiel 1: Siedesteinchen 173 die alltagssprachliche Formulierung nicht wesentlicher oder zentraler als die Fachsprache für den Chemieversuch. Aber sie wird offenbar an spezifischen Stellen im Versuchsverlauf präferiert. Das kann unterschiedliche Gründe haben, die bei der Analyse der anderen Fälle herausgearbeitet werden. Während der Lehrer die fachsprachliche Referenz auf die Siedesteinchen realisiert, vollzieht er eine Aktivität, für die er keine zusätzlichen Verstehenshinweise geben muss, weil sie aus sich heraus verständlich ist: Jeder Schüler kann das Abgießen der Lösung beobachten und nachvollziehen, insbesondere wenn man an den vorangegangenen, demonstrativ gestalteten Entscheidungsprozess denkt, in dem das Abgießen explizit thematisiert wurde. Der fachsprachliche Ausdruck wird im vorliegenden Beispiel also dann verwendet, wenn der Lehrer den Einsatz anderer Modalitäten reduziert oder sie als sekundär betrachtet. Dadurch stellt er sicher, dass der Fokus der Schüler auf das Verbale gerichtet ist und fachsprachliche Ausdrücke deutlich wahrgenommen werden können. So erfolgt auch hier die fachsprachliche Explikation erst im Anschluss, nachdem die Visualität wieder hinter der Verbalität zurücktritt. 5.1.2.5 Sprechpause II und thematische Expansion Nach der Explikation das sind sogenannte SIEDesteinchen. (Z. 44) folgt wieder eine kurze, verbal abstinente Phase, in welcher der Lehrer alleine der experimentellen Aufgabe nachgeht, die Lösung in den sauberen Kolben zu gießen. Sein Blick und seine Körperorientierung bleiben unverändert auf beide Kolben gerichtet (Abb. 79): 45 LE: (2.83) 79 <?page no="174"?> Verfahren der Einführung von Objekten 174 In der Reduktion seiner verbalen Aktivitäten manifestiert sich die Absorbiertheit des Lehrers (vgl. Putzier 2011). Die Absorbiertheit ist eine zentrale und folgenreiche Konsequenz, die sich aus dem fachspezifischen Anforderungsprofil des Chemielehrers ergibt: Er muss im Gegensatz zu Lehrern der sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächer zahlreichen praktischen Aktivitäten nachgehen, die oftmals eine hohe Konzentration erfordern. Dadurch verfügt er nicht über die üblichen Strategien, die ihm normalerweise zur Bearbeitung von beispielsweise Management-Aktivitäten zur Verfügung stehen. Deshalb muss er alternative Verfahren entwickeln, die sich durch einen reduzierten Einsatz von Verbalität und Monitoring-Aktivitäten (M.H. Goodwin 1980) auszeichnen und dennoch dazu dienen, das erwünschte Beteiligungsformat der Schüler herbeizuführen. Hier bleibt er für circa drei Sekunden verbal abstinent und widmet seine volle Aufmerksamkeit dem Umgießen der alkoholischen Lösung. Nachdem jedoch einige Milliliter abgegossen sind, wird er wieder verbal aktiv und setzt gleichzeitig seine praktische Aktivität fort. Er fragt die Schüler nach der Funktion von Siedesteinchen und nimmt die Schüler damit implizit in die Pflicht, mitzudenken. 46 LE: WOfür sind SIEDesteinchen gut; 80 47 (3.12) Darüber hinaus verdeutlicht er seine Präsenz und die Erfüllung seiner Lehrerpflichten: Auch bei experimentellen Aktivitäten, die eine hohe Konzentration verlangen, verfügt der Lehrer über die Strategie, die Schüler zu fokussieren und am Unterrichtsgeschehen zu beteiligen. Die implizite Verdeutlichung seiner ‘Situationskontrolle’ zeigt sich insbesondere nach der formulierten Frage. Als die Lösung abgegossen ist, ruft er Janosch auf, ohne seinen Blick von den Gefäßen abzuwenden (Abb. 81). <?page no="175"?> Die klaren Fälle (I) - Beispiel 1: Siedesteinchen 175 48 LE: JA nosch? 81 49 JA: das=s nicht (.) (auf)EINmal überkocht- 50 LE: genau. Es ist bemerkenswert, dass der Lehrer seinen Blick während der gesamten Äußerung und auch in der anschließenden Interaktionsdyade mit Janosch nicht aufrichtet. Vielleicht hat der Lehrer Janosch, der sich tatsächlich auf die Frage des Lehrers WOfür sind SIEDesteinchen gut (Z. 46) gemeldet hat (Abb. 82), aus dem Augenwinkel wahrgenommen. 82 Janosch sitzt in der ersten Reihe auf dem ersten Platz rechts vom Mittelgang des Klassenzimmers. Das ist ungefähr die Verlängerung der Kopforientierung des Lehrers. Unabhängig davon, ob er Janosch nun tatsächlich wahrgenommen hat oder nicht, demonstriert er den Schülern durch sein spezifisches Verhalten seine Situationsmächtigkeit. Er hat „seine Augen überall“, auch wenn <?page no="176"?> Verfahren der Einführung von Objekten 176 er wegen praktischer Aktivitäten weitgehend absorbiert ist. Bezogen auf die De-facto-Didaktik des Lehrers und die Interaktionsstruktur ist sein Verhalten hinsichtlich folgender Aspekte äußerst implikationsreich: 1) Relevanzgewichtung: Der Lehrer verdeutlicht durch sein Blickverhalten seine Relevanzgewichtung und seinen Primärfokus auf den Versuch. 2) Fokussierung: Durch sein Verhalten fokussiert er gleichzeitig die Schüler auf das visuell Wahrnehmbare. 3) Situationskontrolle: Seine Situationsmächtigkeit spielt er implizit aus, indem er den Schülern eine permanente Wachsamkeit auf ihre Aktivitäten suggeriert - auch wenn er in komplexe praktische Aktivitäten involviert ist. 4) Integration der Schüler: Die Schüler nehmen wahr, dass der Lehrer sie wahrnimmt und einbezieht, unabhängig von seiner Absorbiertheit durch praktische Aktivitäten. Der Versuch wird nicht unabhängig von ihnen durchgeführt, sondern findet in der und durch die gemeinsame Interaktion statt. Betrachtet man die sequenzielle Position der thematischen Expansion zum vorangegangenen Segment, in dem der Lehrer die Siedesteinchen präsentiert hat, folgt zunächst eine Gesprächspause. Das ‘Zeigen der Siedesteinchen’, das den Kern der Objekteinführung bildet, ist also von einer Pausenklammer umgeben, in dem der Lehrer verbal abstinent ist. Die Frage nach der Funktion der Siedesteinchen ist eine thematische Expansion des Themas, die nur verbal erfolgt und in den praktischen Aktivitäten keinen Niederschlag findet. 5.2 Das multimodale Verfahren ‘Objektdemonstration’ Auf der Grundlage der Analyse des Zentraldokuments soll in diesem Kapitel die Konzeptentwicklung erfolgen. Dabei geht es darum, das spezifische Verfahren zu rekonstruieren, das der Lehrer bei der Einführung von Objekten einsetzt. Im ersten Schritt wird das Verfahren ausgehend von der Fallanalyse entwickelt, d.h. zunächst in seinem ‘fallspezifischen Gewand’ belassen. In den folgenden Kapiteln wird durch den systematischen Vergleich mit anderen klaren und kontrastiven Fällen der Kollektion das Verfahren im Bezug auf seine Generalisierbarkeit überprüft und gegebenenfalls modifiziert (Kap. 5.3 und 5.4). Verfahren sind handlungsförmige, reproduzierbare und rekurrente Einheiten, die Interaktionsbeteiligte zur Bearbeitung konkret vorliegender Handlungsanforderungen einsetzen (Schmitt/ Kindermann/ Kühner 2011). In Anlehnung an das Konzept der kommunikativen Gattungen (Luckmann 1986; Günthner/ Knoblauch 1994) besteht ihre Grundfunktion in der Lösung spezifischer kommunikativer Probleme im allgemeinen Zusammenhang menschlicher Interaktion. Sie zeichnen sich durch eine „eigene, prägnante und ge- <?page no="177"?> Das multimodale Verfahren ‘Objektdemonstration’ 177 schlossene“ Kontur aus (Krafft/ Dausendschön-Gay 2003, S. 265), die durch das Zusammenwirken der einzelnen modalitätsspezifischen Konstituenten zustande kommt. Verfahren besitzen eine klare Außenstruktur, die sie von anderen Handlungen und Handlungskomplexen erkennbar abgrenzt und eine interne Strukturierung, die sogenannte Binnenstruktur (Luckmann 1986; Günthner/ Knoblauch 1994), die durch den mehr oder minder verbindlichen Einsatz unterschiedlicher Ausdrucksressourcen gekennzeichnet ist. Im Gegensatz zu den kommunikativen Gattungen bilden Verfahren oft kleinere, abgrenzbare Einheiten, die lokal wirksam sind und einen geringeren Verbindlichkeitsgrad im Bezug auf die zu bearbeitenden Anforderungen aufweisen. Sie stellen eine mögliche Variante der Problembearbeitung dar, die stets mit unterschiedlichen Chancen und Risiken verbunden ist und deren Einsatz vielmehr im Ermessen des Interaktionsbeteiligten liegt, der das Verfahren anwendet. Darüber hinaus sind sie weniger Bestandteil des aktiven Wissensvorrats der Interaktionsbeteiligten und werden oft unbewusst als Bearbeitung aktueller Anforderungen eingesetzt. Auf der Grundlage der Analyse des Zentraldokuments zeigte sich eine Form der Objekteinführung, für die ein spezifisches körperlich-räumliches sowie verbales Verhalten des Lehrers konstitutiv ist (vgl. Kap. 5.1). Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, wie Interaktionsbeteiligte Objekte in der Interaktion einführen können. Das hier zu rekonstruierende Verfahren soll im Folgenden als Objektdemonstration bezeichnet werden. Mit dem Verfahren Objektdemonstration bearbeitet der Lehrer in erster Linie die Anforderung der Wissensvermittlung: Er muss den Einsatz und die Funktion der Siedesteinchen im Versuchsverlauf für die Schüler verdeutlichen, wenn er der Wissensvermittlung als zentraler Anforderung schulischer Interaktion angemessen nachkommen möchte. Insofern reflektieren Verfahren immer auch die institutionell vorgegebenen Strukturen, in denen sie zum Einsatz kommen. Es gibt zahlreiche Verfahren, mit welcher der Lehrer die Einführung fachspezifischer Objekte bearbeiten könnte. Es wäre beispielsweise denkbar, dass er die Siedesteinchen zunächst verbal thematisiert und erst im Anschluss als Bestandteil der Versuchsdurchführung einsetzt. Er könnte auch darauf warten, bis die Schüler selbst nach der Bedeutung der Siedesteinchen für die Herstellung von Alkohol fragen oder in der anschließenden Tafelskizze zum Versuch den Einsatz der Siedesteinchen retrospektiv erläutern. Die Objektdemonstration ist eine mögliche Variante, die institutionell verankerte und interaktional manifeste Anforderung der Einführung fachspezifischer Objekte zu bearbeiten. Sie ist deutlich von den vorangehenden und folgenden Aktivitäten des Lehrers abgesetzt und weist eine interne Strukturierung auf, die durch den spezifischen Einsatz unterschiedlicher Ausdrucksressourcen <?page no="178"?> Verfahren der Einführung von Objekten 178 gekennzeichnet ist. Sie ist als komplexe, multimodale Gestalt reproduzierbar und kommt im Interaktionsverlauf rekurrent zum Einsatz. Mit ihr sind andere Chancen und Risiken als bei alternativen Verfahren der Einführung fachspezifischer Objekte verbunden, und ihr Einsatz ist an spezifischen Positionen im Interaktionsverlauf erwartbar. Die Objektdemonstration kann auf unterschiedlichen Ebenen beschrieben werden, je nach dem von welcher Perspektive aus das Verfahren betrachtet wird. Zunächst kann ausgehend von einer Außenperspektive auf das Verfahren danach gefragt werden, welche Eigenschaften dazu beitragen, dass es sich um ein von vorangehenden und folgenden Aktivitäten erkennbar abgegrenztes Verfahren handelt. An welcher Position im Interaktionsprozess setzt der Lehrer das Verfahren ein und mit welchen Mitteln wird der Beginn der Objektdemonstration markiert? Über welche zeitliche Dauer erstreckt sich das Verfahren? Inwiefern ist es Produkt der interaktiven Herstellung von Lehrer und Schülern, und welche Funktionalität ist genau mit seinem Einsatz verbunden? All diese Fragen zielen auf die Strukturmerkmale der Objektdemonstration, die in Kapitel 5.2.1 fokussiert werden. Im darauffolgenden Kapitel werden die Ausdrucksressourcen in den Blick genommen, die der Lehrer für die Objektdemonstration de facto einsetzt. Wird das Verfahren in erster Linie verbal realisiert oder zeichnet es sich durch eine komplexe, multimodale Gestalt aus, die durch das Zusammenspiel verbaler, körperlich-räumlicher Ausdrucksressourcen zustande kommt? In welchem Verhältnis stehen die einzelnen Modalitäten zueinander? Sind sie simultan organisiert oder folgen sie einem bestimmten sequenziellen Muster? Mit dieser zweiten Perspektive auf die Objektdemonstration rücken die modalitätsspezifischen Konstituenten des Verfahrens in den Fokus. Sie werden als eigenständige Ausdrucksmittel in ihrem Beitrag zur internen Strukturierung des Verfahrens analysiert. Dabei wird der Blick auch auf das Verhältnis der modalitätsspezifischen Konstituenten zueinander gelenkt (Kap. 5.2.2). Beide Perspektiven, sowohl die Außenals auch die Innenperspektive, sind für eine umfassende, ganzheitliche Beschreibung des eingesetzten Verfahrens notwendig. Im Folgenden soll die konsequente Einnahme erst der einen und dann der anderen Perspektive zu einer detaillierten Beschreibung der Strukturmerkmale bzw. der modalitätsspezifischen Konstituenten und ihrem Verhältnis zueinander führen. 5.2.1 Die Außenstruktur der Objektdemonstration Im Wesentlichen sind es vier Eigenschaften, mittels derer die Objektdemonstration in ihrer Außenstruktur beschrieben werden kann: Kontrastivität, Rahmung, Lokalität und Inkorporierung. <?page no="179"?> Das multimodale Verfahren ‘Objektdemonstration’ 179 5.2.1.1 Kontrastivität Die Objektdemonstration ist ein markiertes Verfahren, das sich von den vorangehenden und folgenden Aktivitäten des Lehrers deutlich absetzt. Betrachten wir noch einmal genau den Videoausschnitt an der Stelle, bevor der Lehrer die Siedesteinchen im Kolben hochhält: Der Lehrer läuft mit dem Kolben vom Chemikalientisch zurück zur Versuchsapparatur und positioniert sich direkt dahinter. In der rechten Hand hält er den Kolben mit der alkoholischen Lösung, während er den Kolben mit den Siedesteinchen in der linken Hand ungefähr auf Höhe des Dreifußes hält. Seit dem Rückweg vom Chemikalientisch ist er verbal abstinent und hält den Blick kontinuierlich auf den Kolben bzw. die Versuchsapparatur gerichtet. Als er den Kolben mit den Siedesteinchen schließlich hochhält, wird er auch verbal wieder aktiv und realisiert die Äußerung dann hab ich hier noch solche KÖRNchen drin (Z. 43). Er richtet seinen Blick nun auf die Schüler und schüttelt den Kolben, sodass die darin enthaltenen Siedesteinchen an der Gefäßwand klimpern (vgl. Abb. 72-77). In der Rekonstruktion des Ausschnitts wurde bereits deutlich, dass das Verhalten des Lehrers in besonderer Weise Auffälligkeit produziert. Dieser Aspekt der Auffälligkeit, der aus dem gesamten Verhalten des Lehrers resultiert, reflektiert den dem Verfahren zugrundeliegenden Mechanismus der Kontrastivität: Die Objektdemonstration wird durch unterschiedliche Teilaspekte sichtbar markiert und hebt sich von den vorangehenden Aktivitäten signifikant ab: a) Dynamik vs. Statik: Der Laufweg des Lehrers ist mit seiner Positionierung hinter der Versuchsapparatur abgeschlossen. Er wechselt von der Bewegung zum Chemikalientisch und zurück in eine relativ statische, stabile Position hinter der Versuchsapparatur. b) Wechselnde Blickorientierung: Nachdem der Lehrer für einige Zeit blicklich kontinuierlich auf seine praktischen Aktivitäten orientiert war, richtet er seinen Blick nun sichtbar in die Klasse. c) Einsatz verbaler Aktivitäten: Zeitgleich zur Manipulation des Kolbens beendet der Lehrer die verbal abstinente Phase und wird wieder verbal aktiv. d) Einsatz der signifikanten Gestikulation: Während die vorangegangenen Aktivitäten des Lehrers nicht von einer auffälligen Gestikulation gekennzeichnet waren, realisiert der Lehrer nun eine signifikante Gestikulation mit einer vertikalen Bewegungsrichtung. <?page no="180"?> Verfahren der Einführung von Objekten 180 5.2.1.2 Rahmung Der Aspekt der Rahmung des Verfahrens hängt eng mit der Kontrastivität zusammen. Die Objektdemonstration besitzt eine klare Rahmenstruktur, da sich das Verfahren kontrastiv von den vorangegangenen und folgenden Aktivitäten abhebt. Der Abschluss der Objektdemonstration ist analog zum Beginn des Verfahrens durch den kontrastiven Einsatz verschiedener Ausdrucksressourcen markiert. Der Lehrer verändert beispielsweise in manifester Weise sein Blickverhalten. Mit der Bewegung des Kolbens nach unten senkt er auch seinen Blick ab und fokussiert die beiden Gefäße (vgl. Abb. 77). Nachdem er die fachsprachliche Explikation das sind sogenannte SIEDesteinchen (Z. 44) realisiert, wird er wieder verbal abstinent und konzentriert sich auf seine experimentelle Aktivität. Die Rahmenstruktur des Verfahrens kommt also einerseits durch die multimodal realisierte Markierung des Beginns und des Abschlusses der Objektdemonstration zustande. Andererseits kann man ausgehend von der verbalen Ebene der Interaktion von einer Pausenklammer sprechen, die das Verfahren rahmt: 42 LE: (3.40) 43 dann hab ich hier noch solche KÖRNchen drin? (--) 44 das sind sogenannte SIEDesteinchen. 45 (2.83) Betrachtet man die Länge der Gesprächspausen im Gegensatz zu verbal abstinenten Phasen, in welchen er Versuchsvorbereitungen trifft und mitunter 21 Sekunden lang auf verbale Beiträge verzichtet, scheinen die beiden Sprechpausen von drei bis vier Sekunden nur wenig ins Gewicht zu fallen. Ausgehend vom Konzept der Redundanzmarkierung, das davon ausgeht, dass Bedeutung immer auf mehreren Modalitätsebenen gleichzeitig konstituiert wird, müssen die strukturellen Aspekte aller Modalitätsebenen in Rechnung gestellt werden, die zur Rahmung des Verfahrens beitragen. Es ist also nicht nur die Pausenklammer, d.h. das verbale Verhalten des Lehrers, das die Rahmenstruktur der Objektdemonstration konstituiert, sondern ebenso das Blickverhalten, die Gestikulation und der Wechsel von Statik und Dynamik im Verhalten des Lehrers. 5.2.1.3 Lokalität und zeitliche Erstreckung Die Objektdemonstration ist ein lokal wirksames Verfahren, mit dem der Lehrer die konkret vorliegende Handlungsanforderung bearbeitet, die Siedesteinchen als fachspezifische Objekte in ihrer Funktion für den Versuchsverlauf einzuführen. Es dauert nur so lange an, bis diese Anforderung hinreichend bearbei- <?page no="181"?> Das multimodale Verfahren ‘Objektdemonstration’ 181 tet ist. Die zeitliche Erstreckung des Verfahrens ist aber auch abhängig vom Status des Objekts für den Versuchsverlauf. Bei den Siedesteinchen handelt es sich um ‘Hilfsmittel’ oder ‘Werkzeuge’, da sie den Siedeverzug unterbinden. Würde der Lehrer die Demonstration der Siedesteinchen zeitlich stark expandieren, bestünde die Gefahr der unzutreffenden Relevanzmarkierung. Die Schüler müssten in diesem Fall davon ausgehen, dass es sich um für den Versuch zentrale Objekte handelt, da der Lehrer ihrer Demonstration offensichtlich viel Zeit einräumt. Die Objektdemonstration reagiert als Verfahren also auch auf die Objektrelevanz im Rahmen des aktuellen Versuchs. Sind die Objekte auf den thematischen Kern des Versuchs bezogen, da sie zentrale Ausgangsstoffe oder Endprodukte darstellen, kann die zeitliche Erstreckung der Objektdemonstration entsprechend länger ausfallen. Darüber hinaus hängt die Lokalität des Verfahrens mit den Adressaten zusammen, für die die Objektdemonstration zugeschnitten ist. Die Abhängigkeit der zeitlichen Erstreckung des Verfahrens vom recipient design (Sacks/ Schegloff 1979) wird insbesondere im Vergleich des Zentraldokuments mit einem anderen Beleg deutlich werden, in dem eine Lehrerin Objekte für Schüler einer fünften Klasse demonstriert. Die Schüler verfügen als Fünftklässler über kein oder ein sehr geringfügiges fachspezifisches Wissen. Für sie wäre die Form der Objektdemonstration, wie sie im Zentraldokument vom Lehrer realisiert wird, hinsichtlich ihrer Funktionalität der Wissensvermittlung völlig unzureichend. Sie könnten weder mit der alltagssprachlichen noch mit der fachsprachlichen Referenz auf die Siedesteinchen etwas anfangen und wären nicht imstande, die nachgeschobene Frage des Lehrers, WOfür sind SIEDesteinchen gut (Z. 46), zu beantworten. Verfahren, die durch das Strukturmerkmal der Lokalität charakterisiert werden können, sind in der Regel nicht auf Expansionen angelegt (Schmitt 2003, S. 240). Die thematische Expansion im vorliegenden Fallbeispiel ist unter einer didaktischen Perspektive zu verstehen: Mit der Frage nach der Funktion der Siedesteinchen fordert der Lehrer die Schüler implizit auf, sich am Unterrichtsgeschehen aktiv zu beteiligen. Er nimmt die Schüler also in die Pflicht, seinen praktischen Aktivitäten zu folgen und diese bezogen auf das Unterrichtsthema zu interpretieren. Die Schüler durch versuchsbezogene Fragestellungen während Versuchsphasen zu integrieren, in welchen vor allem Lehrer experimentell aktiv sind, gehört in der Chemiedidaktik zu den zentralen Strategien einer erfolgreichen ‘Demonstrationsmethode’ (van Horne 1930; Roadruck 1993; Beall 1996). Der punktuelle, lokale Charakter des Verfahrens konkurriert im vorliegenden Fall nicht mit der thematischen Expansion. Das wird an unterschiedlichen Aspekten deutlich: Der Lehrer behält seine Primärorientierung auf die experimentelle Aktivität bei und blickt nur ein einziges Mal zu den Schülern <?page no="182"?> Verfahren der Einführung von Objekten 182 (vgl. Abb. 72). Damit verdeutlicht er seinen Fokus auf die Versuchsdurchführung und interpretiert seine Frage selbst, im Sinne der conversational inference (Gumperz 1982) als Nebensequenz oder Insertion. Darüber hinaus ruft er einen Schüler auf, von dem er offensichtlich annimmt, er wisse die Antwort auf die von ihm gestellte Frage: 48 LE: JAnosch? 49 JA: das=s nicht (.) (auf)EINmal überkocht- 50 LE: genau. Der Lehrer umgeht hier das Risiko, einen Schüler aufzurufen, der die Frage unter Umständen nicht beantworten und gegebenenfalls durch Rückfragen einen breiteren Diskurs hervorrufen könnte. Janosch hingegen gibt auf die Frage in der Tat problemlos eine Antwort, die der Lehrer daraufhin mit der Äußerung genau (Z. 50) als korrekt bewertet. Durch diese typische ‘three turn sequence’ aus Initiation, Antwort und abschließender Evaluation (Mehan 1979; Lee 2007) wird die thematische Expansion abgeschlossen. Eine anschließende inhaltlich-thematische Erweiterung wäre hier strukturell in jedem Fall dispräferiert. Insofern ist die thematische Expansion äußerst kurz gehalten und verändert am punktuell-lokalen Charakter des Verfahrens nichts. Dabei tritt eine Ambivalenz in dem Anforderungsprofil des Lehrers zutage: Einerseits muss er die Demonstration der Siedesteinchen didaktisch-verbal aufbereiten, indem er die Schüler in die Phase integriert und sie als aktive Teilnehmer in die Verantwortung nimmt. Andererseits darf er die Phase nicht zu stark expandieren, weil er dann Gefahr läuft, unzutreffende Relevanzmarkierungen zu realisieren. Der Lehrer muss also permanent das Maß an verbaler Expansion ausgleichen, um das Verfahren mit einem Zuviel oder Zuwenig an Verbalität nicht zu gefährden. Die Expansionsfähigkeit des Verfahrens soll beim anschließenden systematischen Vergleich der Fälle noch eingehender untersucht werden. Das Verhältnis von Verbalität und Visualität hängt eng mit der Lokalität und zeitlichen Erstreckung des Verfahrens zusammen. Unterrichtsphasen, in denen die Visualität vorrangig ist, können nur lokal realisiert werden, weil der Aufmerksamkeitsfokus der Schüler andernfalls nicht aufrechterhalten werden könnte. Man stelle sich nur vor, ein Lehrer demonstriert eine ganze Unterrichtsstunde lang eine einzige chemische Reaktion, die er nur punktuell verbal kommentiert. Mit Sicherheit würden die Schüler die anfängliche Konzentration nicht aufrechterhalten können. Verbale Verstehensabsicherungen und versuchsbezogene Fragen sind für die didaktisch erfolgreiche Realisierung einer Demonstrationsphase also unumgänglich. Diese verbalen Aktivitäten wiederum müssen jedoch auch reflektiert eingesetzt werden, um - metaphorisch gesprochen - das Sichtbare nicht durch Sprache zu verdecken. <?page no="183"?> Das multimodale Verfahren ‘Objektdemonstration’ 183 5.2.1.4 Inkorporierung Mit dem Strukturmerkmal der Inkorporierung wird im Gegensatz zu den anderen Struktureigenschaften der Objektdemonstration die Qualität des Verhältnisses von Außenstruktur und angrenzenden Aktivitäten fokussiert. Bei der konstitutionsanalytischen Rekonstruktion des Ausschnitts wurde die Einbettung der Objektdemonstration in den Versuchsverlauf bereits deutlich: Durch die spezifische Position des Lehrers hinter der Versuchsapparatur, die gleichzeitige Manipulation beider Kolben und die kopulative Konjunktion ‘dann’, die dem Lehrer als Kontinuitätshinweis dient, indem er seine Aktivitäten den vorangegangenen Aktivitäten als zeitlich folgend qualifiziert, wird das Verfahren in den gesamten Versuchsverlauf inkorporiert. Ein alternatives Verfahren wäre durchaus möglich gewesen: Der Lehrer könnte die Dynamik der Versuchsdurchführung für die Objektdemonstration unterbrechen, indem er zunächst den Kolben mit der alkoholischen Lösung stehenlassen und sich neben der Versuchsapparatur positionieren würde. Von dort aus könnte er sich der alleinigen Demonstration der Siedesteinchen widmen und müsste zeitgleich nicht anderen Aktivitäten nachgehen. Ein solches Verfahren würde allerdings bezogen auf die praktische Durchführung des Versuchs nicht mehr dem Prinzip der Ökonomie folgen und wieder die Gefahr implizieren, die Siedesteinchen thematisch unangemessen in ihrer Relevanz hochzustufen. Durch die Inkorporierung der Objektdemonstration in den Versuchsverlauf wird das Verfahren nicht mehr als isolierbares Ereignis beschreibbar. Es ist eng auf den thematisch-pragmatischen Kontext bezogen und kann in seiner Qualität nur angemessen erfasst werden, wenn man der Einbettung in den Kontext Rechnung trägt. In der Inkorporierung als qualitatives Verhältnis von Außenstruktur und umgebenden Aktivitäten manifestiert sich wieder die multimodale Komplexität des Verfahrens: Die spezifische Form der Objektdemonstration, wie sie in dem vorliegenden Zentraldokument realisiert wird, hängt mit der Entwicklungsdynamik der Versuchsphase eng zusammen und kann nicht losgelöst von ihr untersucht werden. Der Lehrer muss für die Demonstration der Siedesteinchen den Kolben zunächst vom Chemikalientisch herbeiholen. Er manipuliert die im Anschluss demonstrierten Siedesteinchen also bereits im Vorfeld. Sie werden bei der ersten Manipulation sogar erstmals hörbar gemacht. Der Laufweg des Lehrers wiederum produziert Aufmerksamkeit, und er ist dadurch gegebenenfalls in besonderer Weise gezwungen, den Kolben und seinen Inhalt für den Versuch zu legitimieren bzw. zu verdeutlichen. All diese Aspekte bilden die Grundlage der spezifischen Realisierung der Objektdemonstration. Man kann sich also fragen, an welcher Stelle des Ausschnitts die Einführung der Siede- <?page no="184"?> Verfahren der Einführung von Objekten 184 steinchen eigentlich beginnt. Insofern handelt es sich bei diesem Verfahren um eine komplexe multimodale Gestalt, die sich im Kern in struktureller Hinsicht zwar durch Lokalität auszeichnet, jedoch nicht nur punktuell untersucht werden kann. Dieser Aspekt ist in methodischer Hinsicht besonders implikationsreich: Videoausschnitte, die als Belege in die Kollektion aufgenommen werden sollen, dürfen segmental nicht so eng gefasst werden, dass nur der Verfahrenskern, d.h. die Gestikulation bzw. Manipulation des Objekts zu sehen ist. Eine solche Segmentierung würde unter Umständen zur falschen Interpretation des Verfahrens führen. 5.2.2 Die interne Strukturierung der Objektdemonstration Bei der internen Strukturierung des Verfahrens werden nun die Ausdrucksressourcen analysiert, die der Lehrer bei der Objektdemonstration einsetzt. Zunächst sollen sie separat, im Bezug auf ihren jeweiligen Beitrag zur internen Verfahrensstrukturierung analysiert werden. Dieser erste Analyseschritt folgt dem methodischen Verfahren der rekurrenten Mehrebenenanalyse (Schmitt 2007b; Mondada/ Schmitt (Hg.) 2010), die dem interaktionskonstitutiven Mechanismus der Simultaneität als „permanente Gleichzeitigkeit koordinierter Verhaltensweisen“ (Schmitt (Hg.) 2007, S. 30) Rechnung trägt. Je Analysegang wird nur eine Modalität fokussiert, und die anderen in motivierter Weise ausgeblendet. Mit welcher Modalität begonnen wird, hängt letztlich mit der Spezifik des Untersuchungsgegenstands zusammen. Die Gestikulation wird als Erste betrachtet, weil sie ein evidentes Merkmal der Objektdemonstration ist, das der Bedeutung der visuellen Wahrnehmung für Versuchsphasen Rechnung trägt und ein zentrales Auswahlkriterium darstellt, das zur Konstitution der Kollektion führte. Unabhängig davon, welche Modalität für das spezifische Erkenntnisinteresse als Ausgangspunkt besonders naheliegt, ist ein solches Vorgehen immer auch problematisch, weil „es die theoretisch postulierte Egalität aller Modalitätsebenen bei der Analyse unterläuft“ (Mondada/ Schmitt (Hg.) 2010, S. 30). 5.2.2.1 Gestikulation Die Gestikulation bei der Objekteinführung soll im Folgenden in ihrer Form genauer untersucht werden. Um jedes Detail der Gestikulation zu erfassen, ist es notwendig, das Augenmerk zunächst ausschließlich auf den entsprechenden zweisekundenlangen Ausschnitt zu richten. Das hat zur Folge, dass man die Gestikulation des Lehrers gewissermaßen ‘isoliert’ betrachtet und aus dem Handlungszusammenhang herauslöst. Die Separierung der Gestikula- <?page no="185"?> Das multimodale Verfahren ‘Objektdemonstration’ 185 tion sollte bei der Analyse allerdings immer berücksichtigt und methodisch reflektiert werden, da man sonst zu einer Formbeschreibung kommen könnte, die vom pragmatisch-thematischen Kontext losgelöst ist. Die spezifische Form der Gestikulation ergibt sich jedoch gerade aus der Interaktionsdynamik und ist in ihrer hier realisierten Gesamtgestalt zunächst einzigartig. Die einzelnen Beschreibungskategorien, die sich dann aus der Analyse der Gestikulationsform ergeben, stellen formale Kriterien dar, mit denen auch andere Gestikulationen in anderen Kontexten beschrieben werden können. In jedem Fall lassen sich die Beschreibungskategorien per se nicht in einen Form-Funktionszusammenhang setzen. So erfüllt die ‘maximale Extension’ einer Gestikulation nicht notwendigerweise immer die gleiche Funktion. Im vorliegenden Ausschnitt wird der Kolben maximal weit hochgehalten und den Schülern mit seinem Inhalt demonstriert (vgl. Abb. 75). Es ist aber auch denkbar, dass der Lehrer eine maximal extensionale Gestikulation ausführt, weil er mit der Kreide am oberen Tafelrand etwas in seiner Skizze nachtragen möchte. In einem solchen Fall wäre der Lehrer nicht face-to-face, sondern mit dem Rücken zur Klasse orientiert. Er würde verbal sicher nicht auf das manipulierte Objekt, d.h. die Kreide referieren, aber das Beschreibungskriterium der maximalen Extension träfe ebenso auf diese fingierte Interaktionssituation zu. Die Form der Gestikulation sagt also, isoliert betrachtet, zunächst nichts über deren Funktionalität aus. Erst wenn sie als konstitutiver, modalitätsspezifischer Bestandteil des Verfahrens Objektdemonstration im Rahmen des pragmatisch-thematischen Kontextes betrachtet wird, kann ihre Funktionalität hinreichend erschlossen werden. Ausgehend von diesen Ausführungen wird hier von einer Gestikulationsgestalt ausgegangen, einer gesture unit (Kendon 2004), die von einer bestimmten Position aus beginnt und wieder dorthin zurückgeführt wird. Die Ausgangsposition der Gestikulation soll im Folgenden als Gestikulationsbasis im Sinne der home position (Sacks/ Schegloff 2002) bezeichnet werden und kann sich je nach Interaktionssituation unterschiedlich darstellen. Mit dem Begriff ‘Gestikulationsbasis’ werden keine Aussagen über die spezifische Qualität der Ausgangsposition gemacht, sondern nur auf das Vorhandensein einer Ausgangsposition verwiesen, von der ausgehend Gestikulationen ausgeführt werden. Betrachten wir den zweisekundenlangen Ausschnitt, in dem der Lehrer die zu untersuchende Gestikulation realisiert, noch einmal genau. Der Lehrer steht direkt hinter der Versuchsapparatur und hält den Kolben mit der linken Hand auf Bauchhöhe. Er umgreift den Kolben nicht am Flaschenhals, sondern am Flaschenbauch, indem er den Daumen von den restlichen Fingern wegspreizt (Abb. 83). <?page no="186"?> Verfahren der Einführung von Objekten 186 83 84 85 Der Kolben ist schräg nach links gekippt und wird vom Lehrer in dieser Position nach oben bewegt, wobei der Grad der Neigung bis zur Kinnhöhe des Lehrers zunächst noch zunimmt (Abb. 84). Der Lehrer beginnt den Kolben zu schütteln, in dem er ihn kurz gerade stellt und gleich daraufhin wieder nach links dreht. Die folgenden Schüttelbewegungen werden dann aber aus dem Arm und nicht mehr aus dem Handgelenk ausgeführt. Mit der letzten Schüttelbewegung führt der Lehrer den Kolben diesmal senkrecht auf Bauchhöhe zurück (Abb. 85). Das Absenken findet im Vergleich zum Hochhalten des Kolbens leicht nach rechts versetzt, direkt über dem Dreifuß statt. Versucht man nun aus der Analyse des Segments die wesentlichen Kriterien zu extrahieren, mit welchen die Form der Gestikulation adäquat beschrieben werden kann, erweisen sich folgende sechs Aspekte für die Gestikulation der Objektdemonstration als zentral: 1) Maximale Extension: Der Lehrer hält den Kolben mit den Siedesteinchen in maximaler Erstreckung von seinem Körper nach oben. 2) Einhändige Gestikulation: Die Gestikulation erfolgt mit der linken Hand bzw. dem linken Arm. 3) Oberer Gestikulationsbereich: Die Gestikulation des Lehrers findet im oberen Gestikulationsbereich statt. Er führt den Kolben von ungefährer Bauchhöhe nach oben und wieder zurück. 4) Pragmatische Handform: Die Handform des Lehrers ergibt sich aus der pragmatischen Notwendigkeit, einen Erlenmeyer-Kolben festzuhalten und zu manipulieren. Er ändert die Handform bei der Objektdemonstration nicht und behält sie auch beim anschließenden Umgießen der Lösung bei. 5) Pragmatische Gestikulationsbasis: Der Lehrer beginnt mit der Gestikulation von einer Ausgangsposition, in der er den Kolben auf Bauchhöhe vor seinem Körper hält. Diese Gestikulationsbasis ist pragmatisch, weil sie eine Position beschreibt, in der praktische Aktivitäten im Chemieunterricht in der Regel ausgeführt werden. Das Umgießen von Lösungen, das Anzünden des Brenners, die Zugabe von Indikatoren in Reagenzgläser sind alles experimentelle Aktivitäten des Lehrers, die ungefähr auf Bauchhöhe rea- <?page no="187"?> Das multimodale Verfahren ‘Objektdemonstration’ 187 lisiert werden, weil es eine für den Ausführenden angenehme, den pragmatischen Anforderungen zuträgliche Haltung ist und die Höhe des Pults eine solche Position außerdem nahe legt. 6) Frontal ausgerichtete Gestikulation: Der Lehrer hält den Kolben nicht seitlich von seinem Körper nach oben, sondern führt die Gestikulation vor seinem Körper sichtbar für die Schüler aus. Die formalen Kriterien können für sich genommen auch bei anderen Gestikulationen erfüllt sein, ohne dass ihnen das Verfahren der Objektdemonstration zugrundeliegen würde oder sie eine vergleichbare Funktionalität innehätten. Es sei momentan dahingestellt, ob die Gesamtheit der Kriterien auch für die Beschreibung einer anderen Gestikulation in einem anderen Kontext hinreichend sein könnte oder ob in diesem Fall die Funktionalität der Gestikulation zumindest partiell mit der Objektdemonstration übereinstimmen müsste. Zu einem späteren Zeitpunkt der Analyse wird ein Randfall zum systematischen Vergleich hinzugezogen, in dem sich die Funktionalität signifikant unterscheidet, der pragmatisch-thematische Kontext jedoch vergleichbar ist (Kap. 5.6.2). Es wird in jedem Fall eine der Hauptaufgaben sein, durch den systematischen Vergleich der Fälle die Funktionalität des Verfahrens herauszuarbeiten und in diesem Zusammenhang den Beitrag der modalitätsspezifischen Konstituenten zu dieser Funktionalität zu reflektieren. In diesem Kapitel geht es hingegen darum, die Strukturmerkmale der Objektdemonstration zu erfassen, die sie zunächst als Verfahren im Interaktionsprozess überhaupt erkennbar machen. 5.2.2.2 Verbalität Auch die Verbalität bildet eine modalitätsspezifische Konstituente der Objektdemonstration. Will man sie analysieren, muss man die übrigen Modalitäten motiviert ausblenden und allein das verbale Verhalten des Lehrers fokussieren. Da sich jede Modalität durch eine eigenständige Zeitlichkeit auszeichnet, die teilweise nicht mit der Zeitlichkeit der anderen Modalitäten übereinstimmt, gelangt man bei einem ausschließlich verbalen Fokus auf den Videoausschnitt zu einer anderen ‘Gestalt’ als bei der Analyse der Gestikulation. Bildete das Halten des Kolbens auf Bauchhöhe den Ausgangs- und Endpunkt der Analyse bei der Gestikulation, so ergeben sich bei der Analyse des Gesprochenen auf der Basis des Transkripts andere Segmentgrenzen: 42 LE: (3.40) 43 dann hab ich hier noch solche KÖRNchen drin? (--) 44 das sind sogenannte SIEDesteinchen. 45 (2.83) <?page no="188"?> Verfahren der Einführung von Objekten 188 Bei der Analyse der Außenstruktur der Objektdemonstration (Kap. 5.2.1) wurde die Äußerung des Lehrers bereits analysiert, indem sich die Pausenklammer als einen Teilaspekt des Strukturmerkmals Rahmung herausstellte. Die Sprechpause (Z. 42) liegt sequenziell vor der Ausgangsposition der Gestikulation und die abschließende Sprechpause (Z. 45) wird nach der Endposition der Gestikulation realisiert, sodass sich bei der verbalen Analyse des lehrerseitigen Verhaltens eine zeitlich ausgedehntere Gestalt ergibt. Allerdings ist der Lehrer nur in Zeile 43 und Zeile 44 verbal aktiv, was eine engere Segmentierung durchaus motivieren würde. Die Sprechpausen stellen jedoch einen konstitutiven Bestandteil der Strukturmerkmale der Objektdemonstration dar und sind als Aspekte verbalen Verhaltens im Transkript dokumentiert. Nachdem der Lehrer 3,40 Sekunden verbal abstinent war, realisiert er die Äußerung dann hab ich hier noch solche KÖRNchen drin das sind sogennante SIEDEsteinchen (Z. 43f.). Die Äußerung besteht aus zwei funktional selbstständigen Einheiten, in denen der Lehrer zunächst den Inhalt des Kolbens umgangssprachlich mit KÖRNchen (Z. 43) beschreibt und anschließend mit dem Fachbegriff SIEDEsteinchen (Z. 44) spezifiziert. Auf den temporalen Konnektor dann (Z. 43) zu Beginn der ersten funktionalen Einheit wurde bereits bei der Analyse des Videoausschnitts hingewiesen (Kap. 5.1). Der Konnektor dient dem Lehrer als ‘Kontinuitätshinweis’, der seine nun verbale Aktivität als zeitliche Folge der vorangegangenen (experimentellen) Aktivitäten qualifiziert. Im Bezug auf die strukturelle Beschaffenheit der Objektdemonstration trägt ein solcher Kontinuitätshinweis zur Inkorporierung des Verfahrens (vgl. 5.2.1.4) in die Interaktionsdynamik bei. Die verbalen Aktivitäten des Lehrers sind durch zwei zentrale Aspekte gekennzeichnet: durch die Verwendung von spezifischen deiktischen Ausdrücken (1) und den Einsatz des sogenannten Trichterformats (2). 1) Deixis Der Lehrer verwendet im ersten Teil seiner Äußerung zwei lokaldeiktische und einen objektdeiktischen Ausdruck. In der sequenziellen Abfolge der Deiktika wird zunächst die Lokaldeixis hier (Z. 43) und anschließend die Objektdeixis solche (Z. 43) realisiert. Den Abschluss der zweiten funktionalen Einheit bildet dann der lokaldeiktische Ausdruck drin (Z. 43), der eine umgangssprachliche Variante von ‘darin’ darstellt. Im zweiten Teil der Äußerung referiert der Lehrer mit der Objektdeixis das (Z. 44) schließlich rückverweisend auf die zuvor genannten KÖRNchen (Z. 43). Im signifikanten Einsatz von Deiktika manifestiert sich der pragmatisch-thematische Kontext der Interaktionssituation: Der Lehrer führt einen Chemieversuch durch, wofür er Objekte arrangiert und einsetzt, auf die er in vielfältiger Weise mit deiktischen Ausdrücken Bezug nehmen kann und muss. <?page no="189"?> Das multimodale Verfahren ‘Objektdemonstration’ 189 In der spezifischen Verwendung der Deiktika manifestiert sich ein Fachspezifikum des Chemieunterrichts: Der Lehrer zeigt nicht auf die jeweiligen Objekte im Raum, während er die Deiktika realisiert, sondern er manipuliert sie gleichzeitig. Unter einer ausschließlich verbalen Perspektive würde diese haptische Nähe von Origo und Demonstratum zunächst nicht ersichtlich werden. Im vorliegenden Fall ist es allerdings möglich, allein auf der Grundlage der Audiodatei die Manipulation des Kolbens zu „hören“, da der Lehrer den Kolben mit den Siedesteinchen schüttelt und diese an der Gefäßwand klimpern. Die Verwendung der Lokaldeiktika 78 dient also nicht nur der einfachen Objektidentifizierung und Objektlokalisierung. Im Zusammenspiel mit der präsentativen Manipulation wird das Objekt „dem Adressaten zur Anschauung dargeboten, damit er visuelle Evidenz im Hinblick auf bestimmte, wahrnehmbare Eigenschaften, erlangen kann“ (Stukenbrock 2015, S. 218). Es gibt zahlreiche Stellen, an denen der Lehrer deiktische Ausdrücke verwendet und gleichzeitig die Referenzobjekte manipuliert. Ebenso gibt es solche Ausschnitte, in denen der Lehrer deiktische Ausdrücke einsetzt, ohne Objekte zu manipulieren. In diesen Fällen zeigt er jedoch auch nicht auf die Referenzobjekte, sondern befindet sich in physischer Nähe zu ihnen. Die Koordination der zwei Ausdrucksressourcen, der verbalen Modalität und der Manipulation von Objekten, reflektiert die zentrale, praxeologische Anforderung im Chemieunterricht und die physische Nähe des Lehrers zu seinem Unterrichtsfach: Als Chemielehrer steht er vor allem vor der Aufgabe, experimentell aktiv zu sein. 2) Trichterformat Neben den deiktischen Ausdrücken zeichnet sich die Äußerungsgestaltung noch durch einen anderen interessanten Aspekt aus. Im Rahmen der Analyse des Zentraldokuments wurde bereits auf das Verhältnis von Alltags- und Fachsprache verwiesen. So verwendet der Lehrer in der ersten funktionalen Einheit den alltagssprachlichen Ausdruck KÖRNchen (Z. 43) und referiert erst im Anschluss, in der zweiten funktionalen Einheit, mit dem Fachterminus SIEDEsteinchen (Z. 44) auf den Inhalt des manipulierten Kolbens. Auf lexikalischer Ebene kann die zweite funktionale Einheit als Spezifizierung der ersten angesehen werden. Betrachtet man den alltagssprachlichen Ausdruck KÖRNchen in Zusammenhang mit dem pragmatisch-thematischen Kontext, erweist sich die scheinbar große Anzahl möglicher Referenzobjekte als Fehleinschätzung. Während im privaten Alltag mit KÖRNchen auf alle möglichen Substanzen referiert werden kann, ist der Ausdruck im Chemieunterricht, zumindest im Bezug auf die 78 Zur deixistheoretischen Betrachtung von Lokaldeiktika siehe Fricke (2007). <?page no="190"?> Verfahren der Einführung von Objekten 190 Materialität der Substanz, schon äußerst präzise. Die Objekte, die im Chemieunterricht eingesetzt werden, sind immer in irgendeiner Form für die praktische Durchführung von Experimenten relevant. So kann mit KÖRNchen beispielsweise nicht auf Weizenkörner oder Ähnliches verwiesen werden. Stattdessen können sie als Referenz für feste Substanzen gelten, die in Form kleiner Entitäten vorliegen. Diese materielle Eigenschaft wird durch die Verwendung des Ausdrucks vom Lehrer herausgestellt und scheint zunächst gegenüber dem Fachterminus präferiert zu sein. Die Spezifizierung der KÖRNchen mit dem Ausdruck SIEDEsteinchen erfolgt in der zweiten funktionalen Einheit. Hier liefert der Lehrer nun das fachsprachliche Äquivalent zu den KÖRNchen, wodurch er ebenfalls fachspezifisches Wissen vermittelt. Die Wissensvermittlung besteht hier in der Terminologisierung chemischer Sachverhalte bzw. relevanter Objekte im Chemieunterricht. Für die KÖRNchen gibt es eine fachsprachliche Bezeichnung, in der die Funktionalität der Substanz besonders evident ist: Sie werden immer dann eingesetzt, wenn etwas zum Sieden gebracht wird. Insofern steckt in der Formulierung im Gegensatz zum alltagssprachlichen Ausdruck zusätzliches, fachspezifisches Wissen. Dies sollte jedoch rückwirkend nicht so interpretiert werden, dass Fachsprache der Wissensvermittlung dient und Alltagssprache für andere Zwecke und Aufgaben eingesetzt wird. Auch die Formulierung KÖRNchen dient dem Lehrer zur Herausstellung fachspezifischer Eigenschaften. Wie genau sind die beiden Ausdrücke in der Äußerung nun in Beziehung gesetzt? Um diese Frage beantworten zu können, sollte ein Augenmerk auf die verschiedenen sprachlichen Ebenen der Äußerung gerichtet werden. Mit dem fachsprachlichen Ausdruck SIEDEsteinchen spezifiziert der Lehrer die zunächst alltagssprachlich als KÖRNchen bezeichnete Substanz: 43 LE: dann hab ich hier noch solche KÖRNchen drin? (--) 44 das sind sogenannte SIEDesteinchen. Darüber hinaus sind beide Lexeme durch die Diminutivform morphologisch in Beziehung gesetzt. Im Gegensatz zur Diminutivform in KÖRNchen ist die Diminutivform im Ausdruck SIEDesteinchen konstitutiver Bestandteil des fachsprachlichen Terminus, d.h. mit dem Ausdruck ‘Siedesteine’ ist ein anderes Referenzobjekt verbunden. Unabhängig davon, welche Funktionalität dem Morphem chen in beiden Fällen zukommt, werden die beiden Ausdrücke durch ihre analoge morphologische Struktur erkennbar aufeinander bezogen. Ähnlich verhält es sich mit der prosodischen Gestaltung der beiden Ausdrücke: Sowohl bei der Formulierung KÖRNchen als auch bei SIEDesteinchen liegt der Akzent auf der ersten Silbe der Wörter. Die Analogie in der prosodischen Gestaltung trägt ebenfalls zur Verdeutlichung des Zusammenhangs beider Ausdrücke bei. <?page no="191"?> Das multimodale Verfahren ‘Objektdemonstration’ 191 Im Hinblick auf die grammatikalische Struktur der Äußerung spielt der bereits genannte, objektdeiktische Ausdruck das (Z. 44) eine wesentliche Rolle. Der Lehrer referiert mit der Objektdeixis nicht auf den Ausdruck KÖRNchen, sondern auf die materiell vorhandene Substanz im Sinne von ‘das, was ich in meiner Hand halte’. Dadurch wird wieder die praxeologische Primärorientierung des Lehrers deutlich, die sich bereits im Ausdruck KÖRNchen manifestierte: Es geht in dieser Unterrichtsphase nicht so sehr um die genaue Beschreibung und Benennung der Objekte und Substanzen, die er im Versuch einsetzt, sondern vor allem um ihre Materialität und ihr faktisches Vorhandensein für diesen Versuch. Die Art und Weise, in der die Äußerung lexikalisch, semantisch, morphologisch und grammatikalisch gestaltet ist, führt zur Bildung eines spezifischen Formulierungsformats, das im Folgenden als ‘Trichterformat’ bezeichnet wird. Es zeichnet sich durch die allgemeine Struktur ‘hier ist X, das ist Y’ aus. Dabei ist ‘Y’ immer eine Spezifizierung von ‘X’ oder, anders formuliert, ist ‘X’ immer eine Verallgemeinerung von ‘Y’. Die Metapher der Trichters verweist dabei auf den zunehmenden Spezifizierungsgrad im Bezug auf das Referenzobjekt von X und Y: Mit dem allgemeineren Ausdruck X kann auf zahlreiche Referenzobjekte verwiesen werden, während mit Y immer ein spezifisches Referenzobjekt verbunden ist. Dieses spezifische Referenzobjekt ist immer bereits Teil der Menge der Objekte, die mit X bezeichnet werden können. Es wird durch den Ausdruck Y jedoch zum einzig gültigen Referenzobjekt. Interessant an dem Formulierungsformat ist seine Kombination zweier Konstruktionen, die in anderen Studien separat untersucht werden. Stukenbrock (2015) sieht den Unterschied von hier-Konstruktionen, wie sie im ersten Teil des Trichterformats realisiert werden, in dem stärker fokussierten Handlungsaspekt: Der Unterschied zwischen der Konstruktion hier ist/ sind X und der Konstruktion das ist/ sind X liegt darin, dass die hier-Konstruktion wie im vorliegenden Beispiel mit dem definiten Artikel gebraucht wird und dementsprechend einen Gegenstand konstituiert und individuiert, der als bekannt vorausgesetzt wird. [...]. Das Lokaldeiktikon fokussiert den Handlungsaspekt, das Präsentieren, Übergeben, Überreichen und damit die (Dynamik der) Transaktion selbst, nicht den Gegenstand. Umgekehrt wird die das ist/ sind X-Konstruktionen mit dem unbestimmten Artikel verwendet und fokussiert den Gegenstand selbst in seiner phänomenalen Qualität. (ebd., S. 224) Die unterschiedliche Funktionalität der beiden Konstruktionen bleibt dabei in ihrer Kombination, wie im Trichterformat, unverändert erhalten. Die vorgenommene allgemeine Beschreibung des Formulierungsformats wurde aus der fallspezifischen Formulierung des Lehrers im Beispiel ‘Siedesteinchen’ entwickelt. Im Rahmen der fallübergreifenden Analyse wird sich <?page no="192"?> Verfahren der Einführung von Objekten 192 zeigen, dass das hier beschriebene Trichterformat bereits als Kondensat der spezifischen Formulierungsdynamik gelten kann. Je nach Adressaten, Objekteigenschaften und Komplexitätsgrad des aktuellen Anforderungsprofils kann das Trichterformat eine komplexere und ausführlichere Struktur aufweisen. Der Lehrer hat für eine kondensierte und damit zeitlich kompakte Form des Trichterformats denkbar günstige Bedingungen: Die Schüler der zehnten Klasse verfügen bereits über ein solides chemisches Fachwissen. Im Rahmen zahlreicher Chemiestunden und Praktika waren sie bereits mehrfach mit Siedesteinchen konfrontiert. Deshalb kann Janosch problemlos die Frage nach der Funktionalität der Siedesteinchen beantworten. Darüber hinaus handelt es sich bei der Substanz um ein Hilfsmittel für den folgenden Versuch. Den Siedesteinchen kommt für die Herstellung von Alkohol keine zentrale Rolle zu, weswegen es völlig ausreicht, sie nur kurz zu thematisieren. Außerdem werden sie im Rahmen eines Demonstrationsexperiments eingesetzt, das allein vom Lehrer ausgeführt wird. Dem Lehrer bleibt es daher erspart, Instruktionen bezogen auf die Handhabung der Siedesteinchen vorzunehmen. Ein weiterer zentraler Aspekt für die günstigen Bedingungen eines kompakten Formulierungsformats ist der zu diesem Zeitpunkt relativ hohe Komplexitätsgrad des Anforderungsprofils: Der Lehrer befindet sich bereits in der Versuchsphase und ist daher mit zahlreichen experimentellen Aktivitäten, wie etwa dem Umgießen der Lösung, konfrontiert. Der thematisch-pragmatische Kontext legt eine relativ kurze Realisierung des Trichterformats nahe, da der Lehrer durch seine experimentellen Aktivitäten weitgehend absorbiert ist, was immer zu einer Reduktion verbaler Aktivitäten führt (Putzier 2011). 5.2.2.3 Blickverhalten Eine weitere wesentliche, modalitätsspezifische Konstituente für das Verfahren der Objektdemonstration stellt das Blickverhalten des Lehrers dar. Der Lehrer ist kontinuierlich auf seine experimentellen Aktivitäten orientiert, ohne seinen Blick auf die Klasse zu richten. Das Blickverhalten des Lehrers trägt der Tatsache Rechnung, dass er vorwiegend experimentell tätig ist und über einen relativ langen Zeitraum auf Monitoring-Aktivitäten verzichtet. Versucht man das Blickverhalten weitgehend unabhängig von den anderen modalitätsspezifischen Konstituenten zu betrachten, wird allein durch die Art und Weise, wie der Lehrer sich blicklich verhält, die Dominanz experimenteller Aktivitäten ersichtlich. Bei einer verbal dominierten Interaktionssituation wäre das Blickverhalten des Lehrers durch einen häufigeren Wechsel von den Schülern zum Experimentiertisch oder einen kontinuierlicheren Blick in die Klasse charakterisiert. <?page no="193"?> Das multimodale Verfahren ‘Objektdemonstration’ 193 Das Blickverhalten verändert sich für einen kurzen Moment, als der Lehrer seinen Blick auf die Schüler richtet (vgl. Abb. 72). Der Blick in die Klasse dauert etwa eine Sekunde, woraufhin der Lehrer seinen Blick wieder von der Klasse abwendet (vgl. Abb. 73ff.). Er wechselt jedoch nicht wieder zum leicht abgesenkten Blick, sondern richtet seinen Blick leicht nach oben. Erst danach senkt er den Blick ab und folgt mit seinem Blick ausschließlich seinen experimentellen Aktivitäten. Die isolierte Beschreibung seines Blickverhaltens wird verständlich, wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass der Lehrer zeitgleich den Kolben mit den Siedesteinchen hochhält. Für die Rekonstruktion des Verfahrens Objektdemonstration ist es jedoch produktiv, die einzelnen Modalitäten zunächst isoliert voneinander zu betrachten: Der Blickwechsel des Lehrers besteht nicht nur im punktuellen Blick auf die Schüler, sondern auch in seinem kurzzeitigen Blick nach oben, der sich kontrastiv zum abgesenkten Blick auf den Experimentiertisch verhält. Für den Blickwechsel als Aspekt der internen Strukturierung der Objektdemonstration ist also nicht nur der Blick in die Klasse, sondern auch der nach oben gerichtete Blick wesentlich. Die Funktionalität des Blicks zu den Schülern wurde bereits im Rahmen der Analyse des Zentraldokuments herausgestellt: Der Lehrer adressiert durch den Blick die Schüler in besonderer Weise und kann kurzzeitig überprüfen, ob sie seinen Aktivitäten folgen (Kap. 5.2). Durch die detaillierte Analyse des Blickverhaltens wird nun auch deutlich, wodurch die Fokussierung der Schüler bewerkstelligt wird: Der Lehrer blickt selbst auf den manipulierten Kolben. Er selbst realisiert die Blickrichtung, die durch die Objektdemonstration bei den Schülern hervorgerufen werden soll: Er beobachtet den Kolben und seinen Inhalt. Die Fokussierung der Schüler auf den Kolben ist dabei unabhängig davon, ob man den Blick des Lehrers als selbstkoordinatives Verhalten oder als Blick im Sinne des deictic gaze (Collis/ Schaffer 1975; Argyle/ Cook 1976; Bullowa 1979) begreift. Der Blick des Lehrers kann seiner Selbstorganisation dienen, insofern sein Blickverhalten mit der Manipulation des Kolbens koordiniert werden muss. Die Aktivitäten, die Interaktionsbeteiligte einsetzen, um ihre unterschiedlichen Ausdrucksmodalitäten aufeinander abzustimmen, werden als intrapersonelle Koordination (Schmitt/ Deppermann 2007) bezeichnet. Welche Implikationen die Selbstorganisation des Lehrers dabei für die Schüler hat, bleibt unter einer solchen Perspektive zunächst unbeachtet. Konzeptualisiert man hingegen das Blickverhalten des Lehrers als deictic gaze, rücken genau die Implikationen und interaktiven Bezüge seines Blickverhaltens in den Fokus. Der Begriff verweist auf das Potenzial, dass ein Interaktionsbeteiligter durch seine eigene Blickorientierung auf ein spezifisches Objekt die Aufmerksamkeit eines anderen Interaktionsbeteiligten auf dieses Objekt lenkt. Die spezifische Koordination des ostentativen Blicks und der Objektmanipulation dient dabei einer <?page no="194"?> Verfahren der Einführung von Objekten 194 verstärkten Betrachtungsaufforderung (Stukenbrock 2015, S. 218). Unabhängig also von der jeweiligen Perspektive, aus der das Blickverhalten des Lehrers beschrieben wird, hat seine Blickorientierung auf den Kolben Implikationen für die ihn wahrnehmenden Schüler. Eine wesentliche Implikation liegt dabei in der Fokussierung der Schüler auf das manipulierte Objekt. 5.2.2.4 Objektmanipulation Die Objektmanipulation gehört wie das Blickverhalten oder die Verbalität zu den Modalitätsebenen, die Interaktionsbeteiligte zur Konstitution und Strukturierung interaktiver Ordnung einsetzen (Mondada/ Schmitt (Hg.) 2010). Bei der Untersuchung der Manipulation von Objekten in Interaktion werden immer Aspekte der Materialität und ihres interaktionsstrukturierenden Potenzials in den Blick genommen (Goodwin 1996, 2000a; Hindmarsh/ Heath 2000a; Kallmeyer/ Streeck 2001; Klein/ Habscheid (Hg.) 2012; Koschmann et al. 2010; Mondada 2006b; Schmitt 2001, 2012c; Streeck 1996, 2011). Die Objektmanipulation ist im vorliegenden Ausschnitt unweigerlich mit der spezifischen Gestikulation des Lehrers verbunden und kann kaum isoliert betrachtet werden. Im Laufe der Versuchsphase wird der Kolben erstmals manipuliert, nachdem der Lehrer sein Vorhaben formuliert, die alkoholische Lösung abzugießen. Er holt den sauberen Kolben vom Chemikalientisch und trägt ihn zur Versuchsapparatur. Die Manipulation des Kolbens erfolgt also aus der pragmatischen Notwendigkeit für den Chemieversuch. Bereits bei der ersten Manipulation des Kolbens werden wesentliche Aspekte seiner Materialität deutlich: 1) Form: Durch die Form des Erlenmeyer-Kolbens kann der Lehrer das Gefäß gut mit einer Hand festhalten. 2) Material: Der Kolben ist aus Glas und gibt dadurch seinen Inhalt visuell preis. 3) Gewicht: Der Kolben ist relativ leicht, wodurch er einfach zu manipulieren ist. 4) Inhalt: Im Kolben befinden sich Siedesteinchen, die bei der Manipulation hörbar werden. Außerdem sind sie sichtbar, wenn der Beobachter nicht zu weit vom Kolben entfernt ist. Anhand der Beschreibung der materiellen Eigenschaften des Objekts wird Folgendes deutlich: Es handelt sich genau genommen um zwei unterschiedliche Objekte, die durch die Objektdemonstration eingeführt werden. Demonstriert werden die Siedesteinchen, die sich in dem Kolben befinden und vom Lehrer verbal expliziert werden. Manipuliert wird in erster Linie jedoch der Erlenmeyer-Kolben, der die Siedesteinchen für eine Objektdemonstration überhaupt erst handhabbar macht. Ohne den Kolben müsste der Lehrer die Siede- <?page no="195"?> Das multimodale Verfahren ‘Objektdemonstration’ 195 steinchen in die Hand nehmen, was aus unterschiedlichen Gründen für eine Objektdemonstration von Nachteil wäre. Zunächst könnte der Lehrer die Siedesteinchen nicht mehr ‘zeigen’, da ihre visuelle Wahrnehmung in der Hand des Lehrers nicht mehr gewährleistet würde. Die Hörbarkeit der Steinchen, die als wesentlicher Aspekt der Objektdemonstration gilt, würde ebenfalls durch die Manipulation mit der bloßen Hand unterbunden. Bei der Imagination möglicher Handlungsalternativen sollte man sich allerdings immer bewusst sein, dass sie „handlungsentlastet auf der Grundlage des analysierten Lehrerverhaltens in der untersuchten Situation“ (Schmitt (Hg.) 2011, S. 46) entstehen und nicht den Mechanismen der Interaktion unterliegen. Sie abstrahieren insofern auch immer vom pragmatisch-thematischen Kontext, der für die spezifische Realisierung eines Verfahrens wesentlich ist. Schließt man den pragmatisch-thematischen Kontext in die Überlegung möglicher Handlungsalternativen ein, erweist sich die Manipulation der Siedesteinchen mit der Hand allein deswegen nicht als praktikabel, weil der saubere Kolben im Versuchsverlauf ebenfalls Einsatz finden wird: Der Lehrer beabsichtigt, die alkoholische Lösung mit den Heferückständen in den sauberen Kolben umzugießen. Insofern ist die konkret realisierte Demonstration der Siedesteinchen Ergebnis der vorliegenden Handlungsstruktur und ihres pragmatisch-thematischen Kontextes. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass beide Objekte, Kolben und Siedesteinchen, in ihrer spezifischen Materialität für das konkret eingesetzte Verfahren der Objektdemonstration konstitutiv sind. Die Manipulation von Objekten ist also immer mit einer haptischen Nähe - ob mittelbar oder unmittelbar - von Interaktionsbeteiligten und Objekt verbunden. Dabei muss es sich noch nicht um das für das Verfahren zentrale Objekt handeln, welches durch die Objektdemonstration schließlich eingeführt wird. Es gibt zwei Perspektiven, unter denen die Materialität des Objekts eingehender analysiert werden kann. Unter einer interaktionsarchitektonischen Perspektive (vgl. Kap. 3) erweist es sich als sinnvoll, nach den Benutzbarkeitshinweisen (Hausendorf 2012a) zu fragen, die dem Kolben eingeschrieben sind. Welche Nutzung legt das Objekt durch seine spezifische Materialität besonders nahe? Unter einer solchen Perspektive steht man jedoch immer vor dem Problem, zu entscheiden, welche Benutzbarkeitshinweise dem Objekt inhärent sind und welche Benutzbarkeitshinweise sich aus der spezifischen Interaktionssituation bzw. dem thematisch-pragmatischen Kontext ergeben. Darüber hinaus kommt es immer auch darauf an, inwiefern der Betrachter für das ‘Lesen’ spezifischer Benutzbarkeitshinweise professionalisiert ist. Es wird durchaus Personen geben, die mit einem Erlenmeyer-Kolben nichts anzufangen wissen, sofern sie die dem Objekt eingeschriebenen fachspezifischen <?page no="196"?> Verfahren der Einführung von Objekten 196 Markierungen nicht verstehen. Allerdings sind diese Markierungen, wenn sie auch nicht explizit verstanden werden können, auch für einen Laien erahnbar (ebd.): Die Form verweist auf das Fassungsvermögen des Kolbens, der offensichtlich mit Substanzen befüllt werden kann. Die Skalierung auf der äußeren Kolbenwand macht deutlich, dass die Befüllung des Kolbens offenbar äußerst präzise geschehen kann und der Kolben vor allem für Flüssigkeiten genutzt wird, da die Skalierung in Milliliter-Angabe auf ein Volumenmessgerät deutet. Dieser Aspekt wird auch durch den engen Kolbenhals deutlich, der eine Befüllung des Kolbens mit voluminösen Substanzen äußerst unwahrscheinlich macht. Die Benutzbarkeitshinweise legen vor allem Anschlussmöglichkeiten für die Nutzer nahe, die zunächst mit einer praktischen Verwendung des Kolbens verbunden sind. In der Tat wird der Kolben im vorliegenden Videoausschnitt für die Versuchsdurchführung praktisch eingesetzt. Die Inkorporierung der Objektdemonstration in den Versuchsverlauf verdeutlicht diese praktische Primärorientierung: Der Kolben wird zwar für die Bearbeitung einer nichtexperimentellen Anforderung manipuliert, nämlich um die Siedesteinchen zu demonstrieren, doch diese Verwendung ist nur von kurzzeitiger Dauer und der Kolben bleibt in erster Linie als Laborgerät für die Versuchsdurchführung relevant. Unter der zweiten Perspektive kann man danach fragen, welche Rolle die materiellen Eigenschaften des Kolbens für die Objektdemonstration spielen oder allgemeiner formuliert: Inwiefern sind mit dem Objektdesign interaktionsstrukturelle Implikationen verbunden? Die interaktiven Bezüge, die mit der Manipulation des Kolbens verbunden sind, werden erst ersichtlich, wenn man den Einsatz des Kolbens im Zusammenhang mit dem Raum betrachtet, in dem er sich befindet: Da es sich bei dem Raum um ein Klassenzimmer handelt, in dem Unterricht stattfindet, ist der Einsatz des Kolbens im Rahmen der Interaktionssituation ‘Unterricht’ von Bedeutung. Im Gegensatz zu einem Chemielabor, in dem ein ausschließlich experimenteller Einsatz des Kolbens naheliegt, muss die Manipulation von Objekten im Unterricht immer auch unter dem Aspekt der Wissensvermittlung betrachtet werden. Die Manipulation von Objekten dient im Chemieunterricht neben der praktischen Durchführung von Versuchen vor allem der Vorführung praktisch-fachspezifischen Wissens. Die räumliche Ausstattung des Chemiesaals, die sich unter anderem durch den großen Experimentiertisch und dazu frontal ausgerichtete Sitzbänke der Schüler auszeichnet (vgl. Kap. 3), schafft die dafür nötigen Voraussetzungen. Der Lehrer agiert unausweichlich unter der Beobachtung seiner Schüler, die seine praktischen Aktivitäten wahrnehmen und verfolgen können und er selbst kann dabei wahrnehmen, dass er wahrgenommen wird. <?page no="197"?> Das multimodale Verfahren ‘Objektdemonstration’ 197 Für den Einsatz der Objektdemonstration ergeben sich bezogen auf das Objektdesign folgende Voraussetzungen: 1) Handhabbarkeit: Das Objekt muss hinsichtlich seiner Form, seines Gewichts und Materials so beschaffen sein, dass der Lehrer es problemlos einhändig manipulieren kann. 2) Unterrichtsrelevanz: Das Objekt muss für die aktuelle Unterrichtssituation eine erkennbare Relevanz besitzen, die der Lehrer den Schülern durch die Manipulation des Objekts und andere Modalitäten vermitteln muss. 5.2.2.5 Raum Raum ist als interaktive Ressource immer Wahrnehmungs-, Handlungs-, Bewegungs- und Spielraum zugleich (Hausendorf 2012b) und kann daher nicht vom Blick- und Körperverhalten der Interaktionsbeteiligten, ihrer Gestikulation und ihren Laufwegen abstrahiert werden. In Anlehnung an das Konzept der Situierung (Hausendorf 2007, 2012b) stellt die interaktive Konstitution des „hier“, also des Raums, eine zentrale Anforderung für die Herstellung von Interaktion dar. Da mit der Ko-Orientierung, Ko-Ordinierung, Ko-Operation und Ko-Enaktierung die zentralen Situierungsaktivitäten beschrieben sind, mit welchen das Problem des ‘wo ist hier’ jedweder Interaktionssituationen bearbeitet wird, spielen sie auch für das Verfahren der Objektdemonstration eine große Rolle. Es geht nun jedoch nicht darum, Raum in seiner für die Interaktionssituation ‘Chemieunterricht’ allgemeinen Relevanz zu erfassen (vgl. Kap. 3 und 4), sondern ihn als modalitätsspezifische Konstituente für das konkrete Verfahren eingehend zu analysieren. In diesem Kapitel soll dabei in erster Linie nach dem ‘wo’ der Objektdemonstration gefragt werden. Das Verfahren der Objektdemonstration findet im Demonstrationsraum statt, dessen Funktionalität und territoriale Struktur bereits im vorangegangenen analytischen Kapitel analysiert wurde (Kap. 4). Aus analytischer Perspektive ist es unproduktiv, den Laufweg des Lehrers zum Chemikalientisch und den Transport des Kolbens zur Versuchsapparatur als Demonstration zu bezeichnen. Auch das Umgießen der Flüssigkeiten im Anschluss wird nicht demonstriert. Der Lehrer gießt die Flüssigkeiten um und führt dies unter den Wahrnehmungswahrnehmungsstrukturen gleichzeitig den Schülern vor. Vorführen und Demonstrieren sind unterschiedliche Aktivitäten: Demonstrieren ist eine spezifische Qualität des Vorführens, die ein ‘Mehr’ an Fokussierung, recipient design u.a. aufweist. Die Objektdemonstration erfolgt also im interaktiv hergestellten Demonstrationsraum, der andere Grenzen als die physikalisch-territorialen Grenzen des Experimentiertischs aufweist (vgl. Kap. 4.3). Die interaktionsarchitektonische Ausstattung des Chemiesaals schafft für den Lehrer eine <?page no="198"?> Verfahren der Einführung von Objekten 198 wesentliche Voraussetzung für die erfolgreiche Demonstration von Objekten, sie ist für das Verfahren aber nicht hinreichend. Auf dem Experimentiertisch und dem daneben stehenden Chemikalientisch befinden sich zahlreiche chemische Substanzen, Laborgeräte und andere Gegenstände, die alle mehr oder weniger gut von den Schülern wahrgenommen werden können (Abb. 86). 86 Es ist nun die Aufgabe des Lehrers, den Schülern zu verdeutlichen, welche Objekte für den Versuch eingeführt werden. Er muss den Kolben mit den Siedesteinchen als für die Versuchsphase relevantes Objekt etablieren, indem er es unter anderem durch unterschiedliche Strategien in den Wahrnehmungsfokus der Schüler rückt. Die Schüler können den Kolben bereits beobachten, als der Lehrer ihn vom Chemikalientisch holt, um in ihn die Lösung mit den Heferückständen umzugießen. Die Relevanzmarkierung des Kolbens erfolgt im Anschluss beim Hochhalten und Schütteln des Kolbens, wodurch der Lehrer nicht nur den visuellen, sondern den auditiven Wahrnehmungsraum zur Fokussierung nutzt. Die Relevanz des Objekts wird durch seine markierte Sichtbarmachung verdeutlicht. Dafür spielen, über die extensionale Gestikulation des Lehrers hinaus, die Position und Körperorientierung eine große Rolle. Im Gegensatz zu den Schülern ist der Lehrer nämlich hinsichtlich seiner Ko-Orientierungs- und Ko-Ordinierungsaktivitäten wesentlich freier, oder anders formuliert: Er muss diese Situierungsaspekte als Fokusperson und Hauptakteur, der unter der kontinuierlichen Beobachtung der Schüler steht und den Raum - im Gegensatz zu den Schülern - motorisch erschließen kann, permanent bearbeiten. Durch seine Position und Körperorientierung macht er für die Schüler sein Verständnis des ‘Hier’ erkennbar, die ihrerseits für dessen Herstellung durch ihre Aufmerksamkeitsausrichtung beitragen. Der Lehrer steht ungefähr in der Verlängerung des Mittelgangs hinter dem Lehrerpult und ist frontal zu den Schülern orientiert. Hinzu kommt der in die Klasse gerichtete Blick des Lehrers während der Objektmanipulation. Durch die einzelnen Aspekte im Verhalten des Lehrers wird der spezifische Wahrnehmungsraum für die aktuelle Situation, in der die Objektdemonstration zum Einsatz kommt, interaktiv unter Voraussetzung der physikalisch-territorialen Gegebenheiten geschaffen. <?page no="199"?> Das multimodale Verfahren ‘Objektdemonstration’ 199 Des Weiteren handelt es sich bei der Objektdemonstration um ein sprachlichinteraktives Verfahren, für das verbale Aktivitäten konstitutiv sind. Immer dann, wenn in der Interaktion auch gesprochen und zugehört wird, greift die Situierung auf Elemente der Sprache zurück. So bedienen sich Interaktionsbeteiligte bei der Bearbeitung des ‘wo ist eigentlich hier’ bestimmter Formen der Deixis, der Lexik und der Grammatik, die letztlich „als Erstarrungen und Verfestigungen, sprachlich routinisierte Lösungen kommunikativ-interaktiver Situierungsaktivitäten“ (ebd., S. 10) gelten können. In Kapitel 5.2.2.2 wurde bereits auf die Verwendung deiktischer Ausdrücke hingewiesen, deren Funktion im Folgenden unter dem Aspekt der Situierung rekapituliert werden soll. Dabei soll sich hier auf die Deiktika beschränkt werden, die im engeren Sinne im Medium der Wahrnehmungswahrnehmung notwendig sind, insofern sie letztlich für nichts anderes als die Sichtbarmachung des Wahrgenommenen fungieren. Kehren wir noch einmal zu der Äußerung zurück, die der Lehrer während der Gestikulation und Manipulation des Kolbens realisiert: 43 LE: dann hab ich hier noch solche KÖRNchen drin? (--) Sowohl die Lokaldeixis hier (Z. 43) als auch die Objektdeixis solche (Z. 43) können als sprachliche Manifestationen des gemeinsamen Wahrnehmungsraums gelten. Der Lehrer verdeutlicht den Schülern in effektiver und zugleich unauffälliger Weise seine eigene Wahrnehmung und ‘unterstellt’ den Schülern gleichzeitig implizit, dass sein ‘Hier’ auch das ‘Hier’ der Schüler ist: Das von ihm Wahrgenommene ist auch wahrnehmungsrelevant für die Schüler. Unter dieser Perspektive kann auch die mit der Manipulation des Kolbens verbundene Gestikulation des Lehrers neu interpretiert werden: Es reicht nicht aus, die Armbewegung des Lehrers als funktional für die Fokussierung der Schüler durch die Sichtbarmachung des Kolbens zu betrachten, da dies bezogen auf die selbstkoordinativen Aspekte des Lehrerverhaltens zu kurz greifen würde. Die Manipulation des Kolbens ist vielmehr auch Ausdruck seiner eigenen Wahrnehmung, wobei ihm die Gestikulation als eine Art verlängerter Blick dient. Er selbst richtet seinen Blick bei der maximalen Extension der Bewegung auf den Kolben und die Siedesteinchen. Unterstützt wird dies durch die Sprache, die Lokaldeixis hier, die den Schülern die Relevanz visueller Wahrnehmung für die aktuelle Interaktionssituation explizit verdeutlicht. Besonders evident wird der Aspekt der Sichtbarmachung des Sehens durch die Objektdeixis solche. Mit dem Demonstrativpronomen verweist der Lehrer auf eine Beschaffenheit oder Eigenart dieser Körnchen, die ohne das materiell existente Objekt nicht verstanden werden kann. Auch hier soll das von ihm Wahrgenommene wahrnehmbar gemacht werden. <?page no="200"?> Verfahren der Einführung von Objekten 200 5.2.2.6 Koordinierung von modalitätsspezifischen Konstituenten Im ersten Abschnitt des Kapitels wurden die einzelnen modalitätsspezifischen Konstituenten der Objektdemonstration analysiert. Die analytisch zunächst isolierten Modalitäten sollen nun in ihrer simultanen Realisierung beschrieben werden. Die Simultaneität von Handlungsvollzug und Handlungsbeschreibung, die Modalitätssynchronisierung (vgl. Kap. 4.2.2), erfolgt nur punktuell an ‘ausgewählten’ Stellen der Interaktion und hat aufgrund seiner spezifischen Struktur und Funktionalität Verfahrenscharakter. Weitaus häufiger ist hingegen der Fall der referenziellen Koordinierung von Modalitäten: Der Chemielehrer vollzieht eine praktische Aktivität, während andere eingesetzte Modalitäten in erkennbarer Referenz zur praktischen Aktivität stehen. So ist er beispielsweise blicklich auf sein praktisches Tun fokussiert oder er referiert verbal auf ein gleichzeitig manipuliertes Objekt. Von dieser Form der Koordinierung verschiedener Modalitäten ist schließlich noch die der parallelen Koordinierung zu unterscheiden. Hier werden Modalitäten von Interaktionsteilnehmern im ursprünglichen Sinne des Simultaneitätsbegriffs ausschließlich gleichzeitig realisiert, ohne eine inhaltlich-thematische Abstimmung aufzuweisen. In praktisch dominierten Interaktionssituationen ist diese Form der Koordinierung mindestens genauso häufig wie der Fall der referenziellen Koordinierung. Der Lehrer kann während des Umgießens einer Flüssigkeit problemlos eine Frage stellen, die inhaltlich von der praktischen Aktivität völlig losgelöst ist. Für die Rekonstruktion des Verfahrens Objektdemonstration ist es sinnvoll, eine Differenzierung in der Qualität der simultanen Realisierung von Modalitäten vorzunehmen. Hierbei erweisen sich drei unterschiedliche ‘Stufen’ als zentral: 1) die parallele Koordinierung, 2) die referenzielle Koordinierung und 3) die Modalitätssynchronisierung. 1) Parallele Koordinierung Kehren wir zu der Stelle im Videoausschnitt zurück, als der Lehrer den Kolben mit der alkoholischen Lösung vom Dreifuß nimmt, weil er darin Heferückstände beobachtete. Er stellt den Kolben mit der Lösung auf dem Experimentiertisch ab und läuft zum Chemikalientisch, wo er den sauberen Kolben mit den Siedesteinchen holt. Zeitgleich ist er verbal aktiv, ohne auf seine aktuelle experimentelle Aktivität explizit zu verweisen: <?page no="201"?> Das multimodale Verfahren ‘Objektdemonstration’ 201 38 LE: .h ah (.) vielleicht GIEß ich das erst nochmal AB, 39 weil hier unten noch so=n bisschen HEFe drin ist- 40 LE: .hh wenn die mir sonst Anbrennt,= 41 =ist das (1.64) etwas EKlig; Geht man nur vom Verbaltranskript aus, so lassen lediglich die Sprechpausen eine parallele Aktivität erahnen. Der Lehrer scheint offensichtlich aufgrund einer parallelen Aktivität absorbiert zu sein, was sich in Form von verbaler Abstinenz in der Sprache niederschlägt. Darüber hinaus kann die Äußerung als Expansion der vorangegangenen Äußerung gelten, in welcher der Lehrer seine Absicht, die Lösung abzugießen, kundtut und sie mit dem Vorhandensein von Heferückständen begründet (Z. 38f.). In Zeile 40-41 formuliert der Lehrer eine mögliche Folge, denn die Lösung könnte - würde sie nicht abgegossen - anbrennen und das wäre etwas Eklig. Unter einer ausschließlich verbalen Perspektive ist die Äußerung in Zeile 40- 41 mit retrospektiven Implikationen verbunden, indem der Lehrer einen vorangegangenen Handlungskomplex - das Prüfverfahren und die anschließende Entscheidung, die Lösung abzugießen - verbal expandiert. Während der Lehrer verbal auf den vorangegangenen Handlungskomplex bezogen ist, nutzt er weitere Ausdrucksressourcen, um gleichzeitig einer anderen Aktivität nachzugehen. 40 LE: .hh wenn die mir sonst An brennt,= 87 <?page no="202"?> Verfahren der Einführung von Objekten 202 41 =ist das (1.64) etwas EKl ig ; 88 In seiner Körperorientierung, seinem Laufweg und Blickverhalten folgt er der praktischen Aktivität, den sauberen Kolben vom Chemikalientisch zu holen (Abb. 87) und ihn zurück zur Versuchsapparatur zu tragen (Abb. 88). Die praktische Aktivität hinterlässt in keiner Weise explizite Spuren in der Äußerung des Lehrers. Weder beschreibt er diese, noch referiert er punktuell auf das manipulierte Objekt. Die verbale und die übrigen Modalitäten sind nicht wechselseitig aufeinander bezogen, sondern lediglich parallel koordiniert. Der Lehrer nutzt die ihm zur Verfügung stehenden Ausdrucksressourcen an dieser Stelle des Videoausschnitts, um unterschiedliche Anforderungen simultan zu bearbeiten. Die parallele Koordinierung ist mit unterschiedlichen Funktionalitäten verbunden, je nachdem wo und wann sie in welcher Interaktionssituation realisiert wird. In diesem Fall ist sie eine relativ ökonomische Variante für den Lehrer, die Versuchsdurchführung zu organisieren. Während er verbal thematisch relevante Aspekte für den Versuch bearbeitet, kann er im praktischen Versuchsaufbau problemlos fortfahren. Mit der parallelen Koordinierung von Aktivitäten sind darüber hinaus immer unterschiedliche Implikationen verbunden, die der Lehrer auch gezielt nutzt: Als er die Lösung in den sauberen Kolben abgießt ist er blicklich und körperlich vollständig auf seine praktische Aktivität orientiert (Abb. 89). Selbst als er nach der Funktion der Siedesteinchen fragt, woraufhin sich einige Schüler melden, wechselt er diese invariante, fast statische Orientierung nicht. Ohne zu den Schülern zu blicken, ruft er Janosch auf (Abb. 90), der sich auf die Frage hin gemeldet hat. Unabhängig davon, ob der Lehrer Janosch peripher wahrnehmen konnte oder nicht, verdeutlicht er den Schülern hier implizit seine Wachsamkeit und Präsenz. <?page no="203"?> Das multimodale Verfahren ‘Objektdemonstration’ 203 46 LE: WOfür sind SIEDesteinchen gut; 89 47 LE: (3.12) 48 JA nosch? 90 Obwohl der Lehrer sichtbar weitgehend durch seine praktischen Aktivitäten absorbiert ist, kann er parallel einer anderen Aktivität, nämlich der inhaltlichthematischen Bearbeitung der Funktion der Siedesteinchen, nachgehen. In diesem Rahmen kann er sogar gesprächsorganisatorische Anforderungen bearbeiten und Schülermeldungen wahrnehmen. Diese „Präsentation von Wachsamkeit“ hinterlässt bei den Schülern einen Eindruck und ihnen wird implizit verdeutlicht, dass sie sich auch in Phasen scheinbarer Absorption des Lehrers immer über diese im Klaren sein müssen. <?page no="204"?> Verfahren der Einführung von Objekten 204 2) Referenzielle Koordinierung Die referenzielle Koordinierung ist eine bestimmte Ausprägung der Simultaneität von Modalitäten, die durch die Referenzialität zweier oder mehrerer Modalitäten gekennzeichnet ist. Im Videoausschnitt repräsentiert der ‘Kern’ der Objektdemonstration genau eine solche referenzielle Koordinierung: Als der Lehrer den Kolben mit den Siedesteinchen zur Versuchsapparatur gebracht hat, hält er diesen hoch (Abb. 91) und vollzieht folgende Äußerung: 43 LE: dann hab ich hier noch solche KÖRNchen drin? (--) 91 Im Gegensatz zur parallelen Koordinierung sind hier die Modalitäten wechselseitig aufeinander bezogen. In der verbalen Modalität verdeutlicht der Lehrer in mehrfacher Hinsicht, dass es gerade ein bestimmtes, materielles hier (Z. 43) gibt, worin (drin) sich eine bestimmte Substanz befindet, die mit solche KÖRNchen (Z. 43) bezeichnet werden kann. Mit der Manipulation des Objekts macht er dieses hier für die Schüler visuell wahrnehmbar und rückt die materiellen Eigenschaften von Siedesteinchen durch das Schütteln des Kolbens in den Wahrnehmungsfokus. Er nimmt referenziell auf unterschiedlichen Ausdrucksebenen auf den Kolben und seinen Inhalt Bezug. In der verbalen Modalität sind es die Deiktika und der Ausdruck KÖRNchen, in seinem Blickverhalten ist es der auf den Kolben fokussierte Blick, und hinsichtlich der Objektmanipulation ist es das sichtbare Hochhalten des Kolbens mit einer maximal extensionalen Gestikulation. Die referenzielle Koordinierung von Modalitäten zeichnet sich also durch die punktuell, lokalisierbare Bezugnahme der Ausdrucksressourcen aufeinander aus. Es wird jedoch nicht eine vollständige Handlungsbeschreibung des simultan realisierten Handlungsvollzugs vorgenommen. <?page no="205"?> Die klaren Fälle (II) - Beispiel 2: Bromthymolblau 205 3) Modalitätssynchronisierung Die Modalitätssynchronisierung wurde bereits im vierten Kapitel im Rahmen der Verfahren zur Aufrechterhaltung des Demonstrationsraums eingehend erläutert (Kap. 4.2.2), soll hier nur noch in Abgrenzung zur referenziellen und parallelen Koordinierung kurz skizziert werden. Die Modalitätssynchronisierung zeichnet sich im Gegensatz zur referenziellen Koordinierung nicht nur durch den punktuellen Bezug der Modalitäten, sondern durch die Gleichzeitigkeit von Handlungsvollzug und Handlungsbeschreibung aus. Das Verfahren der Modalitätssynchronisierung reagiert auf die dezidiert fachspezifische Anforderung, bestimmte Aktivitäten im Versuchsverlauf für die Schüler als explizit relevant auszuweisen. Es zeichnet sich im Gegensatz zu der parallelen und referenziellen Koordinierung durch seine Lokalität und spezifische Funktionalität aus, die es als Verfahren für konkret vorliegende Handlungszwecke in der Interaktion nutzbar machen. Die referenzielle Koordinierung kann hingegen über einen längeren Zeitraum hinweg kontinuierlich zum Einsatz kommen und bezeichnet insofern eine weniger spezifische Form der Simultaneität. Die parallele Koordinierung bezeichnet als allgemeinste Form der drei Abstufungen ganz grundsätzlich den generativen Mechanismus der permanenten Gleichzeitigkeit verschiedener Modalitäten bei der Herstellung interaktiver Ordnung. Für die Einführung von Objekten durch die Objektdemonstration ist die referenzielle Koordinierung konstitutiv. Die parallele Koordinierung und die Modalitätssynchronisierung erfolgen hingegen meist im Vorfeld oder unmittelbar nach der Objektdemonstration. 5.3 Die klaren Fälle (II) - Beispiel 2: Bromthymolblau Im Folgenden geht es nun darum, das aus dem Zentraldokument entwickelte Konzept der Objektdemonstration mit einem weiteren Fall zu vergleichen. Es ist dabei nicht notwendig, einen weiteren detaillierten, konstitutionsanalytischen Gang durch das Material vorzunehmen, sondern die Aufgabe besteht vielmehr darin, die entwickelten Aspekte auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen und gegebenenfalls zu modifizieren. Bei dem Beispiel ‘Bromthymolblau’ handelt es sich wie bei dem Beispiel ‘Siedesteinchen’ um einen klaren Fall, in dem alle in Auswahlkriterien eines clear case erfüllt sind. Sie liegen jedoch nicht in der prototypischen Form wie im Zentraldokument vor. Die Zuordnung des vorliegenden Beispiels zu den klaren Fällen, soll nun kurz anhand der einzelnen Kriterien erfolgen: <?page no="206"?> Verfahren der Einführung von Objekten 206 1) Maximale Extension: Dieses Kriterium variiert innerhalb der klaren Fälle am stärksten. Im Beispiel ‘Bromthymolblau’ hält der Lehrer ein Fläschchen mit einer Indikatorlösung nach oben. Die Gestikulation wird jedoch nicht maximal weit ausgeführt, sondern realisiert sich eher als ökonomische Variante, in dem der Lehrer die Flasche nur etwa auf Brusthöhe hält (Abb. 92). 23 LE: wie=wir jetzt wie HIER? (--) 24 diesen FARBstoff der WASser oder ALkohol je nach dem gelöst ist- 92 Diese spezifische Form der Objektdemonstration hängt eng mit der Materialität und der damit verbundenen pragmatischen Handhabbarkeit des Objekts zusammen, die im Folgenden noch detaillierter beschrieben werden soll. 2) Kurze zeitliche Erstreckung: Die Objektdemonstration ist nur von kurzer Dauer: Der Lehrer holt das Indikatorfläschchen vom Chemikalientisch und öffnet es mit der rechten Hand. Daraufhin zeigt es kurz seinen Schülern und führt seinen Versuch fort, indem er einige Tropfen des Indikators in ein Reagenzglas gibt. 3) Lokalität: Die Demonstration erfolgt lokal unmittelbar bevor der Lehrer das Indikatorfläschchen einsetzt. 4) Kontrastivität: Obwohl die Extension der Bewegung deutlich ökonomischer als bei Beispiel 1 ausfällt, ist die Demonstration erkennbar von seinen vorangehenden und folgenden Aktivitäten abgegrenzt. 5) Oberer Gestikulationsbereich: Die Bewegung erfolgt im oberen Gestikulationsbereich, hier etwa auf Brusthöhe des Lehrers. <?page no="207"?> Die klaren Fälle (II) - Beispiel 2: Bromthymolblau 207 6) Expressivität: Der Lehrer bedient sich unterschiedlicher Ausdrucksressourcen, um das Objekt den Schülern zu demonstrieren. Neben der Gestikulation und der Verbalität ist vor allem das Blickverhalten des Lehrers signifikant. 7) Verbalität: Während der Manipulation des Objekts realisiert der Lehrer folgende Äußerung: 23 LE: wie=wir jetzt wie HIER? (--) 24 diesen FARBstoff der WASser oder ALkohol je nach dem gelöst ist- 8) Referenzialität: Der Lehrer nimmt verbal auf das Indikatorfläschchen Bezug, indem er darauf mit diesen FARBstoff (Z. 24) referiert. 9) Simultaneität: Der Lehrer benutzt alle ihm lokal zur Verfügung stehenden Ressourcen, um das Indikatorfläschchen zu demonstrieren. 5.3.1 Außenstruktur Die Objektdemonstration wurde als Verfahren konzeptualisiert, mit dem der Lehrer auf eine spezifische Weise Objekte in Experimentalphasen einführt. Dabei wird der Lehrer einerseits praktisch tätig: Er manipuliert das Objekt, in dem er es nach oben hält. Andererseits strukturiert er genau durch diese spezifische Manipulation des Objekts die Wahrnehmung der Schüler und verdeutlicht ihnen unter Zuhilfenahme verschiedener Ausdrucksressourcen die Relevanz dieses Objekts. Für die Außenstruktur des Verfahrens haben sich die Aspekte der Kontrastivität, Rahmung, Lokalität und Inkorporierung als zentral erwiesen. Diese Konstituenten sollen nun auf der Grundlage des vorliegenden Beispiels überprüft werden. 5.3.1.1 Kontrastivität Wie im Zentraldokument ist die Objektdemonstration auch im vorliegenden Fall erkennbar von vorangehenden und folgenden Aktivitäten abgegrenzt. 1) Dynamik vs. Statik: Die Laufwege des Lehrers sind im Beispiel ‘Bromthymolblau’ mit dem Zentraldokument vergleichbar: Der Lehrer geht zunächst zum Chemikalientisch, um das Indikatorfläschchen zu holen. Die Objektdemonstration erfolgt erst, als er wieder zum Labortisch zurückgekehrt ist (Abb. 93-95). <?page no="208"?> Verfahren der Einführung von Objekten 208 93 94 95 2) Blickorientierung: Die Blickorientierung unterscheidet sich vom Blickverhalten des Lehrers im Zentraldokument. Im vorliegenden Beispiel erfolgt insofern kein signifikanter Blickwechsel, als er den Blick kontinuierlich auf den Chemikalientisch und dann auf das Indikatorfläschchen gerichtet hält. Die Tatsache, dass der Lehrer während der Objektdemonstration nicht zu den Schülern blickt, ist mit Implikationen für die Interaktionssituation verbunden: Sein kontinuierlicher, auf seine Utensilien gerichteter Blick ist Teil seiner intrapersonellen Koordination. Das durchzuführende Experiment besteht aus vielen einzelnen Teilversuchen, die der Lehrer alle organisieren muss und die ihn in seiner Aufmerksamkeit entsprechend absorbieren. Gleichzeitig verdeutlicht er den Schülern durch das spezifische Blickverhalten seine Primärorientierung auf das entsprechende Objekt und stuft es damit in seiner Relevanz hoch. Er strukturiert hier die Wahrnehmung der Schüler also manifester, als dies im Zentraldokument der Fall ist. Dies trägt wiederum der Tatsache Rechnung, dass es sich im Vergleich zu den Siedesteinchen beim Indikatorfläschchen nicht ‘nur’ um ein Hilfsmittel handelt, sondern um eine relevante chemische Substanz, die für das Experiment eine notwendige Komponente darstellt. Insofern ist das kontinuierliche Blickverhalten der Funktionalität des Objekts für das Experiment geschuldet. 3) Einsatz verbaler Aktivitäten: Beim Laufweg des Lehrers zum Chemikalientisch bleibt der Lehrer verbal abstinent. Als er zum Labortisch zurückkehrt, wird er wieder verbal aktiv. Im Vergleich zum Zentraldokument erfolgt sein Redebeitrag relativ zum Laufweg jedoch etwas früher (Abb. 96). <?page no="209"?> Die klaren Fälle (II) - Beispiel 2: Bromthymolblau 209 21 LE: (6.65) 96 4) Einsatz der signifikanten Gestikulation: Die Gestikulation fällt weniger signifikant aus als im Zentraldokument. Der Lehrer hält das Indikatorfläschchen nur etwa auf Brusthöhe. Während er auf das Objekt referiert, hebt er es etwas nach oben und öffnet seine linke Hand, in der er das Indikatorfläschchen hält, sodass die Flüssigkeit sichtbar wird (vgl. Abb. 92). Diese weniger markierte Gestikulation ist einerseits mit der Materialität des manipulierten Objekts verbunden: Beim Indikatorfläschchen handelt es sich um eine Flasche mit sogenanntem Pipettenaufsatz, bei der auf der Glasflasche direkt eine Pipette montiert ist, mit der die Flüssigkeit entnommen werden kann. Der Lehrer hält das Fläschchen mit der linken Hand fest, während er mit der rechten Hand die Pipette einsatzbereit macht. Durch diese, im Vergleich zur Gestikulation im Zentraldokument invariante Positur hat der Lehrer einen stärker eingeschränkten Gestikulationsbereich, der eine maximale Extension erschwert. Andererseits wird in der spezifischen Gestikulation eine stärkere Ökonomie-Orientierung deutlich. Der Lehrer könnte das Fläschchen analog zu den Siedesteinchen zunächst hochhalten und erst dann die Pipette benutzen. Er orientiert sich hier jedoch vor allem am reibungslosen Fortgang des Experiments. Zusammenfassend bestätigt der Vergleich des Zentraldokuments mit dem vorliegenden Beispiel die Kontrastivität erneut als zentrale Konstituente des Verfahrens. Durch den Vergleich beider Dokumente hat sich herauskristallisiert, dass das Ausmaß der Kontrastivität hinsichtlich zweier Aspekte variieren kann: <?page no="210"?> Verfahren der Einführung von Objekten 210 - im Bezug auf die Materialität des Objekts und - auf die situationssensitive Orientierungspräferenz des Lehrers (Prinzip der Ökonomie vs. Prinzip der Wissensvermittlung). 5.3.1.2 Rahmung Die Objektdemonstration wird durch das spezifische Verhalten des Lehrers, wie etwa durch seinen Laufweg, gerahmt. Analog zum Zentraldokument wird die Rahmung auf der Ebene der Verbalität durch zwei Sprechpausen ‘hörbar’. 21 LE: (6.65) 22 WIR haben zum beispiel stoffe 23 wie=wir jetzt wie HIER? (--) 24 diesen FARBstoff der WASser oder ALkohol je nach dem gelöst ist- 25 je nach dem welche EIGenschaften der hat. (---) 26 äh: : (--) 27 das=ist jetzt BROM(.)thyMOL(-)BLAU; 28 (4.12) Im Sinne der Redundanzmarkierung erfolgt die Rahmung wieder auf mehreren Modalitätsebenen. Die Rahmung erweist sich erneut als zentrale Konstituente des Verfahrens. Wie die Kontrastivität fällt auch die Rahmung im vorliegenden Beispiel weniger signifikant aus. Dies hängt neben den unter dem Punkt der Kontrastivität aufgezeigten Aspekten unter anderem mit der Dauer des Redebeitrags des Lehrers zusammen, den er während des Verfahrens realisiert. Er ist umfangreicher als im Zentraldokument, weil der Lehrer den Schülern hier Zusatzinformationen zu dem manipulierten Objekt mitteilt, die bei der Demonstration der Siedesteinchen nicht notwendig waren. Dies hängt wiederum mit der Funktionalität des Objekts als zentrale chemische Substanz zusammen, während es sich bei den Siedesteinchen nur um Hilfsmittel handelt. Sie bedürfen weniger Informationen, während der Indikator hinsichtlich seiner Eigenschaften kurz beschrieben wird. Es ergibt sich daher ein weiterer Faktor, der das Ausmaß einer Konstituente, hier der Rahmung, beeinflusst: Die Funktionalität bzw. Relevanz des Objekts für das Experiment. 5.3.1.3 Lokalität Die lokale Wirksamkeit der Objekteinführung wird im vorliegenden Beispiel analog zum Zentraldokument deutlich. Das Verfahren erstreckt sich über einen begrenzten Zeitraum und ist nicht auf Expansionen angelegt. Bei der Analyse des Zentraldokuments wurde die Dauer des Verfahrens bereits hin- <?page no="211"?> Die klaren Fälle (II) - Beispiel 2: Bromthymolblau 211 sichtlich der Objektrelevanz charakterisiert: Bei den Siedesteinchen handelt es sich nur um Hilfsmittel, auf die der Lehrer daher vergleichsweise kurz referiert. Das Verfahren erstreckt sich im vorliegenden Beispiel deswegen über einen längeren Zeitraum, da das eingeführte Objekt, also das Indikatorfläschchen, eine fachlich höhere Relevanz für den Versuch aufweist. Die chemische Reaktion des Säurenachweises kann nur durch Zugabe des Indikators erfolgen. Er stellt also eine notwendige Komponente des Experiments dar. Der Lehrer vermittelt den Schülern hier zusätzliche Informationen über das eingeführte Objekt: Der Indikator ist ein Farbstoff, der in Wasser oder Alkohol gelöst werden kann, je nachdem welche Eigenschaften er aufweist. Zusammenfassend ist die Lokalität als zentrale Konstituente des Verfahrens, wie die Rahmung, eng an die Relevanz des Objekts für das Experiment gebunden. Handelt es sich um eine zeitlich expandierte Objektdemonstration, ist damit zu rechnen, dass der Lehrer Objekte einführt, die sich durch eine hohe fachliche Relevanz für das Experiment auszeichnen. 5.3.1.4 Inkorporierung Die Objektdemonstration des Indikators ist, wie auch die der Siedesteinchen, in den Handlungsverlauf inkorporiert. Sie kann nicht vom thematisch-pragmatischen Kontext isoliert betrachtet werden, sondern ergibt sich durch die spezifische Entwicklungsdynamik des Experiments. Besonders manifest wurde die Inkorporierung bereits im beschriebenen Blickverhalten des Lehrers: Er hält seinen Blick kontinuierlich auf seinen Handlungsbereich gerichtet und blickt während der Objektdemonstration zu keinem Zeitpunkt in die Klasse. Dieses Blickverhalten reflektiert die Tatsache, dass es sich bei dem Versuch um einen Teilversuch einiger folgender Experimente handelt, die der Lehrer sukzessive durchführt. Dadurch ergibt sich wiederum die weniger extensionale Gestikulation. Die Inkorporierung ist im vorliegenden Beispiel als Konstituente für das Verfahren besonders signifikant. Sie hängt eng mit der Zeitlichkeit des aktuellen Experiments zusammen und lässt Rückschlüsse auf die Komplexität des Experiments zu. 5.3.2 Interne Strukturierung Nachdem sich die Verfahrenskonstituenten der Außenstruktur im Beispiel ‘Bromthymolblau’ ebenfalls als zentral erwiesen haben, gilt es nun die interne Strukturierung des zweiten klaren Falls mit dem Zentraldokument zu vergleichen. <?page no="212"?> Verfahren der Einführung von Objekten 212 5.3.2.1 Gestikulation Auf die Unterschiede zwischen der Gestikulation im vorliegenden Beispiel und im Zentraldokument wurde bereits verwiesen. Sie erfolgt aufgrund der spezifischen Objektmaterialität und der Orientierung des Lehrers am Prinzip der Ökonomie nicht maximal extensional und nicht einhändig. Hier sollen nun die Gemeinsamkeiten kurz dargelegt werden: 1) Oberer Gestikulationsbereich: Die Gestikulation des Lehrers findet im oberen Gestikulationsbereich statt. Er führt das Indikatorfläschchen von ungefährer Bauchhöhe auf Brusthöhe und wieder zurück (Abb. 97-99). 22 LE: WIR haben zum beispiel stoffe 23 wie=wir jetzt wie HIER? (--) 24 diesen FARB stoff der WASser oder ALkohol je nach dem gelöst ist- 97 98 99 2) Pragmatische Handform: Die Handform des Lehrers ergibt sich aus der pragmatischen Notwendigkeit, das Indikatorfläschchen festzuhalten und zu manipulieren. Er ändert die Handform bei der Objektdemonstration kurzzeitig, ohne jedoch seine pragmatische Orientierung aufzugeben: Während er zunächst das Fläschchen mit der linken Hand vollständig umgreift (Abb. 97), hält er es kurzzeitig nur noch mit zwei Fingern fest und spreizt die übrigen Finger ab (Abb. 98), sodass die Flüssigkeit schließlich beobachtet werden kann. 3) Pragmatische Gestikulationsbasis: Die Gestikulation erfolgt, analog zu den Siedesteinchen, von einer Ausgangsposition, in der der Lehrer seiner experimentellen Aktivität problemlos nachgehen kann. Er hält das Indikatorfläschchen etwa auf Bauchhöhe. 4) Frontal ausgerichtete Gestikulation: Der Lehrer ist während der Objektdemonstration frontal zu den Schülern orientiert. <?page no="213"?> Die klaren Fälle (II) - Beispiel 2: Bromthymolblau 213 5.3.2.2 Verbalität Auf den Redebeitrag des Lehrers während der Objekteinführung wurde bereits im Zusammenhang mit der Rahmung des Verfahrens eingegangen (Kap. 5.3.1.2). Die Äußerung ist durch eine Pausenklammer klar von den vorangehenden und nachfolgenden Äußerungen abgegrenzt. Im Gegensatz zum Zentraldokument ist der Redebeitrag des Lehrers umfangreicher, da er zusätzliche Informationen zum Objekt vermittelt, wodurch das Indikatorfläschchen unter fachlicher Perspektive im Gegensatz zu den Siedesteinchen in seiner Relevanz hochgestuft wird. Die Äußerung des Lehrers enthält auch hier Lokal- und Objektdeiktika (HIER, diesen (Z. 23f.)), die zeitgleich zur Manipulation des Objekts verbalisiert werden. Während der Lehrer die Objektdeixis diesen (Z. 24) realisiert, wechselt er seine Handform, indem er das Fläschchen nunmehr mit zwei Fingern festhält (vgl. Abb. 98). Er zeigt also nicht auf die von den Schülern zu beobachtende Flüssigkeit, sondern macht das Objekt durch den Wechsel in eine andere pragmatische Handform in besonderer Weise sichtbar. Die spezifische, im Zentraldokument analysierte Äußerungsstruktur, die als Trichterformat bezeichnet wurde (Kap. 5.2.2.2), findet sich ebenfalls im vorliegenden Beispiel. Während es im Zentraldokument eine kondensierte und zeitlich kompakte Form aufweist, ist es im vorliegenden Beispiel ausführlicher realisiert. Die für das Trichterformat konstitutive Formel ‘hier ist X, das ist Y’ entspricht der Äußerungsstruktur des Lehrers, wobei eine zusätzliche Spezifizierung vorliegt. Auf das Trichterformat verkürzt ließe sich der Redebeitrag des Lehrers auf: „Hier habe ich einen Farbstoff, das ist Bromthymolblau“, eindampfen. Dabei entspricht der FARBstoff (Z. 24) dem X, also dem fachlich gesehen allgemeineren Ausdruck, während BROM(.)thyMOL(-)BLAU (Z. 27) das spezifizierende Y darstellt. Der Ausdruck FARBstoff ist zwar im Gegensatz zu den KÖRNchen ein Fachterminus, jedoch kann mit ihm ebenfalls auf sehr viele Referenzobjekte verwiesen werden. 21 LE: (6.65) 22 WIR haben zum beispiel stoffe 23 wie=wir jetzt wie HIER ? (--) 24 diesen FARBstoff der WASser oder ALkohol je nach dem gelöst ist- 25 je nach dem welche EIGenschaften der hat. (---) 26 äh: : (--) 27 das=ist jetzt BROM(.)thyMOL(-)BLAU; 28 (4.12) <?page no="214"?> Verfahren der Einführung von Objekten 214 Bevor der Lehrer jedoch X realisiert, verwendet er den allgemeineren Ausdruck stoffe, (Z. 22) welcher weitaus mehr Referenzobjekte impliziert als der Ausdruck FARBstoff (Z. 24). Die Spezifizierung erfolgt also nicht in einem zwei-, sondern einem dreischrittigen Verfahren. Untersucht man die Begriffe hinsichtlich ihrer Funktion für die Vermittlung fachspezifischen Wissens, können sie zweifelsohne alle als Fachtermini bezeichnet werden, die sich jedoch in der Anzahl möglicher Referenzobjekte signifikant unterscheiden. Während mit stoffe noch auf nahezu alle in der Chemie und vor allem auch im Alltag eingesetzten Substanzen referiert werden kann, sind mit dem Ausdruck FARBstoff die Referenzobjekte schon wesentlich stärker eingegrenzt. Der Ausdruck ist jedoch ein sowohl in der Alltagsals auch in der Fachsprache gebräuchlicher Begriff. BROM(.)thyMOL(-)BLAU hingegen meint ein ganz spezifisches, fachliches Referenzobjekt, das mit konkreten Eigenschaften verbunden ist und im alltagssprachlichen Kontext nahezu keine Verwendung findet. Dem Ausdruck FARBstoff kommt, wie etwa den KÖRNchen im Zentraldokument, eine besondere Rolle zu, da der Lehrer den Ausdruck während der Gestikulation, d.h. während des Wechsels seiner pragmatischen Handform realisiert. Dadurch wird seine Referenz auf das Indikatorfläschchen viel stärker sichtbar, als es bei dem Ausdruck stoffe der Fall ist. Der semantische Gehalt von FARBstoff ist insofern interessant, als mit ihm, ähnlich wie mit den KÖRNchen, mehr fachspezifisches Wissen vermittelt wird, als es zunächst den Anschein hat. Der Ausdruck offenbart genau die Eigenschaft des Indikators, die erstens allgemein für Indikatoren konstitutiv ist und zweitens von den Schülern in erster Linie beobachtet werden kann. Als der Lehrer seine Hand öffnet und das Fläschchen nur noch mit zwei Fingern festhält, kommt die leuchtend orange Farbe des Indikators zum Vorschein. Im Sinne der Wahrnehmungsstrukturierung verdeutlicht der Lehrer den Schülern durch den Wechsel seiner Handform, dass sie diese spezifische Eigenschaft des Indikators beobachten sollen. 5.3.2.3 Blickverhalten Der Lehrer wechselt seine Blickorientierung während der Objektdemonstration nicht. Er hält seinen Blick kontinuierlich auf das Indikatorfläschchen gerichtet und blickt zu keinem Zeitpunkt in die Klasse (vgl. Abb. 97-99). Sein kontinuierlicher, auf das Objekt gerichteter Blick ist unter anderem der spezifischen Manipulation des Indikatorfläschchens geschuldet, da die Entnahme mit der Pipette eine gewisse Aufmerksamkeit von ihm erfordert. Im Sinne des deictic gaze strukturiert der Lehrer die Aufmerksamkeit der Schüler durch seine eigene Blickorientierung auf das Indikatorfläschchen. Eine wesentliche Implikation seines selbstkoordinativen Verhaltens liegt also wieder in der Fokussierung der Schüler auf das manipulierte Objekt. <?page no="215"?> Die klaren Fälle (II) - Beispiel 2: Bromthymolblau 215 5.3.2.4 Objektmanipulation Das Verfahren der Objektdemonstration ist eng an die spezifische Materialität des Objekts gebunden. Wie im Zentraldokument handelt es sich im vorliegenden Beispiel genau genommen wieder um zwei unterschiedliche Objekte: Demonstriert wird der Indikator Bromthymolblau, der sich im Fläschchen befindet und vom Lehrer auch verbalisiert wird. Er stellt einen aktuell relevanten Unterrichtsgegenstand dar, der im Experiment zum Nachweis von Säuren dient. Manipuliert wird jedoch in erster Linie das Indikatorfläschchen, das den Indikator für die Objekteinführung überhaupt erst handhabbar macht. Die im Zentraldokument formulierten Voraussetzungen der Handhabbarkeit und der Unterrichtsrelevanz sind im vorliegenden Beispiel also beide erfüllt. 5.3.2.5 Raum Die Objektdemonstration erfolgt in einem von den Interaktionsbeteiligten strukturierten (Wahrnehmungs-)Raum. In Analogie zum Zentraldokument können die Lokaldeixis HIER (Z. 23) und die Objektdeixis diesen (Z. 24) als sprachliche Manifestation des gemeinsamen Wahrnehmungsraums gelten. 23 wie=wir jetzt wie HIER ? (--) 24 diesen FARBstoff der WASser oder ALkohol je nach dem gelöst ist- Der Lehrer verdeutlicht den Schülern das von ihm Wahrgenommene und ‘unterstellt’ ihnen gleichzeitig, dass es auch wahrnehmungsrelevant für die Schüler ist. Unterstützt wird diese Perspektive besonders durch die spezifische Adressierung, da der Lehrer auf das Objekt nicht in Ich-, sondern in Wir-Form Bezug nimmt. Im Sinne des ‘Wir-Agenten’ macht er nicht nur sein eigenes ‘Sehen’ sichtbar, sondern verdeutlicht, dass sein Wahrgenommenes auch stellvertretend für das der Schüler gelten kann. 5.3.2.6 Referenzielle Koordinierung Die Objektdemonstration ist, wie im Zentraldokument analysiert, auch hier durch die referenzielle Koordinierung der Aktivitäten des Lehrers gekennzeichnet. Die unterschiedlichen Ausdrucksressourcen Objektmanipulation, Blickverhalten, Verbalität, Position und Positur sind wechselseitig aufeinander bezogen, indem der Lehrer referenziell auf allen Ausdrucksebenen auf das Indikatorfläschchen Bezug nimmt. Es wird keine vollständige Handlungsbeschreibung des simultan realisierten Handlungsvollzugs vorgenommen, wie es bei der Modalitätssynchronisierung der Fall wäre. <?page no="216"?> Verfahren der Einführung von Objekten 216 5.4 Modifizierung des Konzepts Objektdemonstration Die Analyse des zweiten klaren Falls hat das Konzept Objektdemonstration in nahezu allen Aspekten bestätigt. Beim Vergleich der beiden klaren Fälle hat sich sowohl in der Außenstruktur als auch bei der internen Strukturierung des Verfahrens eine Varianz in der Ausprägung der konstitutiven Aspekte gezeigt. Die konstitutiven Aspekte waren im zweiten klaren Fall, relativ zum Zentraldokument, entweder besonders stark oder weniger stark ausgeprägt. Diese Ausprägung wird im Folgenden kurz übersichtshalber aufgeführt und mit einem Plus (+) für eine stärkere oder einem Minus ( - ) für eine schwächere Ausprägung markiert. a) Außenstruktur - Kontrastivität ( - ) - Rahmung ( - ) - Lokalität ( - ) - Inkorporierung (+) b) Interne Strukturierung - Gestikulation ( - ) - Verbalität (+) - Blickverhalten ( - ) - Objektmanipulation ( - ) - Raum ( - ) Ob und inwiefern die konstitutiven Aspekte des Verfahrens variieren, ist immer von zwei Elementen abhängig: 1) Objektrelevanz: Die Objektdemonstration ist ein Verfahren, das eng und in erster Linie mit der unterrichtsspezifischen Relevanz des demonstrierten Objekts zusammenhängt. Der Lehrer muss bei Experimentalphasen unterschiedliche Objekte demonstrieren, die sich in ihrer Bedeutung für das Experiment und den Unterrichtskontext signifikant unterscheiden können. So kann es sich bei demonstrierten Objekten beispielsweise um zentrale chemische Reagenzien handeln, ohne die das Experiment schlichtweg nicht durchgeführt werden könnte. Der Lehrer kann jedoch auch einfache Hilfsmittel demonstrieren, die seine experimentelle Durchführung erleichtern oder beschleunigen, jedoch keinerlei inhaltlich-thematische Relevanz für den Versuch aufweisen. Für die demonstrierten Objekte existiert ein ganzes Relevanzspektrum, das je nach Unterrichtsgegenstand variiert. So kann beispielsweise ein Indikator im Rahmen von Säure-Base-Experimenten ein zentrales Objekt repräsentieren, in einer Unterrichtsstunde zum chemischen Gleichgewicht <?page no="217"?> Modifizierung des Konzepts Objektdemonstration 217 hingegen nur als Nachweismittel dienen. In der spezifischen Realisierung der Objektdemonstration manifestiert sich daher die jeweilige Relevanz, die das Objekt für das Experiment aufweist. Der Zusammenhang ist dabei folgender: Mit zunehmender Relevanz des Objekts nimmt auch der Anteil an Verbalität im Rahmen des Verfahrens zu. Im zweiten klaren Fall ist der Redebeitrag des Lehrers während der Objektdemonstration umfangreicher, da er zusätzliches fachspezifisches Wissen über Indikatoren vermittelt, die als zentrale Elemente des aktuellen Experiments gelten können. Der Redebeitrag im Zentraldokument fällt hingegen kürzer aus, da es sich bei den Siedesteinchen nur um Hilfsmittel handelt, die keine detaillierten Ausführungen verlangen. Auf der Ebene der Äußerungsstruktur manifestiert sich die zunehmende Objektrelevanz im dreischrittigen Trichterformat, das dem zweischrittigen Trichterformat im Zentraldokument gegenübersteht. 2) Situationssensitive Orientierungspräferenz: Bei der Beschreibung der Außenstruktur des Verfahrens wurde bereits auf den Zusammenhang von Kontrastivität und situationssensitiver Orientierungspräferenz verwiesen: Die Objektdemonstration erfolgt umso weniger kontrastiv, je mehr sich der Lehrer am Prinzip der Ökonomie orientiert. Diese Orientierung zeigt sich in seiner Präferenz, praktisch aktiv zu sein und in erster Linie das Experiment durchzuführen. Andere Anforderungen, wie etwa die Wahrnehmungsstrukturierung der Schüler, werden dieser Orientierungspräferenz zu einem gewissen Grad untergeordnet. Im zweiten klaren Fall wird dies dadurch deutlich, dass der Lehrer zeitgleich mit der Objektdemonstration das Indikatorfläschchen für seinen Einsatz vorbereitet. Aus der Orientierung am Prinzip der Ökonomie ergeben sich Konsequenzen für die Außenstruktur und die interne Struktur der Objektdemonstration. Die konstitutiven Elemente Kontrastivität, Lokalität und Rahmung sind weniger stark ausgeprägt, während die Inkorporierung des Verfahrens zunimmt. Der Lehrer ‘löst’ die Einführung des Objekts weniger stark aus dem Handlungszusammenhang heraus, da er präferiert und kontinuierlich seinen praktischen Aktivitäten folgt. Dadurch sind auch die Konstituenten der internen Struktur, wie etwa die Gestikulation, die Manipulation und das Blickverhalten durch ein geringeres Maß an Expressivität gekennzeichnet. Zusammenfassend ergibt sich für das Verfahren der Objektdemonstration nur eine Modifizierung im Bezug auf die Varianz der einzelnen Konstituenten. Sie dürfen nicht losgelöst vom Handlungszusammenhang betrachtet werden, sondern sind immer auf die aktuelle Objektrelevanz und die situationssensitive Orientierungspräferenz hin zu untersuchen. <?page no="218"?> Verfahren der Einführung von Objekten 218 5.5 Die Randfälle Die Randfälle zeichnen sich im Vergleich zu den klaren Fällen nicht durch eine geringere Auffälligkeit und Deutlichkeit des zu untersuchenden Phänomens aus, wie dies gegebenenfalls zu erwarten wäre. Es ist vielmehr das Gegenteil der Fall, denn die Randfälle stellen sich erst nach einer detaillierteren Durchsicht als solche dar, wurden sie doch zu Beginn der Kollektionskonstitution noch als klarer Fall eingeordnet. Für die Konzeption der Objektdemonstration sind sie deshalb so produktiv, weil durch die Analyse der scheinbaren Vergleichbarkeit das Phänomen klarer abgegrenzt und beschrieben werden kann: They generally ‘look like’ our emerging phenomenon, even if they do not turn out to be instances of it. In specifying what makes them ‘look like’ we learn about our phenomenon; and in specifying why nonetheless ‘they are not’, we learn as well. And in specifying why some instances which look unlike our initiating instances belong nonetheless, we do the same. (Schegloff 1968) Im Folgenden wird die Einführung von Objekten in den Randfällen jeweils kurz beschrieben. Dabei geht es nicht darum, die Randfälle konstitutionsanalytisch zu rekonstruieren, sondern vielmehr die Analyseergebnisse zu präsentieren, die sich aus der zunächst angenommenen Vergleichbarkeit und der abschließenden Einordnung des Ausschnitts als Randfall ergeben haben. 5.5.1 Beispiel 3: Cobaltchloridpapier Im Rahmen des Unterrichtthemas ‘Feuer und Flamme’ manipuliert die Lehrerin einen in Cobaltchlorid getränkten Filterpapierstreifen (Abb. 100): 100 101 Vergleicht man auf der Grundlage des Standbildes die Objektmanipulation der Lehrerin mit der des Lehrers aus dem Zentraldokument (Abb. 101), scheint es sich im Bezug auf unser Phänomen zunächst ebenfalls um einen klaren Fall zu handeln: <?page no="219"?> Die Randfälle 219 - Maximale Extension: Die Lehrerin hält den Filterpapierstreifen auf Kopfhöhe, sodass auch die Schüler in den hinteren Reihen das Objekt gut erkennen können. - Oberer Gestikulationsbereich: Die Bewegung erfolgt, analog zum Zentraldokument, im oberen Gestikulationsbereich. - Expressivität: Die Lehrerin bedient sich unterschiedlicher Ausdrucksressourcen, um das Objekt den Schülern zu demonstrieren. Hier ist vor allem das Blickverhalten vergleichbar mit dem des Lehrers, da ihr Blick erkennbar zur Klasse orientiert ist (Abb. 105). - Verbalität: Während der Manipulation des Objekts realisiert die Lehrerin folgende Äußerung: 18 LE: sondern das sind jetzt=so filterpapier STREI fen ; 102 19 die hab ich GANZ in dieses cobaltchlo rID (---) äh: ge TAUCHT, 103 104 105 - Referenzialität: Die Lehrerin nimmt verbal auf den Filterpapierstreifen Bezug, indem sie darauf mit so filterpapier STREIfen (Z. 18) referiert. - Simultaneität: Die Lehrerin benutzt alle ihr lokal zur Verfügung stehenden Ressourcen, um den Filterpapierstreifen zu demonstrieren. <?page no="220"?> Verfahren der Einführung von Objekten 220 Die interne Strukturierung scheint also die konstitutiven Elemente der Objektdemonstration weitgehend aufzuweisen. Im Vergleich mit dem zweiten klaren Fall sind die Konstituenten sogar wesentlich stärker und sichtbarer ausgeprägt, weshalb eine Zuordnung des vorliegenden Beispiels zu den klaren Fällen umso evidenter wäre. Im Sinne des Forschungsansatzes ‘context analysis’ (vgl. Kap. 2.2.2) gilt es hier natürlich auch, die Objektmanipulation nicht isoliert, sondern als in den sozialen Kontext integriertes, interaktives Phänomen zu begreifen. Der auf den Standbildern sichtbare Raum verweist bereits auf den unterschiedlichen Kontext, in dem die Objekte manipuliert werden: Auf dem Standbild des Zentraldokuments (Abb. 101) sind alle Objekte als Teil eines Experiments erkennbar, was einerseits an ihrer Materialität liegt, d.h. an der Tatsache, dass es sich um Laborgeräte handelt. Andererseits ist durch das spezifische Arrangement der Objekte ein experimenteller Handlungszusammenhang naheliegend. Das Standbild des vorliegenden Falls hingegen verweist im Hinblick auf Objektarrangement und -materialität auf einen völlig anderen Kontext (Abb. 100): Auf dem Lehrerpult befinden sich zwei Körbe mit Gegenständen, und dazwischen steht eine nicht eindeutig zuzuordnende Plastikflasche. Offensichtlich manipuliert die Lehrerin das Objekt nicht im Rahmen einer Experimentalphase. Die relativ statische Positur der Lehrerin und ihr linker, an den Körper gelegter Arm, der sich in einer Art Ruheposition befindet, sprechen außerdem für einen nicht-experimentellen Kontext. In der Tat handelt es sich bei dem dritten Beispiel nicht um eine Experimentalphase im herkömmlichen Sinne, denn die Objektmanipulation erfolgt im Rahmen einer Instruktion für ein Schülerexperiment. Die Lehrerin demonstriert ein Objekt, das im Folgenden von den Schülern bei ihren Versuchen eingesetzt werden soll. Dieser Handlungszusammenhang wird unter anderem im folgenden Redebeitrag der Lehrerin deutlich: 20 LE: und das ist jetzt GANZ (---) BLAU ; 106 <?page no="221"?> Die Randfälle 221 21 ich möchte euch BITten - (--) 107 22 ERSTens mal (-) dass ihr dieses cobalchlorid paPIER wirklich mit 108 23 der pinZETTe anfasst ? 109 Die Lehrerin manipuliert das Objekt, während sie den Schülern verbale Hinweise gibt, wie das Objekt später anzufassen ist. Dabei entspricht ihre Form der Manipulation genau der Art und Weise, wie die Schüler das Filterpapier später handhaben sollen (Abb. 109). Neben ihren verbalen Instruktionen nutzt die Lehrerin also weitere Ausdrucksressourcen, um den Schülern praktisch vorzuführen, wie das Filterpapier anzufassen ist. <?page no="222"?> Verfahren der Einführung von Objekten 222 Die kontextuellen Bedingungen der vorliegenden Objektmanipulation entsprechen also nicht den Bedingungen, die für das Verfahren der Objektdemonstration konstitutiv sind. Dadurch ergeben sich im Bezug auf die Konstituenten der Außenstruktur des Verfahrens wesentliche Unterschiede, die das Beispiel erkennbar als Randfall einordnen lassen: - Lokalität und zeitliche Erstreckung: Während die Objektdemonstration nur von kurzer Dauer ist und lokal realisiert wird, ist die vorliegende Objektmanipulation stark in die Länge gezogen (vgl. Abb. 107-109). Die Lehrerin hält das Filterpapier einige Minuten lang nach oben, während sie den Schülern ausführlich erläutert, wie ein solches Filterpapier anzufassen ist. Diese spezifische Form der Objektmanipulation trägt im Sinne des recipient design unter anderem der Tatsache Rechnung, dass die Lehrerin junge Schüler vor sich hat, welche aufgrund ihres geringeren Fachwissens und ihrer noch fehlenden praktischen Erfahrung genauerer Instruktionen bedürfen, als dies etwa bei Zehntklässlern der Fall wäre. - Kontrastivität und Rahmung: Die Objektmanipulation hat aufgrund der Expressivität und der maximalen Extension der Gestikulation (Abb. 107) zwar einen erkennbaren Beginn, jedoch ist der Abschluss durch die verbale Expansion kaum markiert. Die in den klaren Fällen rahmenden Gesprächspausen sind im vorliegenden Beispiel nicht vorhanden. Die Abwahl des vorliegenden Beispiels als Randfall ist in konzeptueller und methodischer Hinsicht für mein Erkenntnisinteresse von Nutzen. Unter konzeptionellen Gesichtspunkten wurde durch die Analyse dieses Falls vor allem die starke Kontextsensitivität des Verfahrens deutlich, 79 die mit der Konstituente der Inkorporierung zwar bereits formuliert, aber in dieser Evidenz noch nicht expliziert wurde. Es gilt daher die jeweiligen (Kontext-) Bedingungen zu beschreiben, die eine Objektmanipulation zu einer Objektdemonstration machen: 1) Kontextsensitivität: Die Objektdemonstration ist kein isoliertes Verfahren, das aus dem Handlungszusammenhang herausgelöst werden kann, sondern ein generatives, aus der jeweiligen Situation emergierendes Verfahren, das als solches auch immer auf den vorgängigen und nachfolgenden Kontext verweist. 2) Praktischer Einsatz des Objekts: Es handelt sich nur dann um Objektdemonstrationen, wenn die Objekte vom Demonstrierenden praktisch unmittelbar für ein Experiment eingesetzt werden. 79 Zur Kontextsensitivität des ‘Zeigens an Objekten’ siehe auch Stukenbrock (2015, S. 230). <?page no="223"?> Die Randfälle 223 3) Wahrnehmungsstrukturierung: Die Objektdemonstration dient immer der Wahrnehmungsstrukturierung in dem Sinne, dass der Lehrer im komplexen, multimodal realisierten Verfahren das Objekt für die Schüler sichtbar und seine Funktionalität für den Versuch verstehbar macht. Hierfür bedient er sich aller Ausdrucksressourcen, die je nach Objektrelevanz und situationssensitiver Orientierungspräferenzen unterschiedlich dominant eingesetzt werden können. Darüber hinaus können durch die motivierte Zuordnung des Beispiels zu den Randfällen unter methodischer Perspektive die spezifischen Implikationen benannt werden, die mit dem Begriff des Randfalls verbunden sind. Die Zuordnung eines interaktiven Phänomens innerhalb einer Kollektion zu einem ‘Randfall’ erfolgt ex negativo, indem das Beispiel entweder zunächst als klarer oder als kontrastiver Fall eingeordnet wird. Randfall bedeutet, dass das interaktive Phänomen in einigen Konstituenten vertreten ist, die gegebenenfalls sichtbarer realisiert sind, als dies bei einem klaren Fall zu erwarten wäre. Erst die Analyse des Falls legt schließlich die signifikanten Unterschiede zu den klaren Fällen offen, die im vorliegenden Beispiel vor allem in den situativen Bedingungen des Verfahrens bestehen. 5.5.2 Beispiel 4: Backhefe Vergleichbar mit dem Beispiel 3, wurde auch Beispiel 4 zunächst den klaren Fällen zugeordnet: Im Rahmen des Chemieunterrichts zum Thema ‘Alkoholische Gärung’ manipuliert der Lehrer ein Stück Backhefe (Abb. 110): 53 LE: SO! JETZT BACKhefe die hab ich im SUpermarkt geholt, 110 Viele Konstituenten des Verfahrens sind im vorliegenden Fall erfüllt, wie beispielsweise die maximale Extension, der obere Gestikulationsbereich, die Expressivität, die Simultaneität und die Referenzialität. Überprüft man jedoch <?page no="224"?> Verfahren der Einführung von Objekten 224 das Beispiel auf die situativen Bedingungen der Objektdemonstration hin, wird schnell erkennbar, dass es sich hier ebenfalls um einen Randfall handelt. 1) Kontextsensitivität: Der Handlungszusammenhang, in dem der Lehrer die Backhefe manipuliert, unterscheidet sich signifikant vom experimentell ausgerichteten Kontext, in den eine Objektdemonstration üblicherweise eingebunden ist. Der Lehrer vollzieht während der Objektmanipulation folgende Äußerung: 52 LE: (2.71) 53 SO! JETZT BACKhefe die hab ich im SUpermarkt geholt, 54 (---) 55 die BRAUCH man normalerweise zum BAcken; 56 was hat=n das für ne rolle beim BAcken; Referenziell nimmt er durchaus auf das manipulierte Objekt (BACKhefe (Z. 53)) Bezug, jedoch wird durch die inhaltliche Frage an die Schüler, welche Rolle Hefe beim Backen habe, sofort erkennbar, dass es sich hier nicht um eine Experimentalphase handelt. Der Lehrer nutzt das Objekt als Ausgangspunkt für ein inhaltlich-thematisches Gespräch, in dem die Bedeutung und Funktion von Hefe verbal erläutert wird. Die Objektmanipulation ist hier in eine Phase verbaler Wissensvermittlung eingebunden und erfüllt damit nicht die Kontextkriterien, die für das Verfahren der Objektdemonstration konstitutiv sind. 2) Praktischer Einsatz des Objekts: Aufgrund der Einbindung der Objektmanipulation in eine Phase verbaler Wissensvermittlung wird das Objekt nicht unmittelbar in einem Experiment eingesetzt. Die Backhefe dient dem Lehrer als thematischer Ausgangspunkt und führt letztendlich zu einem Gespräch über Hefepilze und ihre allgemeine Bedeutung beim Bierbrauen. Erst in der zweiten Unterrichtsstunde findet die Hefe in einem Experiment schließlich Anwendung. Die situative Bedingung des praktischen Einsatzes des Objekts ist daher ebenfalls nicht erfüllt. 3) Wahrnehmungsstrukturierung: Die dritte situative Bedingung für die Objekteinführung ist insofern erfüllt, als der Lehrer unterschiedliche Ausdrucksressourcen benutzt, um das Objekt sichtbar und seine Funktionalität verstehbar zu machen. Jedoch steht die Wahrnehmungsstrukturierung nicht im Dienste der unmittelbaren Durchführung eines Experiments, sondern ist vielmehr als Fokussierungsaktivität zu verstehen, um das Gespräch über Hefe(pilze) zu initiieren. 5.6 Kontrastive Fälle Den Abschluss des Kapitels bilden die kontrastiven Fälle, die analog zu den Randfällen nicht mehr konstitutionsanalytisch rekonstruiert, sondern in Form einer Ergebnispräsentation vorgestellt werden sollen. Bei der Aufarbeitung der <?page no="225"?> Kontrastive Fälle 225 kontrastiven Fälle haben sich zwei objektspezifische Komponenten herauskristallisiert, die für die endgültige Zuordnung eines Beispiels zu einem kontrastiven Fall maßgeblich sind. Die Objektmaterialität und -funktionalität sind projektiv im Bezug auf die potenzielle Realisierung des Verfahrens Objektdemonstration. Sie lassen interaktionsvorgängig Aussagen darüber zu, ob Lehrer die Objekte in Form der Objektdemonstration einführen werden oder nicht. Die Objektmaterialität und -funktionalität wurden bereits im Rahmen der Randfälle als Komponenten vorgestellt, die die Gestalt des Verfahrens maßgeblich beeinflussen. So ging die zunehmende Fachrelevanz eines Objekts mit einer Reduzierung von Expressivität einher. Die in den folgenden Beispielen manipulierten Objekte sind insofern maximal kontrastiv, als es sich im fünften Beispiel um ein fachspezifisches, im sechsten Beispiel um ein fachunspezifisches Objekt handelt. 80 Beide Objekte, sowohl die konzentrierte Schwefelsäure als auch das Haargummi, schließen aus unterschiedlichen, objektbezogenen Gründen die Anwendung des Verfahrens weitgehend aus. 5.6.1 Beispiel 5: Schwefelsäure Im ersten kontrastiven Fall manipuliert der Lehrer ein fachspezifisches Objekt: Er transportiert konzentrierte Schwefelsäure vom Chemikalientisch zum Versuchsarrangement auf dem Lehrerpult, um sie schließlich im Experiment einzusetzen. Während des Transports (Abb. 111) ist er verbal abstinent und referiert erst auf die Schwefelsäure, als er das Glasgefäß geöffnet und die Pipette hineingestellt hat (Abb. 112): 75 LE: (4.67) 111 80 Zur Differenzierung von fachspezifischem und fachunspezifischem Objekt siehe Kapitel 5.8.4. <?page no="226"?> Verfahren der Einführung von Objekten 226 76 .h=nehm jetzt hier KONzentrierte SCHWEfelsäure? 77 (--) 78 die ist schon recht (-) DICKflüssig, 112 79 (5.0) Der Fall ist im Hinblick auf die Objektmanipulation kontrastiv, da keine Gestikulation erfolgt, mittels welcher das Objekt hochgehalten wird. Es ist das einzige Beispiel der Kollektion, in dem die spezifische Gestikulation nicht vertreten ist. Umso interessanter ist es, dass es darüber hinaus jedoch zahlreiche Überschneidungen mit den für das Verfahren konstitutiven Elementen gibt. Im Hinblick auf die Außenstruktur des Verfahrens sind alle vier Konstituenten, Kontrastivität, Rahmung, Lokalität und Inkorporierung, repräsentiert. Auf der Ebene der Verbalität ist dies unter anderem an der Pausenklammer und an der kurzzeitigen Dauer der Äußerung zu erkennen. Die Kontrastivität wird in zahlreichen anderen Ausdrucksressourcen des Lehrers erkennbar. Beispielhaft sei das kontrastive Blickverhalten des Lehrers genannt: Er wechselt seinen Blick, indem er von der auf dem Experimentiertisch platzierten Schwefelsäure in die Klasse blickt. Seine Körperorientierung und seine Körperpositur sind, analog zu seinem Blickverhalten, kontrastiv koordiniert. Die Konstituenten der internen Strukturierung des Verfahrens unterscheiden sich neben der Gestikulation vor allem in der Objektmanipulation, die nicht zeitgleich mit der Äußerung erfolgt. Es gibt also eine zeitliche Zerdehnung von Objektmanipulation und relevanter Äußerung. Darüber hinaus referiert der Lehrer zwar auf die Schwefelsäure, jedoch ist die Äußerung nicht im Trichterformat realisiert. <?page no="227"?> Kontrastive Fälle 227 5.6.2 Beispiel 6: Haargummi Im zweiten kontrastiven Fall manipuliert die Lehrerin ein Haargummi (Abb. 113), blickt dabei zu den Schülern und vollzieht folgende Äußerung: 7 LE: (2.26) 8 ANna haar e zusammenbinden; 113 9 (1.46) 10 lange haare zuSAMmenbinden; Hier wird wie in keinem anderen Beispiel sichtbar, dass die Gestikulation kein hinreichendes Indiz für das Verfahren der Objektdemonstration ist. Eine Übereinstimmung mit den Konstituenten des Verfahrens ist ausschließlich im Bereich der Gestikulation zu finden. Die Manipulation des Haargummis erfolgt in einer maximalen Extension im oberen Gestikulationsbereich der Lehrerin. Die übrigen Konstituenten der internen Strukturierung sind entweder überhaupt nicht oder nur ansatzweise vorhanden: Die Lehrerin nimmt nicht verbal auf das Objekt Bezug, und ihr Blick ist zwar in Richtung Klasse gerichtet, jedoch blickt sie erkennbar auf die Schülerin Anna, die sie mit ihrer Äußerung adressiert. Insbesondere bei der Überprüfung der situativen Bedingungen wird schnell klar, dass es sich bei diesem Beispiel nicht um eine Objektdemonstration handelt. Es liegt kein experimenteller Handlungszusammenhang vor, in den die Objektmanipulation eingebunden ist. Die Lehrerin trifft in dieser Unterrichtsphase Vorbereitungen für das Schülerpraktikum und muss unter anderem <?page no="228"?> Verfahren der Einführung von Objekten 228 das angemessene Verhalten der Schüler und Schülerinnen organisieren. Angesichts des jungen Alters der Schüler formuliert sie explizit die Aufforderung an die Mädchen, die Haare zusammenzubinden, indem sie einzelne Mädchen adressiert, wie etwa Anna (Z. 8), und alle anderen Schüler, die auch lange Haare haben. Die vorliegende Objektmaterialität und -funktionalität steht einer Objektdemonstration diametral entgegen, handelt es sich doch um das fachunspezifische Objekt des Haargummis, das weder eine fachliche noch eine inhaltlichthematische Relevanz aufweist. Darüber hinaus kann es in einem Experiment nicht praktisch eingesetzt werden. Die Funktionalität des Objekts besteht darin, den Schülern zu verdeutlichen, dass sie ihre Haare zusammenbinden müssen, falls sie lange Haare haben. Der Einsatz des Objekts geht also über seinen usuellen Gebrauch hinaus. Die Objektmanipulation hat hier eine indikative Qualität (vgl. Schmitt 2013a), weil das Objekt in markierter Weise der Lehrerin als Verdeutlichung dient. Die Lehrerin realisiert ihre Instruktion multimodal, indem sie neben der Verbalität auch auf andere Ausdrucksressourcen zurückgreift. Gleichzeitig ist das Hochhalten des Haargummis mit einer weiteren Implikation für die Schüler verbunden: Falls sie kein Haargummi zur Hand haben, können sie es von der Lehrerin erhalten. Die Objektfunktionalität ist eng mit der situativen Bedingung der Wahrnehmungsstrukturierung verbunden: Die Manipulation dient nicht dazu, das Objekt für alle Schüler wahrnehmbar und seine Relevanzen verstehbar zu machen. Für die Schüler ist es natürlich nicht erforderlich, das Haargummi in der Hand der Lehrerin zu beobachten, sondern sie sollen nur den Instruktionen folgen, die unter anderem durch das Hochhalten des Haargummis impliziert sind. Im Bezug auf die situativen Bedingungen des Verfahrens ist festzuhalten, dass die Objektmaterialität und seine Funktionalität bereits auf einen potenziellen praktischen Einsatz verweisen. Es reicht daher aus, den praktischen Einsatz unter der situativen Bedingung der Objektmaterialität und -funktionalität zu subsummieren. <?page no="229"?> Übersichtsgrafik / Zusammenfassung 229 5.7 Übersichtsgrafik zum Verfahren Objektdemonstration Situative Bedingungen Konstituenten Außenstruktur Innenstruktur 1) Kontextsensitivität 2) Wahrnehmungsstrukturierung 3) Objektmaterialität und -funktionalität 1) Kontrastivität 2) Rahmung 3) Lokalität 4) Inkorporierung 1) Objektmanipulation 2) Gestikulation - Maximale Extension - Oberer Gestikulationsbereich - Pragmatische Handform 3) Expressivität 4) Verbalität - zweischrittiges oder - mehrschrittiges Trichterformat 5) Referenzielle Koordinierung 6) Blickverhalten 5.8 Zusammenfassung Die zentralen Ergebnisse und Einsichten, die bei der Rekonstruktion des multimodalen Verfahrens der Objektdemonstration fallbezogen entwickelt wurden, werden in den einzelnen Analysekapiteln präsentiert und in der Übersichtsgrafik in komprimierter Form zusammengefasst. In diesem Kapitel geht es darum, die Fallanalysen zu verlassen und Aspekte zu fokussieren, die über den Einzelfall hinausreichen und von allgemeiner Bedeutung für die Rekonstruktion raumbezogener Interaktion sind, in welcher Interaktionsbeteiligte Objekte manipulieren. Die Aspekte enthalten insofern eine fallspezifische Komponente, als sie sich bei der konkreten Einzelfallanalyse in methodischer oder konzeptioneller Hinsicht als relevant erwiesen haben. Hier sollen sie aus dem ‘fallspezifischen Gewand’ gelöst und ihre allgemeine Bedeutung für die Analyse räumlich-interaktiver Verfahren reflektiert werden. Alle Aspekte haben sich aus der Auseinandersetzung mit der Objektmaterialität und Objektfunktionalität ergeben und seien hier übersichtshalber genannt: - Die Unterscheidung von manipuliertem und demonstriertem Objekt (Kap. 5.8.2), - die Unterscheidung von selbstreferenziellem und fremdreferenziellem Objekt (Kap. 5.8.3) sowie - die Unterscheidung von fachspezifischem und fachunspezifischem Objekt (Kap. 5.8.4). <?page no="230"?> Verfahren der Einführung von Objekten 230 5.8.1 Gegenstand und Objekt Der Präsentation der fallübergeordneten Aspekte soll eine Differenzierung vorangestellt werden, die unter dem Konzept ‘duale Begrifflichkeit’ ausführlich bei Schmitt (Schmitt 2013a) reflektiert wird und in gemeinsamen Analysen entstanden ist. Interaktionsbeteiligte manipulieren bei der Organisation der Interaktion unterschiedliche Gegenstände, die Teil des Rauminventars oder der Raumherrichtung sind. Die bloße Beschreibung der Relevantsetzung solcher Gegenstände hat jedoch noch keinen analytischen Gehalt, sondern ist in der spezifischen Interaktionssituation multimodal zu rekonstruieren. Bei der Suche nach einer adäquaten Beschreibung, die in methodischer und konzeptioneller Hinsicht diesem Unterschied Rechnung trägt, hat sich die Begriffsdifferenzierung von ‘Gegenstand’ und ‘Objekt’ als produktiv erwiesen. Gegenstände sind als „isolierbare Einzelaspekte der gegebenen materiellen Umgebung“ (ebd., S. 326) nur potenziell interaktionsrelevant, weil sie für Interaktionsbeteiligte ein materielles Angebot darstellen, das diese für die Organisation von Interaktion nutzen können. 81 Gegenstände werden dann zu Objekten, wenn sie Interaktionsbeteiligte durch ihr konkretes Verhalten als interaktive Ressource de facto nutzen, wie etwa durch Manipulation. Gegenstände können durch ihre spezifischen materiellen Eigenschaften unterschiedlich eingesetzt werden. Beim usuellen Gebrauch erfolgt der Einsatz des Gegenstands in der Funktion, für die er ursprünglich hergestellt wurde. Der usuelle Gebrauch des Gegenstands ist kulturell geprägt und wird von den Interaktionsbeteiligten meist fraglos antizipiert. Beim okkasionellen Gebrauch hingegen erfolgt der Einsatz des Gegenstands nicht in seiner ursprünglichen Funktion und ist daher nicht prognostizierbar. Ein solcher Gebrauch ist meist Resultat räumlicher Kontingenzen und entwickelt sich an „nichtvorhergesehenen Stellen in der Interaktion“ (Schmitt 2013a, S. 332). Zusätzlich zum usuellen Gebrauch kann ein Gegenstand in markierter, indikativer Weise zum Einsatz kommen, der über die bloße Funktionsrealisierung des Gegenstands hinausgeht. Interaktionsbeteiligte nutzen implizite oder explizite Verfahren der Verdeutlichung und Markierung, sodass dem Gegenstand neben seiner ursprünglichen Funktionalität immer auch eine „Sekundärfunktion“ (ebd., S. 336) zuteil wird. Bezogen auf den Chemieraum steht dem Lehrer also eine Vielzahl von Gegenständen zur Verfügung, die ihren spezifischen Ort auf dem Chemikalientisch oder dem Experimentiertisch haben. Zu Objekten werden die Gegenstände dann, wenn der Lehrer sie, beispielsweise im Sinne der Objektdemonstration, 81 Dieses Potenzial bzw. die Angebotsstruktur, die von Gegenständen zur Verfügung gestellt wird, ist im Sinne der Interaktionsarchitektur (Kap. 3) zu verstehen. <?page no="231"?> Zusammenfassung 231 manipuliert und für die Schüler wahrnehmbar macht. Die Objekte werden dabei immer in einem usuellen Gebrauch eingesetzt. Hinzu kommt die Indikativität der Objektmanipulation, da der Lehrer die Objekte nicht nur ihrer Primärfunktion nach, etwa als Kolben zum Erwärmen von Flüssigkeiten einsetzt, sondern zunächst vor allem in ihrer Sekundärfunktion gebraucht. Er verdeutlicht den Schülern durch die Manipulation die Relevanz des Objekts und die Relevanz der kontinuierlichen Beobachtung durch die Schüler für den folgenden Versuch. Im Rahmen der workplace studies wird relativ früh darauf hingewiesen, dass es sich bei Objekten nicht um fertige, von der Interaktion losgelöste Elemente handelt, sondern ihr lokal, durch die Beteiligten produzierter Sinn rekonstruiert werden muss, d.h. „their fleeting and shifting character, the determinate facticity that they achieve at some particular moment“ (Hindmarsh/ Heath 1998). 5.8.2 Manipuliertes vs. demonstriertes Objekt Den Ausgangspunkt für die Unterscheidung zwischen ‘manipuliertem’ und ‘demonstriertem’ Objekt bildete die Beobachtung, dass der Lehrer Objekte manipuliert, wobei eigentlich die Inhalte demonstriert werden sollen. Während der Lehrer beispielsweise den Erlenmeyer-Kolben manipuliert, indem er ihn sichtbar nach oben hält, demonstriert er faktisch die Siedesteinchen, auf die er gleichzeitig auch verbal referiert. Ähnlich verhält es sich beim Indikator Bromthymolblau, den der Lehrer dadurch demonstriert, dass er das Pipettenfläschchen nach oben hält. Die verbale Referenz erfolgt wieder auf die chemische Substanz und nicht auf das Gefäß, in dem sich die Substanz befindet. Die Unterscheidung von ‘manipuliertem’ und ‘demonstriertem’ Objekt ist in methodologischer und analytischer Hinsicht relevant, weil sie eine Beschreibungssprache liefert, die den doppelten Stellenwert des Experiments im Chemieunterricht reflektiert und das Anforderungsprofil des Lehrers offenlegt: Einerseits wird das Experiment praktisch vom Lehrer durchgeführt, indem er unterschiedliche Objekte manipuliert und den Raum für das Experiment arrangiert. Andererseits steht sein praktisches Tun unter der Beobachtung der Schüler, die die Manipulation dieser Objekte wahrnehmen und wahrnehmen sollen. Der Lehrer demonstriert den Schülern durch die Manipulation der Objekte fachspezifisches Wissen. Das fachspezifische Wissen bezieht sich nur selten auf das konkrete Gefäß, das vom Lehrer manipuliert wird. Vielmehr sollen die Schüler die jeweiligen Chemikalien wahrnehmen, die sich in den Gefäßen befinden und deren Einsatz im Experiment letztlich im Mittelpunkt steht. Dabei kommt der Sprache eine zentrale Rolle zu, da sie gerade an der Schnittstelle von Wissenskom- <?page no="232"?> Verfahren der Einführung von Objekten 232 munikation und Wahrnehmungswahrnehmung wirksam ist: Im Zentraldokument wird die doppelte Bedeutung des Objekts indirekt expliziert, als der Lehrer die Siedesteinchen demonstriert und mit der verbalen Referenz hier noch solche KÖRNchen drin lokaldeiktisch auch darauf verweist, dass sich die Siedesteinchen in einem Gefäß befinden. Die verbalen Deiktika liefern also ein wichtiges Indiz dafür, wann es sich um das demonstrierte oder manipulierte Objekt handelt. Meistens wird dieser doppelte Stellenwert der Objekte jedoch von den Interaktionsbeteiligten fraglos vorausgesetzt und findet, wie im angeführten Beispiel, nur peripher Eingang in die Interaktion. So beobachten die Schüler nicht das Gefäß, in dem sich die chemische Substanz befindet, sondern primär die chemische Substanz selbst. Dokument hierfür liefern beispielsweise schülerseitige Äußerungen, wie die von Jan, der bei der Demonstration von Bromthymolblau den Lehrer fragt, ob es sich dabei um rote beete oder rotkohlsaft handle. Er bezieht sich in seiner Äußerung also nur auf die chemische Substanz des Indikators, indem er ihm bekannte Indikatoren nennt. Das Pipettenfläschchen als manipuliertes Objekt wird zu keinem Zeitpunkt sowohl vom Lehrer als auch von den Schülern thematisiert. Das ‘demonstrierte Objekt’ zeichnet sich darüber hinaus dadurch aus, dass es in fast allen Fällen in Form fachsprachlicher Ausdrücke Eingang in die Sprache findet. Wenngleich die das Objekt bezeichnenden Fachbegriffe zeitlich oft nachgestellt sind, können sie als konstitutiv für das ‘demonstrierte Objekt’ gelten. Das ‘manipulierte Objekt’ manifestiert sich hingegen implizit durch die Verwendung von Lokaldeiktika in der Sprache. Die Begriffsdifferenzierung ‘manipuliertes’ und ‘demonstriertes’ Objekt trägt dem doppelten Anforderungsprofil des Lehrers Rechnung, der sowohl das Experiment praktisch durchführen als auch fachspezifisches Wissen vermitteln muss. Darüber hinaus ermöglicht diese Terminologie in methodologischer und analytischer Hinsicht eine beschreibungssprachlich präzise Lokalisierung, welche Anforderungsebene gerade Gegenstand der Analyse ist. 5.8.3 Selbstreferenzielles vs. fremdreferenzielles Objekt Die folgende Begriffsdifferenzierung bezieht sich auf das demonstrierte Objekt und ist vom manipulierten Objekt weitgehend unabhängig. Demonstrierte Objekte können entweder selbst- oder fremdreferenzielle Bedeutung haben, wobei die fremdreferenzielle Bedeutung immer auch eine selbstreferenzielle Komponente miteinschließt. In der Chemie werden in der Regel fremdreferenzielle Objekte demonstriert, die nicht nur auf sich selbst, sondern immer auch auf andere Objekte ‘in der Welt’ verweisen. <?page no="233"?> Zusammenfassung 233 Das demonstrierte Bromthymolblau verweist nicht nur auf die konkret vorliegende Flüssigkeit, die der Lehrer im Experiment einsetzt. Es ist vielmehr repräsentativ für den chemischen Stoff Bromthymolblau, der mit spezifischen Eigenschaften verbunden ist und mit einer bestimmten Strukturformel beschrieben werden kann. Den Schülern wird nicht nur Fachwissen im Bezug auf eine konkret vorliegende Substanz vermittelt, sondern vor allem im Bezug auf den allgemeinen chemischen Stoff, für den diese konkrete Flüssigkeit stellvertretend ist. Das Bromthymolblau fungiert also als „prototypischer Vertreter seiner Kategorie, über deren Eigenschaften der Adressat durch Betrachtung des konkreten Einzelexemplars visuelle Qualitätsmerkmale erkennen kann“ (Stukenbrock 2015, S. 224). Die Fremdreferenz von Objekten wird in der Interaktion immer wieder implizit thematisiert. So unterscheidet der Lehrer bei der Demonstration von Bromthymolblau beispielsweise zwischen stoffen und diese[m] farbstoff hier. Die Identität des Farbstoffs als Bromthymolblau wird durch „eine Liste von Eigenschaften“ (Wünsch 2000, S. 23) bestimmt, die der Stoff aufweist. Hier ist es beispielsweise der Aggregatzustand und die im sauren Milieu wechselnde Farbe, die diesen farbstoff hier als Bromthymolblau identifizieren lassen. Ähnlich wie bei der Unterscheidung von ‘manipuliertem’ und ‘demonstriertem’ Objekt ergibt sich die Begriffsdifferenzierung jedoch nicht als Ergebnis der Aushandlung zwischen Interaktionsbeteiligten. Die Fremdreferenz chemischer Substanzen wird auch hier weitgehend fraglos vorausgesetzt und fließt nur punktuell in die verbalen Äußerungen der Beteiligten ein. Selbstreferenzielle Objekte verweisen im Gegensatz zu fremdreferenziellen Objekten nur auf sich selbst. Sie sind insofern nicht repräsentativ für andere Stoffe, als ihr Verhältnis zu anderen Stoffen ‘in der Welt’ nicht relevant ist. Ein Beispiel für selbstreferenzielle Objekte sind die Haargummis, die die Lehrerin im letzten kontrastiven Fall manipuliert. Sie verweisen nur auf sich selbst und sind nicht repräsentativ. Es geht bei der Manipulation der Haargummis nicht darum, den Schülern fachspezifisches Wissen zu einem allgemeinen Stoff zu vermitteln. Vielmehr dient die Manipulation hier der Indikativität, indem die Schüler daran erinnert werden sollen, ihre Haare zurückzubinden. Bei der Begriffsdifferenzierung wird bereits erkennbar, dass die Fremdreferenz von Objekten eng mit der Fachspezifik von Chemieunterricht verbunden ist. Dezidiert fachspezifische Objekte haben in der Chemie immer fremdreferenziellen Charakter. Sie sind Repräsentationen für chemische Stoffe, deren Eigenschaften und Reaktionsverhalten den grundlegenden Gegenstand von Chemieunterricht darstellen. Es bleibt zu untersuchen, inwiefern selbstreferenzielle Objekte überhaupt als Form der Wissensvermittlung im Rahmen von Objektdemonstrationen einge- <?page no="234"?> Verfahren der Einführung von Objekten 234 setzt werden können. Meist erfolgt der Einsatz selbstreferenzieller Objekte im Sinne der Indikativität und dient mehr der Organisationsstruktur von Interaktion als der inhaltlich-thematischen Wissensvermittlung. In anderen Kontexten können selbstreferenzielle Objekte durchaus zur Wissensvermittlung eingesetzt werden. So dient der Bunsenbrenner dem Lehrer nicht nur in pragmatischer Hinsicht als Wärmequelle, sondern auch zum Transfer von Wissen darüber, dass beispielsweise manche chemische Reaktionen Energie von außen bedürfen, um in Gang gesetzt zu werden. 5.8.4 Fachspezifisches vs. fachunspezifisches Objekt Ausgangspunkt für die Differenzierung von ‘fachspezifischem’ und ‘fachunspezifischem’ Objekt bildete der letzte kontrastive Fall, in dem die Lehrerin ein Haargummi nach oben hielt, um den Schülern zu verdeutlichen, dass sie ihre Haare vor dem Experimentieren zurückbinden sollen. Es kommt nun ein weiterer Aspekt hinzu, der mit der Bedeutung des Objekts für den fachlichen Kontext verbunden ist. Es gibt für den Chemieunterricht eine Vielzahl von Objekten, die generell unter ‘Chemieverdacht’ stehen, weil sie zu den typischen Arbeitsmitteln chemischer Herangehensweisen und Methoden zählen. Bei solchen Objekten handelt es sich um fachspezifische Objekte. Die Kategorisierung von Objekten erfolgt teilweise auf der Grundlage unseres kulturellen Wissens. Einen erheblichen Anteil an solchen Kategorisierungskompetenzen hat auch das erlernte Wissen darüber, in welchen (Fach-)Kontext bestimmte Objekte einzuordnen sind. Das Haargummi kommt bei den Schülern zu keinem Zeitpunkt der Interaktion in den Verdacht, ‘chemierelevant’ zu sein. Mit ihm sind bestimmte Benutzbarkeitshinweise verbunden, die es im Rahmen der aktuellen Unterrichtssituation als ein fachunspezifisches Objekt einordnen lassen. Die Schüler können aufgrund ihres kulturellen Wissens und ihrer Erfahrung davon ausgehen, dass dieses Objekt nicht wahrgenommen und beobachtet werden soll. Diese Annahme wird in ihrem konkreten Verhalten sichtbar, da nahezu kein Schüler zum Objekt nach vorne blickt, sondern die meisten bereits damit beschäftigt sind, Vorbereitungen für ihr eigenes Experiment zu treffen. Das interaktionsvorgängige Wissen über die Kategorisierung von Objekten darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese, von den Schülern durch ihr Verhalten verdeutlichte Annahme Produkt einer gemeinsamen Herstellung in der konkreten Interaktion ist. Die Lehrerin verdeutlicht ihrerseits auf der Ebene unterschiedlicher Ausdrucksressourcen, dass es sich nicht um ein wahrnehmungs- und beobachtungsrelevantes Objekt handelt. <?page no="235"?> Zusammenfassung 235 Die Begriffsdifferenzierung von ‘fachspezifischem’ und ‘fachunspezifischem’ Objekt hat sich insbesondere aus der analytisch rekonstruierbaren Signifikanz der Materialität und Beschaffenheit von Objekten für die Interaktion ergeben. Auf der Grundlage der Materialität und der damit verbundenen Funktionalität von Objekten im usuellen Sinne kann teilweise interaktionsvorgängig antizipiert werden, ob sie als Objekte im Sinne der Objektdemonstration manipuliert werden können. Fachunspezifische Objekte sind für diese Form der Wissensvermittlung nicht denkbar. Zunächst mag es plausibel erscheinen, die Unterscheidung von ‘fachspezifisch’ und ‘fachunspezifisch’ auf den Begriff des Gegenstands auszuweiten, verweist diese Terminologisierung doch bereits auf ein interaktionsvorgängiges Potenzial. Diese Ausweitung würde jedoch die interaktiven Herstellungsleistungen verschleiern, die Beteiligte hervorbringen müssen, damit ein Objekt schließlich als ‘fachspezifisch’ oder ‘fachunspezifisch’ klassifiziert werden kann. So legen die Benutzbarkeitshinweise des Haargummis einen Gebrauch nahe, der auf ein fachunspezifisches Objekt im Kontext Chemieunterricht schließen lässt. Im Rahmen der Unterrichtseinheit Kunststoff kann es jedoch von den Interaktionsbeteiligten durchaus auch fachspezifisch, etwa zur Demonstration eines Elastomers, eingesetzt werden. Hier zeigt sich wiederum die analytische Relevanz der Unterscheidung von ‘Gegenstand’ und ‘Objekt’. Gegenstände legen durch ihre konkrete Beschaffenheit eine fachspezifische oder fachunspezifische Nutzung nahe. Zum ‘fachspezifischen’ oder ‘fachunspezifischen Objekt’ werden sie jedoch erst, indem Beteiligte sie als interaktive Ressource entsprechend nutzen. <?page no="237"?> 6. DIDAKTISCHE REFLEXION ZENTRALER ANALYSEERGEBNISSE Aufbauend auf den empirischen Teil der Arbeit sollen im vorliegenden Kapitel zentrale Analyseergebnisse unter einer didaktischen Perspektive reflektiert und im Hinblick auf ihren Stellenwert für die Lehrerbildung und die Schulpraxis diskutiert werden. Das Kapitel nimmt im Rahmen der Arbeit einen besonderen Status ein: Es geht aus den empirischen Analysen hervor und ist daher nicht losgelöst vom methodischen, analytischen und konzeptionellen Erkenntnisinteresse zu betrachten, das der Arbeit insgesamt zugrundeliegt. Dieser Zusammenhang ist jedoch nicht so zu verstehen, dass das vorliegende Kapitel die Kenntnis des empirischen Teils voraussetzt. Es ist vielmehr als Ergebnispräsentation eines kontinuierlichen Arbeitsprozesses zu sehen, der in der regelmäßigen didaktischen Reflexion zentraler, durch die empirische Analyse erarbeiteter Aspekte bestand. Deshalb soll er als eigenständiger Text lesbar sein, der in seiner Struktur nicht dem Aufbau des empirischen Teils folgt. Er richtet sich vor allem an diejenigen, die aufgrund ihrer Profession ein didaktisches Interesse an interaktiven Prozessen im Chemieunterricht haben: - Chemielehrer, - Fachleiter der Chemie an Seminaren für Didaktik und Lehrerbildung und - Lehrende im Fachbereich Chemie an pädagogischen Hochschulen. Der bewusste Verzicht einer Verortung der hier dargestellten didaktischen Perspektive im fachdidaktischen Forschungszusammenhang hat zweierlei Gründe: Einerseits würde eine derartige Aufarbeitung fachdidaktischer Literatur den Rahmen der Arbeit sprengen und dem der Arbeit zugrundeliegenden Erkenntnisinteresse nicht entsprechen. Andererseits weist die hier vertretene didaktische Perspektive gewisse Alleinstellungsmerkmale auf und unterscheidet sich signifikant von anderen fachdidaktischen Untersuchungen. In einem anderen Rahmen ist es jedoch sicherlich lohnend, diese didaktische Perspektive mit anderen Studien zur Interaktion im Chemieunterricht abzugleichen und Bezugspunkte bzw. Unterschiede herauszuarbeiten. Das Kapitel ist so aufgebaut, dass im ersten Schritt eine Beschreibung der zentralen didaktischen Perspektive erfolgt, die sich aus der Beschäftigung mit den Daten ergeben hat und bei der Reflexion der Analyseergebnisse des empirischen Teils eingenommen wird (Kap. 6.1). Im nächsten Schritt soll die Anforderungsstruktur eines Chemielehrers in der Interaktionssituation ‘Chemieunterricht’ kurz skizziert werden (Kap. 6.2). <?page no="238"?> Didaktische Reflexion zentraler Analyseergebnisse 238 Darauf aufbauend werden vier didaktische Strategien vorgestellt, die sich auf der Grundlage des empirischen Teils als zentral für das faktische Handeln des Lehrers erwiesen haben (Kap. 6.3). Die Strategien sind dabei durchaus als Plädoyer für ein didaktisches Handeln zu verstehen, das insbesondere die körperlich-räumlichen Grundlagen von Interaktion nutzt. Die erste Strategie „Nutzung des Raums“ geht der Frage nach, wie die Möglichkeiten, die der Raum in seiner (typischen) Ausstattung zur Verfügung stellt, für die Bearbeitung zentraler Anforderungen im Unterricht genutzt werden können (Kap. 6.3.1) Darauf aufbauend wird die Strategie „Koordinierung unterschiedlicher Ausdrucksmöglichkeiten“ vorgestellt, die das Verhältnis von Sprache und körperlich-räumlichem Verhalten relativ zur aktuellen Unterrichtsphase reflektiert (Kap. 6.3.2). Die zentrale und kontinuierlich zu bearbeitende Anforderung an den Lehrer, die Wahrnehmung der Schüler im Bezug auf seine Aktivitäten zu strukturieren, liegt der Entwicklung der ersten beiden Strategien zugrunde. Die dritte Strategie „Inszenieren des Chemieexperiments“ (Kap. 6.3.3) reflektiert die einzelnen Phasen des Chemieexperiments, die in das Unterrichtsgeschehen unterschiedlich integriert werden können. Abschließend soll mit der vierten Strategie „Alltagsweltliche Verankerung der Sprache“ eine Möglichkeit vorgestellt werden, die der Vermittlung der chemischen Fachsprache einerseits und der alltagsweltlichen Verankerung andererseits Rechnung trägt. Dabei spielt das Verhältnis von Fachsprache und vom Status des Experiments eine wichtige Rolle (Kap. 6.3.4) 6.1 Die Konzeption De-facto-Didaktik Die hier vertretene didaktische Perspektive wurde erstmals in dem Sammelband „Unterricht ist Interaktion! “ (Schmitt (Hg.) 2011) unter dem Begriff der ‘De-facto-Didaktik’ vorgestellt und ausführlich beschrieben. Dabei handelt es sich um eine Konzeption, die im Rahmen der kontinuierlichen Zusammenarbeit von Lehrern, Didaktikern und Wissenschaftlern im Institut für Deutsche Sprache entwickelt wurde. Auf der Grundlage von Videoaufnahmen werden authentische Unterrichtssituationen im Hinblick auf didaktische Relevanzen untersucht und ausgewertet. Im Gegensatz zu evaluativen Ansätzen oder gewissen Ideologisierungen, die sich oftmals in fachdidaktischen Studien zeigen, wird in der De-facto-Didakik das faktische Handeln der Lehrer als Beteiligte der Interaktion zunächst deskriptiv untersucht. Durch die Analyse des (de-facto-didaktischen) Handelns der Lehrer können Verfahren beschrieben werden, die Lehrer zur Bearbeitung zentraler Anforderungen einsetzen. <?page no="239"?> Die Konzeption De-facto-Didaktik 239 Wenngleich Lehrer aufgrund ihres formalen Status mit wichtigen Rechten und Pflichten ausgestattet sind, wie etwa der thematischen Steuerung oder der Situationskontrolle, sind sie - interaktionistisch betrachtet - genau wie Schüler zunächst einmal Beteiligte der Interaktion. Daher unterliegen sie ebenso den Mechanismen der Interaktion und haben entgegen mancher ideologisierenden Sicht nur eine eingeschränkte Kontrolle im Bezug auf die Entwicklungsdynamik des Unterrichts. Ein Beispiel für einen solchen Mechanismus der Interaktion sind die unterschiedlichen Relevanzen, die Schüler und Lehrer aufgrund ihres Beteiligungsformats bereits mit sich bringen. So stehen für Lehrer insbesondere Vermittlungsrelevanzen im Vordergrund: Im Unterricht soll einer bestimmten Fragestellung möglichst so nachgegangen werden, dass die Schüler zur Mitarbeit motiviert und Kompetenzen langfristig gelernt und verfeinert werden. Schüler hingegen nehmen die Interaktion aus ihrer eigenen Perspektive wahr: Sie sind diejenigen, die Kompetenzen und Inhalte erlernen und eben auch erlernen sollen. Schüler haben jedoch auch andere Relevanzen, die beispielsweise ihre Rolle im Klassenverband oder Möglichkeiten zur Darstellung betreffen. Derartige Relevanzen zeigen sich nicht selten durch sogenannte ‘Nebenkommunikation’, die auch ein zentraler, ‘naturwüchsiger’ Bestandteil des Unterrichts ist (Baurmann/ Cherubim/ Rehbock (Hg.) 1981). Dass Interaktion (d.h. auch Unterricht als Interaktion) trotzdem gelingt, liegt an der „So-tunals-ob“-Haltung von Lehrern und Schülern, die scheinbar die gleiche Perspektive und Relevanzen verfolgen, um ihren eigenen Belangen nachzukommen. 82 Die Konzeption De-facto-Didaktik trägt der Tatsache Rechnung, dass Unterricht nur ein bedingt plan- und antizipierbares Unternehmen ist. Durch die Entwicklungsdynamik des Unterrichts können beispielsweise situativ interaktive Anforderungen entstehen, die Lehrer bearbeiten müssen, unabhängig davon, ob sie ihren didaktischen Vorüberlegungen und der Stundenplanung entsprechen oder nicht. Interaktionsvorgängige Unterrichtsvorbereitungen und das de-facto-didaktische Handeln stehen jedoch nicht im Widerspruch, sondern zeigen im Gegenteil ein wechselseitiges Stützungsverhältnis: Didaktische Überlegungen bilden einen wesentlichen Orientierungsrahmen, in dem der Lehrer den Unterricht interaktionsvorgängig im Bezug auf bestimmte Unterrichtsziele gestaltet und plant. Er kann dabei bereits bestimmte Verhaltensweisen der Schüler antizipieren, die es ihm später gegebenenfalls erleichtern, auf bestimmte Fragen oder Probleme zu reagieren. Die Unterrichtsvorbereitung selbst ist jedoch ‘monologischer Natur’ und unterscheidet sich daher von der „interaktiven Qualität professionsspezifischen Handelns“ (Schmitt 2011, S. 231). Das de-facto-didaktische Handeln des Lehrers kann wiederum dazu dienen, die Funktionalität interaktionsvorgängiger Überlegungen zu prüfen. 82 Alfred Schütz beschreibt diese Haltung als „Idealisierung“ (Schütz 1971). <?page no="240"?> Didaktische Reflexion zentraler Analyseergebnisse 240 Die De-facto-Didaktik fokussiert also Aspekte des professionsspezifischen Handelns, die mit dem (interaktiven) Vollzug des Unterrichts verbunden sind. Der Begriff ‘de facto’ darf dabei nicht im Sinne des spontanen, unüberlegten Handelns verstanden werden, sondern lenkt den Blick auf die interaktiven Bedingungen didaktischen Handelns: Unterricht ist ein gemeinschaftliches Unternehmen, an dessen Vollzug Lehrer und Schüler gleichermaßen beteiligt sind. Die De-facto-Didaktik ist daher als eine Form didaktischer Praxis zu verstehen, deren strukturellen Bedingungen sich maßgeblich von anderen, interaktionsvorgängigen Formen unterscheiden. Dabei dient die Konzeption nicht als Bewertungsrahmen, sondern versucht - ganz im Gegenteil - durch die detaillierte Beschreibung des in der Interaktion vollzogenen didaktischen Handelns Strategien und Verfahren zu extrahieren, die Lehrer zur Bearbeitung zentraler interaktiver Anforderungen einsetzen. Im zweiten Schritt können dann Chancen und Risiken einer spezifischen didaktischen Praxis reflektiert und diskutiert werden (Schmitt (Hg.) 2011), die diese Strategien oder Verfahren mit sich bringen. 6.2 Das Anforderungsprofil von Chemielehrern Wenn die interaktive Qualität des professionellen Handelns von Lehrern im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht, ist es ein naheliegender Schritt, zunächst die Anforderungen zu beschreiben, mit welchen Chemielehrer im Unterricht konfrontiert sind: - Welche (interaktiven) Anforderungen müssen Chemielehrer während des Unterrichts überhaupt bearbeiten? - Gibt es bestimmte Hauptanforderungen, die unabhängig von Klassenstufe und Unterrichtsthema generell zu bearbeiten sind? - Wenn ja, unterscheiden sie sich hinsichtlich ihrer Funktionalität für den Chemieunterricht? Das Kapitel versucht diese Fragen zu beantworten, wobei es nicht darum geht, eine vollständige Liste an Anforderungen zu erstellen, die insgesamt für lehrerseitige Anforderungen im Chemieunterricht repräsentativ ist. Es geht vielmehr um die Beschreibung zentraler Hauptanforderungen, mit welchen Lehrer im Laufe des Unterrichts konfrontiert sind. Interessant sind dabei vor allem die Phasen des Unterrichts, in welchen Chemielehrer im Bezug auf ihre Kompetenzen maximal gefordert sind: die Experimentalphasen. Das Anforderungsprofil von Chemielehrern während Experimentalphasen ist vielschichtig, da zu den allgemeinen unterrichtsspezifischen Anforderungen (Putzier 2011, S. 78) fachspezifische Anforderungen hinzukommen, die in <?page no="241"?> Das Anforderungsprofil von Chemielehrern 241 der Natur des Experiments liegen: Chemielehrer müssen Experimente praktisch durchführen. Die praktische Durchführung des Experiments steht dabei im Dienste der Wissensvermittlung. Anhand von Experimenten werden mit den Schülern fachspezifische Inhalte erarbeitet und diskutiert. Die ‘Schnittstelle’ zwischen praktischer Durchführung und Wissensvermittlung bildet die Wahrnehmungsstrukturierung: Lehrer müssen ihre experimentellen Aktivitäten für die Schüler verstehbar machen, indem sie ihnen beispielsweise verdeutlichen, welche Geräte oder Chemikalien besonders zu beobachten sind. Sie agieren permanent unter Wahrnehmungswahrnehmungsstrukturen (Hausendorf 2003): Die Schüler nehmen sie bei ihren Aktivitäten wahr und sie selbst nehmen wiederum wahr, dass sie wahrgenommen werden. Die zentrale Anforderung besteht dabei darin, die Wahrnehmung der Schüler so zu strukturieren, dass anhand des Experiments Wissen erarbeitet werden kann. Hier zeigt sich, wie eng die einzelnen Hauptanforderungen miteinander verknüpft und wechselseitig aufeinander bezogen sind. Neben den Hauptanforderungen der praktischen Durchführung, der Wissensvermittlung und der Wahrnehmungsstrukturierung gehört es auch zur Aufgabe des Lehrers, den Verlauf der Interaktion zu beeinflussen oder das interaktive Beteiligungsformat der Schüler zu steuern. Solche dezidiert interaktionsbezogenen Anforderungen werden als „Interaktionsmanagement“ (Schmitt 2009, S. 23) bezeichnet. Es können also insgesamt vier Anforderungen formuliert werden, die Chemielehrer während Experimentalphasen bearbeiten müssen: 1) Praktische Durchführung des Chemieexperiments, 2) Wissensvermittlung, 3) Wahrnehmungsstrukturierung und 4) Interaktionsmanagement. Wenngleich eine solche Auflistung den Eindruck erwecken könnte, dass es sich um klar abgrenzbare Aufgaben handelt, dient diese „künstliche“ Trennung als Zugang zur (interaktiven) Vielschichtigkeit von Chemieunterricht. Im Unterrichtsvollzug sind diese Anforderungen untrennbar miteinander verbunden und nicht losgelöst voneinander zu betrachten. Eine analytische Trennung in vier Hauptanforderungen ermöglicht es jedoch, die Komplexität von Chemieunterricht zu reflektieren und die Strategien zur Bearbeitung zentraler Anforderungen entsprechend in Rechnung zu stellen. Im Folgenden sollen die Anforderungen kurz skizziert werden. <?page no="242"?> Didaktische Reflexion zentraler Analyseergebnisse 242 6.2.1 Praktische Durchführung des Chemieexperiments Um anhand eines Chemieexperiments fachspezifische Inhalte vermitteln zu können, muss es praktisch durchgeführt werden. Dafür müssen Geräte bereitgestellt, arrangiert und Chemikalien eingesetzt werden. Chemielehrer sind dabei unweigerlich an die Zeitlichkeit des jeweiligen Experiments gebunden. So kann Alkohol beispielsweise erst nachgewiesen werden, wenn die alkoholische Gärung abgeschlossen oder zumindest gerade im Gang ist. Die Zeitlichkeit des Experiments ist unabhängig von der Interaktionssituation und erfordert von den Lehrern sowohl bei der vorbereitenden Durchführung im Vorbereitungsraum als auch im Unterricht selbst spezifische Aktivitäten, die für den jeweiligen Versuch konstitutiv sind. Diese Aktivitäten reichen von vorbereitenden Tätigkeiten, wie etwa dem Bereitstellen von Chemikalien und dem Aufbauen des Versuchsarrangements bis hin zur Durchführung selbst, bei der chemische Reaktionen beispielsweise durch Erhitzen mit dem Bunsenbrenner oder Vermischung von Substanzen in Gang gesetzt werden. Die einzelnen Aktivitäten können je nach Funktionalität zwar schrittweise realisiert werden, sind jedoch an die Logik des Experiments gebunden und nicht beliebig austauschbar. Ist die chemische Reaktion schließlich in Gang gesetzt, läuft sie der Zeitlichkeit des Experiments entsprechend ab. Die experimentellen Aktivitäten können dazu führen, dass Lehrer weitgehend davon vereinnahmt bzw. ‘absorbiert’ werden und dadurch anderen Anforderungen nur noch eingeschränkt nachkommen können (vgl. Kap. 6.2.4). Sie müssen also Strategien entwickeln, die sie davon entlasten, während experimenteller Aktivitäten zusätzlich Management-Aktivitäten nachgehen zu müssen. Wenngleich die Hauptanforderung der praktischen Durchführung des Experiments teilweise losgelöst von interaktiven Anforderungen zu sein scheint, ist sie doch unweigerlich mit der Interaktion verbunden: Die Lehrer führen Experimente nicht zur eigenen Erkenntnisgewinnung durch, sondern um fachspezifische Inhalte zu erarbeiten und Wissen zu vermitteln. 6.2.2 Wissensvermittlung Chemielehrer müssen ihre Aktivitäten für die Schüler beobachtbar und verstehbar machen. Die Schülerinnen und Schüler müssen als Beobachtende einen Sinnzusammenhang von Unterrichtsthema, Fragestellung und Experiment erkennen, damit Wissen anhand eines Experiments vermittelt werden kann. Die Wissensvermittlung erfolgt nicht nur während des Experiments und bei der anschließenden Auswertung, sondern bereits während der Vorbereitungsaktivitäten der Lehrer im Unterricht. Hier wird den Schülern beispielsweise <?page no="243"?> Das Anforderungsprofil von Chemielehrern 243 Wissen über den Versuchsaufbau oder über die eingesetzten Chemikalien vermittelt, das für eine spätere adäquate Deutung des Versuchs notwendige Voraussetzung sein kann. Die Wissensvermittlung hängt also eng mit der Wahrnehmung des Experiments zusammen. Die Schüler erlernen durch die Beobachtung der praktischen Aktivitäten des Lehrers ein bestimmtes fachspezifisches Wissen. Gleichzeitig kann die Wissensvermittlung auch verbal erfolgen, indem der Lehrer beispielsweise Laborgeräte und Chemikalien benennt, deren Einsatz beschreibt oder einzelne Aktivitäten verbal kommentiert. 6.2.3 Wahrnehmungsstrukturierung Die Wahrnehmungsstrukturierung bildet die ‘Schnittstelle’ zwischen den Anforderungen, das Experiment einerseits durchführen zu müssen und andererseits fachspezifisches Wissen zu vermitteln. Um anhand eines Experiments spezifische Wissensinhalte erarbeiten zu können, müssen einzelne Arbeitsschritte für die Schüler verstehbar gemacht werden. Für die Schüler gilt es daher, die vom Chemielehrer durchgeführten Experimente kontinuierlich zu beobachten. Doch woher wissen Schüler, wann sie welche Bereiche auf dem Experimentiertisch zu beobachten haben? Welche der zahlreichen Objekte sind für den Versuch zentral? Wie verdeutlichen Chemielehrer, dass sie vorbereitenden Aktivitäten nachgehen, die zum Verständnis des Experiments (noch) nicht unbedingt beobachtet werden müssen? Chemielehrer sind permanent mit der Aufgabe konfrontiert, die Wahrnehmung der Schüler so zu strukturieren, dass sie ihren Aktivitäten folgen, thematische Relevanzen erkennen und im Bezug auf die zentrale Fragestellung deuten können. Die Wahrnehmungsstrukturierung kann verbal erfolgen, indem Chemielehrer beispielsweise explizite Beobachtungshinweise geben. Da sie jedoch oft durch praktische Aktivitäten ‘absorbiert sind’, kann eine Strategie, in der sie stärker auf körperlich-räumliche Ressourcen zurückgreifen, entlastend sein. Darüber hinaus müssen verbale Äußerungen auch dafür eingesetzt werden, Management-Aktivitäten zu bearbeiten, da Schüler natürlich nicht nur unterrichtsbezogenen Aufgaben nachkommen. <?page no="244"?> Didaktische Reflexion zentraler Analyseergebnisse 244 6.2.4 Interaktionsmanagement 83 Management-Aktivitäten sind unterrichtsspezifische Anforderungen, die jeder Lehrer unabhängig von seinem jeweiligen Unterrichtsfach bearbeiten muss. Der Begriff des ‘Interaktionsmanagements’ bezeichnet alle Verhaltensweisen der Interaktionsteilnehmer, „mit denen sie a) den Verlauf der Interaktion, b) die Interaktionsmodalität, c) die Interaktionsdynamik, d) ihr interaktives Beteiligungsformat und e) das thematische Profil zielbezogen beeinflussen bzw. steuern“ (Schmitt 2009, S. 23). Zu einer zentralen Anforderung zählt hierbei die Fokussierung der Schüler auf den aktuellen Unterrichtsgegenstand. Einerseits ist es die Aufgabe der Lehrer, die thematische Einbettung der Experimente in den Gesamtzusammenhang der Stunde vorzunehmen und sie gegebenenfalls anzukündigen, um die Schüler vorzubereiten oder genauer ‘vorzufokussieren’. Andererseits muss dann die auf die Thematik gelenkte Orientierung der Schüler aufrechterhalten werden, sodass die Schüler dem Demonstrationsversuch im entscheidenden Moment ihre volle Aufmerksamkeit widmen. Lehrer verfügen üblicherweise über zahlreiche Strategien, die Konzentration der Schüler für ihren jeweiligen Unterrichtsgegenstand zu überprüfen und aufrechtzuerhalten (vgl. Reitemeier 2011). Neben verbalen Fokussierungsleistungen spielen dabei besonders Beobachtungs-Aktivitäten im Sinne von sogenannten Monitoring-Aktivitäten (M.H. Goodwin 1980) eine große Rolle. Die blickliche Beobachtung der Schüler kann als wesentliche Voraussetzung für die Koordination der eigenen Aktivitäten des Lehrers mit den Verhaltensweisen und Beiträgen der Schüler gelten. Durch die kontinuierliche Beobachtung der Klasse kann er überprüfen, ob die Schüler dem Unterrichtsverlauf folgen (können) und ob inhaltlich-thematische oder sonstige Probleme auftreten. Insbesondere bei der Gesprächsorganisation ist der Blickkontakt mit den Schülern eine unabdingbare Voraussetzung. Darüber hinaus müssen Lehrer oft auf selbstinitiative Schülerbeiträge eingehen, die nicht immer an den Unterrichtsgegenstand anschließen bzw. von den lokalen Relevanzen des Versuchs abweichen können. Die Absorbiertheit der Lehrer aufgrund von praktischen Aktivitäten führt auch im Hinblick auf 83 Die Beschreibung des Interaktionsmanagements ist an einigen Stellen aus dem Beitrag Putzier (2011, S. 76f.) entnommen. <?page no="245"?> Strategien zur Bearbeitung interaktiver Anforderungen 245 die Management-Aktivitäten dazu, dass sie lokal nicht immer über die üblichen Strategien verfügen, um die Schüler auf den Versuch zu fokussieren. Sie müssen also alternative Verfahren entwickeln, mit welchen sie das ihrer Zielorientierung entsprechende Beteiligungsformat der Schüler einholen können. 6.3 Strategien zur Bearbeitung interaktiver Anforderungen im Chemieunterricht Die Bearbeitung der vier zentralen Anforderungen im Chemieunterricht kann auf unterschiedliche Weise erfolgen und ist zu einem nicht unerheblichen Teil abhängig vom jeweiligen Lehrstil. Die Gemeinsamkeit aller Bearbeitungsverfahren und -strategien liegt in den zahlreichen Ausdrucksmöglichkeiten, die Lehrern für die Interaktion zur Verfügung stehen: - Verbalität (Prosodie, Wortwahl), - Blickverhalten, - Gestikulation, - Körperkonstellation, - Körperpositur, - Körperposition im Raum, - Bewegung im Raum und - Einsatz von Objekten. In der Interaktion ist die gleichzeitige Nutzung dieser Ausdrucksmöglichkeiten der Normalfall, wenngleich sie je nach Situation eine unterschiedliche Rolle spielen können. Lehrer bearbeiten also interaktive Anforderungen mithilfe des Einsatzes dieser Ausdrucksmöglichkeiten, um schließlich ihre Handlungsziele zu erreichen. Hier werden vor allem Bearbeitungsstrategien vorgestellt, bei denen Lehrer verstärkt körperlich-räumliche Ausdrucksmöglichkeiten nutzen. Entgegen der weit verbreiteten Annahme, Sprache sei die für den Unterricht wichtigste Ausdrucksmöglichkeit, ist der Einsatz körperlich-räumlicher Ressourcen gleichermaßen wichtig und spielt insbesondere für Experimentalphasen eine zentrale Rolle. 6.3.1 Nutzung des Raums Die erste Strategie, die zur Bearbeitung lehrerseitiger Anforderungen im Chemieunterricht vorgestellt werden soll, ist die „Nutzung des Raums“. Sie betrifft dabei alle Hauptanforderungen (praktische Durchführung, Wissensvermittlung, Wahrnehmungsstrukturierung und Interaktionsmanagement) <?page no="246"?> Didaktische Reflexion zentraler Analyseergebnisse 246 gleichermaßen. Bei der praktischen Durchführung des Experiments versteht es sich jedoch von selbst, dass Lehrer den Raum nutzen, indem sie beispielsweise Objekte vom Chemikalientisch auf dem Experimentiertisch als Versuchsapparatur arrangieren. Daher sollen hier zwei Anforderungen fokussiert werden, für deren Bearbeitung man als Lehrer nicht unbedingt sofort an die Nutzung des Raums denken würde, weil man sie erfahrungsgemäß meist mit Verbalität verbindet: die Anforderungen Wahrnehmungsstrukturierung und Interaktionsmanagement. Wenn Lehrer permanent verbalisieren würden, was sie experimentell gerade machen, würden sie den Aufmerksamkeitsfokus der Schüler von dem weglenken, was eigentlich zentral ist: das Beobachten des Experiments. Nicht das Hörbare, sondern das Sichtbare soll in Experimentalphasen im Mittelpunkt stehen, um es - in der Regel - im Anschluss im Bezug auf bestimmte Fragestellungen zu deuten. Natürlich kann die Wahrnehmung der Schüler auf das Sichtbare gelenkt werden, indem Lehrer verbal darauf verweisen. Jedoch kann dies schnell auf Kosten der Beobachtung gehen, weil das Gesprochene von der Beobachtung des Experiments ablenkt oder vom Lehrer Aspekte bereits vorweggenommen werden, die eigentlich von Schülern selbstständig gesehen werden sollten. Für die Strukturierung der Wahrnehmung eignet es sich daher in besonderem Maße, statt der Verbalität den Raum als Angebot zu nutzen. Bei herkömmlichen Chemie- und Praktikumsräumen handelt es sich um stark vorstrukturierte Räume, deren vorderer Bereich vor allem durch den fest installierten Lehrerexperimentiertisch gekennzeichnet ist. Der Lehrer steht beim Experimentieren hinter dem Experimentiertisch und ist mit dem Blick zu den Schülern orientiert. Arbeitet er hingegen an der Tafel, die an der Stirnwand hinter dem Experimentiertisch angebracht ist, muss er sich zwangsläufig mit dem Rücken zu den Schülern drehen. Zwischen dem Experimentiertisch und der ersten Sitzreihe besteht aufgrund sicherheitsrechtlicher Bestimmungen mit 1,40 Metern ein relativ großer Abstand, sodass auch der vor dem Experimentiertisch befindliche Bereich genutzt werden kann. Lehrer können also unterschiedliche Positionen im Raum einnehmen. Diese Positionen sind an verschiedene Aktivitäten gebunden: So werden Lehrer für die schriftliche Fixierung der Inhalte an der Tafel zwangsläufig hinter dem Experimentiertisch stehen und zeitweise den Rücken zu den Schülern drehen müssen. Bei der Durchführung von Experimenten stehen sie hingegen am Experimentiertisch zu den Schülern orientiert. Aus der Perspektive der Schüler betrachtet sind die unterschiedlichen Positionen im Raum an bestimmte Handlungsmuster gebunden, die bei ihnen unterschiedliche Beteiligungsformate implizieren: So wissen Schüler genau, dass sie während des Experiments vor allem in ihrem Beobachtungsvermögen gefragt sind, während ein <?page no="247"?> Strategien zur Bearbeitung interaktiver Anforderungen 247 Tafelanschrieb in der Regel schriftlich ins Heft zu übertragen ist. Der Lehrer kann die Wahrnehmung der Schüler also durch seine Position im Raum navigieren. Der Raum vor dem Experimentiertisch wird in der Regel nicht in der systematischen Weise genutzt, wie es bei anderen Raumbereichen der Fall ist: In der Lehrerausbildung wird oft davon gesprochen, dass sich Referendare hinter dem Experimentiertisch ‘verschanzen’ und durch die räumliche Barriere des Tisches eine Distanz zu den Schülern aufbauen. Der Raum vor dem Experimentiertisch könnte vor allem dann genutzt werden, wenn vor oder nach dem Experiment längere Gesprächsphasen erfolgen, in welchen es in erster Linie um die verbale Bearbeitung inhaltlicher Aspekte geht. Wenn Lehrer den vorderen Raumbereich in ähnlich systematischer Weise nutzen wie die Position hinter dem Experimentiertisch, können sie bereits durch ihre Form der Raumnutzung die Wahrnehmung der Schüler strukturieren. Der Zusammenhang von Raumposition und Handlungsmuster erweist sich auch bei der Bearbeitung von Anforderungen im Bereich des Interaktionsmanagements als produktiv. Insbesondere das thematische Profil des Unterrichts und die Interaktionsdynamik können durch den gezielten Einsatz räumlicher Ausdrucksmöglichkeiten beeinflusst werden. Im Bezug auf die Interaktionsdynamik besteht in bestimmten Phasen des Unterrichts eine ‘Gefährdung’, was beispielsweise das Beteiligungsformat der Schüler betrifft. Sogenannte ‘Gelenkstellen’ im Unterricht, die dem Wechsel und der Fortentwicklung von Teilthemen dienen, 84 werden von Schülern oft (intuitiv) genutzt, um anderen Relevanzen nachzugehen, was sich beispielsweise in einem zunehmenden Lautstärkepegel äußert. 85 Solche für den Unterricht charakteristischen Übergangsphasen erfolgen oft diffus und werden für Schüler selten transparent gemacht. Für eine erfolgreiche Wissensvermittlung kann es jedoch sehr nützlich sein, klare Segmentierungen im Unterricht vorzunehmen und den Schülern den thematischen Verlauf und die damit zusammenhängende Interaktionsmodalität zu verdeutlichen. Hierfür stellt die „Nutzung des Raums“ wieder eine mögliche Strategie dar, die Lehrer von verbalen Explizierungen solcher Gelenkstellen entlastet: Der Wechsel und die Fortentwicklung von Teilthemen können durch einen Wechsel der Raumposition begleitet werden. Dabei wird der Zusam- 84 Vgl. hierzu die Fachdidaktik von Günther Einecke: www.fachdidaktik-einecke.de/ 7_Unter richtsmethoden/ untersgespraech_neu.htm (Stand: 24.1.2014). 85 Die Gefährdung solcher Gelenkstellen hat zahlreiche Gründe, die in diesem Rahmen nicht ausführlich dargelegt werden können. Solche Übergangsphasen im Unterricht stellen meist ein strukturelles Angebot an Schüler zur Verfügung, anderen Relevanzen nachzugehen. Dies hängt sowohl mit thematischen Aspekten (Bsp.: roter Faden ist für Schüler nicht erkennbar) als auch mit Aspekten der Interaktionsorganisation zusammen (Bsp.: Medienwechsel). <?page no="248"?> Didaktische Reflexion zentraler Analyseergebnisse 248 menhang von Position und Aktivitätsstruktur genutzt: Erfolgt nach einer Experimentalphase, in der Lehrer hinter dem Experimentiertisch stehen, ein Lehrer-Schüler-Gespräch, kann dies mit einem Positionswechsel vor den Experimentiertisch markiert werden. Dadurch rücken Lehrer auch körperlichräumlich näher an die Schüler heran, um verbal mit ihnen in Austausch zu treten. Analog verhält es sich mit Phasenübergängen, die zur Einleitung von Schülerdemonstrationsexperimenten dienen: Hier kann der Positionswechsel in den hinteren Bereich des Chemiesaals oder einen anderen, randständigen Raumbereich zur Verdeutlichung dienen, dass der Lehrer sich ‘zurücknimmt’ und der Aufmerksamkeitsfokus auf dem experimentierenden Schüler liegen soll. Eine derartige Raumnutzung macht es nicht mehr erforderlich, dass Lehrer Schüler verbal darauf hinweisen, den experimentierenden Schüler zu beobachten. 6.3.2 Koordinierung unterschiedlicher Ausdrucksmöglichkeiten Eine weitere Strategie, die Lehrern zur Bearbeitung der Hauptanforderungen im Chemieunterricht dienen kann, ist die der „Koordinierung unterschiedlicher Ausdrucksmöglichkeiten“. Der gleichzeitige Einsatz verschiedener Ausdrucksressourcen ist für jegliche Interaktion charakteristisch. Im Bezug auf Experimentalphasen im Chemieunterricht setzen Lehrer also nicht nur ihre Hände und Arme ein, um das Experiment durchzuführen, sondern sie werden gegebenenfalls verbal aktiv, bewegen sich im Raum und setzen ihren Blick ein, um bestimmte Handlungsziele zu erreichen. Dabei sind nicht alle Ausdrucksmöglichkeiten jederzeit gleichermaßen relevant. Die gezielte Koordinierung unterschiedlicher Ausdrucksmöglichkeiten kann eine Strategie sein, um die Hauptanforderungen der praktischen Durchführung und des Interaktionsmanagements zu bearbeiten. Während der Durchführung des Experiments gibt es beispielweise immer wieder Phasen, in welchen Lehrer aufgrund der praktischen Anforderungen so absorbiert sind, dass es ihnen nur bedingt möglich ist, in verbalen Austausch mit den Schülern zu treten. Sie setzen bestimmte Ausdrucksressourcen, wie etwa ihren Blick, ihre Hände und ihre Positur, in erster Linie für die Durchführung des Experiments ein. Mit der gezielten Koordinierung unterschiedlicher Ausdrucksmöglichkeiten können Lehrer bei der praktischen Durchführung des Experiments die Relevanzen ihrer jeweiligen Aktivitäten verdeutlichen und den Schülern damit vermitteln, welches Beteiligungsformat ihrerseits gefordert ist. Je nach Versuchsphase sind die Aktivtäten des Lehrers mehr oder weniger relevant für die Schüler, weil sie im Bezug auf die Wissensvermittlung einen unterschiedlichen Stellenwert einnehmen. <?page no="249"?> Strategien zur Bearbeitung interaktiver Anforderungen 249 So spielen Vorbereitungsaktivitäten, wie etwa das Arrangement von Laborgeräten, für die Vermittlung fachspezifischen Wissens eher eine untergeordnete Rolle. Der Lehrer muss die Vorbereitungen für die Realisierung des Experiments praktisch umsetzen, ist währenddessen jedoch weder in experimenteller noch in didaktischer Hinsicht besonders gefordert. Unter einer didaktischen Perspektive ist es nicht notwendig, dass der Lehrer seine Aktivitäten (verbal) beschreibt. Im Gegenteil kann er solche Phasen nutzen, um beispielsweise Relevanzen zu bearbeiten, die nicht notwendigerweise mit seinen aktuellen Aktivitäten zusammenhängen. Die spezifische Koordinierung unterschiedlicher Ausdrucksmöglichkeiten würde sich hier darin zeigen, dass Lehrer verbal Aspekte bearbeiten, die nicht auf ihre aktuellen Aktivitäten bezogen sind. Auf der Grundlage des Verhaltens der Lehrer können Schüler die Aktivitäten als Vorbereitungen interpretieren und nutzen diese nicht selten als ‘Auszeiten’, um ihren eigenen Belangen nachzukommen. Daher sind solche Phasen oft mit einem Anstieg des Geräuschpegels in der Klasse verbunden. Lehrer können diese Phasen gezielt als ‘Auszeit’ nutzen, um anderen wichtigen Relevanzen, wie etwa der Beziehungsarbeit, nachzukommen. Die Analysen haben gezeigt, dass Schüler in solchen Phasen oft von Alltagserfahrungen mit dem Thema berichten oder Nachfragen an den Lehrer stellen, die meist eine persönlichere Qualität besitzen und insofern im Sinne der Beziehungsarbeit zwischen Lehrer und Schülern nicht zu unterschätzen sind. Die Strategie der gezielten Koordinierung unterschiedlicher Ausdrucksmöglichkeiten kann stattdessen auch dafür eingesetzt werden, um thematisch besonders wichtige Phasen hervorzuheben. Wenn das Experiment in Gang gesetzt wird, ist es wichtig, dass die Schüler ihre volle Aufmerksamkeit wieder dem Versuch widmen. Die Gleichzeitigkeit von Handlungsvollzug und Handlungsbeschreibung bietet sich hier in besonderer Weise an: Wenn Lehrer einzelne Aktivitäten zeitgleich zu ihrer Durchführung beschreiben, signalisieren sie den Schülern, dass es nun alle Details zu beobachten gilt. Die Untersuchungen zeigten einen systematischen Einsatz dieser Strategie in Phasen, in denen sowohl Lehrer als auch Schüler in ihrer Konzentration besonders gefordert waren. Bei thematisch weniger wichtigen Aktivitäten wäre es redundant, wenn Lehrer während ihres Handlungsvollzugs ihre Handlungen beschreiben würden (z.B.: „Ich gehe zum Chemikalientisch und nehme ein Becherglas und eine Pipette in die Hand.“). Erfolgt diese Gleichzeitigkeit jedoch in systematischer Weise dann, wenn die chemische Reaktion in Gang gesetzt wird, dient sie als Relevanzmarkierung (z.B.: „Ich gebe nun einige Tropfen Schwefelsäure auf das Baumwolltuch.“). Die Strategie dient also nicht nur der Bearbeitung der Anforderung, das Experiment praktisch durchzuführen, sondern ermöglicht eine bestimmte Form des Interaktionsmanagements: Lehrer können durch die gezielte Koordinie- <?page no="250"?> Didaktische Reflexion zentraler Analyseergebnisse 250 rung unterschiedlicher Ausdrucksressourcen Schüler so (vor)fokussieren, dass im entscheidenden Moment des Experiments ihre Aufmerksamkeit auf den Versuch gerichtet ist und keine zusätzlichen verbalen Hinweise erforderlich sind, die den Lehrern in ihrer Konzentration bei der Durchführung hinderlich sein könnten. 6.3.3 Inszenieren des Chemieexperiments 86 Als nächste Strategie für die Bearbeitung lehrerseitiger Anforderungen soll das „Inszenieren des Chemieexperiments“ vorgestellt werden. Die Strategie dient neben der praktischen Durchführung des Experiments vor allem der Wissensvermittlung. Aus didaktischer Perspektive liegt ihr ein integrativer Ansatz zugrunde, der davon ausgeht, dass alle (Teil-)Phasen des Experiments, d.h. Vorbereitung, Durchführung und Abbau, im Unterrichtsverlauf integriert werden sollen. Der Lehrer stellt also nicht eine fertige Apparatur auf den Experimentiertisch, sondern folgt sukzessive dem logischen Aufbau des Experiments. Darüber hinaus wirken die Schüler am Versuchsprozess aktiv mit, indem der Lehrer als sogenannter ‘Wir’-Agent bestimmte, von den Schülern vorgeschlagene Arbeitsschritte umsetzt. Das Verfahren zeichnet sich vor allem durch drei zentrale Aspekte aus: 1) Visualität, 2) Verkörperung und 3) Interaktivität. 1) Visualität Eine wesentliche Voraussetzung für das Inszenieren von Unterrichtsinhalten besteht im Primat der Visualität: Es kann in Unterrichtsphasen eingesetzt werden, die in erster Linie durch das Sichtbare oder sichtbar Gemachte charakterisiert sind. Experimentalphasen sind hierfür prädestiniert: Während des Experiments geht es vor allem darum, zu beobachten, um im Anschluss die Beobachtung hinsichtlich einer Fragestellung zu deuten und auszuwerten. Verbale Aktivitäten sind von untergeordneter Bedeutung und treten hinter visuell wahrnehmbare Aktivitäten zurück. 2) Verkörperung Beim Inszenieren werden vor allem körperlich-räumliche Ausdrucksressourcen eingesetzt. Chemisches Fachwissen wird nicht verbal vermittelt, sondern körperlich-kommunikativ. Lehrer ‘verkörpern’ fachspezifische Inhalte, in- 86 Eine ausführliche empirische Analyse und konzeptionelle Aufarbeitung des Verfahrens findet sich im Beitrag „Das Chemieexperiment: Inszenierung im naturwissenschaftlichen Unterricht“ (Putzier 2011). <?page no="251"?> Strategien zur Bearbeitung interaktiver Anforderungen 251 dem sie mit ihrem Blickverhalten, ihrer Gestikulation, ihrem Einsatz von Objekten und ihrer Bewegung im Raum interagieren und damit den Schülern vor allem die ‘haptische’ Zugänglichkeit der Chemie verdeutlichen. 3) Interaktivität Das Verfahren setzt die Kooperativität von Schülern und Lehrern voraus. Lehrer agieren im Auftrag der Schüler als ‘Wir-Agenten’ und müssen sich weitgehend darauf verlassen können, dass die Schüler ihren Aktivitäten folgen und sich produktiv am Unterricht beteiligen. Auf der anderen Seite müssen sich auch die Schüler darauf verlassen, dass relevante Aktivitäten von Lehrern verstehbar gemacht und deren Bedeutung für das Experiment verdeutlicht werden. Das Gelingen des Inszenierens hängt von allen Beteiligten der Interaktion ab, die insgesamt in zwei Parteien unterteilt werden können: Die ausführende, experimentell aktive Partei (in der Regel die Lehrer) und die beobachtende, verbal aktive Partei (in der Regel die Schüler). Das Inszenieren darf nicht im Sinne einer Theateraufführung missverstanden werden, in dem Lehrer überzogen theatralische Mittel einsetzen, um Experimente durchzuführen. Es geht vielmehr um die drei genannten zentralen Aspekte, die während des Inszenierens kontinuierlich verfolgt werden. Das Inszenieren ist darüber hinaus ein markiertes und von anderen Phasen abgrenzbares Verfahren, das einen erkennbaren Beginn, Vollzug und einen Abschluss aufweist. Da im Rahmen dieser Arbeit nicht alle zentralen Elemente des Inszenierens beschrieben werden können, sollen zwei interaktive Verfahren exemplarisch vorgestellt werden, die für das Inszenieren prototypisch sind: a) Fokussierung durch Informationsreduktion und b) präsentatives Aufbauen. a) Fokussierung durch Informationsreduktion Beim Inszenieren des Chemieexperiments sind Lehrer immer wieder über einen längeren Zeitraum ‘verbal abstinent’. Sie lenken die Aufmerksamkeit der Schüler auf ihre praktischen Aktivitäten, indem sie weitgehend auf sprachliche Erläuterungen verzichten. Die Fokussierung durch Informationsreduktion ist ein zeitlich begrenztes Verfahren, das mit zunehmender Dauer mit Risiken für das Interaktionsmanagement verbunden ist, da die Gefahr besteht, dass die Schüler den Anschluss verlieren und anderen Aktivitäten nachgehen. Lehrer können jedoch immer wieder punktuell auf Sprache verzichten, um buchstäblich ‘den Blick’ der Schüler auf das Sichtbare zu lenken. In den Untersuchungen zeigte sich die Fokussierung durch Informationsreduktion als ein zeitlich frühes Verfahren, das vor allem zu Beginn von Experimentalphasen eingesetzt wird. Lehrer gehen hier zunächst vorbereitenden <?page no="252"?> Didaktische Reflexion zentraler Analyseergebnisse 252 Aktivitäten nach und nutzen den Verzicht der Sprache, um die Schüler auf ihre praktischen Aktivitäten zu fokussieren. Das Verfahren wirkt besonders durch den Kontrast zu vorangegangenen, stärker verbal-orientierten Phasen. Der plötzliche Verzicht auf Verbalität verdeutlicht den Schülern einen Wechsel ihres Beteiligungsformats: Sie sind nicht mehr als Gesprächs- oder Diskussionspartner, sondern in erster Linie als Beobachter gefragt. Lehrer nehmen Schüler durch das Verfahren als Beobachter ‘in die Pflicht’ und übertragen die Verantwortung weitgehend den Schülern, ihren praktischen Aktivitäten zu folgen und bei Verständnisschwierigkeiten selbstständig nachzufragen. Im Verhalten der Schüler konnte die Wirksamkeit des Verfahrens wiederholt festgestellt werden: Immer wenn die Sichtbarkeit der praktischen Aktivitäten kurzzeitig eingeschränkt war, weil sie beispielsweise durch den Körper des Lehrers verdeckt wurden, meldeten sich die Schüler zu Wort. Das Verfahren setzt die Kooperativität von Lehrern und Schülern voraus: Es eignet sich vor allem für Klassen, in denen bereits ein Interesse an naturwissenschaftlichen Experimenten besteht. Gleichzeitig setzt es ein stabiles Vertrauensverhältnis von Lehrern und Schülern voraus. Bei neuen Klassen können die Schüler durch den wiederholten, kontinuierlichen Einsatz des Verfahrens sukzessive an diese Form der Fokussierung herangeführt werden. Dabei ist es wichtig, dass es von der vorangegangenen und der folgenden Phase klar abgegrenzt ist und immer einen punktuellen Einsatz findet. Seine Chance wird besonders dann evident, wenn man ein gegenteiliges Verfahren fingiert, in dem Lehrer ihre Vorbereitungsaktivitäten ankündigen: In dem Moment, in dem Lehrer den Schülern mitteilen, sie gingen einigen vorbereitenden Aktivitäten nach, liegt es aus Schülerperspektive nahe, die Situation für ihre eigenen Belange zu nutzen, da Vorbereitungen aus ihrer Sicht nicht zum Experiment selbst gehören. b) Präsentatives Aufbauen Das präsentative Aufbauen ist wie die Fokussierung durch Informationsreduktion ein interaktives Verfahren, das sich durch die Minimierung von bzw. den Verzicht auf Verbalität auszeichnet. Es reagiert jedoch noch stärker auf dezidiert fachspezifische Anforderungen: Während die Fokussierung durch Informationsreduktion auch im Deutschunterricht denkbar ist, indem beispielsweise im Sinne des ‘stummen Impulses’ kommentarlos ein Bild auf die Wand projiziert wird, kann das präsentative Aufbauen nur in Unterrichtsfächern erfolgen, in welchen Gegenstände ihren Einsatz finden. Beim präsentativen Aufbauen handelt es sich wieder um ein zeitlich frühes Verfahren, da es eng an die Logik des Experiments gebunden ist: Die Durch- <?page no="253"?> Strategien zur Bearbeitung interaktiver Anforderungen 253 führung eines Experiments setzt das Arrangement von Laborgeräten zeitlich voraus. Dabei können sich Lehrer die Logik des Experiments hinsichtlich der Anforderung zunutze machen, fachspezifisches Wissen zu vermitteln: Wenn eine Versuchsapparatur sukzessive aufgebaut wird, nehmen Schüler alle Gegenstände wahr, die für die Durchführung des Experiments erforderlich sind. Dadurch können sie zu einem frühen Zeitpunkt des Experiments bereits Vermutungen aufstellen, welche Funktion diesen Geräten jeweils zukommt. Für den Einsatz des Verfahrens ist es unabdingbar, weitgehend auf Sprache zu verzichten, damit das Aufbauen tatsächlich ‘präsentativ’ erfolgen kann. Bei den Analysen zeigte sich immer wieder ein gewisser Unterhaltungswert des Verfahrens, was auch damit zusammenhängt, dass Lehrer den räumlichen Bedingungen ein Stück weit ‘ausgeliefert’ sind und Vieles nicht antizipiert werden kann: So bekommen beispielsweise Glasgeräte beim Befestigen am Stativ manchmal Risse oder Glaspipetten brechen ab. Für Schüler haben solche ‘Ereignisse’ immer einen Unterhaltungswert, der gerade zur Aufmerksamkeitsfokussierung genutzt werden kann. Das präsentative Aufbauen eignet sich wie das Inszenieren insgesamt nicht für alle Experimente gleichermaßen: Experimente, die eine sehr aufwändige und komplizierte Apparatur erfordern, müssen aus Zeitgründen vor der Unterrichtsstunde hergerichtet werden. Hier müssen Lehrer dem Prinzip der Ökonomie folgen und können sich nicht nach der Logik des Experiments richten. Aufwändigere Apparaturen sollten daher im Vorfeld schrittweise erläutert werden, damit den Schülern das Arrangement von Geräten im Bezug auf das Experiment verständlich wird. Darüber hinaus ist das präsentative Aufbauen bei einfachen Experimenten, für die kaum Laborgeräte erforderlich sind, ungeeignet. Das Inszenieren von Chemieexperimenten ist ein Verfahren, in dem sich die bereits vorgestellten Strategien der Raumnutzung und der Koordinierung unterschiedlicher Ausdrucksmöglichkeiten in besonderem Maße zeigen. Lehrer nutzen ihre gesamte Körperlichkeit und die vorliegenden räumlichen Strukturen, um die Wahrnehmung der Schüler zu strukturieren. Sie führen die Schüler gezielt an die Praxis der Chemie heran, indem sie sie einzelne, für die Experimente notwendige Arbeitsschritte nachvollziehen oder mit planen lassen. Das Verfahren ist mit einem gewissen Kontrollverlust verbunden, da sich Lehrer einerseits weitgehend auf das Engagement von Schülern verlassen müssen. Andererseits führen sie zusätzliche praktische Aktivitäten durch, die nur bedingt geplant und antizipiert werden können. Das ist in besonderem Maße der Fall, wenn Lehrer Schüler an der Planung des Aufbaus beteiligen. <?page no="254"?> Didaktische Reflexion zentraler Analyseergebnisse 254 Die Chance des Verfahrens liegt jedoch gerade in der Übertragung von Verantwortlichkeiten. Darüber hinaus trägt das Verfahren der fachspezifischen Wissensvermittlung Rechnung, da es der Logik des Experiments folgt und fachliche Anforderungen sichtbar macht, die ansonsten im Verborgenen blieben. 6.3.4 Alltagsweltliche Verankerung der Sprache Zuletzt soll die Strategie der „alltagsweltlichen Verankerung der Sprache“ vorgestellt werden, die im Gegensatz zu den drei anderen Strategien auf die verbalen Anteile der Interaktion bezogen ist. Sie trägt in erster Linie der Anforderung der Wissensvermittlung Rechnung: Im Chemieunterricht spielt die chemische Fachsprache eine wesentliche Rolle, da sie untrennbar mit der Chemie als Wissenschaft verbunden ist. Es ist kaum denkbar, Chemie ohne den Einsatz chemischer Fachsprache zu unterrichten. Der Erwerb der Fachsprache stellt eine zentrale Kompetenz dar, die Schüler auf einem „anspruchsvollen Weg“ (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport 2004, S. 194) erlernen müssen. Unter einer didaktischen Perspektive stellt sich dabei unter anderem die Frage nach der adäquaten Einführung neuer Fachtermini. Wie werden neue fachsprachliche Ausdrücke im Unterricht eingeführt? Wie gelingt es den Lehrern während Experimentalphasen, die sie in erster Linie praktisch fordern, der Einführung chemischer Fachbegriffe gerecht zu werden? Der Einsatz und die Vermittlung von Fachsprache im Unterricht werden im didaktischen Diskurs meist evaluativ unter dem Anspruch der Exaktheit und Adäquatheit betrachtet. Dabei gilt es, Fachsprache im Sinne „korrekte[r] Erklärungen“ (ebd., S. 194) einzusetzen. Das hier vorgestellte Verständnis von Fachsprache besteht nicht (nur) im Einsatz von fachsprachlichen Ausdrücken oder ganzen Formulierungen. Bei der Untersuchung von (verbaler) Interaktion im Chemieunterricht, wird schnell deutlich, dass Fachsprache im Unterricht nicht in der bloßen Verwendung fachsprachlicher Ausdrücke besteht. Dabei würde man die Anforderung der didaktischen Vermittlung fachsprachlicher Kompetenzen außer Acht lassen. Es versteht sich von selbst, dass die Vermittlung der chemischen Fachsprache ein langer Prozess ist. Die Analysen konnten jedoch darüber hinaus zeigen, dass selbst einzelne Fachbegriffe oft nicht einfach genannt, sondern sukzessive eingeführt wurden, indem Lehrer an alltagssprachliche Formulierungen der Schüler anknüpften. Unter einer didaktischen Perspektive ist diese schrittweise Entwicklung genauso Teil der chemischen, didaktisch-vermittelten Fachsprache wie einzelne Termini oder Formeln. <?page no="255"?> Strategien zur Bearbeitung interaktiver Anforderungen 255 Die Strategie der „alltagsweltlichen Verankerung der Sprache“ kann als Plädoyer für eine sukzessive, an den Alltag der Schüler anschließende Vermittlung der chemischen Fachsprache verstanden werden. Fachsprachliche Begriffe werden nicht einfach genannt, sondern ausgehend vom alltagssprachlichen Repertoire der Schüler schrittweise eingeführt. Die alltagsweltliche Verankerung der Sprache ist eine Strategie, die sich insbesondere für Experimentalphasen eignet, weil sie dem situativen Anforderungsprofil der Interaktionsbeteiligten Rechnung trägt. Diese Strategie ist sowohl für Schüler als auch für Lehrer produktiv: Aus der Perspektive der Schüler gewährleistet sie, dass diese nicht nur kurzzeitig mit einem fachsprachlichen Begriff konfrontiert werden, den sie im Anschluss oftmals wieder vergessen. Darüber hinaus findet eine ‘Entwicklung’ des Begriffs aus dem alltagssprachlichen Vokabular statt, sodass es ihnen besser gelingt, die Verknüpfung von Fachsprache und Alltagsphänomenen vorzunehmen, die expliziter Bestandteil der Bildungsstandards ist (ebd., S. 197). Lehrer knüpfen dabei nicht nur an die Alltagserfahrungen, sondern auch an das chemische Vorwissen der Schüler an. Aus der Perspektive der Lehrer ist das Verfahren deshalb so produktiv, weil die sukzessive Vermittlung fachsprachlichen Wissens ihrem situativen Anforderungsprofil in Experimentalphasen Rechnung trägt. Die Untersuchungen haben gezeigt, dass ein enger Zusammenhang zwischen fachsprachlichen Äußerungen und praktischen Aktivitäten der Lehrer besteht: In Vorbereitungsphasen knüpfen Lehrer meist mit weitgehend alltagssprachlichen Begriffen an das Vorwissen der Schüler an. So spricht beispielsweise ein Lehrer zunächst von „Körnchen“, als er einen Kolben mit Siedesteinen für das Experiment bereitstellt. Der Ausdruck dient dabei durchaus der Thematisierung fachspezifischer Eigenschaften: Bei den Siedesteinchen handelt es sich um sehr kleine, feste Teilchen, die zunächst nicht in ihrer Funktion, sondern in ihrer Materialität von Bedeutung sind. Ihre Funktion wird erst in einem zweiten Schritt thematisiert, als der Lehrer beschreibt, dass es sich um „sogenannte Siedesteinchen“ handelt. Mit dem alltagssprachlichen Begriff „Körnchen“ können Schüler also zunächst an ihr Alltagswissen anknüpfen. So sind ihnen beispielsweise Sandkörner oder Weizenkörner bekannt. Im zweiten Schritt erfahren sie dann eine zentrale Funktion dieser Körnchen, da sie offensichtlich eine Rolle für den Siedeprozess spielen. In vielen Fällen liegen die alltagssprachliche und fachsprachliche Bezeichnung von Gegenständen oder Substanzen sogar einige Minuten auseinander. Es ist immer dann ein systematischer Einsatz von Fachbegriffen zu beobachten, wenn das Experiment selbst erfolgt, bzw. der Lehrer im Begriff ist, die entsprechenden Substanzen konkret einzusetzen. <?page no="256"?> Didaktische Reflexion zentraler Analyseergebnisse 256 In den Analysen wurde diese Strategie als „Trichterformat“ (Kap. 5) bezeichnet, weil alltagssprachliche, relativ allgemeine Begriffe immer mehr zu fachsprachlichen Ausdrücken ‘zugespitzt’ werden. Je nach Grad der Absorbiertheit des Lehrers, der in Experimentalphasen ja vor allem mit praktischen Aktivitäten beschäftigt ist, kann das Trichterformat mehr oder weniger kompakt ausgeführt sein. Die Chance der Strategie besteht in der Verknüpfung von Alltags- und Fachsprache der Schüler. Sie werden buchstäblich „da abgeholt, wo sie stehen“, und es kann an bereits vorhandenes Fachwissen angeknüpft werden. So führt ein Lehrer den Fachbegriff des ‘Bromthymolblaus’ so ein, dass er zunächst flüssige Stoffe, dann Farbstoffe und schließlich den Begriff ‘Bromthymolblau’ nennt. Darüber hinaus trägt die Strategie den Eigenschaften chemischer Substanzen Rechnung und wird insofern einem wesentlichen Aspekt der Chemie gerecht: Sie lenkt den Blick schrittweise zunächst auf die materiellen Eigenschaften und dann auf die Funktion, die die Stoffe beispielsweise für ein spezifisches Experiment haben. 6.4 Fazit Ziel dieses Kapitels war es, zentrale Analyseergebnisse des empirischen Teils unter einer didaktischen Perspektive zu reinterpretieren und deren Nutzen für die Praxis zu verdeutlichen. Zunächst wurde das Anforderungsprofil von Chemielehrern in Experimentalphasen beschrieben, das vor allem durch vier zentrale Anforderungen charakterisiert ist: Lehrer müssen das Experiment praktisch durchführen (1), das ihnen zur Vermittlung chemischen Fachwissens dient (2). Dafür ist es notwendig, die Wahrnehmung der Schüler so zu strukturieren (3), dass sie ihren Aktivitäten folgen und sie hinsichtlich der entsprechenden Fragestellung interpretieren können. Darüber hinaus gehört das Interaktionsmanagement (4), wie in anderen Unterrichtsfächern auch, zu einer zentralen Anforderung, da Lehrer für die Strukturierung, Steuerung und Organisation der Interaktion mitverantwortlich sind. Im nächsten Schritt wurden vier Strategien vorgestellt, die zur Bearbeitung dieser vier Anforderungen dienen. In den Analysen haben sie sich als produktive de-facto-didaktische Lösungen herauskristallisiert, die Lehrer zur Bearbeitung ihrer Anforderungen einsetzen. Die ersten beiden Strategien „Nutzung des Raums“ (Kap. 6.3.1) und „Koordinierung unterschiedlicher Ausdrucksressourcen“ (Kap. 6.3.2) stellten in erster Linie den Einsatz körperlich-räumlicher Ausdrucksressourcen in den Vorder- <?page no="257"?> Fazit 257 grund, die Lehrer systematisch zur Bearbeitung der Anforderungen einsetzen. Dabei zeigt sich die Wirksamkeit dieser Strategien vor allem in der Verdeutlichung der Chemie als ‘haptisch zugängliches’ Unterrichtsfach, in dem in erster Linie experimentelle Aktivitäten zentral sind. Die Strategie „Inszenieren des Chemieexperiments“ (Kap. 6.3.3) zeigte ein mögliches Verfahren, das sich die ersten beiden Strategien zunutze macht. Der systematische Einsatz körperlich-räumlicher Ressourcen und der punktuelle Verzicht auf Verbalität sind dabei wesentliche Aspekte, die zur Strukturierung der Wahrnehmung der Schüler dienen. Darüber hinaus wurde deutlich, dass es sich bei Chemieunterricht um ein gemeinschaftliches Unternehmen handelt und Lehrer und Schüler in gleichem Maße, wenn auch mit unterschiedlichen Beteiligungsformaten, für das Gelingen der Interaktion verantwortlich sind. Die Strategie „alltagsweltliche Verankerung der Sprache“ (Kap. 6.3.4) lenkte den Blick auf ein sprachlich-interaktives Verfahren, das Lehrern zur Vermittlung fachsprachlichen Wissens dienen kann. Dabei wurde ein Konzept von Fachsprache im Chemieunterricht deutlich, dass sich durch eine schrittweise, an die Alltagssprache der Schüler anknüpfende Einführung von Fachbegriffen auszeichnet. Die folgenden Schlussbetrachtungen der Arbeit haben programmatischen Charakter. Sie geben einen Ausblick auf den didaktischen Nutzen der Analysemethode für die Unterrichtspraxis und reflektieren, wie die de-facto-didaktische Perspektive in systematischer Weise für die Lehrerbildung genutzt werden kann. <?page no="259"?> 7. SCHLUSSBETRACHTUNG UND AUSBLICK Ziel der Arbeit war es, ausgehend von jüngsten Studien zur Multimodalität (Goodwin 2007a, 2007b, 2009; Hausendorf/ Mondada/ Schmitt (Hg.) 2012; Heath 2011; Mondada 2008, 2009a, 2012a, 2012b, 2012c; Mondada/ Schmitt (Hg.) 2010; Schmitt 2013a; Streeck/ Goodwin/ LeBaron (Hg.) 2011) einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Forschungsschwerpunkts ‘Multimodalität’ zu leisten. Die Arbeit steht auf der Basis einer holistischen Konzeption von Interaktion, die davon ausgeht, dass soziale Bedeutungskonstitution durch das Zusammenspiel aller Ausdrucksressourcen in der Interaktion erfolgt. Die grundsätzliche Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit multimodaler Ausdrucksressourcen stellte daher ein analyseleitendes Prinzip dar, das bei der konstitutionsanalytischen Rekonstruktion ausgewählter Videosequenzen konsequent verfolgt wurde. Auf der Grundlage eines zwölfstündigen Videokorpus zu gymnasialem Chemieunterricht standen vor allem körperlich-räumliche Aspekte multimodaler Interaktion im Zentrum des Erkenntnisinteresses. Die Wahl des Untersuchungsgegenstands war dabei das Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit den Daten selbst: Experimentalphasen im Chemieunterricht werden weitgehend durch das körperlich-räumliche Verhalten von Interaktionsbeteiligten strukturiert. Da eine ausführliche Präsentation der Analyseergebnisse bereits an systematischen Stellen der jeweiligen Kapitel erfolgte, sollen hier die grundsätzlichen Ziele der Arbeit reflektiert werden. Im Rahmen der allgemeinen Zielsetzung, einen Beitrag zur multimodalen Forschung zu leisten, verfolgte die Arbeit ein analytisch-empirisches (1), ein konzeptionelles (2) und ein methodisches Interesse (3). 1) Auf der Grundlage ausgewählter Videosequenzen wurde das Verhalten von Interaktionsbeteiligten im Chemieunterricht konstitutionsanalytisch rekonstruiert. Die Realisierung von Experimentalphasen stellte sich hierbei als interaktives Unternehmen heraus, in dem Interaktionsbeteiligte vor allem körperlichräumliche Ressourcen einsetzen, um soziale Bedeutung zu konstituieren und ihre Handlungsziele zu verfolgen. Die „Wahrnehmungsstrukturierung“ der Schüler erwies sich dabei als zentrale Anforderung, deren interaktive Bearbeitung im zweiten Kapitel des empirischen Teils untersucht wurde (Kap. 4). Mit der Einführung von Objekten in Experimentalphasen wurde im Anschluss ein multimodales Verfahren analysiert, das den Einsatz und die Rolle von Objekten in der Interaktion fokussierte (Kap. 5). In den Analysen zeigte sich die enge situative Verwobenheit von Wissenskommunikation und Wahrnehmungswahrnehmung, die in den sprachlichen Aktivitäten der Beteiligten besonders augenscheinlich wurde: Im Rahmen der Demonstration von Ob- <?page no="260"?> Schlussbetrachtung und Ausblick 260 jekten erfolgte fast immer auch die Einführung fachsprachlicher Begriffe. Gleichzeitig lieferten sprachliche Deiktika ein zentrales Indiz dafür, dass gerade überhaupt etwas wie ‘Demonstration’ vor sich geht. Der Chemieunterricht ist hinsichtlich des Ergänzungsverhältnisses von Wissenskommunikation und Wahrnehmungswahrnehmung ein besonders interessanter Fall: Wissensvermittlung erfolgt immer dann, wenn auch etwas wahrgenommen bzw. beobachtet werden soll. Für weitere Studien in diesem Bereich wäre es daher - auch unter methodischen Gesichtspunkten - interessant, den medialen Sonderstatus der Sprache in ausgewählten Sequenzen geltend zu machen, um zu sehen, wie Sprache (noch) an der Schnittstelle von Wissenskommunikation und Wahrnehmungswahrnehmung wirksam ist. Für die multimodale Forschungspraxis stellt die Analyse körperlich-räumlicher Aspekte von Interaktion auch in Zukunft eine wichtige Aufgabe dar, die noch lange nicht erschöpft sein wird. Dabei könnte sich das Untersuchungsfeld von Interaktion von geschlossenen, meist institutionell strukturierten Räumen auf öffentliche Räume und Plätze ausweiten. 87 Jüngste Studien zur Multimodalität zeigen, wie immer mehr der gesamte Körper der Beteiligten und insbesondere seine Mobilität in den Aufmerksamkeitsfokus rücken (Broth/ Lundström 2013; Broth/ Mondada 2013; De Stefani 2013; Haddington 2012; Haddington/ Nevile/ Keisanen 2012; Kesselheim 2010; Mondada 2012c; Nevile 2004; Schmitt 2012a; Schmitt/ Deppermann 2010). 2) Ausgehend von den Analyseergebnissen der empirischen Studien konnte die Arbeit einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung multimodaler Konzepte leisten. Dem analytischen Erkenntnisinteresse der Arbeit folgend bildeten sich vor allem raumbezogene Konzepte heraus, die den körperlich-räumlichen Aspekten von Interaktion Rechnung tragen. Das Konzept des Demonstrationsraums als eine Form der Wahrnehmungsstrukturierung wurde im zweiten Kapitel des empirischen Teils entwickelt (Kap. 4). Es reflektiert die interaktive Anforderung von Interaktionsbeteiligten, die Wahrnehmung so zu strukturieren, dass Experimentalphasen zur Vermittlung fachspezifischen Wissens dienen können. Auf der Grundlage der Analyseergebnisse des dritten Kapitels des empirischen Teils wurde das Konzept der Objektdemonstration entwickelt (Kap. 5), das auf dem Konzept des Demonstrationsraums aufbaut und die interaktive Anforderung reflektiert, dass Objekte in der Interaktion eingeführt und eingesetzt werden (müssen). 87 Die Verlagerung der Analyse von geschlossenen Räumen zu öffentlichen Plätzen ist mit Beginn der zweiten Phase des Forschungsschwerpunkts „Sprache und Raum“ (UFSP) an der Universität Zürich bereits im Gang. <?page no="261"?> Schlussbetrachtung und Ausblick 261 Beiden multimodalen Konzepten geht das interaktionsvorgängige Konzept der räumlichen Relevanztiefe voraus (Kap. 3), das die interaktionsarchitektonischen und sozialtopografischen Aspekte des Raums berücksichtigt. Es verdeutlicht, inwiefern die räumlich-materiellen Strukturen einen Beitrag zur Interaktion leisten und welches Potenzial der Chemieraum bereits für die (ermöglichte) Interaktion ‘Chemieunterricht’ bereitstellt. Die Entwicklung multimodaler, insbesondere raumbezogener Konzepte stellt auch in Zukunft eine Herausforderung für die multimodale Forschungspraxis dar. Die neuen Technologien im Bereich der Dokumentation von Interaktion (z.B. sogenannte Eye-Tracking-Brillen) und im Bereich der technologischen Aufarbeitung audiovisueller Daten von face-to-face-Kommunikation 88 werden sich auch auf konzeptioneller Ebene niederschlagen und insbesondere zur Herausbildung neuartiger multimodaler Raumkonzepte führen. 3) Das Konzept räumliche Relevanztiefe kann auf methodisch-methodologischer Ebene als Nachweis dafür gelten, wie produktiv die Forschungspraxis „Interaktionsarchitektur und Sozialtopografie“ ist. Untersucht man körperlich-räumliche Aspekte von Interaktion ausschließlich auf der interaktionistischen Ebene, kann leicht übersehen werden, welchen Einfluss die Architektur des Raums und seine Nutzung auf die Interaktion haben. Die spezifische Konstellation der Raumnutzer konnte als Lösung für das durch den Raum geschaffene Problem verstanden werden, dass Vieles im Chemiesaal sichtbar, aber nur wenig ‘scharf gestellt’ ist (Kap. 3). Das methodisch-methodologische Interesse der Arbeit zeigte sich darüber hinaus im Einsatz und der Reflexion unterschiedlicher Analysemethoden. Während im ersten Kapitel des empirischen Teils die Methode der Standbildanalyse praktiziert wurde (Kap. 3), stellte die Einzelfallanalyse die methodische Herangehensweise des folgenden Kapitels dar (Kap. 4). Im letzten Kapitel des empirischen Teils erfolgte ausgehend von einer zentralen Einzelfallanalyse schließlich eine kollektionsbasierte Untersuchung (Kap. 5). Der Einsatz unterschiedlicher Methoden im Rahmen der multimodalen Interaktionsanalyse erfolgte in systematischer Weise so, dass der Untersuchungsgegenstand selbst die erforderliche Methode vorgab. Während eine interaktionsvorgängige Untersuchung des Raums Standbilder nahelegt - also ein Datum verlangt, das von Interaktion weitgehend ‘frei’ ist -, kann die multimodale Bearbeitung von interaktiven Anforderungen nur auf der Grundlage von Videoaufnahmen erfolgen. Der detaillierten Einzelfallanalyse im vierten 88 Den neuen technologischen Herausforderungen und Möglichkeiten trägt man im Rahmen des UFSP „Interaktionsräume“ durch die Gründung eines sogenannten VideoLabs Rechnung. Es dient zur Weiterentwicklung videobasierter Methodologie und Technologie. <?page no="262"?> Schlussbetrachtung und Ausblick 262 Kapitel folgte eine kollektionsbasierte Analyse im fünften Kapitel, die den kontrastiven Vergleich einer multimodalen Praktik in unterschiedlichen Daten ermöglichte. Die systematische Reflexion methodischer Herangehensweisen stellt eine weitere wichtige, zukünftige Aufgabe für die multimodale Forschungspraxis dar. Beispielsweise gilt es, die Frage nach dem Status von Standbildern, ihrer dokumentarischen Eigenständigkeit sowie ihrem Verhältnis zu videobasierten Interaktionsdokumenten zu klären. Darüber hinaus müssten die Bedingungen eines Einsatzes von Kollektionen im Rahmen multimodaler Forschung weiter reflektiert und systematisch aufgearbeitet werden. Setzt der Einsatz von Kollektionen bereits eine multimodale Konstitutionsanalyse voraus? Wie verhalten sich Kollektionen, die auf der Grundlage phänomenologischer Aspekte erstellt worden sind, zu Kollektionen, die zur Etablierung von bereits entwickelten Konzepten dienen sollen? Inwiefern sind einzelne Fälle unter einer multimodalen Perspektive überhaupt vergleichbar, wenn man die Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit von Ausdrucksressourcen konsequent verfolgt? Neben der multimodalen Zielsetzung verfolgte die Arbeit ein didaktisches Interesse: Ausgehend von den Analyseergebnissen des empirischen Teils wurde der Nutzen einer multimodalen Perspektive auf Unterricht als Interaktion unter didaktischen Gesichtspunkten überprüft (Kap. 6). Die Rekonstruktion des lehrerseitigen Anforderungsprofils in Experimentalphasen und die Extraktion vier zentraler Strategien, die Lehrer zur Bearbeitung der Anforderungen anwenden, können als Nachweis für die Produktivität dieses Ansatzes dienen. Es ist nicht die multimodale Interaktionsanalyse selbst, die für eine moderne Didaktik und Lehrerbildung richtungsweisend sein kann, sondern die daraus entwickelte Perspektive der De-facto-Didaktik: Ihr großer Vorteil gegenüber einer interaktionsvorgängigen Didaktik besteht im deskriptiven Ansatz, bei dem immer das faktische Handeln der Lehrer im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht. Dabei gilt es, auf der Basis authentischer Videoaufnahmen von Unterricht Verfahren und Strategien offenzulegen, die Lehrer zur Lösung zentraler Anforderungen konkret einsetzen. Ziel der De-facto-Didaktik ist dabei nicht die evaluative Gegenüberstellung einzelner Verfahren, sondern das Aufdecken von Chancen und Risiken, die bestimmte Strategien im Rahmen spezifischer unterrichtlicher Bedingungen mit sich bringen. Das Aufzeigen von Handlungsalternativen und die Reflexion von Chancen und Risiken kann zu einem Perspektivenwechsel führen, da es nicht mehr nur um die Erfüllung didaktischer Leitlinien geht, sondern um situations- und aktivitätsbezogenes Abwägen möglicher Verfahren zur Bearbeitung konkreter Anforderungen. <?page no="263"?> Schlussbetrachtung und Ausblick 263 Für die Fachdidaktik der Chemie gilt es in Zukunft, den Ansatz der De-facto- Didaktik weiterzuentwickeln und auszubauen: Die im letzten Kapitel der Arbeit vorgestellten Strategien zur Bearbeitung lehrerseitiger Anforderungen im Chemieunterricht können dabei den Ausgangspunkt für eine zukünftige Weiterentwicklung der Perspektive auf Chemieunterricht bilden. Eine konkrete Umsetzung könnte im Aufbau eines thematisch bezogenen Videokorpus bestehen, das unterschiedliche Lehrer in unterschiedlichen Schulen bei der Durchführung spezifischer Demonstrationsexperimente dokumentiert. Die Videosequenzen könnten darüber hinaus klassenstufenspezifisch strukturiert werden, sodass beispielsweise alle Demonstrationsexperimente zur Unterrichtseinheit „Wasser und Wasserstoff“ in der achten Klasse gesammelt verfügbar wären. Im Rahmen der Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung könnten diese wiederum genutzt werden, um bestimmte Fragestellungen bezogen auf die konkrete Durchführung von Experimenten, das Interaktionsmanagement oder pädagogische Herangehensweisen zu diskutieren. Darüber hinaus würde es sich anbieten, professionelle Ansprechpartner zur Verfügung zu stellen, die auf die gezielte Nachfrage einzelner Lehrer hin ausgewählte Unterrichtsstunden dokumentieren und mit den Lehrern individuelle Fragestellungen, zum Beispiel im Rahmen von Einzelcoachings, bearbeiten. Die Voraussetzung solcher Ansprechpartner bestünde in ihrer ‘doppelten Kompetenz’ als Wissenschaftler und Praktiker: Sie wären einerseits mit den analytischen und methodischen Verfahren der De-facto-Didaktik vertraut, und andererseits würden sie durch ihre eigenen Erfahrungen aus der Praxis nicht Gefahr laufen, Vorschläge zu unterbreiten, deren Umsetzung unrealistisch oder nicht praktikabel ist. Eine moderne Didaktik, die sich nicht primär mit Theorien und interaktionsvorgängigen Fragestellungen auseinandersetzt, sondern für die konkrete Schulpraxis nutzbar und richtungsweisend sein möchte, wird sich in Zukunft solchen Aufgaben stellen müssen. <?page no="265"?> LITERATUR Adam, Hajo/ Galinsky, Adam D. (2012): Enclothed cognition. In: Journal of Experimental Social Psychology 48, 4, S. 918-925. Ahrend, Angreth (1981): Nonverbales Verhalten in schulischer Kommunikation. In: Baurmann/ Cherubim/ Rehbock (Hg.), S. 199-222. Argyle, Michael/ Cook, Mark (1976): Gaze and mutual gaze. 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Grundlagen einer sprachwissenschaftlichen Quellenkunde 2013, 384 Seiten €[D] 88, - ISBN 978-3-8233-6836-6 67 Katrin Hein Phrasenkomposita im Deutschen Empirische Untersuchung und konstruktionsgrammatische Modellierung 2015, 510 Seiten €[D] 98, - ISBN 978-3-8233-6921-9 68 Stefan Engelberg / Meike Meliss / Kristel Proost / Edeltraud Winkler (Hrsg.) Argumentstruktur zwischen Valenz und Konstruktion 2015, 497 Seiten €[D] 128, - ISBN 978-3-8233-6960-8 69 Nofiza Vohidova Lexikalisch-semantische Graduonymie Eine empirisch basierte Arbeit zur lexikalischen Semantik 2016, ca. 340 Seiten €[D] ca. 88, - ISBN 978-3-8233-6959-2 70 Marek Konopka / Eric Fuß Genitiv im Korpus Untersuchungen zur starken Flexion des Nomens im Deutschen 2016, 283 Seiten €[D] 108, - ISBN 978-3-8233-8024-5 71 Eva-Maria Putzier Wissen - Sprache - Raum Zur Multimodalität der Interaktion im Chemieunterricht 2016, 282 Seiten €[D] 108, - ISBN 978-3-8233-8032-0 <?page no="289"?> Der Band ist ein empirischer Beitrag zur Analyse von Unterrichtskommunikation. Auf der Grundlage von Videoaufzeichnungen werden interaktive Prozesse im gymnasialen Chemieunterricht unter einer multimodalen Perspektive untersucht. Neben der thematischen Fokussierung sprachlicher Aktivitäten der Beteiligten stehen vor allem körperlich-räumliche Aspekte von Interaktion im Vordergrund. Hinsichtlich des Ergänzungsverhältnisses von Wissenskommunikation und Wahrnehmungswahrnehmung ist der Chemieunterricht ein besonders interessanter Fall: Wissensvermittlung erfolgt immer dann, wenn auch etwas wahrgenommen, d. h. beobachtet werden soll. So werden fachsprachliche Begriffe fast immer im Rahmen von Demonstrationsphasen eingeführt. Der Band reinterpretiert in einem abschließenden Kapitel die Analyseergebnisse unter einer didaktischen Perspektive, der ‚De-facto- Didaktik‘. Dabei werden Verfahren und Strategien offengelegt, die Lehrer zur Lösung zentraler Anforderungen situativ einsetzen. Ziel der De-facto-Didaktik ist es, Chancen und Risiken aufzudecken, die bestimmte Strategien im Rahmen spezifischer Unterrichtsbedingungen mit sich bringen.