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Förderung von Sprachlernkompetenz zu Beginn der Sekundarstufe

Untersuchungen zu früher Interkomprehension

0815
2016
978-3-8233-9034-3
978-3-8233-8034-4
Gunter Narr Verlag 
Steffi Morkötter

Interkomprehension, d.h. eine fremde Sprache verstehen zu können, ohne sie formal erlernt oder in ihrer natürlichen Umgebung erworben zu haben, ist eine Fähigkeit, die die Mehrsprachigkeitsdidaktik zum Zweck eines raschen Aufbaus vor allem rezeptiver Kompetenzen und einer Förderung von Sprachlernkompetenz nutzt. Insbesondere für den Erwerb einer dritten Fremdsprache liegen vielversprechende Ergebnisse vor. Doch können auch schon junge SchülerInnen mit geringen Sprachlernerfahrungen von interkomprehensiv gestütztem Lernen profitieren? Welche Strategien setzen sie ein? Wie sprechen sie über ihre sprachlichen Beobachtungen und Handlungen? Antworten auf diese Fragen versucht eine explorativ-interpretative Untersuchung. Im Rahmen einer longitudinalen Einzelfallstudie mit einem Sechstklässler und in einer 6. und 7. Klasse wurden Performanz- und Prozessdaten zu einschlägigen Aufgabenformaten und verschiedenen Zielsprachen (Englisch, Französisch, Italienisch, Niederländisch und Spanisch) sowie Befragungsdaten erhoben und analysiert.

<?page no="0"?> e e er e tr e r re r e k k Steffi Morkötter Förderung von Sprachlernkompetenz zu Beginn der Sekundarstufe Untersuchungen zu früher Interkomprehension <?page no="1"?> Förderung von Sprachlernkompetenz zu Beginn der Sekundarstufe <?page no="2"?> GIESSENER BEITRÄGE ZUR FREMDSPRACHENDIDAKTIK Herausgegeben von Eva Burwitz-Melzer, Wolfgang Hallet, Jürgen Kurtz, Michael Legutke, Hélène Martinez, Franz-Joseph Meißner und Dietmar Rösler Begründet von Lothar Bredella, Herbert Christ und Hans-Eberhard Piepho <?page no="3"?> Steffi Morkötter Förderung von Sprachlernkompetenz zu Beginn der Sekundarstufe Untersuchungen zu früher Interkomprehension <?page no="4"?> Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0175-7776 ISBN 978-3-8233-8034-4 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="5"?> Für Frank <?page no="7"?> Vorwort Die vorliegende Arbeit ist 2014 im Fachbereich „Sprache, Literatur, Kultur“ der Justus-Liebig-Universität Gießen als Habilitationsschrift angenommen worden. Sie wurde für die Drucklegung etwas überarbeitet. Zur Entstehung dieser Arbeit haben viele Menschen beigetragen, denen ich von ganzem Herzen danken möchte, insbesondere Franz-Joseph Meißner, der mir mit konstruktiver Kritik und freundschaftlichem Rat stets zur Seite stand. Besonderer Dank gilt auch meinen weiteren Gießener und meinen Innsbrucker Wegbegleitern für die ermutigenden Worte und zahlreichen fruchtbaren Diskussionen, vor allem Hélène Martinez, Anna Schröder-Sura, Marcus Bär, Tanja Prokopowicz, Yanet Witte und Christine Beckmann sowie Barbara Hinger, Andrea Bicsar, Eva Maria Hirzinger-Unterrainer, Maria Magdalena Mayr-Hueber und Sabine Kroneder. Einen herzlichen Gruß möchte ich auf diesem Wege auch an Marcus Reinfried und an meine Kolleginnen und Kollegen aus der Anglistik/ Amerikanistik und Romanistik der Universität Rostock senden, die immer ein offenes Ohr für meine Fragen hatten und haben. Außerdem möchte ich den an der vorliegenden Studie beteiligten Lehrern und Schülerinnen und Schülern Dank aussprechen, ohne deren Kooperationsbereitschaft die Untersuchungen nicht realisierbar gewesen wären, im Besonderen dem Sechstklässler „Thomas“ aus der Longitudinalstudie. Schließlich möchte ich meinem Partner Frank Jürgens, meinen Eltern und meinen Freunden danken, ohne deren Unterstützung die Habilitation nicht möglich gewesen wäre. Rostock, im Juli 2016 Steffi Morkötter <?page no="9"?> Inhaltsverzeichnis Abbildungs- und Tabellenverzeichnis ................................................................. XI Einleitung .......................................................................................................... 1 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht.................................... 7 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz .........................................................................................7 1.1 Zum Interkomprehensionsbegriff.....................................................................7 Dimensionen von Interkomprehension - Interromanische Interkomprehension im europäischen Kontext - Interkomprehensionsdidaktik (Euro ComDidact) im deutschsprachigen Kontext 1.2 Interkomprehension, Transfer und Inferenz................................................ 18 Die mehrsprachige Lernersprache - Die Aufgaben von EuroComDidact - Die Entwicklung eines differenzierten Transfermodells - Die Hypothesengrammatik und der Moniteur Didactique Plurilingue (MDP) - Inferenz - Lexikalische Inferenzverfahren von Schülern der Sekundarstufe 1.3 Interkomprehension zur Förderung von Sprachlernkompetenz............... 42 Interkomprehension und Metakognition - Metakognition als Strategie zur Umformung von „trägem“ in enaktives Wissen - Das Modell von Metakognition nach Wenden - Interkomprehension als konstitutives Element des Referenzrahmens für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (RePA) - Interkomprehension zur Prävention von motivationaler Interferenz? 2. Frühe Interkomprehension im Verhältnis zu weiteren fremdsprachendidaktischen Feldern ............................................................. 63 2.1 „Frühes Fremdsprachenlernen“ und „frühe Interkomprehension“....................................................................................... 63 Der monolinguale Habitus im Fremdsprachenunterricht - Interkomprehension und Sprachreflexion als eine Förderung von Sprachlernkompetenz - Language awareness, éveil aux langues und frühe Interkomprehension 2.2 Sprachlernkompetenz als Thema des Unterrichts ....................................... 75 Befunde der Unterrichtsforschung - Sprachlernkompetenz in Lehrplänen II <?page no="10"?> Inhaltsverzeichnis 2.3 Lernstrategien, Sprach(lern)reflexion und junge Lerner ............................ 83 Befunde zu Vorstellungen vom Lernen und zu Strategieeinsatz - Befunde zur Wortschatzarbeit von Fünft- und Achtklässlern 2.4 Junge Lerner und Interkomprehensionsforschung ..................................... 89 Projekte der romanischen Interkomprehensionsforschung - Interkomprehension und die classes bilangues in Frankreich - Empirische Befunde zu sprachenübergreifendem Lernen bei Schülern der Sekundarstufe I im deutschen Schulkontext 2.5 Interkomprehension in Relation zu einer ‚Übergangsdidaktik‘, Sprachenportfolios und Aufgabenorientierung........................ 103 Die Interkomprehensionsdidaktik und ihr möglicher Beitrag zu einer ‚Didaktik des Übergangs ‘ - Sprachenportfolios und Interkomprehension - Interkomprehensionsdidaktik und Aufgabenorientierung (task-based learning, apprentissage par les tâches, enfoque por tareas) 2.6 Fragestellungen zu früher Interkomprehension ........................................ 117 Die Frage der Zielsprache und Sprachverwandtschaft - Psycholinguistische Implikationen - Frühe Interkomprehension und sprachliche sowie nicht sprachliche Wissenskategorien II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs ........................... 133 1. Zur forschungsmethodologischen Verortung der vorliegenden Untersuchung.................................................................................................. 133 2. Gütekriterien qualitativer Forschung .......................................................... 135 3. Qualitative Forschung mit Kindern ............................................................. 139 4. Die Datenerhebungsverfahren und -instrumentarien und ihre Triangulation................................................................................................... 141 Zur Konstruktion der Fragebögen - Die Unterrichtsaufzeichnungen am niedersächsischen Gymnasium - Laut-Denk-Protokolle als Forschungs- und als Unterrichtsmethode der Interkomprehensionsdidaktik - Funktionen des dialogue pédagogique bei (früher) Interkomprehension - Das abschließende retrospektive Interview der Longitudinalstudie - Aufgabenformate der Interkomprehensionsdidaktik als Mittel der Datenerhebung 5. Zur Transkription........................................................................................... 161 6. Zur Begründung der Gewichtung der einzelnen Datensätze ................... 163 X <?page no="11"?> Inhaltsverzeichnis I X 7. Zur Auswertung und Analyse der Daten .................................................... 164 Sequenzanalytisches Verfahren bei der Longitudinalstudie - Die Auswertung und Analyse der Fragebögen 8. Zur Auswahl des analysierten Datenmaterials für die Dokumentation der longitudinalen Einzelfallstudie ................................. 171 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven ............. 175 1. Der Interkomprehensionsunterricht in der jahrgangsübergreifenden Gruppe................................................................. 175 2. Interkomprehensionserfahrungen eine longitudinale Einzelfallstudie ................................................................................................ 180 2.1 Die erste Interkomprehensionsstunde: Voetbal ......................................... 182 2.2 Die zweite Interkomprehensionsstunde: Football; Vriendschap en sportiviteit ........................................................................................................ 194 2.3 Die dritte und vierte Interkomprehensionsstunde: Garfield .................... 211 2.4 Die fünfte Interkomprehensionsstunde: „Asterix’ Geburtstag“............... 224 2.5 Die sechste Interkomprehensionsstunde: „Wörterpuzzle“....................... 239 2.6 Die siebte Interkomprehensionsstunde: „L’exposition jung.de“ ............. 257 2.7 Die achte Interkomprehensionsstunde: Giessen and Hesse - Giessen et la Hesse........................................................................................ 266 2.8 Die neunte Interkomprehensionsstunde: „Karneval“ ............................... 281 2.9 Die zehnte Interkomprehensionsstunde: Une maison à la campagne..... 301 2.10 Die elfte Interkomprehensionsstunde: „Sätzepuzzle“ ............................... 311 2.11 Die zwölfte Interkomprehensionsstunde: Uno zoo da amare - „Sprachenquiz“ ............................................................................................ 324 2.12 Die 13. und 14. Interkomprehensionsstunde: Inspector/ teur Gadget ...... 336 2.13 Das abschließende retrospektive Interview................................................. 355 3. Interkomprehensionserfahrungen Fallanalysen in zwei Klassen eines Gymnasiums.......................................................................................... 374 3.1 Zu den niedersächsischen Daten .................................................................. 374 3.2 Klasse 6b........................................................................................................... 375 Die Fragebögen I ............................................................................................375 Die Interkomprehensionsstunden.................................................................389 Das „Wörterpuzzle Sprachfamilien“.......................................................390 Der interkomprehensive niederländische Dialog Plannetjes maken.....................................................................................401 <?page no="12"?> X Inhaltsverzeichnis Der interkomprehensive italienische Text und das mehrsprachige Wörterbuch .....................................................................419 Die Fragebögen II...........................................................................................431 3.3 Klasse 7-N/ M................................................................................................... 447 Die Fragebögen I ............................................................................................447 Die Interkomprehensionsstunden.................................................................460 Der interkomprehensive niederländische Text Cijfers voor de leraren..................................................................................................461 Der interkomprehensive italienische Text und das mehrsprachige Wörterbuch .....................................................................484 Die Fragebögen II...........................................................................................495 4. Frühe Interkomprehension zur Förderung von Sprachlernkompetenz - Ergebnisse und Perspektiven ............................. 510 4.1 Transferprozesse und -strategien ................................................................. 510 Die Mobilisierung von Ressourcen................................................................511 Retroaktiver Transfer und die Rolle des Fremd- und Bildungswortschatzes bei früher Interkomprehension ...............................................516 Mehrstrategisches Vorgehen und Strategieerweiterung: .............................518 Erweiterung der Transfertypik......................................................................521 Textsortenwissen und Textkompetenz .........................................................522 Didaktischer Transfer, Selbstdiagnose und Strategieentwicklung......................................................................................523 Wie Schüler interkomprehensive Prozesse bezeichnen................................525 Frühe Interkomprehension und affektive Gesichtspunkte ..........................526 4.2 Pädagogische Perspektiven............................................................................ 529 4.3 Forschungsperspektiven ................................................................................ 538 Literaturverzeichnis...................................................................................... 543 II <?page no="13"?> Abbildungs und Tabellenverzeichnis Abbildungen Abb. 1: Der Moniteur Didactique Plurilingue (Meißner 2004b: 27)............... 29 Abb. 2: Miteinander verbundene Typen von Metakognition in Anlehnung an Flavell & Wellman (1977: 11)....................................... 43 Abb. 3: Traditionelles und interkomprehensiv basiertes Progressionsschema im FU (Meißner 2004c: 156, 2010e: 31) ........... 55 Abb. 4: Savoir apprendre als eine transversale Kompetenz ............................. 58 Abb. 5: DVD-Cover: Garfield ............................................................................ 212 Abb. 6: Wortkärtchen - „Wörterpuzzle“ ......................................................... 240 Abb. 7: Wörter- und Bilderkärtchen - „Wörterpuzzle: Sprachfamilien“...................................................................................... 391 Abb. 8: Dimensionen kooperativer Kompetenz (Bonnet 2009: 5) .............. 482 Tabellen Tab. 1: Taxonomie von Wissensquellen für die Erschließung von Wortbedeutungen nach Haastrup (1991: 92-93) ................................ 39 Tab. 2: Die Nutzung der Wissensquellen nach Kompetenzgruppen (vgl. Haastrup 1991: 108)........................................................................ 40 Tab. 3: Merkmale von kompetenzorientiertem und interkomprehensivem Unterricht (Bär 2006b; Feindt 2010)............. 60 Tab. 4: Anzahl der Sprachen, die die Schüler zusätzlich lernen wollen (Schröder-Sura et al. 2009: 10)............................................................... 63 Tab. 5: Methodenkompetenzen für das Leseverstehen im niedersächsischen Kerncurriculum....................................................... 81 Tab. 6: Task-based learning und Interkomprehension (Meißner et al. 2011b: 98)................................................................................................ 115 Tab. 7: Verarbeitungsebenen und -prozesse im Leseprozess (in Anlehnung an Lutjeharms 2006, 2007a)............................................. 124 Tab. 8: Hypothesengrammatik ......................................................................... 156 Tab. 9: Mehrsprachiges Wörterbuch ............................................................... 156 Tab. 10: „Sätzepuzzle“ .......................................................................................... 159 <?page no="14"?> XI Abbildungs und Tabellenverzeichnis Tab. 11: Hypothesengrammatik aus der Longitudinalstudie ......................... 187 Tab. 12: Sprachfamilien I ..................................................................................... 292 Tab. 13: Sprachfamilien II ................................................................................... 293 Tab. 14: Wortkärtchen - „Sätzepuzzle“ ............................................................. 312 Tab. 15: Fragebogen I: Dirk ................................................................................. 377 Tab. 16: Hypothesengrammatik - Axel ............................................................. 414 Tab. 17: Fragebogen I: Elena ............................................................................... 448 Tab. 18: Fragebogen I: Jakob ............................................................................... 449 Tab. 19: Mehrsprachiges Wörterbuch Jakob .................................................... 485 V <?page no="15"?> Einleitung Der Unterricht in der ersten Fremdsprache entwickelt systematisch methodische Kompetenzen. In diesem Kompetenzbereich können Schülerinnen und Schüler z.B. Lerntechniken und -strategien für den Ausbau ihrer Kenntnisse in der jeweiligen Fremdsprache sowie für den Erwerb weiterer Sprachen einsetzen […]. Damit verfügen Schülerinnen und Schüler über die Fähigkeit, selbstgesteuertes und kooperatives Sprachlernverhalten als Grundlage für den Erwerb von weiteren Sprachen sowie für das lebenslange, selbstständige Sprachenlernen einzusetzen. (KMK 2003: 10) So heißt es in den Bildungsstandards für die erste Fremdsprache für den Mittleren Schulabschluss, die die „Grundlage für den Erwerb von weiteren Sprachen“ (ebd.) bildet. Doch liegen bislang kaum Befunde zu sprachenübergreifendem Lernen zu Beginn der Sekundarstufe vor. Eine Ausnahme stellt das Thüringer Kooperationsprojekt (Behr 2007) für die Jahrgangsstufen 7 und 8 dar, für Klasse 6 fehlen bisher Untersuchungen. Doch welche Strategien sind junge Lerner 1 in den Jahrgangsstufen 6 und 7 in der Lage einzusetzen? Auf welches sprachliche - und auch nicht-sprachliche − Vorwissen greifen sie hierbei zurück? Transferieren sie ihr strategisches Wissen? Dass dies - gerade auch vor dem Hintergrund der Kompetenzorientierung - drängende Fragen sind, zeigt sich an Zielbegriffen wie „lebenslanges Lernen“, „Lernerautonomisierung“ oder „Lernen in der Wissensgesellschaft“. Doch was genau bedeutet es, Strategien „für den Ausbau [eigener] Kenntnisse in der jeweiligen Fremdsprache sowie für den Erwerb weiterer Sprachen einsetzen“ (KMK ebd.) zu können? Verfügen Sechst- und Siebtklässler bereits in Ansätzen über das hierfür notwendige metakognitive Wissen? Wie äußert sich dieses, d.h. welche Indikatoren hierfür gibt es? Elf- und zwölfjährige Schüler lernen anders als dreizehn- oder vierzehnjährige. Es verwundert daher, dass im Bildungsplan von Baden-Württemberg beispielsweise für Französisch als erste und als zweite Fremdsprache die dort ausgewiesenen „Methodenkompetenzen“ im Wortlaut identisch sind (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport 2004: 86-87 u. 2004: 167), obwohl sie sich in einem Fall an Sechst- und im anderen an Achtklässler richten. Insbesondere für Sechst- und Siebtklässler, die gerade erst eine zweite Fremdsprache zu lernen begonnen haben und daher noch in Begriff sind, sich selbst als Fremdsprachenlerner kennen zu lernen, ist eine Annäherung an die 1 Begriffe zur Bezeichnung von Personen oder Personengruppen wie „Lerner“, „Schüler“ usw. werden im Folgenden aus Gründen der Leserfreundlichkeit in der generisch männ lichen Form verwendet. <?page no="16"?> 2 Einleitung Frage, wie sich deren Sprachlernkompetenz darstellt, ein dringendes Forschungsdesiderat: Welche Strategien setzen junge Lerner (aus eigener Initiative) ein? Werden Strategien zielgerichtet eingesetzt, d.h. passen sie zum sprachlichen Handlungsziel oder ist ihr Einsatz eher beliebig und ‚planlos‘? Lassen sich Anzeichen von Metakognition nachweisen, und wenn dies der Fall ist, wie stellen diese sich dar? Diesen Fragen möchte die vorliegende Untersuchung nachgehen. Dabei lehnt sie sich an die Interkomprehensionsdidaktik an. Unter „Interkomprehension“ wird die Fähigkeit verstanden, „fremde Sprachen oder Varietäten zu dekodieren, ohne sie in zielsprachlicher Umgebung erworben oder formal erlernt zu haben“ (Meißner 2010h: 381). Eine große Rolle spielen hierbei Tranferprozesse. Es ist ein Verdienst der Interkomprehensionsdidaktik, den Transferbegriff, der lediglich zwischen ‚positivem‘ und ‚negativem‘ Transfer unterschieden hatte, erheblich differenziert zu haben. So schließen die Transferbereiche nicht ‚nur‘ den lexikalischen, sondern ebenfalls den morpho-syntaktischen und insgesamt alle Dimensionen der sprachlichen Architektur mit ein. Auch der Transfer von Lernerfahrungen („didaktischer Transfer“, Meißner 2002, 2007a) ist nicht auf Lernstrategien im engeren Sinne beschränkt. Hier spielen affektive Gesichtspunkte wie Motivation eine ebenso große Rolle wie beispielsweise metakognitive Fragen des aufgabenbezogenen Wissens (task knowledge, vgl. Wenden 1998, 1999) oder des Selbstmanagements. Die Erweiterung des Transferbegriffs besteht auch darin, dass sie ihn nicht auf eine Transferrichtung festlegt, wie es sich in Bildungsplänen mitunter andeutet („Sprachlernstrategien, Methoden, Fertigkeiten und Kenntnisse von einer Sprache auf eine andere zu übertragen und so den Sprachlernprozess in der zweiten Fremdsprache zu erleichtern“; MfKJS ebd.: 164; Hervorhebung StM). So erlauben Transferprozesse auch eine Modifikation und einen Ausbau von Wissen in vorgelernten Sprachen („retroaktiver Transfer“). Die Konzeption von Sprachlernkompetenz, wie sie in der Interkomprehensionsdidaktik - und somit auch in der vorliegenden Untersuchung - vertreten wird, ist weder unidirektional noch additiv: Die auf diesem Feld [Mehrsprachigkeit und Multikulturalität; StM] erforderlichen Kompetenzen bilden sich nicht additiv aus − etwa als eine zufällige „Ansammlung von eigenständigen und voneinander getrennten Kommunikationskompetenzen“ (GeR 2001: 163), je nachdem, welche Sprachen man kennt −, sondern vielmehr über eine einzige integrative mehrsprachige und plurikulturelle Kompetenz. Sie geht letztlich auf die Sprachen und (inter)kulturellen Erfahrungen zurück, die einem Menschen zur Verfügung stehen. (RePA 2010: 10; vgl. auch Coste, Moore und Zarate 1997). Diese Definition liegt auch dem RePA, dem Referenzrahmen für plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen zugrunde. Die „pluralen Ansätze“ umfassen neben der Interkomprehension auch das interkulturelle Lernen sowie den éveil <?page no="17"?> Einleitung 3 aux langues und die integrative (bzw. auch „integrierte“) Sprachendidaktik. Da in dieser Untersuchung neben dem Lernen ‚fremder‘ interkomprehensiver Sprachen (vgl. die Definition oben) auch in der Schule gelernte Fremdsprachen (Englisch und Französisch) als Zielsprachen von früher Interkomprehension 2 eingesetzt werden, kann sie ebenfalls im Kontext einer integrierten Didaktik (didactique intégrée; vgl. Meißner 2011a) angesiedelt werden. Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit ist eine longitudinale Einzelfallstudie (Juni 2009 - August 2010), in der ein Lerner, ein Realschüler einer kooperativen Gesamtschule mit der Fremdsprachenfolge Französisch als zweite Fremdsprache nach Englisch, über ein Schuljahr (6. Klasse) hinweg begleitet wurde. In Interkomprehensionsstunden im (ca.) zweiwöchigen Turnus kamen sowohl unterschiedliche Aufgabenformate der Interkomprehensionsdidaktik (Meißner 2004b, 2005b, 2011b) als auch interkomprehensive Zielsprachen (Englisch, Französisch, Italienisch, Niederländisch und Spanisch) zum Einsatz. Eine Einzelfallanalyse erlaubt es, lernerseitige Transferprozesse und Metakognition im Sinne einer dichten Beschreibung (Geertz 1983) so genau wie möglich zu explorieren. Sprachlernkompetenz wird hierbei als eine Handlungskompetenz, eine Integrations-, Mobilisierungs- und Transferkompetenz [verstanden], die in einem gegebenen Kontext ein Ensemble von Ressourcen (Kenntnisse, Haltungen, Attitüden [Fähigkeiten], Überlegungen) umfasst, um ein Problem oder eine Aufgabe zu lösen, […] die Kompetenz [besteht] nicht additiv aus der Kenntnis der Ressourcen, sondern in der Mobilisierung der Ressourcen an sich. Kompetenz ist daher immer eine Mobilisierungskompetenz (savoir mobiliser). (RePA 2010: 17; vgl. auch Meißner 2011c: 80) Eine sechste Klasse und eine siebte Klasse mit naturwissenschaftlich-mathematischem Profil an einem Gymnasium in Niedersachsen bilden die weiteren Fallstudien 3 der vorliegenden Untersuchung. Hier wurden neben Interkomprehensionsaufgaben zu den Zielsprachen Italienisch und Niederländisch zwei unterschiedliche Fragebogenformate (zu sprachlernbiographischen Daten, zu Angaben über das eigene Sprachenlernen und zu den Interkomprehensionserfahrungen der Schüler) eingesetzt. 2 Der Begriff der frühen Interkomprehension wird definiert als Interkomprehension mit dem Ziel einer Förderung von Sprach(lern)bewusstheit und Sprachlernkompetenz zu Beginn des Erlernens einer zweiten Fremdsprache am Anfang der Sekundarstufe und auf der Grundlage von Kenntnissen der Muttersprache, einer eventuellen zweiten Sprache sowie der ersten Fremdsprache (Englisch); s. auch Abschnitt I 2.1. Entsprechend den Ausführungen zum retroaktiven Transfer (s.o.) ist mit der Betonung der zweiten Fremdsprache eine zeitliche Verortung und keine Beschränkung auf eine Transfer richtung gemeint. 3 Der Begriff „Fall“ wird in dieser Untersuchung weit gefasst und sowohl auf eine Einzelperson als auch auf eine Gruppe bezogen (vgl. auch Kelle & Kluge 1999: 83 und Merkens 2003: 294). <?page no="18"?> 4 Einleitung Dass sich die Interkomprehensionsforschung im deutschen Schulkontext bislang noch nicht mit jüngeren Lernern befassen konnte, liegt vermutlich vor allem in Schullaufbahnregelungen und Sprachenfolgen begründet. Die meisten Schüler erlernen Englisch als erste Fremdsprache und begegnen daher einer Sprache der romanischen Sprachfamilie (häufig Französisch im zweiten Lernjahr der Sekundarstufe) erst später. Dies hat zur Folge, dass Schülern für einen interromanischen Transfer romanische (französische) Transferbasen in geringerem Maße bzw. erst zu einem späteren Zeitpunkt des schulischen Sprachlehrgangs zur Verfügung stehen. Doch ist hier die Rolle der Mutterbzw. Zweitsprache Deutsch und der englischen Sprache als Basis für Transfer zu bedenken. Zudem ist zu fragen, ob nicht auch jüngere Lerner im Bereich der Sprachlernkompetenz von Interkomprehension profitieren können: Ist die differenzierte Transfertypologie der Interkomprehensionsdidaktik auch bei jüngeren Lernern und deren Interkomprehensionsprozessen als eine Grundlage applizierbar, d.h. erlaubt sie eine detaillierte Identifikation von Transferprozessen für Lehrende und Forschende und - vor allem! - für die Lerner selbst? Es versteht sich von selbst, dass, um dieser Frage nachgehen zu können, ebenfalls für den Begriff der „Strategie“ eine differenzierte Konzeption zugrunde gelegt werden muss. Auch hier schließt sich die vorliegende Studie dem Referenzrahmen für plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (RePA 2011) an. Der Bereich des savoir apprendre wird dort als eine transversale Kompetenz definiert, die sich auf alle Kompetenzbereiche, d.h. sowohl auf savoir und savoir faire als auch auf savoir être beziehen kann (vgl. auch Martinez & Schröder-Sura 2011: 73). Um „in Fleisch und Blut überzugehen“, wie es Feindt (2010: 87) mit Bezugnahme auf die Kompetenzorientierung treffend formulierte, reichen punktuell in Lehrbüchern eingestreute ‚Lerntipps‘ nicht aus, wie es in älteren Lehrwerkreihen mitunter der Fall war. In diesen dominierte zudem häufig der Wortschatzbereich. Dieser reduzierte Strategiebegriff und die Vermittlung von Strategien durch von außen gesteuerte Instruktion erlauben eine solche Verinnerlichung (Feindt ebd.) jedoch kaum, denn sie knüpfen nicht an lernerseitiges Vorwissen (auf allen Ebenen des savoir! ) an. Darüber hinaus sind sie nicht mit Weinerts (2001: 27f.) Kompetenzbegriff vereinbar, demzufolge Kompetenzen bekanntermaßen definiert werden als: die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können. (Hervorhebung; StM) Vor dem Hintergrund der Vereinbarkeit der Interkomprehensionsdidaktik und Kompetenzorientierung und der engen positiven Beziehung zwischen Prozess- und Lernerorientierung kann diese Studie durchaus auch zur Diskus- <?page no="19"?> Einleitung 5 sion um Kompetenzorientierung im Bereich der Sprachlernkompetenz 4 beitragen. Zur Gliederung: Im ersten Kapitel zur theoretischen Verortung (I) der vorliegenden Untersuchung wird Interkomprehension als ein didaktisches Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz vorgestellt. Kapitel 1.1 widmet sich dem Begriff der Interkomprehension in unterschiedlichen Konzeptionen und Kontexten, der in Kapitel 1.2 zu jenen des Transfers und der Inferenz in Beziehung gesetzt wird. Es wird das Potenzial von Interkomprehension für Sprachenlernen diskutiert, wobei insbesondere auf das differenzierte Transfermodell der Interkomprehensionsdidaktik (z.B. Meißner 2002, 2007a) einzugehen sein wird, das eine theoretische Grundlage und ein Analyseinstrument der vorliegenden Studie ist. Im Zusammenhang der Untersuchung strategischen Handelns junger Lerner gehört auch die Frage nach Anzeichen von Metakognition zu den Erkenntnisinteressen der vorliegenden Studie. Metakognition wird u.a. das Potenzial einer Umformung von „trägem“ in enaktives Wissen zugeschrieben. Daher werden in Kapitel 1.3 die Begriffe der „Metakognition“ und des „trägen Wissens“ (vgl. z.B. Renkl 1996, 2004) aus der pädagogischen Psychologie mit Blick auf die Interkomprehensionsdidaktik diskutiert. So werden auch Interkomprehensionsprozesse als eine Möglichkeit der Überführung trägen in aktiv(er)es Wissen gesehen (vgl. z.B. Meißner 2011c: 82). Nach einer Darstellung des Referenzrahmens für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (RePA), für den Interkomprehension ein konstitutives Element ist, schließt das Kapitel mit Überlegungen zu Interkomprehension zur Prävention von motivationaler Interferenz. Im zweiten Kapitel wird (frühe) Interkomprehension und ihre Relation zu weiteren fremdsprachendidaktischen Feldern reflektiert. In Kapitel 2.1 werden Grundsätze der Interkomprehensionsdidaktik zu jenen frühen Fremdsprachenlernens in Beziehung gesetzt. Ein besonderes Augenmerk wird hierbei auf die Rolle von Sprachreflexion und -lernbewusstheit und die Abgrenzung des Begriffs der „frühen Interkomprehension“ von affinen Ansätzen wie éveil aux langues gelegt. Sprachlernkompetenz in der Unterrichtsforschung und in Lehrplänen wird in Kapitel 2.2 dargestellt. Kapitel 2.3 befasst sich mit empirischen Befunden zu Vorstellungen vom Lernen und Strategieeinsatz sowie zur Wortschatzarbeit von jungen Lernern, bevor im Kapitel 2.4 Ergebnisse aus der Interkomprehensionsforschung mit jungen Lernern vorgestellt und diskutiert wer- 4 Aus diesem Grund wurde der Begriff der „Sprachlernkompetenz“ gewählt, der sich mitt lerweile im Kontext von Kompetenzorientierung durchgesetzt hat (s. z.B. auch in den Bildungsstandards für die fortgeführte Fremdsprache; KMK 2012), anstelle von „Spra chenlernkompetenz“. Dass mit „Sprachlernkompetenz“ dennoch mehrere Sprachen ge meint sind, muss in einer Untersuchung zur Interkomprehensionsdidaktik selbstver ständlich nicht weiter betont werden. Gleiches gilt für den Begriff „Sprachbewusstheit“. <?page no="20"?> 6 Einleitung den. Die vorliegende Untersuchung ist zu Beginn der Sekundarstufe und bei Lernbeginn einer zweiten Fremdsprache angesiedelt. Daher wird in Kapitel 2.5 ihr möglicher Beitrag zu einer „Didaktik des Übergangs“ diskutiert. Auch wird in diesem Kapitel der Frage nachgegangen, inwieweit die Interkomprehensionsdidaktik zur Weiterentwicklung von Sprachenportfolios und zur Aufgabenorientierung (task-based learning, apprentissage par les tâches, enfoque por tareas) beitragen kann. Schließlich werden Überlegungen zur Umsetzung frühen Interkomprehensionsunterrichts angestellt (Kapitel 2.6). Hierbei wird insbesondere auf die Frage der Zielsprache und die Rolle nicht-sprachlichen (Vor-) Wissens einzugehen sein. Die Darlegung der Entwicklung des forschungsmethodischen Designs (II) widmet sich nach einer forschungsmethodologischen Verortung der Untersuchung (Kapitel 1 5 ) den Gütekriterien qualitativer Forschung (Kapitel 2) und qualitativer Forschung mit Kindern (Kapitel 3). Im vierten Kapitel werden die eingesetzten Datenerhebungsverfahren und -instrumentarien sowie Aufgaben(formate) der Interkomprehensionsdidaktik dargestellt und diskutiert. Kapitel 5 gibt eine Übersicht über die verwendeten Transkriptionskonventionen. Da eine Auswertung und Analyse des gesamten Datenmaterials den Rahmen dieser Untersuchung und ihrer Dokumentation sprengen würde, wird in Kapitel 6 die Gewichtung der einzelnen Datensätze begründet. Den Auswertungs- und Analyseverfahren widmet sich Kapitel 7. In Kapitel 8 wird die Auswahl des analysierten Datenmaterials für die Dokumentation der longitudinalen Einzelfallstudie dargelegt. In der Dokumentation der Analyseergebnisse (III) befasst sich nach der Darstellung einer Interkomprehensionsstunde in einer jahrgangsübergreifenden Gruppe, der der Lerner der Einzelfallstudie angehörte (Kapitel 1), das zweite Kapitel mit der Longitudinalstudie. Die Resultate der Analyse der Transferprozesse des Sechstklässlers werden in chronologischer Abfolge auf der Grundlage audioaufgezeichneter und transkribierter Interkomprehensionsstunden ausführlich dokumentiert. Am Ende eines jeden Abschnitts werden wichtige Ergebnisse kurz zusammengefasst. Kapitel 2 schließt mit einem retrospektiven Interview. Im dritten Kapitel werden die Analyseergebnisse der niedersächsischen Daten dargelegt, zunächst jene zur sechsten Klasse und im Anschluss jene zur siebten Klasse mit naturwissenschaftlich-mathematischem Profil (s.o.). Auch hier endet jeder Abschnitt mit einer kurzen Zusammenfassung wichtiger Befunde. Im abschließenden Kapitel 4 werden die Ergebnisse gebündelt und im Hinblick auf pädagogische und forschungsmethodische Perspektiven diskutiert. 5 Um hohe Kapitelzahlen zu vermeiden, wird die Kapitelzählung bei der Darlegung des forschungsmethodischen Designs (II) und der Dokumentation der Analyseergebnisse (III) jeweils neu mit 1. begonnen. In Kapitelverweisen werden die römischen Zahlen selbstverständlich mit angegeben. <?page no="21"?> I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 1.1 Zum Interkomprehensionsbegriff Die verschiedenen Definitionen, die für den Begriff der Interkomprehension mittlerweile vorgelegt wurden, lassen sich tendenziell nach deren Zielsetzungen differenzieren. Während ursprünglich das Hauptziel von Interkomprehension war, rezeptive Mehrsprachenkompetenz, (zumeist) in Sprachen derselben Sprachfamilie, zu fördern, wird sie heute darüber hinaus als ein Mittel der Entwicklung von Sprachlernkompetenz betrachtet (Meißner 2008a: 36). Von dieser didaktisch orientierten Auffassung des Interkomprehensionsbegriffs lässt sich des Weiteren jene unterscheiden, die sich stärker an dem Konzept von Interkomprehension im Kontext internationaler Kommunikation orientiert. Doyé (2010: 129) beispielsweise definiert, wie aus romanischen Kontexten zuvor bekannt, „Interkomprehension“ als eine Kommunikationsform, bei der die Interaktionspartner ihre Erstsprache produktiv verwenden und die Sprache ihres Kommunikationspartners verstehen 6 . Was an dieser Konzeption neu ist (vgl. ebd.), ist, dass die Interaktanten die Sprache ihres Interaktionspartners nicht formal erlernt haben (müssen). Degache (2006: 13-15) hebt aus französischer Sicht hervor: Elle [= L’intercompréhension; StM] est d’abord et avant tout, il convient de le rappeler, en tant que manifestation du principe général de coopération (Grice, 1979), une nécessité, voire une finalité ou encore un produit, de l’interaction verbale humaine. […] Parler sa langue - voire sa “propre langue“ - et comprendre celle de l’autre […] semble donc apte à définir cette acception de l’intercompréhension. Für die auf den Auf- und Ausbau von Sprachlernbewusstheit und -kompetenz, insbesondere in institutionellen Kontexten, bezogene Auffassung des Interkomprehensionsbegriffs betont hingegen Meißner (2007a: 84 - 85): Im Falle der auf Interkomprehension basierten Lernlehrverfahren kommt der Selbststeuerung insofern eine fundamentale Bedeutung zu, als Interkomprehension und Interkomprehensionsunterricht konsequent für die Perzeption von Sprach- und Lerndaten sensibilisieren und das die Informationsverarbeitung steuernde Vorwissen (re)organisieren, um es dem Sprachen- und Sprachenlernwachstum zugänglich zu machen. 6 Vgl. auch den Begriff des „polyglotten Dialogs“ bei Posner (1993: 63). <?page no="22"?> 8 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Die angesprochene Sensibilisierung der Wahrnehmung für Sprach- und Lerndaten macht deutlich, dass die Konzeptionen von Interkomprehension im Zusammenhang internationaler bzw. interlingualer Kommunikationssituationen und im Kontext einer Förderung von Sprachlernkompetenz selbstverständlich eng miteinander verbunden sind. Sie unterscheiden sich, wie angesprochen, vor allem in den Hauptfunktionen, die sie Interkomprehension zuschreiben. Hilfreich für die Differenzierung dieser Funktionen ist auch der Begriff des „inhärenten Wissens“ (Meißner 2011e: 159): In the first one, IC [= intercomprehension] takes place on the basis of inherent knowledge and there is no learning or teaching necessary - this case regularly occurs between different dialects of the same language; in the second case, inherent knowledge is not sufficient and some pedagogical guidance is necessary. As the two categories of IC cannot be distinguished accurately, assistance is often necessary in both cases to make IC work. Im Folgenden werden Dimensionen von Interkomprehension diskutiert, wie sie Castagne (2007) für die Konzeption von Interkomprehension als einem Mittel internationaler und interlingualer Kommunikation dargelegt hat. Hierbei soll der Versuch gemacht werden, die von ihm angesprochenen Dimensionen und Faktoren auf die Konzeption von Interkomprehension zur Förderung von Sprachlernkompetenz zu übertragen. Dimensionen von Interkomprehension Castagne (2007: 462ff.) unterscheidet folgende Dimensionen von Interkomprehension: a) Interkomprehension in einer symmetrischen und asymmetrischen Kommunikationssituation b) Interkomprehension zwischen verwandten und nicht-verwandten Sprachen c) schriftliche und mündliche Interkomprehension d) Interkomprehension, ohne die Sprache des anderen sprechen zu können, und mit entsprechenden Kenntnissen e) Interkomprehension als Sprachverstehen in der Fremd- und Sprachproduktion in der Muttersprache 7 zu a) Interkomprehension in einer symmetrischen und asymmetrischen Kommunikationssituation: Castagne fasst den Interkomprehensionsbegriff für einen kommunikativen Kontext, d.h. für Kommunikationssituationen, sehr weit und schließt hier 7 Als sechste Dimension nennt Castagne (ebd.: 465) die sprachliche und strategische Ebene, wobei er letztere − entsprechend des Fokus’ seiner Ausführungen − auf Kommunikationsstrategien bezieht. Da Strategien im Kontext von savoir apprendre und der vorliegenden Untersuchung selbstverständlich eine große Rolle spielen, werden sie in weiteren Kapiteln diskutiert und nicht an dieser Stelle als ein Unterpunkt aufgenommen. <?page no="23"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 9 ebenfalls Interkomprehension in der Muttersprache mit ein, die er als „symmetrische Interkomprehension“ bezeichnet. Diese bezieht er auf Beispiele wie Fachsprache oder regionalem Sprachgebrauch (z.B. der Gebrauch von septante in Belgien oder in der Schweiz). In einer Situation, in der Interkomprehension primär in der Funktion des Fremdsprachenlernens und des Aufbaus von Sprachlernkompetenz verwendet wird, ist die Relation in der Regel asymmetrisch, sei es jene des Lerners zum (muttersprachlichen) Verfasser eines nichtlehrintentionalen Textes, zur Lehrperson oder zu einem Muttersprachler usw. Allerdings kann insbesondere bei jungen Lernern, die noch über geringe Fremdsprachenkenntnisse verfügen, auch eine Auseinandersetzung mit beispielsweise diatopischen, diastratischen oder diaphasischen Varietäten in der Muttersprache ein Gewinn im Sinne einer Sensibilisierung für sprachliche Vielfalt sein. zu b) Interkomprehension zwischen verwandten und nicht-verwandten Sprachen: Auch was die Frage der Sprachverwandtschaft für ein Gelingen von Interkomprehension anbelangt, der, so Doyé (2007: 156), die meisten Theoretiker der Interkomprehension eine große Bedeutung beimessen, vertritt Castagne (2007: 463) eine weite Auffassung des Interkomprehensionsbegriffs: On oublie alors que la langue est plus qu’une succession de mots lexicaux. L’intercompréhension est possible grâce à la reconnaissance des transparences lexicales, mais aussi grâce à la reconnaissance des transparences syntacticosémantiques, à la pratique d’inférences syntactico-sémantiques reposant sur sa propre expérience et ses connaissances linguistiques et extra-linguistiques, par une exploitation possible de certains indices rythmiques et prosodiques à l’oral ... In seiner Argumentation für Interkomprehension zwischen nicht-verwandten Sprachen betont Castagne somit die Tatsache, dass Interkomprehension bzw. die Tätigkeit des Inferierens sich keineswegs auf die lexikalische Ebene beschränken, wie es von einigen Autoren fälschlicherweise konzipiert wurde (z.B. von Rieder 2001: 127), und auch außersprachliche Wissensquellen einschließen. Wie vielfältig und vielschichtig denkbare Transfermöglichkeiten sind, wird in der differenzierten Transfertypologie der Interkomprehensionsdidaktik deutlich, auf die in Abschnitt I 1.2 genauer eingegangen wird. Doyé (2007: 157) unterscheidet in seiner Diskussion der Frage nach der Notwendigkeit von Sprachverwandtschaft für das Gelingen von Interkomprehension zwei einander entgegengesetzte Positionen. So könne zum einen die Verwandtschaft von Ausgangsbzw. Brücken- 8 und Zielsprache als eine uner- 8 Doyé (2007: 156) weist explizit darauf hin, dass auch fremdsprachliche Kenntnisse Lieferanten von Transferbasen sein können, er auf diese jedoch nicht eingehe, da er grundsätzliche Überlegungen formuliere. <?page no="24"?> 10 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht lässliche Bedingung aufgefasst werden, ohne die Interkomprehension nicht möglich ist. Zum anderen könne die Möglichkeit von Interkomprehension auch ohne Sprachverwandtschaft angenommen werden. Die Nähe oder Distanz der Ausgangsbzw. Brücken- und Zielsprache zueinander sei jedoch ein Indikator für die Schwierigkeit von Interkomprehension, wobei Doyé (ebd.) einräumt, dass „Schwierigkeit“ ein relativer Wert ist. Zudem kann − abgesehen von einer sprachtypologischen Nähe bzw. Distanz, die sprachstatistisch bestimmbar ist (vgl. z.B. die statistische Quantifizierung zum lexikalischen Transfer von Meißner 1989) − die Psychotypologie (Kellerman 1983) eine große Rolle spielen. Diese bezieht sich (u.a.) auf die von einem Lerner wahrgenommene Nähe bzw. Distanz. Befunden aus den Analysen des Gießener Datenkorpus (s. Abschnitt I 1.2 zufolge bevorzugen germanophone Lerner bei Interkomprehension in einer romanischen Zielsprache romanische Brückensprachen gegenüber ihrer Muttersprache. Dies ist ebenfalls für die germanische Sprachfamilie belegt (vgl. z.B. Ecke & Hall (2000) für hispanophone Lerner des Deutschen als Tertiärsprache, die massiven Gebrauch des Englischen als Brückensprache machen, oder Michiels (1997) für frankophone Muttersprachler, die beim Lernen des Deutschen ihre Brückensprache Niederländisch nutzen). Projekte wie DaFnE (= „Deutsch als Fremdsprache nach Englisch“) und EaG (= „English after German“) (vgl. Hufeisen 2006; Marx 2010) machen sich diese (wahrgenommene) Nähe von Brücken- und Zielsprache zunutze. Dies gilt ebenfalls für die interkomprehensionsmethodischen Ansätze aus EuroComDidact (s. Abschnitt I 1.2), die darüber hinaus den retroaktiven Transfer betonen, d.h. die Tatsache, dass auch die aktivierten Brückensprachen selbst hiervon profitieren können. Bei Interkomprehension in einer sprachfamilienübergreifenden Perspektive − und sprachfamilienübergreifend ist, wie bereits ausgeführt, frühe Interkomprehension im deutschen Schulkontext zwangsläufig − spielt die Frage nach auch nicht-sprachlichen Ressourcen eine besondere Rolle. Was die von Castagne angesprochenen außersprachlichen Kenntnisse betrifft (s. das Zitat oben), werden diese auch von Capucho (2002: 2; zitiert aus: Doyé 2007: 156), der Koordinatorin des Projektes EU&I (= European awareness and intercomprehension) 9 , betont. Sie sieht Interkomprehension: „not only as the result of linguistic transfer between languages of the same family, but as the result of the transfer of strategies in the framework of a general interpretative process which underlies all communicative ability”. In diesem Zusammenhang ist ein Befund aus dem Intercom-Projekt 10 von Interesse (Ollivier 2008: 68). So konnte für germanophone Studierende und die Zielsprache Türkisch festgestellt werden: 9 Dieses Projekt fokussiert allerdings interkomprehensive Kommunikation. 10 Die Projekte EU&I (2002-2005) und Intercom (2006-2009) bauen aufeinander auf (vgl. Shopov 2010: 90ff.). <?page no="25"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 11 l’aspect inconnu des langues peut être démotivant et réduire le recours aux capacités cognitives […] le fait que l’assurance diminue très sensiblement avec le degré de familiarité de la langue de travail tend à prouver que les personnestests sont restées très influencées par le linguistique et que cette fixation a probablement provoqué un blocage de l’activation des connaissances textuelles et situationelles et des capacités d’inférence. Auch wenn es sich hier um Erwachsene handelt, ist die von Ollivier beschriebene blocage de l’activation des connaissances insofern von Bedeutung, als die wahrgenommene sprachliche Fremdheit eine Aktivierung von Weltwissen blockiert, obwohl dieses aufgrund der sprachtypologischen Distanz hier gerade besonders notwendig wäre. Für die vorliegende Untersuchung und junge Lerner sind folgende Überlegungen von Interesse: Ist eine blocage auch bei jungen Lernern beobachtbar angesichts der geringe(re)n Hemmschwelle und größeren Offenheit Fremdem gegenüber, die ihnen in der Regel zugeschrieben wird? Bei dieser Frage ist selbstverständlich zu berücksichtigen, dass es auch innerhalb der Gruppe nicht-verwandter Sprachen große Unterschiede gibt. So ist Türkisch beispielsweise keine indo-europäische Sprache, Französisch hingegen schon, so dass die französische Sprache jungen Lernern, die mit ihr und nach Englisch zum ersten Mal einer anderen Sprachfamilie begegnen, möglicherweise weniger fremd erscheint. Auf der anderen Seite verfügen sie selbstverständlich noch nicht über das (interkulturelle) Weltwissen und die Erfahrungen (etwa durch Reisen, internationale Kontakte), die − zumindest prinzipiell − Erwachsenen zur Verfügung stehen. zu c) schriftliche und mündliche Interkomprehension: Zu dieser Dimension äußert sich Castagne (2007: 464) folgendermaßen: „l’intercompréhension orale, considérée à tort comme plus difficile à pratiquer que l’intercompréhension écrite, ne doit pas être négligée“. Mittlerweile ist unumstritten und empirisch belegt, dass Interkomprehension nicht ‚allein‘ lesend, sondern ebenfalls hörend möglich ist und in exolingualer Kommunikation zwischen Teilhabern romanischer, aber auch germanischer Sprachen ‚natürlicherweise‘ stattfindet (Krämer 1991; Börestam Uhlmann 1999). Auch Studien mit Studierenden der Romanistik (vgl. Meißner & Burk 2001) und mit Lernern der Klasse 8 und unterschiedlichen Zielsprachen (Doyé 2007) konnten nachweisen, dass Interkomprehension auch über Hörverstehen funktionieren kann. Allerdings muss Castagnes generelle Stellungnahme, mündliche Interkomprehension werde „considérée à tort comme plus difficile à pratiquer“ (ebd.: 464) je nach Kontext differenziert werden. Auf syntaktischer Ebene ist (nicht allein) bei interkomprehensivem Hörverstehen zu beachten, dass „[e]ine bestimmte Erwartungshaltung hinsichtlich der Abfolge der syntaktischen Elemente […] die Dekodation [erleichtert]. So stellt die für das Deutsche so typische verbale Klammer für romanophone <?page no="26"?> 12 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Hörer des Deutschen ein Problem dar“ (Meißner 2010b: 77; Beispiel in Anlehnung an Morkötter et al. 2010: 30): Er hat für sein Diplom einen Text von 150 Seiten schreiben müssen. He had to write a text of 150 pages for his diploma. Il a dû écrire un texte de 150 pages pour son diplôme. Ha dovuto scrivere un testo di 150 pagine per il suo diploma. Ha debido escribir un texto de 150 páginas para su diploma. Umgekehrt bereitet die syntaktische Struktur romanischsprachlicher Sätze aufgrund deren Rechtsversetztheit und Thema-Rhema-Gliederung germanophonen Lernern in der Regel weniger Schwierigkeiten. Wie das Beispiel verdeutlicht, kann hier auch die englische Sprache eine syntaktische Transferbasis als Brückensprache liefern. Die erwähnte Interkomprehensionsstudie (vgl. Meißner & Burk ebd.; s.o.) zum panromanischen hörendenVerstehen konnte zeigen, dass inhaltlich zusammenhängende Texte ‚zwischen‘ romanischen Sprachen verstanden werden, aufgrund der verglichen mit dem Leseverstehen geringeren mentalen Verarbeitungszeit jedoch ein hoher Grad an gemeinsamem Wortschatz und syntaktisch-struktureller Gemeinsamkeit erforderlich ist. Zudem sind euphonische und archetypische Betonungsmuster wie beispielsweise Fragen oder Insistenz usw. für romanische Interkomprehension (die Sprachen Französisch, Katalanisch und Spanisch betreffend) untersucht worden (vgl. Murillo Puyal 2011). Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass beim Hörverstehen das Mindestmaß identifizierbarer Elemente für ein Verstehen deutlich höher liegen dürfte als beim Leseverstehen. (Meißner 2006; vgl. auch Abschnitt I 2.6 zum „kritischen Schwellenniveau“ von Interkomprehension). zu d) Interkomprehension, ohne die Sprache des anderen sprechen zu können, und mit entsprechenden Kenntnissen: Bisherige Untersuchungen zu Interkomprehension im deutschsprachigen Kontext haben sich zumeist mit einer - wenn auch in der Regel mit Anführungszeichen versehen - ‚unbekannten‘ interkomprehensiven Zielsprache befasst (Meißner 1997; Meißner & Burk 2001; Böing 2004; Meißner 2008b; Schöpp 2008; Bär 2009; Meißner 2010a). Doch betont Castagne (2007: 464) m.E. zu Recht: „on ne doit pas se priver des bénéfices de la solution de l’intercompréhension si l’on parle la langue de l’autre“. Ein Einsatz auch jener Sprachen, die Schüler bereits lernen, als Zielsprachen von Interkomprehension ist insbesondere für frühe Interkomprehension naheliegend (vgl. auch Morkötter 2008: 299-300), da jungen Lernern noch nicht sehr viele Transferbasen für eine ‚gänzlich neue‘ Sprache zur Verfügung stehen. Im Hinblick auf das Ziel einer Förderung von Sprachlernkompetenz ist zudem zu betonen, dass ihnen eine Verwendung auch der Sprachen, die sie gerade erlernen, nicht ‚allein‘ als Brückensprachen, sondern auch als Zielsprachen von Interkomprehension die <?page no="27"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 13 Nützlichkeit und Transferierbarkeit strategischen Wissens vermutlich (besser) verdeutlichen kann. In der vorliegenden Untersuchung werden daher im Rahmen der Longitudinalstudie Englisch und Französisch auch als Zielsprachen von Interkomprehension eingesetzt. Bei der Analyse der Daten wird unter anderem darauf zu achten sein, ob sich ein Transfer strategischen Wissens (beispielsweise aus der niederländischen Sprache) nachweisen lässt. zu e) Interkomprehension als Sprachverstehen in der Fremd- und Sprachproduktion in der Muttersprache: Im Kontext von Interkomprehension als einer Form internationaler Kommunikation hebt Castagne hervor, dass es möglich sein muss, sich bei Sprachproduktion seiner Muttersprache bedienen zu können, und dass die Interaktanten hiervon wechselseitig profitieren können (ebd.: 464-465) 11 . Im Zusammenhang einer Förderung von Sprachlernkompetenz sind insbesondere seine Ausführungen zum Thema „Compréhension vs. traduction“ (ebd.: 462) von Interesse: la traduction est non seulement compréhension mais aussi expression. Il apparaît aussi qu’elle requiert un complément de travail qui a pour effet d’occulter le texte original alors que celui-ci est le texte véritable de l’information. L’intérêt de comprendre un texte dans sa version originale est de lui accorder le statut de texte de référence pour l’information à appréhender, ce qui permet de mémoriser les formes linguistiques originales sans les associer étroitement à des formes traduites dans une autre langue qui risquent de les occulter. Im Hinblick auf das Ziel einer Informationsentnahme könne somit eine Übersetzung zu einer ‚Verschleierung‘ des Originaltextes führen. Selbstverständlich stellt eine Übersetzung nur in den seltensten Fällen (vgl. die Ausführungen zur Intersynonymie; Abschnitt I 1.2) eine ‚1: 1-Übertragung‘ eines Originaltextes dar. Doch insbesondere Castagnes Anmerkung zur Tätigkeit „de mémoriser les formes linguistiques originales“, die − werden sie eng mit „des formes traduites dans une autre langue“ verbunden − ebenfalls durch diese ‚verschleiert‘ werden könnten, ist mit dem Ziel von Interkomprehension, Sprachlernkompetenz zu fördern, nicht vereinbar. Dies wird in Aufgabenformaten wie der Interlinearübersetzung und des mehrsprachigen Wörterbuchs 12 (Meißner 2004b, 2005b, 2011b) sowie in Zielsetzungen wie der Nutzung pro- und retroaktiven Transfers deutlich. 11 Vgl. auch Doyé (2007: 159ff.), der bei Interkomprehension in interlingualer und inter kultureller Kommunikation die Notwendigkeit der Fähigkeit zum Dekodieren und Interpretieren betont. Man könne sich nicht mit Globalverstehen zufrieden geben, da dies zu Frustration bei den Kommunikanten und zur „Gefahr eines Abgleitens von Gesprächen in oberflächliches Gerede und der Regression auf Stereotypen“ (ebd.: 161) führen könne. 12 Zu Aufgabenformaten der Interkomprehensionsdidaktik s. auch Abschnitt II 4. <?page no="28"?> 14 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Interromanische Interkomprehension im europäischen Kontext Die Vorteile der interromanischen Interkomprehension sind in romanischsprachigen Ländern offensichtlich, denn sie ermöglicht bestenfalls die Kommunikation unter nahezu Milliarden von Menschen. So ist ein spanischsprachiger Muttersprachler beispielsweise nicht ‚allein‘ Teil einer Gemeinschaft von ca. 350 Millionen Hispanophonen, sondern gehört zugleich der Gruppe von etwa 900 Millionen romanischsprachiger Muttersprachler an. Hinzu kommen Einwanderer, die über ein gewisses Kompetenzniveau in der jeweiligen romanischen Sprache verfügen (vgl. Meißner 2011h: 60). Dementsprechend liegt mittlerweile eine umfangreiche Literatur zu interromanischer Interkomprehension (vgl. z.B. Blanche-Benveniste & Valli 1997; Castagne 2002; Masperi 2002; Degache 2003; Jamet 2007; Capucho et al. 2007; Conti & Grin 2008; Capucho 2012; Déprez 2012) vor. Projekte wie Galanet (Degache 2003), InterRom (Carullo et al. 2007), Interlat (Tassara Chávez & Moreno Farías 2007), Redinter (Capucho et al. 2007) oder MIRIADI (= Mutualisation et Innovation pour un Réseau de l'Intercompréhension à Distance; 1.12.2012 - 30.11.2015 13 ) dokumentieren die intensiven Forschungsbemühungen in romanischsprachigen Ländern wie Argentinien, Chile oder Frankreich. Auch für junge Lerner mit romanischer Muttersprache wurden bereits interkomprehensive Lernprogramme entwickelt wie die Lernsoftware Itinéraires romans (Álvarez & Tost 2008a, 2008b) und das im Kontext der Muttersprachendidaktik angesiedelte Programm euro-mania (Escudé 2007, 2010) (vgl. hierzu Abschnitt I 2.4). In nicht-romanischsprachigen Ländern wie Deutschland stellt sich die Situation völlig anders dar. Welche Möglichkeiten gibt es für Germanophone, an den Vorteilen von Interkomprehension teilzuhaben? Zur Entwicklung der Mehrsprachigkeitsdidaktik Während es in Frankreich Louise Dabène (1975) war, die eine didactique des langues „voisines“ entwarf (Anf. i. O.), die sich an frankophone Lerner des Spanischen richtete, stellten in Deutschland Fritz Abel (1971) und Franz Joseph Zapp (1979) erste Konzepte zur sprachenübergreifenden Vermittlung einer romanischen Sprache vor. Entsprechend der germanophonen Adressatengruppe stand hierbei eine „Verzahnung von Zweit- und Drittsprachenerwerb“ (Zapp 1979) im Vordergrund. Es wurden nach Möglichkeiten einer „Vermittlung passiver 14 Spanisch- und Italienischkenntnisse im Rahmen des Französischunterrichts“ (Abel 1971) gesucht. Durch die Homburger Empfehlungen (H. Christ et al. 1980) erhielt die deutsche Sprachenpolitik eine Grundlage für eine Förderung von Mehr- 13 http: / / www.redinter.eu/ web/ . 14 Heutzutage würde man selbstverständlich von rezeptiven Kenntnissen bzw., vor dem Hintergrund der Kompetenzorientierung, von rezeptiven Kompetenzen sprechen. <?page no="29"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 15 sprachigkeit. Im Jahr 1990 erschienen als Ergebnis eines internationalen Kongresses die Vorschläge für einen erweiterten Fremdsprachenunterricht (Bertrand & H. Christ 1990). Bereits zu jener Zeit wurde betont (ebd.: 208): daß unter Mehrsprachigkeit nicht zu verstehen ist, man müsse mehrere Sprachen gleichermaßen beherrschen. Als mehrsprachig darf schon der bezeichnet werden, der auf der Basis der Kenntnis seiner Muttersprache eingeschränkte Kenntnisse in wenigstens zwei weiteren Sprachen entweder in gleichen oder verschiedenen Diskursbereichen hat (um z.B. soziale Kontakte in gesprochener oder geschriebener Sprache aufzunehmen oder Texte lesen oder Fachgespräche führen zu können). Dass diese Konzeption von Mehrsprachigkeit, die nicht die Idealvorstellung eines plurilingualen 15 Menschen zugrunde legte, der alle ihm verfügbaren Sprachen gleichermaßen ‚perfekt‘ beherrscht, ihrer Zeit voraus war, zeigt ein Blick auf die bezüglichen Ausführungen im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (Europarat 2001: 17): Man kann es [das Ziel des Sprachunterrichts; StM] nicht mehr in der Beherrschung einer, zweier oder vielleicht dreier Sprachen sehen, wobei jede isoliert gelernt und dabei der 'ideale Muttersprachler' als höchstes Vorbild betrachtet wird. Vielmehr liegt das Ziel darin, ein sprachliches Repertoire zu entwickeln, in dem alle sprachlichen Fähigkeiten ihren Platz haben. Auch die Differenzierung mehrsprachiger Kompetenz in „verschiedene Diskursbereiche“ (Bertrand & H. Christ 1990: 208) bzw. unterschiedliche „sprachliche Fähigkeiten“ (Europarat 2001: 17 und passim die Unterscheidung verschiedener Kompetenzbereiche und -niveaus) ist mit Interkomprehensionsdidaktik, die eine anfänglich starke Stützung der Progression auf das Lesen (Meißner 2004c: 156) empfiehlt und nicht von einer einheitlichen und parallelen Progression in allen Kompetenzbereichen ausgeht, vereinbar. Beim 15. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung wurden erste „Umrisse der Mehrsprachigkeitsdidaktik“ (Meißner 1995) vorgestellt. Der Begriff der „Mehrsprachigkeitsdidaktik“, dessen Kern die Interkomprehension ist, wurde ebenfalls vom Europarat übernommen 16 . Seine 15 Unter „Mehrsprachigkeit“ bzw. „Plurilingualität“ wird die individuelle Kenntnis einer Anzahl von Sprachen verstanden. Der Begriff der „Vielsprachigkeit“ hingegen bezieht sich auf die „Koexistenz verschiedener Sprachen in einer bestimmten Gesellschaft“ (Europarat ebd.). 16 Meißner (2005c: 126-127) bezieht die Relation der Begriffe „Mehrsprachigkeitsdidaktik“ und „Interkomprehensionsdidaktik“ zueinander auf die im Französischen im Zusam menhang mit Mehrsprachigkeit übliche Unterscheidung zwischen multilinguisme und plurilinguisme. Während der erste Begriff ein durch Immigration entstandenes Neben einander von Sprachen bezeichnet, verweist der zweite auf ein „planbares Miteinander“.: „Während nun die Union den Multilingualismus der angestammten Minderheiten und der Migranten durch rechtliche Regelungen schützt, stärkt sie den Plurilingualismus <?page no="30"?> 16 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Popularität in deutschsprachigen Ländern lässt sich einerseits dadurch erklären, dass er verschiedene Konzepte wie eine integrative (bzw. auch integrierte) Didaktik (z.B. Behr 2003; Tönshoff 2004: 229 17 ) und eine lebensweltliche (bzw. migrationsbedingte) Mehrsprachigkeit (Hu 2003) umfasst. Andererseits steht die Mehrsprachigkeitsbzw. Interkomprehensionsdidaktik im Einklang mit lernpsychologischen Grundlagen (Ausubel 1968: vi; Rumelhart & Norman 1978) und den Vorstellungen eines gemäßigten Konstruktivismus (z.B. Wolff 2002). Wolff (ebd.: 20-21) nennt folgende lerntheoretische konstruktivistische Konzeptionen: * Verstehen und Lernen werden als interaktive Konstruktionsprozesse verstanden, an denen gleichermaßen die eingehenden perzeptuellen Reize und bereits vorhandenes Wissen beteiligt sind. * Lernen ist ein autonomer Prozess, den der Lernende weitgehend selbständig durchführt. * Lernen ist ein Prozess, den der Lernende eigenverantwortlich organisiert, wobei sich Eigenverantwortung und Selbstorganisation aus der Sinnhaftigkeit der jeweiligen Lernitems ergeben. * Lernen ist ein explorativer Prozess, den der Lernende im Spannungsfeld von Hypothesenbilden und Hypothesentesten gestaltet. * Lernen ist ein Prozess, der vom Lernenden durch Strategien gesteuert wird. * Lernen ist ein Prozess, der in Gruppen besonders erfolgreich abläuft. * Lernen ist ein Prozess, der durch eine reiche und authentische Lernumgebung besonders gefördert wird. * Das Ergebnis eines Lernprozesses ist für jeden Lernenden unterschiedlich, denn Wissen ist immer subjektives Wissen, das bei jedem Lernenden unterschiedlich ausgebildet ist. Selbstverständlich sind diese Konzepte nicht interkomprehensionsspezifisch, die Nähe der Interkomprehensionsdidaktik zu gemäßigt-konstruktivistischen Vorstellungen von Lernen wird jedoch insbesondere in der Konzeption von Lernen als einem explorativen Prozess, der (auch) von vorhandenem Vorwissen - und dies im deklarativen und prozeduralen Sinne (bzw. auf allen Ebenen des savoir) − des Lernenden abhängig ist, deutlich. Königs (2010: 31) geht der Frage nach den „Auswirkungen der Mehrsprachigkeitsdidaktik auf den ‚nordurch pädagogische Leitlinien und Förderprogramme. Die nationalen Erziehungssys teme misst sie daran, inwieweit sie die Bürgerinnen und Bürger dazu führen, neben ihrer Muttersprache mindestens [sic] zwei weitere lebende Sprachen der Union zu erlernen. […] Ohne den Ausbau der IDid [= Interkomprehensionsdidaktik] sind diese Ziele einer differenzierten Ms [= Mehrsprachigkeit] […] schlechterdings nicht erreichbar“. Der Begriff der „Mehrsprachigkeitsdidaktik“ kann als ein Oberbegriff aufgefasst werden, der abgesehen von der Interkomprehensionsdidaktik weitere Ansätze wie beispielsweise éveil aux langues umfasst, die z.T. andere Schwerpunkte setzen (vgl. hierzu Abschnitt I 2.1). 17 Zur Konzeption eines Gesamtsprachencurriculums vgl. Hufeisen (2005). <?page no="31"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 17 malen‘ Fremdsprachenunterricht, insbesondere bezogen auf das Normverständnis“ nach. Er geht von einem „lerner- und individuenbezogene[m] Normensystem“ (ebd.: 41) aus, von dem unter anderem die Vorstellung und das Verstehen von fremdsprachlichen Lernprozessen abhängt und die mit dem Normensystem von Lehrenden in einem Konflikt stehen können. Doch seien, so Königs, Normensysteme, etwa im Kontext des Offenen Unterrichts, aushandelbar 18 . Interkomprehensionsdidaktik (EuroComDidact) im deutschsprachigen Kontext Die EuroCom-Projekte, deren Aufgabe die Beschreibung der großen europäischen Sprachfamilien ist, umfassen die Zweige: EuroComSlav (Lew N. Zybatow), EuroComRom (Horst G. Klein & Tilbert D. Stegmann) und EuroCom- Germ (Britta Hufeisen & Nicole Marx) 19 . Im Zentrum der Bemühungen um EuroCom steht das Ziel, Sprachmaterial der Sprachfamilien in zwei Kategorien zu ‚sieben‘: in opake Formen und Funktionen und sogenannte Profilformen und -funktionen. Unter Letzteren wird ein Phänomen verstanden, das in einer, jedoch nicht in anderen Sprachen (einer Sprachfamilie) existiert. Für romanische Sprachen ließe sich das französische Adverb beaucoup anführen, das keine Entsprechung in anderen romanischen Sprachen hat: rum. mult, ital. molto, span. mucho, kat. molt. Auch das englische Adverb much würde hier beispielsweise für Spanisch eine Transferbasis 20 , nicht jedoch für Französisch liefern. Die siebe Siebe filtern das romanische bzw. germanische bzw. slawische Sprachmaterial nach folgenden Kategorien (vgl. Meißner et al. 2004: ix-x): 1. Internationaler Wortschatz 2. Panromanischer (pangermanischer/ panslawischer) Wortschatz 3. Lautentsprechungen (Graphementsprechungen) 4. Graphien und Aussprachen 5. Syntaktische Strukturen 6. Morphosyntaktische Elemente 7. Präfixe und Suffixe Die vor allem linguistische Orientierung der sieben Siebe wird bei dem Gedanken an deren Applikation im Kontext früher Interkomprehension besonders deutlich: So ist beispielsweise für eine Sechstklässlerin, die sich freut, herausgefunden zu haben, was ital. attività bedeutet, die Frage, ob es sich hierbei um ein internationales oder panromanisches Interlexem handelt, völlig irrelevant: „Den an praktischer Sprachkompetenz interessierten Lernern muss nicht alles 18 Zur Auseinandersetzung über den radikalen Konstruktivismus als Grundlage fremd sprachendidaktischer Theoriebildung, die hier nicht nachgezeichnet werden soll, vgl. insbesondere Grotjahn (2002) und Wendt (2002). 19 Vgl. http: / / www.eurocom-frankfurt.de/ . 20 Für eine genaue Definition des Begriffs „Transferbasis“ s. Abschnitt I 1.2. <?page no="32"?> 18 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht erklärt werden, was in der Systemhaftigkeit und im Bestand einer Sprache oder Sprachfamilie liegt. Entscheidend ist ihr persönliches Frageinteresse.“ (Meißner 2004a: 60). Auf der Ebene der savoirs (savoir, savoir être, savoir faire, savoir apprendre) ist der geleistete Identifikationstransfer wichtig. Eine linguistische Beschreibung reicht selbstverständlich nicht aus (auch nicht bei älteren Lernern), um derartige Transferprozesse in Gang zu setzen. Die Entwicklung einer entsprechenden interkomprehensionsdidaktischen Methodik, die Konstruktion von Aufgaben und deren empirische Erprobung, die Qualitätsentwicklung und -kontrolle, die Lehreraus- und -fortbildung usw. − all dies gehört zu den Aufgaben von EuroComDidact. Bevor diese konkreter beschrieben werden (vgl. auch Meißner 2011h: 63ff.), widmet sich der nächste Abschnitt der mehrsprachigen Lernersprache. 1.2 Interkomprehension, Transfer und Inferenz Die mehrsprachige Lernersprache Junge Lerner sind, um an den Begriff der „inneren Mehrsprachigkeit der Sprachen“ anzuknüpfen (Wandruszka 1979), bereits durch ihr (implizites) Wissen über diatopische, diastratische und diaphasische Varietäten usw. ihrer Muttersprache im Prinzip mehrsprachig. Wenn sie am Anfang der Sekundarstufe eine zweite Fremdsprache zu lernen beginnen, verfügen sie neben ihrer Mutter- und gegebenenfalls Herkunftssprache zudem sowohl über fremdsprachliche Kenntnisse als auch über Erfahrungen mit dem institutionellen Lernen von Sprachen. Ihre Lernersprache, d.h. ihre interlanguage, ein Konzept, das Selinker selbst bereits vor mittlerweile 15 Jahren von einer bipolaren Vorstellung von Ausgangs- und Zielsprache abgelöst und um die plurlinguale Ebene erweitert hat (vgl. De Angelis & Selinker 2001), ist mehrsprachig. Diese Konzeption impliziert eine Abkehr von der Zielsetzung, die jeweiligen Sprachen „native like ‚beherrschen‘“ (Bausch 2003: 440) zu müssen, um von „Mehrsprachigkeit“ sprechen zu können (zum Kriterium der sprachlichen Kompetenz vgl. auch Hu 2010: 214). So wurde, wie oben angesprochen, bereits 1990 in den Vorschlägen für einen erweiterten Fremdsprachenunterricht (Bertrand & H. Christ 1990: 208) betont, dass unter Mehrsprachigkeit „nicht zu verstehen ist, man müsse mehrere Sprachen gleichermaßen beherrschen. Als mehrsprachig darf schon der bezeichnet werden, der auf der Basis der Kenntnis seiner Muttersprache eingeschränkte Kenntnisse in wenigstens zwei weiteren Sprachen […] hat“. Die der vorliegenden Untersuchung zugrunde gelegte Definition von Mehrsprachigkeit geht von mehr als zwei Sprachen aus (vgl. hierzu auch Hufeisen 2010a: 377-378) weicht jedoch von der Konzeption des Begriffs im Sinne der „Eurocomprehension“ ab: Mehrsprachigkeit im Sinne der Eurocomprehension beginnt da, wo neben der Muttersprache und einer FS (in Deutschland meist Englisch) eine weitere <?page no="33"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 19 Sprache erworben wird, die Brückensprache für eine ganze Gruppe von Sprachen sein kann: Es geht also um den Erwerb der dritten Fremdsprache […] (Klein 2004: 25; Hervorhebung im Original). Selbstverständlich erwähnt Klein (vgl. auch Klein & Reissner 2006) das Potenzial der englischen Sprache als Brückensprache zur romanischen Sprachfamilie (ebd.), doch ist die Fokussierung auf den Erwerb einer dritten Fremdsprache, die zumeist am Ende der Sekundarstufe I oder in Sekundarstufe II begonnen wird, mit dem Anliegen der vorliegenden Studie, sich jüngeren Altersgruppen zu widmen, unvereinbar. Im Prinzip deutet die oben genannte Definition durch ihre Bezugnahme auf Schullaufbahnregelungen (häufige Sprachenfolgen wie Englisch als erste und z.B. Französisch als zweite Fremdsprache und Brückensprache zur romanischen Sprachfamilie) gerade an, warum sich die Interkomprehensionsforschung bislang noch nicht jüngeren Lernern gewidmet hat. Es ist natürlich naheliegend, dass die im deutschen Schulkontext möglichen Fremdsprachenfolgen frühe Interkomprehension erschweren, wenn diese sich vor allem auf interlinguale Relationen bezieht. So treffen junge Lerner in der Regel auf verschiedene Sprachfamilien, sei es die Sprachenfolge von Französisch als erster Fremdsprache und der folgenden Pflichtfremdsprache Englisch oder jene von Englisch als Eingangsfremdsprache. Doch bedeutet dies nicht notwendigerweise die Schlussfolgerung, den Fokus vor allem (oder sogar ausschließlich) auf Interkomprehension innerhalb von Sprachfamilien und (im deutschen Kontext) auf die dritte Fremdsprache zu richten. Hinzu kommt, dass das Erlernen einer dritten Fremdsprache ein Angebot ist, das bekanntlich bei weitem nicht von jedem Lerner wahrgenommen wird bzw. wahrgenommen werden kann. Die Aufgaben von EuroComDidact Eine der Hauptaufgaben von EuroComDidact ist die Identifikation und Analyse mentaler Aktivitäten von Germanophonen, die Interkomprehension in ,unbekannten‘ romanischen Sprachen betreiben. Für das Gießener Datenkorpus (vgl. Meißner 1997, 1998a, 2001; Meißner & Burk 2001; Böing 2004; Bär et al. 2005; Bär 2006a, 2006b, 2006c) zur Interkomprehension erhielten mehr als 50 Probanden (Schüler, Studierende und Bautechniker) Auszüge aus Zeitungen und Zeitschriften in ,unbekannten‘ romanischen Sprachen in schriftlicher und auch mündlicher Form. ,Unbekannt‘ meint hier, dass die jeweilige romanische Zielsprache von den Probanden weder gelernt noch in einem natürlichen Kontext erworben wurde. Während der Dekodierung dieser Dokumente machten die Probanden Notizen und dachten laut (zu Laut-Denk-Protokollen s. Abschnitt II 4.). Diese Aktivitäten wurden audiobzw. videoaufgezeichnet. Im Falle der mündlichen Interkomprehension erhielten die Probanden die Möglichkeit, die Ausschnitte dreimal zu hören. Folgende Daten wurden ausgewertet und analysiert: die Notizen, die Laut-Denk-Protokolle und Beobachtungsdaten der For- <?page no="34"?> 20 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht schenden. Zudem wurde eine kommunikative Validierung durchgeführt, d.h. die Probanden wurden mit den Interpretationen der Forscher konfrontiert. Meißner (2008e: 17-18) fasst die wichtigsten Befunde dieser explorativinterpretativen Untersuchungen, die die Grundlage für die Entwicklung einer differenzierten Transfertypologie (s.u.) bildeten, folgendermaßen zusammen (s. auch Meißner 2010i) 21 : Die romanische Interkomprehension durch Germanophone verläuft über die - mehr oder weniger bewusste - Bildung (mehrsprachlicher) Hypothesen. Diese Hypothesen werden auf der Basis mental verfügbarer und aktivierter Sprachen gebildet. Die hierbei verwendete Brückensprache ist eine andere romanische Sprache und seltener das Deutsche, insofern - selbstverständlich - die Probanden über entsprechende Kenntnisse verfügen. Transferbasen aus dem Lateinischen werden fast ausschließlich bei schriftlicher Interkomprehension beobachtet. Die Anzahl romanischer Sprachen, die ein Proband kennt, und sein Kompetenzniveau in den jeweiligen Sprachen liefern Hinweise für das Gelingen und die Qualität der Interkomprehension. Den Probanden, die keine (bzw. nicht ausreichende) Kenntnisse in einer romanischen Sprache haben, gelingt zum Teil ein Identifikationstransfer unter der Voraussetzung, dass sie über einen ausreichend umfangreichen Fremd- und Bildungswortschatz (z.B. Latinismen, Hellenismen, Lehnwörter aus romanischen Sprachen) und/ oder sehr gute Englischkenntnisse verfügen. Die Interkomprehensionsleistungen bei mündlicher Interkomprehension bleiben bei dieser Gruppe deutlich hinter jenen der anderen zurück. Die Probanden mit nicht ausreichenden Kenntnissen einer romanischen Sprache zeigen die Tendenz, schneller aufzugeben, was sich mit der größeren notwendigen Anstrengung bei der Interkomprehension erklären lässt. Für Deutschsprachige ohne Fremdsprachenkenntnisse sind die romanischen Sprachen intransparent. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Lerner mit Englisch als Erstfremdsprache zu Beginn der Sekundarstufe über äußerst geringe Kenntnisse in einer romanischen Sprache verfügen, sind die Fragen, die sich aus diesen Befunden für eine Erforschung früher Interkomprehension zu Beginn der Sekundarstufe ergeben, offensichtlich. So lassen sich die eingangs (s. Einleitung) formulierten Forschungsfragen zu Strategieeinsatz u.a. folgendermaßen präzisieren: 21 ntersuchun <?page no="35"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 21 Setzen die Kinder ihre Englischkenntnisse im Interkomprehensionsprozess ein, auch wenn diese ebenfalls noch geringer sind als jene der Probanden aus dem (bisherigen 22 ) Gießener Datenkorpus (vgl. oben)? Verfügen die Kinder bereits über Elemente eines Fremd- und Bildungswortschatzes, und wenn dies der Fall ist, aktivieren sie dieses Wissen im Interkomprehensionsprozess? ngesichts der „Bereitschaft, sich auf die Fremdsprache einzulassen“ (Grau & Legutke 2008a: 22), die Kindern in der Regel zugeschrieben wird, ist auch die Frage von Interesse, ob sich der Befund des schnellen Aufgebens aufgrund der hohen erforderlichen Bemühungen (s.o.) auch bei jungen Lernern feststellen lässt oder hier Unterschiede beobachtbar sind 23 . Auf der Grundlage der oben angesprochenen qualitativen Studien wurde nach einer ersten Phase der Datenerhebung und -analyse von 1995 bis 2001 (vgl. Meißner 2011a) eine differenzierte Transfertypologie entwickelt, die im Folgenden dargestellt wird. Die Entwicklung eines differenzierten Transfermodells Die differenzierte Transfertypologie der Interkomprehensionsdidaktik (Meißner 2002, 2007a) unterscheidet sich insofern systematisch vom traditionellen Transfermodell der Fremdsprachendidaktik, das zwischen ‚positivem‘ (erfolgreichem) und ‚negativem‘ (zu Interferenzen und ‚Fehlern‘ führendem) Transfer differenziert, als sie sich nicht am Produkt von Transferoperationen orientiert, sondern an den hierbei stattfindenden bzw. indirekt erschließbaren Transferprozessen. Der Transferbegriff in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts war stark an systemlinguistischen Ähnlichkeiten und Unterschieden orientiert (vgl. Reinfried 1999: 97). Auch in Lados im Jahre 1957 erschienener Monographie Linguistics Across Cultures zeigten sich systemlinguistische Einflüsse, auf der anderen Seite war dieser jedoch am Lerner und dessen Verhalten interessiert (Reinfried ebd.: 99): 22 Die vorliegende Untersuchung ist im Rahmen einer Qualifikationsarbeit an der Justus- Liebig-Universität in Gießen entstanden und zählt somit ebenfalls zum Gießener Datenkorpus. 23 Da sich die Probanden der vorliegenden Untersuchung (Sechst- und Siebtklässler mit der Sprachenfolge Englisch als erster und Französisch bzw. Latein als zweiter Fremd sprache) in ihren sprachlichen Vorkenntnissen weniger unterscheiden als die Probanden aus dem bisherigen Gießener Datenkorpus (ältere Schüler, Studierende, Bautechniker), lässt sich diese Frage insbesondere auf der Grundlage der eingesetzten Zielsprachen in den Interkomprehensionsaufgaben (z.B. Niederländisch versus eine romanische Spra che) tendenziell beantworten. „Tendenziell“ aus dem Grund, dass selbstverständlich weitere Faktoren hier eine Rolle spielen wie beispielsweise die physische und motiva tionale Verfasstheit der Probanden und die (empfundene) Schwierigkeit der Aufgabe bzw. des Textes. <?page no="36"?> 22 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Since the learner tends to transfer the habits of his native language, we have here the major source of difficulty or ease in learning the structure of a foreign language. Those structures that are similar will be easy to learn because they will be transferrred and may function satisfactorily in the foreign language. Those structures that are different will be difficult because when transferred they will not function satisfactorily in the foreign language and will therefore have to be changed. (Lado 1957: 59; zitiert aus Reinfried ebd.). Diese Erläuterungen, die als „Kontrastivhypothese“ bekannt sind, verdeutlichen, dass Lados Vorstellungen von Fremdsprachenlernen behavioristisch geprägt waren. Erst im Zuge der sog. kognitiven Wende wurde Spracherwerb als ein aktiver Prozess der Hypothesenbildung wahrgenommen (ebd.: 99-100). Der Anspruch der Kontrastivhypothese, Fehler und Schwierigkeitsbereiche vorherzusagen, wurde kritisiert, indem auf die Vielfalt möglicher Fehlerursachen hingewiesen und subjektive Lernprozesse in den Blick genommen wurden. Eine abgemilderte Form der Kontrastivhypothese, die lernersprachliche und -strategische Faktoren berücksichtigt, stößt bis heute auf eine breitere Akzeptanz (Reinfried 2010: 308). Ein Transfermodell, das lediglich das Produkt von Transferprozessen betrachtet, reicht (für die Interkomprehensionsdidaktik) nicht aus, da es keinerlei Erklärungspotenzial liefert, was mentale Verarbeitungsprozesse bei Transferaktivitäten anbelangt. Es werden in der Transfertypologie der Interkomprehensionsdidaktik (Meißner 2002, 2007a) folgende Kategorien unterschieden: Transfertypen: - Identifikationstransfer: Lese-, Hör- und Hörsehverstehen - Produktionstransfer: Schreiben und Sprechen Transferrichtung: proaktiv: von der Ausgangsund/ oder Brückensprache zur Zielsprache retroaktiv: von der Zielsprache zur Ausgangsund/ oder Brückensprache onomasiologisch: top down, vom Inhalt (signifié) auf die Form (signifiant) semasiologisch: bottom up, von der Form (signifiant) auf den Inhalt (signifié) Transferreichweite: intralingualer Transfer innerhalb des zielsprachlichen Systems intralingualer Transfer innerhalb eines ausgangsund/ oder brückensprachlichen sprachlichen Systems interlingualer Transfer Transferbereiche: lexikalischer Transfer morphosyntaktischer Transfer <?page no="37"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 23 Transferkategorien: - Formtransfer: z.B. inter- und intragraphematische sowie inter- und intraphonologische Ähnlichkeiten, Unterschiede und Regelhaftigkeiten - Inhaltstransfer: z.B. das Erkennen von Kernbedeutungen innerhalb von Bedeutungsadäquanzen - Transfer von sprachlichen Funktionen: z.B. das Erkennen von interlingualen Funktionsentsprechungen (s. auch das Beispiel unten) pragmatischer Transfer: z.B. Sensibilisierung für kommunikative Konventionen. Diese Transfertypik ist ein Klassifikationsmodell, das zur genauen Bestimmung von Transferprozessen und somit auch zur Unterstützung von Schülern in deren Interkomprehensions- und Lernprozessen eingesetzt werden kann und der vorliegenden Untersuchung (u.a. 24 ) zugrunde gelegt wird. Es ist ein Sensibilisierungsinstrument sowohl auf Lehrerals auch auf Schülerseite für bereits vorhandenes (meta)sprachliches und (meta)kognitives (Vor-) Wissen und für dessen Ausbau. Verfügt eine Lehrperson jedoch lediglich über die Kenntnis des bipolaren Modells von ‚negativem‘ versus ‚positivem‘ Transfer, kann dies zu einer falschen Einschätzung lernerseitiger Transferleistungen oder sogar dazu führen, dass diese gar nicht wahrgenommen werden (wie beispielsweise im Falle intralingualen Transfers durch Analogiebildung). Besonders hervorzuheben ist auch der bislang noch nicht angeführte Typus des didaktischen Transfers, der auf Lernerseite unter anderem die Bereiche der Motivationssteuerung, des Lernzeitmanagements, der Lernstrategien, der Bestimmung von Lernzielen und Lernstrecken, der Bewertung und Kontrolle der Lernschritte und des Lernerfolgs sowie der Organisation von sozialen Komponenten erfolgreichen Lernens z.B. im Kontakt mit anderen Personen umfasst (vgl. Meißner ebd.) 25 . Eine Bewusstheit von Lehrpersonen über diese Komponenten von Lernkompetenz und eine Reflexion darüber, wie diese gefördert werden können, ist langfristig ebenso grundlegend notwendig wie eine Abkehr von einer streng einzelzielsprachlich orientierten Haltung. Bei Betrachtung der Möglichkeit eines schülerseitigen Transfers beispielsweise von Erfahrungen mit Selbstmotivierung beim Fremdsprachenlernen oder mit Lernstrategien wird auch der Zusammenhang von Sprachlernkompetenz und Mehrsprachigkeit deutlich. Denn: Ebenso wie der Begriff der Sprachbewusstheit (Language Awareness; s. hierzu Abschnitt I 2.1) ist auch jener der Sprachlernkompetenz prinzipiell auf eine einzelne Zielsprache beziehbar. Was 24 S. Abschnitt II 7. zu theoretischen Grundlagen und Modellen bei der Auswertung und Analyse der Daten. 25 Der Begriff des „didaktischen Transfers“ unterscheidet sich somit grundlegend von Selinkers (1972) Begriff des transfer of training, der sich auf durch Trainingsprogramme induzierte Normabweichungen in der Lernersprache bezieht; zur mehrsprachigen interlanguage s. S. 18. <?page no="38"?> 24 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht den entscheidenden Unterschied macht, ist, was Hufeisen (2010b: 201) fremdsprachenlernspezifische Faktoren nennt: Mit einem monolingualen Hintergrund, das heißt mit allein einer Sprache im individuellen Sprachenrepertoire, ist die erstmalige und anfängliche Begegnung mit einer neuen, fremden Sprache eine andere, als wenn dem bereits zwei-, drei- oder mehrsprachigen Repertoire eine weitere hinzugefügt wird: Sprachlernerfahrungen sind vorhanden, eventuell ein expliziertes und anwendbares Wissen darüber, wie an den neuen Sprachlernprozess erfolgversprechend herangegangen werden kann, eine vermutlich größere Gelassenheit gegenüber dem (wieder einmal) Neuen und Fremden. Das (Fremd-)Sprachenlernen an sich ist nichts Neues oder gar Bedrohliches mehr 26 . Im Folgenden soll anhand einiger Beispiele illustriert werden, in welcher Hinsicht die differenzierte Transfertypik der Interkomprehensionsdidaktik eine notwendige Erweiterung traditioneller Transfermodelle darstellt: a) Erweiterung des Transferbegriffs auf alle Ebenen der sprachlichen Architektur: Meißner (2000: 174) betont, dass Transfer alle Ebenen der sprachlichen Architektur betrifft, wie die Transfertypik veranschaulicht. So ist dennoch in der fremdsprachendidaktischen Literatur mitunter eine Beschränkung der Tätigkeit des Inferierens auf die Wortschatzebene festzustellen. Rieder (2001: 27; s. auch oben) spricht hier von einem „bewusste[n] Ableiten einer Bedeutung“, was Bär (2009: 44) zu Recht als problematisch einschätzt. Wie bereits in Morkötter (2011b: 245-246) am Beispiel der Präposition für das Agens im niederländischen Passivsatz: De band is in 2001 opgericht onder de naam ‘Develish’ door de tweelingsbroers Bill en Tom Kaulitz. dargelegt, betrifft Interkomprehension ebenfalls morpho-syntaktische Strukturen. So können Lerner nl. door möglicherweise als dt. „von“, engl. by oder frz. par identifizieren, ohne dass diese eine Ähnlichkeit auf Sprachformebene aufweisen. Klein (2002) untersucht neben Lexik die Bereiche der Phonetik und Phonologie für deutsche Lerner des Englischen, Französischen und Spanischen (in dieser Reihenfolge) im Hinblick auf Transfermöglichkeiten. Er arbeitet (u.a.) Vorteile von Deutsch- und Englischkenntnissen bei der Perzeption spanischer Laute heraus. Beispiele sind der stimmlose velare Frikativlaut / x/ wie in lachen und 26 Angesichts dieser Ausführungen ist hier der Hinweis notwendig, dass Hufeisen fremdsprachenlernspezifische Faktoren keineswegs einseitig positiv sieht (ebd.: 203; meine Hervorhebung): „Das Faktorenbündel Fremdsprachenspezifische Faktoren kann sich erst ab dem Zeitpunkt [= beim Lernen einer L3; StM] entwickeln und eine prägende Rolle spielen (und zwar sowohl positiv als auch negativ), wenn das institutionelle Fremdsprachenlernen sich ein erstes Mal wiederholt, d.h. zu Beginn der zweiten Fremd sprache“ (vgl. hierzu auch den Begriff der „motivationalen Interferenz“; Abschnitt I 1.3). Im negativen Falle könne diese prägende Rolle jedoch beispielsweise dazu führen, dass ein Lerner „nach neuen, anderen Lernwegen“ (ebd.: 204) sucht. <?page no="39"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 25 coger und der stimmlose dentale Frikativ / θ/ wie in path und paz (ebd.: 60). Die Transfermöglichkeiten werden, insbesondere in einer sprachfamilienübergreifenden Perspektive, deutlich erweitert, wenn man nicht nur auf formale Ähnlichkeiten im lexikalischen Bereich blickt. b) Erweiterung des Transferbegriffs um onomasiologischen und semasiologischen Transfer: Die Interkomprehension beschränkt sich nicht auf die Identifikation von Signifikanten nach dem Muster: problema, Problem, problème, problem ... oder estoy leyendo, sto leggendo usw. Auch die semantische Ebene hinter der sprachlichen Oberfläche spielt eine Rolle. Die sogenannte onomasiologische Interkomprehension kann insbesondere bei geteiltem Fachwissen eine große Rolle für die Möglichkeit wechselseitiger ,Inter‘-Kommunikation und Interkomprehension spielen, wie ein französisch-deutsches Projekt im Rahmen der Ausbildung von Bautechnikern (Meißner 2001; s. auch oben) zeigen konnte. In einer sprachfamilienübergreifenden Perspektive ist der onomasiologische Transfer, d.h. der Inhaltstransfer, von besonderer Bedeutung, da hier die interlingualen Ähnlichkeiten auf Signifikantenebene geringer sind. Als Beispiel kann hier der Fall angeführt werden, dass sich die semantischen Wortfelder zu Signifikanten in zwei (oder mehreren) Sprachen ähneln, jedoch von jenem einer anderen wie zum Beispiel der Muttersprache eines Lerners abweichen. So ist das semantische Feld zum französischen Verb aller im Sinne von: un déplacement depuis un point de l'espace jusqu'à un autre : se mouvoir, se déplacer 27 jenem zum englischen Verb to go ähnlicher als zum deutschen „gehen“: frz.: Je vais à l’école en bus. engl.: I go to school by bus. dt.: Ich fahre (nicht: *Ich gehe) mit dem Bus zur Schule. Anhand dieses Beispiels wird deutlich, warum eine solche Erweiterung des Transferkonzepts um onomasiologischen Transfer für sprachfamilienübergreifende Interkomprehension relevant ist, erlaubt sie doch Transferprozesse wie: to go: „auch allgemein gebraucht im Sinne von fahren, sich irgendwie irgendwo hinbegeben“ → aller to drive: „eingeschränkte Bedeutung im Sinne von steuern, lenken“ → conduire, auch wenn es sich auf der Ebene der Sprachform um völlig unterschiedliche Signifikanten handelt. Doch auch in semasiologischer Richtung kann eine Beschäftigung mit Transfer sinnvoll sein, wie im Falle von interlingual formähnlichen Lexemen, die eine gemeinsame Bedeutung aufweisen, aber dennoch in ihrem semanti- 27 Aus: le trésor de la langue française informatisé: http: / / atilf.atilf.fr/ dendien/ scripts/ tlfiv5/ visusel.exe? 11; s=2506784895; r=1; nat=; sol=0. <?page no="40"?> 26 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht schen Feld nicht gänzlich bedeutungskongruent sind wie beispielsweise das englische Verb to visit und das französische visiter. Eine Auseinandersetzung mit semasiologischem Transfer ist auch insofern wichtig, als eine vollständige Bedeutungsäquivalenz oder Intersynonymie im strengen Sinne − abgesehen von monosemischen Interlexemen, d.h. vor allem: innerhalb wissenschaftlicher Terminologien (Meißner 1993b: 539) − kaum existiert, zumindest, wenn man die Kriterien des Interlexikologen B. Schaeder (1990: 69) für Intersynonymie (zitiert aus Meißner 1993b: 538-539) zugrunde legt. Diese ist laut Schaeder nur dann gegeben, wenn folgende Fragen, bezogen auf L1-n, ausnahmslos zu bejahen sind: 1. Sind die Semembestände von L1-n äquivalent? 2. Sind alle Sememe in der Sprache L1-n korrespondierend periphär/ zentral [mouliner versus im Wiegentritt fahren (R. Zimmer 1989)]? 3. Weisen sie unterschiedliche Spezifizierungen auf, z.B. eine fehlende Ko- Hyponomie: f. dos versus espalda „Rücken eines Menschen“, lomo „Rücken eines Tieres“? 4. Korrelieren ihre Extensionen? (Vgl. f. légume und d. Gemüse zu laitue/ Salat: „Salat ist Gemüse, légume nicht unbedingt laitue.“)? 5. Korrelieren sie in ihren jeweiligen paradigmatischen Beziehungen (Antonymie, Synonymie, Hyponymie und Hyperonymie, Wortfeld)? 6. Korrespondieren sie in den jeweiligen syntagmatischen Beziehungen (Kollokationen, phraseologische Einbindungen)? 7. Korrespondieren sie in: diachronischer (vieilli, jeunes) diatopischer (Marseille, Paris, argentismo) diastratischer (umgangssprachlich unterschiedliche Sortierungen: f. flotte „Wasser“/ hier: „Bodensehkaffee“) diatechnischer (Nähe zu Fachsprachen) diakonnotativer [(ne) cherchez pas docteur,... ungenannte, aber assoziierte Persequenzialisierung: c'est la tête... „der/ die spinnt“] diafrequenter Hinsicht. c) Erweiterung des Transferbegriffs um die Ebene der Metakognition (didaktischer Transfer): Diese Metaebene, die immer an konkretes sprachliches Handeln gekoppelt sein muss, ist von grundlegender Wichtigkeit, insbesondere bei sprachfamilienübergreifendem interkomprehensivem Lernen, beispielsweise im Hinblick auf: das Erkennen eigener Lakunen: Lerner müssen lernen, selbst festzustellen, was sie nicht verstehen, indem sie beispielsweise in einem Text für sie nicht verständliche Passagen identifizieren, beurteilen lernen, ob diese für das Gesamtverständnis wichtig sein könnten, <?page no="41"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 27 und wenn sie diese Frage bejahen, welche externen Ressourcen (Wörterbücher, Grammatiken, Mitschüler usw.) sie aktivieren könnten. die Nutzung systematischer Unterschiede: Problematisch an der bipolaren Unterscheidung von ‚positivem‘ und ‚negativem‘ Transfer ist neben - bzw. gerade wegen − der Produktorientierung die Gleichsetzung von ‚positivem‘ Transfer mit interlingualen Ähnlichkeiten bzw. Übereinstimmungen und ‚negativem‘ Transfer mit interlingualen Abweichungen und Unterschieden (bzw. den hieraus resultierenden Produkten). Doch bei Berücksichtung der Prozessorientierung und der Ebene der Selbststeuerung lassen sich ebenfalls systematische Unterschiede in positiver Weise nutzen. Denn ein mögliches Anknüpfen an (fremd)sprachliches Vorwissen impliziert nicht notwendigerweise, dass eine interlinguale Übereinstimmung oder Entsprechung vorliegen muss 28 , wenn Lerner über ein entsprechendes savoir faire und savoir apprendre der Sprachbeobachtung und Selbststeuerung verfügen. So könnte ein Lerner mit Französischkenntnissen, der gerade Spanisch lernt, bei zielsprachlichem Input wie 29 : Pedro se ha interesado por los libros de García Márquez. Los libros que ha leído ... an sein Wissen über das passé composé im Französischen anknüpfen ( Pierre s’est interessé aux livres. Les livres qu’il a lus …) und Hypothesen aufstellen wie: „Im Spanischen wird das Partizip nicht angeglichen.“; „Reflexive Verben werden im Spanischen nicht mit einer Form von „sein“ gebildet“. Diese Vermutungen trägt er dann in seine - in der Terminologie der Interkomprehensionsdidaktik - Hypothesengrammatik ein, der sich der folgende Abschnitt widmet. Bezogen auf die vorliegende Untersuchung ist zu fragen, ob junge Lerner zu Beginn der Sekundarstufe zu derartigen (natürlich auf der Grundlage anderer Sprachbeispiele) Beobachtungen in der Lage sind und wenn dies der Fall sein sollte, wie sie ihre Sprachbeobachtungen verbalisieren. Auch andere Klassifikationen von Transfer sind umfassend und schließen eine Vielzahl von Dimensionen ein. So nehmen auch Jarvis & Pavlenko (2007: 20) beispielsweise in ihrer Synthese neuerer und klassischer Arbeiten zu transfer bzw. crosslinguistic influence 30 eine Vielzahl verschiedener sprachlicher Bereiche auf und differenzieren zwischen „linguistic“ und „conceptual trans- 28 Vgl. hierzu auch die unterrichtsanalytischen Untersuchungen aus dem Bochumer Ter tiärsprachenprojekt (Bahr et al. 1996: 147), denen zufolge im Bereich fremdsprachlichen Vorwissens eine interlingual-parallelisierende Vorgehensweise dominierte. 29 Das folgende Einzelbeispiel dient lediglich der Illustration. Der Umgang mit unstruk turiertem, nicht didaktisiertem und für Lernende herausforderndem Input gehört zu den Merkmalen interkomprehensiven Fremdsprachenunterrichts (Meißner 2008a: 36). 30 Jarvis & Pavlenko (2007: 4) verwenden beide Begriffe: „[T]he terms “transfer“ and “crosslinguistic influence“ […] are at present the most conventional cover terms for referring to the phenomenon, and are the terms that we will use throughout this book.“ <?page no="42"?> 28 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht fer“ ("phonological, orthographic, lexical, semantic, morphological, syntactic, discursive, pragmatic, sociolinguistic"). Auch den Transfer von (z.B.) einer zweiten auf eine dritte Sprache (und umgekehrt) nehmen sie unter der Bezeichnung „lateral transfer“ in ihr Modell auf („CLI [= crosslinguistic influence] can occur in any one of a constellation of directions, such as from L1 to L2, from L2 to L3, from L1 to L3 […]“; ebd.: 21). Der entscheidende Unterschied zwischen den Transfermodellen liegt in der Zielsetzung. So bezeichnen Jarvis & Pavlenko ihr Modell als ein Klassifikationsschema und weisen darauf hin: „With this classification scheme, it is possible to characterize a given type of transfer […]“ (ebd.: 20; Hervorhebung StM). Selbstverständlich handelt es sich bei der Transfertypologie der Interkomprehensionsdidaktik auch um ein Klassifikationsschema und Analyseinstrument, wobei hier die Initiierung von Transferprozessen im Vordergrund steht. Die Hypothesengrammatik und der Moniteur Didactique Plurilingue (MDP) Beim Interkomprehensionsprozess handelt es sich um eine Aktivität, die vom individuellen Lerner selbst ausgeht, der die Lexik und Morpho-Syntax einer ‚fremden‘ Sprache verstehen möchte. Bei der Dekodierung eines mündlichen oder schriftlichen Textes durchsucht er - bewusst oder unbewusst - sein (mehrsprachiges) mentales Lexikon nach sogenannten Transferbasen. Meißner (1995: 176) definiert den Begriff „Transferbasis“ wie folgt: „derjenige Komplex (Lexem, grammatische Regularität) […], dessen prozedurale und/ oder kognitive Kenntnis die Erwerbsleistung in einer nachgeordneten Zielsprache erleichtert“. Diese frühe Definition schließt noch nicht explizit den retroaktiven Transfer mit ein, d.h. dass Transferbasen nicht ‚nur‘ den Erwerb einer nachgeordneten Zielsprache erleichtern können, sondern sich das Wissen über diese Transferbasen selbst durch diese mentale Operation verändern und erweitern kann. Ein Beispiel hierfür ist das italienische Substantiv possibilità, zu dem zwei Siebtklässlerinnen die englischsprachliche Transferbasis possibility auf Signifikanten-, jedoch nicht auf Signifikatebene abrufen konnten (Morkötter 2010: 245), so dass in diesem Fall ihr Wissen über diese brückensprachliche Transferbasis durch den Interkomprehensionsprozess erweitert bzw. ‚aufgefrischt‘ wurde. Weniger explizit war in der damaligen Definition - für die vorliegende Untersuchung von besonderer Bedeutung - ebenfalls die Konzeption der „bases de transfert comportementales“ (Meißner 2011b: 271), die sich auf Lernerfahrungen, d.h., in der Terminologie der Interkomprehensionsdidaktik, auf didaktischen Transfer beziehen. Königs (2005: 74-75) spricht in seiner Diskussion zur Relation von Mehrsprachigkeitsdidaktik und aufgabenorientiertem Fremdsprachenlernen anschaulich von „Sprachlernbasen“ (Hervorhebung im Original): Analog zu der Annahme von sprachlichen, linguistisch beschreibbaren Transferbasen, die ihren konzeptuellen Ursprung übrigens in einer Modifizierung <?page no="43"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 29 des bis dato üblichen Transferbegriffs haben (vgl. dazu Meißner 1998), muss ein auf Mehrsprachigkeit zielender Fremdsprachenunterricht dafür Sorge tragen, dass der Lerner sich Sprachlernbasen bewusst macht, die bei Bedarf aktiviert werden und den Aneignungsvorgang einer zweiten bzw. weiteren Fremdsprache effektivieren. Insofern es einem Lerner gelingt, Lexeme, morpho-syntaktische Strukturen usw. zu identifizieren, indem er sie zu seinem sprachlichen Vorwissen in Beziehung setzt, konstruiert er seine persönliche „Hypothesengrammatik“. Diese bezieht sich nicht allein auf die jeweilige Zielsprache, sondern schließt immer auch Korrespondenzen zwischen Sprachen mit ein. Aus diesem Grund wird Interkomprehension auch als ein „Zwischen-Sprachen-Lernen“ bezeichnet. Neben dem Lernen ‚zwischen Sprachen‘ umfasst Interkomprehension immer auch das Lernen ‚über mehrere Sprachen hinweg‘ (in einem transversalen Sinne), was insbesondere in der Konzeption des „Didaktischen Mehrsprachenmonitors (DMS)“ („Moniteur Didactique Plurilingue“; Meißner 2002, 2004b: 27) deutlich wird. Abb. 1: Der Moniteur Didactique Plurilingue (Meißner 2004b: 27) GdH Grammaire d’hypothèses (1) Génération d’hypothèses sur les structures et leur fonctionnement dans le système de la langue. (2) Comparaison de schémas transférables (bases de transfert) entre la langue-cible et les langues mentalement activées. (3) Identification de bases de transfert dans tous les domaines de l’architecture linguistique. (4) Contrôle des transferts effectués. (5) Réorganisation des savoirs de langue sur la base de transferts proet rétroactifs. Percepteur (P) Observation des activités mentales menant au transfert réussi/ au transfert échoué Sensibilisation aux facteurs ayant trait à l’apprentissage autonomisation Moniteur Didactique Plurilingue (MDP) Répertoire des expériences de langues Savoir pluri-langues déclaratif et procédural Répertoire des expériences en matière de l’apprentissage et de l’acquisition des langues : langues, méthodes, formation des compétences partielles, stratégies .. INPUT ou SAISIE PLURI-LANGUES (IPL) Langues-cible (italien), langues acquises activées (allemand, français, latin, anglais p.ex.) <?page no="44"?> 30 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Die Hypothesengrammatik (Grammaire d’hypothèses) bezieht sich auf (zwischen-) sprachliche Hypothesen zu einem (mehrsprachigen) Input (Input ou saisie pluri-langues), die über die (mehr oder weniger bewusste) Wahrnehmung mentaler Aktivitäten im Percepteur in den „Didaktischen Mehrsprachenmonitor“ (Moniteur Didactique Plurilingue) gelangen. Dieser greift jedoch, wie die Abbildung verdeutlicht, weiter, indem er neben mehrsprachlichem deklarativem und prozeduralem Wissen das gesamte Repertoire an Erfahrungen eines Lerners mit Sprachen und Sprachenlernen umfasst. Dies ist für Interkomprehension in einer sprachfamilienübergreifenden Perspektive wichtig, da (vor allem) hier ausschließlich interlinguale Transferaktivitäten nicht ausreichen und Strategiewissen wie beispielsweise die Berücksichtigung des situativen Kontextes besonders notwendig ist. Auch für junge Lerner ist es von besonderer Bedeutung, da diese noch im Begriff sind, sich selbst als Fremdsprachenlerner kennenzulernen. Wer im Englischunterricht die Erfahrung gemacht hat, dass es hilfreich sein kann, auf den Kontext zu achten, kann diese Erfahrung auch beispielsweise im Französischunterricht nutzen. Wer weiß, wie er mit einem einsprachigen Englischwörterbuch umgehen muss, kann dieses Wissen auf französischsprachige, spanischsprachige usw. Wörterbücher übertragen. In diesem Sinne ist Sprachlernkompetenz (savoir apprendre) neben ihrer zwischen-sprachlichen Dimension immer auch eine transversale Kompetenz. Ebenso wie die Transfertypik schließt die Hypothesengrammatik alle Ebenen der sprachlichen Architektur mit ein 31 und ist daher nicht im Sinne des ‚traditionellen‘ Grammatikbegriffs zu verstehen, der in der Regel auf die Morphosyntax bezogen wird. 32 Zur Relation der Hypothesengrammatik zum Konzept der mehrsprachigen Lernersprache: Die Hypothesengrammatik bildet die mehrsprachige Lernersprache ab, die sich in einem permanenten Veränderungsprozess befindet. Meißner (2008e: 18-19) grenzt die Konzeptionen der Lernersprache (interlanguage bzw. interlangue) und der Hypothesengrammatik, die beide sowohl systematisch als auch dynamisch sind, folgendermaßen voneinander ab: Les analyses [des processus mentaux ayant trait aux tranferts effectués ; StM] ont montré que les « hypothèses de langues » sont l’expression de la tentative du sujet de découvrir la signification du message en langue-cible et d’identifier des régularités aux niveaux du lexique, de la morphosyntaxe et de la syntaxe. C’est ce que nous avons appelé la « grammaire d’hypothèses plurilingues ». Il s’agit 31 Vgl. Meißner (2008e: 18): „Les « hypothèses de langues » sont l’expression de la tentative du sujet de découvrir la signification du message en langue-cible et d’identifier des régularités aux niveaux du lexique, de la morphosyntaxe et de la syntaxe.“ 32 Für ein Raster zur Hypothesengrammatik und weiteren in der vorliegenden Unter suchung eingesetzten Aufgabenformaten s. Abschnitt II 4. <?page no="45"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 31 d’une sorte d’interlangue naissante. […] Le fait qu’elle évolue avec chaque acte intercompréhensif, qui révèle régulièrement à l’apprenant des schémas nouveaux, explique que sa dynamique dépasse encore celle de l’interlangue. Aussi l’a-t-on caractérisée d’« éphémère ». Dadurch, dass die Hypothesengrammatik die Lernersprache in statu nascendi abbildet, geht sie somit in ihrer Dynamik über Selinkers (1972) Konzeption hinaus. Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen dem Konzept der mehrsprachigen Lernersprache in der Interkomprehensionsdidaktik und Selinkers (ebd.) ursprünglicher Konzeption betrifft die Perspektive, aus der die Lernersprache betrachtet wird. So hatte Selinker (ebd.) auf der Grundlage lernersprachlicher Merkmale auf vorangegangene Verarbeitungsprozesse geschlossen, wie jene des „transfer of training“ oder der „overgeneralization of rules“ 33 . Demgegenüber ist es gerade das Anliegen der Interkomprehensionsdidaktik, Verarbeitungsprozesse wie inter- und intralinguale Transferprozesse in Gang zu setzen, nicht zuletzt um die lernerseitige Bewusstheit über diese Prozesse zu befördern. Ziel ist, dass ein Lerner Kontrolle über seine Lernprozesse und seine Lernentscheidungen erhält. Dies impliziert auch eine Fehlerprophylaxe. Der Didaktische Mehrsprachenmonitor (DMS) bzw. Moniteur Didactique Plurilingue (Meißner 2004b: 27) umgreift daher sowohl plurilinguale als auch volitionale und attitudinale Ressourcen. Meißners (2011f: 47) Beobachtung, dass die lernersprachliche Hypothesengrammatik „is modified by nearly each intercomprehensive procedure“ (Hervorhebung StM), lässt sich auf den Grad an Aufmerksamkeit beziehen, die dem interkomprehensiven Vorgehen gewidmet wird. So ist es beispielsweise für die Erweiterung der (mehrsprachigen) Lernersprache bzw. Hypothesengrammatik notwendig, dass ein Lerner im Sinne von Schmidts (z.B. 1990) noticing-Hypothese bemerkt, wo, wie und wodurch sich seine interlanguage vom ihm entgegengebrachten sprachlichen Input unterscheidet. Darüber hinaus hängt die Frage der Veränderung der mehrsprachigen Lernersprache auch von der Absicht ab, die bei einem konkreten interkomprehensiven Verfahren verfolgt wird. Hier erfährt die in Abschnitt I 1.1 dargelegte tendenzielle Unterscheidung von kommunikativen und sprachlernbezogenen Zielen von Interkomprehension eine Konkretisierung. Begegnet einem Lerner in einem italienischen Text beispielsweise das Partizip organizzato, so ist es für das Verständnis ausreichend, das deutsche Interlexem „organisiert“ zu aktivieren. Sollen darüber 33 Diese sind darüber hinaus - wie das Beispiel der overgeneralization of rules zeigt - nicht unbedingt erstrebenswert, obwohl natürlich auch einer Übergeneralisierung eine Hypo thesenbildung, d.h. das Erkennen einer Regelhaftigkeit, zugrunde liegt und sie ein Teil des natürlichen Spracherwerbs ist (vgl. Butzkamm 2007: 166). Auch die Kategorie des transfer of training ist, wie erwähnt, nicht im interkomprehensionsdidaktischen Sinne eines didaktischen Transfers zu verstehen, sondern bezieht sich auf instruktionsindu zierte Normabweichungen in der Lernersprache. <?page no="46"?> 32 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht hinaus ziel- und brückensprachliche Kenntnisse (etwa die Partizipbildung im Italienischen und Englischen - organizzato, organized) erworben bzw. gefestigt werden, so ist hier gegebenenfalls eine entsprechende Bewusstmachung erforderlich. Denn auf der Grundlage des zielsprachlichen Textes allein erfolgt eine Reaktivierung brückensprachlichen Wissens und ein interlingualer Vergleich durch den Lerner möglicherweise gar nicht, weil dies in diesem Fall für das Textverständnis nicht notwendig ist 34 . Für eine Förderung der mehrsprachigen Lernersprache ist eine ausschließliche Orientierung am Produkt von Erschließungsprozessen, wie angesprochen, nicht ausreichend. Es geht nicht ‚allein‘ darum, interlinguale Ähnlichkeiten auf deklarativer Ebene festzuhalten (was selbstverständlich notwendig und sinnvoll ist! ; vgl. Aufgabenformate wie das mehrsprachige Wörterbuch bei Meißner 2004b: 90-91, s. auch 2005b, 2011b und Abschnitt II 4.). Wichtiger sind die Thematisierung sowie das lernerseitige Erkennen der hierbei aktiven Sprachverarbeitungsprozesse. Aus interkomprehensionsdidaktischer Perspektive ist hier (gegebenenfalls) ein vertiefendes Nachfragen des Lehrers sinnvoll bzw. notwendig (zum dialogue pédagogique: Meißner 2008c; vgl. auch Abschnitt II 4.). Ein solcher Dialog im interkomprehensiven Spanischunterricht zu dem Textstück „después de estudiar en Madrid“ könnte beispielsweise in etwa so aussehen (Bär 2006b: 378-379): A7: Après de etudier à Madrid […] E: Warum hat er después nicht mit depuis übersetzt? Wäre doch nahe liegend? … Was hast du gesagt? A7: Aprés. […] A7: das wär’ dann einfach vom Kontext her, dass das nicht anders sein konnte, und da hab’ ich mich für après entschieden. Dieser Dialog 35 verdeutlicht, dass bei der expliziten Rekonstruktion des schülerseitigen Erschließungsprozesses lernerseitige Hypothesen zu Tage treten können, die anderenfalls möglicherweise im Verborgenen geblieben wären, und zwar nicht allein für den Lehrer, sondern vor allem für den Schüler. So bezieht der Lerner bei der Erschließung des spanischen Textes den Kontext mit ein und kann auf diese Weise frz. depuis als Lösungsmöglichkeit ausschließen, obwohl die interlinguale Ähnlichkeit zu después eine solche Hypothese nahe legt. Bär (2009: 60-61) empfiehlt für den Umgang mit einer Hypothesengrammatik (bei Lernern am Ende der Sekundarstufe I): 34 Vgl. hierzu die Erfahrungen aus der Analyse eines Laut-Denk-Protokolls zu einem ita lienischen Text, den zwei Siebtklässlerinnen in Partnerarbeit analysiert haben, über die in Morkötter (2010: 244; 2011a) berichtet wurde. 35 Es handelt sich bei den Teilnehmern an dem Projekt, aus dem der Dialog stammt, um Schüler der Klasse 8 bis 11, die bereits eine dritte oder vierte Fremdsprache lernen (Bär 2006b: 376). Zum Lerner A7 aus dem Dialog werden keine genaueren Angaben gemacht. <?page no="47"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 33 Während zu Beginn der Fokus auf einzelne oder bestimmte grammatische Phänomene gelenkt werden sollte, da es die Lernenden aufgrund des traditionellen Grammatikunterrichts nicht gewöhnt sind, ‚selbst‘ die Grammatik einer Sprache zu ‚schreiben‘, kann zu einem späteren Zeitpunkt der Blick auf ‚alle möglichen‘ Phänomene geöffnet werden. So wurden für die vorliegende Untersuchung auf der einen Seite Aufgabenformate entwickelt, die den Fokus auf bestimmte interlinguale und morphosyntaktische Aspekte legen (das „Wörterpuzzle Sprachfamilien“, das „Sprachenquiz“, das „Sätzepuzzle“; zu diesen und den weiteren eingesetzten Aufgabenformaten s. Abschnitt II 4.). Auf der anderen Seite wurde der Fokus vor dem Hintergrund der Forschungsfragen dieser Untersuchung bewusst offen gelassen: Welche Strategien setzen junge Lerner aus eigener Initiative ein? Werden Strategien zielgerecht eingesetzt, d.h. passen sie zum sprachlichen Handlungsziel oder ist ihr Einsatz eher beliebig und ‚planlos‘? Lassen sich Anzeichen von Metakognition nachweisen, und wenn dies der Fall ist, wie stellen diese sich dar? Dass diese Fragen ein Forschungsdesiderat darstellen, zeigt auch ein Blick auf Strategieseiten und Übungen zu Leseverstehen in fremdsprachlichen Lehrbüchern neueren Datums für jüngere Lerner. Zwar versuchen die Lehrbücher, sprachliches Vorwissen von Schülern einzubeziehen und sie an Strategien (wie beispielsweise die Berücksichtung des Kontexts, der Überschrift eines Textes oder von textbegleitendem Bildmaterial) heranzuführen. Doch geschieht dies häufig in einer stark lenkenden und steuernden Form. So ist die von Martinez & Schröder-Sura (2011: 76-77; Hervorhebungen: StM) geäußerte Kritik an einer „prototypischen Aktivität“ (ebd.) in diesem Bereich auf verschiedene Lehrbücher und Zielsprachen beziehbar: Der Schüler wird angeregt, die ihm präsentierten Strategien anzuwenden und andere Wörter im Text zu suchen, die er aus anderen Fremdsprachen kennt; Er entwickelt die Strategie jedoch nicht aus dem Bedürfnis heraus, Verständnislücken zu überwinden bzw. unbekannte Wörter zu erschließen. Die Aufgabe fördert somit nicht die eigenständige Generierung von Lernbzw. Lesestrategien. Die Aufgabe zielt auf die Einführung von deklarativem Strategiewissen. Es findet keine Mobilisierung von savoir-faire bzw. savoir-être statt. Der Schüler reagiert lediglich auf die Anweisung der Aufgabe […] Es ist fraglich, ob diese Art der Aktivierung des Vorwissens den Leseverstehensprozess unterstützt. Die Aufgabe leitet den Schüler nicht an, im Sinne von savoir faire über diese Strategie und ihren Nutzen für die Bewältigung der Aufgabe […] zu reflektieren. <?page no="48"?> 34 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Derartige Aktivitäten bergen die Gefahr, so Martinez & Schröder-Sura (ebd.: 77), zu „trägem Wissen“ zu führen (vgl. Abschnitt I 1.3). Eine solche instruktivistische Präsentation von Strategien bietet einem Lerner kaum Möglichkeiten einer Mobilisierung eigener individueller Ressourcen. Positiv hervorzuheben ist allerdings, dass - bei aller notwendigen Kritik an der Umsetzung - Sprachlernkompetenz (bzw. study skills, savoir apprendre, aprender mejor etc.) überhaupt in Sprachlernkompetenz-Hörverstehen, Sprachlernkompetenz-Leseverstehen, Sprachlernkompetenz-Schreiben usw. spezifiziert wird (vgl. auch Morkötter, erscheint), wohingegen noch am Ende des vergangenen Jahrhunderts in Lehrbüchern zum Teil eine Verengung des Strategiebegriffs auf Behaltens- und Gedächtnisstrategien in Bezug auf Vokabular oder Grammatikregeln zu beobachten war (vgl. Morkötter 2009). Es liegen in der mehrsprachigkeitsbzw. interkomprehensionsdidaktischen Forschung nur wenige Befunde über vorhandene bzw. aktivierbare Strategien (im Sinne von savoir, savoir faire, savoir être und savoir apprendre) und bases de transfert comportementales bei jungen Lernern zu Beginn der Sekundarstufe vor (s. Abschnitt I 2.4). Doch, wie aus den bisherigen Ausführungen hervorgeht, lassen sich Strategiewissen und savoir apprendre 36 in Form einer vorbestimmten Strategieauswahl und von expliziten Handlungsanweisungen, die Lerner dann befolgen sollen, vermutlich nicht bzw. weniger fördern 37 . Meißner (2011b: 271) betont: En didactique de l’intercompréhension, la question fondamentale est de savoir à quel point l’expérience de l’apprentissage d’une langue X peut être utile pour apprendre une langue Y et comment faire profiter les élèves de tels avantages. Cette question concerne d’abord les multiples bases de transfert déclaratives et procédurales entre langues apparentées et en même temps les bases de transfert comportementales. Die vorliegende Untersuchung möchte eben dieser Fragestellung nachgehen, indem sie einen mikroskopischen Blick auf die Frage wirft, zu welchen Sprachhandlungen (bases de transfert comportementales) ein junger Lerner zu Beginn 36 Wie in der Einleitung angesprochen, wird in der vorliegenden Untersuchung in Anleh nung an den RePA (2011) der Begriff des savoir apprendre als eine transversale Kom petenz aufgefasst, die sich auf alle Ebenen des savoir, d.h. savoir, savoir faire und savoir être bezieht. 37 Es kann und soll an dieser Stelle nicht die umfangreiche Literatur zur Diskussion über die Frage der Strategievermittlung (‚explizit‘, ‚bewusstmachend‘, ‚reflektierend‘, ‚implizit‘ usw.) nachgezeichnet werden (vgl. z.B. O’Malley & Chamot 1990; Oxford 1990; Rampil lon & Zimmermann 1997; Grotjahn 1998; Bimmel & Rampillon 2000; Finkbeiner 2003; Tönshoff 2003; Chamot 2004; Finkbeiner & Knierim 2008), insbesondere aus dem Grund, dass dort (zum Teil) ein anderer Strategiebegriff zugrunde gelegt wird, der nicht der umfassenden Konzeption von savoir apprendre als einer transversalen Sprachlern kompetenz (s. Abschnitt I 1.3), auf der der Referenzrahmen für plurale Ansätze und die Interkomprehensionsdidaktik beruhen, entspricht. <?page no="49"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 35 des Erlernens einer zweiten Fremdsprache in der Lage ist und welche deklarativen und prozeduralen Transferbasen (bases de transfert déclaratives et procédurales) ihm für eine Mobilisierung mental zur Verfügung stehen. Inferenz Eng verbunden mit dem Begriff des Transfers ist jener der Inferenz. Inferenz ist kein spezifisch didaktisches Phänomen, sondern begleitet die Sprachbenutzung (und den Spracherwerb) generell (vgl. Meißner 2011j: 113). Dies spiegelt sich auch in Bußmanns Definition von Inferenz in seinem Lexikon der Sprachwissenschaft wider (2008: 289): Kognitive Operation bei der Textverarbeitung: (Re-)Konstruktion von voraussetzbaren und ergänzbaren, im Text aber nicht ausgedrückten Inhalten […]. Inferenzziehung ist grundlegend für die Herstellung von Kohärenz, also für den Aufbau eines sinnvollen, semantisch zusammenhängenden Textes. In Abhängigkeit vom angenommenen Wissen des Rezipienten werden bereits im Prozess der Textproduktion entsprechende »Leerstellen« offen gelassen, sei es zur Vermeidung von Redundanz im Falle erschließbarer, in einem Schema oder Script gespeicherter Standardannahmen […], sei es in anderer kommunikativer Absicht. Neben solchen »intendierten«, zum Verständnis notwendigen Inferenzen aktiviert der Rezipient auch andere, zum Textinhalt passende Wissensbestände. Diese individuell unterschiedlichen, »elaborativen« Inferenzen sind eine wichtige Quelle der inhaltlichen Offenheit und Interpretierbarkeit von Texten. Ausgedrückter Textinhalt und inferentiell hinzugefügtes Wissen verschmelzen im Gedächtnis und sind bei einer späteren Textrekonstruktion in der Regel nicht mehr unterscheidbar. Eingehender sprachlicher Input wird mit vorhandenen Schemata (und Scripts) abgeglichen. Auf dieser Grundlage werden Erwartungen an einen Text aufgebaut: Im Rezeptionsprozess werden aus dem (sprachlichen und nicht-sprachlichen) Gesamtkontext Hinweise herausgelesen: Man bildet auf Basis der von den Schemata geschaffenen kontextuellen Erwartungen eine Repräsentation der Bedeutung, die ausgedrückt wird, und dazu eine Hypothese über die hinter dieser Bedeutung stehende kommunikative Absicht. Durch schrittweise Annäherung dieser Hypothesen an die Aussage werden sichtbare oder mögliche inhaltliche Lücken aufgefüllt: Dadurch wird die mentale Repräsentation der Bedeutung vervollständigt, und es wird die Signifikanz des Gesagten und seiner Bestandteile herausgearbeitet (Inferieren). (Europarat 2001: 77) Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen führt weiter aus (ebd.), dass zu schließende „Lücken“ sowohl sprachliche Beschränkungen als Ursache haben als auch auf geringes (Hintergrund-) Wissen oder ungünstige Rezeptionsbedingungen zurückgeführt werden können. Allerdings - das betonen Rickheit & Strohner (2003: 566) zu Recht - „sind solche ‚Lücken‘ in allen <?page no="50"?> 36 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht mündlichen und schriftlichen Texten enthalten, mit denen Menschen sich untereinander verständigen“ 38 . Inferieren ist nicht notwendigerweise ein bewusster Prozess, sondern kann auch vorbewusst (intuitiv) ablaufen, beispielsweise im Falle von polysemen Wörtern, bei denen sich der Leser bzw. Hörer für eine Rezeptionsart entscheiden muss (etwa beim Substantiv „Läufer“ zwischen einem Sportler, einem Teppich und einer Schachfigur). So machen sich ‚Witze‘ wie „Treffen sich zwei Jäger. Beide tot.“ (Kindt 2007: 114) gerade die Tatsache zunutze, dass die auf der Grundlage von Schemata gebildeten Erwartungen verletzt werden. Ein Leser bzw. Hörer ohne Kenntnis dieses ‚Witzes‘ würde das Verb „treffen“ im Satz „Treffen sich zwei Jäger.“ sehr wahrscheinlich in der Bedeutung von „sich begegnen“ interpretieren und durch weiteres Weltwissen ergänzen (z.B. „Sie kennen sich.“; „Sie begrüßen sich.“; „Sie arbeiten in demselben Waldgebiet.“ usw.). In der Fremdsprachendidaktik werden zwei unterschiedliche Auffassungen vertreten, was die Beschaffenheit von Inferenzprozessen betrifft, die von Intuition (Bialystok 1983; zitiert aus Reinfried 1999: 118) bis zu logischem Vorgehen (Röhr 1993; zitiert aus ebd.) reichen. Reinfried (ebd.: 119) weist darauf hin, dass die „Strategie des lexikalischen Inferierens […] prinzipiell in einem Spanungsfeld zwischen linearer und ganzheitlicher, zwischen logischer und intuitiver Vorgehensweise“ stehe, und betont die Abhängigkeit von Inferenzprozessen vom Lernenden und der betreffenden Sprache (ebd.). Inferenzen können fremdsprachliche Verstehensprozesse, die wie muttersprachliche stets eine Interaktion von datengeleiteten bottom-up- und konzeptgeleiteten topdown-Prozessen sind, erleichtern. Selbstverständlich können ebenfalls Interkomprehensionsprozesse auch auf nicht sprachlichem, enzyklopädischem Wissen beruhen (Doye 2005a, 2005b; Meißner 2007b; s. Abschnitt I 2.6) und auf der Grundlage von Schemata und Scripts gebildete Hypothesen über Textinhalte können mit eingehenden Daten abgeglichen werden. Auch Haastrup (1991), die sich in einer Querschnittstudie lexikalischen Inferenzverfahren (lexical inferencing procedures), die von Schülern der Sekundarstufe I und II bei der Erschließung von Wortbedeutungen eingesetzt werden, widmet, spricht in ihrer Definition von „Inferieren“ explizit sowohl sprachliche als auch nicht sprachliche Wissensbasen 39 an (ebd.: 39; Hervorhebungen: StM): The process of inferencing involves making informed guesses as to the meaning of (part of) an utterance in the light of all the available linguistic cues in 38 Als Beispiel führen sie folgende Situation an (ebd.): „Wenn zum Beispiel ein Handwer ker möchte, dass ihm sein Gehilfe einen Bohrer von der Stärker 8 mm holt, dann sagt er in den wenigsten Fällen: „Wärst du so nett und würdest mir jetzt bitte einen Bohrer von der Stärke 8 mm aus unserem Wagen, der vor der Tür dieses Hauses steht, holen? ““. 39 Zu nicht-sprachlichen Wissenskategorien s. auch Kapitel I 2.6. <?page no="51"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 37 combination with the hearer’s general knowledge of the world, her awareness of the situation and her relevant linguistic knowledge. Haastrup (ebd.: 60ff.) diskutiert zwei unterschiedliche Modelle interaktiver Verarbeitung (Lesgold & Perfetti 1981 und Flores d’Arcais & Schreuder 1983) mit Bezugnahme auf die Frage, wie und wann verschiedene Arten von Informationsquellen während eines Verstehensprozesses genutzt werden. Generell geht sie in Anlehnung an Levy (1981) von folgenden Grundannahmen aus (1991: 60): - Processing occurs in parallel at different levels - Output from each level acts as a data base for all levels - Comprehension is the best guess based on evidence from multiple sources Lesgold & Perfetti (1981, zitiert nach Haastrup ebd.: 60-61) nehmen an, dass das menschliche Gehirn ein System aus unterschiedlichen Prozessoren ist, wie beispielsweise einem orthographischen oder einem syntaktischen Prozessor, und dass es für jede sprachliche Ebene einen separaten Prozessor gibt. Jeder Prozessor sendet Hypothesen, z.B. über die Deutung eines Satzes, an einen message centre, der sich auf der Grundlage von Hinweisen auf allen Ebenen für eine Hypothese entscheidet. Eine entscheidende Rolle spielt hierbei die Frage, inwieweit sie auf Konzeptebene (top-down) gestützt wird und wie deutlich die Hinweise auf der Datenebene (bottom-up) sind. Da die Prozessoren gleichzeitig operieren, ist eine offene Frage, in welchem Maße eine stark gestützte Hypothese auf einer sprachlichen Ebene die ablaufende Verarbeitung auf anderen sprachlichen Ebenen beeinflusst. Flores d’Arcais & Schreuder (1983, zitiert nach Haastrup ebd.: 61-62; meine Hervorhebungen) dagegen schreiben interaktiven Verarbeitungsmodellen folgende Eigenschaften zu: (a) Processing proceeds in parallel at all levels. Thos means that work at one level does not wait until processing has been completed at other levels. (b) Results from one processing level are available at all other levels. This means that a central processor might rely on computation from one level for making decisions at some other level. (c) The processor is free at any moment to use evidence available from any level to continue its work. This is a direct consequence of (a), but also means that the processor may choose to use whatever information is more useful, be it phonological, syntactic, semantic, or pragmatic. Die Gemeinsamkeit beider Modelle ist, dass sie von einem Ineinandergreifen von datengeleiteter und konzeptgeleiteter Verarbeitung ausgehen, jenes von Flores d’Arcais & Schreuder (1983) ist jedoch mit der vorliegenden Untersuchung insofern besser vereinbar, als es eine Interaktion von Verarbeitungprozessen auf allen Ebenen und eine Auswahl der nützlich(st)en Informations- <?page no="52"?> 38 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht quellen (s.o. (c)) mit einschließt, was der Forschungsfrage nach der Zielgerichtetheit von Strategieeinsatz (vgl. Einleitung) besonders nahekommt. Die Interkomprehensionsbzw. Mehrsprachigkeitsdidaktik beruht ebenfalls auf einem inferenziellen Lernbegriff, wie Meißner & Reinfried vor mittlerweile über eineinhalb Jahrzehnten (1998a: 15ff.) in ihrem viel beachteten Sammelband Mehrsprachigkeitsdidaktik. Konzepte, Analysen Lehrerfahrungen mit romanischen Fremdsprachen mit Bezugnahme auf Carton (1971: 45) betonten. Carton hatte bereits damals (ebd.: 50-54) in seiner Taxonomie von Inferenzgrundlagen zwischen folgenden Kategorien unterschieden (vgl. hierzu auch Morkötter 2005: 68-70): intra-lingual: Inferenzgrundlagen, die auf morphologischen und syntaktischen Regularitäten der jeweiligen Zielsprache basieren inter-lingual: alle möglichen Inferenzen auf der Grundlage von Transfer von einer Sprache (nicht notwendigerweise die Muttersprache) auf eine andere extra-lingual: kontextuelle Inferenzgrundlagen Cartons Modell war insofern seiner Zeit weit voraus, als sich seine Klassifikation an möglichen Grundlagen für Inferenz bzw. Transfer orientierte und nicht lediglich das Produkt im Blick hatte. Auch der Untersuchung Haastrups (1991), die im folgenden Abschnitt dargestellt wird, liegen Cartons Taxonomie und das interaktive Verarbeitungsmodell von Flores d’Arcais & Schreuder (1983) zugrunde. Lexikalische Inferenzverfahren von Schülern der Sekundarstufe Ausgangspunkt von Haastrups (1991) Untersuchung sind Beobachtungen von Defiziten in rezeptiver Kompetenz, die häufig weder von Lernern selbst noch von Lehrern bemerkt werden (ebd.: 11). Einen Grund für diese Feststellung sieht Haastrup in einer Konzentration von Lehrenden auf produktive Fertigkeiten, da man mehr verstehe als man sagen könne und Verstehen der Produktion vorausgehe. Zwar stellt die Autorin die Gültigkeit dieser Aussage für Fremdsprachenlernen (in Gegenüberstellung zum Erwerb der Muttersprache) in Frage (ebd.), was aus heutiger und (insbesondere) interkomprehensionsdidaktischer Sicht nicht nachvollziehbar ist. Ihre Erklärung für die festgestellte Vernachlässigung von rezeptiver Kompetenz ist jedoch im Kontext einer Förderung von Sprachlernkompetenz von Bedeutung (ebd.; meine Hervorhebungen): „teachers […] expect that receptive competence is already there, will take care of itself or will develop as a by-product of work with production.“, Erwartungen, die ähnlich auch für das Lernen des Lernens bei Lehrern vermutet werden (vgl. Meißner 2011c: 77). Das Hauptziel der Studie ist, Inferenzverfahren (lexical inferencing procedures) von Lernern zu beschreiben und Wege vorzuschlagen, sie zu entwickeln. Die Probanden setzen sich aus dänischen Schülern unterschiedlicher Altersgruppen (15 bzw. 16 Jahre und 18 bzw. 19 Jahre) und Kompetenzniveaus <?page no="53"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 39 im Englischen (ermittelt durch den Michigan test of English proficiency, einem cloze test, einem multiple-choice test und Einschätzungen von Lehrern) zusammen. Beide Gruppen mit jeweils 31 Schülerpaaren haben die Aufgabe, unbekannte Wörter innerhalb eines verständlichen englischen Textes zu erschließen. Die Partnerarbeit, die Haastrup als ein „pair thinking aloud“ bezeichnet (ebd.: 84-85), wurde aufgezeichnet. In einigen Fällen (in 12 bei den jüngeren und in 17 bei den älteren Schülern) wurden die Aufnahmen durch retrospektive Befragungen ergänzt (ebd.: 86-87). In einem Prätest wurde sichergestellt, dass die fokussierten Wörter den Schülern in der Tat nicht bekannt waren (ebd.: 88). Der Hauptbezugspunkt bei Haastrups Analyse ist, wie erwähnt, Cartons (1971: 45) Unterscheidung intralingualer, interlingualer und kontextueller Inferenzgrundlagen. Die Wortitems wurden so gewählt, dass sie eine Aktivierung von entweder nichtbzw. außer-sprachlichen oder von sprachlichen Wissensressourcen nahelegen wie im folgenden Fall: „…, a king called Chaka. He was a clever military leader with insatiable political ambitions. He won most of south-eastern Africa …“ (ebd.: 234), bei dem das Präfix -in und das Suffix -able identifiziert werden und der Wortstamm mit dem bekannten Nomen satisfaction in Verbindung gebracht werden können. Dem stehen Wortitems wie squalor gegenüber, bei denen die Probanden auf Erschließen durch den Kontext angewiesen sind. Entsprechend werden Inferenzprozesse als aufgabenspezifisch angesehen. Haastrup erweitert Cartons (1971: 45) Taxonomie von Wissensquellen, indem sie jeder zwei Subkategorien hinzufügt: Intralinguale Wissensquellen das Testwort die Syntax des Satzes, der das Testwort enthält Interlinguale Wissensquellen L1 (Dänisch) Ln (andere Sprachen außer die L1; herangezogen wurden: Deutsch, Französisch, Italienisch und Latein; ebd.: 99) Kontextuelle Wissensquellen der Ko-text 40 Weltwissen Tab. 1: Taxonomie von Wissensquellen für die Erschließung von Wortbedeutungen nach Haastrup (1991: 92-93) 40 Es verwundert etwas, dass Haastrup den Ko-text der kontextuellen Wissensquellen zuordnet (vgl. z.B.: „The informant makes use of one or two words from the immediate co-text of the test word; she chooses a word that is familiar. This is then taken as the point of departure for her reflections, which may be of a collocational nature.“ (1991: 239). So schlägt auch Reinfried (1999: 119) vor, die Kategorie der intralingualen Hinweise weiter in die Subkategorien der zielsprachlichen Wortbildungsregularitäten und der Hinweise im Kotext zu untergliedern. <?page no="54"?> 40 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Haastrups Hauptforschungsfragen beziehen sich sowohl auf den (quantitativen und qualitativen) Einsatz dieser Wissensquellen als auch auf deren Kombination (ebd.: 40): - Welche Wissensquellen nutzen Lerner, wenn sie eine lexikalische Inferenzaufgabe lösen? - Verbinden Lerner Informationen von verschiedenen sprachlichen Ebenen (z.B. die Kontextebene, Semantik, Morphologie und Orthographie), wenn sie eine lexikalische Inferenzaufgabe lösen? Und wenn ja, wie? Sie nimmt bei den interlingualen Wissensquellen an, dass sich der lernerseitige Eindruck davon, was sprachspezifisch (nicht transferierbar) und was transferierbar ist, wahrscheinlich mit dem Kompetenzlevel in der L2 ändert (ebd.: 52). Als Einflussfaktoren nennt Haastrup die Haltung des Lehrers (Ermutigung zu/ Warnung vor Transfer) und die Entwicklung von metasprachlicher Bewusstheit. Insgesamt geht sie davon aus, dass schwächere bzw. weniger fortgeschrittene Lerner bei der Bedeutungserschließung vor allem bottom-up- Verarbeitung (Buchstaben, Morphologie) einsetzen, wohingegen weiter fortgeschrittene Lerner eher zu einer interaktiven Verarbeitung (interactive processing) in der Lage sind, d.h. dass sie bottom-up und top-down-Verarbeitung miteinander kombinieren können (ebd.: 69) 41 : „there seems to be a threshold level of linguistic ability that the learners have to reach before they are able to make use of the full range of processing types.“ (ebd.: 70). Im Hinblick auf die quantitative Verteilung der eingesetzten Wissensquellen in den beiden Kompetenzgruppen kommt Haastrup (ebd.: 108) zu folgendem Ergebnis: Sek. II-Gruppe Sek. I-Gruppe 42 Intralinguale Wissensquellen das Testwort 56% 36% die Syntax des Satzes, der das Testwort enthält 6% 4% Interlinguale Wissensquellen L1 28% 31% Ln 12% 1% Kontextuelle Wissensquellen der Ko-text 81% 84% Weltwissen 34% 38% Tab. 2: Die Nutzung der Wissensquellen nach Kompetenzgruppen (vgl. Haastrup 1991: 108) 41 Vor dem Hintergrund der Betonung einer interaktiven Verarbeitung ist es konsequent, dass Haastrup anstelle der Begriffe bottom-up und top-down processing, die Linearität in eine Richtung suggerieren, die Formulierungen bottom-ruled und top-ruled processing bevorzugt (ebd.: 73). Diese haben sich jedoch nicht durchsetzen können. 42 Haastrup (ebd.: 78) spricht von einer „H group“ (= high proficiency group) und einer „L group“ (= low proficiency group). <?page no="55"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 41 Wie aus der Tabelle ersichtlich ist, unterscheiden sich die beiden Gruppen insbesondere dadurch, dass die Sek. I-Gruppe weniger intralinguale Wissensquellen und auch seltener Wissen aus anderen Sprachen abgesehen von der Muttersprache heranzieht. Was die Anzahl der herangezogenen Wissensquellen (vgl. ebd.: 109) anbelangt, sind die Unterschiede zwischen den Gruppen geringer als erwartet: Die Sek. II-Gruppe verwendet in 75% der Fälle mehr als eine Wissensquelle, bei der Sek. I-Gruppe sind es 65%. Haastrup erklärt den Befund damit, dass die Sek. I-Gruppe nicht weiß, welche Wissensquellen jeweils relevant sind, und daher nach „Versuch und Irrtum“ vorgeht (ebd.: 109- 110). Diese Hypothese, so Haastrup (ebd.: 110), werde dadurch gestützt, dass die Sek. I-Gruppe selten eine Wissensquelle dem Itemtyp anpasst. Die Sek. II- Gruppe dagegen zeigt Flexibilität in der Anpassung der Verarbeitung an die Item-Typen (ebd.: 158). So unterscheidet sie deutlich zwischen sprachlichen (häufigere Verwendung von inter- und intralingualen Wissensquellen) und nicht-sprachlichen (häufigere Verwendung von kontextuellen Wissensquellen) Items (ebd.: 119). Die Sek. I-Gruppe hingegen unterscheidet lediglich zwischen Items, die interlinguale L1-Wissensquellen nahelegen (interlinguale L1-Quellen werden verwendet), und allen anderen Items (ebd.: 120). Dieser Befund ähnelt einem Ergebnis aus der Interkomprehensionsstudie von Bär (2009), auf die in Abschnitt I 2.4 eingegangen wird, demzufolge es die jüngeren Schüler (Klasse 8) seiner Probanden häufig bei der Strategie des interlingualen Transfers belassen und andere Möglichkeiten zur Texterschließung kaum nutzen (ebd.: 515). Haastrup kommt zu dem Schluss, dass die muttersprachliche Kompetenz, bottom-up- und top-down-Signale zu integrieren, d.h. miteinander zu kombinieren, nicht einfach aus der Muttersprache transferiert werden kann: „The skill to integrate bottom cues and top cues cannot simply be transferred from the L1.“ (ebd.: 178), und dass ein gewisses Schwellenniveau an L2- Kompetenz erreicht werden muss, um erfolgreich inferieren zu können (ebd.: 175): „It is proposed that the H group has reached the threshold level of L2 proficiency that is a necessary prerequisite for successful inferencing, whereas the L group has not reached such a level.“ Diese Schlussfolgerungen Haastrups sind weitreichend für die Interkomprehensionsdidaktik, die von Bedeutungserschließung als einer Grundlage des Lernens ausgeht, und dies bei einer neuen, gänzlich ‚unbekannten‘ Sprache. So ist in der vorliegenden Untersuchung mit Bezugnahme auf die Longitudinalstudie unter anderem (s. die Forschungsfragen in Abschnitt II 8.) zu fragen: Welche Strategien setzt der Lerner ein? Werden Strategien kombiniert eingesetzt? (vgl. Haastrup ebd.: 175, 178; s.o.) Werden die Strategien zielgerichtet oder planlos (Raten) eingesetzt? Werden sie aus vorliegenden Sprachdaten oder Interkomprehensionserfahrungen entwickelt? <?page no="56"?> 42 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Mit Blick auf Haastrups Untersuchung ist in diesem Zusammenhang daran zu erinnern, dass in der Longitudinalstudie neben gänzlich ‚unbekannten‘ Sprachen (Italienisch, Niederländisch und Spanisch) auch jene Sprachen als Zielsprachen von Interkomprehension zum Einsatz kommen, die der Schüler lernt (Englisch und Französisch) (vgl. Abschnitt I 2.6). Zwar fokussiert Haastrup die Wortebene, doch sind die im Hinblick auf Inferenzverfahren untersuchten Wörter, wie erwähnt, selbstverständlich in Texte eingebettet (ebd.: 233-235), was eine Bezugnahme ermöglicht. Die Anzahl potenziell aktivierbarer Wissensquellen und die Vielfalt potenzieller lernerseitiger Beobachtungen ist aufgrund der anderen Materialgrundlage (zum Beispiel verschiedene Textsorten, verschiedene Zielsprachen, Bildmaterial, Überschriften, Layout usw.) und den Unterschieden im Erkenntnisinteresse (keine Fokussierung auf die lexikalische Ebene einzelner Wörter) im Falle der vorliegenden Untersuchung allerdings größer. Dennoch ist zu fragen, ob sich die von Haastrup beobachteten Schwierigkeiten der (insbesondere jüngeren) Lerner beim Inferieren auch in der vorliegenden Studie zeigen. Neben der Fragestellung nach den Fähigkeiten, inferieren und transferieren zu können, ist im Kontext einer Förderung von Sprachlernkompetenz ebenfalls eine wichtige Frage, inwieweit Lerner in der Lage sind, ihr Handeln zu planen, zu überwachen und zu evaluieren, kurz die Frage nach Metakognition. 1.3 Interkomprehension zur Förderung von Sprachlernkompetenz Interkomprehension und Metakognition Der Moment, in dem ein Lerner einen Text bzw. ein Textstück interkomprehensiv versteht, und die hiermit verbundenen Erschließungs- und Konstruktionsprozesse machen deutlich, warum Interkomprehension ein wichtiges Mittel zur Identifikation von Sprachverarbeitungs- und metakognitiven Strategien darstellt (vgl. hierzu und im Folgenden auch: Meißner & Morkötter 2009). Die Diskussion um Metakognition begann in der Entwicklungspsychologie der 70er Jahre (vgl. Martinez 2008: 49). Flavell (zitiert aus Dechert 1997: 13) definiert „Metakognition“ folgendermaßen: „Metacognition refers to one’s knowledge concerning one’s own cognitive processes or anything related to them.“ Für Flavell (Dechert ebd.) ist das Monitoring von großer Bedeutung, das sowohl aus deklarativen als auch prozeduralen Elementen bestehe: (a) metacognitive knowledge, (b) metacognitive experiences, (c) goals (or tasks), and (d) actions (or strategies). So wird in der Fachliteratur zwischen einem deklarativen Wissensaspekt und einem prozeduralen Kontrollaspekt von Metakognition unterschieden und von <?page no="57"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 43 einer gegenseitigen Beeinflussung dieser Komponenten ausgegangen (Wenden 1998: 520; Martinez 2008: 50). Vom deklarativem metakognitivem Wissen wird angenommen, dass es relativ stabil und auch verbalisierbar ist. Prozedurales Kontrollwissen gilt dagegen als relativ instabil und nur begrenzt verbalisierbar. Darüber hinaus ist es situations- und aufgabenabhängig. Strittig ist die Frage, inwieweit dieses prozedurale Kontrollwissen für eine konkrete Handlungsplanung bewusst sein muss. Manche Forscher (vgl. z.B. Veenman 2005: 77) sehen Bewusstheit als eine notwendige Voraussetzung von Metakognition an, wohingegen andere davon ausgehen, dass metakognitives Handlungswissen auch ohne diesbezügliche Bewusstheit eingesetzt werden kann. Das heißt, es herrscht Uneinigkeit darüber, ob regulatives Kontrollwissen „als metakognitiv bezeichnet werden kann, da metakognitives Wissen per se immer bewusst bzw. bewusstseinsfähig ist“ (Martinez ebd.; Hervorhebung im Original). In ihrem im Kontext von Metakognition viel zitierten Modell differenzieren Flavell & Wellman (1977) personen-, aufgaben- und strategiebezogene Variablen, die auch von Wenden (1998, 1999) für „Metacognitive Knowledge and Language Learning“ (1998) herangezogen wurden (s. hierzu weiter unten). Im Bereich der personenbezogenen Variablen unterscheiden sie zwei Typen von Metakognition: two related types of metamemory 43 : Abb. 2: Miteinander verbundene Typen von Metakognition in Anlehnung an Flavell & Wellman (1977: 11) Zur Wechselbeziehung dieser beiden Formen von Metakognition äußern sich die Autoren wie folgt: „present monitoring and interpreting of specific states is 43 Hiermit ist das deklarative und prozedurale Wissen über Gedächtnis-, Denk- und Lern vorgänge gemeint. Flavell & Wellman (1977: 19) unterscheiden „strategies that may serve as preparation for future retrieval and strategies that may facilitate present re trieval“. Strategien im Kontext von Interkomprehension betreffen beide Formen (zum Beispiel die Anordnung von Vokabular in einem persönlichen mehrsprachigen Wörter buch for future retrieval oder etwa die Berücksichtigung von Weltwissen im Erschlie ßungsprozess, wobei sich present retrieval auf das aktivierte strategische (Handlungs-) Wissen oder auch Transferbasen beziehen kann). general, previously acquired knowledge about the properties of self and others enduring abilities and traits the ability to monitor and interpret concrete experiences in the here and now transient processes and states <?page no="58"?> 44 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht informed by acquired knowledge of general properties, and knowledge of these properties must be acquired in part by monitoring and interpreting states“. Sie gehen von der Entwicklung eines Selbstkonzepts aus, das sich beispielsweise auf Annahmen über die eigene Fähigkeit, sich Orte und Daten zu merken (im Vergleich zu anderen Fähigkeiten und zu jenen anderer Personen), beziehen kann (ebd.). Die aufgabenbezogenen Variablen verweisen auf die Beschaffenheit von Input und die Anforderungen einer Aufgabe, etwa hinsichtlich der Anordnung von Informationen, ihrer persönlichen Bedeutsamkeit für einen Lerner usw. Hierzu führen Flavall & Wellman aus: „One piece of information may facilitate the recall of another if they are related for the learner in any of a wide variety of ways. […] Any meaningful link may make one a retrieval cue for the other, and mature learners may have become aware of this fact about memory.“ (ebd.: 15; Hervorhebung i.O.). Auch bei Aufgabenstellungen können Lerner aus Erfahrungen lernen, wie beispielsweise dass es einfacher ist, sich an die Hauptaussage eines Prosatextes zu erinnern als ihn wortwörtlich wiederzugeben (vgl. ebd.: 16). Flavell & Wellman (1977: 22ff.) gehen von einer wechselseitigen Interaktion der drei Variablenkomplexe aus. So nehmen sie bei den strategiebezogenen Variablen beispielsweise an, dass eine Änderung der Beschaffenheit einer Aufgabe eine Reaktion in Form einer (spontanen und adaptiven) Strategieveränderung zur Folge haben kann. Diese exekutive Funktion speise sich zu einem beachtlichen Teil aus Metakognition (vgl. ebd.: 19). Eine wichtige Frage ist die Relation von Metakognition zu tatsächlichem Handeln. Hier unterscheiden Flavell & Wellman (ebd.: 26) für die drei Faktoren der Situation, der möglichen Handlungsweisen und dem Wissen einer Person (awareness or knowledge) vier denkbare Kombinationen: 1. Die Situation löst eine bestimmte Handlung aus, aber ohne diesbezügliche Bewusstheit. 2. Die Situation löst eine Mobilisierung metakognitiven Wissens aus, aber ohne entsprechendes Handeln. 3. Die Situation löst eine bestimmte Handlungsweise aus. Die (Selbst-)Beobachtung dieser Handlung generiert metakognitives Wissen. 4. Die Situation löst eine Mobilisierung metakognitiven Wissens aus und auf dieser Grundlage werden Handlungen aktiviert, um mit der Situation umzugehen. Den letztgenannten Punkt nennen Flavell & Wellman (1977: 26) planvolles strategisches Handeln. In der vorliegenden Untersuchung wird von der Annahme ausgegangen, dass Erschließungsstrategien unbewusst eingesetzt werden (können), was dem oben unter 1. angeführten Fall entspräche, jedoch <?page no="59"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 45 bewusstseinsfähig und explizierbar sind, wie oben unter Punkt 3. dargestellt. Hierbei wird ein Bewusstheits-Kontinuum 44 angenommen. Das langfristige Ziel ist selbstverständlich planvolles strategisches Handeln, wie oben unter 4. beschrieben, doch wird ebenfalls die Möglichkeit eines Prozeduralisierungsprozesses vermutet, wie Flavell & Wellman (ebd.: 28) wie folgt ausführen: „metamemory in the sense of present, conscious monitoring of […] means, goals, and variables may actually diminish, as effective […] behaviors become progressively automatized and quasi-reflexive through repeated use“. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Hinweis der Autoren, dass dieses metakognitive Wissen durch einen solchen Automatisierungsprozess nicht ‚gänzlich verschwindet‘, sondern seine bewusste Aktivierung nicht mehr (immer) notwendig ist: „The metamemory-memory behavior link of the older child is not thereby extinguished, of course. However, the need for it to become clearly conscious may well diminish as the behaviors it once mediated become more self-starting.“ So wäre langfristig eine (annähernd) automatisierte Fähigkeit, beispielsweise beim Lesen geeignete Strategien zu aktivieren, ja durchaus wünschenswert, vorausgesetzt natürlich, dieses Wissen bleibt zusätzlich als deklaratives metakognitives Wissen vorhanden, das aktiviert werden kann, wenn ein Leser zum Beispiel auf eine schwierige Textstelle stößt. Wissen, das nicht genutzt werden kann, wird in der pädagogischen Psychologie „träges Wissen“ (Renkl 2004: 5-6; vgl. auch Behr 2007: 145; Martinez & Schröder-Sura 2011: 77) genannt, was im Folgenden dargestellt wird. Metakognition als Strategie zur Umformung von „trägem“ in enaktives Wissen Zur Definition von „trägem Wissen“: Renkl (2004: 5-6) definiert „träges Wissen“ wie folgt: Wird Wissen, das in einem Schulfach oder in bestimmten Kursen erworben wird, nicht in anderen Fächern oder bei Problemen des Alltags (oder später: Berufslebens) genutzt, so spricht man von trägem Wissen. Es gibt aber auch das Problem der fehlenden Nutzung von Alltagswissen in schulischen Kontexten. Die pädagogische Psychologie liefert Erklärungsansätze für dieses Phänomen wie Metaprozesserklärungen, Strukturdefiziterklärungen sowie Wissenskompilierung und -kompartmentalisierung (vgl. Renkl 1996, 2004). Diese Ansätze, die als komplementär, nicht miteinander konkurrierend zu betrachten sind 44 Obwohl die Auflistung dieser vier Fälle etwas anderes suggeriert, ist die Kontinuums- Annahme durchaus im Einklang mit Flavell & Wellmans (1977) Modell, denn: Je nachdem, wie das Wissen über die Aufgabe, über die eigene Person als Lerner usw. (s.o.) beschaffen ist, kann metakognitives Wissen sehr unterschiedliche Ausprägungen aufweisen. <?page no="60"?> 46 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht (1996: 82), werden im Folgenden kurz dargestellt und auf Interkomprehensionsprozesse bezogen 45 . Erklärungsansätze für „träges Wissen“: Metaprozesserklärungen: Im Gegensatz zu Strukturdefiziterklärungen gehen Metaprozesserklärungen davon aus, dass für eine bestimmte Handlung deklaratives und prozedurales Wissen zwar vorhanden sind, jedoch das für eine erfolgreiche Anwendung notwendige metakognitive Wissen Mängel aufweist. Metakognitive Prozesse werden als erlernbar angesehen (vgl. Renkl 1996: 80). Die pädagogische Psychologie spricht hier von „konditionalem Wissen“, von der „Kenntnis über das „Wann“ und „Warum“ des Zugriffs auf bestimmte Wissensteile“ (Renkl 1996: 80). Für dieses Wissen über die Anwendungsbedingungen nennt Renkl selbst (2004: 7) ein Beispiel aus dem Bereich des Leseverstehens: Beispielsweise ist es bei der Förderung einer Lesestrategie, wie etwa »sich vor dem Lesen einen Überblick verschaffen«, wichtig, den Schülerinnen und Schü lern mitzuteilen, dass diese nicht in jedem Fall sinnvoll ist. Wenn ein Text sehr kurz ist oder einfach zu verstehen, so hält dies nur unnötig auf. Für fremdsprachliche Leseprozesse wird hier auch von einer notwendigen „Flexibilisierung des Leseverhaltens“ (Schmidt 2007: 125) gesprochen: „Lesende müssen sich an die Erfordernisse einer Leseaufgabe und eines Textes anpassen. Ziel ist es, die unterschiedlichen Lesestile flexibel einzusetzen“ (ebd.). Übertragen auf Interkomprehension und die vorliegende Untersuchung ist für das Kriterium der Flexibilität zu fragen, inwieweit Strategien von den jungen Lernern zielgerichtet eingesetzt werden oder es sich eher um ein planloses „„Herumraten““ (vgl. Bär et al. 2005: 92; Anführungszeichen im Original) handelt (vgl. die Fragestellungen in Abschnitt II 8.). Diese Frage ist von großer Bedeutung, denn: „Wenn Schüler zu den falschen Gelegenheiten Strategien 45 Zum „trägen Wissen“ und Überlegungen, wie diesem entgegengewirkt werden kann, vgl. auch: Gräsel (1997); Gruber et al. (2000); Mandl & Gerstenmaier (2000); Reinmann & Mandl (2006) und Wahl (2006). Im Folgenden können selbstverständlich nicht alle Erklärungsansätze für „träges Wissen“ erschöpfend dargelegt werden, sondern es werden jene diskutiert, die für Interkomprehension vermutlich von besonderer Relevanz sind („unterschiedlichen Phänomenbereichen legen sich […] unterschiedliche Erklärungen für mangelnde Wissensanwendung nahe“; Renkl 1996: 84). Zudem sind nicht alle Erklärungen mit Interkomprehension vereinbar: So konnten für fremdsprachliche Lehrlernkontexte beispielsweise die Untersuchungen um Hecht (vgl. Hecht & Green 1992, 1993; Hecht & Hadden 1992) zwar zeigen, dass ‚normgerechte‘ Performanz auch ohne entsprechendes explizites Regelwissen möglich ist. Dennoch steht der Erklärungsversuch von trägem Wissen mit der Vorstellung von implizitem und explizitem Wissen „als getrennte Systeme“ (Renkl ebd.: 83) nicht im Einklang mit Interkomprehension, insbesondere wenn zusätzlich „unterschiedliche Lerngesetzmäßigkeiten“ (ebd.) angenommen werden. <?page no="61"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 47 einsetzen, die dann nichts bringen, werden sie sie auch nicht mehr einsetzen.“ (Renkl ebd.). Diese Strategien bleiben dann träges Wissen. Hier wird deutlich, dass sich der Begriff des „trägen Wissens“ nicht ‚allein‘ auf eine fehlende Anwendung deklarativen, sondern ebenfalls prozeduralen Wissens beziehen kann, ganz im Sinne des Kompetenzbegriffs des RePA (s. Abschnitt I 1.3). Auch motivationale Defizite wie geringe Selbstwirksamkeitserwartungen werden zu den Metaprozesserklärungen gezählt (ebd.). Hier liegen für Inter komprehensionsprozesse bereits einige Befunde vor (vgl. z.B. Bär 2009; Meißner & Morkötter 2009; Meißner 2010a: 212, 218; Reissner 2010: 100), die zeigen, dass Interkomprehension Lernern in hohem Maße die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ermöglicht und ihr Bild von sich selbst als Sprachenlerner positiv beeinflussen kann. Doch selbst bei einem äußerst positiven Selbstbild und großem Interesse am jeweiligen Gegenstand, also hier: dem Lernen von Sprachen, muss es nicht zu entsprechendem Handeln kommen, wenn volitionale Defizite interagieren. Diese beziehen sich auf den Umstand, dass „beim Menschen ständig verschiedene Wünsche, Neigungen und Handlungs impulse bestehen“ (Renkl 1996: 81). Strukturdefiziterklärungen: Strukturdefiziterklärungen betrachten die Möglichkeit, dass das Wissen selbst defizitär ist, d.h. nicht in einer Form vorliegt, in der es angewandt werden kann. Hier wird unter anderem mangelndes konzeptuelles Wissen, auch: „Verständniswissen“ (Renkl 1996: 82) genannt. Dieses führe dazu, dass vorhandenes Wissen situativ gebunden bleibt (ebd.). Ein Wissenstransfer werde erst möglich, wenn „konzeptuelle mentale Modelle“ (ebd.) bestehen, das Wissen sozusagen konzeptuell ‚durchdrungen‘ wurde. Bezogen auf fremdsprachliche Lehrlernkontexte 46 wäre die Gebundenheit von schülerseitigem Wissen an bestimmte Aufgabenformate ein Beispiel (etwa wenn Verbformen bei Konditionalsätzen in Lückentexten korrekt eingesetzt werden können, dieses Wissen jedoch beim freien Schreiben nicht zur Ver fügung steht). Das heißt: Das Wissen bleibt an den Kontext gebunden, in dem es gelernt wurde. Mögliche Gründe wären eine Folge eines lehrerseitigen teaching to the test-Verhaltens (Decke-Cornill & Küster 2010: 153) und/ oder ein schülerseitiges mechanisches Auswendiglernen. Letzteres kann sich auch in einer unflexiblen Handhabbarkeit des sprachlichen Wissens innerhalb eines Aufgabenformats äußern (etwa wenn ein Zusammentreffen von Irrealis der Vergangenheit und Gegenwart Schüler verwirrt in Konditionalsätzen des Typs: S’il avait fait attention, il ne serait pas à l’hôpital., in denen die Folge der Bedingung in der Gegenwart noch andauert, oder beispielsweise die Tatsache, 46 Ein in der Psychologie verwendetes Beispiel ist eine Person mit geringen Kocherfahrungen, die gezwungen ist, sich genau an ein Rezept zu halten, und nicht eigenständig variieren kann (ebd.). <?page no="62"?> 48 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht dass in der indirekten Rede aujourd’hui nicht ‚automatisch’ zu ce jour-là wird, wenn diese noch an demselben Tag stattfindet usw.). Daher wird insbesondere im Rahmen der Longitudinalstudie zu fragen sein, inwieweit Wissen flexibel und in unterschiedlichen Kontexten eingesetzt wird. Wissenskompilierung und -kompartmentalisierung: Des Weiteren werden Strukturdefizite auf eine mangelnde Wissenskompilierung (Renkl 1996: 82-83) zurückgeführt. Bei einer Wissenskompilierung wird - in Anlehnung an Andersons (1983) ACT*-Theorie - aus deklarativen Wissensbeständen „eine prozedurale Repräsentation einer Fertigkeit generiert“. Andersons Modell ist zwar teilweise mit Erklärungsansätzen für eine Veränderung von Handlungswissen durch Interkomprehension vereinbar (vgl. insbesondere die letzte Stufe der Feinabstimmung des prozeduralen Wissens durch Generalisierungs-, Diskriminierungs- und Stärkungsprozesse; vgl. Renkl 1996: 83), in seinen Grundzügen jedoch nicht. Die Unvereinbarkeit zeigt sich insbesondere in der Funktion von Interkomprehension als einer language and language learning awareness raising strategy (z.B. Meißner 2010e: 34; Schröder- Sura 2011: 341). Das Ziel, mentale Verarbeitungsprozesse für Lerner zu explizieren und greifbar zu machen, steht nicht im Einklang mit Andersons Modell, das stets von deklarativem Wissen als Ausgangspunkt ausgeht (De Florio- Hansen 1997: 149; Grotjahn 1997: 46) 47 . Doch ist zu fragen, inwieweit sich in der Longitudinalstudie Fälle von tuning (vgl. auch Rumelhart & Norman 1978) wie Prozesse der Generalisierung oder Diskriminierung von Strategien und Prozeduren feststellen lassen. Denn: Einerseits herrsche in schulischen Kontexten, so die Annahme, eine Vermitt lung deklarativen Wissens vor (Renkl 1996: 82, 2004: 7-8). Andererseits ist es - bezogen auf Fremdsprachenunterricht - angesichts der noch erweiterungs- und verbesserungsbedürftigen Berücksichtigung des savoir apprendre in Lehr werken 48 Schülern kaum möglich, die Anwendungsbreite ihres strategischen Wissens zu erhöhen oder dessen Anwendungsbedingungen (genauer) auszu loten. In diesem Zusammenhang spielt selbstverständlich auch stark vorstruktu rierter und eng führender Input eine Rolle. Hier ist ein Erklärungsansatz an gesprochen, den die pädagogische Psychologie „Wissenskompartmentalisie rung“ (Mandl et al. 1993) nennt. Diesem Ansatz zufolge: „werden All tagswissen und schulisches Wissen in unterschiedlichen „Schubladen“ abge speichert und nicht miteinander in Verbindung gebracht“ (Renkl 1996: 84; An führungszeichen im Original). Diese „Schubladen“ sind bezogen auf Fremd sprachenunterricht (vgl. die Befunde von Behr 2007) eben gerade durch den 47 Im Kontext von Grammatikerwerb wird Andersons Modell mit einer starken Interface- Position assoziiert (vgl. Raabe 2005: 277-278). 48 Vgl. z.B. die von Martinez & Schröder-Sura (2011: 76-77) geäußerte Kritik an einer „prototypischen Aktivität“ (ebd.) in Abschnitt I 1.2. <?page no="63"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 49 geringen (oder gar nicht vorhandenen) Einbezug des lernerseitigen auch außerhalb der Schule erworbenen (Vor-) Wissens zu erklären 49 . In diesem Zusammenhang sei an die eingangs zitierte Definition von „trägem Wissen“ erinnert, die einen mangelnden oder fehlenden Transfer auf andere Fächer (vgl. Renkl 2004: 5-6; s.o.) mit einschließt, was im Kontext von Sprachunter richt eine Folge von Einzelsprachorientierung im Unterricht sein könnte. Um „trägem Wissen“ auf die Spur zu kommen und es für Lerner in „selbst-regula tiven Prozessen“ (Wenden 1998, 1999) anwendbar zu machen, kommt in der Interkomprehensionsdidaktik dem dialogue pédagogique (vgl. Meißner 2008c: 239 und Abschnitt II 4.) eine zentrale Bedeutung zu. Das Modell von Metakognition nach Wenden Wenden (2001: 63) fasst in ihrem Modell die Relation von Metakognition und Selbstregulation folgendermaßen: „Metacognitive knowledge is a prerequisite to the development of […] self-regulatory processes. It is the basis for planning and monitoring.”. So ist zu fragen, inwieweit auch frühe Interkomprehension dazu beitragen kann, dass Schüler metakognitives Wissen aufbauen und selbstregulative Prozesse zur Förderung der eigenen sprachlichen Fähigkeiten nutzen können. Dass dies eine wichtige Frage ist, zeigen Bärs (2009: 514) Befunde zu den jüngsten seiner Probanden, Schüler der achten Jahrgangsstufe 50 : Auch eine Mehrheit der Achtklässler ist der Meinung, dass ein Unterricht, der die Schüler vermehrt zum eigenständigen Bilden und Testen von Hypothesen anregt, langfristig ‚mehr‘ bringt; allerdings zeigen sich die jüngeren Schüler - vermutlich infolge ihres langjährigen Unterrichtserlebnisses - dennoch zumeist sehr lehrerzentriert und wünschen sich klare Vorgaben. Auch auf der Ebene des konkreten Vorgehens der jüngeren Schüler bei der Hypothesenbildung und -prüfung konnte Bär (2009: 515) beobachten: Es ist auffällig, dass vor allem die Schüler der Klassenstufe 8 häufig nur auf Nachfrage bzw. Anweisung des Lehrers die genannten Strategien [= sämtliche Erschließungsstrategien mit Ausnahme der interlingualen; StM] punktuell beachten und im Rahmen eines konkreten ‚Falls‘ umsetzen, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit aber wieder nicht berücksichtigen bzw. außer Acht lassen. 49 Renkl (2004: 5) nennt als Beispiel für Wissenskompartmentalisierung die Frage: „Wie hoch ist die Wassertemperatur in einem Behälter, wenn ich einen Liter Wasser mit 80 Grad und einen Liter Wasser mit 40 Grad hineinschütte? “, die die meisten Fünftklässler mit „120 Grad“ beantworten, obwohl sie vermutlich bereits im Kleinkindalter Erfahrungen mit der Unterscheidung von „heiß“ und „kalt“ gemacht haben dürften. 50 Zu weiteren Befunden aus Bärs (2009) Untersuchung s. Abschnitt I 2.4. <?page no="64"?> 50 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Diese Beobachtung Bärs ließe sich mit der Unterscheidung von deklarativem metakognitivem Wissen und prozeduralem metakognitivem Handlungswissen (s.o.) erklären. Die jüngeren Schüler sind zwar in der Lage „die genannten Strategien“ in einer konkreten Situation bzw. bei einer bestimmten Textstelle („Fall“) anzuwenden, wenn der Lehrer sie explizit darauf aufmerksam macht (deklarativer Wissensaspekt). Sie verfügen jedoch (noch) nicht über das notwendige prozedurale Handlungswissen, um sie zielgerichtet auf andere (ähnliche) Anforderungen übertragen zu können. In diesem Zusammenhang sei auch an Haastrups Ergebnis erinnert, demzufolge die jüngeren Schüler eine Wissensquelle selten dem Itemtyp anpassen, während die Sek. II-Gruppe Flexibilität in der Anpassung der Inferenzprozeduren an die Item-Typen zeigt (1991: 110, 158). Bärs Befunde müssen für frühe Interkomprehension insofern zu denken geben, als junge Lerner zu Beginn der Sekundarstufe noch nicht über dasselbe Maß an (potenziellen) interlingualen Transferbasen verfügen wie die Achtklässler seiner Probanden und erst recht nicht wie noch ältere Lerner und daher auf weitere Erschließungsstrategien stärker angewiesen sind. Meißner (2011b: 280) äußert sich hierzu folgendermaßen: Moins une langue est transparente, plus l’organisation mentale du transfert exige une recherche « vaste » et plus le guidage menant à un transfert activera les ressources autres que linguistiques. Dans ces cas, ces formats de tâches suscitent des activités métacognitives de l’apprenant: à savoir la planification, l’exécution et le contrôle des processus activés. Les formats correspondent aux stratégies qui sont régulièrement mentionnées avec l’autonomisation de l’apprenant (autogestion; auto-efficacité; auto-estimation; contrôle des activités en rapport avec telle ou telle tâche d’apprentissage, supports linguistiquespédagogiques (dicos, glossaires, web, etc.)). Wenden (1998, 1999) unterscheidet in ihrem Modell zwischen metacognitive strategies und metacognitive knowledge. Sie definiert den Begriff des „metakognitiven Wissens” wie folgt (1998: 517): 1. a part of a learner's store of acquired knowledge 2. relatively stable and statable 3. early developing 4. a system of related ideas 5. an abstract representation of a learner's experience Ihre Unterscheidung von metakognitivem Wissen und metakognitiven Strategien (ebd.: 519) erinnert an die zwei Metakognitionstypen im Modell von Flavell & Wellman (1977; s.o.): „Metacognitive knowledge refers to information learners acquire about their learning, while metacognitive strategies are general skills through which learners manage, direct, regulate, guide their learning, i.e. planning, monitoring and evaluating.” Wenden bezeichnet metakognitive <?page no="65"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 51 Strategien auch als „self regulation” und betont „the role of external/ social factors in the development and exercise of self-regulation, in contrast to the internal ones, such as metacognitive knowledge” (ebd.: 532). Was den Erwerb metakognitiven Wissens betrifft, nimmt Wenden (1999: 436) an, dass dieses auf der einen Seite unbewusst durch Beobachtung und Imitation erworben werden könne, auf der anderen Seite jedoch auch bewusst, indem Lerner von Lehrern, Eltern oder peers Ratschläge über das Lernen erhalten und zu ihrem eigenen Lernen in Verbindung setzen. Auch könne, Wenden zufolge, deklaratives metakognitives Wissen aus Selbstbeobachtung und Reflexion über den eigenen Lernprozess entstehen. Voraussetzung hierfür sei allerdings eine gewisse kognitive Reife: „As they gain in cognitive maturity, learners may reflect on their learning process and revise earlier assumptions or develop new ones“ (ebd.). Auch der Erwerb prozeduralen metakognitiven Wissens ist ungeklärt. So wird die grundsätzliche Frage nach lernerseitiger Bewusstheit von manchen Forschern darüber hinaus nach unterschiedlichen metakognitiven Aktivitäten (z.B. passim: Martinez 2008) differenziert. Bei bestimmten Aktivitäten wie der Planung der eigenen Handlungen sei eine bewusste Herangehensweise erforderlich, wohingegen bei anderen kaum Bewusstheit notwendig sei. In jenen Fällen werden Handlungen dem Lernenden erst dann bewusst, wenn beispielsweise Schwierigkeiten oder ein unerwartetes Ereignis oder Ergebnis auftreten (Veenman 2005: ebd.). Untersuchungen zu Unterschieden von Novizen- und Expertenlernern (Renkl 2000) zeigen, dass bei Expertenlernern Handlungspläne automatisiert ablaufen. Sie sind zudem in der Lage, erfolgsversprechende Merkmale zielgerichtet zu identifizieren und zu mobilisieren (vgl. auch Meißner & Morkötter 2009). Wenden (1998: 518-519) hat in ihrem Modell die Differenzierung einer personenbezogenen, aufgabenbezogenen und strategischen Komponente metakognitiven Wissens auf Fremdsprachenlernen übertragen: Der Begriff des personenbezogenen Wissens (person knowledge) bezieht sich auf allgemeines erworbenes Wissen über Faktoren, die Lernen erleichtern oder erschweren können. Hierzu zählt Wenden beispielsweise kognitive und affektive Variablen, von denen die Spracherwerbsforschung annimmt, dass diese den Erwerb beeinflussen wie das Alter oder Motivation (vgl. ebd.). Person knowledge schließt auch Wissen von Lernern darüber ein, in welcher Weise Faktoren wie die genannten auf ihre eigenen Erfahrungen anwendbar sind. Vor allem aber beinhaltet die Kategorie des person knowledge die lernerseitige Wahrnehmung von ihrer Selbstwirksamkeit, von ihrer Fähigkeit, Ressourcen zu mobilisieren und zu steuern, die für das Lernen und die Aufrechterhaltung einer Lernbereitschaft notwendig sind. Hier zeigt sich eine Schnittmenge der Konzeptionen von person knowledge und savoir être. <?page no="66"?> 52 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Aufgabenbezogenes Wissen (task knowledge) besteht nach Wenden (vgl. ebd.) aus drei Facetten: das Wissen von Lernern über den Zweck einer Aufgabe und darüber, inwieweit sie ihren eigenen sprachlichen Bedürfnissen entspricht (z.B. die Verbesserung ihrer Schreibfertigkeit oder der Ausbau ihres Wortschatzes), das Wissen über die Beschaffenheit einer bestimmten Aufgabe als Resultat eines Klassifikationsprozesses und das Wissen über die Erfordernisse einer Aufgabe, von jener des Lernens allgemein bis hin zu dem Wissen, wie man an eine bestimmte Aufgabe herangeht und welches Wissen und welche Fertigkeiten sie erfordert. Bezogen auf eine bestimmte Aufgabe zieht Wenden darüber hinaus den Begriff des domain knowledge heran: Domain knowledge refers to what the learner knows about the subject matter of the learning. […] It also includes knowledge about the manner in which this information is communicated, i. e. the structure of the discourse used to organize it. […] Knowledge of vocabulary and world/ content background knowledge are examples of domain knowledge FL/ SL learners need for fluent reading (ebd.). Aus diesen Ausführungen Wendens wird deutlich, dass der Begriff des domain knowledge von ihr sehr weit gefasst wird (vgl. insbesondere das oben angeführte Wissen über the subject matter, the structure of the discourse, the vocabulary, the world background knowledge, the content background knowledge). Dies spricht dafür, als Grundlage für die Analyse (insbesondere der Longitudinalstudie) verschiedene Modelle unterschiedlichen Ursprungs heranzuziehen, wobei im Falle der vorliegenden Untersuchung insbesondere die konkreter greifende Transfertypologie der Interkomprehensionsforschung und -didaktik (Meißner 2002, 2007a) im Vordergrund steht. Erwähnt werden sollten jedoch die von Wenden im Rahmen des task knowledge differenzierten Schritte der task analysis, der lernerseitigen Analyse einer Aufgabe (vgl. Wenden 1999: 437), bei der Lerner ihr metakognitives Wissen einsetzen, um: die Beschaffenheit des von der Aufgabe gestellten Problems zu identifizieren, zu überlegen, ob sie einer Aufgabe, die sie bereits durchgeführt haben, ähnlich ist, und zu bestimmen, wie sie die Aufgabe angehen, sowie das Wissen und die Fähigkeiten, die sie hierfür benötigen. Die strategische Komponente metakognitiven Wissens (strategic knowledge) definiert Wenden wie folgt: „Strategic knowledge refers to general knowledge about what strategies are, why they are useful, and specific knowledge about when and how to use them.” (ebd.: 519). <?page no="67"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 53 Es ist zu fragen, inwieweit sich metakognitives Wissen nach dem Modell von Wenden bei jungen Lernern nachweisen lässt. Was ihre Differenzierung in strategisches (strategic knowledge), aufgabenbezogenes (task knowledge) und personenbezogenes (person knowledge) Wissen angeht, kann vermutet werden, dass bei jungen Lernen (insbesondere) das personenbezogene Wissen nicht oder nur sehr begrenzt vorhanden ist, da diese ja erst im Begriff sind, sich als Fremdsprachenlerner kennenzulernen. Sowohl Wendens Auffassung von strategic knowledge als auch Flavells Definition von Metakognition fassen sehr weit: „Metacognition refers to one’s knowledge concerning one’s own cognitive processes or anything related to them.“ (s.o.; Hervorhebung: StM). Insbesondere Flavells Begriffsbestimmung weicht in dieser Hinsicht ab von bekannten Strategie-Typologien wie jene von O’Malley & Chamot (1990) und Oxford (1990). Oxford (1990) zählt metakognitive Strategien neben affektiven und sozialen Strategien zu den sogenannten indirekten Strategien. Sie äußert sich zum Begriff “metakognitiv” wie folgt (ebd.: 136): “Metacognitive” means beyond, beside, or with the cognitive. Therefore, metacognitive strategies are actions which go beyond purely cognitive devices, and which provide a way for learners to coordinate their own learning process. Metacognitive strategies include three strategy sets: Centering Your Learning, Arranging and Planning Your Learning, and Evaluating Your Learning. (...) Metacognitive strategies are essential for successful language learning. Ihre Nebenordnung von metakognitiven, affektiven und sozialen Strategien, die auch entsprechend graphisch wiedergegeben wird (ebd.: 16): I. Metacognitive Strategies Indirect Strategies II. Affective Strategies III. Social Strategies verwundert etwas angesichts ihrer weiter fassenden Formulierung “beyond, beside, or with the cognitive”, was ja durchaus soziale und/ oder affektive Aspekte mit einschließen kann 51 . Ihr Klassifikationsmodell ist in dieser Hinsicht nicht mit der Modellierung von Sprachlernkompetenz als einer transversalen Kompetenz (s. Einleitung) vereinbar. So können metakognitive Strategien im Sinne einer Planung, Beobachtung und Evaluation des eigenen (sprachlichen) 51 Oxford (1990: 14-16) geht zwar ebenfalls auf das Thema einer wechselseitigen Unterstützung („mutual support“) der Strategien bzw. Strategiekategorien ein, jedoch nur mit Bezugnahme auf eine Wechselbeziehung von direkten und indirekten Strategien. <?page no="68"?> 54 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Handelns nicht ,nur‘ Handlungen betreffen wie das Ziel einer sprachlichen Aufgabe zu identifizieren (vgl. Oxford 1990: 137), sondern ebenfalls beispielsweise sich zu ermutigen (vgl. ebd.: 141), die in Oxfords Modell den affektiven Strategien zu- und metakognitiven Strategien nebengeordnet würden. Eine Selbstbeobachtung und Reflexion eines Lerners darüber, wie er sich in einer sprachlichen Kommunikations- oder Lernsituation am besten ermutigen kann, sowie die Einschätzung, inwieweit dies gelungen ist, gehören ebenso der Metakognition an wie die Fähigkeit, das Ziel einer Sprachaufgabe zu identifizieren. Die angesprochene Frage der Selbst-Ermutigung in einer Kommunikationssituation oder auch beispielsweise die Frage, welcher Lernpartner (Mitschüler, Eltern, Muttersprachler) einen Schüler seiner Wahrnehmung zufolge am besten unterstützen kann, zeigen, dass auch die soziale Ebene betroffen ist. Eine ähnliche nebenordnende Klassifikation wie bei Oxford (1990) findet sich auch bei O’Malley & Chamot (1990: 137ff.), die zwischen metakognitiven, kognitiven sowie sozial-affektiven Strategien differenzieren. Im Bereich der Kompetenzmodelle weist die Interkomprehensionsdidaktik eine besondere Nähe zum Modell des Referenzrahmens für Plurale Ansätze 52 zu Sprachen und Kulturen − RePA) auf, das ebenfalls von Sprachlernkompetenz als einer transversalen Kompetenz ausgeht und im Folgenden dargestellt wird. Interkomprehension als konstitutives Element des Referenzrahmens für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (RePA) Ein traditionelles Kompetenz- und Progressionsmodell, das von einer einheitlichen und parallelen Progression in allen Kompetenzbereichen ausgeht, ist nicht mit Interkomprehensionsdidaktik vereinbar: Hierzu führt Meißner (2010e: 30-31) mit Bezugnahme auf Spanisch als Tertiärsprache aus: Interkomprehensiv orientierter, das heißt lernerseitig relevantes Vorwissen mobilisierender Spanischunterricht trägt der Tatsache Rechnung, dass Menschen − auch die Lerner einer fremden Sprache − immer viel mehr verstehen, als sie selbst korrekt sagen oder schreiben können. Diese Beob achtung macht zugleich den Steuerungsfehler eines Sprachunterrichts deutlich, der die bereits vorhandenen rezeptiven Kompetenzen der Lerner faktisch ausklammert und so den Sprachbegriff praktisch auf das von der ‚Lernintention‘ dominierte Sprechen und Schreiben (‚uneigentliches Spre chen‘ ohne reales Mitteilungsmotiv) verkürzt. Der Fehler wird umso gravierender, je mehr relevantes Vorwissen zur Verfügung steht. 52 Neben interkulturellem Lernen, der integrativen (bzw. auch „integrierten“) Sprachendidaktik und dem éveil aux langues ist Interkomprehension einer dieser „Pluralen Ansätze“, auf deren Grundlage der Referenzrahmen entwickelt wurde. <?page no="69"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 55 Niveaustufe A1 A2 B1 B2 C1 C2 Lesen Hörverstehen Schreiben Sprechen Traditionelles Progressionsschema im FU (Meißner 2004c: 156) Niveaustufe A1 A2 B1 B2 C1 C2 Lesen Hörverstehen Schreiben Sprechen Interkomprehensiv basiertes Progressionsschema im FU (nach Meißner 2010e: 31) Abb. 3: Traditionelles und interkomprehensiv basiertes Progressionsschema im Fremdsprachenunterricht So ist zu fragen, inwieweit das abgebildete interkomprehensiv basierte Progressionsschema bereits - selbstverständlich in entsprechend abgewandelter Form, was konkrete Niveaustufen anbelangt − für eine erste oder zweite Fremdsprache gelten kann. Hier wäre an deutschsprachliche Transferbasen für das Englische (vgl. water „Wasser“, break „brechen“ usw.) bzw. Französische (jardin „Garten“, salle „Saal“) oder an romanische Wortschatzanteile im Englischen zu denken, die für einen Transfer zwischen Fremdsprachen (z.B. adventure aventure, success succès oder umgekehrt) zur Verfügung stünden 53 . Dass sich rezeptive Kompetenzen umfassender und rascher aufbauen als produktive, gilt selbstverständlich nicht allein für den Tertiärsprachenbereich, wobei im vorliegenden Kontext junger Lerner vor allem auch die mentalen Operationen des Transfers an sich (savoir faire, savoir apprendre) im Mittelpunkt stehen. Für das Kompetenzmodell des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens wird eine Vernachlässigung des Bereichs der Sprachlernkompetenz 54 kritisiert (Meißner 2005d: 192; s. auch Bredella 2005: 49): Ich kann-Beschreibungen fassen […] zu kurz, wenn es um die Sprachenlern kompetenz, um Selbststeuerung, Autonomisierung und um attitudinale Ziele 53 Diese Beispiele sollen selbstverständlich keine Beschränkung auf den lexikalischen Bereich implizieren. 54 Darüber hinaus wird auf eine mangelnde Berücksichtigung des interkulturellen Lernens und literarischer Texte hingewiesen (vgl. Bredella 2005: 48; Burwitz-Melzer 2005: 60-61 und weitere Beiträge in Bausch et al. 2005). <?page no="70"?> 56 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht geht. […] Die Prozessorientierung war nicht zuletzt von dem Gedanken bestimmt, dass vor allem der Weg zu einem Ergebnis (modisch: Output) Erfah rungsstrecken eröffnet, auf denen Problemlösungs- und Lernkompetenz ent wickelt werden. Gerade reflektierte Prozesse können wertvolles know-how und Selbstkompetenz lehren und gerade deshalb auch ‚an sich‘ Lernziel sein. An dieser Stelle soll daher der Begriff der „Sprachlernkompetenz“ im Kompetenzmodell des Referenzrahmens für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (RePA) noch etwas genauer beleuchtet werden. Der Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (RePA), im Französischen: Cadre de Référence pour les Approches Plurielles des Langues et des Cultures (CARAP), wurde im Rahmen des gleichnamigen, von Michel Candelier (Université du Mans) pilotierten Projekts des Europäischen Fremd sprachenzentrums in Graz entwickelt. Er versteht sich als eine Ergänzung des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeR), des Euro päischen Sprachenportfolios, des Guide for the development of language edu cation policies in Europe (Europarat 2007) sowie des Guide for the development and implementation of curricula for plurilingual and intercultural education (Europarat 2010) in den Bereichen der Sprachlernkompetenz (savoir apprendre) und des interkulturellen Lernens 55 . Während dem GeR vorgeworfen werden kann (und wurde; vgl. Beiträge in Bausch et al. 2003, 2005), dass das ihm zugrunde liegende Kompetenzmodell und seine Deskriptoren prinzipiell auch auf eine einzige Fremdsprache beziehbar wären, möchte der RePA ausdrücklich zu einer mehrsprachigen und mehrkulturellen Erziehung beitragen (Martinez & Schröder-Sura 2011: 66). Dementsprechend liegt ihm ein integratives, nicht additives Verständnis von Mehrsprachigkeit(serwerb) zugrunde. Sprachlernkompetenz erscheint hierbei, wie bereits in der Einleitung angesprochen, als eine Handlungskompetenz, eine Integrations-, Mobilisierungs- und Transferkompetenz, die in einem gege benen Kontext ein Ensemble von Ressourcen (Kenntnisse, Haltungen, Atti tüden [Fähigkeiten], Überlegungen) umfasst, um ein Problem oder eine Aufgabe zu lösen, […] die Kompetenz [besteht] nicht additiv aus der Kenntnis der Ressourcen, sondern in der Mobilisierung der Ressourcen an sich. Kompetenz ist daher immer eine Mobilisierungskompetenz (savoir mobiliser). (RePA 2010: 17; vgl. auch Meißner 2011c: 80) Im Gegensatz zum GeR formuliert der RePA in seinen Deskriptoren keine „Ich kann“-Beschreibungen im Sinne einer Outputorientierung, sondern versucht, die einer mehrsprachigen und mehrkulturellen Kompetenz zugrunde liegenden Kompetenzen und Ressourcen so detailliert wie möglich zu beschreiben, um diese hierdurch sichtbar(er) und pädagogisch fassbar zu machen. Zur Rela- 55 Für weitere Informationen s. auch: http: / / carap.ecml.at, für eine für die Unterrichtspraxis adaptierte Fassung s. Meißner (2013). <?page no="71"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 57 tion von „Kompetenzen“ und „Ressourcen“ äußern sich Martinez & Schröder- Sura (2011: 71) wie folgt: Kompetenzen und Ressourcen sind nicht immer trennscharf und dadurch relativ schwer voneinander abzugrenzen. Ihre Beziehung kann als ein Kontinuum zwischen komplexen Elementen (Kompetenzen) und einfachen Elementen (Ressourcen) verstanden werden. Während Kompetenzen komplex und situationsabhängig sind, können Ressourcen bis zu einem gewissen Grad isoliert werden. Sie lassen sich im Hinblick auf den Grad ihrer Beherrschung definieren und vor allem können sie in einem Sprachlehr-/ lernprozess […] aufgebaut werden. Demnach können Ressourcen, die sich zwischen den Endpunkten des Kontinuums befinden, selbst wiederum als eine Kompetenz verstanden werden, wenn sie Ressourcen auf einer niedrigeren Ebene aktivieren (vgl. ebd.). Die Komplexität und Situationsabhängigkeit von Kompetenzen, die je nach zu bewältigender Aufgabe und individuellem Lerner eine Aktivierung immer wieder anderer konkreter Ressourcen in unterschiedlicher Kombination erfordern, soll im Folgenden durch ein (stark vereinfachtes) Beispiel illustriert werden: Steht ein Lerner vor der Anforderung, das noch ‚unbekannte‘ Lexem posibilidad zu erschließen, so muss er beispielsweise auf der Ebene des savoir sein deklaratives Wissen, dass er sich hierbei auf sprachliche Ähnlichkeiten stützen kann, aktivieren. Dies allein reicht jedoch noch nicht aus. Um im spanischen Wort posibilidad das ihm bekannte englische Lexem possibility oder das französische possibilité erkennen zu können, muss er möglicherweise ebenfalls das Morphem -idad identifizieren (savoir faire; ein „geschriebenes Morphem […] identifizieren“ können 56 ) und dieses Können mit der Ressource aus seinem deklarativen Wissen kombinieren können. Da jedoch Kompetenzen - im Einklang mit Weinerts (2001: 27f.) Kompetenzbegriff - nicht allein aus kognitiven, sondern ebenfalls volitionalen, sozialen und motivationalen Ressourcen bestehen, ist es vielleicht auch notwendig, dass sich der Lerner zu einer solchen sprachlichen Beobachtung und Analyse motiviert (savoir être; „Motivation zur Beobachtung und Analyse von […] sprachlichen oder kulturellen Phänomenen“). Dies ist bei einem anderen Lerner möglicherweise weniger erforderlich, dieser hat jedoch größere Schwierigkeiten, im Lexem posibilidad Transferbasen zu identifizieren, so dass eine stärkere Aktivierung von Ressourcen auf den Ebenen des savoir und savoir faire notwendig wird etc. Schließlich hängen die zu mobilisierenden Ressourcen immer auch von der konkreten Aufgabe und deren Ziel ab, in diesem Fall zum Beispiel hinsichtlich der Frage, ob das Lexem posibilidad nur verstanden werden oder im Folgenden auch für Sprachproduktion zur Verfügung stehen soll. 56 http: / / carap.ecml.at/ Descriptorsofresources/ Skills/ tabid/ 2657/ language/ de- DE/ Default.aspx (zuletzt aufgerufen am 08.07.2015). <?page no="72"?> 58 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Auch wenn diese Darstellung stark vereinfachend ist, so deutet sich dennoch die Komplexität von Kompetenzen im Gegensatz zu Ressourcen an, die „bis zu einem gewissen Grad isoliert [und] in einem Sprachlehr-/ -lernprozess aufgebaut werden [können]“ (Martinez & Schröder-Sura 2011: 71; vgl. das Zitat oben). Ein Beispiel aus der Interkomprehensionsdidaktik ist das Aufgabenformat der lexikalischen Serien 57 , das sich durch eine Auseinandersetzung mit Morphemreihen wie -idad, -ità, -ité, -ity oder -ación, -azione, -ation, -ation usw. dem Aufbau eben dieser Ressource aus dem Bereich des savoir faire: ein geschriebenes Morphem identifizieren können widmet. Schließlich und vor dem Hintergrund des Fokus’ der vorliegenden Untersuchung auf Sprachlernkompetenz ist die „besondere Definition von savoirapprendre, die sich einer Verkürzung der „Methodenkompetenz“ (vgl. KMK 2003) entgegen stellt.“ (Martinez & Schröder-Sura 2011: 70), zu erwähnen. Das Besondere liegt in der Auffassung von savoir apprendre als einer Kompetenz, die sich sowohl aus deklarativen als auch prozeduralen und personenbezogenen Bestandteilen zusammensetzt. Diese weite Auffassung des Begriffs ist notwendig im Hinblick auf eine Abkehr eines Verständnisses von savoir apprendre als einer Kompetenz, die sich etwa über ein Abfragen von „Wissen über Lern- und Arbeitstechniken“ (ebd.: 73) erfassen ließe. Abb. 4: Savoir apprendre als eine transversale Kompetenz So entspricht das Bild von einem Lehrer als einem Vermittler von ‚Lerntechniken‘, die Schüler dann aufnehmen und anwenden, genau der Gleichsetzung von Lehrbarkeit und Lernbarkeit, die Wolff (2002: 19) als eine „instruktivistische Grundeinstellung“ bezeichnet hat, in diesem Fall nur eben nicht auf beispielsweise formalen Grammatikunterricht bezogen, sondern auf Lern- und Arbeitstechniken. In diesem Sinne hat Sharwood Smith (1993: 176) bereits zu 57 Zu diesem und weiteren Aufgabenformaten der Interkomprehensionsdidaktik s. Abschnitt II 4. <?page no="73"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 59 Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts seinen Ansatz des „consciousness-raising“ durch den Begriff des „input enhancement“ ersetzt: „Consciousness-raising implies that the learner’s mental state is altered by the input; hence, all input is intake. Input enhancement implies only that we can manipulate aspects of the input but make no further assumptions about the consequences of that input on the learner.“ Zudem hat er ihn um die Konzeption des “self-generated input enhancement” (1991: 129; Hervorhebung: StM) durch den Lerner erweitert. Selbstverständlich benötigen (insbesondere jüngere bzw. noch sprachlernunerfahrenere) Schüler entsprechende Impulse und von der Lehrkraft geschaffene Lernumgebungen, doch hat das Lernen des Lernens im ‚traditionellen‘ Fremdsprachenunterricht bislang kaum Beachtung gefunden (vgl. z.B. Bär 2009: 511 58 ). Den Grund hierfür sieht Meißner (2011c: 77) in der Vorstellung, dass sich Sprachlernkompetenz gewissermaßen als ein Nebenprodukt ‚von selbst‘ aufbaue: „Die irrige Meinung war: wer etwas weiß, weiß auch, wie genau dieses Wissen zu erwerben ist. Der eigentliche Prozess des Lernens (und Lehrens) blieb ausgeblendet.“ Dass die Interkomprehensionsdidaktik in ihren grundlegenden Prinzipien mit Kompetenzorientierung im Einklang steht, zeigt ein Vergleich der Merkmale von Interkomprehensionsunterricht, wie sie Bär (2006b: 376-377) zusammengefasst hat, mit den von Feindt (2010: 86-88) herausgearbeiteten Charakteristika von kompetenzorientiertem Unterricht: Kompetenzorientierter Unterricht Interkomprehensionsunterricht Individuelle Lernbegleitung Die Lerner sollen alles, was sie selbstständig tun können, selbstständig tun (learning by doing). Die Lehrperson ist weniger Instruktor, sondern mehr (individueller) Lernberater (language acquisition facilitator). Metakognition und Selbstwirksamkeit Für die Lerner wird eigenes sprachliches und strategisches Wissen erfahrbar. Sie sprechen über ihre Lernwege (Sprachlernkompetenz, didaktischer Transfer). Vernetzung von Wissen und Fertigkeiten Die Lerner nehmen Sprachvergleiche vor. Ihnen werden inter- und intralinguale Korrespondenzregeln bewusst. Der Transfer hat sowohl proaktive als auch retroaktive Wirkungen (die Förderung von multi-language-learning-awareness). 58 Mehr als die Hälfte (57%) der in seine Studien einbezogenen Schüler gaben an, „bislang noch nie mit diesem Thema [= das Lernen des Lernens von Sprachen; StM] im Unterricht konfrontiert worden zu sein“ (ebd.). <?page no="74"?> 60 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Kognitive Aktivierung Es handelt sich hierbei um einen konstruktiven Prozess. Mit Einsatz ihres (Vor-)Wissens formulieren die Lerner Hypothesen über die Lexik und die Grammatik der Zielsprache. Sie begegnen neuen Herausforderungen, die die Mobilisierung von Ressourcen erfordern. Üben und Überarbeitung Die Hypothesengrammatik ist systematisch, aber auch dynamisch, da sie sich mit jeder sprachlichen Handlung verändert. Die Lerner wenden ihr strategisches Wissen in neuen Kontexten an (Prozess-, nicht Produktorientierung). Lebensweltliche Anwendung Lerner setzen ihr deklaratives und prozedurales Wissen ein, um Texte in einer ihnen ‚unbekannten ‘ Zielsprache zu verstehen. Sie aktivieren „Wissen, Können und Wollen“ (Feindt 2010: 88). Tab. 3: Merkmale von kompetenzorientiertem und interkomprehensivem Unterricht (Bär 2006b; Feindt 2010) Neben einem Aufbau von Sprach(lern)kompetenz geht es vor allem auch um die lernerseitige Wahrnehmung ihrer Kompetenzen und Selbstwirksamkeit. So kann Interkomprehensionsunterricht, wie erwähnt, zu einer Stärkung von Selbstwirksamkeitserfahrungen von Schülern beitragen und sich ebenfalls positiv auf ihre Einstellungen gegenüber Sprachen und dem Sprachenlernen allgemein auswirken (vgl. Meißner 2010a: 212, 218, 2010e: 30). Dies ist von Bedeutung, um dem vorzubeugen, was Düwell (2002: 177-178) „motivationale Interferenz“ nennt. Interkomprehension zur Prävention von motivationaler Interferenz? Zwischen 2005 und 2007 wurde eine internationale Vergleichsstudie: Pour le multilinguisme: Exploiter à l’école la diversité des contextes européens. (Androulakis et al. 2007) durchgeführt, an der auch EuroComDidact beteiligt war (Meißner 2011h: 65-66). Ihr Ziel war, Einblicke in Einstellungen von Kindern und Jugendlichen gegenüber Sprachen mit unterschiedlichem Status und in die Motivation junger Lerner, kommunikative Kompetenz in mehreren Sprachen zu entwickeln, zu gewinnen. Die internationale Vergleichsstudie gibt Aufschluss über Attitüden von Fünft- und Neuntklässlern gegenüber Sprachen und Sprachenlernen. In fünf europäischen Ländern - Belgien, Deutschland, Griechenland, Luxemburg und Polen - wurde mittels einer paper-pencil- Befragung ermittelt, wie Schüler zum erhaltenen Fremdsprachenunterricht stehen und welche zukünftigen Vorstellungen, Bedürfnisse und Wünsche sie <?page no="75"?> 1. Interkomprehension als ein Konzept zur Förderung von Sprachlernkompetenz 61 haben. Das von der Europäischen Kommission finanzierte Projekt wurde in jeweils zwei Zonen pro Land durchgeführt, für die die Ergebnisse dieser quantitativen Studie repräsentativ sind 59 . Die deutschen Daten wurden in einer eher ländlich-kleinstädtischen Region, in der sog. NUT 3-Zone Gießen/ Limburg- Weilburg, bei 624 Schülern, und in der NUT 2-Zone Berlin bei 619 Schülern erhoben (Meißner et al. 2009: 65ff., 83ff.; Schröder-Sura et al. 2009). Von besonderem Interesse sind im vorliegenden Diskussionszusammenhang die Befunde bezüglich der Einstellungen der Schüler zu den Fremdsprachen Englisch (erste Fremdsprache) und Französisch (zweite Fremdsprache), die im Folgenden dargelegt werden. In Bezug auf die englische Sprache zeigen die Schüler eine große Leistungsbereitschaft. In Gießen/ Limburg-Weilburg und in Berlin zeigen sich 78% und 73% der Neuntklässler 60 motiviert, Englisch lernen zu wollen. Diesen Zahlen stehen 57% und 50% für Französisch gegenüber (Meißner et al. 2009: 69, 86; Schröder-Sura et al. 2009: 11). Auch im Bereich angestrebter Kompetenzen erhält Französisch deutlich geringere Werte (so etwa 47% und 44% gegenüber 77% und 68% für das Aussageitem: „Ich möchte Bücher oder Zeitungen in dieser Sprache lesen können.“; ebd.). Zudem stellt lediglich etwas mehr als die Hälfte der befragten Neuntklässler Fortschritte bei sich im Französischen fest, wohingegen die Werte für die englische Sprache deutlich höher sind (vgl. Meißner et al. 2009: 68, 85). Die Befunde der MES-Studie 61 unterstreichen die Bedeutung der so genannten „motivationalen Interferenz“ (Düwell 2002: 177-178, vgl. auch 1979 und 2003: 348): [D]as sukzessive, insbesondere das simultane, Lernen von mehreren Fremdsprachen [kann] auch negative Auswirkungen - im Sinne motivationaler Interferenzen - auslösen: Das lernende Subjekt bildet in einem solchen auf mehrere Sprachen bezogenen Lernprozess Präferenzen für z.B. eine (oder zwei) Sprache(n), was demotivierende Folgen für die verbleibende(n) Sprache(n) haben kann. Auch die unterschiedlichen Kompetenzgrade, mit denen Lernende 59 An der Untersuchung waren insgesamt 3027 Schüler der Jahrgangsstufe 5 und 3246 Schüler der Jahrgangsstufe 9 beteiligt. Es wurden standardisierte Fragebögen eingesetzt, in denen die Schüler auf einer vierstufigen Likertskala von „Gar nicht einverstanden“ über „Nicht einverstanden“ und „Einverstanden“ bis hin zu „Absolut einverstanden“ ihre Attitüden zu einzelnen Aussage-Items wie „Diese Sprache ist schwer.“ oder „Ich möchte Musiktexte in dieser Sprache verstehen können.“ zum Ausdruck brachten. Die Konstruktion des Fragebogens geschah auf der Grundlage der Motivationsforschung. Die Datenelizitation entsprach in strenger Weise den Standards der quantitativen empi rischen Forschung. 60 Trotz des Fokus’ der vorliegenden Untersuchung auf den Beginn der Sekundarstufe werden im Folgenden die Neuntklässler mit einbezogen, da die Fünftklässler der Studie noch keinen Französischunterricht hatten. 61 Das Akronym „MES“ steht für „Mehrsprachigkeit fördern. Vielfalt und Reichtum Euro pas in der Schule nutzen“, der Titel des deutschen Beitrags zur internationalen Studie. <?page no="76"?> 62 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht ihre verschiedenen Sprachen ,beherrschen‘, können zu motivationalen Interferenzen führen, […]. Schließlich werden Lernende beim simultanen Lernen von Fremdsprachen auch den Unterricht in diesen Sprachen vergleichen, was motivationell ganz verschiedene Effekte auf die einzelnen fremdsprachlichen Fächer haben kann und im negativen Fall zu motivationaler Interferenz führt. (Hervorhebungen und Anführungszeichen im Original) So konnte die MES-Studie mit Hilfe von Regressionanalysen messen, wie stark der Faktor der Selbsteinschätzung auf die Motivation zum Sprachenlernen durchwirkt (Meißner et al. 2009: 96). Die mittlerweile vielfach geführte Diskussion über die Ziele, die ein Unterricht des Englischen als Erstfremdsprache für einen Aufbau von Mehrsprachigkeit zusätzlich verfolgen muss (die auch von den meisten Anglisten gesehen werden; vgl. z.B. Schröder 1999; Vollmer 2000), soll an dieser Stelle nicht nachgezeichnet werden (vgl. Meißner 2008d; Morkötter et al. 2011). Jedoch soll auf die Rolle, die Interkomprehension in diesem Zusammenhang spielen könnte, hingewiesen werden, die Meißner (2011h: 66) folgendermaßen beschreibt: Como [los alumnos] acumulan mucho más clases en inglés que en cada otra lengua meta, aquella comparación acaba por favorecer en general el inglés, mientras que los demás idiomas padecen una pérdida de motivación. Este conjunto pone de relieve la importancia de lo vivido de la intercomprensión por los alumnos. Varios estudios destacan que la práctica intercomprensiva conduce a los estudiantes a revisar sus imágenes sobre las lenguas y su aprendizaje. - Para responder al desafío de una pérdida de motivación en cuanto al aprendizaje de lenguas en general, el guidaje pedagógico de las segundas lenguas extranjeras tiene que darse cuenta de la interferencia motivacional. Auch wenn sich aufgrund der Anfangsmotivation, die für die französische Sprache zu Beginn des Französischlehrgangs in der Regel noch gegeben ist (Caspari 2010: 14), die Frage der motivationalen Interferenz im Kontext der vorliegenden Untersuchung und Probanden (Sechst- und Siebtklässler im ersten bzw. zweiten Lernjahr) vermutlich weniger stellt, soll dennoch bei der Analyse der Daten aus der Longitudinalstudie auf sprachenvergleichende Äußerungen geachtet werden. Darüber hinaus wurden die Schüler aus Niedersachsen im Fragebogen I zu Interesse und Schwierigkeitsempfinden in ‚ihren‘ Sprachen befragt, um sie zur Reflexion über ihr Fremdsprachenlernen anzuregen 62 . Neben den Befunden zu den Sprachen, die die Schüler bereits lernen, ist vor dem Hintergrund von Interkomprehension das Ergebnis der MES-Studie, dass Fünft- und Neuntklässler in Europa dem Fremdsprachenlernen insgesamt sehr offen gegenüber stehen, von Interesse. Für Deutschland stellen sich die Daten zur Anzahl der Sprachen, die die Schüler zusätzlich zu ihren Schulfremd- 62 Zu den in der vorliegenden Untersuchung eingesetzten Fragebögen s. Abschnitt II 4. <?page no="77"?> 2. Frühe Interkomprehension 63 sprachen noch lernen möchten, folgendermaßen dar (Schröder-Sura et al. 2009: 10): Hessen Jgst. 5 (337) Berlin Jgst. 5 (320) Hessen Jgst. 9 (299) Berlin Jgst. 9 (299) Keine weitere Sprache 20% 9% 36% 41% 1 Sprache 33% 24% 30% 19% 2 Sprachen 48% 69% 18% 16% 3 Sprachen --- --- 17% 20% Tab. 4: Anzahl der Sprachen, die die Schüler zusätzlich lernen wollen (Schröder-Sura et al. 2009: 10) Die Lernerwünsche stehen jedoch nicht nur in quantitativer Hinsicht im Widerspruch zum Schulsprachenangebot in Deutschland, sondern auch die gewünschte Sprachenvielfalt entspricht diesem kaum. So werden unter den Sprachen, die die Schüler noch lernen wollen, folgende am häufigsten genannt (vgl. ebd.): Chinesisch, Finnisch, Griechisch, Italienisch, Japanisch, Latein, Polnisch, Portugiesisch, Russisch, Schwedisch, Spanisch und Türkisch. Allerdings sind diese Daten auch vor dem Hintergrund zu interpretieren, „dass Wunschsprachen die noch nicht belegt werden durchweg höhere Werte erzielen als solche, die man bereits erlernt“ (Meißner 2011g: 60). Da alle Schüler der vorliegenden Untersuchung mit einer noch ‚neuen‘ Sprache (Italienisch und Niederländisch) konfrontiert werden, ist daher ein Blick auf deren Bild von diesen Sprachen in den retrospektiven Beurteilungen der Interkomprehensionsstunden (die Fragebögen II und das retrospektive Interview) von Interesse. Im folgenden Kapitel wird frühe Interkomprehension in ihrem Verhältnis zu weiteren fremdsprachendidaktischen Feldern dargestellt und diskutiert. 2. Frühe Interkomprehension im Verhältnis zu weiteren fremdsprachendidaktischen Feldern 2. Frühe Interkomprehension 2.1 „Frühes Fremdsprachenlernen“ und „frühe Interkomprehension“ Die Begriffe „Früherwerb“, „frühes Fremdsprachenlernen“, „frühes Sprachenlernen“ und „Frühbeginn“ werden in der Regel mit Fremdsprachenunterricht in der Grundschule (oder früher; Doyé 2009: 19) assoziiert (Rück 2006: 392; Schmidt-Schönbein passim 2008; Wagner 2009: 32; Legutke et al. 2010). Auch wenn sich die Konzeptionen des grundschulischen Fremdsprachenunterrichts im Laufe der Zeit verändert haben, was beispielsweise insbesondere die Frage <?page no="78"?> 64 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht nach „[s]ystematische[m] Fremdsprachenunterricht vs. [einer] Begegnung mit Fremdsprachen“ (passim: Doyé 1991; auch Meißner 1990) angeht, so gibt es dennoch übergreifende Prinzipien und gemeinsame Orientierungen. Eine im Kontext der Grundschuldidaktik nicht unstrittige Frage ist jene nach der Rolle von Sprach(lern)reflexion, die für den vorliegenden Kontext der Interkomprehension mit jungen Lernern selbstverständlich von großer Bedeutung ist. Angesichts des Fokus’ auf Interkomprehension mit jungen Lernern wird in der vorliegenden Untersuchung der Begriff der „frühen Interkomprehension“ verwendet. Frühe Interkomprehension wird, wie bereits angesprochen, definiert als Interkomprehension mit dem Ziel einer Förderung von Sprach(lern)bewusstheit und Sprachlernkompetenz zu Beginn des Erlernens einer zweiten Fremdsprache am Anfang der Sekundarstufe und auf der Grundlage von Kenntnissen der Muttersprache, einer eventuellen zweiten Sprache sowie der ersten Fremdsprache (Englisch). Dass in der folgenden Diskussion von Grundsätzen der Interkomprehensionsdidaktik und jenen frühen Fremdsprachenlernens dennoch auch Literatur zum frühen Fremdsprachenlernen aus der Grundschuldidaktik herangezogen wird, liegt in der Tatsache begründet, dass − wie auch Wagner (2009: 92) für die Sekundarstufe I und den Englischunterricht feststellt − bislang nur wenige Arbeiten vorliegen, die sich spezifisch und explizit auf eine bestimmte Schul- oder Jahrgangsstufe (wie hier Klasse 6 und 7) beziehen. Der monolinguale Habitus im Fremdsprachenunterricht 63 Während im Zuge der Direkten Methode die Muttersprache als ein ‚Störfaktor‘ aufgefasst wurde, wird sie mittlerweile ebenso wie vorgelernte Fremdsprachen als eine wichtige Informationsquelle für weiteres Sprachenlernen angesehen. Im Kontext der Abkehr von der Ansicht, die Muttersprache der Lernenden aus dem Fremdsprachenunterricht gänzlich ausklammern zu wollen oder überhaupt zu können! hat Butzkamm bekanntermaßen den Begriff der „aufgeklärten“ oder auch „funktionalen Einsprachigkeit“ geprägt (vgl. 1973, auch 1998: 46-47). Bei den Funktionen, die die Muttersprache von Schülern beim Lernen einer Fremdsprache annehmen kann, kann zwischen den Funktionen eines Kommunikationsmediums und einer sprachlichen Wissensgrundlage unterschieden werden. Für erstere nennt Schmid-Schönbein (2008: 65-66) einige Anlässe im primarstuflichen Englischunterricht, bei denen von Lehrerbzw. von Schülerseite in die Muttersprache gewechselt werden kann oder sollte: wenn etwas Unverstandenes das einzelne Kind belastet, 63 In Anlehnung an Gogolins (1994) Formulierung: Der monolinguale Habitus der multi lingualen Schule. <?page no="79"?> 2. Frühe Interkomprehension 65 wenn ein Kind sich dringend mitteilen will, es in Englisch aber noch nicht sagen kann, wenn englischsprachige Arbeitsanweisungen nicht verstanden werden, wenn es zu Missverständnissen in der Unterrichtsorganisation kommt, wenn komplexe Erklärungen schlicht zu viel der kostbaren Unterrichtszeit in Anspruch nehmen, wenn über kulturelle Andersartigkeit, über „das Fremde“ reflektiert werden soll. Die hier angegebenen Gründe für den Wechsel der Unterrichtssprache in die Muttersprache, sind jene, die auch für die Sekundarstufe in der Regel angeführt werden (vgl. z.B. Wagner 2009: 96), wenn auch angesichts der weiter fortgeschritteneren Sprachkompetenz in fortlaufend geringerem Maße. So fordert Butzkamm (1998: 47), „[a]lles Organisatorische […] so bald wie möglich in der Fremdsprache zu regeln“. Dies ist (unter anderem) für eine Förderung der schülerseitigen Wahrnehmung der Fremdsprache als ein Kommunikationsmittel und nicht lediglich als „Stoff“ (Appel 2000: 214ff.), d.h. als ein Unterrichtsfach wie jedes andere auch, von Bedeutung. Der von Schmid-Schönbein letztgenannte Anlass der Reflexion „über kulturelle Andersartigkeit, über „das Fremde““ ist für fortgeschrittenere Lerner angesichts des Ziels (auch) von metakommunikativer Handlungskompetenz in interkultureller Kommunikation zu relativieren (passim: Meißner 2003a). Im Kontext der Interkomprehensionsdidaktik ist insbesondere die eingangs angesprochene Funktion der Muttersprache als sowohl deklarative als auch prozedurale 64 Wissensgrundlage von Bedeutung. So weist auch Butzkamm darauf hin (2010: 41): Das Wertvollste, das ein Kind mit in die Schule bringt, ist seine Muttersprache. In ihr und durch sie hat es Erfahrungen gemacht, Kenntnisse erworben und ein Netz von Begriffen geknüpft, in das jederzeit neue Begriffe hineingeknüpft werden können. So trifft jede neue Sprache auf die schon vorhandene Muttersprache, in der das Kind artikulieren und sprechen, kommunizieren und denken, schreiben und lesen gelernt hat. In diesem Prozess hat es auch - noch unbewusst - grammatische Kategorien gebildet, mit deren Hilfe das Tor zu fremdsprachigen Grammatiken aufgestoßen werden kann (- Interkomprehension). Allerdings bezieht sich Butzkamm ‚nur‘ auf die Muttersprache als Wissensquelle und nicht auch auf Herkunftssprachen. Zudem lässt er die Nutzung eines Transfers zwischen Fremdsprachen außer Acht, was in der Äußerung „So trifft jede neue Sprache auf die schon vorhandene Muttersprache“ deutlich wird. 64 Dass in der vorliegenden Untersuchung der Muttersprache für eine Herausbildung von deklarativem und prozeduralem strategischem Wissen eine Bedeutung beigemessen wird, zeigt sich auch in der Wahl des Niederländischen als einer der Zielsprachen für die Interkomprehensionsstunden (vgl. hierzu Abschnitt I 2.6). <?page no="80"?> 66 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Die Fremdsprachendidaktik (bedauerlicherweise jedoch noch nicht unbedingt der Fremdsprachenunterricht) hat sich von der Konzeption der Muttersprache als einem ‚Störfaktor‘ bzw. von einer „Überbetonung der Interferenzproblematik“ (Meißner 1998b: 96) aus dem Grunde entfernt, dass es neben ‚falschen Freunden‘ eben auch eine Menge ‚guter Freunde‘ gibt, die für den Erwerb genutzt werden können 65 . Abgesehen von rein systemsprachlichen interlingualen Betrachtungen ist es mittlerweile ebenfalls relativ unstrittig, dass Sprachen nicht getrennt voneinander im mentalen Lexikon gespeichert sind, sondern von einer netzwerkartigen, sprachenübergreifenden Struktur ausgegangen werden muss (vgl. z.B. Lutjeharms 2003: 65). Dies bedeutet, dass die Muttersprache zumindest in den Köpfen der Lerner gar nicht gänzlich ausgeschaltet werden kann, oder, wie Perrin (1996: 404) es treffend formulierte: „You can banish the mother tongue from the classroom, but you can´t banish it from the pupils’ heads! “ Man vergleiche auch den für sich sprechenden Titel Rattundes „Une poire? Aha, eine Birne! “ (1971). In dieser Hinsicht spricht die angesprochene „Interferenzproblematik“ gerade dafür, die Muttersprache nicht gänzlich aus dem Fremdsprachenunterricht auszuklammern, denn: die Verbindungen von Zielsprache zu Mutter- oder vorgelernten Fremdsprachen werden im mentalen Lexikon der Lerner hergestellt, ob Lehrkräfte diese nun ‚verdrängen‘ wollen oder nicht (vgl. auch Butzkamm & Butzkamm 2008: 328). Im Prinzip kann das ‚Interferenzproblem‘ nur metasprachlich gelöst werden, was, insbesondere bei jungen Lernern, selbstverständlich über Sprachbeispiele erfolgen sollte. So ist gerade das Vergleichen zwischen Sprachen eine wirkungsvolle Strategie der Fehlerprophylaxe, auch zwischen Fremdsprachen. Ein Beispiel für eine Fehlerprophylaxe durch Sprachenvergleich bei der Sprachenfolge Französisch nach Englisch ist eine Beschäftigung mit interlingualen Formentsprechungen, die jedoch keine gänzliche Bedeutungskongruenz aufweisen, wie etwa die bereits angeführten Verben: frz. visiter und engl. to visit. Durch Vergleiche könnten Lerner bei entsprechendem Textmaterial selbst herausfinden, in welcher Bedeutung das französische Verb visiter für das englische Verb to visit verwendet werden kann und in welcher nicht. Die im ‚herkömmlichen‘ Unterricht wohl nach wie vor verbreitete Einzelsprachenorientierung bzw. die einseitige Betonung von Interferenzgefahren hängt vermutlich auch damit zusammen, dass − gerade weil selten (oder gar nicht) auf das lernerseitige Vorwissen und die Konstruktionsprozesse der Lerner 65 Zu ‚guten Freunden‘ für das Sprachenpaar Deutsch und Englisch vgl. z.B. Neuner et al. (2009); für eine Quantifizierung von zwischensprachlichen Transfermöglichkeiten in den Grundwortschätzen der Sprachen Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch s. Meißner (1989). Stahlhofen (2001: 86; zitiert aus Klein 2004: 23) hat in ihrer Unter suchung erfassen können, das der Nutzen von Internationalismen auf der Ebene der Sprachrezeption fünfmal so groß ist wie der befürchtete ‚Schaden‘. Es kann vermutet werden, dass neben der lexikalischen Ebene ein Nutzen vor allem auch im Bereich der Sprachlernerfahrungen liegt. <?page no="81"?> 2. Frühe Interkomprehension 67 explizit Bezug genommen wird − interlingualer Transfer dort vor allem dann zu Tage tritt, wenn er zu Interferenz führt. Dabei kann bekanntlich einer beobachteten Interferenz „eine an sich zweckvolle Strategie“ zugrunde liegen, wie Lutjeharms (2003: 67) betont. In gewisser Weise kann man hier von einem Teufelskreis sprechen: Lehrkräfte nehmen dadurch, dass sie sprachenübergreifendes Lernen in ihrem Unterricht ausklammern (wollen), interlinguale Bezüge auf der Oberfläche schülerseitiger Sprachproduktionen vor allem als Interferenzen wahr, die sie zu einer ablehnenden Haltung von zwischensprachlichen und interkomprehensionsdidaktischen Ansätzen führen. Da folglich interkomprehensionsdidaktische Elemente in ihrem Unterricht nicht zum Einsatz kommen und Konstruktionsprozesse der Schüler nicht thematisiert und bewusst gemacht werden, nehmen sie sich selbst die Möglichkeit, die zahlreichen Vorteile sprachenübergreifender Herangehensweisen zu erfahren. Dies führt zu einer falschen weil zu hohen Einschätzung interlingualer Interferenzgefahren verglichen mit Transferpotenzial, was wiederum die eigene einzelsprachorientierte Position bestätigt etc. Lerner benötigen metasprachliches und metakognitives (Handlungs-)Wissen, um ihr vorhandenes (Sprach-)Wissen möglichst effektiv für ihr Lernen nutzen zu können. So weist Marx in Bezug auf das Lernen einer zweiten Fremdsprache (2010: 229) darauf hin: Many researchers argue that these benefits [= des Lernens einer zweiten Fremdsprache] need to be discussed and practiced in order to utilize them fully (i. e. Meißner 1998; Marx 2007); if learners are not consciously able to compare their languages or if they attempt to separate them, many benefits of their multilingual state will be lost. Thus, a consciousness-raising of multilingual advantages and the ability to compare systems is needed in order to make use of these, just as learners will not borrow from other languages unless they are at some level aware of the similarities between them. Im vorliegenden Kontext ist vor allem zu fragen, inwieweit ein „consciousnessraising of multilingual advantages and the ability to compare systems“ im frühen Fremdsprachenunterricht möglich ist. Diese Frage hängt unmittelbar mit jener nach der Rolle von Sprachreflexion beim frühen Fremdsprachenlernen zusammen, über die Uneinigkeit herrscht. So wird „ein Nachdenken über Sprache [häufig] als nicht kindgemäß angesehen“ (Wagner 2009: 64). Doch zeigen Befunde aus der Spracherwerbsforschung und grundschulischen Unterrichtspraxis, dass Kinder durchaus in der Lage sind, sprachliche Regularitäten zu entdecken, und über eine gewisse Sprachbewusstheit verfügen (vgl. Hermann-Brennecke 1994: 7; De Leeuw 1997: 85ff.; Mindt 2004; Kieweg 2005: 19; Oomen-Welke 2006: 303; Wagner 2009: 65). De Leeuw (1997: 108; Hervorhebungen im Original) äußert sich zu jungen Lernern und Lernstrategien wie folgt: <?page no="82"?> 68 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Young learners are at a prime stage in their cognitive development and in their foreign language learning to reflect on the what, how, and why of learning, that is, to a large extent, on the strategies they use. It is reasonable to assume that they are also relatively flexible in their approaches to learning and therefore should be open to experimenting with other learning strategies, so that they become better equipped to continue language learning over the long term. Interkomprehension ist mit einem solchen „Experimentieren” vereinbar, wobei es selbstverständlich nicht ‚allein‘ um das Anwenden von Strategien, sondern vor allem um das Entdecken eigener strategischer Fähigkeiten geht. Das Erkennen sprachlicher Regularitäten ist für junge Lerner auch deshalb von Bedeutung, weil sie lernen müssen, zielsprachlichen Input in seine Bestandteile zergliedern zu können, um diese − zumindest langfristig − kreativ für eigene Sprachproduktion nutzen zu können. Schmid-Schönbein (2008: 66) führt in diesem Zusammenhang Butzkamms (2007: 163ff.) „Theorie des Doppelverstehens“ an. Gerade die häufig im grundschulischen Fremdsprachenunterricht vermittelten sogenannten unanalyed chunks müssen von den Kindern nicht ‚nur‘ in deren kommunikativer Funktion verstanden, sondern auch in ihrer Struktur entschlüsselt werden können. Sie nennt als Beispiel die englische Grußformel See you tomorrow, die nur dann in See you on Sunday oder See you on the playground umgewandelt werden kann, wenn Lerner die Bestandteile der Formel erkannt haben: „Nicht nur, was gemeint ist, muss entschlüsselt werden, sondern auch, wie´s gesagt ist.“ (Schmid-Schönbein ebd.; meine Hervorhebung; vgl. auch Schmid-Schönbein 2010: 78). Um Lernern zu helfen, die Struktur von solchen Sprachformeln zu erkennen, schlägt Butzkamm (ebd.) die sogenannte „Sandwich-Technik“ (vgl. Schmid-Schönbein ebd.: 67) vor, bei der Lehrkräfte zwischen den englischen Beispielen, in diesem Fall also: See you tomorrow, leise die deutsche Wort-für-Wort-Entsprechung, also „Seh’ euch morgen“, sagen. Für die französische Sprache nennt Butzkamm (2007: 179) u.a. das Beispiel: „Pour toi, je ferais n’importe quoi“, dessen Struktur durch wörtliche Nachbildung in der Muttersprache *„Für dich täte ich macht nichts, was.“ verdeutlicht werden könne, bevor dieser Pattern Schülern in mehrfach variierter Form präsentiert wird. Diese Vorgehensweise solle ermöglichen, dass „ein Stück Grammatik bzw. Sprachanalyse mitgelernt wird“ (Schmid-Schönbein ebd.). Doch könnten (zumindest etwas älteren) Lernern stattdessen auch mehrere Varianten einer Sprachformel präsentiert werden („Pour vous, je ne ferais rien.“; „Pour toi, je ferais tout.“; „Pour elle, je ferais beaucoup.“ usw.; ebd.: 180) und sie könnten versuchen, selbst das Gemeinsame in diesen herauszufinden. Dass auch junge Lerner zu Analyseprozessen, Sprachvergleichen und dem Bilden von Hypothesen in der Lage sind und auch hierüber sprechen können, zeigen Befunde aus der Literatur zur grundschulischen Englischdidaktik. So stellt ein Grundschüler in der Untersuchung von Kolb (2007: 249) beispielsweise fest: „zum Beispiel Fisch heißt auf Englisch auch FISH“ (s. auch weiter <?page no="83"?> 2. Frühe Interkomprehension 69 unten die Befunde aus der Bilingualismusforschung). Ein Vorteil (nicht allein) von Butzkamms „Sandwich-Technik“ ist, dass sie verdeutlicht, dass ein Erkennen sprachlicher Strukturen und Regelhaftigkeiten keineswegs eine Beherrschung grammatischer und metasprachlicher Terminologie auf Seiten der Schüler bedeuten muss, sondern anhand von Sprachbeispielen erfolgen kann. In dieser Hinsicht ist zu reflektieren, ob sie auch für frühe Interkomprehension applizierbar ist. In genau diesem Sachverhalt, d.h. der Gleichsetzung von Reflexion über Sprache und der Verbalisierung von sprachlichen Entdeckungen mit einer Auseinandersetzung über metasprachliche Begriffe, kann ein Grund vermutet werden, dass, wie oben erwähnt, Sprachreflexion häufig nicht als kindgerecht angesehen wird. Interkomprehension und Sprachreflexion als eine Förderung von Sprachlernkompetenz Wenn die Vermutung zutrifft, dass eine ablehnende Haltung gegenüber einer Förderung von Sprach(lern)bewusstheit im frühen Fremdsprachenunterricht u.a. darauf zurückgeführt werden kann, dass diese mit (zu hohen) begrifflich metasprachlichen Anforderungen in Verbindung gebracht wird, so ist es umso wichtiger, die Unterscheidung zwischen einer deklarativen und einer prozeduralen Ebene zu betonen. Denn: Es kann als erwiesen gelten, dass schon früh Sprachaufmerksamkeit sowohl im Sinne von allgemeiner Vigilanz wie von selektiver Aufmerksamkeit auf Sprachliches (vgl. Spitzer 2002: 141ff.) entsteht, ohne die − auch neurobiologisch − das Sprachlernen nicht möglich wäre. (Oomen-Welke 2006: 303; Hervorhebungen im Original). Ein anschauliches Beispiel aus einem bilingualen Kindergarten mit Französisch liefert Nauwerck (2005: 148, 230): Ein Kind überträgt das ihm im Französischen unbekannte Wort „Wal“ mit „C’est une vale.“ und bildet somit implizit eine Hypothese, die − in der Terminologie der Interkomprehensionsdidaktik − als Produktionstransfer auf der Grundlage vermuteter interlingualer Ähnlichkeit auf Sprachformebene bezeichnet werden kann. Ein ähnliches Beispiel für eine solche Sprachaufmerksamkeit liefert Méron-Minuth (2009: 128). Ein Französisch lernender Erstklässler, der das Wort le singe noch nicht kennt, sagt stattdessen: „la [af]“. Interessant an dem Beispiel ist, dass der Schüler nicht „la [af ]“ sagt, sondern das Wort phonologisch dem Französischen anpasst. Nauwerck (ebd.: 148) deutet solche Verwendungen deutscher Wörter in französischer Intonation als ein „Mischen von Sprachen“. Méron-Minuth (ebd.) schlussfolgert: Interlinguale[r] Transfer wie hier das Foreignizing deuten darauf hin, dass die Schülerinnen und Schüler bereits in manchen Lernsituationen erfahren haben, <?page no="84"?> 70 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht dass einige alltägliche deutsche Substantive im Französischen phonologisch und morphologisch ähnlich lauten, wie beispielsweise le problème/ das Problem, la carotte/ die Karotte und dass der Versuch, ein deutsches Substantiv mit der französischen Aussprache auszusprechen, vermutlich anerkannt würde. Selbstverständlich sagen die Befunde von Nauwerck (2005: 148, 230) und Méron-Minuth (2009: 128) nichts darüber aus, inwieweit sich die Lerner ihres Vorgehens bewusst sind. Sie zeigen jedoch, dass sie interlinguale Bezüge herstellen und nutzen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die Forschung zu bilingualen Kindern (vgl. Wenzel 2000; Montanari 2006). Wenzel (2000) führte eine Langzeitstudie (ein Jahr) mit einem germanophonen Mädchen durch, das im Alter von zwei Jahren (und 0 Monaten) erstmals mit seiner Zweitsprache Niederländisch in Berührung kam. Sie konnte in ihrer Untersuchung sowohl interlingualen als auch intralingualen Transfer und auch das Heranziehen von Weltwissen als Dekodierungsstrategien nachweisen (vgl. ebd.: 248ff.). Was interlingualen Transfer anbelangt, konnte Wenzel zeigen, dass dessen Erfolg (auch) von interlingualer Ähnlichkeit auf Signifikantenebene abhängt. So reagierte das Mädchen auf Aufforderungen wie „Kom, handjes wassen! “ (ebd.: 248) mit einer angemessenen Handlung. Fragen wie „geef je me dat balletje? “ (= „Gibst du mir das Bällchen da? “) hingegen führten nur dann zu einer Reaktion, wenn sie durch eine entsprechende Geste begleitet und durch Wegnahme des Diminutiv („bal“) in eine der Erstsprache ähnliche Form gebracht wurden. Äußerungen wie „pas op, je veter! “ (= „Pass auf, dein Schnürsenkel! “) waren für das Kind zu diesem Zeitpunkt (im Alter von zwei Jahren und einem Monat) unverständlich. Wenzel führt dieses Ergebnis darauf zurück, dass - in der Terminologie der Interkomprehensionsdidaktik formuliert - die deutsche Sprache für nl. veter keinerlei Transferbasis liefert. Dass bereits Kinder in der Lage sind, Signifikanten in ihre (vermeintlichen) Bestandteile zu zerlegen, veranschaulicht folgender Dialog (ebd.: 249): L: Was ist das für Joghurt? M: Eh .. framboos. L: Johannis …? M: Nee, framboos? L: Boos? Is dat boos? M: Nee, die is niet boos, daar zitten frambozen in. L: Aprikosen? Auf die Frage, um welche Joghurtsorte es sich handele, antwortet die Mutter, dass es Himbeere (nl. framboos) sei. Nach der Wiederholung des Signifikanten framboos meint das Kind, in diesem das Wort boos (= „böse“) wiederzuerkennen. Wenzel (ebd.: 250) schlussfolgert: Beim Dekodieren von framboos (‚Himbeere‘) scheint das bekannte boos (’böse’) im Zusammenhang mit Joghurt fragwürdig zu sein. Der intralinguale Transfer <?page no="85"?> 2. Frühe Interkomprehension 71 wird hier also als Strategie als wenig aussichtsreich abgelehnt, da dieser Lösung das Weltwissen entgegenspricht. Der Versuch mit Aprikose paßt besser in den Kontext und könnte (nach frambozen) ein phonetisch motivierter interlingualer Transfer sein. Zur Frage der Sprachlernbewusstheit äußert sie sich wie folgt (ebd.: 257): Obwohl es sich um eine sehr junge Zweitsprachenlernerin handelt, kann man wohl nicht von einem unbewußten Sprachlernprozess reden. Die Aufmerksamkeit, die das Mädchen einzelnen Merkmalen des inputs schenkt, und der Abgleich mit ihrem sich noch im Aufbau befindlichen L1-System weisen auf einen kognitiven Prozess. Allerdings unterscheidet Wenzel (ebd.) nicht zwischen den Ebenen des deklarativen (savoir) und prozeduralen Wissens (savoir faire). Montanari (2006: 99) kommt zu der Einschätzung: „Ab etwa acht Jahren können Kinder auch analytisch lernen, das heißt, dann können sie auch Regeln verstehen.“, wobei, abgesehen von der Mehrdeutigkeit des Verstehensbegriffs, diese Altersbestimmung in Abhängigkeit von weiteren Faktoren wie beispielsweise der Form und Dauer des zweisprachigen Inputs individuell schwanken dürfte 66 . So ist für die vorliegende Untersuchung insbesondere zu fragen, ob eine Auseinandersetzung junger Lerner zu Beginn der Sekundarstufe I mit der niederländischen Sprache es erlaubt, Transferprozesse wie die oben beschriebenen (Wenzel 2000) bewusst zu machen, d.h. auf die Ebene des savoir zu bringen, auch im Sinne einer hierfür notwendigen Metasprache. Auch Dokumentationen von Interkomprehensionsereignissen bei sehr jungen Lernern weisen auf ein sprachenübergreifendes Vorgehen hin. Meißner (2011a: 199-200) schildert beispielsweise die Reaktion eines zweisprachig deutsch-französisch erzogenen Fünfjährigen, der sich selbst das Lesen in beiden Sprachen beigebracht hatte. Dieser erhielt eine Postkarte aus den Vereinigten Staaten mit dem Photo eines im Süden der USA beheimateten Vogels und der Bezeichnung „roadrunner“. Der Junge betrachtete die Karte und sagte daraufhin: „Guck’ mal, ein coureur de route! Ein Route-Renner.“ Dem Kind gelang offenbar ein Identifikationstransfer auf der Grundlage der interlingualen Zuordnungen von engl. road und frz. route sowie engl. runner und dt. „Renner“ (aus dem Verb „rennen“). In der Literatur, die explizit eine Förderung von Sprach(lern)bewusstheit bei jungen Lernern in institutionellen Kontexten zum Thema hat 67 , fällt auf, 66 Vgl. die von ihr zitierte Äußerung (ebd.: 172) eines Grundschülers (Alter nicht weiter spezifiziert), die auf einen bewussten Sprachenvergleich hinweist: „man könnte doch auch sagen: »Thank you very Dreck.«“. Das Kind hat hier die Lexeme: engl. much und dt. „Matsch“ miteinander in Verbindung gebracht und das deutsche „Dreck“ englisch ausgesprochen. 67 Nauwerck (2005) setzt sich in ihrer Arbeit mit Konzepten und Bedingungen für das Gelingen von Zweisprachigkeit im Kindergarten auseinander, der Fokus von Méron- <?page no="86"?> 72 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht dass diese sich insbesondere mit einem Aufbau von language awareness im Sinne interkultureller Bildungsziele wie Empathiefähigkeit, Offenheit gegenüber Fremdem und mit Wissen über Mehrsprachigkeit befasst hat, weniger jedoch mit der Herausbildung konkreter (meta)sprachlicher Fertigkeiten wie etwa einem Einsatz von Strategien. Zu nennen sind hier beispielsweise der language awareness-Ansatz (z.B. Luchtenberg 1997, 2001, 2002), éveil aux langues (Candelier 2003, 2005a, 2005b) und Ja-Ling (= Janua-Linguarum - Das Tor zu Sprachen (Oomen-Welke 2002, 2006; Candelier et al. 2003, 2004)), das Folgeprojekt von éveil aux langues (Candelier 2005b: 196). Auch De Pietro (2008: 211) stellt in seiner Gegenüberstellung „De l’éveil aux langues à l’intercompréhension, et vice-versa“ fest, dass beide Ansätze zwar sowohl Einstellungsziele („les attitudes et représentations envers le langage et les langues“) als auch Fertigkeitsziele („les aptitudes langagières“) verfolgen, éveil aux langues jedoch „accorde toutefois une attention toute particulière au travail sur les préjugés et attitudes envers les langues, quelles qu’elles soient“. Im Rahmen des Ja-Ling-Projekts befassten sich die jungen Lerner beispielsweise mit Themen wie „Familie“ oder „mein Vorname“ in Bezug auf eine Vielfalt an Sprachen und Kulturen, die über die Schulsprache, die Sprachen der Lernenden und die Schulfremdsprachen hinausgehen (vgl. Oomen-Welke 2006: 314). Der éveil aux langues-Ansatz wird „im Deutschen noch am ehesten durch das Konzept der Begegnungssprache gefasst“ (RePA 2009: 4). Das sogenannte Begegnungssprachenkonzept an Grundschulen wurde in Nordrhein- Westfalen in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts eingeführt (vgl. Luchtenberg 1997: 112). Es war dadurch gekennzeichnet, dass sein Fokus alle denkbaren Sprachen umfassen könnte, die für die Kinder von Bedeutung sind, d.h. nicht notwendigerweise die im Frühbeginn vorherrschenden Fremdsprachen Englisch oder Französisch. Die Ziele des Begegnungssprachenkonzeptes waren vor allem auf der Ebene des savoir être angesiedelt, sie strebten eine Förderung von Offenheit und Sensibilität gegenüber Sprachen und ihren Sprechern sowie die Entwicklung und Aufrechterhaltung von Lernfreude an (vgl. auch Doyé (2005c: 120): „Das (leider) in den meisten Bundesländern ad acta gelegte „Begegnungssprachenkonzept“ enthält wertvolle Anregungen zur Ausweitung des Blicks auf andere Sprachen und Kulturen über den Horizont der hier und jetzt gelernten hinaus“). Éveil aux langues bezeichnet Candelier selbst als „extrem“ in dieser Hinsicht: Selon la définition qui a été donnée de l’éveil aux langues dans le cadre des projets européens récents qui ont permis de le développer plus largement, « il y a éveil aux langues lorsqu’une part des activités porte sur des langues que l’école Minuth (2009) sind Kommunikationsstrategien von Grundschülern im Französisch unterricht. <?page no="87"?> 2. Frühe Interkomprehension 73 n’a pas l’ambition d’enseigner ». […] Par le nombre important de langues sur lesquelles les élèves sont amenés à travailler - plusieurs dizaines, le plus souvent − l’éveil aux langues peut apparaître comme une approche plurielle « extrême ». (Candelier et al. 2007: 4) Auch im deutschen Kontext wurde beobachtet, dass bei Überlegungen zur Sprachreflexion von jungen Lernern die Zielsetzungen einer positiven Haltung gegenüber Mehrsprachigkeit und -kulturalität sowie Sprachenvielfalt tendenziell gegenüber konkret sprach- und sprachlernbezogenen (im Sinne eines savoir faire und savoir apprendre) im Vordergrund standen 68 . In neueren Publikationen sind mehrsprachigkeitsdidaktische Vorschläge für die Grundschule zu finden, die durchaus sprachlernbezogene Ziele des savoir faire verfolgen (etwa Kierepka & Krüger 2007; Kierepka 2008). Diese Feststellung muss selbstverständlich im Zusammenhang mit der Tatsache betrachtet werden, dass der Fremdsprachenunterricht hierzulande erst im Schuljahr 2004/ 2005 flächendeckend eingeführt wurde und die Überlegungen zur Förderung von language awareness bei jungen Lernern vor allem im Rahmen der Deutschdidaktik angestellt wurden (vgl. z.B. die Lernziele: „Lernen über Europa“, „Lernen für Europa“ und „Lernen in Europa“; Luchtenberg 2001: 273). Luchtenberg wies darauf hin (1997: 118): „Durch die Einbeziehung der vorhandenen Mehrsprachigkeit ergibt sich die Möglichkeit, Language-Awareness-Methoden bereits in der Grundschule anzuwenden.“ (meine Hervorhebung). Doch betonte sie auch zu jener Zeit bereits, dass „[f]ächerübergreifende Konzeptionen von Language Awareness […] auch sprachübergreifend verstanden werden [können], so dass es zunächst darum geht, in den involvierten Sprachfächern aller Schulstufen integrativ sprachsensibilisierend zu arbeiten.“ (1997: 121-122; meine Hervorhebung) und „[d]er Deutschunterricht […] in einer engen Beziehung zu den übrigen Sprachfächern steht“. Language awareness, éveil aux langues und frühe Interkomprehension Die Association for Language Awareness definiert language awareness als „explicit knowledge about language, and conscious perception and sensitivity in language learning, language teaching and language use“ (ALA 2009; zitiert aus Gnutzmann 2010: 115). Während dieser Definition zufolge der Begriff „language awareness” somit durchaus auch auf eine einzelne Zielfremdsprache beziehbar ist 69 , ist der Fokus auf Mehrsprachigkeit, wie oben angesprochen, eines der dem éveil aux langues-Ansatz inhärenten Charakteristika: 68 Die Betonung liegt auf „tendenziell“! Savoir, savoir être sowie savoir faire und savoir apprendre stehen in einer Wechselbeziehung zueinander, d.h. es geht hier um eine Frage der Gewichtung (vgl. De Pietro 2008: 211; s.o.). 69 Allerdings betont H. Christ (2008: 55) zu Recht, dass „Forschung, die den Erwerb einer Sprache untersuchen will, nicht strictu sensu auf eine Sprache bezogen ist.“ <?page no="88"?> 74 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht [I]l doit s’agir normalement d’un travail global - le plus souvent comparatif, qui porte à la fois sur ces langues [= les langues que l’école n’a pas l’ambition d’enseigner; StM], sur la langue ou les langues de l’école et sur l’éventuelle langue étrangère (ou autre) apprise. (Candelier 2005a : 28) Wie aus dem Zitat hervorgeht, sind bei éveil aux langues auch jene Sprachen im Fokus, die nicht zu den ‚Schul(fremd)sprachen’ gehören (s. auch weiter oben). Dies entspricht der „ambition première de l’éveil aux langues […] d’aider à ce que la diversité, trop souvent synonyme de tensions et de rejets, puisse se vivre dans la solidarité” (ebd.: 29). Bei den Zielsetzungen von éveil aux langues lassen sich nach Candelier (2005a: 28-29) drei Dimensionen unterscheiden: le développement de représentations et attitudes positives : 1) d’ouverture à la diversité linguistique et culturelle ; 2) de motivation pour l’apprentissage des langues […] le développement d’aptitudes d’ordre métalinguistique / métacommunicatif (capacité d’observation et de raisonnement) et cognitif facilitant l’accès à la maîtrise des langues […] (développement des aptitudes ou savoir faire) […] le développement d’une culture linguistique (= savoirs relatifs aux langues) […] Insbesondere in der zweitgenannten Dimension unterscheidet sich der éveil aux langues-Ansatz von jenem der Interkomprehension, da er nicht auf sprachliche Fähigkeiten abzielt, die auf (eine) bestimmte Sprache(n) gerichtet sind (wie etwa im Falle von Interkomprehensionsunterricht Italienisch oder Spanisch nach Französisch oder Französisch neben Italienisch und Portugiesisch). Er geht von der Entwicklung übergeordneter metasprachlicher, metakommunikativer und kognitiver Fähigkeiten aus, die sich auf jedwede Sprache beziehen, sei es eine der Schulsprachen, Muttersprachen oder auch nicht (vgl. Candelier ebd.: 29). Der Ansatz der Interkomprehension hingegen basiert auf der Annahme, dass eine Förderung von Sprachlernkompetenz und Metakognition insbesondere in Verbindung mit einer intensiven Auseinandersetzung mit Sprachen gefördert werden können. So stellt auch De Pietro (2008: 211) fest: [I]l [= l’éveil aux langues; StM] ne vise carrément pas l’apprentissage des langues travaillées alors que les démarches intercompréhensives impliquent tout de même d’ « entrer » davantage dans les langues abordées (connaissances de certains mots-clés, de quelques caractéristiques grammaticales, etc.). (Anführungszeichen im Original) Auch Gespräche mit Lehrenden im Rahmen einer qualitativen Evaluation des éveil aux langues-Programms ergaben, dass „quant à H6 (meilleure prise de conscience du processus d’apprentissage linguistique) et H7 (effet bénéfique des activités Evlang [= éveil aux langues] sur les apprentissages ultérieurs), elles suscitent un certain scepticisme chez une majorité d’entre eux.“ (Matthey et al. 2003: 134; zitiert aus Candelier 2005b: 198-199). Demgegenüber messen die <?page no="89"?> 2. Frühe Interkomprehension 75 „enseignants expérimentateurs“ dem éveil aux langues-Ansatz einen Einfluss auf die Offenheit und Toleranz der Schüler gegenüber sprachlicher und kultureller Vielfalt bei 70 . Doch ist auch die (potenzielle) wechselseitige positive Beziehung zwischen den beiden pluralen Ansätzen zu betrachten. So ist einerseits denkbar, dass eine Auseinandersetzung mit einer Vielfalt von Sprachen im Rahmen eines éveil aux langues-Programms Lerner dazu veranlassen kann, sich (zum Beispiel) mit einer von ihnen näher beschäftigen zu wollen. Andererseits liegt in der Interkomprehension auch das Potenzial, durch das Erfahrbarmachen zwischen-sprachlicher Brücken einen éveil aux langues bei Lernern zu befördern. Neben unterschiedlichen Zielsetzungen bzw. zumindest Gewichtungen von Zielsetzungen erwähnt De Pietro in seiner Gegenüberstellung der Ansätze des éveil aux langues und der Interkomprehension auch die verschiedenen Anwendungskontexte und Adressaten. Er beobachtet den „intérêt de l’éveil aux langues en contexte scolaire, entre autres avec de jeunes élèves, alors que les démarches intercompréhensives semblent se développer plus souvent dans des contextes d’éducation aux adultes“ (2008 : 199) 71 . Auch wenn es sich im deutschen Kontext etwas anders verhält, wie Untersuchungen zu Interkomprehension mit Lernern am Ende der Sekundarstufe I oder in der Oberstufe (Böing 2004; Bär 2006a; Schöpp 2008; Bär 2009) zeigen, wirft diese Feststellung dennoch die Frage nach der Umsetzbarkeit von Interkomprehensionsunterricht mit jüngeren Lernern auf. Im Hinblick auf das Ziel einer Förderung von Sprachlernkompetenz wird im folgenden Kapitel ein Blick auf die Konzeptualisierung „methodischer Kompetenzen“ in Lehrplänen geworfen. Zuvor wird auf Befunde aus der Unterrichtsforschung zu kompetenzorientierten Lernaufgaben (Tesch 2010b) eingegangen. 2.2 Sprachlernkompetenz als Thema des Unterrichts Befunde der Unterrichtsforschung Im Zuge der Bildungsstandards und Kompetenzorientierung wurden im Auftrag des Instituts für Qualitätssicherung im Bildungswesen (IQB) kompetenzori- 70 Allerdings bestätigte sich dieser Unterschied in den Überzeugungen der Lehrpersonen im Hinblick auf die beiden Zieldimensionen in einem abschließenden Fragebogen nicht. Zudem machten die ca. 15 Lehrenden, mit denen ein Gespräch geführt wurde, nur eine Teilmenge der insgesamt 80 Lehrkräfte aus, die den Fragebogen ausfüllten (vgl. Can delier 2005b: 199). 71 De Pietro (ebd.) räumt ein, dass es Ausnahmen gibt wie die Itinéraires romans, die sich auf junge Lerner (9 bis 13 Jahre), allerdings außerhalb schulischer Kontexte (Internet) beziehen (vgl. Álvarez & Tost 2008a; 2008b). <?page no="90"?> 76 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht entierte Lernaufgaben für den Französischunterricht entwickelt (vgl. Tesch et al. 2008). Auch für den Spanischunterricht liegen mittlerweile Kompetenzaufgaben vor (Meißner & Tesch 2010). Ähnlich wie bei den „vorliegenden empirischen Untersuchungen zu Lehr- und Lernmaterialien [die - und dies wohl nach wie vor; StM −] überwiegend das fertige Produkt analysieren“ (Martinez 2005: 111), bedarf es auch für Kompetenzaufgaben einer Wirkungsforschung, deren Zielsetzung es ist, lerner- und lehrerseitige Reaktionen (im weitesten Sinne des Begriffs) auf Aufgaben näher zu beleuchten. Bernd Tesch, der Koordinator für die Aufgabenentwicklung im Fach Französisch am IQB, hat es sich daher zum Ziel gesetzt, den praktischen Umgang mit kompetenzorientierten Lernaufgaben empirisch zu untersuchen und auf diese Weise diejenigen Lehr- und Lernkonzepte zu beschreiben, die für eine gelingende Umsetzung einer Kompetenzorientierung als besonders förderlich angesehen werden können, und jene zu erkennen, die ihr im Wege stehen (Tesch 2010b: 11). Im Fokus von Teschs Untersuchungen stehen Interaktionen im Unterricht, nicht Befragungen von Lehrern und Lernern (ebd.: 153). Auch hier greift er ein Desideratum auf, liegen doch bislang - aufgrund des großen dokumentarischen Aufwands - weniger Studien zu mündlichen Schülerleistungen und Interaktion im Fremdsprachenunterricht vor als zu Hörverstehen, Schreiben oder Lesen. Die Datenerhebung erfolgte an einer ländlichen und einer großstädtischen Schule (ebd.: 153). Innerhalb von fünfzehn Unterrichtsstunden (fünf Wochen in einer neunten und zwei zehnten Klassen) wurde die Rahmenaufgabe Pir@tes du Net aus Tesch et al. (2008) unterrichtet und die Interaktionen mit Diktiergeräten und einer Videokamera aufgezeichnet (ebd.). Tesch (ebd.: 165-166) legt seiner Untersuchung einen dreigliedrigen Interaktionsbegriff zugrunde: „Interaktion als soziales Gefüge“, „Interaktion als kognitiver Prozess“ und „Interaktion als Aufgabenlösen“. Die Datenanalyse erfolgte anhand der Dokumentarischen Methode nach Bohnsack (2003). Tesch konnte unterschiedliche Lehr-Lern-Konzepte herausarbeiten (s. die Übersicht ebd.: 187), aus denen im Folgenden jene „Einzelorientierungen“ (ebd.) dargelegt werden, die für frühe Interkomprehensionen von besonderer Bedeutung sind. a) Orientierungen der Lerner: Bei den Schülern konnte Tesch eine Orientierung am ‚Gewohnten‘ feststellen. In einer Abschlussbesprechung nach Durchführung der Module zu Pir@tes du Net wurden Schüler einer zehnten Klasse aufgefordert, die Bearbeitung der Kompetenzaufgabe mit der Arbeit mit dem Lehrbuch zu vergleichen (ebd.: 188). Eine Schülerin beklagt: Was im Lehrbuch aber besser ist, da war zum Beispiel jetzt, was auch schon oft angesprochen wurde mit den Vokabeln diss da hatte dann jeder im Lehrbuch stehen die Vokabeln da sind es immer dieselben und bei den Aufgaben war es dann halt da hat der eine diss rausgesucht der nächste hatte wieder was ganz <?page no="91"?> 2. Frühe Interkomprehension 77 anderes also hätte man irgendwie die Vokabeln mehr (.) dass jeder dieselben Vokabeln hat und nicht jeder für sich da seine Vokabeln hat sozusagen. (ebd.: 189) Tesch (ebd.) deutet diese Äußerung dahingehend, dass die Lernerin aufgrund eines erlebten lehrwerkzentrierten Unterrichts keine Vorteile in einem individualisierten Lernen sieht. Sie bevorzuge, so Tesch, dass alle Schüler auf dem gleichen Stand sind, wie sie es von der Vokabelarbeit mit dem Lehrbuch, in dem Vokabular in kleinen ‚Häppchen‘ präsentiert wird, gewohnt ist. Der Bezug zu (frühem) Interkomprehensionsunterricht ist offensichtlich: Wird es von einer Schülerin als ein Nachteil wahrgenommen, dass jeder Lerner in ihrer Klasse zu einem anderen Ergebnis kommt, weil er sich andere Vokabeln „rausgesucht“ (s.o.) hat, so potenziert sich diese Wahrnehmung im Interkomprehensionsunterricht vermutlich. Denn: Zu der Verschiedenheit der ausgewählten Lexeme, die im Wörterbuch nachgeschlagen werden, addiert sich im Falle einer Mobilisierung eigener Ressourcen (vermutlich - je nach sprachlicher Zusammensetzung der Lerngruppe) eine Vielfalt unterschiedlicher Transferbasen. Hierbei hängt das von den Schülern fokussierte Vokabular selbstverständlich wiederum von den verfügbaren Transferbasen ab. Tesch schlussfolgert aus der Stellungnahme seiner Probandin die Konsequenz, solchen Unsicherheiten „durch Fixierung eines gemeinsamen Vokabelstamms und Vergleich individueller Vokabelrecherchen“ (ebd.: 189) zu begegnen. Auch hier ist eine Übertragbarkeit auf Unterrichtsgespräche im Interkomprehensionsunterricht denkbar. Der „gemeinsame Vokabelstamm“ könnte sich beispielsweise auf Schlüsselwörter in einem interkomprehensiven Text beziehen. Die individuellen Vokabelerschließungsprozesse können miteinander verglichen werden und finden Eingang in den - individuellen - Hypothesengrammatiken und mehrsprachigen Wörterbüchern. Durch die Individualität in der Verfügbarkeit potenzieller ausgangs- und brückensprachlicher Transferbasen und Transferoperationen (s. die Typologie in Abschnitt I 1.2) ist auch bei einem „gemeinsamen Vokabelstamm“ ein Vergleich möglich. Dass eine Orientierung am „gewohnten Unterricht“ (ebd.: 188) einer Umsetzung dieser Überlegungen im Wege stehen kann, zeigt ein Transkriptausschnitt zu einer Gruppenarbeit beim Stationenlernen (Modul 1 aus Pir@tes du Net). Im atelier jaune (d.h. einer Station) erhalten die Schüler eine fiche ressources, die ihnen unbekannte Wörter enthält: Cathi: Le cerveeu cerveau (,) se trouve à l’unité centrale. Ooh Leute, woher soll man das denn wissen. Sandra: Das steht ja auch nirgendwo. Cathi: Frau Böger, Frau Böger. Wir wissen nicht was ähm le cerveau se trouve à l’unité cen centrale. Was heißt das? Tesch (ebd.: 193) <?page no="92"?> 78 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Wie aus diesem kurzen Dialog hervorgeht, sind die Schülerinnen nicht nur mit der Aufgabe überfordert, sie kritisieren auch das Vorhandensein unbekannten Vokabulars (ebd.). Obwohl zumindest das Syntagma à l’unité centrale für die Neuntklässlerinnen eine Reihe an Transferbasen bereitstellen würde (frz. unité → engl. unit (das sie aus ihrem Englischbuch kennen dürften), frz. centrale → engl. central → dt. „zentral“), unternehmen sie nicht einmal den Versuch, Elemente des Textstücks selbst zu erschließen. Stattdessen wird sofort die Lehrperson gefragt. Tesch (ebd.: 193-194) äußert sich hierzu wie folgt: Ihre diesbezügliche Orientierung ist, dass Aufgaben im Sprachenunterricht keine lexikalischen und keine Wissensprobleme aufzuweisen haben. Dies lässt auf die starke Prägung durch den lehrwerkszentrierten Unterricht schließen. Selbstständiges Arbeiten über das Lehrwerk hinaus, z.B. Wörterbucharbeit, Problemlöseverhalten durch Recherchieren etc., scheint unüblich zu sein. Ein Schüler aus Klasse 10 allerdings versucht bei dieser Aufgabe einen Transfer für frz. capter → „Kapitän, Cutter“ (ebd.: 200). Wie aus dem Beispiel hervorgeht, orientiert sich der Lerner an Ähnlichkeiten auf Signifikantenebene und berücksichtigt hierbei weder den Kontext (Computer) noch die Wortart 72 . Dieser Befund deckt sich mit Ergebnissen aus der Interkomprehensionsforschung in Bezug auf jüngere Lerner (Achtklässler; vgl. passim: Bär 2009) und aus dem Thüringer Kooperationsprojekt (Behr 2007: 137; s. Abschnitt I 2.4). Was metakognitive Stellungnehmen angeht, konnte Tesch (2010b: 239) in einer abschließenden Besprechung der Frage, ob die Aufgabe Pir@tes du Net die Schüler dazu motiviert habe, sich für französischsprachige Texte im Internet zu interessieren, Folgendes feststellen: Rita äußert, dass sie durch das Stationenlernen das „Übertragen“ von Vokabeln gelernt habe. Sie meint das Erschließen von Lexik. Dies motivierte, auch andere Texte selbstständig zu lesen. Implizit gibt Rita zu verstehen, dass dieses selbstständige Vokabelerschließen offenbar im vorherigen Unterricht nicht oder nicht genügend geübt wurde, widerspricht sich damit aber in Bezug auf ihre zuvor geäußerte Proposition, wonach ihr die kleinschrittige Lehrwerksarbeit besser gefalle. Auch hier zeigt sich eine interessante Parallele zu Untersuchungen zu sprachenübergreifendem Lernen und Lehren. So konnte Behr ermitteln, dass die Schüler ihrer Studie - wenn auf einer Metaebene allgemein dazu befragt - „sprachenübergreifendem Lernen sehr aufgeschlossen gegenüberstehen und dies mit lernerleichternden Effekten begründen“ (2007: 73), aber auf der anderen Seite sich mit den Erschließungsaufgaben überfordert zeigen (ebd.: 137), so auch die Befunde von Bär (2009: 514ff.) zu den Achtklässlern seiner Untersu- 72 Anders verhält es sich allerdings bei seiner Hypothese von frz. cerveau dt. „Server“ (ebd.), wo der thematische Rahmen „Computer“ berücksichtigt wird. <?page no="93"?> 2. Frühe Interkomprehension 79 chung. Auch wenn ein unmittelbarer Vergleich der Studien nicht gegeben ist, weisen sie dennoch in jene gemeinsame Richtung, dass ein Mangel an strategischem Wissen bzw. eine Ablehnung auf der Ebene konkreter Aufgaben dennoch mit einer positiven Grundhaltung gegenüber sprachenübergreifendem Lernen zusammenfallen kann. Tesch kommt zu dem Schluss, „dass das Erschließen unbekannter Lexik als Haupthürde gedeutet wird, das Stationenlernen aber die Einsicht in die Erschließungsarbeit lexikalischer Strukturen weckte und dass ferner in dieser Klasse noch kein Strategielernen im Hinblick auf das Lesen unbekannter authentischer Texte erfolgte.“ (2010b: 242). b) Orientierungen der Lehrer: Bei der Probandengruppe der Lehrkräfte konnte Tesch (ebd.: 265) eine „Orientierung an Lernkontrolle und […] an Instruktion“ feststellen. Beim atelier bleu des Stationenlernens aus der Aufgabe Pir@tes du Net beispielsweise, einer Lückentextaufgabe über eine Bedienungsanleitung zu einem Computer, bei der aus zehn vorgegebenen Infinitiven das inhaltlich passende Verb ausgewählt und in der die richtige Verbform (2. Pers. Pl.) gebracht werden muss, bleibt eine Förderung von Lernkompetenz aus (ebd.: 267). Die Schüler haben Schwierigkeiten mit der Aufgabe, auch auf lexikalischer Ebene. Tesch (ebd.) schlägt vor, dass die Lernenden „die verbleibenden Zweifelsfälle bzw. Dunkelzonen durch geschickte Fragetechnik angeleitet selbst aufklären“ (sokratischer Dialog; s. hierzu auch Abschnitt II 4. der vorliegenden Untersuchung). Die Lehrkraft geht stattdessen nicht konstruktiv auf die Lösungsvorschläge der Lerner ein und führt sogar eine Schülerin, die für die Lücke „D’abord tu ___________ l’ordinateur en marche.“ (Tesch et al. 2008; beiliegende CD-Rom) das Verb allumer anbietet, vor der Klasse vor (ebd.: 267-268). Auch bei einer Hörverstehensübung aus der Kompetenzaufgabe stellt Tesch fest, dass lexikalische Lücken von der Lehrperson selbst aufgelöst werden und diese nicht auf die lernerseitige Hypothesenbildung vertraut (ebd.: 276). In einer Leseverstehensübung (les artistes parlent du téléchargement) wurde beobachtet, dass die Lehrperson globales, detailliertes und inferierendes Leseverstehen miteinander vermengte (ebd.: 278). Insgesamt konnte Tesch feststellen (ebd.: 280), dass in keiner der von ihm beobachteten Klassen ein prozessorientiertes Aushandeln von Bedeutung zum üblichen Repertoire gehörte. Stattdessen wurde in den aufgezeichneten und analysierten Stunden eine „lehrerzentrierte Lernkontrolle“ sichtbar, im Falle einer Lehrperson spricht Tesch (ebd.) von einem „Würmer-aus-der-Naseziehen“ erwarteter Antworten. Aus der Perspektive der Interkomprehensionsdidaktik betrachtet ist auch der Befund, dass eine Lehrkraft im Laufe der Unterrichtsinteraktion mehrfach selbst den Fokus auf (meta)sprachliche Phänomene richtet und sodann auch selbst erklärt, ohne dass die Schüler ein Frageinteresse hieran gezeigt hätten, problematisch. In diesem Zusammenhang sei an Meißners (2004a: 60) Hinweis: „Den an praktischer Sprachkompetenz <?page no="94"?> 80 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht interessierten Lernern muss nicht alles erklärt werden, was in der Systemhaftigkeit und im Bestand einer Sprache oder Sprachfamilie liegt. Entscheidend ist ihr persönliches Frageinteresse.“ erinnert. Sprachlernkompetenz in Lehrplänen Angesichts der zeitlichen Verortung des Begriffs der „frühen Interkomprehension“ auf den Beginn des Erlernens einer zweiten Fremdsprache soll im Folgenden ein kurzer Blick auf die Frage nach der Rolle von Sprachlernkompetenz bzw. „methodischen Kompetenzen“ 73 in den Lehrplänen von Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen geworfen werden 74 . In den Lehrplänen in Nordrhein-Westfalen für das Fach Französisch an Realschulen und Gymnasien (G 8) ab Jahrgangsstufe 6 heißt es unter „Kompetenzerwartungen am Ende der Jahrgangsstufe 6“ für die methodischen Kompetenzen im Bereich Hör-, Hör-Sehverstehen und Leseverstehen (Hervorhebung: StM) 75 : Die Schülerinnen und Schüler können ein Grundinventar von Lern- und Arbeitstechniken für selbstständiges und kooperatives Lernen anwenden. Hör-, Hör-Sehverstehen und Leseverstehen Sie können Vorwissen aktivieren (u.a. Assoziationen zu einem Thema oder einer Überschrift sammeln, ein Vokabelnetz erstellen, Kenntnisse anderer Sprachen [Deutsch, Englisch, ggf. Herkunftssprachen] nutzen, um Bedeutungen von neuen Wörtern zu erschließen), auf Global- und Detailfragen zu Hör-/ Hör-Seh-/ Lesetexten (u.a. Fragen nach où, quand, qui, comment, quoi, pourquoi) mit elementaren sprachlichen Mitteln mündlich oder schriftlich antworten, 73 Der Begriff der „Sprachlernkompetenz“ ist m.E. jenem der „methodischen Kompetenzen“ (KMK 2003) vorzuziehen, da der zweitgenannte Terminus es nicht erlaubt, zwischen einer Lern- und einer Lehrperspektive zu unterscheiden (zur Kritik an diesem Begriff vgl. auch Martinez & Schröder-Sura 2011; Meißner 2011c: 74 und Müller-Hart mann et al. 2013: 144). 74 Die Daten für die vorliegende Untersuchung wurden in den Bundesländern Hessen und Niedersachsen erhoben. Der nordrhein-westfälische Kernlehrplan für Französisch an Realschulen und das dortige Kerncurriculum für Französisch an Gymnasien werden hier erwähnt, da sie konkret auf Lernziele am Ende der Jahrgangsstufe 6 eingehen, wohingegen sich das niedersächsische Kerncurriculum an den Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss orientiert und auf das Ende der Sekundarstufe I bezieht. 75 Die hier vorgenommene Bezugnahme auf rezeptive Kompetenzen soll nicht implizieren, dass sich die Interkomprehensionsdidaktik und -forschung nach wie vor ‚allein‘ Sprach rezeption widmet (vgl. den Ansatz des mehrsprachigen diagnostischen Schreibens; Meißner 2008b; 2010a; zu Interaktion auf der Plattform Galanet vgl. z.B. Prokopowicz 2011, 2016). <?page no="95"?> 2. Frühe Interkomprehension 81 einfache gelenkte Aufgaben zum detaillierten, selektiven und globalen Hören und Lesen sowie Richtig-Falschbzw. Multiple-Choice-Aufgaben bearbeiten und mit sprachlichen Hilfen umgehen, in Lesetexten Schlüsselwörter für das inhaltliche Verständnis auffinden und markieren, beim Hören Schlüsselwörter notieren, einfache Stichwortnotizen anfertigen bzw. wichtige Informationen des jeweiligen Textes (u.a. am Textrand) markieren. 76 Wie aus der Auflistung der „methodischen Kompetenzen“ hervorgeht, werden Kenntnisse anderer Sprachen erwähnt, jedoch auf die Bedeutungserschließung neuer Wörter reduziert. Die in den Lehrplänen angesprochene Aktivierung von sprachlichem Vorwissen wird in ihrer Funktion somit auf die lexikalische Ebene beschränkt. Hypothesenbildung über Morpho-syntax - sehr wichtig für Lese- und Hör(seh)verstehen - wird nicht erwähnt. Im Bereich des Lernens des Lernens (savoir apprendre) ist lediglich von einer Anwendung von „Lern- und Arbeitstechniken“, nicht auch von Reflexion die Rede. Methodenkompetenzen für das Leseverstehen activités avant la lecture activités pendant la lecture Die Schülerinnen und Schüler … aktivieren ihr Vorwissen. erschließen die Textsorte anhand formaler und visueller Merkmale (z.B. Überschriften, Layout). nutzen Impulse (z.B. Geräusche, Mimik, Gestik, Bilder, Illustrationen). formulieren Hypothesen zum Textinhalt. Die Schülerinnen und Schüler … wenden zum Erfassen der Textaussage Erschließungsstrategien an (z.B. über Bilder und Überschriften sowie Wörter). überwinden das Wort-für-Wort-Lesen, um mehr und mehr in Sinneinheiten zu lesen. setzen Strategien der globalen, selektiven und detaillierten Informationsentnahme ein: la lecture de survol (skimming), la lecture de repérage (scanning), la lecture d’écrémage (kursorisches Lesen) und la lecture d’approfondissement (analytisches Lesen). markieren, strukturieren, gliedern und ordnen Textinformationen. schließen Verständnislücken durch Hypothesenbildung und Verifizierung. nutzen ein Vokabelverzeichnis/ Wörterbuch und andere Informationsquellen. Tab. 5: Methodenkompetenzen für das Leseverstehen im niedersächsischen Kerncurriculum 77 76 http: / / www.schulentwicklung.nrw.de/ lehrplaene/ upload/ lehrplaene_download/ realschu le/ rs_franzoesisch.pdf und http: / / www.schulentwicklung.nrw.de/ lehrplaene/ lehrplanna vigator-s-i/ gymnasium-g8/ franzoesisch-g8/ kernlehrplan-franzoesisch/ kompetenzen/ kompetenzen.html (letzter Zugriff am 10.07.2015). <?page no="96"?> 82 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Auf der anderen Seite ist demgegenüber im niedersächsischen Kerncurriculum für das Gymnasium gar keine explizite Bezugnahme auf Kenntnisse anderer Sprachen zu finden, obwohl sich dieses auf den Mittleren Schulabschluss (vgl. S. 12) und somit ältere Lerner (mit entsprechend fortgeschritteneren Kenntnissen in Brückensprachen) bezieht (S. 27; Hervorhebungen durch Fettdruck StM): Bei einer Betrachtung der differenzierten Transfertypologie der Interkomprehensionsdidaktik (Meißner 2002, 2007a) fällt ins Auge, wie allgemein Lernziele wie „wenden […] Erschließungsstrategien an […] über […] Wörter“ und „schließen Verständnislücken durch Hypothesenbildung und Verifizierung“ (s.o.) formuliert sind. Es ist zu fragen, ob sie in dieser Allgemeinheit für Lehrende (und vor allem auch für Lernende) wirklich eine Hilfestellung und Orientierung darstellen können und ob die Interkomprehensionsdidaktik hier einen Beitrag leisten kann. Im Lehrplan Französisch für die Realschule in Hessen 78 und das Ende des ersten Lernjahres schließlich werden folgende „[v]erbindliche Unterrichtsinhalte/ Aufgaben“ genannt (S. 15) 79 : Hörverstehen / Leseverstehen Inseln des Verstehens bilden: den situativen Kontext, verstandene Gesprächsfetzen, Wörter ... wiedergeben Selektives Hören / Lesen Bildinformationen nutzen Leseverstehen: wesentliche Informationen markieren Arbeitsanweisungen verstehen Wie die Übersicht zeigt, werden hier lediglich Bildinformationen als Wissensquelle bei Erschließungsprozessen angesprochen, Kenntnisse anderer Sprachen 77 http: / / db2.nibis.de/ 1db/ cuvo/ ausgabe (letzter Zugriff am 10.07.2015). 78 Der Lerner aus der Longitudinalstudie (Kapitel III 2.) besucht den Realschulzweig einer kooperativen Gesamtschule. Da es hierfür keine separaten Lehrpläne gibt, wird im Folgenden aus dem Lehrplan für die Realschule zitiert (https: / / verwaltung.hessen. de/ irj/ HKM_Internet? cid=f1e079cc428af80d07f4fe2db20fe301; letzter Zugriff am 20.07.2015). 79 Im neuen Kerncurriculum für Hessen für die Realschule werden für die zweite Fremdsprache sogenannte „[l]ernzeitbezogene[n] Kompetenzerwartungen und Inhaltsfelder“ ab dem Ende der Jahrgangsstufe 8 angegeben. Im Bereich der Sprachlernkompetenz heißt es dort: „Eine angemessen differenzierte Stufung wird nicht vorgegeben. Die beim Abschluss des Bildungsgangs erwarteten Kompetenzen werden sukzessiv entwickelt.“ (S. 36); www.kultusministerium.hessen.de (letzter Zugriff am 10.07.2015). <?page no="97"?> 2. Frühe Interkomprehension 83 jedoch überhaupt nicht. Beim situativen Kontext, Gesprächsfetzen und Wörtern ist lediglich davon die Rede, diese wiedergeben zu können, wenn sie verstanden wurden. Nach der Wissensquelle wird hier nicht gefragt. Diese Produktbzw. Outputorientierung steht nicht im Einklang mit der Interkomprehensionsdidaktik, der es bei dem Ziel der Ausbildung von Sprachlernkompetenz gerade um die Analyse von mentalen Verarbeitungs- und Lernprozessen durch die Lerner geht. Der Frage, inwieweit dies bereits in der sechsten Klasse möglich ist, wird in der vorliegenden Untersuchung (insbesondere im Rahmen der Longitudinalstudie; Abschnitt III 2.) nachzugehen sein. Je nach Alter und kognitiver Reife können sich Lern-, Erschließungs- und Konstruktionsprozesse vermutlich mit einem unterschiedlichen Grad an Be wusstheit verbinden. So wird in der Literatur, wie bereits angesprochen, zwi schen einem deklarativen Wissensaspekt und einem prozeduralen Handlungs aspekt von Metakognition unterschieden (vgl. Martinez 2008: 50; s. auch Abschnitt I 1.3 im vorliegenden Buch). Diese Unterscheidung lässt sich auch auf (meta)sprachliches Wissen übertragen. Es geht nicht lediglich um das Produkt von Erschließungsprozessen, sondern auch um die (meta)sprachlichen Über legungen und eingesetzten Strategien auf dem Weg zu diesem Produkt. Dieses savoir faire zeigt sich gerade auch in der Fähigkeit, aus dem eigenen strategischen und sprachlichen Repertoire (vgl. RePA 2009) jene Ressourcen aktivieren zu können, die den jeweiligen konkreten sprachlichen Anforderun gen angepasst sind. Doch welche Strategien sind jungen Lernern bewusst und wie stellen sie sich Sprachenlernen vor? Das folgende Kapitel widmet sich empirischen Untersuchungen, die sich u.a. mit diesen Fragestellungen befassen. 2.3 Lernstrategien, Sprach(lern)reflexion und junge Lerner Befunde zu Vorstellungen vom Lernen und zu Strategieeinsatz Über ein Jahrzehnt vor der flächendeckenden Einführung des Fremdsprachenunterrichts in der Grundschule ging Howard De Leeuw (1997 80 : 11) in einer sowohl schriftlichen als auch mündlichen Befragung den Fragestellungen nach: 1. To what extent are young foreign language learners able to reflect on and describe their perspectives of the language learning process and, more specifically, their use of learning strategies? 2. What is the significance of these insights into learning strategies and the learning process from the learner’s perspective for both learners and teachers? 80 Die Erhebung der Daten wurde im Jahre 1993 durchgeführt (vgl. de Leeuw 1997: 13; 166). <?page no="98"?> 84 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Seine Probanden waren Schüler der 3. und 4. Klasse (n = 104) in verschiedenen deutschen Grundschulen (ebd.: 13) 81 . Die schriftliche Befragung bestand aus einem Fragebogen (vgl. ebd.: 139) mit 12 Aussagen über Strategieeinsatz, die in Anlehnung an Oxford (1990) formuliert waren und zu denen die Kinder den Grad der Häufigkeit des Einsatzes auf einer fünfstufigen Skala von „nie“ über „kaum“, „manchmal“ und „oft“ bis zu „immer“ angeben sollten. Die Items umfassen u.a. die Themen des Einsatzes von Bildern, des Vergleichs von englischen Wörtern mit deutschen, Kompensationsstrategien bei Wissenslücken, metakognitive und soziale Strategien. De Leeuws Ziel war dabei auch, der Frage nachzugehen, inwieweit junge Lerner mit einem solchen Erhebungsinstrument zurechtkommen (ebd.: 137). Der Fragebogen sollte zudem als eine Strukturierungshilfe für die mündlichen Befragungen (halb-offene Interviews) dienen. De Leeuw (ebd.: 160) konnte eine große interindividuelle Varianz bei den Häufigkeitsangaben der Befragten für jedes Statement ermitteln, die sich nicht zu Variablen wie Alter oder Geschlecht in Verbindung bringen ließen. So konnte beispielsweise die Frage, welche Strategien eher von Dritt- und welche eher von Viertklässlern bevorzugt wurden, nicht beantwortet werden. Zwar konnte er feststellen, dass die Kinder anscheinend keine Schwierigkeiten mit dem Fragebogen hatten, räumt jedoch ein, dass er durch das gewählte Fragebogendesign Strategieeinsatz als selbstverständlich vorausgesetzt habe (ebd.: 144). Problematisch ist auch die geringe Kontexteinbettung (vgl. ebd.: 161) der Items des Fragebogens, wie beispielsweise Item 9: „Ich habe Angst, Englisch zu sprechen.“ (ebd.: 139) illustriert. Die Ergebnisse des Fragebogens wurden für die Formulierung der Interviewfragen herangezogen. Die Interviews wurden mit allen beteiligten Schülern durchgeführt und hatten eine Dauer von 5 bis 10 Minuten (vgl. ebd.: 166). Im Folgenden werden einige Befunde aus den Interviewdaten referiert, die für den Kontext der vorliegenden Untersuchung von besonderem Interesse sind: Bei seinen Ergebnissen zur Frage: „Wie lernst du Englisch? “ (vgl. ebd.: 172ff.) stellt De Leeuw (ebd.: 173) fest: „the activities which comprise English instruction are not necessarily viewed by the students as having anything to do with learning the language.”. Aus diesem Befund zieht der Autor folgende Schlussfolgerung: „The question could be asked whether it is even desirable for young learners to make a conscious connection between activities, such as singing or playing games, and language learning.” Die hier problematisierte Verbindung von Aktivitäten wie Singen und Spielen auf der einen und Sprachenlernen auf der anderen Seite impliziert die Vorstellung einer gewissen Unvereinbarkeit dieser einander gegenüber gestellten Begriffe (als ob das Lernen von Sprachen Kindern per se nicht gefallen könne). Warum jedoch eine „conscious connection“ von solchen Aktivitäten 81 Auch die vier beteiligten Lehrkräfte wurden in Form von Fragebögen befragt (vgl. De Leeuw 1997: 197ff.). <?page no="99"?> 2. Frühe Interkomprehension 85 und Sprachenlernen auf Seiten der Schüler nicht wünschenswert sein könnte, wird vom Autor nicht weiter diskutiert (vgl. ebd.). Ein interlingualer Transfer wird explizit als eine Frage des Leitfadens in die Interviews aufgenommen, allerdings lediglich mit Bezugnahme auf Ähnlichkeiten im Deutschen und Englischen (ebd.: 189-190). Nach wahrgenommenen Ähnlichkeiten zu weiteren Sprachen wird nicht gefragt, auch nicht zu Herkunftssprachen, wobei aus der Darstellung der beteiligten Probandengruppen (ebd.: 13) nicht hervorgeht, ob Kinder mit Migrationshintergrund unter den Probanden vertreten sind. De Leeuw konnte mehrheitlich feststellen, dass die Kinder Ähnlichkeiten vom Deutschen zum Englischen wahrgenommen haben und auch konkrete Beispiele nennen konnten (sowohl für einander ähnlichere Wörter wie „Toast-toast“ als auch für weniger ähnliche wie „Füsse-feet“ ebd.: 190). Er schlussfolgert (ebd.): The fact that the majority of children recognized similarities between the two languages does not automatically mean that they will therefore learn English more easily. Instead, it demonstrates an awareness of how the native language can, at times, be a resource for understanding and learning words in the target language, something that teachers can assist students in taking advantage of when appropriate. Hier wird die angesprochene zwei-, nicht mehrsprachige Orientierung deutlich. Die Frage, was mit der Einschränkung „when appropriate“ genau gemeint ist, lässt der Autor bedauerlicherweise unbeantwortet. Sollten hiermit interlingual in ihrer Bedeutung und Sprachform ähnliche Lexeme (‚gute Freunde‘) gemeint sein, ist aus der Perspektive der Interkomprehensionsdidaktik auf die auch fehlerprophylaktische Funktion interlingualer Bezüge hinzuweisen. Viele Probanden nennen zur Frage: „Wie lernst du Englisch? “ vor allem lehrerzentrierte Aktivitäten: „Repeat after the teacher“ ist die am häufigsten gegebene Antwort (von 28 der 68 Drittklässler und 21 der 37 Viertklässler; vgl. ebd.: 174). Auch auf die Frage: „Was machst du, wenn du etwas auf Englisch nicht verstehst? “ (ebd.: 179ff.) können 20 % der Drittklässler als Antwort nur angeben, dass sie den Lehrer fragen können (ebd.: 180). Überrascht ist De Leeuw von diesen Befunden nicht (ebd.: 173): Perhaps more than in any other classroom context, the FLES [= Foreign Languages in the Elementary School; StM] teacher remains very much in the center of instruction and therefore, it is to be expected that students would refer to imitation and repetition, teacher-centered activities, as a primary means of learning English. Auf der anderen Seite stellt De Leeuw (1997: 363) im Hinblick auf die Nutzung von Strategien fest: „Lernstrategien werden bereits im Grundschulalter angewandt, wenn sie auch als solche von den Schülern nicht durchschaut werden.“ Auf der Grundlage dieser Ergebnisse schlussfolgert er: „Because of this, one of <?page no="100"?> 86 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht the aims of foreign language instruction at the elementary school level should be to help students discover, with the teacher’s assistance, other means and strategies for learning which go beyond mere imitation and repetition.” (ebd.; so auch Blondin et al. (1998: 28): „Den Kindern kann beim Bewusstwerden ihrer unbewussten Lernstrategien geholfen werden. Das hilft ihnen mehr Verantwortung für ihr Lernen zu übernehmen und sich zu verbessern.“). Eine weitere Studie, in der junge Lerner zu Strategien befragt wurden und die im Rahmen des außerschulischen Vokabellernens angesiedelt ist, wird im folgenden Abschnitt kurz dargestellt. Befunde zur Wortschatzarbeit von Fünft und Achtklässlern Haudeck (2008) geht der Frage nach fremdsprachlicher Wortschatzarbeit außerhalb des Klassenzimmers nach. Ihr Anliegen ist es, „differenziertere Erkenntnisse über individuelle Lernprozesse bei der Wortschatzarbeit von Lernern im Anfangs- und im fortgeschrittenen Fremdsprachenunterricht zu gewinnen“ (ebd.: 110). Zwar ist die Untersuchung auf Vokabellernen im Rahmen des Englischunterrichts bezogen, ist aber im Hinblick auf die untersuchten Lernergruppen, Schüler der Klasse 5 (n = 5) und 8 (n = 7), auch für die vorliegende Untersuchung von Interesse, weil der Fokus auf Lernstrategien und Lerntechniken liegt. Haudeck (ebd.: 111) geht davon aus, dass „lernstrategisches Vorgehen in Form von Lerntechniken bewusstseinsfähig ist, aber gleichzeitig von unbewussten Lernprozessen durch die Wirkung impliziter Lernstrategien begleitet wird“ (ebd.: 111). Die zentrale Fragestellung ihrer Untersuchung: „Wie gehen Schülerinnen und Schüler beim Wörterlernen zu Hause vor […]? “ (ebd.: 112) wird in sechs konkretere Teilfragen aufgegliedert, die sich unter anderem auf Unterschiede zwischen den Vorgehensweisen von Lernern im Anfangsunterricht und fortgeschrittenen Lernern 82 beziehen. Für die Erhebung der Daten wurden neben Interviews und Beobachtungen des Vokabellernens zu Hause Audio-Tagebücher eingesetzt (vgl. ebd.: 124). Die Daten wurden mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2000) ausgewertet. Im Hinblick auf die Frage des Leitfadens: „Wie hast du die Wörter gelernt? “ kommt Haudeck (2008: 136ff.) zu dem Ergebnis, dass sich zwei der fünf Fünftklässler teilweise gar nicht auf diese Fragestellung beziehen (ebd.: 137) und die Anzahl genannter Kategorien bei dieser Altersgruppe verglichen mit den Achtklässlern geringer ist (ebd.: 139). Sie folgert, dass „Schüler einer achten Klasse vermutlich nicht nur über eine größere Erfahrung und Bewusst heit in Bezug auf fremdsprachliche Wortschatzarbeit [verfügen], sondern auch über eine z.T. entwicklungsbedingt differenziertere Ausdrucksweise“ (ebd.). Aus der mehrjährigen Fremdsprachenlernerfahrung resultiere eine individuelle 82 Die untersuchten Jahrgangsstufe sind, wie erwähnt, Klasse 5 und 8. Haudecks Daten erhebung wurde vor Beginn der flächendeckenden Einführung des grundschulischen Fremdsprachenunterrichts durchgeführt. <?page no="101"?> 2. Frühe Interkomprehension 87 Sprachlernbewusstheit (ebd.: 353). So konnten beispielsweise Elaborations strategien wie das Herstellen von visuellen Vorstellungen, die in Haudecks Klassifikation kognitiver Lernstrategien die höchste Stufe der Tiefenverarbei tung einnehmen (ebd.: 30f.), ausschließlich bei Achtklässlern nachgewiesen werden 83 . Während bei den Fünftklässlern vor allem der interlinguale Transfer aus der Muttersprache bei lautlicher oder orthographischer Ähnlichkeit förderlich wirke, nutzten Achtklässler (ebd.): intralingualen zielsprachlichen Transfer, morphologische und syntaktische Analysen, Sprachvergleiche, auch mit der zweiten Fremdsprache (Französisch), Fremdwörter und Weltwissen. Abschließend kommt Haudeck (ebd.: 355-356) bezüglich der Frage nach Unterschieden zwischen den Vorgehensweisen von Fünft- und Achtklässlern bei der Wortschatzarbeit unter anderem zu Hause zu folgenden Hypothesen: Achtklässler sind aufgrund ihres Alters und ihrer fremdsprachlichen Lern erfahrung in der Lage, ihre Vokabellernaktivitäten differenzierter zu beschreiben als Fünftklässler. Schüler der Klassenstufe 5 verknüpfen den englischen Wortschatz in erster Linie mit der Muttersprache mittels interlingualen Transfers, während Schülern der 8. Klassenstufe aufgrund ihres schon (mehr)sprachlichen Vor wissens ein potenziell größeres Spektrum an Organisationsstrategien zur Verfügung steht, zu denen ein intralingualer Transfer (z.B. über die Anwendung von Wortbildungsregeln), morphologische und syntaktische Analysen sowie kontrastive Sprachenvergleiche gehören. Fünftklässler konzentrieren sich beim Vokabellernen zunächst stärker auf die Sprachform, insbesondere die korrekte Schreibweise, während Achtklässler darüber hinaus auch die semantischen Ordnungssysteme, z.B. Begriffs- oder Merkmalsnetze […] für die Lernprozesse zu nutzen wissen. Bezogen auf den zweitgenannten Punkt ist vor allem die Frage interessant, wie sich das Spektrum an Organisationsstrategien nun, nach der Einführung des grundschulischen Fremdsprachenunterrichts und der Vorverlegung des Unterrichts der zweiten Fremdsprache, bei Lernern zu Beginn der Sekundarstufe darstellt, da sich die den Hypothesen zugrunde liegenden Bedingungen, insbesondere im Hinblick auf das (mehr)sprachliche Vorwissen, geändert haben. Ein direkter Vergleich von Haudecks und der vorliegenden Untersuchung ist selbstverständlich (u.a.) aufgrund des unterschiedlichen Erkenntnisinteresses, 83 Auf der anderen Seite werden, so die Autorin, bestimmte Grundmuster bereits in der 5. Klasse angelegt und lassen sich nahezu identisch in der 8. Jahrgangsstufe wiederfinden (ebd.: 353). Hierzu zählen Vokabelgleichungen („Paarassoziationsverfahren“) und eine Fokussierung der schriftlichen Wortform. Haudeck führt diesen Sachverhalt auf „die über die Klassenstufen hinweg gleich bleibenden Konventionen und Anforderungen des fremdsprachlichen Unterrichts bzw. der Fremdsprachenlehrkraft“ (ebd.) zurück. Zwar stehe die Wortform auch bei Achtklässlern zunächst im Vordergrund, doch können diese, so die Verfasserin, „in einem weiteren Schritt die mannigfaltig vernetzten semanti schen Wissensstrukturen ihres mentalen Lexikons stärker aktivieren“ (ebd.: 354). <?page no="102"?> 88 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht das beispielsweise im Fokus auf Strategien und Techniken des Vokabellernens auf der einen und des zugrunde gelegten weiten Begriffs von Sprachlernkompetenz auf der anderen Seite deutlich wird, nur bedingt möglich. Doch ist insbesondere im Rahmen der Longitudinalstudie zu fragen, ob sich die von Haudeck nur bei Achtklässlern festgestellten Strategien des intralingualen zielsprachlichen Transfers, der morphologischen und syntaktischen Analyse, der auch fremdsprachlich interlingualen Sprachvergleiche sowie der Nutzung von Fremdwörtern und Weltwissen hier nachweisen lassen. Im Hinblick auf die von Haudeck festgestellte differenziertere Ausdrucksweise der Achtklässler muss bezogen auf die vorliegende Untersuchung die Frage nach der Fähigkeit der Sechst- und Siebtklässler gestellt werden, ihre sprachlichen Hypothesen zu verbalisieren. Zwar beschränkt sich Haudeck auf die Wortschatzebene und hier auf das häusliche Lernen von Vokabular, doch liegen andererseits insgesamt wenige Untersuchungen zu Introspektionen junger Lerner zu ihren Sprachhandlungen oder ihrem Sprachenlernen vor. Mordellet-Roggenbuck (2002) beispielsweise konnte in ihrer Untersuchung über die Artikulation des Französischen bei deutschsprachigen Drittklässlernern in Unterrichtsbeobachtungen und -analysen Fälle von persönlicher Sinnerschließung (ebd.: 181) und Sprachbewusstsein (ebd.: 183) feststellen, Äußerungen der Kinder zu Sprach- und Selbstbeobachtungen wurden jedoch nicht zusätzlich herangezogen. Méron-Minuth (2009: 11-12) befasst sich in ihrer ethnomethodologisch angelegten Longitudinalstudie (Jahrgangsstufe 1 bis 4) mit den Fragen, wie sich Grundschüler in einem immersiv ausgerichteten Französischunterricht kommunikationsstrategisch verhalten und wie sie ihrer Lernersprache entsprechend Äußerungen realisieren (vgl. das Beispiel zu „la [af]“ oben; ebd.: 128). Sie äußert zwar Zweifel, „ob Lernende der betreffenden Altersgruppe überhaupt in der Lage gewesen wären, in einem retrospektiven Interview relevante Aussagen über ihr Sprachverhalten zu treffen“ (ebd.: 111), räumt aber dennoch ein, dass es ihr „aus heutiger Sicht dennoch unerlässlich [scheint], derartige retrospektive Daten zu erfassen, um die Interpretation der angewendeten Kommunikationsstrategien um den Aspekt der individuellen Kinderperspektive zu erweitern.“ (ebd.). Im Folgenden werden aus der umfangreichen Literatur zu interromanischer Interkomprehension (z.B. Blanche-Benveniste & Valli 1997; Castagne 2002; Masperi 2002; Degache 2003; Capucho et al. 2007; Jamet 2007; Conti & Grin 2008; Doyé & Meißner 2010; Meißner et al. 2011a; Mordellet-Roggenbuck 2015) empirische Beiträge vorgestellt, die für die vorliegende Untersuchung von Interesse sind, insbesondere im Hinblick auf das Alter der Lerner bzw. Probanden. Darüber hinaus wird auf die sogenannten classes bilangues in Frankreich eingegangen. Im Anschluss werden empirische Befunde zu <?page no="103"?> 2. Frühe Interkomprehension 89 sprachenübergreifendem Lernen bei Schülern der Sekundarstufe I im deutschen Schulkontext vorgestellt und diskutiert. 2.4 Junge Lerner und Interkomprehensionsforschung Projekte der romanischen Interkomprehensionsforschung Erste Befunde mit jungen frankophonen Lernern In einer Untersuchung zur Fähigkeit junger Lerner, italienische Sätze verstehen und in ihre Satzteile segmentieren zu können, wurden 10-11-jährigen frankophonen Lernern Aufgaben folgender Art vorgelegt (Groupe L1/ L2, zitiert aus De Pietro 2008: 200ff.): (1) Loscolaroestudioso L’élève (garçon) est studieux (2) Leziesonoamericane Les tantes sont américaines (3) Liziisonostudiosi [sic] Les oncles sont studieux (4) Lascolaraeamericana L’élève (fille) est américaine etc. Die Ergebnisse der Untersuchung weisen darauf hin, dass die Schüler nicht notwendigerweise spontan nach sprachlichen Ähnlichkeiten bei der Lösung dieser Aufgabe suchten, obwohl ihnen die französische Übersetzung vorlag (vgl. ebd.: 200-201). Einige haben die Buchstaben oder Wörter gezählt, andere überließen die Segmentierung eher dem Zufall (ebd.: 201). Zwar konnte auch die Wahrnehmung sprachlicher Korrespondenzen bei einigen Schülern beobachtet werden: „mais sono c’est mieux parce que sont […]“, doch konnte auf der anderen Seite festgestellt werden, dass die bei starker interlingualer Ähnlichkeit eingesetzte vergleichende Methode selbst bei kleinen Schwierigkeiten aufgegeben wird (ebd.: 202): él1 ouais mais regarde là los ça c’est los él2 ça commence tout par des « l » él1 colaro e él2 et puis studioso él1 ah ouais studioso . là c’est studieux él2 pis laroe él1 non loscola non losco c’est l’élève ou garçon […] (ebd.) Auch wenn den Schülern das Erkennen der interlingualen Korrespondenz von studioso und studieux gelingt, so zeigt dieses Beispiel dennoch, dass sie bei ihrem Sprachvergleich nicht systematisch vorgehen und sich eher an unmittelbaren Entsprechungen auf der sprachlichen Oberfläche orientieren, denn durch die Wortkette „élève - (écolier) - (scolaire) - scolaro…“ (ebd.) hätten sie auch das Wort scolaro in der italienischen Wortkette erkennen können. De Pietro schließt aus den Ergebnissen, dass Schüler nicht notwendigerweise von sich aus nach sprachlichen Korrespondenzen suchen, was er durch die Meta- <?page no="104"?> 90 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht pher verdeutlicht: „les ponts, que ce soit entre des rives ou entre des langues, n’existent pas s’ils ne sont pas construits.“ (ebd.: 201). Angesichts der Vergleichbarkeit von De Pietros (2008) und der vorliegenden Untersuchung in zwei wichtigen Punkten: dem Alter der Lerner sowie dem Einsatz von interkomprehensiven Zielsprachen aus derselben Sprachfamilie wie die Muttersprache der Lernenden (Italienisch und Französisch und hier (u.a.) Niederländisch und Deutsch), ist zu fragen, ob sich ähnliche Ergebnisse bei dem Lerner der Longitudinalstudie und den Sechstklässlern aus Niedersachen zeigen 84 . Das Projekt euro-mania Euro-mania ist ein Programm, das Eurom4, jenes zum simultanen Erwerb von mehreren romanischen Sprachen (Französisch, Italienisch, Portugiesisch und Spanisch 85 ), mit Sachfachunterricht verbindet. Es ist auch in der Muttersprachendidaktik verankert (Escudé 2010: 62). Im Rahmen einer Zusammenarbeit von fünf europäischen Universitäten (in Frankreich, Italien, Portugal, Rumänien und Spanien) wird eine „méthode d’apprentissage disciplinaire en intercompréhension des langues romanes“ (Escudé 2007: 40) entwickelt, die unter anderem: - Interkomprehension so früh wie möglich behandelt (ab dem Alter von 8 Jahren), durch einen fächerübergreifenden Gebrauch der Sprachen gekennzeichnet ist und schriftliche und mündliche Quellen vorsieht (Escudé 2010: 63). Das Programm umfasst eine Mappe für die Lerner für 20 Lektionen, ein Portfolio mit 125 Texten, zu denen Interkomprehensionsaufgaben zu sieben Sprachen (Französisch, Italienisch, Katalanisch, Okzitanisch, Portugiesisch, Rumänisch und Spanisch) vorgeschlagen werden, und eine Webseite mit allen Texten, auch in mündlicher Form, sowie Austauschforen (ebd.: 63-64). Das Interkomprehensionsprogramm euro-mania geht aus der Überlegung und Beobachtung hervor, dass die panromanische Interkomprehensibilität in den Schulsystemen der Länder nicht (ausreichend) genutzt werde. So wurde in 84 Unabhängig von den Resultaten ist die Metapher De Pietros (2008: 201), dass Brücken zwischen Sprachen nicht existieren, wenn sie nicht gebaut werden (s.o.), − auch vor dem Hintergrund der referierten Ergebnisse aus der Grundschuldidaktik und Bilingualismus forschung − m.E. zu relativieren. Vielleicht könnte - um bei dem Bild zu bleiben - auch von einigen Brücken gesprochen werden, die zwar existieren, jedoch im Nebel liegen und daher (noch) nicht sichtbar sind. 85 Eurom4 richtet sich an Muttersprachler einer dieser vier romanischen Sprachen, die interkomprehensiv rezeptive Kenntnisse in den jeweils anderen drei erwerben möchten; s. z.B. auch: http: / / ancilla.unice.fr/ ~brunet/ pub/ castagne.html (letzter Zugriff am 20.07.2015). <?page no="105"?> 2. Frühe Interkomprehension 91 Frankreich innerhalb der Jahre 2007 bis 2010 in der Grundschule (was auch eine Festlegung für die offizielle Wahl der ersten Fremdsprache im Collège ist) die englische Sprache am häufigsten gelernt, verglichen mit weniger als 3% der Lerner, die eine romanische Sprache lernten (ebd.: 64). Die an euro-mania Beteiligten sehen den Vorteil einer Kopplung von Interkomprehension an EMILE bzw. CLIL vor allem darin, eine Institutionalisierung von Interkomprehension zu erleichtern (ebd.: 66) 86 . Die fokussierten Sachfachgebiete sind: sciences, mathématiques, technologie, histoire-géographie (ebd.: 66). Der Ansatz zielt auf kognitive, metasprachliche und mehrsprachliche Funktionen ab (ebd.: 66). Escudé (2010) stellt einige erste Befunde aus Untersuchungsreihen, die seit Oktober 2009 in monolingualen und bilingualen Klassen durchgeführt wurden, vor: Das Beispiel der Interlexeme spanisch: tetraedro und französisch: tétraèdre (deutsch: Tetraeder) aus dem Geometrieunterricht führte zu folgendem Dialog (ebd.: 67): Professeur H2 : Quelle est la consigne de l’exercice? Elève 1 : Je ne comprends pas le mot « tetraedro ». Professeur H2 : Selon vous, comment pourrait se dire ce mot en français? Elève 2 : Tétraèdre? Professeur H2 : Oui, c’est bien cela, cette figure se nomme un tétraèdre. Elève 1 : Ah, ce n’est que ça? Tetraedro ça veut dire tétraèdre? ! Da die Schüler, so Escudé (ebd.), das Lexem tétraèdre sicherlich noch nie zuvor gehört haben, deutet er diesen Dialog folgendermaßen: Die Undurchsichtigkeit des wissenschaftlichen Diskurses liegt nicht mehr auf sprachlicher Ebene, d.h. die Kinder erkennen die Ähnlichkeit der Interlexeme tetraedro und tétraèdre. Durch die ‚Fremdheit’ der Sprache wurde aufgedeckt, dass die Verständnisprobleme auf anderer Ebene anzusiedeln sind und durch sachbezogenes Vorgehen gelöst werden können (ebd.: 67-68): c’est l’étrangeté des langues qui a permis de révéler que l’opacité se situe ailleurs, et qu’elle est soluble grâce à une démarche scientifique. Ce n’est pas le mot qui fait obstacle, c’est la chose. 86 Das Akronym „EMILE“ steht für Enseignement d’une Matière Intégrant une Langue Etrangère und ist die französischsprachige Entsprechung zum Content and Language Integrated Learning (CLIL), ein Begriff, der „refers to any educational situation in which an additional language and therefore not the most widely used language in the enviroment is used for the teaching and learning of subjects other than the language itself“ (Marsh & Langé 2000: iii); zur Kritik an dieser Definition vgl. Wolff (2010: 298f.). M.E. ist Escudés Bezugnahme auf EMILE bzw. CLIL allerdings nicht zutreffend, denn der Unterricht findet ja nicht in okzitanischer usw. Sprache statt. Aus meiner Sicht handelt es sich um Ansätze zur romanischen Interkomprehension in einer bilingualen Lernsituation. <?page no="106"?> 92 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Das Beispiel von tetraedro und tétraèdre ist einerseits aus dem Grund nicht überzeugend, da die Kinder zwar auf Signifiantenebene die Ähnlichkeit der spanisch-französischen Interlexeme erkannt haben, ihnen deren Bedeutung auf Signifikatebene jedoch sicherlich unbekannt war (s.o.). Es handelt sich bei tétraèdre um kein Lexem, das - zumindest auf ausschließlich lingualer Ebene - ‚erschlossen‘ werden könnte 87 . Andererseits ist das Potenzial interkomprehensiven Lesens im Bereich von Fachvokabular 88 vermutlich hoch, da dieses interlingual häufig interkomprehensibel ist (vgl. hierzu auch die Leitfragen zur Bestimmung von „Intersynonymie“ im Abschnitt I 1.2). So ist auch für den deutschen Schulkontext an (weitere) Untersuchungen 89 zu denken, die sich mit einer Verknüpfung von CLIL- und interkomprehensionsdidaktischen Ansätzen befassen, da diese Gemeinsamkeiten aufweisen wie eine Orientierung an Themen und Inhalten. Angesichts des von Escudé (2010: 64) bezogen auf Frankreich angesprochenen „monolinguisme institutionnel“, der wohl auch für hiesige Kontexte zutrifft, wäre zudem ebenfalls zu überlegen, ob auch im deutschsprachigen Schulkontext eine Institutionalisierung von (früher) Interkomprehension durch deren Kopplung an EMILE bzw. CLIL erleichtert werden könnte, eine der Zielsetzungen des euro-mania-Teams (ebd.: 66; s.o.) Darüber hinaus konnte im euro-mania-Projekt im Rahmen des Moduls „Le Mystère du mormoloc“ gezeigt werden, dass bei einem Kind die sachfachliche Beobachtung zunächst über die sprachliche Form verläuft, bei einem anderen nicht (ebd.: 68): Professeur H1 : qui a pris connaissance des documents ? De quoi ça parle ? Elève 1 : ça parle espagnol. Elève 2 : ça parle des grenouilles. Am Schluss der Erprobungsphase wurden die Kinder gefragt, was ihrer Ansicht nach das erste Ziel von euro-mania sei, sachkundliches oder sprachliches Lernen, wobei 80% mit Ersterem antworteten (ebd.: 68). Die Analyse mehrerer Sprachen, so Escudé, erlaube eine feinere Kodierung von Sprachen hinsichtlich sprachlicher Informationen wie Plural, Genus, die Unterscheidung von be- 87 So ist im Kontext von Escudés Ausführungen, die Intransparenz des Begriffs tétraèdre sei „soluble grâce à une démarche scientifique“ (s. das Zitat oben) zu erwähnen, dass das betreffende Unterrichtsmaterial die Abbildung einer Pyramide enthält (ebd.: 67). 88 Es ist ein noch relativ wenig erforschtes Anwendungsfeld von Interkomprehension (zum Bereich der Medizin vgl. Pelsmaekers & Van Son (2011), die sich allerdings auf Gespräche von Ärzten und Patienten in Erste-Hilfe-Situationen beziehen). 89 Im deutschsprachigen Kontext wird eine Verbindung von Mehrsprachigkeit(sdidaktik) mit CLIL bzw. bilingualem Sachfachunterricht zumeist mit Hans-Ludwig Krechel (z.B. 1998; 2005) in Verbindung gebracht. <?page no="107"?> 2. Frühe Interkomprehension 93 stimmt/ unbestimmt usw. (ebd.: 68-69 90 ). Da von Kindern gefundene funktionelle Schemata (Pluralmarkierung, Wortfolge usw.) in anderer Form auch in anderen Sprachen wieder auftauchen, könne gesagt werden, dass euro-mania auf Transferaktivitäten vorbereite (ebd.: 69): Travailler dans un continuum le plus large possible permet de « trianguler » plus finement les codages des langues et donc d’en faire apparaître tout le relief. In diesem Fall sind Escudés Überlegungen, mit einem größtmöglichen ‚Sprachen-Kontinuum‘ (bei euro-mania: sieben Sprachen; s.o.) zu arbeiten, insofern weniger auf den deutschsprachigen Kontext übertragbar, als die Sprachen der germanischen Sprachfamilie nicht den Grad an wechselseitiger Interkomprehensibilität aufweisen, der für romanische Sprachen gilt (vgl. z.B. Zeevaerts & Möllers (2011: 156ff.) Studie zur Interkomprehension eines schwedischen Textes von Muttersprachlern des Deutschen, bei der selbst Studierende der Germanistik äußerste Probleme hatten, den Zieltext zu dekodieren 91 ). Für die vorliegende Untersuchung ist zu fragen, ob sich auch bei intergermanischer Interkomprehension und einer ‚fremden‘ Zielsprache (Deutsch/ Niederländisch) Fälle von aktiviertem Strategiewissen finden lassen und ob diese auch sprachfamilienübergreifend bei englischem und/ oder romanischsprachlichem Material nachgewiesen werden können. Interkomprehension und die classes bilangues in Frankreich Auch wenn es zur Einrichtung der sogenannten classes bilangues (nicht bilingues) in Frankreich weder eine Entsprechung im deutschen Schulkontext noch (meines Wissens) bislang wissenschaftliche Begleitstudien gibt, soll diese im Folgenden kurz erwähnt werden, da sich hinsichtlich des Lerneralters und Lernbeginns zweiter Fremdsprachen hier Parallelen zum Kontext der vorliegenden Untersuchung zeigen. Im Jahre 1997 forderte der Europäische Rat, in allen Mitgliedsstaaten frühes Fremdsprachenlernen und ein Sprachenangebot zu fördern, das kontinuierlich gestaltet ist und mehrere Sprachen umfasst. In Frankreich entstand im Jahre 2003 der nouveau contrat pour l'enseignement des langues vivantes, in dem empfohlen wurde, Fremdsprachenunterricht in mindestens zwei Sprachen verpflichtend einzuführen. Dies sollte, wenn möglich, bereits ab der sixième geschehen. In diesem Zusammenhang sind die classes bilangues zu nennen, die diese Forderung aufgreifen (vgl. Nicodème 2008 92 ). Sie bieten Kindern die Möglichkeit, am collège die in der Primarstufe begonne- 90 Das euro-mania-Portfolio enthält in der Makrostruktur der Rubrik „la forme informe“ 20 Gliederungspunkte (ebd.: 69). 91 Vgl. auch Meißner (2011f: 39): „Dutch is to a certain extent intercomprehensive to native speakers of German ‘at first glance’, whereas Swedish or Danish are not or much less.“ (Anführungszeichen im Original). 92 http: / / www.goethe.de/ ins/ fr/ par/ ver/ acv/ lhr/ 2008/ de4049083v.htm (22.07.10). <?page no="108"?> 94 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht ne erste Fremdsprache fortzuführen und in der 6 e mit einer zweiten zu beginnen. Was häufige Sprachenfolgen angeht, so stellt Nicodème (2008 93 ) eine „proportion croissante, d’anglicistes démarrant l’allemand en 6ème“ fest. Hinsichtlich der didaktischen und methodischen Umsetzung der classes bilangues schreiben die inspecteurs Annie Scoffoni und Francis Goullier in ihrem Bericht im Juli 2004: On note toutefois dans la majorité des cas une juxtaposition des enseignements au lieu d’une prise en compte de la situation pédagogique particulière que représente l’apprentissage simultané de deux langues vivantes dès le plus jeune âge. La réflexion sur les modalités les plus efficaces d’une telle prise en compte est encore insuffisamment développée. (S. 9) 94 Angesichts dieser Situation wurde im Jahre 2008 am Goethe-Institut in Paris ein Kolloquium zum Thema „Le défi des classes bilangues allemand-anglais“ durchgeführt, das sich Fragestellungen zum gleichzeitigen Lernen dieser Sprachen widmete. Auch der inspecteur Raymond Nicodème weist als Vertreter der Éducation Nationale darauf hin: Or, même dans les académies qui ont décidé depuis quelques années déjà l’apprentissage simultané de deux langues dès la 6ème, l’enseignement de la LVA [= langue vivante A ; StM] et de la LVB a, d’une manière générale, continué à se développer parallèlement, sans jamais se rejoindre. […] La lecture des rapports d’inspection dans des sections bilangues montre par exemple que, sauf rapprochements lexicaux ponctuels et marginaux, très peu de passerelles sont établies entre les deux langues apprises simultanément par les élèves. Le domaine de l’intercompréhension entre langues parentes reste très largement sous-exploré et sous-exploité, sauf peut-être dans le cas très marginal, où l’enseignant d’allemand est également habilité à enseigner l’anglais. (Nicodème ebd.) Crochot (2006: 20), die sich in ihrer Masterarbeit mit dem Thema Les enseignants d’allemand et le plurilinguisme befasst, stellt fest: „on semble encore loin de la didactique intégrée sauf à avoir à faire au volontarisme et aux initiatives personnelles des enseignants concernés“. Diese Sachlage lässt es in Anbetracht der Parallelen der classes bilangues zur Anlage der vorliegenden Untersuchung (das Alter der Lerner, der Fokus auf den Beginn mit der zweiten Fremdsprache) nahe liegend erscheinen, über Übertragungsmöglichkeiten auf den französischen Kontext nachzudenken. Meißner, der ebenfalls 2008 am Kolloquium 93 „Colloque bilangues. Intervention d’ouverture. Les enjeux.“ (ebd.). 94 S. ftp: / / trf.education.gouv.fr/ pub/ edutel/ syst/ igen/ rapports/ bi_langues_2004.pdf (21.07.10). <?page no="109"?> 2. Frühe Interkomprehension 95 im Pariser Goethe-Institut teilgenommen hat, warf in seinem Vortrag 95 unter anderem folgende Fragen auf: Wie „positivieren“ wir das Unterrichtserlebnis? Wie hoch ist die durch die c.b. [classes bilangues] grundgelegte Wahrscheinlichkeit der Mehrsprachigkeitsförderung? Wie erhöhen wir die Sprachenlernkompetenz? […] Wie erzeugen wir Synergien zugunsten des Sprachenlernens durch c.b.? Wie erhöhen wir den subjektiven Wert der Fremdsprachen neben Englisch? Wie bewerten wir die Kommunikationsfähigkeit (nicht den focus on form)? […] Welche Rolle spielt die motivationale Interferenz zwischen Englisch und Deutsch? Während die Problematik der motivationalen Interferenz 96 (zumindest potenziell) in beiden Kontexten eine Rolle spielt (Deutsch neben Englisch und (z.B.) Französisch neben Englisch), werden auch Einschränkungen in der Übertragbarkeit deutlich. Diese betreffen insbesondere die Sprachenfolgen und Sprachfamilien, da es sich - anders als im deutschen Schulkontext und bei der häufigen Sprachenfolge Englisch als erste und Französisch als zweite Fremdsprache - in Frankreich vorwiegend (s.o.) um zwei Fremdsprachen derselben Sprachfamilie handelt (also Englisch und Deutsch bei romanophonen Muttersprachlern). Dies lässt die von Nicodème geschilderte Situation umso bedauerlicher und Forschung zu interkomprehensivem Lernen in den classes bilangues umso dringlicher erscheinen (es sei in diesem Zusammenhang auch an das Ergebnis aus dem Gießener Datenkorpus erinnert, demzufolge Deutschsprachige bei einer romanischen Zielsprache stärker auf ihre romanische Brückenals ihre Muttersprache zurückgreifen). Sollten sich eine Nutzung romanischer Wortschatzanteile im Englischen und ein sprachenübergreifender Transfer von Strategien bei den jungen germanophonen Lernern der vorliegenden Untersuchung (d.h. insbesondere in der Longitudinalstudie) nachweisen lassen, spräche dies für die Vermutung, dass die jungen frankophonen Schüler der classes bilangues ebenfalls zu Transfer zwischen Sprachen in der Lage wären. Empirische Befunde zu sprachenübergreifendem Lernen bei Schülern der Sekundarstufe I im deutschen Schulkontext In diesem Abschnitt sollen zwei im deutschsprachigen Schulkontext angesiedelte Projekte dargelegt werden, die für die vorliegende Untersuchung von besonderer Bedeutung sind. Hierbei handelt es sich zum einen um das Thürin- 95 Vortrag abrufbar unter: http: / / www.goethe.de/ ins/ fr/ pro/ classesbilangues/ Meissner.pdf (21.07.10). 96 Zum Begriff der „motivationalen Interferenz“ s. auch Abschnitt I 1.3. <?page no="110"?> 96 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht ger Kooperationsprojekt zu sprachenübergreifendem Lernen und Lehren in der Sekundarstufe I (Behr 2007, 2010), das sich ebenfalls (unter anderem, s.u.) mit Schülern der Jahrgangsstufe 7 befasst. Zum anderen ist die Studie von Bär (2009) gemeint, dessen Probanden zwar älter sind (Jahrgangsstufe 8 bis 11), dessen Projekt in seiner interkomprehensionsdidaktischen Umsetzung jedoch eine größere Nähe zur vorliegenden Untersuchung aufweist als die Untersuchungen von Behr (2007, 2010) 97 . Das Thüringer Kooperationsprojekt: Das Thüringer Kooperationsprojekt zu sprachenübergreifendem Lernen und Lehren in der Sekundarstufe I (Klasse 7 und 8) wurde in den Jahren 2003 und 2004 an Thüringer Regelschulen (entspricht in etwa der Haupt- und Realschule) und Gymnasien durchgeführt (Behr 2007: 17). Am Projekt waren sowohl Fachdidaktiker als auch Fachleiter und Lehrerfortbildner beteiligt (ebd.: 9). Die Untersuchung verfolgte das Ziel (ebd.): einen Beitrag dazu [zu] leisten, das wenig differenzierte Gesamtziel „Entwicklung von Mehrsprachigkeit“ mit unterrichtspraktischen Zugängen zu versehen und Wege zur Mehrsprachigkeit vor allem aus der Sicht der Nutzung von Synergieeffekten vor- und nachgelernter Sprachen aufzuzeigen. Es ist ein Verdienst des Projekts, sowohl die romanische als auch die slawische Sprachfamilie einzubeziehen (vgl. ebd.: 8). Allerdings so räumt die Projektleiterin selbst ein (ebd.: 16) fokussiert die Untersuchung fast nur die lexikalische Ebene. Weitere Einschränkungen des empirischen Zugangs, so Behr (ebd.), betreffen unter anderem „die Variable ,Lehrer-Schüler-Interaktion‘“ (ebd.) und eine longitudinale Perspektive, was auf den engen Zeitrahmen zurückgeführt wird. Trotz der sprachfamilienübergreifenden Perspektive und der zeitlichen Verortung zu Beginn des Erlernens einer zweiten Fremdsprache in der Sekundarstufe gibt es wichtige Unterschiede in der Anlage dieses Projekts zur vorliegenden Untersuchung: Vor dem Hintergrund der Vorverlegung des Unterrichtsbeginns einer zweiten Fremdsprache im Anschluss an die flächendeckende Einführung des grundschulischen Fremdsprachenunterrichts sind in der vorliegenden Untersuchung jüngere Schüler gemeint, als es noch im Thüringer Kooperationsprojekt der Fall war. Bei den Daten des Thüringer Kooperationsprojekts handelt es sich vor allem um Befragungsdaten, allerdings zum Teil mit Aufgabenanteil (s. die 97 S. hierzu auch Abschnitt II 4. zu Aufgabenformaten der Interkomprehensionsdidaktik. <?page no="111"?> 2. Frühe Interkomprehension 97 Übersicht in Behr (ebd.: 17)), die bei einer größeren Lernerzahl erhoben wurden 98 . Zusammenfassung der für die vorliegende Untersuchung wichtigsten Ergebnisse der Eingangsuntersuchung (s. Fußnote 98): In der schriftlichen Befragung der Eingangsuntersuchung konnte Folgendes ermittelt werden: Die Siebtklässler nutzen Ähnlichkeiten mit dem „deutschen Klangbild“ für das Erschließen englischer und (in geringerem Maße) russischer und französischer Wörter (ebd.: 67). Laut Angabe werden „Kenntnisse einer romanischen bzw. slawischen Sprache für das Verstehen anderer romanischer bzw. slawischer Sprachen“ genutzt (ebd.) 99 . Wenig oder gar nicht genutzt wird laut Angaben von Behrs Probanden in den Fragebögen (ebd.) die erste Fremdsprache, also Englisch, für das Verstehen von Lexik der zweiten. Ein wichtiger Befund aus dem Befragungsteil des Interviews (s. Fußnote 98) ist die Diskrepanz zwischen der schülerseitigen Wahrnehmung ihres Sprachunter- 98 In einer Eingangsuntersuchung wurden unter anderem Fragebögen eingesetzt, die an 80 Gymnasiasten und 65 Regelschüler der Jahrgangsstufe 7 mit Englisch ab Klasse 5 und Französisch (N = 88) bzw. Russisch (N = 57) als zweite Fremdsprache ab Klasse 7 verteilt wurden. Neben einem Teil zu sprachlernbiographischen Angaben und Vorlieben beim Fremdsprachenlernen (ebd.: 35-36) umfassen die Fragebogenteile 2 und 3 insgesamt 31 Items, zu denen die Schüler auf einer vierstufigen Skala Stellung beziehen sollten. Sie wurden den Konstrukten: „Nutzen von Erschließungsstrategien“, „Nutzen von Transfer strategien“, „Nutzen von Kompensationsstrategien“, „Interferenz“, „Rolle der Gramma tik“, „Rezeptive Mehrsprachigkeit“, „Sprachgefühl“ und „Bedeutung von Mehrsprachig keit“ zugeordnet. Die Unterscheidung von Fragebogenteil 2 und 3 bezieht sich auf Englisch (Teil 2; 17 Items) und die zweite Fremdsprache (Teil 3), d.h. Französisch oder Russisch. Die Auswertung erfolgte mit SPSS (vgl. ebd.: 37). Mit 63 Schülern von den insgesamt 145 Probanden (s.o.) wurden im Anschluss gelenkte Interviews durchgeführt, die aus einem Befragungsteil und einem Aufgabenteil bestanden. Die Aufgaben wie beispielsweise das „Erkennen von Internationalismen“ oder das „Erschließen von Wörtern aus sprachverwandten Sprachen“ wurden den oben genannten Konstrukten zugeordnet (ebd.: 39-40). 99 Allerdings ist bei diesem Befund die Möglichkeit eines awareness-raising auf Seiten der Befragten mitzubedenken, insbesondere bei geschlossenen Fragen und vorgegebenen Items wie beispielsweise: „Ich weiß, dass meine Französischkenntnisse mir helfen kön nen, in anderen Sprachen (z.B. Italienisch, Spanisch) etwas zu verstehen“ (ebd.: 207). Die wenigen Angaben der Schüler zu außerschulischen Erfahrungen mit Französisch bzw. Russisch (ebd.: 41) könnten ein Indiz dafür sein, dass diese hier nicht notwendigerweise Auskunft über bewusstes Wissen oder gar praktizierte sprachliche Handlungen gegeben haben. Es ist denkbar, dass ihnen diese Möglichkeit der Nutzung ihrer Sprachenkennt nisse erst durch den Fragebogen bewusst(er) wurde. Ähnlich könnte es sich beispiels weise bei dem Einsatz von Gestik und Mimik verhalten (vgl. ebd.: 68), je nachdem, ob dieser bereits im Fremdsprachenunterricht thematisiert wurde, was so vermutet Behr selbst (ebd.: 92) eher nicht der Fall war. <?page no="112"?> 98 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht richts (Deutsch, Englisch, Französisch bzw. Russisch) als einem Unterricht, „in dem sprachenübergreifendes Lehren eher die Ausnahme darstellt“ (ebd.: 72), und der Haltung, „sprachenübergreifendem Lernen sehr aufgeschlossen gegenüber[zu]stehen und dies mit lernerleichternden Effekten [zu] begründen“ (ebd.: 73; Hervorhebungen im Original). Im Aufgabenteil der mündlichen Befragungen, der sich aus der Anwendung von Worterschließungsstrategien (Aufgaben 9 bis 11) und grammatischen Kenntnissen (Wortarten und Satzglieder; Aufgaben 12 bis 14) zusammensetzt, konnte Behr (ebd.: 73ff.) für Worterschließungsstrategien ermitteln: Bei der Aufgabe 9, für deutsche Wörter deren englische und französische bzw. russische Interlexeme aus insgesamt sechs Wortvorschlägen pro Sprache auszuwählen, dominiert eine Orientierung an Ähnlichkeiten mit dem Schrift- und Klangbild der Muttersprache, wohingegen in nur 4 von 63 Fällen auf das Englische rekurriert wird. In Bezug auf Aufgabe 10, in der ein englisches, ein französisches und ein russisches Lexem erschlossen und deren Sprachzugehörigkeit bestimmt werden sollten, ist ein für die vorliegende Untersuchung interessanter Befund, dass einzelne Siebtklässler „das eigene Vorgehen nicht kommentieren konnten oder wollten“ (ebd.: 74). Für die Zuordnung der drei Wörter zu den Sprachen konnte ermittelt werden, „dass das entsprechende Wort mehrheitlich entweder einem typischen Klangbild zugeordnet wird („Das klingt Englisch.“) oder typische Merkmale der Schriftsprache (Akzent, kyrillische Buchstaben) als Zuordnungskriterien genutzt werden.“ (ebd.: 74-75). Bei der Aufgabe 11, die Einzelwörter: scuola, passegiero (ital.) / nueve, centro (span.) / majster, woda (poln.) / fotbal und sestra (tschech.) zu erschließen, war ca. die Hälfte der Französischschüler nicht in der Lage, die Wörter scuola und nueve zu erschließen. Englisch und Französisch wurden hierbei kaum als Transferbasis genutzt (vgl. ebd.: 75). Schließlich soll auf einen Befund zu einer Aufgabe (Nr. 14) im morphosyntaktischen Bereich eingegangen werden. Der Satz „Anja und Martin wohnen in Berlin.“ wurde den Schülern in deutscher, englischer, französischer und russischer Sprache vorgelegt mit der Aufforderung, Gemeinsamkeiten zu bestimmen (ebd.: 210). Es konnte festgestellt werden, dass die meisten Schüler (43 von 63) auf die Ähnlichkeiten der Personen- und Ortsnamen Bezug nehmen und nur wenige (15 von 63) auf jene der Wortstellung. Hierbei wird zumeist eine allgemeinsprachliche Beschreibung (die „gleiche [...] Reihenfolge der Wörter“; ebd.: 77) gewählt. Angesichts der Zielsetzung des Thüringer Kooperationsprojekts, ebenfalls „praxisrelevante Anregungen“ (ebd.: 9) zu geben, wurde ein Materialband: „Anregungen zum sprachenübergreifenden Lernen in der Sekundarstufe I“ (Behr 2003) erstellt, der im Jahre 2004 an Regelschulen und Gymnasien erprobt <?page no="113"?> 2. Frühe Interkomprehension 99 wurde (vgl. ebd.: 93ff.). 100 Die Erprobung selbst wurde nicht von außen gesteuert. Stattdessen wurden im Anschluss Schülerinterviews durchgeführt, deren Design jenem aus der Eingangsuntersuchung entsprach. Da es sich bei den Probanden vorzugsweise um Schüler handeln sollte, die ebenfalls an dieser Eingangsuntersuchung teilgenommen hatten, wurde die Folgeuntersuchung größtenteils mit Achtklässlern durchgeführt (40 Schüler der 8. und 5 der 7. Jahrgangsstufe 101 ). Zusammenfassung der für die vorliegende Untersuchung wichtigsten Ergebnisse der Folgeuntersuchung: Bei einer Aufgabe des Bildens zweier thematischer Wortfelder („Musikinstrumente“ und „Meer“) mit Wörtern aus verschiedenen Sprachen wurden folgende Wörter eingesetzt (ebd.: 213-214): bagpiepes (engl.), harmonica (frz.), sintesator 102 (russ.), flet (poln.), violín (span.), guitar (dän.), coast (engl.), océan (frz.), laguna (russ.), lago (span.), eiland (nl.) und morze (poln.) 103 . Ein interessanter Befund ist, dass unabhängig davon, ob die Schüler als zweite Fremdsprache Französisch oder Russisch lernen, von den Wörtern „vor allem diejenigen ausgewählt werden, die eine hohe formale graphematische und phonematische Similarität zum Deutschen und zum Englischen aufweisen“ (ebd.: 127), wobei „die Muttersprache“ die „dominierende Brückensprache“ (ebd.) ist. Eine Aufgabe zu Erschließungsstrategien auf Satzebene bezieht sich auf den Satz: „Spreek met mij! (Das ist Holländisch.)“ (ebd.: 214), der den Probanden in dieser Form, d.h. mit expliziter Angabe der Sprache, in sechs weiteren Sprachen (Norwegisch, Dänisch, Italienisch, Katalanisch, Bulgarisch und Serbisch; in dieser Reihenfolge) vorgelegt wurde. Die Auswertung und Analyse der Daten konnte zeigen, dass sich die Schüler bei der Bedeutungserschließung „in sehr hohem Maße auf die germanischen Sprachen kon- 100 Zu (unter anderem) diesem Materialband wurden am 6. und 7. November 2003 sowie 28. und 29. März 2006 Tagungen an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena durch geführt (vgl. Behr 2004, 2006, vgl. auch den Band Sprachen entdecken Sprachen vergleichen mit Kopiervorlagen zum sprachenübergreifenden Lernen: Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch und Latein, Behr 2005). 101 In der Ergebnisdarstellung wird nicht zwischen den Siebt- und Achtklässlern unter schieden. Es werden im Folgenden Ergebnisse zu den Schülern mit Französisch als zweite Fremdsprache zusammengefasst, da bei dieser Probandengruppe die größere Vergleichbarkeit zu den Schülern der vorliegenden Untersuchung gegeben ist. 102 Die russischen Wörter wurden sowohl in kyrillischen als auch lateinischen Buchstaben angegeben. 103 Die Aufgabe mag auf dem ersten Blick an jene des „Wörterpuzzles“ (s. Abschnitt II 4.) aus der vorliegenden Untersuchung erinnern, unterscheidet sich jedoch von dieser, da das Wörterpuzzle (in Anlehnung an das Aufgabenformat der „lexikalischen Serien“; Meißner 2004b: 86-89) auch interphonologische Korrespondenzregeln thematisiert, was hier, wie die Wortbeispiele zeigen, nicht möglich wäre. <?page no="114"?> 100 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht zentrieren und als Brückensprachen Deutsch und Englisch verwenden“ (ebd.: 131). Darüber hinaus konnte festgestellt werden, dass bei allen Probanden „die Erschließung mehrheitlich über das Verb erfolgt und nur für die Brückensprache Deutsch in allen Probandengruppen syntaktische Vergleiche angestellt werden“ (ebd.: 131). Eine Aufgabe zu Erschließungsstrategien auf Textebene (ebd.: 134) hatte für die Französischschüler folgenden italienischen Text als Grundlage: Sono brasiliana, abito a Firenze e parlo il portoghese, il francese, lo spagnolo e l’italiano. Cerco lavoro come traduttrice. ... 104 Insgesamt gelang 81,8% der Regelschüler und 75% der Gymnasiasten eine korrekte Übertragung (ebd.). Hierbei konzentrierten sich die Probanden „vornehmlich auf Einzelwörter“ (ebd.: 135, 136) und nutzten den interlingualen Vergleich des Schriftund/ oder Klangbilds (ebd.); „syntaktische Beziehungen [spielen] in beiden Schularten eine untergeordnete Rolle als Transferquelle“ (ebd.: 137). Bei der Berufsbezeichnung traduttrice konnte auch ein Einsatz des Kontextes für das Erschließen nachgewiesen werden: „Vielleicht Fremdenführer.“ (ebd.: 136). Diese Äußerung wurde unter „falsche Lösungen“ (ebd.) gefasst. Doch handelt es sich bei dieser (wenn auch nicht zutreffenden) Hypothese zweifelsohne um einen Fall von intelligent guessing, da der sprachliche Kotext (die von der Arbeitssuchenden angegebenen Fremdsprachenkenntnisse) herangezogen wurde. So betont Lutjeharms (2003: 67), wie erwähnt, zu Recht, dass einem falschen Ergebnis „eine an sich zweckvolle Strategie“ zugrunde liegen kann. Hierbei ist selbstverständlich zu berücksichtigen, dass Behrs Fokus auf Strategien sprachenübergreifenden Lernens liegt, wohingegen in der vorliegenden Untersuchung der Fokus weiter gefasst ist (zu z.B. auch nichtsprachlichem Vorwissen als einer Quelle der Bedeutungserschließung s. Abschnitt I 2.6). Erstaunlich aus metakognitiver Perspektive ist in Behrs Befunden die Äußerung eines Regelschülers, der seine Vorgehensweise bei der Erschließung von ital. traduttrice folgendermaßen kommentiert: „Also ich habe gesucht nach den Sprachen und eben dann gedacht, welcher Beruf dazu passen könnte.“ (ebd.). In der vorliegenden Untersuchung würde diese Stellungnahme als ein strategisches und auch zielgerichtetes Handeln eingestuft (s. hierzu die Fragestellungen in Abschnitt II 8.). Fallstudien zu Interkomprehensionsunterricht mit Schülern aus Klasse 8: Im Folgenden werden Befunde aus der Interkomprehensionsstudie von Bär (2009) dargelegt, wobei hier die Ergebnisse zu den jüngsten seiner Probanden, d.h. den Achtklässlern, fokussiert werden. Einerseits liegt dies selbstverständlich in der größeren Vergleichbarkeit mit den Probanden der vorliegenden Untersuchung begründet, andererseits ist das Alter (und hiermit verbunden 104 Der Text stammt aus dem Lehrbuch Espresso 1. Ein Italienischkurs. (Ziglio & Rizzo 2001: 22). <?page no="115"?> 2. Frühe Interkomprehension 101 das (Vor-) Wissen) ein Faktor, auf den Bär (2009) häufig rekurriert. So durchzieht ein Vergleich der jüngeren mit den älteren Schülern seine gesamte fallübergreifende Analyse (ebd.: 505ff.), aus der im Folgenden die für den vorliegenden Kontext wichtigsten Befunde wiedergegeben werden sollen. Bär (2009: 102) fasst sein Haupterkenntnisinteresse folgendermaßen zusammen: 1) Inwieweit ist ein Interkomprehensionsunterricht […] in der Lage, die Bewusstheit der Schüler in Hinsicht auf ihr deklaratives und prozedurales Wissen zu fördern? 2) Wie vollziehen sich interkomprehensive Lernprozesse von Schülern im deutschsprachigen Lernkontext beim Erlernen einer zweiten oder dritten romanischen Sprache? Wie die zweite Forschungsfrage andeutet, liegt ein wichtiger Unterschied seiner (auch der jüngeren) Probanden zu jenen der vorliegenden Untersuchung im sprachlichen Vorwissen, insbesondere im Bereich romanischer Sprachen. Alle Achtklässler seiner Fallstudie I (vgl. ebd.: 158f.) lernen Französisch als erste Fremdsprache 105 in der Grundschule ab Klasse 3 und Englisch ab Klasse 6. Die interkomprehensive Zielsprache Spanisch ist zugleich die von ihnen begonnene dritte Fremd- und zweite romanische Sprache. Trotz dieser für die interkomprehensive Zielsprache Spanisch im deutschsprachigen Schulkontext an sich günstigen Voraussetzungen kommt Bär (2009) zu einem eher ernüchternden Ergebnis, sowohl im Hinblick auf das deklarative als auch prozedurale Wissen der Achtklässler. Sprachliches Vorwissen und dessen Aktivierung: Die Schüler verfügen über einen noch geringen Fremdwortschatz im Deutschen und sind daher mit der Aufgabe des „Euro-Deutsch-Textes“ (Bär ebd.: 116 106 ) überfordert. Auch wenn sie auf Sprachformebene ein Interlexem aus dem Bildungswortschatz nennen können, haben sie oftmals Schwierigkeiten, dieses mit Bedeutung zu füllen (ebd.: 506, 517). Obwohl sie Französisch als erste Fremdsprache lernen, sind sie nur bedingt in der Lage, für ein spanisches oder italienisches Wort 107 eine französische Transferbasis zu finden. Hier vermutet Bär (2009: 507): 105 So auch die Probanden seiner Fallstudien III und IV (vgl. ebd.: 336; 421), lediglich die Schüler aus der Fallstudie II lernen Englisch als erste Fremdsprache (ebd.: 250). 106 Das Aufgabenformat des „Euro-Deutsch-Textes“ (s. auch Abschnitt II 4.) hat das Ziel, für Lerner die Rolle des Bildungswortschatzes als einen Lieferant von Transferbasen erfahrbar zu machen (Meißner 2004b: 101; Bär 2009: 116; Schröder-Sura 2011: 342-343). 107 Die Probanden aus Bärs (2009) Fallstudie I befassten sich mit der Zielsprache Spanisch (s.o.). In einer weiteren Fallstudie (IV), die sich aus Schülern der Jahrgangsstufen 8 und 9 zusammensetzte, war Italienisch die Zielsprache. <?page no="116"?> 102 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Zum einen mag dies mit der Tatsache zusammenhängen, dass sie es - wie im Übrigen alle teilnehmenden Schüler angeben - nicht gewohnt sind, kontinuierlich auf ihre bisher gelernten Sprachen zurückzugreifen, zum anderen ist in dieser Jahrgangsstufe der Wortschatz im Französischen nicht umfassend genug, als dass sie auf eine breite Transferbasis rekurrieren können. Angesichts der Tatsache, dass Französisch als erste Fremdsprache eher den Ausnahmefall darstellt (vgl. die Übersicht in Schmid-Schönbein 2008: 18-20) und der Wortschatz im Französischen bei Schülern mit Französisch als zweiter Fremdsprache weitaus geringer sein dürfte, ist dieser Befund nicht gerade viel versprechend. Allerdings konnte Bär auch feststellen, dass die französische Sprache als Brückensprache von den jüngeren Schülern „nicht im erforderlichen Maß eingesetzt“ (ebd.: 508) wird. Für die vorliegende Untersuchung von Interesse ist auch Bärs Ergebnis, dass die Schüler „das Englische […] nur in Ausnahmefällen als Brückensprache [nutzen].“ (ebd.). Der Einsatz von Strategien: Die jüngeren Schüler konzentrieren sich auf das einzelne Wort und nutzen die Satzstruktur nur bedingt als Verstehenshilfe (ebd.: 507). Bär (ebd.: 509) beobachtet insgesamt die Präferenz eines interlingualen gegenüber einem intralingualen Transfer, jedoch auch hier insbesondere bei den jüngeren Schülern. Die jüngeren Schüler fokussieren die lexikalische Ebene, wohingegen die Neunt- und Zehntklässler auch die morpho-syntaktische Ebene für das Erschließen nutzen (ebd.: 510). Die jüngeren Schüler belassen es häufig bei der Strategie des interlingualen Transfers (ebd.: 515). Möglichkeiten zur Texterschließung, die oftmals nicht genutzt werden, sind (ebd.): - Überschriften und Illustrationen, das Layout, die Interpunktion und Markierungen im Text wie z.B. Fett- und Kursivdruck, Groß- und Kleinschreibung usw., der Ko- und Kontext sowie funktionale Strukturen wie z.B. Konjunktionen und Konnektoren. So ist für die vorliegende Untersuchung insbesondere zu fragen, ob junge Lerner zu Beginn der Sekundarstufe I in ihrer interkomprehensiven Arbeit mit (auch) einer Sprache der germanischen Sprachfamilie (Niederländisch) eine größere strategische Variationsbreite zeigen. Bevor im letzten Kapitel zur theoretischen Verortung der vorliegenden Untersuchung Überlegungen zur Umsetzung frühen Interkomprehensionsunterrichts dargelegt werden, wird im Folgenden auf fremdsprachendidaktische Bereiche eingegangen, die durch eine Nähe zu früher Interkomprehensionsdidaktik gekennzeichnet sind. <?page no="117"?> 2. Frühe Interkomprehension 103 2.5 Interkomprehension in Relation zu einer ‚Übergangsdidaktik‘, Sprachenportfolios und Aufgabenorientierung Angesichts der bekannten Faktorenkomplexion des Fremdsprachenunterrichts und Mehrsprachigkeit als einem politischen Ziel ist die Anzahl denkbarer Überschneidungspunkte von (früher) Interkomprehensionsdidaktik mit weiteren (fremdsprachen-)didaktischen Konzeptionen selbstverständlich hoch. Daher beschränkt sich dieses Kapitel auf jene Bereiche, die eine besondere Nähe zu (früher) Interkomprehensionsdidaktik aufweisen. Neben Überlegungen zu einer ‚Didaktik des Übergangs‘ ist hier an Portfolioarbeit und task-based learning (apprentissage par les tâches, enfoque por tareas) zu denken, die im Folgenden dargestellt werden. Es soll ebenfalls der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Interkomprehensionsdidaktik einen Beitrag zur Weiterentwicklung dieser ‚benachbarten‘ Forschungsfelder leisten kann. Die Interkomprehensionsdidaktik und ihr möglicher Beitrag zu einer ‚Didaktik des Übergangs‘ Die Einführung des grundschulischen Fremdsprachenunterrichts und die Vorverlegung des Unterrichts in der zweiten Fremdsprache werden als ein Beitrag zur Förderung von Mehrsprachigkeit gesehen, in der Hinsicht, dass mehr Zeit für das Fremdsprachenlernen insgesamt zur Verfügung steht. Neben diesem ‚quantitativen Argument‘ müssen auch qualitative Veränderungsmöglichkeiten der Unterrichtskonzipierung und -gestaltung reflektiert und empirisch erforscht werden. Für die ‚Übergangsfrage‘ von grundschulischem Fremdsprachenunterricht und jenem der weiterführenden Schulen hat sich eine Begriffspalette entwickelt; so wird unter anderem von „Weiterführungsproblematik, Übergangsproblematik, Nahtstellenproblematik“ (Mertens 2001: 195) oder von einer „Lücke zwischen Grundschule und Sekundarstufe I“ (ebd.), von „Weiterführung“ (Legutke 2000: 48ff.) und „Anknüpfung“ (Mertens 2000: 148f.) gesprochen. Legutke (2000: 49) weist darauf hin, dass: [d]er Begriff Übergang […] eher den Bruch zwischen zwei unterschiedlichen Bildungseinrichtungen [signalisiert], was bezogen auf Fremdsprachenerwerb häufig mit der falschen Vorstellung einhergeht, daß nach dem lediglich spielerisch-unsystematischen Lernen in der Grundschule in der Sekundarstufe I der richtige, systematische Fremdsprachenunterricht einsetze. Angesichts des Fokus’ der vorliegenden Untersuchung auf eine sprachenübergreifende Perspektive wird hier der Begriff des „Anknüpfens“ bevorzugt. Während häufig - sozusagen ‚in einem Atemzug‘ - bei dem Thema „Übergang“ der Begriff „Übergangsproblematik“ (vgl. Mertens 2003b: 160) zu hören bzw. lesen ist, skizziert Mertens (2003b) im gleichnamigen und von ihm <?page no="118"?> 104 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht herausgegebenen Themenheft von französisch heute eine „Didaktik des Übergangs“, die er durch drei Merkmale kennzeichnet: - eine zeitliche Schnittmenge […], die die Abschluss- und Eingangsklassen der Grund- und Sekundarschulen umfasst (ca. 3./ 4. Schuljahr bis ca. 6. Schuljahr); - eine inhaltliche Schnittmenge […], die zum gemeinsamen Gegenstand des Unterrichts erhoben wird; - ein Methodenrepertoire […], das sowohl in der Grundschule wie auch auf der Sekundarstufe als Konsens für zielorientiertes Unterrichtshandeln betrachtet wird. (ebd.: 161). Dass eine Didaktik des Anknüpfens noch in ihren Kinderschuhen steckt, liegt unter anderem in der Tatsache begründet, dass es nach wie vor einen geringen Austausch zwischen Vertretern der Primar- und der Sekundarstufe gibt und die Heterogenität der grundschulischen Unterrichtskonzepte und Lernziele eine Abstimmung des Unterrichts beider Schulstufen aufeinander erschwert. So herrscht nach wie vor Uneinigkeit darüber, welche Standards im Fremdsprachenunterricht der Grundschule erreicht werden sollen und wie deren Erreichen festgestellt werden kann (vgl. Keßler 2006: 50). Mertens’ Hinweis, dass eine schulorganisatorische und bildungspolitische Abstimmung zwischen den Schularten noch nicht überzeuge (2003b: 161), hat auch noch heute Geltung. So betont auch Keßler (2006: 185) die Notwendigkeit der Klärung von Fragen wie jene der Berücksichtigung des Schriftbildes und der Entwicklung der verschiedenen Kompetenzen im Fremdsprachenunterricht der Grundschule 108 . Auch ist an Dokumentationsmedien zu denken, die die Gesamtheit sprachlicher und kultureller Erfahrungen der Kinder ansprechen einschließlich ihrer Sprachlernkompetenz. Eine solche Möglichkeit, den Übergang zu erleichtern, indem Lehrkräfte der weiterführenden Schulen erfahren, was ihre Schülerinnen und Schüler können, wird im Europäischen Portfolio der Sprachen gesehen (vgl. H. Christ 2003: 125; zu Portfolioarbeit s. auch den nächsten Abschnitt). Auf der anderen Seite wird die Standardisierung des Portfolios aber auch als problematisch betrachtet, da sie eine Orientierung am individuellen Lerner erschwert (Kolb 2007: 35). Hinzu kommt die Vielfalt unterschiedlicher 108 Dass sich die Lehrpläne für die Grundschule z.T. stark unterscheiden, lässt sich für die „methodischen Kompetenzen“ im Fach Englisch am Ende der Jahrgangsstufe 4 exem plarisch an jenen für Bremen und Nordrhein-Westfalen illustrieren. Während der Bremer Bildungsplan für die Grundschule hier im Bereich der Bedeutungserschließung lediglich anführt: „Die Schülerinnen und Schüler können ... unbekanntes Vokabular mit (Bild-) Wörterbüchern erschließen“ (S. 14), nennt der nordrhein-westfälische Kern lehrplan Gestik, Mimik und den situativen Kontext und ist insgesamt in den Lernziel formulierungen umfassender (http: / / www.lis.bremen.de/ sixcms/ media.php/ 13/ 130515_ bpenglisch_primar.pdf und http: / / www.schulentwicklung.nrw.de/ lehrplaene/ lehrplan navigator-grundschule/ englisch/ lehrplan-englisch/ kompetenzen/ kompetenzen.html; letzter Zugriff am 20.07.2015). <?page no="119"?> 2. Frühe Interkomprehension 105 Portfoliofassungen. Vielversprechend erscheint hier das BLK-Portfolio, das sich auf die Jahrgänge 3 bis 13 bezieht (vgl. Burwitz-Melzer 2008: 171). So stehen die Betonung der Förderung lebenslangen Lernens als einer wichtigen Funktion des Sprachenportfolios auf der einen und die vielen verschiedenen Portfolioversionen auf der anderen Seite in einem gewissen Widerspruch zueinander. Doch spielen hierbei selbstverständlich auch Fragen wie jene der (zum Beispiel) in Deskriptoren verwendeten (Meta-)Sprache eine Rolle (vgl. ebd.: 177ff.; Legutke 2003: 74f.). So wird in der vorliegenden Untersuchung, wie bereits angesprochen, auch darauf zu achten sein, ob Lerner der Jahrgangsstufen 6 und 7 in der Lage sind, metasprachliche Beobachtungen und ihr eigenes sprachliches Handeln zu verbalisieren und zu kommentieren, und wenn dies der Fall ist, in welcher Weise sie dies tun. Ein weiterer Bereich der ‚Übergangsproblematik‘ ist darin zu sehen, dass - wie Herbert Christ (2003: 122) es formuliert - beim Übergang von der Primarin die Sekundarstufe „zwei Lernkulturen des Fremdsprachenunterrichts“ (Hervorhebung im Original) aufeinander treffen. Dies spiegelt sich auch in der Wahrnehmung von Schülerinnen und Schülern wider, wie die Untersuchungen von Marschollek (2007a, 2007b) und Reiter (2005) zeigen, auf die im Folgenden kurz eingegangen werden soll. Die Frage unterschiedlicher Lernkulturen im Fremdsprachenunterricht spielt im Kontext der vorliegenden Untersuchung insofern eine geringere Rolle, als der Beginn mit einer zweiten Fremdsprache in den häufigsten Fällen auf die sechste und in den selteneren auf die fünfte Jahrgangsstufe vorverlegt wurde (daher der Schwerpunkt auf Klasse 6), so dass die Lerner zum Zeitpunkt des Lernbeginns einer weiteren Sprache weitest gehend in die neue ‚Lernkultur sozialisiert‘ sind 109 . Der Rückblick von Fünftklässlern und Erwartungen von Viertklässlern: Reiter (2005) geht anhand von „Klasseninterviews“ (ebd.: 369) an drei mehrzügigen Gymnasien mit ca. 200 Schülern der Frage nach: „Wie kritisch reflektieren Schüler am Ende der fünften Klasse, nach einem Jahr ergebnisorientierten Unterrichts, den von ihnen erlebten Begegnungssprachenunterricht in den Klassen 3 und 4 an Grundschulen? “ (ebd.). Es ist darauf hinzuweisen, dass hier nicht das Begegnungssprachenkonzept gemeint ist, wie in Abschnitt I 2.1 geschildert, sondern es in Sachsen einen Lehrplan für das Fach Englisch als Begegnungssprache gegeben hatte, „dem der heutige Lehrplan für Englisch an der Grundschule ähnelt“ (ebd.). Reiter (ebd.: 373-374) kommt zu dem Ergebnis, dass die Fünftklässler gerade jene Elemente des erlebten Unterrichts kritisieren, die in der Regel mit den Begriffen „Grundschulangemessenheit“ und „Kindgemäßheit“ assoziiert werden, d.h. „spielerische, musische und 109 Zudem ist zu berücksichtigen, dass Lerner selbstverständlich auch vor der Einführung des primarstuflichen Fremdsprachenunterrichts mit Fremdsprachenkenntnissen (in der Regel Englisch) in den Französischunterricht (bzw. den Unterricht der zweiten Fremd sprache) kamen. <?page no="120"?> 106 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht bewegungsorientierte“. Die Kinder sprechen von „kindischem und peinlichen Herumgehüpfe“ und empfinden ständiges Spielen und auch Singen als lästig und langweilig. Auch die vielen Arbeitsblätter, die sie ausfüllen mussten, und die als gering eingeschätze zielsprachliche Kompetenz der Lehrperson werden kritisiert. Vor dem Hntergrund der vorliegenden Untersuchung ist besonders interessant, dass einige Fünftklässler (s. die zitierten Stellungnahmen ebd.: 370- 373) angeben, dass sie gerne mehr über die Sprache erfahren hätten, und viele das Lernen auf der Einzelwortebene kritisierten und sich gern auch der Satzebene gewidmet hätten. Hierbei ist selbstverständlich zu berücksichtigen, dass es sich in Reiters Untersuchung um ehemalige Grundschüler am Ende der fünften Klasse handelt, die auf ein Schuljahr ‚ergebnisorientierten‘ Fremdsprachenunterricht zurückblicken, den sie - mehr oder weniger bewusst - als Vergleichsfolie heranziehen. Anders als im Falle der von Kolb befragten Grundschüler, die Fremdsprachenlernen als ein „Sammeln von Wörtern“ (2007: 257-261) begreifen, konnte Reiter feststellen, dass „Kinder eine Vorstellung davon haben, was es heißt, eine Sprache zu lernen. Sie funktioniert in Sätzen und muss echt klingen.“ (ebd.: 378). Eine wichtige Schlussfolgerung, die sie aus ihrer Untersuchung zieht, bezieht sich auf das Gütekriterium der Transparenz: „Lehrer [sollten] Schülern vermitteln […], zu welchem Zweck ein Lied gelernt werden soll“ (ebd.: 378), wobei diese Forderung selbstverständlich nicht allein für Lieder gilt (vgl. ebd.: 376 zu Spielen). So ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Schüler - abgesehen von der explizit erwähnten zu häufigen Wiederholung („immer wieder“) - das Spielen und Singen vor allem deshalb kritisierten, weil ihnen nicht bewusst war, warum sie dies tun. Der umgekehrten - prospektiven - Perspektive widmete sich Marschollek (2007a, 2007b), indem er 94 Kinder aus vier Klassen der Jahrgangsstufe 4, die bereits seit der ersten Klasse Englisch lernten, schriftlich befragte, was sie „im Englischunterricht im 5. Schuljahr am liebsten machen“ (2007b: 137) würden. Den Befragungen waren Unterrichtsprojekte zur Einführung der phonetischen Lautschrift vorausgegangen, so dass - was Marschollek (ebd.) einräumt - die Antworten auch vor dem Hintergrund dieser Erfahrung zu sehen sind. Die Antworten der Befragten (vgl. ebd.: 138-139) sind in ihren Bezugnahmen sehr unterschiedlich. 20 Kinder geben an, dass sie sich auch weiterhin mit der Lautschrift beschäftigen möchten. Zwar können bei diesem Ergebnis durchaus Gefälligkeitsaussagen eine Rolle gespielt haben (was Marschollek allerdings nicht anspricht), doch ist es interkomprehensionsdidaktisch (man denke an das vierte Sieb der Graphien und Aussprache; vgl. Duke 2007) gerade angesichts des jungen Alters der Befragten nicht uninteressant. Darüber hinaus wünschen sich lediglich vier der befragten Grundschüler, in der weiterführenden Schule weiterhin „spielerisch“ zu lernen (ebd.: 140), was den Befunden von Reiter 2005 (s.o.) entspricht. 16 befragte Kinder wünschen sich ausdrücklich einen Zuwachs ihrer fremdsprachlichen Kompetenz, und dies in den Berei- <?page no="121"?> 2. Frühe Interkomprehension 107 chen: Lesen und Schreiben, Sprechen sowie mehr Anwendungsmöglichkeiten ihrer sprachlichen Kenntnisse in interkulturellen Kontexten (vgl. ebd.) bis hin zu dem Wunsch, „in der 6. Klasse fließend Englisch“ (ebd.: 139) zu sprechen. In Bezug auf den letztgenannten Selbstanspruch betont Marschollek (ebd.) zu Recht: Hier erscheint es besonders wichtig, diese Erwartungen etwas zu relativieren und den Kindern transparent zu machen, dass das Fremdsprachenlernen letztlich eine lebenslange Aktivität darstellt. Ebenso deutlich sollte aber zugleich werden, dass ein kurzfristiges Erreichen von beachtlichen Teilerfolgen auf diesem Weg durchaus realistisch ist. Im Kontext einer ‚Didaktik des Anknüpfens‘ ist es ein Anliegen der vorliegenden Arbeit, der ‚Übergangsfrage‘ eine stärker sprachenübergreifende Perspektive hinzuzufügen mit besonderem Fokus auf Sprachlernkompetenz und strategien. So ist in Untersuchungen und Publikationen zur ‚Übergangsproblematik‘ eine gewisse monolinguale Orientierung festzustellen, d.h. das Wissen und die Fähigkeiten der Kinder aus dem grundschulischen Englischunterricht beispielsweise werden ‚lediglich‘ im Hinblick auf ihre Bedeutung für den Englischunterricht der weiterführenden Schulen reflektiert (Börner 2001, 2004; Keßler 2006; Marschollek 2007a, 2007b; Wagner 2009). Dasselbe ließe sich allerdings auch der Französischdidaktik vorwerfen. So beziehen sich beispielsweise im erwähnten Themenheft von französisch heute zur „Didaktik des Übergangs“ (Mertens 2003c) die meisten Beiträge fast ausschließlich auf ein Anknüpfen an den primarstuflichen Französischunterricht (H. Christ 2003: 121; Hegele 2003: 146; Mentz 2003: 138; Wilts 2003: 129), obwohl in der Einführung des Heftes explizit auf die „Dominanz des Englischen“ (Mertens 2003a: 115) hinsichtlich der in der Grundschule unterrichteten Fremdsprachen hingewiesen wird (vgl. auch Meißner 2011d). Sprachenportfolios und Interkomprehension Meißner (2004a: 51) ordnet im Rahmen der Interkomprehensionsdidaktik das europäische Sprachenportfolio den „[l]ern- und sprachenbewusstheitsfördernde[n] Verfahren“ zu. Trotz offensichtlicher inhaltlicher Überschneidungspunkte der Interkomprehensionsdidaktik mit Überlegungen zum Portfolio kann und soll die umfangreiche Literatur zu Portfolioarbeit (vgl. z.B. Krumm & Jenkins 2001; Legutke 2002; Blasberg-Bense 2003; Legutke 2004; H. Christ 2005; Burwitz-Melzer & Quetz 2006; Caspari 2006; Castellotti & Moore 2006; Thürmann 2006; Burwitz-Melzer 2008) hier nicht nachgezeichnet werden. Doch liegen zwei Monographien vor, die den Fokus auf Portfolioarbeit mit jungen Lernern legen, für den Grundschulbereich Kolb (2007) und für die Sekundarstufe I Bellingrodt (2011), die im Folgenden dargestellt und auf Interkomprehension bezogen werden. <?page no="122"?> 108 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Kolbs (2007) Studie fokussiert im Zusammenhang mit Portfolioeinsatz in der Primarstufe die Ebene der „Reflexion der eigenen sprachlichen Kompetenz (Selbsteinschätzung)“ (2007: 42, Kursivdruck i. O.). Auf der Grundlage der Feststellung, dass bestehende Portfoliomaterialien fast ausschließlich aus Selbsteinschätzungsbögen bestehen, Lernwege jedoch wenig thematisiert werden (ebd.: 36), wird darüber hinaus jene der Reflexion des „Sprachlernprozesses“ durch die Kinder (ebd.: 42) thematisiert. In diesem Sinne sind die auf Sprachenlernen bezogenen Befunde dieser Arbeit, die im Folgenden dargestellt werden, für die vorliegende Untersuchung relevant, auch wenn die Autorin das Thema der Mehrsprachigkeit „eher am Rande thematisiert“ (ebd.: 102). Kolb geht über die genannten Fragestellungen zur Reflexion bzw. Reflexionsfähigkeit von Grundschülern hinaus, indem sie auch den Fragen nachgeht, welche Bedeutung Lernende selbst der Arbeit mit dem Portfolio zuschreiben, welche Strategien und Kriterien sie bei ihrer Selbsteinschätzung heranziehen und welche subjektiven Konzepte (ebd.: 80), Sinnzuschreibungen und Emotionen (ebd.: 87) von ihnen verbalisiert werden (können) (ebd.: 14). Auch möchte sie untersuchen, welche Lerngelegenheiten Portfolioarbeit im Hinblick auf die Förderung reflexiver Fähigkeiten bietet (ebd.). Die Untersuchung wurde als eine Schulbegleitforschung durchgeführt. Zwei dritte Klassen wurden über den Zeitraum eines Jahres in enger Zusammenarbeit mit den Lehrpersonen, mit denen Lernarrangements und Materialien für die Portfolioarbeit entwickelt wurden (ebd.: 14-15), begleitet. Vor dem Hintergrund der Annahme einer „Interdependenz von Portfolioarbeit und Unterrichtskonzeption“ (ebd.: 43) wählt die Autorin eine qualitativ-explorative Herangehensweise (ebd.: 15) und setzt Datenerhebungsmethoden ein, die neben der Auswertung von bearbeiteten Portfoliomaterialien ebenfalls Gruppengespräche nach der Portfolioarbeit sowie Unterrichtsaufnahmen umfassen (ebd.), denn, so Kolb, auf Grund dieser Interdependenz sei es nicht möglich, „den Einsatz von Portfolios als Variable zu isolieren und direkte Effekte der Methode festzustellen“ (ebd.: 43). Kolb möchte den individualisierenden Charakter des Portfolios stärken und greift aus diesem Grund nicht auf bestehende Materialien zurück, sondern entwickelt für ihre Untersuchung eigene Portfoliomaterialien und bezieht die Deskriptoren stärker auf den von den Schülerinnen und Schülern erlebten Unterricht (ebd.: 41-42). Die Daten wurden sowohl einer sequenziellen Analyse als auch einem inhaltsanalytischkategorisierenden Verfahren unterzogen (ebd.: 162). Für den Kontext von (früher) Interkomprehension ist insbesondere folgendes Ergebnis von Interesse: Bezogen auf Lernerstrategien, die von Kolb als sowohl Lernstrategien im engeren Sinne als auch Kommunikationsstrategien umfassend konzipiert werden, konnte sie ein breites Spektrum verschiedener Strategien feststellen, über die die Kinder berichten, wie z.B. die bewusste Verarbeitung sprachlichen Inputs (ebd.: 235-136), die Nutzung von Inter- <?page no="123"?> 2. Frühe Interkomprehension 109 aktionssituationen (ebd.: 238-240), Strategien des Sprachvergleichs (ebd.: 248- 250) und des Heranziehens von „Weltwissen“ (ebd.: 251). Allerdings werden der Sprachenvergleich und die Aktivierung enzyklopädischen Wissens dem Bereich der „Semantisierungsstrategien“ (ebd.: 245) zugeordnet, da sie weniger dem Erwerb sprachlicher Mittel dienlich seien, sondern Vorgehensweisen der Lernenden darstellten, fremdsprachlichen Äußerungen anderer Sinn abzugewinnen. Aus Sicht der Interkomprehensionsdidaktik ist diese begriffliche Abgrenzung wenig nachvollziehbar, da die Fähigkeit zu Sprachenvergleich für Sprachenlernen genutzt werden kann (zum Beispiel, wenn Wissen über interlinguale Relationen zur Memorisierung von Vokabular oder für Produktionstransfer verwendet wird) und genutzt wird (ein guter Sprachenlerner ist ein guter ‚Sprachenvergleicher‘; vgl. Meißner 2010e: 44). Die Abgrenzung ist aus Sicht der Interkomprehensionsdidaktik auch aus dem Grund empirisch nicht haltbar, als der Interkomprehensionsbegriff, wie bereits ausgeführt, ebenfalls für ‚natürlich vorkommende‘ außerschulische Kontakt- und Kommunikationssituationen verwendet wird und die Nutzung inhärenten Wissens in beiden Kontexten eine Rolle spielt. Dass jedoch auch für (grund-)schulische Kontexte die vorgenommene Differenzierung nicht unbedingt angemessen ist, wird in der Mobilisierung der Kinder von Wissen aus ihren Herkunftssprachen deutlich, das sie mit der Zielsprache in Verbindung bringen, und dies auch, wenn ihnen der entsprechende deutsche Begriff nicht einfällt. So setzt eine Schülerin ihre Herkunftssprache Türkisch bei der Bedeutungserschließung des englischen Wortes potato ein: „patates [türkische Bezeichnung für Kartoffel], guck mal Apfel heißt patates, nein Karotte heißt patates“ (Kolb 2007: 249) 110 . Bellingrodt (2011) legt in ihrer Studie zu Portfolioarbeit in der Sekundarstufe I (Klasse 6 und 8) den Fokus auf eine Förderung autonomen Lernens. Da sie in ihrer Untersuchung elektronische Portfolios einsetzt, bilden die Fragen nach dem Potenzial computer- und internetgestützter Portfolios und den Rahmenbedingungen ihres Einsatzes zwei weitere Schwerpunkte (ebd.: 100-101), auf die im Folgenden nicht weiter eingegangen werden soll. Die Forschungsfrage zu Lernerautonomie (ebd.: 100) lautet: „Inwiefern fördert die Arbeit mit ePortfolios im Fremdsprachenunterricht autonomes Lernen? “ Die ePortfolios setzen sich aus den Rubriken „Mein Sprachstand“, „Meine Lernziele“, „Meine Spracherfahrungen“ und „Meine eigenen Arbeiten“ (ebd.: 145) zusammen. 110 Ein Schüler mit der Herkunftssprache Portugiesisch erkennt zudem den Eigennamen „Santa Claus“, der im Portugiesischen auch gebräuchlich ist (ebd.: 249). Im Bereich des Weltwissens ist die Äußerung eines Schülers bemerkenswert, der auf der Grundlage von Wissen aus seiner Lebenswelt eine Hypothese über die Bedeutung des Wortes sky bildet, diese auf ihre Plausibilität prüft und dann verwirft: „SKY ist ein Einkaufladen, aber da passt kein Einkaufsladen hin, das ist ein Laden“ (ebd.: 251). <?page no="124"?> 110 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Neben den Portfolios selbst bilden eine „qualitative Befragung der Lernenden vor Beginn der Portfoliopraxis“, eine „quantitative Befragung der Lernenden am Ende der Portfoliopraxis“, „Leitfadeninterviews mit den Lernenden nach Ende der Portfoliopraxis“ und eine „Abschlussevaluation mit den Lehrenden nach Ende der Portfoliopraxis“ (ebd.: 110) die Datengrundlage. Die Daten wurden zu Beginn und gegen Ende des Schuljahres 2007/ 2008 erhoben (ebd.: 132-133). Die Untersuchung wurde im Rahmen des Unterrichts von Spanisch als zweiter Fremdsprache durchgeführt, die Sechstklässler befanden sich im ersten, die Achtklässler im dritten Lernjahr (ebd.: 120). Für die Datenanalyse wurden unter anderem das thematische Kodieren nach Flick (2006) und die Software MAXqda verwendet (ebd.: 141-142). Für den Kontext von (früher) Interkomprehension sind insbesondere folgende Ergebnisse von Interesse (ebd.: 252ff.): Für die Schüler hat, was die Bewusstheit über erworbene Fähigkeiten angeht, die Dokumentation von Lernprozessen im Dossier eine größere Bedeutung als die Selbsteinschätzungen mit den Kann-Beschreibungen, da diese als zu abstrakt wahrgenommen werden. Hieraus folgert Bellingrodt die Notwendigkeit der Ergänzung von Deskriptoren zur Selbsteinschätzung um Beispielaufgaben und Beschreibungen von Kommunikationssituationen. Am Beispiel einer Schülerin mit einem hohen Geltungsmotiv konnte Bellingrodt (ebd.: 254) zeigen, dass angesichts des privaten Rahmens eines Portfolios auch das Dossier für ein Erfolgserlebnis nicht ausreichend sein kann. Hieraus folgert sie: „Um ein Erfolgserleben über die Entwicklung von Lernprozessen zu begünstigen, sollten Schülerinnen und Schüler selbst ausgewählte Lerndokumente des Dossiers regelmäßig im Fremdsprachenunterricht präsentieren.“ Hier ist allerdings die Frage, ob der eigene Lernfortschritt überhaupt wahrgenommen wird (was bei der Schülerin durchaus der Fall ist; vgl. ebd.), von dem Bedürfnis, diese Wahrnehmung mit anderen teilen zu wollen, zu unterscheiden. So dokumentiert Bellingrodt auch Fälle, in denen Lerner Hilfestellungen bei der Wahrnehmung ihrer Fortschritte benötigten (ebd.). In Bezug auf die Reflexion über Lernstrategien konnte eine Fokussierung der Schüler darauf, wie sie lernen („Ist-Zustand“), verglichen mit der Frage, wie sie besser lernen können („Soll-Zustand“), festgestellt werden. Bellingrodt (ebd.: 256) fordert in diesem Zusammenhang eine Vertiefung der Portfolioarbeit durch einen „Lerntypentest“ und ein „Strategientraining“. Inwiefern kann die Interkomprehensionsdidaktik einen Beitrag zur Weiterentwicklung von Portfolioarbeit leisten? Eine Ergänzung bestehender Kann-Beschreibungen durch zusätzliche in der Auseinandersetzung mit konkreten Materialien gewonnene individuelle Kann- Beschreibungen: <?page no="125"?> 2. Frühe Interkomprehension 111 Zusammen betrachtet kommen beide Studien zu einem eindeutigen Ergebnis: Beide Autorinnen fordern die Kopplung von Portfolioarbeit mit jungen Lernern an konkrete Materialien und Aufgaben. So kommt Kolb zu dem Schluss, dass Grundschulkinder „durchaus dazu im Stande sind, mit Hilfe entsprechender Unterrichtsmaterialien ihre Lernstrategien zu verbalisieren und sie auch als solche wahrzunehmen“ (ebd.: 253, meine Hervorhebung). M.E. vermutet sie in diesem Zusammenhang nicht zu Unrecht, dass De Leeuws Befund (1997: 363), Lernstrategien würden von Grundschulkindern nicht als solche durchschaut (s. Abschnitt I 2.3), durch die von ihm eingesetzten Erhebungsmethoden des Fragebogens und Interviews mit bedingt sein könnte. Was eine Kopplung der Erfassung und Förderung von Strategien an konkretes Material anbelangt, geht die Interkomprehensionsdidaktik insofern noch einen Schritt weiter, als sie einen konkreten Bezug von sprachlichem Input zu den Handlungs- und Lernprozessen des Lerners während dessen Bearbeitung erfassen möchte mit dem Ziel eines Aufbaus von Sprachlernkompetenz. Es geht nicht ‚allein‘ um die Metaebene des Sprechens über Lernstrategien oder eine Nutzung von Beispielaufgaben zu Illustrationszwecken, sondern um die Förderung von Sprachlernkompetenz im sprachlichen Handeln und durch die Wahrnehmung eigener Verarbeitungsprozesse selbst 111 . Interkomprehensionsdidaktik und Aufgabenorientierung (task based learning, apprentissage par les tâches, enfoque por tareas) Ursprünglich geht der Ansatz des aufgabenorientierten Lernens auf den Kontext der Erwachsenenbildung und die dort wahrgenommene Diskrepanz zwischen den Zielen einer Verwendung der Fremdsprache als einem Kommunikationsmittel außerhalb des Klassenraumes und den Aktivitäten, die in demselben stattfanden, zurück (vgl. Müller-Hartmann & Schocker-v. Ditfurth 2005a: 2). Was die im Zusammenhang mit task-based learning betonte ‚Authentizität‘ von (Text-) Material und Aufgabenstellungen im Fremdsprachenunterricht angeht, ist eine deutliche Schnittmenge in der Argumentation mit der Interkomprehensionsdidaktik festzustellen. So stellen beide Ansätze dieses Prinzip jenem einer an grammatischer Progression orientierten Lehrbucharbeit im ‚traditionellen‘ Fremdsprachenunterricht gegenüber. In beiden Kontexten an- 111 Diese Ausführungen sollen die Wichtigkeit der illustrativen Funktion von Beispielauf gaben, die die Autorinnen nachweisen konnten, nicht schmälern. In diesem Zusammen hang sei der Befund von Martinez (2008: 285) erwähnt, demzufolge selbst angehende Fremdsprachenlehrer „nur eingeschränkt über Strategien [verfügen]“ und auf Nachfrage mit tradierten Lerngewohnheiten wie der „Paar-Assoziationsmethode“ oder der „Zuhalte-Methode“ antworten. Dies lässt die Forderung von Kolb (2007) und Belling rodt (2011) einer Kopplung an konkrete Kommunikationssituationen und Aufgaben als nicht allein für Portfolios sinnvoll erscheinen, die an junge Lerner gerichtet sind. <?page no="126"?> 112 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht geführte Argumente für einen Einsatz authentischen Materials sind die Motivation der Lernenden und die Hervorhebung von Sprache als einem Kommunikationsmedium zur Mitteilung von Bedeutungen und Inhalten (focus on content; Bär 2009: 87). Insbesondere für junge Lerner steht bei dem erstgenannten Grund - entsprechend der Sprachlernbiographie der Kinder - vor allem das Schaffen einer motivationalen Grundlage für das Sprachenlernen durch das Wecken von Interesse an Sprache(n) und am Lernen von Sprache und den Inhalten im Vordergrund. Den Begriff des „Interesses“ definiert der pädagogische Psychologe Krapp als die „emotionalen, motivationalen und kognitiven Beziehungen einer Person zu Gegenständen“ (1998: 213). Interesse kann entweder „durch die aktuellen Anregungsbedingungen (Interessantheit)“ (ebd.: 214) entstehen oder als ein „bestehende[s] individuelle[s] (dispositionale[s])“ (ebd.) Interesse in einer gegebenen Situation aktualisiert werden. Im grundschulischen Fremdsprachenunterricht geht es insbesondere um das Schaffen von Grundlagen für diese individuellen Erfahrungsschemata, die dann (hoffentlich) zukünftige Sprachverwendungsund/ oder Lernsituationen auslösen können. Dies entspricht der Betonung der attitudinalen Ebene und des savoir être in grundschulischen Programmen wie beispielsweise language awareness oder éveil aux langues (vgl. Abschnitt I 2.1). Obwohl die Interkomprehensionsdidaktik diese Ziele selbstverständlich ebenfalls verfolgt, ist das Prinzip der ‚Authentizität‘ und Themenorientierung stärker an einem lernerseitigen Entdecken eigener (sprachlicher und strategischer) Fähigkeiten und eigenen Wissens orientiert. In dieser Hinsicht antwortet der Interkomprehensionsansatz durchaus auf die Kritik an einer ‚schwachen Variante‘ eines kommunikativ orientierten Fremdsprachenunterrichts, die Ellis (2003: 28) als „task-supported language teaching“ bezeichnet. Hier werden kommunikative Elemente in ein ansonsten sprachstrukturell organisiertes Lernprogramm integriert. Zu lernerseitiger Sprachproduktion in einem solchen an konkreten einzelnen sprachlichen Formen orientiertem Fremdsprachenunterricht äußert sich Hedge (2000: 61- 62; zitiert aus: Müller-Hartmann & Schocker-v. Ditfurth 2005a: 5) wie folgt: Students will use whatever language resources they have at their command […] Directing their attention to the form in efforts to persuade them to practise it while they are focused on the messages they are trying to communicate to their peers is distracting and counter-productive in terms of fluency. Auch wenn sich Hedge auf Sprachflüssigkeit (fluency) in der Sprachproduktion bezieht, lassen sich dennoch deutliche Parallelen in ihren Ausführungen zur Interkomprehensionsdidaktik ausmachen 112 : Ihre Betonung des focus on mean- 112 Für den Umgang mit Sprachrezeption und -produktion haben Meißner & Reinfried (1998a: 21-22) folgenden Vorschlag formuliert: „Diese Umorientierung der Prioritäten bei den Grundfertigkeiten kann für die gesamte Dauer eines rezeptiv orientierten Kurses <?page no="127"?> 2. Frühe Interkomprehension 113 ing bzw. on content, die eine lehrerseitige Fokussierung der Form kontraproduktiv erscheinen lässt, steht im Einklang mit der Interkomprehensionsdidaktik. Zwar impliziert Interkomprehension - beispielsweise im Rahmen der Hypothesengrammatik - durchaus auch eine Betrachtung der Sprachform. Dies erfolgt jedoch aus dem Wunsch heraus, einen interkomprehensiven Text verstehen zu wollen, und einem lernerseitig initiierten focus on form, welcher wiederum Hedges (ebd.) Beobachtung, dass „[s]tudents will use whatever language resources they have at their command” (s.o.), entspricht. Das der Interkomprehensionsdidaktik zugrunde liegende Verständnis von Sprachlernkompetenz als einer Handlungskompetenz, die „in einem gegebenen Kontext ein Ensemble von Ressourcen (Kenntnisse, Haltungen, Attitüden [Fähigkeiten], Überlegungen) umfasst, um ein Problem oder eine Aufgabe zu lösen“ (RePA 2009: 17; s. Abschnitt I 1.3), geht hier allerdings weiter, da sie sich neben „language resources“ (Hedge 2000: 61-62) auf alle einem Individuum zur Lösung einer Aufgabe zur Verfügung stehenden Resourcen bezieht. Selbstverständlich kann im Zusammenhang des Fortschreibens der Hypothesengrammatik in einem gewissen Rahmen auch von aufeinander aufbauenden Stufen gesprochen werden. (So kann für Interkomprehension mit der Zielsprache Italienisch und Französischlernern beispielsweise angenommen werden, dass der bestimmte Artikel la früher erkannt wird als il und lo). Der entscheidende Unterschied ist jedoch, dass sich die Interkomprehensionsdidaktik und das task-based learning in seiner ‚starken Variante‘ eines kommunikativ orientierten Fremdsprachenunterrichts an dem orientieren, was ein individueller Lerner zu einem bestimmten Zeitpunkt auf der Grundlage seines deklarativen und prozeduralen Wissens und dem Stand seiner (plurilingualen) Lernersprache erkennen kann 113 : [E]in an der ‚starken Version‘ kommunikativer Kompetenz konzipierter Fremdsprachenunterricht [wertet] die Erfahrungen der Lernenden, ihren sinnlichen und reflektierenden Umgang mit der Fremdsprache im Hier-und-Jetzt des Klassenzimmers auf, in dem die Lernenden als sie selbst zu Wort kommen gelten, sie kann sich aber auch auf den ersten Kursabschnitt beschränken, während in den folgenden Abschnitten produktive Kompetenzen nach und nach mehr Gewicht er halten.“ Die Autoren (ebd.) begründen diese Position mit Bezugnahme auf am natürli chen Zweitspracherwerb orientierten Ansätzen, die die Notwendigkeit einer silent period bzw. einer „Inkubationsphase“ vor einer produktiven Sprachverwendung betonen. Al lerdings ist in diesem Zusammenhang ebenfalls zu erwähnen, dass sich die Interkompre hensionsdidaktik und -forschung, wie bereits angesprochen, mittlerweile nicht mehr ‚allein‘ Sprachrezeption widmet. Hier ist der Ansatz des mehrsprachigen diagnostischen Schreibens (Meißner 2008b; 2010a) zu nennen. Auch zu plurilingualer interkomprehen siver Interaktion auf der Plattform Galanet wurde bereits ein auf germanophone Lerner bezogenes Forschungsprojekt (vgl. Prokopowicz 2011, 2016) durchgeführt. 113 Zu Handlungsorientierung im grundschulischen Fremdsprachenunterricht vgl. Burwitz- Melzer & Quetz (2005). <?page no="128"?> 114 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht können und dabei immer wieder neu ihre Grenzen und Möglichkeiten […] ausloten. Der Ansatz macht explizit Front gegen einen Unterricht, der vorwiegend auf ein Später durch Lernen auf Vorrat ausgerichtet ist 114 . (Legutke & Schocker-v. Ditfurth 2003a: 5; Anführungszeichen und Kursivdruck im Original) Was die Interkomprehensionsdidaktik mit dem Ansatz des task-based learning gemeinsam hat, ist die (annähernde) Übertragung der Steuerung von Lernaktivitäten an die Lernenden: Unter ‚Aufgabe‘ ist ein mehr oder weniger umfangreiches Lernarrangement zu verstehen, das die Lernenden mit realitätsnahen, alltagsbezogenen Handlungssituationen konfrontiert, innerhalb deren Themen bearbeitet, Problemsituationen bewältigt und Ergebnisse erzielt werden sollen. (Mertens 2010: 7) Tesch (2010a) diskutiert in Zusammenhang von task-based learning die Frage einer Unterscheidung von „Aufgaben“ und „Übungen“ (vgl. z.B. Häussermann & Piepho 1996: 196; Leupold 2007: 113), die durch diesen Ansatz „in einen systematischen Zusammenhang gestellt“ (Tesch ebd.: 60) worden sei. Für die Interkomprehensionsdidaktik halten Meißner et al. (2011b: 98) fest: Die Komplexität der Aufgabe führt zu einer Hierarchisierung von Aktivitäten, wie sie sich in der traditionellen terminologischen Unterscheidung zwischen Aufgabe und Übung konkretisiert. In Anlehnung an Leupold (2007, S. 113) lassen sich „Übungen als Elemente der Vorbereitung auf eine komplexere Aufgabe“ fassen. In der Interkomprehensionsdidaktik übernehmen solche Übungsformate diese Funktion, welche sehr konkret die Beziehungen zwischen Sprachen (Korrespondenzregeln und Korrespondenzbrüche) verdeutlichen. Diese Position wird (mit Ausnahme der zeitlichen Dimension der Vorbereitung 115 ) auch in der vorliegenden Untersuchung vertreten (zu engeren und offeneren Aufgabenformaten in der Interkomprehensionsdidaktik vgl. auch Meißner 2011b). 114 Vgl. hierzu auch die Kritik der Interkomprehensionsdidaktik am Progressionsschema von ‚traditionellem‘ Fremdsprachenunterricht (s. Abschnitt I 1.3) und für Französisch unterricht das Ergebnis von Tesch (2010b: 263): „Frau D. beschreibt ein Kompetenz modell, dass von der Annahme ausgeht, dass der Aufbau formalen Wissens - in der Mittelstufe - auch zur erfolgreichen sprachlichen Produktion führt, die in der Oberstufe wie ein Automatismus erwartet wird. Frau F. argumentiert zwar durchaus von den Schülern und deren kommunikativem Interesse her, dem sie bereit ist, die sprachlichen Mittel (Grammatik etc.) unterzuordnen. Allerdings bezieht sie sich wie ihre Vorredner auf den Oberstufenunterricht und unterstellt implizit, dass diese vertiefte Form der Aus einandersetzung mit Inhalten in der Mittelstufe noch nicht stattfinden kann.“ 115 S. hierzu Kapitel III 2.5 und III 2.8. <?page no="129"?> 2. Frühe Interkomprehension 115 Meißner et al. (2011b: 98) haben die von Ellis (2003: 9) formulierten sechs Definitionsmerkmale des task-based learning auf Interkomprehension übertragen 116 : „A task is a work plan.“ Die Interkomprehensionsmethode verortet den Arbeitsplan innerhalb der Hypothesengrammatik bzw. ihres protokollierten Aufbaus. „A task involves a primary focus on meaning.“ Sie ist sowohl auf das Erkennen von Sprachformen als auch an Inhalten orientiert. Die Textauswahl geschieht in Abstimmung mit den Lernern. „A task involves realworld processes of language use.“ Sie greift zu einem sehr frühen Zeitpunkt authentische Texte (unstrukturierter Input) auf. „A task can involve any of the four language skills.“ Sie beschränkt sich zunächst auf das Lesen und nutzt das Schreiben zur Unterstützung metakognitiver Prozesse. „A task engages cognitive processes.“ Sie verlangt ein systematisches Lernmonitoring und setzt hierzu entsprechende Strategien ein. „A task has a clearly defined psychology outcome.“ Sie nennt klare Ziele und operationalisiert diese. Tab. 6: Task-based learning und Interkomprehension (Meißner et al. 2011b: 98) In Bezug auf Ellis’ Hinweis, dass eine task in diesem Sinne jede der vier (bzw. einschließlich der ‚weichen‘ Kompetenzen des interkulturellen Lernens und des savoir apprendre sowie jener der Sprachmittlung: sieben) Kompetenzen umfassen könne, und der Spezifizierung „Sie beschränkt sich zunächst auf das Lesen und nutzt das Schreiben zur Unterstützung metakognitiver Prozesse.“ ist zu betonen, dass Interkomprehension auch als ein - jedoch ein sehr wichtiger - Teil einer komplexen Rahmenaufgabe (vgl. Tesch et al. 2008; Meißner & Tesch 2010; Tesch 2010a) aufgefasst werden kann 117 . Inwiefern kann die Interkomprehensionsdidaktik einen Beitrag zur Weiterentwicklung des task-based learning leisten? im Bereich der Forschung zu lernerseitiger Wahrnehmung von Aufgaben: Müller-Hartmann & Schocker-v. Ditfurth (2005a: 11) kritisieren mit Recht, dass die bisherige Forschung zu Aufgabenvariablen (wie z.B. planning time oder task repetition; ebd.) überwiegend in laborähnlichen Kontexten durchgeführt wurde, obwohl auch Lernervariablen und der Kontext, 116 Zur Relation von task-based learning und Interkomprehension vgl. auch Meißner (2011c: 82ff.). 117 Zu Rahmenaufgaben mit einem integrierten Interkomprehensionsmodul vgl. Morkötter & Schröder-Sura (2010) und Schroeder & Tesch (2010). <?page no="130"?> 116 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht „wie z.B. die Frage nach der Sozialform oder nach der Rolle des Lehrers, […] einen deutlichen Einfluss auf die Ausführung von Aufgaben haben“. Auch Ellis (2003: 199-200) betont: „tasks cannot be externally defined and classified because the ‘activity’ that results from a ‘task’ will vary from learner to learner and also within a single learner on different occasions.”. In diesem Sinne unterscheidet er zwischen einer „task as itself“ und einer „task as performed“ (Ellis 2003: 183). Tesch (2010b: 54) hebt ebenfalls hervor: „Ellis spricht auch ein bisher wenig beachtetes methodisches Problem an. In keiner einzigen Studie wurde der Versuch unternommen, zu ermitteln, wie Lerner auf bestimmte Aufgaben reagierten“. Gerade im Hinblick auf die Bedeutung, die metakognitiven Prozessen und Lernmonitoring in der Interkomprehensionsdidaktik zugeschrieben werden (Meißner et al. 2011b: 98; s. auch die Tabelle oben), kann der Ansatz des task-based learning im Bereich des lernerseitigen task knowledge (Wenden 1998, 1999) von ihr profitieren. Bezogen auf die Longitudinalstudie der vorliegenden Untersuchung ist beispielsweise zu fragen: Wie geht der junge Lerner an die (Interkomprehensions-) Aufgaben heran? Oder in der Terminologie des RePA (Abschnitt I 1.3) ausgedrückt: Welche Ressourcen aktiviert er für die Aufgabenlösung? Beurteilt er seine Lösungen? Wenn dies der Fall sein sollte, wie verbalisiert er seine metakognitiven Beobachtungen? Lassen sich im Laufe der Longitudinalstudie Unterschiede in seiner Herangehensweise beobachten, beispielsweise im Hinblick auf eine Veränderung seines task knowledge (Wenden 1998, 1999; s. hierzu auch Abschnitt I 1.3)? im Bereich des Lernens des Lernens: In diesem Sinne ist ein weiterer Beitrag der Interkomprehensionsdidaktik (und bezogen auf die vorliegende Untersuchung: der Longitudinalstudie) in einer Erforschung strategischer Entscheidungen (s. das Zitat unten) von Lernern während der Bearbeitung von Aufgaben zu sehen. Königs (2005: 72-73), der aufgabenorientiertes Fremdsprachenlernen und Mehrsprachig keitsdidaktik zueinander in Beziehung setzt, äußert sich zum Stellenwert des savoir apprendre im Kontext aufgabenbasierten Fremdsprachenlernens wie folgt: Zwar wird verschiedentlich darauf hingewiesen, dass aufgabenbasiertes Fremdsprachenlernen einen Problemlösungsvorgang darstellt und dass dabei auch strategische Entscheidungen zu treffen sind, doch werden diese offenbar überwiegend auf die sprachlichen Strukturen der Interaktion bezogen, nicht aber auf den fremdsprachlichen Aneignungsvorgang, der aus dieser Interaktion resultiert oder resultieren soll. (Hervorhebungen: StM) Insbesondere im Rahmen einer kognitiven Perspektive auf aufgabenbasiertes Lernen, so Königs (ebd.: 73), verwundere das Ausblenden des Lernens des Lernens, spiele doch dort Metakognition eine besonders große Rolle. Er sieht <?page no="131"?> 2. Frühe Interkomprehension 117 eine Erklärung für diese Feststellung darin, dass Vertreter des aufgabenbasierten Fremdsprachenunterrichts bislang in nicht ausreichendem Maße anerkannt haben, dass das Aushandeln von Bedeutung im Klassenzimmer (auch im Rahmen des task-based learning) eben doch nicht gänzlich mit außerschulischen Bedeutungsaushandlungen übereinstimmt (ebd.): „Der Lerner vergisst ja nicht, dass dieser Aushandlungsprozess vor dem Hintergrund der Zielsetzung erfolgt, dass er eine Fremdsprache lernen will/ soll […]“. Eine Annäherung des task-based learning-Ansatzes an die interkomprehensionsdidaktische Auffassung von savoir apprendre als einer transversalen Kompetenz, die sich auf alle Ebenen des savoir (also auch beispielsweise savoir être) bezieht und für die engere Auffassungen des Begriffs wie etwa ‚Lern- und Arbeitstechniken‘ nicht greifen, könnte sich gerade wegen der Orientierung von task-based learning an außerschulischen Sprachverwendungskontexten als fruchtbar herausstellen. In diesem Zusammenhang sei auch daran erinnert, dass Interkomprehension sowohl als ein Prozess aufgefasst wird, der im Klassenzimmer mit dem Ziel einer Förderung von Sprachlernkompetenz eingesetzt werden kann, als auch als eine ‚natürlich vorkommende‘ internationale bzw. interlinguale Kommunikationsform konzipiert wird (vgl. hierzu die Unterscheidung in Abschnitt I 1.1; zur Vielfalt unterschiedlicher außerschulischer Interkomprehensionspraxis s. Castagne 2007: 461, 463). Im folgenden Kapitel werden Überlegungen zur Umsetzung frühen Interkomprehensionsunterrichts formuliert, wobei insbesondere auf die Frage der Zielsprache, psycholinguistische Implikationen des fremdsprachlichen Leseverstehens und die Rolle sprachlichen und nicht-sprachlichen (Vor-) Wissens einzugehen sein wird. 2.6 Fragestellungen zu früher Interkomprehension Die Frage der Zielsprache und Sprachverwandtschaft Dass sich die Interkomprehensionsforschung im deutschen Schulkontext bislang noch nicht mit jüngeren Lernern befasst hat, liegt, wie bereits angesprochen, vor allem in Schullaufbahnregelungen und Sprachenfolgen begründet. So ist die bisherige zeitliche Fokussierung interkomprehensiver Ansätze auf das Ende der Sekundarstufe I oder die Sekundarstufe II auch vor dem Hintergrund zu betrachten, dass die meisten Schüler Englisch als erste Fremdsprache erlernen und daher einer Sprache der romanischen Sprachfamilie (häufig Französisch im zweiten Lernjahr der Sekundarstufe) erst später begegnen. Hieraus folgt, dass Schülern hierzulande für einen interromanischen Transfer romanische (französische) Transferbasen in geringerem Maße bzw. erst zu einem späteren Zeitpunkt des schulischen Sprachlehrgangs zur Verfügung stehen. Doch ist hier nach der Rolle der Mutterbzw. Zweitsprache Deutsch und der englischen Sprache als Basis für Transfer zu fragen und vor allem nach jener <?page no="132"?> 118 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht von Interkomprehension zur Förderung von Sprachlernkompetenz. Wie können Strategien wie beispielsweise die Berücksichtigung des sprachlichen Kotextes und die Suche nach intra- und interlingualen Transferbasen jungen Lernern, die noch nicht über gefestigte Kenntnisse in einer starken Brückensprache verfügen, bewusst und für sie erfahrbar gemacht werden? An dieser Stelle sei erneut an den Befund von Bär (2009: 507) erinnert, demzufolge die jüngeren Schüler, d.h. die Achtklässler, Schwierigkeiten mit der Identifikation italienischer oder spanischer Wörter auf der Grundlage ihrer Französischkenntnisse haben. Bär (ebd.) erklärt dieses Ergebnis mit der Vermutung, dass die Lerner einen interlingualen Transfer nicht gewohnt und ihre Französischkenntnisse im lexikalischen Bereich für solche Transferprozesse nicht ausreichend seien. Wenn dies bei Achtklässlern festgestellt wird, die alle Französisch als erste Fremdsprache lernen, so ist zu fragen, ob Interkomprehension mit einer weiteren romanischen Zielsprache wie der italienischen oder spanischen in Klasse 6 und 7 überhaupt durchführbar ist. Wenn dies der Fall sein sollte, welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für die Gestaltung von Interkomprehensionsmaterialien, -aufgaben und -unterricht, um die von Bär (ebd.) angedeutete ‚Schwelle‘ zu senken? Das Kriterium der Schwierigkeit eines Textes wird in der Interkomprehensionsdidaktik folgendermaßen definiert (Meißner 2004a: 59): Der interkomprehensive Schwierigkeitsgrad eines Textes ergibt sich aus dem Verhältnis von Profilformen und Profilfunktionen einerseits zu den Transferbasen andererseits. Je mehr Transferbasen im Verhältnis zum Gesamt der kritischen Merkmale eines Textes erkannt werden, desto komprehensibler gerät der Text. (Kursivdruck im Original) Aus dieser Definition lassen sich für frühe Interkomprehension mit einer romanischen Zielfremdsprache folgende Konsequenzen ableiten (vgl. auch Morkötter 2011a): Die potenziell erkennbaren Transferbasen dürfen sich nicht vorwiegend auf den interromanischen Transfer beziehen, sondern müssen die englische Sprache als „germanisch-romanische Mischsprache“ (Scheler 1977: 74, zitiert nach Klein & Reissner 2006: 12) und das Deutsche mit einschließen, wie beispielsweise auf lexikalischer Ebene: Interlexeme wie dt. „Kultur“, engl./ frz.: culture, span./ ital.: cultura und romanische Wortschatzanteile im Englischen (z.B. engl. language, frz. langue, span. lengua, ital. lingua). Die Anzahl der Profilformen und -funktionen 118 sollte gering sein. Die Texte müssen dem enzyklopädischen Wissen, situativen Wissen und Welt-Wissen der Kinder entsprechen, so dass diese geringe(re)s brückensprachliches Wissen gegebenenfalls kompensieren können (s. hierzu auch weiter unten zu nicht sprachlichen Wissenskategorien). 118 Zum Begriff der Profilformen und -funktionen s. Abschnitt I 1.2. <?page no="133"?> 2. Frühe Interkomprehension 119 So wird im Rahmen der Fragestellung nach einem zielgerichteten Einsatz von strategischem Wissen (s.o. und Abschnitt II 8.) auch darauf zu achten sein, ob Schüler eine geringe(re) Anzahl an verfügbaren interlingualen Transferbasen durch einen stärkeren Rückgriff auf außersprachliche Wissenskategorien (zu) kompensieren (versuchen) oder ob ein hoher Anteil opaker Formen sie eher blockiert. Hierbei ist das sogenannte „kritische Schwellenniveau“ von Interkomprehension von Bedeutung: Wenn auch grundsätzlich gilt: ‚Je weniger Außensteuerung ein Lerner bei gleichem Leistungsniveau in Anspruch nehmen muss, desto tiefer und breiter gerät der Lerneffekt‘, so ist doch zugleich nicht zu übersehen, dass auch die Interkomprehension so etwas wie ein kritisches Schwellenniveau kennt, von dem ab erst zielführendes Lernen möglich ist. Dies betrifft sowohl die Form- oder Signifikantenebene als auch die von Inhalt und Weltwissen, was gerade im Hinblick auf junge Lernende zu beachten ist. (Meißner 2008a: 38) Bei der englischen Sprache als Brückensprache für romanische Interkomprehension ist zudem zu bedenken, dass ein großer Teil des romanischen Wortschatzanteils erst zu einem späteren Zeitpunkt im Englischlehrgang vermittelt wird (vgl. Meißner 1991) und zu Beginn häufig Wörter germanischen Ursprungs im Vordergrund stehen wie brother, garden oder mouse. Hinzu kommt, dass einige der romanischen Wortschatzanteile im Englischen eine geringe Frequenz aufweisen oder einem gehobeneren Sprachstil angehören 119 . Als ein Beispiel ließen sich hier frz. répondre, ital. rispondere und span. responder und das englische Verb to respond im Gegensatz zu to answer anführen. Eine Sprache aus der germanischen Sprachfamilie als weitere Zielsprache früher Interkomprehension: Es ist für Kinder, sowohl was ihre Sprachlernkompetenz als auch ihr Selbstbild als Fremdsprachenlerner betrifft, äußerst wichtig, dass sie die Gelegenheit haben, schon zu einem frühen Zeitpunkt des (institutionellen) Erwerbs von Mehrsprachigkeit zu erfahren, was sie schon alles über Sprachen wissen, und dass sie ihr Wissen für ihr Lernen nutzen können. Es ist allerdings zu fragen, ob diese Zielsetzung angesichts der oben diskutierten Grenzen von Interkomprehension in einer romanischen Zielsprache (allein) nicht zu hoch gesteckt ist. 119 „Es fällt auf, daß der Anfänger-WS von E1 [= Wortschatz von Englisch als Erstfremdsprache; StM] mit […] 56,28% übermäßig „nicht-romanisch“ ist, gegenüber einem Romanismenanteil von […] 43,71%, unter ihnen viele Toponyme und die Monats namen. Die im Vergleich zu ihrer statistischen Repräsentanz im Schriftenglischen gerin ge Romanismenrate ist thematisch durch die Konzetration auf das „Alltagsgespräch“ bedingt“ (Meißner 1991: 199). Die Lehrwerkanalyse, die diesem Ergebnis zugrunde liegt, liegt zwar über zwanzig Jahre zurück, doch kann - angesichts der Gegenüberstellung von „Schriftenglisch“ und „Alltagsgespräch“ - angenommen werden, dass eine Analyse aktueller Lehrwerke zu einem ähnlichen Resultat kommen würde. <?page no="134"?> 120 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Für Lerner mit Deutsch als Mutter- oder Zweitsprache bietet sich das Niederländische als Zielsprache von Interkomprehension an, da es für sie in interkomprehensiver Reichweite liegt. Es gibt zahlreiche Argumente, die für einen Einsatz des Niederländischen als Zielsprache früher Interkomprehension sprechen: Auf lexikalischer Ebene gibt es zahlreiche interlinguale Transferbasen, die sich zudem auf eine Vielzahl unterschiedlicher Wortarten beziehen wie Substantive: nl. mogelijkheid = „Möglichkeit“, Adjektive: groot = „groß“, Verben: spelen = „spielen“, Funktionswörter wie Präpositionen: voor = (u.a.) „für; vor“ und Konjunktionen wie en = „und“ oder of = „oder“. Da das Niederländische sprachtypologisch zwischen dem Deutschen und Englischen liegt (vgl. Lutjeharms 2007b: 275; Lutjeharms & Möller 2014: 205; Wenzel 2014: 269), können die Kinder auch englische Transferbasen erkennen, wie das Verb maken = engl. to make oder auch Substantive wie tijd = engl. time und Adjektive wie z.B. laat = engl. late verdeutlichen. Darüber hinaus können die Lerner weitere interlinguale Entdeckungen machen wie z.B. die Großschreibung der Nationalitätsadjektive, die, abweichend vom Französischen, im Niederländischen wie im Englischen immer obligatorisch ist: Duits, Engels, Nederlands. Doch auch französische Transferbasen können zum Teil aktiviert werden wie bei nl. vakantie = frz. vacances. Die Strategie des Zerlegens eines Wortes in seine Bestandteile, die für einen Identifikationstransfer von großer Bedeutung ist, lässt sich ebenfalls gut am Niederländischen verdeutlichen. Dies kann sich sowohl auf Wortkomposita wie stedentrip = „Städtetour, Städtetripp“ als auch auf morphologische Elemente wie zum Beispiel Suffixe zur Substantivierung wie im Falle des oben genannten: mogelijkheid → mogelijk beziehen. Auch auf syntaktischer Ebene ist das Niederländische dem Deutschen sehr ähnlich (vgl. Lutjeharms 2007b: 283), so dass es geeignet erscheint, das für Sprachenlernen so notwendige Erkennen grammatischer Kategorien zu fördern (ebd.): Omdat ze vandaag geen tijd heeft, zal ze het morgen wel brengen. Weil sie heute keine Zeit hat, wird sie es morgen schon bringen. Wie das Beispiel des niederländischen Wortes het zeigt, das neben dem unpersönlichen „es“, wie es in diesem Satz verwendet wird, ebenfalls für einen der bestimmten Artikel (Singular Neutrum) stehen kann, kann Kindern anhand des Niederländischen auch das Phänomen von Polysemie verdeutlicht werden. Sie können auf diese Weise Verfahren der Disambiguierung üben, in diesem Fall bezogen auf grammatische Kategorien 120 . Dies ist eine Erfahrung, die sie 120 Frankophone erwachsene Muttersprachler (Studierende) haben Schwierigkeiten mit der Disambiguierung von nl. het, wie eine Dissertation zum Thema einer „[d]éfinition et <?page no="135"?> 2. Frühe Interkomprehension 121 wiederum auf ‚ihre‘ Fremdsprachen übertragen können, wie beispielsweise bei frz. leur als indirektes Objektpronomen einerseits und als Possessivbegleiter andererseits. Es muss betont werden, dass es vor allem um das für das Fremdsprachenlernen so wichtige prozedurale strategische Wissen geht. Denn auf der Ebene konkreter interlingualer Transferbasen stößt auch die niederländische Sprache an ihre Grenzen, was Transferierbarkeit auf und aus Sprachen, die die Schüler lernen (Englisch und vor allem Französisch), angeht. Ein Beispiel wäre hier die Verteilung der Formen des bestimmten Artikels bzw., wie es in der Terminologie niederländischer Grammatiken üblich ist, der de-worden und het-worden. So ist es - sieht man von Substantiven ab, die ein natürliches Geschlecht repräsentieren, wie de man, de vrouw, het kind auf der Grundlage sprachlichen Inputs allein kaum möglich, Hypothesen über den Gebrauch von nl. de in Abgrenzung zu het zu bilden. Das niederländische Artikelsystem hat keine Entsprechung in den Fremdsprachen der Schüler, wohingegen sie beispielsweise im italienischen oder spanischen la - bei entsprechender kotextueller Einbettung - durchaus den französischen Artikel la wiedererkennen und Hypothesen über seinen Gebrauch bilden können 121 . Auch muss eingeräumt werden, dass Niederländisch leider nicht zum regulären Schulsprachenangebot gehört (vgl. Duke et al. 2004: 109-110). Dies ist bedauerlich, da gerade die niederländische Sprache aufgrund ihrer nahen Verwandtschaft zum Deutschen und Englischen geeignet scheint, die Neugier und Experimentierfreude junger Lerner mit Sprache zu wecken und ihnen ihre sprachlichen Fähigkeiten bewusst zu machen. Dies sind selbstverständlich wichtige und legitime Ziele an sich. Dennoch sollten (auch) im Interkomprehensionsunterricht Niederländisch auf die niederländische Sprache bezogene Aspekte und kulturelle Inhalte angesprochen werden, um die Sprache nicht lediglich für sprachlernbewusstmachende Verfahren zu ‚instrumentalisieren‘ 122 . Darüber hinaus bestehen - gerade auch im grenznahen Niedersachsen 123 - gute Möglichkeiten, die Niederlande zu besuchen und in Kontakt mit Muttersprachlern zu treten (vgl. hierzu auch Wenzel ebd.). Auf der Grundlage der in diesem Abschnitt dargelegten Überlegungen wurde die Schlussfolgerung gezogen, sowohl die niederländische als auch romanische Sprachen als Zielsprachen im frühen Interkomprehensionsunterricht einzusetzen. exploitation des proximités syntaxiques entre l’allemand, l’anglais, le néerlandais et le français“ (Chazal 2010) ermitteln konnte. 121 Vgl. auch Möller (2007); Zeevaert (2007). 122 So beispielsweise durch die Texte Nederlands über die niederländische Sprache und Plannetjes maken über eine geplante Hafenrundfahrt in Amsterdam. 123 Die Daten der vorliegenden Untersuchung wurden, wie erwähnt (s. Abschnitt I 2.2 zu den Lehrplänen), in Hessen und Niedersachsen erhoben. <?page no="136"?> 122 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Die in diesem Abschnitt exemplarisch dargelegten analytischen Fähigkeiten sind grundlegende Kompetenzen, die die Kinder, wie angesprochen, auf das Lernen anderer Sprachen übertragen können (didaktischer Transfer). Aus diesem Grund ist es bei früher Interkomprehension darüber hinaus wichtig, Englisch und Französisch, d.h. die Sprachen, die die Lerner gerade erlernen, nicht ‚allein‘ als Brückensprachen, sondern auch als potenzielle Zielsprachen von Interkomprehension einzubeziehen (vgl. hierzu auch Castagne 2007: 464), um ihnen die Transferierbarkeit des strategischen Wissens zu verdeutlichen. Dies soll im Rahmen der Longitudinalstudie erfolgen (s. Kapitel III 2.). Psycholinguistische Implikationen Zu den angesprochenen grundlegenden Kompetenzen sind Inferenzstrategien 124 zu zählen, wie sie beim fremd- und muttersprachlichen Leseverstehen eingesetzt werden. Im Hinblick auf das Ziel einer Förderung metasprachlicher und metakognitiver Reflexions- und Handlungsfähigkeit haben schriftliche Texte gegenüber mündlichen den Vorteil, dass das Tempo der Dekodierung vom Lernenden selbst bestimmbar ist, was ihm erlaubt, beispielsweise im Text zurückzugehen und seine Hypothesen über den Textinhalt zu überprüfen. Auch Kinder zu Beginn der Sekundarstufe I verfügen über eine Lesekompetenz, die sie in ihrer Mutterbzw. Zweitsprache (im Grundschulunterricht) erworben haben und die ihnen strategische Grundlagen auf der Ebene der top down-Verarbeitung für interkomprehensives Lesen in einer fremden Sprache bietet. Auf der anderen Seite unterscheidet sich fremdsprachliches Lesen aber auch von muttersprachlichem Lesen: Da die Dekodierung eines Textes auf der Ebene der sprachlichen Form (bottom up-Verarbeitung) beim Lesen in der Fremdsprache bei beginnenden Lernern nicht automatisiert ist, brauchen diese auch Inferenzstrategien, um sprachliche Kenntnislücken auf den unteren Verarbeitungsebenen bei der Textrezeption zu kompensieren (vgl. Lutjeharms 2006: 148) 125 . Lutjeharms (ebd.: 146-148, 2007a: 107ff.) unterscheidet vier Verarbeitungsebenen von den Zeichen zum Inhalt, die je nach Ziel des Lesens, Lesestil und Vorwissen eine unterschiedlich große Rolle spielen können. Vorwissen ist allerdings auf allen Ebenen erforderlich. Die Verarbeitungsebenen lassen sich folgendermaßen skizzieren 126 : 124 S. hierzu auch Abschnitt I 1.2 zu Inferenz. 125 Allerdings können auch kompetente muttersprachliche Leser Schwierigkeiten bei der bottom up-Verarbeitung haben, „etwa aufgrund der Verwendung eines speziellen Kodes, der beispielsweise dem durchschnittlichen Leser nicht bekanntes Vokabular enthält (z.B. linguistische Fachliteratur), aufgrund einer syntaktischen Struktur, die wegen ihrer Satz länge bzw. hypotaktischen Verschachtelung das Kurzzeitgedächtnis durchschnittlicher Leser überfordert (z.B. juristische Texte) oder auch, weil der Text eine einfache Bedeu tungserschließung nicht beabsichtigt (z.B. Gedichte)“ (Zeevaert & Möller 2011: 151). 126 Lutjeharms (2006: 147) weist darauf hin, dass die Ebenen weiter untergliedert oder auch anders eingeteilt werden könnten. <?page no="137"?> 2. Frühe Interkomprehension 123 Verarbeitungsebene Verarbeitungsprozesse Graphophonische Ebene - Die Augen des Lesenden bewegen sich ruckartig von einem Fixationspunkt im Text zum nächsten. - Die periphere Wahrnehmung des Umfeldes eines Fixationspunktes steuert die Wahl des nächsten Fixationspunktes. - Die Wahrnehmung vertrauter Buchstabenkombinationen oder Morpheme beschleunigt die Dekodierung. Worterkennung - Beim lexikalischen Zugriff aktiviert der Lesende eine Wortrepräsentation im mentalen Lexikon, was zur Worterkennung führt. - Hierbei werden vor allem die Informationen des Wortanfangs eingesetzt, das Wortende wie Flexionsendungen werden vermutlich bei der peripheren Sicht verarbeitet. - Beim Zugriff auf die Wortrepräsentation im mentalen Lexikon werden benachbarte Stellen im Lexikon mitaktiviert, so dass zur Repräsentation passende Wörter oder Formen, die häufig in demselben Kontext vorkommen, schneller aktiviert werden. Syntaktische Analyse - Der Lesende muss die strukturellen Beziehungen zwischen den Wörtern im Satz verstehen. - Für die Segmentierung muss er Satzglieder als zusammengehörende Wortgruppen erkennen. - Die Oberflächenindikatoren, die die Analyse steuern, sind je nach Sprache unterschiedlich, zum Beispiel Flexionsendungen, Adjektiv-Nomen-Kongruenz und Verbvalenz. - Auch abstrakte Muster für mögliche Satzformen gehören zum Sprachwissen. Semantische Ebene - Das Vorwissen und die Erwartungen an einen Text steuern das Textverständnis. - Für die Aufnahme neuer Informationen in das Langzeitgedächtnis sind Begriffe notwendig, mit deren Hilfe sie eingeordnet oder an die sie angeknüpft werden können. - Diese Begriffe werden durch Schemata aktiviert, d.h. durch Abstraktionen von Wirklichkeit auf der Grundlage früherer Erfahrungen. - Für ein satzübergreifendes Anknüpfen an Bekanntes ist das Erkennen pronominaler Referenz notwendig. - Um den inhaltlichen Zusammenhang eines Textes zu erfassen, müssen Lesende inferieren, da inhaltliche Bezüge, die für selbstverständlich gehalten werden, <?page no="138"?> 124 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Verarbeitungsebene Verarbeitungsprozesse von Verfassern häufig nicht expliziert werden. - Zum Vorwissen des Lesenden gehört auch das Wissen um abstrakte Textstrukturen und Textsorten unabhängig vom Textinhalt. Tab. 7: Verarbeitungsebenen und -prozesse im Leseprozess (in Anlehnung an Lutjeharms 2006, 2007a) Wie aus den Zeilen der Darstellung hervorgeht, werden die Verarbeitungsebenen im Leseprozess von den unteren Ebenen zu den oberen Ebenen hin beschrieben, also als eine datengeleitete (bottom up) Verarbeitung (vgl. auch Zeevaert & Möller 2011). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Leseprozess interaktiv verläuft. Es wird angenommen, dass unabhängig von der Art der Kenntnis alle Kenntnisquellen, d.h. von den Zeichen bis zum inhaltlichen Vorwissen, gleichzeitig wirken können. Die dargestellten Ebenen der Verarbeitung beim Lesen (s. Tab. 6) sind im Prinzip auf jeden Leseprozess beziehbar, doch besteht der Unterschied zwischen dem Lesen in einer Fremdsprache und der Erstsprache vor allem darin, dass für die unteren Verarbeitungsebenen neue Kenntnisse erworben werden müssen. Um die fehlenden Kenntnisse zu kompensieren, werden Inferenz-, aber auch Vermeidungsstrategien (zum Beispiel das Überspringen schwieriger Textpassagen) eingesetzt. Zudem lässt sich für Verarbeitungsprozesse beim Lesen in einer Fremdsprache (in Anlehnung an Tab. 6, s.o.) festhalten: Fremdsprachenlerner benötigen Kenntnisse über Satzmuster und über die Struktur von Nominalphrasen, um den nächsten Fixationspunkt im Text zielgerecht wählen zu können (Lutjeharms 2007a: 114). Wie erfolgreich der Transfer muttersprachlicher Prozesse auf das Lesen in der Fremdsprache ist, hängt insbesondere mit der Distanz von Ausgangs- und Zielsprache zusammen (ebd.). Oberflächenindikatoren bei der syntaktischen Analyse, die für die Leser noch neu sind, wie Flexionsmorpheme werden von ihnen nicht automatisch wahrgenommen. Sie müssen auf deren Rezeption vorbereitet werden (Lutjeharms 2006: 149). Im Falle von Interlexemen, für die eine mentale Repräsentation schon erworben wurde, ist ein lexikalischer Zugriff möglich (Lutjeharms ebd.: 148). Interlingual ähnliche oder bekannte Elemente wie Wortteile, Wörter oder Flexionsmorpheme werden jedoch nicht von allen Lernenden erkannt (ebd.: 150). Hier können Erkennungsübungen wie die Suche nach bestimmten Flexionsendungen oder die Zuordnung eines Artikels zu seinem Substantiv herangezogen werden (ebd.). So erschweren es die fehlende Großschreibung der Substantive und gleiche Wortendungen für deutschsprachi- <?page no="139"?> 2. Frühe Interkomprehension 125 ge Leser des Französischen oft, die Wortart zu bestimmen (vgl. Lutjeharms 2007a: 113). Geübte muttersprachliche Leser können beim fremdsprachlichen Lesen (vgl. Lutjeharms 2007a: 112) besser inferieren und eigene Defizite besser einschätzen als muttersprachlich schwache Lesende. Die besseren Inferenzleistungen werden dadurch erklärt, dass muttersprachlich geübte Lesende bewusst mehr Hinweise gleichzeitig verarbeiten können 127 , was wiederum die bessere Selbsteinschätzung in Bezug auf Kenntnislücken zur Folge hat (Lutjeharms 2006: 148). Neben Inferenzstrategien muss auch die Fähigkeit entwickelt werden, feststellen zu können, wo das Textverständnis nicht mehr gelingt, und entscheiden zu können, welche Maßnahmen geeignet sind, um Verständnislücken zu beseitigen. Da Vorwissen beim (fremdsprachlichen) Lesen sowohl sprachlicher Natur sein kann wie im Falle der Suche nach interlingual ähnlichen Wörtern als auch inhaltlicher wie im Falle der Aktivierung von textbezogenem Weltwissen, sollten beim Inferieren „diese Kenntnisse möglichst kombiniert eingesetzt werden.“ (ebd.: 151). Wenn sich Lernende der Vielfalt unterschiedlicher Inferenzstrategien und der Möglichkeit, verschiedene Strategien zugleich einzusetzen, bewusst werden, kann sich dies positiv auf deren metakognitive Fähigkeiten auswirken. Denn auf diese Weise können sie ihr eigenes Sprachhandeln überwachen und evaluieren, beispielsweise indem sie durch interlingualen Transfer gewonnene Wortbedeutungen auf deren Angemessenheit für den Kontext prüfen. So ist im Rahmen der Longitudinalstudie unter anderem zu fragen, welche Strategien vom Lerner aus eigener Initiative eingesetzt werden und ob Strategien miteinander kombiniert werden (vgl. Abschnitt II 8.). Insbesondere im Bereich von Inferenzstrategien und Metakognition könnte die Lesestrategieförderung von der Interkomprehensionsforschung und methodik profitieren. Besser (2012) führte im zweiten Halbjahr des Schuljahres 2009/ 2010 eine Untersuchung zur Leseförderung im Thüringer Französischunterricht durch, in der 111 von insgesamt 258 Gymnasiallehrern, die zu jener Zeit in Thüringen Französisch unterrichteten, schriftlich befragt wurden (zu den genauen Fragestellungen s. ebd.: 58) 128 . Sie stellte eine Präferenz organisierender Lesestrategien wie beispielsweise das Erstellen eines Mind-Maps (59,5%) oder das Schreiben von Zusammenfassungen (75,7%) fest (ebd.: 59). Aus Sicht der Interkomprehensionsdidaktik geben Bessers Befunde (ebd.: 58- 59) zur Metakognition und ihrer Förderung zu denken: 127 Vgl. hierzu den Befund von Haastrup (1991: 158), demzufolge die fortgeschritteneren Lerner mehr Flexibilität in der Anpassung der Inferenzstrategien an die Item-Typen zeigen (vgl. Abschnitt I 1.2). 128 An der Studie waren Lehrkräfte aller Jahrgangsstufen beteiligt, sie ist aber dennoch für die vorliegende Untersuchung insofern besonders interessant, als 79,3% der Befragten zu jener Zeit die Klassenstufen 7 und 8 unterrichteten (ebd.: 58). <?page no="140"?> 126 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Die Kenntnis und flexible Anwendung von Lesestrategien unterscheidet kompetente von weniger kompetenten Lesern. Jedoch legen nach Aussagen der befragten Französisch-Lehrkräfte lediglich 56,8% besonderen Wert auf deren Vermittlung. 59,5% der Beteiligten gaben überdies an, keine bewusste Anwendung von Lesestrategien bei ihrer Schülerschaft zu erkennen. […] Metakognitive Strategien, die eine zentrale Planungs-, Kontroll- und Steuerungsfunktion für kognitive Prozesse haben (vgl. Grabe 2010: 220), stehen bei den befragten Lehrkräften nicht im Vordergrund der Strategievermittlung. Bessers Befunde deuten auch insofern auf das Potenzial der Interkomprehensionsforschung und -methodik im Bereich der Lesestrategieförderung hin, als den von den Französischlehrkräften bevorzugten organisierenden Lesestrategien (s.o.), die für eine Strukturierung und das Behalten von Textinhalten selbstverständlich wichtig sind, eine erfolgreiche Dekodierung vorausgehen muss. Hierfür ist deklaratives und insbesondere prozedurales Wissen über Transferprozesse wie eine Aktivierung von sprachlichem Vorwissen und Weltwissen notwendig. Im nächsten Abschnitt werden Kategorien auch nicht sprachlichen (Vor-)Wissens aus der Interkomprehensionsdidaktik vorgestellt, das Lernern für eine Aktivierung von textbezogenem Weltwissen potenziell zur Verfügung stehen kann. Frühe Interkomprehension und sprachliche sowie nicht sprachliche Wissenskategorien Die vorliegende Untersuchung geht, wie angesprochen (s. Einleitung), von einer weiten Auffassung der Begriffe des savoir apprendre und der „Strategie“ aus, die Kategorien nicht-sprachlichen (Vor-) Wissens berücksichtigt. In einer Reference Study des Europarats hat Doyé (2005a: 14) 129 sprachliche und nicht sprachliche Wissenskategorien zusammengefasst, auf die bei Interkomprehension zurückgegriffen werden kann. Es handelt sich um eine Übersicht über Kategorien des Vorwissens, die sowohl sprachliches als auch „enzyklopädisches Wissen“ (Meißner 2007b bzw. „savoir encyclopédique“ Meißner 2008c: 237) umfassen und die als Grundlagen für das Verstehen von Texten und mündlichen Äußerungen in ‚fremden‘ Sprachen aktiviert werden können. Doyé (2005b: 25) geht davon aus, dass alle Lerner in jeder dieser Kategorien über ein gewisses Maß an Wissen verfügen: “They do not depend on having received specific information or thorough training in this particular language, but can rely upon a wide range of knowledge which they have acquired elsewhere, − in many areas of learning, in many cognitive categories.” Was sie allerdings lernen müssen, ist, dieses Wissen zielgerichtet aktivieren und für ihre Verstehens- 129 http: / / www.coe.int/ t/ dg4/ linguistic/ Source/ Doye%20EN.pdf; 24.08.10; vgl. auch Doyé (2005b; 2006; 2010). <?page no="141"?> 2. Frühe Interkomprehension 127 prozesse nutzen zu können (ebd.). Doyé (2005b: 25ff.) unterscheidet in der Übersicht potenziell mobilisierbarer Wissensquellen: General knowledge: Hiermit ist Wissen über die Welt, d.h. allgemeines enzyklopädisches Wissen gemeint. Es kann sich beispielsweise um geschichtliches, geographisches oder politisches Wissen handeln (vgl. Doyé 2005b: 26). Cultural knowledge: Diese Wissenskategorie kann sich sowohl auf Wissen über andere Kulturen als auch über deren Relationen zur eigenen beziehen. Doyé (2005b: 26, 30) macht in diesem Zusammenhang insbesondere auf eine Sensibilisierung von Lernern für stereotype Vorstellungen und deren Unangemessenheit aufmerksam. Auch Eigennamen von Orten oder Personen sind Teil dieser Wissenskategorie, die Lernende in einem Text wiedererkennen und auf deren Grundlage sie Hypothesen über den Textinhalt bilden können. Situational knowledge: Jeder (gesprochene und geschriebene) Text ist in einen situativen Zusammenhang eingebettet. Wissen darüber, wer einen Text produziert hat 130 , wann und wo und mit welcher Absicht er oder sie ihn geschrieben bzw. gesprochen hat, kann Hinweise zum Textinhalt geben. Behavioural knowledge: Verbale Äußerungen sind häufig von non-verbalen Zeichen begleitet. Bei mündlicher Kommunikation betrifft dies zum Beispiel die Gestik und Mimik, bei geschriebener Sprache visuelle Zeichen. Pragmatic knowledge: Diese Wissenskategorie ist insofern eng mit jener des situationalen Wissens (s.o.) verbunden, als eine Situation häufig eine bestimmte kommunikative Funktion, also eine Illokution nahe legt. Sätze beispielsweise, die am Ende einer Konferenz geäußert werden, haben vermutlich die illokutionäre Funktion, die Konferenz zu beenden und sich zu verabschieden. Auch bei schriftlichen Texten lässt sich eine Reihe an möglichen Hinweisen auf dessen Zweck anführen wie etwa seine äußere Form oder die Frage, an welcher Stelle in einer Zeitung ein Text zu finden ist, etc. Graphic knowledge: Abgesehen von unterschiedlichen Schriftsystemen fallen in diese Kategorie ebenfalls graphische Hinweise wie die Textsegmentierung, Interpunktion, numerische Symbole, Groß- und Kleinschreibung und universal eingesetzte graphische Symbole wie § oder @ (vgl. die Beispiele von Rieder 2001: 42; Doyé 2005b: 27). 130 Vgl. auch den Begriff der „Partnerhypothese“ bei Meißner (2006). <?page no="142"?> 128 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht Phonological knowledge: Diese Wissensquelle bezeichnet Doyé (ebd.) als die schwächste innerhalb der Gruppe der Kategorien sprachlichen Vorwissens, da sich lautliche Repräsentationen am meisten von Sprache zu Sprache unterscheiden. So führt Klein (2004: 30) angesichts der Homophonie und Tendenz zur Präfigierung in der Verbalmorphologie im Französischen für Französisch als Zielsprache von Interkomprehension an: „Als Zielsprache für die Interkomprehension ist nur die geschriebene französische Sprache wirklich gut geeignet. Um auch die gesprochene zugänglich zu machen, ist ein zusätzliches phonologisches Modul notwendig.“ Darüber hinaus kann für die lautliche verglichen mit der geschriebenen Ebene davon ausgegangen werden, dass sich die Frage nach Mündlichkeit versus Schriftlichkeit bereits bei der Wortwahl selbst auswirkt, was wiederum Einfluss auf die Erschließbarkeit eines Textes nimmt (Meißner 2011f: 45): [C]omputational studies comparing the use of cognates in various Romance languages and text-types show that oral lexicon differs more from one language to another because of the frequent use of mots populaires and non international words in oral speech than it is the case between written texts in the same languages. Grammatical knowledge: Auf der Basis grammatischer Systeme, die einem Lerner bereits begegnet sind, kann dieser Hypothesen über grammatische Strukturen und Elemente in einem Text bilden. Doyé (2005b: 28) führt in diesem Zusammenhang Meißners Begriff der „Hypothesengrammatik“ an, wobei daran zu erinnern ist, dass Meißner (z.B. 2008c: 235) diesen nicht auf „Grammatik“ im engeren Sinne beschränkt, sondern auf alle Ebenen der sprachlichen Architektur bezieht, sei es Lexik, Syntax oder Morphologie (vgl. Abschnitt I 1.2). Lexical knowledge: In dieser Kategorie schließlich unterscheidet Doyé den ‚internationalen‘ Wortschatz einerseits und jenen innerhalb von Sprachfamilien wie der germanischen, romanischen und slawischen andererseits. Ausgehend von der Annahme, dass eine Aktivierung von Wissen in den genannten Kategorien bei ablaufenden Interkomprehensionsprozessen zwar unbewusst erfolgen kann, jedoch sowohl das aktivierte Wissen als auch der Prozess seiner Mobilisierung bewusstheitsfähig, d.h. explizierbar sind, wird das bewusstheitsfördernde Potenzial von Interkomprehension deutlich. Doyé (2010: 134) führt in diesem Zusammenhang auch den aus der pädagogischen Psychologie stammenden Begriff der „Passung“ an: Der Interkomprehensionsunterricht ist einerseits auf die Bewusstmachung der Vorerfahrungen der Lernenden angewiesen, andererseits aber auch geradezu prädestiniert, deren Bewusstsein von ihren Voraussetzungen zu fördern. Insofern liegt bei der interkomprehensiven Methode eine optimale Passung von <?page no="143"?> 2. Frühe Interkomprehension 129 Ausgangslage und Einflussnahme vor (Heckhausen 1974). Einerseits ist das optimierte Erschließen, auf das die Methode abzielt, nur durch Rückgriffe auf die individuellen Ressourcen der Lernenden möglich, andererseits ist die Bewusstmachung dieser Rückgriffe ein guter Weg zu dem übergeordneten Ziel der Selbstständigkeit. Wie aus der Darstellung oben deutlich wurde, sind die von Doyé (2005b) aus unterschiedlichen Interkomprehensionsmodellen zusammengefassten Kategorien nicht trennscharf, was insbesondere bei der Wissenskategorie des „general knowledge“ deutlich wird, die vielmehr einen Oberbegriff darstellt. Darüber hinaus ist zu betonen, dass, wie auch das Zitat zur Passung zeigt, eine affektive Ebene mit impliziert ist, auch wenn sie im Gegensatz zu Modellen interkomprehensiver Kommunikation wie beispielsweise jenem der Discursive Competence (Capucho & Oliveira 2005: 13) nicht explizit als eine Komponente angeführt wird. Spätestens seit der Erweiterung des Interkomprehensionsbegriffs vom Ziel der Förderung (rezeptiver) Mehrsprachenkompetenz um jenes einer Entwicklung von Sprachlernkompetenz (vgl. z.B. Meißner 2008a: 36) wurde eine affektive Komponente im Sinne des savoir être stets mitgedacht. Dies geschah allerdings zumeist in einem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, der affektive Elemente als ein Resultat von Interkomprehension(sprozessen) fasst (vgl. beispielsweise zu Motivation den Aufsatztitel von Bär (2010): „Motivation durch Interkomprehensionsunterricht - empirisch geprüft“; meine Hervorhebung). Demgegenüber erscheinen Ausprägungen von Affektion wie Motivation im Kommunikationsmodell von Capucho & Oliveira (ebd.: 12): „positive feelings enable linguistic development, negative feelings prevent the construction of knowledge” 131 eher als eine Voraussetzung für (gelingende) bzw. eine Barriere bei misslingender Interkomprehension. Interkomprehension und Affektion stehen vermutlich in einer komplexen Wechselbeziehung zueinander. Gerade auch im Hinblick auf das Desideratum in der Interkomprehensionsforschung, sich ebenfalls jenen Lernern zuzuwenden, die nicht per se äußerst fremdspracheninteressiert sind, ist es wichtig, Interkomprehension(sprozesse) sowohl als einen möglichen Auslöser affektiver Faktoren wie Motivation aufzufassen als auch als deren Resultat. Interkomprehension und Textsortenwissen: Hervorzuheben im interkomprehensiven Kommunikationsmodell von Capucho & Oliveira (2005: 13) ist der explizite Einbezug einer textuellen Dimension. Diese, in Verbindung mit Elementen der situationalen und sprachlichen Dimension, ist - ebenso wie die Wissenskategorien bei Doyé (2005a) mit 131 Allerdings ist diese Aussage etwas verkürzend und sehr allgemein. So ist zu fragen, in wieweit einzelne affektive Variablen miteinander interagieren (Kann eine hohe Motivation beispielsweise ein geringes Selbstvertrauen in einem gewissen Rahmen kompensieren? usw.). <?page no="144"?> 130 I. Theoretische Verortung und Forschungsbericht aktuellen Ansätzen der Textlinguistik vereinbar. So unterscheidet die Textlinguistik zwischen einer linguistischen, kognitiven und sozialen Perspektive (Schmidt 2010: 176-177) bei der Analyse und Klassifikation von Textsorten. Bei der linguistischen Perspektive wird wiederum zwischen textinternen Merkmalen, wie beispielsweise die Lexik oder Struktur eines Textes, und textexternen, wie die kommunikative Situation und Funktion von Textsorten (in Anlehnung an die Sprechakttypologie), differenziert. Die kognitive Perspektive versteht Texte und Textsorten vor allem als „prototypische Konzepte“ (ebd.: 177), „auf deren Hintergrund man einen bestimmten Text als mehr oder weniger typischen Repräsentanten einer bestimmten Textsorte einordnen kann. Dieses kognitive Konzept steuert […] die Rezeption von Textexemplaren“. Textsorten werden als „gesellschaftlich geprägte, von Individuen verinnerlichte Schemata“ aufgefasst, „die auf kommunikative[n] Erfahrungen basieren“ und „als Orientierung bei der Lösung kommunikativer Aufgaben“ dienen. Enthalten in der kognitiven Perspektive ist die soziale, in der Textsorten vor allem als kommunikative Gattungen aufgefasst werden. Diese werden als „Bestandteile des kommunikativen Haushaltes einer Gesellschaft beschrieben, die das Handeln in bestimmten Kommunikationsbereichen prägen und als historisch und kulturell spezifische Routinehandlungen zur Bewältigung kommunikativer Situationen beitragen“ (ebd.). In der fremdsprachlichen Lesedidaktik wird Textsortenwissen eine große Bedeutung zugeschrieben (Schmidt 2010: 176): Der Schwerpunkt liegt hierbei auf der Bewusstmachung von Textsortenmustern anhand linguistischer Merkmale. […] In beiden Fällen, so die Annahme, wird auf bereits vorhandenes muttersprachliches Textsortenwissen zurückgegriffen. Solches Textsortenwissen kann bewusst oder intuitiv von den LernerInnen eingesetzt werden. (ebd.). Die Fremdsprachendidaktik orientiert sich bei der Vermittlung von Textsortenwissen insbesondere an den spezifischen Bedürfnissen der Lerner (vgl. ebd.: 181). Für die vorliegende Untersuchung ist wichtig, dass „bei einem jüngeren Lernenden erst ein geringes muttersprachliches Textsortenwissen vorhanden [ist], so dass im Unterricht nur Textsorten aus deren Alltagssituationen eingesetzt werden können“ (ebd.). So ist im Rahmen der Auswertung und Analyse der Daten der vorliegenden Studie ebenfalls der Frage nachzugehen, inwieweit ein junger Lerner überhaupt Textsortenwissen in seinen Interkomprehensionsprozessen einsetzen kann. Es ist zu fragen, inwieweit eine Integration textlinguistischer Ansätze in Interkomprehensionsmodelle einen Beitrag zu deren Erweiterung leisten kann. In diesem Zusammenhang ist das Projekt Euro.Com.Text (Uzcanga Vivar 2011) zu erwähnen. Es handelt sich um ein viersprachliches interromanisches Interkomprehensionsprojekt, das darauf abzielt, Wissen über Texttypen und -genres für Erschließungsprozesse nutzbar zu machen. Adressaten des Projekts sind hispanophone Erwachsene; die Zielspra- <?page no="145"?> 2. Frühe Interkomprehension 131 chen sind Französisch, Italienisch, Katalanisch und Portugiesisch. Grundlage von Euro.Com.Text (Uzcanga Vivar 2011: 50-51) sind psycholinguistische Befunde: Des recherches en psycholinguistique ont prouvé que le locuteur et l´usager de la langue dispose déjà, dans un degré plus ou moins élaboré d´après l´âge, l´expérience et le ‘niveau culturel’, d´une sorte de schémas déjà acquis, selon lesquels il pourra choisir de structurer sa communication, et auxquels il aura recours au moment de recevoir et d´interpréter un texte. (Kursivdruck und Anführungszeichen 132 : StM) Für die vorliegende Untersuchung werden die sprachlichen und nicht sprachlichen Wissenskategorien nach Doyé (2005a, 2005b, 2006, 2010) und die differenzierte Transfertypologie der Interkomprehensionsdidaktik (Meißner 2002, 2007a) als theoretische Grundlagen für die Auswertung und Analyse der Daten herangezogen (vgl. Abschnitt II 7.). Abgesehen von der selbstverständlich generellen Notwendigkeit einer Offenheit gegenüber dem Datenmaterial und zugleich einer theoretischen Grundlage erscheint es − insbesondere mit Blick auf die Vielfalt interkomprehensiver Konzepte und Anwendungsfelder (vgl. z.B. Doyé & Meißner 2010 und Meißner et al. 2011a) − sinnvoll, an bestehende Interkomprehensionsmodelle anzuknüpfen und diese auf empirischer Grundlage zu modifizieren oder zu erweitern 133 . 132 Leider präzisiert die Autorin nicht, was sie unter „niveau culturel“ genau versteht. 133 Zur Frage der Induktion ‚versus’ Deduktion bei der Gewinnung von Erkenntnissen vgl. Kelle & Kluge (1999: 21) und das folgende Kapitel. Ein weiteres der vorliegenden Unter suchung zugrunde gelegtes theoretisches Modell ist jenes der Metakognition nach Wenden (s. Abschnitt I 1.3), das allerdings nicht interkomprehensionsspezifisch ist. <?page no="147"?> II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs 1. Zur forschungsmethodologischen Verortung der vorliegenden Untersuchung 1. Zur forschungsmethodologischen Verortung der vorliegenden Untersuchung Als Theorie des Sprachenlernens, die implizit wohl so alt ist wie das Lernen fremder Sprachen selbst (u.a. Meißner 2010f), steht Interkomprehension im Einklang mit kognitions- und lernpsychologischen Grundlagen (vgl. Rumelhart & Norman 1978 und Doyé 2010). Studien zu erwachsenen und jugendlichen Lernern haben Interkomprehension als eine Strategie zur Förderung von Sprachlernkompetenz mehrfach belegt (z.B. Masperi 2002; Carrasco-Perea 2010; für deutschsprachige Lerner: Meißner 1997; Meißner & Burk 2001; Böing 2004; Bär 2009; Meißner 2010g; zur germanischen Interkomprehensionsforschung s. z.B. Hufeisen 2006; Zeevaert & Möller 2011 und EaG (= English after German) bzw. Marx 2010). Für die vorliegende Studie ist die Frage konstitutiv, inwieweit dies ebenfalls für jüngere Lerner gilt. Die grundlegenden Fragestellungen sind hierbei: Sind interkomprehensive Lehrlernverfahren bei jungen Lernern (Klasse 6 - 7) einsetzbar? Welche Strategien setzen junge Lerner bei der Bedeutungserschließung eines zielsprachlichen Textes ein? Auf welche Kategorien des (Vor-)Wissens greifen sie zurück? Dokumentationen von Interkomprehensionsereignissen bei sehr jungen Lernern wie der von Meißner (2011a: 199-200) geschilderte Identifikationstransfer von engl. roadrunner mit „Route-Renner“ auf der Grundlage einer französischen und einer deutschen Transferbasis sowie Befunde aus der Bilingualismusforschung (s. Abschnitt I 2.1) sprechen eindeutig dafür, dass es sich lohnt, diese Fragen zu stellen. Solcherlei Interkomprehensionsereignisse sind zwar nicht im Kontext von Interkomprehensionsforschung entstanden und lassen keine Aussagen darüber zu, in welchem Maße den Kindern ihr sprachvergleichendes Handeln bewusst ist. Auf prodezuraler Ebene deuten die Sprachhandlungen jedoch auf ein regelbzw. hypothesengeleitetes Vorgehen hin (Wenzel 2000: 257) sowie auf einen Einsatz interkomprehensiver Sprachverarbeitung, wie sie in der Interkomprehension begegnet. Bislang liegen für den deutschsprachigen Kontext keine umfassenden Untersuchungen zu früher Interkomprehension, definiert als Interkomprehension zu Beginn des Erlernens einer zweiten Fremdsprache am Anfang der Sekundarstufe, vor. Aus diesem Grund ist eine methodische Herangehensweise angemessen, die erkundungs- und prozessorientiert und möglichst nah an den Daten (Nunan 2005: 4) ist. Diese Untersuchung versteht sich daher als eine <?page no="148"?> 134 II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs explorativ-interpretative (‚qualitative‘ 134 ) Studie über Sprachlernkompetenz und Möglichkeiten ihrer Förderung. Sie möchte im Rahmen einer dichten datenbasierten Beschreibung und Analyse die (subjektiven) Handlungs- und Sichtweisen von jungen Lernern darlegen 135 . Im Rahmen einer dichten Beschreibung (Geertz 1983) der Sprachhandlungen der Kinder ist zu fragen, inwieweit Interkomprehension bereits in diesem Alter zu einem awarenessraising und einer Förderung von savoir apprendre beitragen kann, indem unbewusst eingesetztes Wissen in bewusstes Wissen überführt wird. Der Zeitpunkt des Lernbeginns einer zweiten Fremdsprache ist auf motivationaler und (meta-)kognitiver Ebene insofern von Bedeutung, als das lernerseitige Bild von ‚dem Fremdsprachenlernen‘ durch den Vergleich des Lernerlebnisses der ersten mit jenem der zweiten Fremdsprache vermutlich relativiert wird (vgl. hierzu auch Hufeisens (2010b: 201) Begriff der „fremdsprachenlernspezifischen Faktoren“ und die Befunde der MES-Studie, Meißner et al. 2009, Abschnitt I 1.2 und I 1.3). Aus diesem Grund wurde die Untersuchung in den Jahrgangsstufen 6 und 7 durchgeführt. Hiermit ist jedoch nicht impliziert, dass Interkomprehensionsereignisse nicht auch schon in einem früheren Alter auftreten, wie die dargestellten Fälle illustrieren (s. Abschnitt I 2.1) 136 . Die konkret eingesetzten Untersuchungsmethoden spiegeln selbstverständlich immer auch eine bestimmte Vorstellung von Fremdsprachenlernen und vom Fremdsprachenlerner wider (vgl. auch Grotjahn 2006). So deutet der Einsatz lauten Denkens (s. Kapitel II 4.) beispielsweise darauf hin, dass Lernen als ein individueller mentaler Prozess und ein Lerner als reflexiv und intentional sowie als eine Person verstanden wird, die Hypothesen bilden und prüfen und über diese Auskunft geben kann (Grotjahn ebd.: 248f.). Bevor im Kapitel II 4. die Datenerhebungsverfahren und -instrumentarien im Detail diskutiert werden, widmen sich die nächsten Abschnitte den Themen der Gütekriterien qualitativer Forschung und der Forschung mit Kindern. 134 Der Begriff „qualitativ“ bezieht sich hierbei sowohl auf die Ebene der Datenerhebung (s. Kapitel II 4.) als auch auf jene der Datenauswertung und -analyse (s. Kapitel II 7.). 135 Vgl. auch Steinke (2003: 328), die die Notwendigkeit betont, dass „die Möglichkeit besteht, Neues zu entdecken und theoretische Vorannahmen des Forschers in Frage zu stellen bzw. zu modifizieren“. Es handelt sich hierbei somit selbstverständlich um eine Verbindung von explizi(er)ten theoretischen Vorannahmen mit einer notwendigen Offenheit dem Datenmaterial gegenüber (vgl. auch Kelle & Kluge 1999: 21). 136 Bei einer weiten Auffassung des Begriffs können auch Übergeneralisierungsprozesse, wie sie ebenfalls beim Erstspracherwerb auftreten (vgl. z.B. „Opa hat gesitzt und gelest.“; Oksaar 1977: 198f.), unter „Interkomprehension“ gefasst werden, da diese auch intralingualen Transfer (Meißner 2002; 2007a) mit einschließt. <?page no="149"?> 2. Gütekriterien qualitativer Forschung 135 2. Gütekriterien qualitativer Forschung 2. Gütekriterien qualitativer Forschung Mittlerweile liegt eine große Anzahl an Kriterienkatalogen für qualitative Forschung vor (vgl. z.B. Lincoln & Guba 1985; Miles & Huberman 1994; Steinke 1999; Flick et al. 2003; Steinke 2003; Flick 2010; Steinke 2010). Die von Steinke (1999) herausgearbeiteten und in Steinke (2003) zusammengefassten Gütekriterien werden für Untersuchungen im Bereich des Lernens und Lehrens fremder Sprachen als geeignet angesehen (vgl. Caspari et al. 2003: 500; Méron- Minuth 2009: 100). Sie sollen ebenfalls der vorliegenden Untersuchung zugrunde gelegt werden. Zunächst ist das Kriterium der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit zu nennen. Dieses bezieht sich u.a. auf eine genaue und transparente Dokumen tation des Forschungsprozesses im Hinblick auf die Explizierung theoretischer Vorannahmen der forschenden Person und die Wahl und Anwendung der Erhebungs-, Auswertungs- und Analyseverfahren. So sind unter anderem beispielsweise die Möglichkeiten und Grenzen von Laut-Denk-Protokollen und des dialogue pédagogique in der (Interkomprehensions-)Forschung mit Kin dern zu reflektieren (Kapitel II 4.). Bei der Erhebung, Auswertung und Analyse der Daten ist zu beachten, dass die gewählten Untersuchungsmethoden den Forschungsgegenstand immer auch mitkonstituieren. Im Hinblick auf die Konstruktivität wissenschaftlicher Erkenntnis unterscheidet Grotjahn (2006: 250) Konstruktionen ersten, zweiten und dritten Grades: So haben z.B. die Kognitionen der erforschten Personen (Schüler, Lehrer usw.) über die Welt bereits den Status von Konstruktionen ersten Grades. Äußern sich die erforschten Personen in einem narrativen Interview über ihre Sicht der Realität, handelt es sich bereits um Konstruktionen zweiten Grades. Rekonstru iert der Forscher dann anhand der narrativen Daten bestimmte Kognitionen, handelt es sich schließlich um Konstruktionen dritten Grades. (Hervorhebungen im Original) Für die vorliegende Untersuchung ist, insbesondere für die Laut-Denk-Proto kolle und den dialogue pédagogique in der longitudinalen Einzelfallstudie (s. Abschnitt II 4.), zu beachten, dass die Äußerungen des Lerners (Konstruktionen zweiten Grades) stets in Beziehung zu sprachlichem Handeln mit dem Interkomprehensionsmaterial stehen. Seine geäußerten Sprachhypothesen können im Rahmen des dialogue pédagogique durch Nachfragen mit unmittelbarer Retrospektion trianguliert werden. Bei den Rekonstruktionen von Interkomprehensionsprozessen (Konstruk tionen dritten Grades) ist es für eine Berücksichtigung des Kriteriums der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit unerlässlich, Interpretationen mit Text ausschnitten, d.h. Lerneräußerungen zu belegen. Dies gilt in besonderem Maße für Untersuchungen mit jungen Lernern, die (vermutlich) noch nicht über eine <?page no="150"?> 136 II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs entsprechende Metasprache verfügen, um ihre sprachlichen und (meta)kognitiven Beobachtungen zu verbalisieren. Hinzu kommt, dass die Art und Weise der Versprachlichung von (meta)sprachlichen und (meta)kognitiven Beobachtungen zum Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie gehört. Ein weiteres Gütekriterium qualitativer Forschung ist die Gegenstandsangemessenheit von Erhebungs-, Auswertungs- und Analysemethoden. So ist für die Interkomprehensionsdidaktik, die Lernen als einen mentalen Prozess und ein Anknüpfen an sprachliches und nicht-sprachliches Vorwissen begreift, ein Forschungsdesign, das ausschließlich auf Produktdaten setzt, nicht angemessen. Die Interkomprehensionsforschung kommt nicht ohne introspektive Verfahren (im weitesten Sinne des Begriffs; Heine 2005: 167) aus. Dies ist damit zu erklären bzw. zu illustrieren, dass - wie bereits im Abschnitt I 2.1 zum monolingualen Habitus im Fremdsprachenunterricht angesprochen - Transferprozesse auf Produktebene vor allem als Interferenzen zu Tage treten. Um es an einem Beispiel zu veranschaulichen: Bildet ein Spanischlerner mit Französischkenntnissen auf der Grundlage des französischen Satzes: Je peux pendre le train. den spanischen Satz: *Puedo prender el tren. (→ Puedo coger el tren.), so lässt sich der (vermutlich) vorangegangene Prozess des interlingualen Transfers des Verbs prendre → *prender auf der Grundlage der Produktdaten rekonstruieren. Bei einem Italienischlerner, der den Satz Posso prendere il treno. produziert, ist ein unmittelbarer Rückschluss auf den Transferprozess prendre → prendere nicht möglich und ein solcher Transferprozess würde im Unterricht vermutlich nicht wahrgenommen - und das obwohl bzw. gerade weil der Transferprozess hier zum Erfolg führt. Abgesehen davon, dass sich Menschen selbstverständlich generell in der Fähigkeit, Gedankeninhalte versprachlichen zu können, unterscheiden, ist bei einer Anwendung von Laut-Denk-Protokollen bei jungen Schülern allerdings zu beachten, dass Forschungserfahrungen u.a. zeigen, dass vor allem jüngere Kinder häufig noch Schwierigkeiten mit dem Lauten Denken haben (vgl. Heine & Schramm 2007: 175 und die dort zitierte Literatur). Aus diesem Grund ist (gegebenenfalls) ein zusätzliches an den sprach- und lernbezogenen Beobachtungen der Lerner orientiertes Nachfragen notwendig (s. hierzu ausführlich Abschnitt II 4.). Auf der anderen Seite wäre eine ausschließliche Befragung, etwa in Form von Leitfadeninterviews über Sprachlernerfahrungen, dem Gegenstand der Sprachlernkompetenz unangemessen, da sie deren Konzeption als einer Handlungs- und Mobilisierungskompetenz (RePA 2009: 17; Meißner 2011c: 80) von sprachlichen und nicht sprachlichen Ressourcen in einer gegebenen Situation nicht gerecht würde 137 . 137 Vgl. auch Kelle & Erzberger (2003: 308): „Ein grundlegender Mangel allgemeiner Modelle der Methodenintegration besteht oft darin, dass versucht wird, methodolo gische Regeln zur Methodenintegration ohne Beziehung zu theoretischen Überlegungen <?page no="151"?> 2. Gütekriterien qualitativer Forschung 137 Das Kriterium der empirischen Verankerung und genauer: der Hypothesenbildung „dicht an den Daten […] und auf der Basis systematischer Datenanalyse“ (Steinke 2003: 328) ist bereits angesprochen worden. Diese soll durch Textbelege für Interpretationen (s. auch oben zu Nachvollziehbarkeit) und durch den Einsatz einer Sequenzanalyse (Südmersen 1983) gewährleistet werden, die sich systematisch an der chronologischen Abfolge von Interkomprehensionsereignissen und -prozessen sowie deren Rekonstruktion orientiert. Dies ist insbesondere für die Longitudinalstudie von Bedeutung. Ein weiteres von Steinke (2003: 329f.) angeführtes Gütekriterium ist jenes der Limitation, welches sich auf die Grenzen der Generalisierbarkeit der Ergebnisse bezieht. Hier ist insbesondere eine detaillierte Darlegung des Untersuchungskontextes wichtig. In ihren Ausführungen zur Frage einer Anwendbarkeit von Gütekriterien der quantitativen Forschung auf qualitative Forschung weist sie zudem darauf hin (Steinke 2010: 177): Die Forderung nach Repräsentativität, d.h. nach Verallgemeinbarkeit der Ergebnisse bzw. der Darstellung der Grenzen der Verallgemeinerung ist auch in der qualitativen Forschung angebracht. Nicht umsetzen lassen sich jedoch die dazugehörigen Prüfverfahren. […] Die Prüfprozeduren basieren auf dem Konzept von abhängiger und unabhängiger Variable, welches nicht auf qualitative Forschung übertragbar ist. Es verlangt eine Komplexitätsreduktion der Untersuchungssituation und damit eine Entfernung vom Alltag der Untersuchten, die in der qualitativen Forschung nicht angemessen ist 138 . Die angesprochene ausführliche Dokumentation der Interkomprehensionsereignisse und die genaue Berücksichtigung des Kontextes von Lerneräußerungen sowie das sequenzanalytische Verfahren sind auch in diesem Kontext zu sehen, unter anderem, da sie dem Rezipienten eine Einschätzung und Beurteilung der Interpretationen (und somit der Ergebnisse) ermöglichen. So äußert sich Flick (2010: 398) zu einer Reformulierung des klassischen Gütekriteriums der Reliabilität wie folgt: „Die Reformulierung von Reliabilität im Sinne einer stärker prozeduralen Konzeption zielt darauf ab, das Zustandekommen der Daten so zu explizieren, dass überprüfbar wird, was noch Aussage des jeweiligen Subjekts ist und wo die Interpretation der Forschenden schon begonnen hat.“ Im Zusammenhang mit der Frage der Verallgemeinerbarkeit in der qualiüber die Natur des untersuchten Gegenstandsbereichs zu formulieren. Der richtige ‚Methodenmix‘ ist aber stets abhängig von der Art des untersuchten Gegenstands bereichs und den verwendeten theoretischen Konzepten.“ 138 Ähnlich auch Flick (2010: 397) zu einer Übertragung klassischer Validitätskonzeptionen auf qualitative Forschung: „Interne Validität soll durch eine möglichst umfassende Kontrolle der Kontextbedingungen in der Untersuchung erhöht werden. Zu diesem Zweck wird die weitgehende Standardisierung der Erhebungsbzw. Auswertungssitua tion angestrebt. Der dafür notwendige Grad an Standardisierung ist jedoch mit dem größten Teil der gängigen qualitativen Methoden nicht kompatibel bzw. stellt ihre eigentlichen Stärken infrage.“ <?page no="152"?> 138 II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs tativen Forschung spricht Steinke (2010: 185) das Konzept der dichten Beschreibung (Geertz 1983; s. Abschnitt II 1.) an: „Sehr detaillierte (dichte) Beschreibungen der Fallstudie(n) sollen dem Leser ermöglichen, seine eigenen Schlussfolgerungen darüber zu ziehen, inwiefern die Ergebnisse auf einen anderen Kontext übertragbar sind.“ Das Kriterium der Kohärenz bezieht sich auf die Frage der Konsistenz und Schlüssigkeit der Ergebnisanalyse. Dies bedeutet nicht, dass Daten keine Widersprüche aufweisen dürfen. Dies ist bei qualitativem Datenmaterial allein durch dessen Kontextabhängigkeit (z.B. physische und emotionale Verfasstheit der Probanden, interkomprehensives Material, interkomprehensive Zielsprache, konkreter (meta-)sprachlicher Bezugspunkt) unwahrscheinlich. Es geht vielmehr darum, die Widersprüche aufzudecken und zu diskutieren. So ist in der vorliegenden Untersuchung insbesondere bei der Longitudinalstudie auf Konvergenzen und Divergenzen zu achten, indem Interkomprehensionsereignisse bei der Analyse zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die vorliegende Untersuchung wird dem Kriterien der Relevanz (Steinke 2003: 330) gerecht, da angesichts der hierzulande üblichen Fremdsprachenfolgen (z.B. Englisch als erste und eine romanische Sprache als zweite Fremdsprache) die Erforschung von sprachfamilienübergreifender Interkomprehension ein Desiderat ist. Aufgrund der kognitions- und lernpsychologischen Fundierung der Interkomprehensionsdidaktik ist es für die Interkomprehensionsforschung ebenfalls relevant, sich jüngeren Lernern zu widmen, auch jenen, die nicht notwendigerweise bereits mehrsprachig und/ oder sehr an Fremdsprachen interessiert sind. Darüber hinaus steht der Fokus von Sprachlernkompetenz im Einklang mit Bemühungen um Aufgaben- und Kompetenzorientierung (s. Abschnitt I 2.5). Das Kriterium der reflektierten Subjektivität schließlich bezieht sich auf die Tatsache, dass der Forschende immer auch ein Teil des Forschungsprozesses ist: „Die Subjektivität des Forschers ist ein Teil der Methoden und an der Konstituierung des Gegenstandes und der Theoriebildung beteiligt. Der Forscher ist immer - gleichgültig ob bewusst oder unbewusst - ein Teilelement empirischer Forschung“ (Steinke 1999: 231; Hervorhebung im Original). Aguado (2000: 128) bezieht das Kriterium der Subjektivität auf: den gewählten Forschungsgegenstand, die Vorannahmen, das Erkenntnisinteresse und die Zielsetzung, die eingesetzten Methoden und die Interpretation der Daten. Die beiden erstgenannten Punkte sind bereits in der theoretischen Verortung der vorliegenden Studie ausführlich dargestellt worden. Da in der vorliegenden Untersuchung - wie in der (bisherigen) Interkomprehensionsforschung durchaus üblich (vgl. z.B. Böing 2004: 19; Bär 2006a, 2006b, 2009 und Beiträge in Doyé & Meißner 2010 und Meißner et al. 2011a) - die forschende Person zu- <?page no="153"?> 3. Qualitative Forschung mit Kindern 139 gleich die Lehrperson ist 139 , wird das Verhalten der Forscherin im dialogue pédagogique besonders genau (z.B. im Hinblick auf den Steuerungsgrad beim Frageverhalten) zu beobachten und bei der Interpretation zu berücksichtigen sein. 3. Qualitative Forschung mit Kindern 3. Qualitative Forschung mit Kindern Was die fremdsprachendidaktische Forschung anbelangt, die sich Kindern widmet, so hat sich diese bislang unter anderem mit Aufgabenentwicklung und Unterrichtsprojekten befasst wie die Forschungen im Rahmen von éveil aux langues (Candelier 2003), language awareness (Luchtenberg 1997, 2001, 2002) und Sprachaufmerksamkeit (Oomen-Welke 2002, 2006). In Anlehnung an Methoden der empirischen Sozialforschung widmet man sich darüber hinaus in beobachtungsbasierten und ethnographischen Forschungsprojekten der Artikulation des Französischen durch deutschsprachige achtbis zehnjährige Grundschüler (Mordellet-Roggenbuck 2002) sowie der Entwicklung der Lernersprache im Bereich von Kommunikationsstrategien (Méron-Minuth 2009). Es liegen auch fremdsprachendidaktische Arbeiten vor, die Kinder als Forschungssubjekte zu einem Bereich ihrer Lebenswelt befragen (vgl. De Leeuw 1997; Reiter 2005; Marschollek 2004, 2007a, 2007b) 140 . Kolb (2007: 129) zufolge wurde fremdsprachendidaktische Forschung mit Kindern bislang häufig in Form einer Forschung über Kinder durchgeführt und seltener im Sinne 139 Eine Erklärung hierfür ist darin zu sehen, dass Lehrkräfte (bislang? ) Interkomprehen sionsunterricht eher zurückhaltend oder sogar ablehnend gegenüberstehen (Ploquin 1991; Meißner 2005a: 130-131; Bär 2009: 82ff.; Meißner 2009: 15f.). Für diese Haltung werden drei miteinander interagierende Hauptgründe genannt: psychosoziale Hem mungen, das eigene Sprachfach und eine einzelzielsprachliche Orientierung (monolin gualer Habitus) sowie nicht ausreichende didaktische Kenntnisse im Bereich von Inter komprehensionsdidaktik. Es muss allerdings betont werden, dass es durchaus Gegen beispiele gibt (vgl. bereits Beiträge in Meißner & Reinfried 1998b); vgl. auch das Ergeb nis von Heyder & Schädlich (2014: 194): „Sprachvergleich und -reflexion finden in star kem Maße kontrastiv mit Bezug auf die Sprache Deutsch und die Zielsprache statt. Andere Schulfremdsprachen und lebensweltliche Mehrsprachigkeit spielen den hier ermittelten Aussagen der Lehrkräfte nach hingegen eine untergeordnete Rolle in der Unterrichtspraxis, obwohl […] der Lernförderlichkeit ihrer Integration von den Unter suchungsteilnehmerInnen in hohem Maße zugestimmt wird.“, das verdeutlicht, dass ein geringer Einbezug anderer Sprachen als der deutschen nicht mit einer ablehnenden Haltung mehrsprachigkeitsdidaktischer Ansätze gegenüber einhergehen muss. 140 Diese Darstellung bezieht sich auf Forschung mit Kindern, die sich zu Interkomprehension in Beziehung setzen lässt. Auf weitere Bereiche der fremdsprachendidaktischen Forschung mit Kindern wie die umfassende Literatur zum Altersfaktor beim Spracherwerb soll hier nicht eingegangen werden (für eine Übersicht s. z.B. Grotjahn 2005; Edmondson 2010; Grotjahn, Schlak & Bernd 2010). <?page no="154"?> 140 II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs von Forschung mit Kindern, die als Informanten über ihre eigene Lebenswelt Auskunft geben. Auch wenn diese Gegenüberstellung für einen strukturierenden Überblick und eine Einordnung von Forschungsansätzen und -befunden hilfreich ist, ist sie für Forschungen im Bereich von Sprachreflexion m.E. zu relativieren, da Kinder bei der Bearbeitung von sprachbewusstheitsförderndem Material Äuße rungen über Sprache tätigen, die immer auch zu einem gewissen Teil Äußerun gen über sie selbst und ihre Weltsicht sind. In diesem Sinne kann bei der Unterscheidung von Forschung über Kinder und Forschung mit Kindern hier eher von Tendenzen in die eine oder andere Richtung gesprochen werden. Kolb (2007: 130) ist allerdings Recht zu geben, wenn sie für Forschung mit Kin dern den „Einsatz verschiedener Methoden […] [betont], welche beispielsweise nicht nur Aussagen über Handeln, sondern auch das Handeln selbst betrach ten.“ (Hervorhebungen StM). Die Überlegung, Befragungen von Kindern mit anderen Ausdrucksformen zu kombinieren, entspricht Forderungen aus der Kindheitsforschung (Fuhs 2000: 90). So konnte De Leeuw in seiner Untersuchung mit den Grundschülern (vgl. Abschnitt I 2.3) feststellen (1997: 144), dass der von ihm (in Anlehnung an Oxford 1990) entwickelte und eingesetzte Fragebogen mit geschlossenen Fragen von vornherein unterstellte, dass die von ihm befragten Dritt- und Viertklässler Lernstrategien einsetzen. Diese hatten keine andere Wahl als anzukreuzen, wie häufig sie eine bestimmte Lernstrategie verwenden. Es ist m.E. eine offene Frage, ob die Kinder die 12 Items des Fragebogens überhaupt alle verstanden haben. Zwar hatten sie die Möglichkeit, während des Ausfüllens der Fragebögen Fragen zu stellen, was jedoch von keinem der Befragten wahr genommen wurde. De Leeuw (1997: 142) sieht dies als ein Indiz dafür, dass die Schüler keine Schwierigkeiten mit diesem Erhebungsinstrument hatten. Allerdings kann sein Befund, dass keine Fragen gestellt wurden, auch andere Ursachen haben wie zum Beispiel, dass die Kinder sich nicht getraut haben zu fragen oder im Falle von Nicht-Verstehen die Antwort „nie“ angekreuzt haben. Hiermit ist das Thema der Metasprache angesprochen. Wie erwähnt, ist die Frage, wie die Kinder (meta-)sprachliche und (meta-)kognitive Beobachtungen zum Ausdruck bringen, Teil des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Untersuchung. Zum Bereich der Metasprache gehört natürlich auch, wie die jungen Lerner ihrerseits Fragen oder Impulse der Forscherin verstehen. Dass diese sich bei der Datenerhebung um eine kindgerechte Metasprache bemüht, ist selbstverständlich. Die Kindheitsforschung spricht hier anschaulich von einer „wechselseitigen Übersetzung“ (Fuhs 1999: 154; Kolb 2007: 130). Wichtig anzusprechen ist m.E. im Kontext qualitativer Forschung mit Kindern schließlich auch der, so Kolb (2007: 130), „lange Zeit vorherrschende “Defizitblick“ auf Kinder“ (Anführungszeichen im Original). So versteht es sich von selbst, dass junge Lerner zu Beginn der Sekundarstufe, die gerade im <?page no="155"?> 4. Die Datenerhebungsverfahren und instrumentarien und ihre Triangulation 141 Begriff sind, eine neue Sprache und Sprachfamilie und sich selbst als Sprachen lerner kennenzulernen, nicht an Leistungen oder Äußerungen fortgeschrit tenerer und/ oder erwachsener Lerner gemessen werden können. Deshalb er folgt die Auswertung und Analyse der Daten vor allem aus der Perspektive der Fragen, was die Kinder schon können und was ihnen bereits bewusst ist. 4. Die Datenerhebungsverfahren und instrumentarien und ihre Triangulation 4. Die Datenerhebungsverfahren und instrumentarien und ihre Triangulation Zur Konstruktion der Fragebögen In der vorliegenden Untersuchung wurden Fragebögen zur Sprachlernbiographie (Fragebögen I) sowie Fragebögen, die auf retrospektive Stellungnahmen der Kinder zu den Interkomprehensionsstunden abzielen (Fragebögen II), verwendet. Erstere wurden in den Klassen 6b, 7-N/ M und 7-ling 141 des niedersächsischen Gymnasiums eingesetzt, Letztere in den Klassen 6b und 7-N/ M 142 . Zum Fragebogen I: Der Fragebogen I fokussiert auf die Sprachlernbiographie. Er ist an das Portfolio aus Nordrhein-Westfalen für die Sekundarstufe 143 angelehnt und betrifft die Sprache(n) der Familie, der Umgebung, die in der Grundschule erlernten; darüber hinaus werden die Kontakte zu Schülern fremder Sprachen und Länder erfragt. Eine weitere Frage zielt auf das Sprachwahlverhalten ab, d.h. warum sich die Schüler in der 6. Klasse für Französisch oder Latein und - im Fall von Klasse 7-ling für Spanisch als dritte Fremdsprache (bzw. überhaupt für das Erlernen einer dritten Fremdsprache) entschieden haben 144 . Diese Fragestellung ist - wie die weiteren Fragen (s.u.) - als eine lerner seitige Anregung zur Reflexion über das eigene Sprachenlernen zu verstehen. Es wurden daher keine Informationen darüber eingeholt, ob und wenn dies der Fall war, wie die Schule gegen Ende des fünften Schuljahres die Schüler und Eltern hinsichtlich der Sprachenwahl beraten hatte (vgl. Homburger Empfeh lungen; Meißner 1990, 1993a). Da die Daten der vorliegenden Untersuchung 141 Die Lerngruppen werden jeweils im empirischen Teil detailliert dargestellt. Die Kürzel zur Bezeichnung der Klassen sind erfunden und werden an der Schule, an der die Daten erhoben wurden, in dieser Form nicht verwendet. 142 Zu Beginn der Longitudinalstudie wurde ein weiterer Fragebogen eingesetzt, um ggf. Interessen des Lerners für die Gestaltung von Interkomprehensionsstunden zu ermitteln; s. hierzu Abschnitt III 2. 143 Vgl. www.learn-line.nrw.de/ angebote/ portfolio/ download/ biografie.pdf (02.05.09). 144 Die Klasse 7-ling ist nicht Teil der vorliegenden Arbeit, da aufgrund zeitlicher Dispositionen der Lehrperson hier weniger Daten vorliegen, deren Analyseergebnisse zu einem großen Teil bereits an anderer Stelle (Morkötter 2010; 2011a) publiziert wurden; zu weiteren Erklärungen s. Abschnitt II 6. zu den Datensätzen. <?page no="156"?> 142 II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs am Ende des Schuljahrs (2008/ 2009) erhoben wurden, können zudem auch bei den Sechstklässlern Angaben im Fragebogen zu den Gründen ihrer Sprachen wahl von Eindrücken vom tatsächlichen in der Zwischenzeit erlebten Unter richt überlagert worden sein. Auch durch die Fragen, was ihnen in welcher Sprache besonders leicht und was schwer falle und warum und schließlich, was ihnen in welcher Sprache besonderen Spaß mache 145 , sollten die Schüler zu einer selbstbezogenen sprach - (lern)vergleichenden Reflexion angeregt werden. Ein Erkenntnisinteresse besteht darin, neben den konkret angeführten sprachlichen Bereichen, zu ermitteln, inwieweit die Kinder zu einer solchen Selbstbeobachtung und -diagnose in der Lage sind und wie sie diese versprachlichen. Die Fragen wurden, wie oben dargelegt, offen gehalten, um einen Einblick in Vorlieben und Abneigungen, Fähigkeiten und Schwierigkeiten aus Sicht der Lerner zu erhalten, ohne diese Kategorien von vornherein durch engere Vorgaben vorzustrukturieren. Zum Fragebogen II: Bei der ebenfalls offenen Gestaltung des Fragebogens II 146 zur retrospektiven Reflexion des erlebten Interkomprehensionsunterrichts (vgl. Bär 2009: 143) spielten bei der Entscheidung, auf engere Vorgaben zu verzichten, folgende weitere Gründe eine Rolle: Da die Forscherin dieser Untersuchung auch als Lehrerin fungierte 147 und die Fragebögen auf die Wahrnehmung des Interkomprehensionsunterrichts durch die Kinder abzielten, war das Risiko von Gefälligkeitsaussagen gegeben. Um dem entgegenzuwirken, wurde das Format offener Fragen mit einer weiten ‚Zielbreite‘ gewählt. (vgl. hierzu die Erfahrungen von De Leeuw 1997: 179 zur Frage: „Was gefällt dir nicht so gut beim Englischlernen? “ und die Diskussion in Morkötter 2005: 105ff.). Hinzu kommt, dass offene Fragestellungen bewusst so formuliert wurden, dass sie sowohl positive als auch negative Eindrücke umfassten, also nicht einseitig zielen: 1. Welche Übungen 148 haben mir mehr Spaß gemacht, welche weniger? Warum? 145 Vgl. auch die Klassifizierung von Fragen in Interviews oder Fragebögen in „factual, behavioral, and attitudinal“ (Gass & Mackey 2007: 149). 146 Anders als beim Fragebogen I sind die Fragen hier in der ersten Person formuliert und mit „Sprachenlernen und ich“ überschrieben. 147 Dies ist, wie bereits angesprochen, in der (bisherigen) Interkomprehensionsforschung durchaus üblich (vgl. z.B. Böing 2004: 19; Bär 2006a; 2006b; 2009 und Beiträge in Meißner & Doyé 2010 und Meißner et al. 2011a); zu Erklärungen s. Fußnote 139. 148 Die Schüler verfügten zum Zeitpunkt des Fragebogeneinsatzes über die verwendeten Materialien, sie wurden allerdings nicht im Sinne eines stimulated recall (Gass & Mackey 2000; 2007: 54-55) explizit dazu aufgefordert, sich diese erneut anzusehen, da auch von Interesse ist, woran sie sich (in positiver und/ oder negativer Hinsicht) erinnern. Was die Formulierung der „Übung“ anbelangt, können in Anlehnung an Leupold (2007: 113), <?page no="157"?> 4. Die Datenerhebungsverfahren und instrumentarien und ihre Triangulation 143 2. Welche Übungen sind mir schwer gefallen? Welche Übungen fand ich einfach? Warum? Auch die Reihenfolge von positiv/ negativ (Frage 1) und negativ/ positiv (Frage 2) wurde bewusst variiert. Die Fragen haben eine leitende Funktion im Sinne einer Hinführung zu den konkreteren Fragen wie jene nach „Vermutungen […] über Sprache/ n und über das Sprachenlernen“. Da bisherigen Ergebnissen zu sprachenübergreifendem Lehren und Lernen zufolge eine Förderung von Sprachlernkompetenz (bislang) nicht Teil des Fremdsprachenunterrichts zu Beginn der Sekundarstufe ist (z.B. Behr 2007: 89- 90 149 ), ist hier der Gefahr entgegenzuwirken, dass vorgegebene Antwortkate gorien und Items (De Leeuw 1997: 144; s.o. Abschnitt I 2.3.), von den Kindern möglicherweise nicht oder missverstanden werden. Die befragten Schüler kennen vermutlich interkomprehensiven Unterricht noch nicht, wohl aber, wie das Beispiel zu roadrunner verdeutlicht, können sie durchaus schon mentale Operationen durchgeführt haben, die in der Inter komprehension 150 geläufig sind. Daher ist die Frage interessant, was die Schüler von sich aus überhaupt erwähnen, was den Einsatz von Fragebögen mit offenen Fragen nahe legt. Neben den Fragen zu den interkomprehensiven Aufgaben (bzw. „Übun gen“) erfasste der zweite Teil dieses Fragebogens die lingualen und metasprach lichen Hypothesen („Vermutungen“), an welchen sich gegebenenfalls weitere Fragen der Schüler über Sprachen-(Lernen) anschlossen („Was ich noch gerne … erfahren würde: “): 3. Welche Vermutungen habe ich über Sprache/ n und über das Sprachenlernen angestellt? 4. Wo war ich überrascht? 5. Was ich noch gerne über Sprache/ n erfahren würde: 6. Was ich noch gerne über das Lernen von Sprache/ n erfahren würde: Bei der vierten Frage handelt es sich um eine Suggestivfrage, da sie impliziert, dass die Schüler überrascht waren. Die Frageformulierung war einerseits sicherlich von Befunden aus der Literatur beeinflusst: wie erwähnt, Übungen „als Elemente der Vorbereitung auf eine komplexere Aufgabe“ aufgefasst werden. Hieraus folgt, dass in einigen Fällen wie bei der Erschließung eines italienischen Textes eher von einer „Aufgabe“ gesprochen werden kann bzw. müsste (vgl. hierzu auch Abschnitt III 2.5). Doch selbstverständlich treffen Sechst- und Siebtklässler nicht diese (für die Fremdsprachendidaktik m.E. durchaus sinnvolle) Unterscheidung und es sollte auf eine Doppelnennung verzichtet werden. 149 So nennt von 14 befragten Lehrpersonen der Klasse 7 zu „praktizierten Formen sprachenübergreifenden Lehrens“ nur eine einzige „Arbeitstechniken“ (Behr ebd.); zu weiteren Befunden: ebd. und Abschnitt I 2.4. 150 Nicht notwendigerweise in bewusster Form und selbstverständlich nicht in dieser Begrifflichkeit. Der Begriff der „Interkomprehension“ wurde im vorliegenden Projekt den Kindern gegenüber vermieden. <?page no="158"?> 144 II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs Interkomprehension in einer neuen Sprache produziert in der Regel einen starken und für das Lernen sehr fruchtbaren Überraschungseffekt: ‚Ich wusste nicht, dass ich schon so viel Spanisch verstehen kann‘, ist eine regelmäßige lernerseitige Feststellung. (Meißner 2010e: 39; meine Hervorhebung) 151 . Gestützt wurde diese Beobachtung zudem durch eigene Erfahrungen (die Stellungnahme eines Schülers nach der Bearbeitung eines niederländischen Textes: „Also, dass man da soviel rauskriegen kann, das hätt’ ich ja nich’ gedacht“, Morkötter 2008: 308) 152 . Umso mehr wird bei der Auswertung der Daten zu dieser Frage darauf zu achten sein, wie sich die jeweiligen Lerner zu den ersten drei Fragen dieses Fragebogens äußern, in der Hinsicht, dass Antworten zu jenen auf die vierte Frage in Relation gesetzt werden können, was die Suggestivität möglicherweise etwas abmildern kann. Die Unterrichtsaufzeichnungen am niedersächsischen Gymnasium Die weiteren Datenerhebungsverfahren am niedersächsischen Gymnasium umfassen: bearbeitete Interkomprehensionsmaterialien (zum Teil in Einzel-, in Partner- und in Gruppenarbeit), Laut-Denk-Protokolle (vgl. auch Morkötter 2010, 2011a) sowie Aufzeichnungen der Unterrichtsgespräche über die Ergebnisse der Interkomprehensionsprozesse in der Klasse. Trotz der zahlreichen Vorteile der Videographie (vgl. Aguado et al. 2010) wurden die Unterrichtsgespräche im Falle der vorliegenden Untersuchung audial aufgezeichnet. Dies hat verschiedene Gründe: Audio-Aufnahmen stellen verglichen mit Videoaufzeichnungen eine zurückhaltendere Form (Merriam 1998: 104) der Datenerhebung dar. So sagten die Schüler, dass sie eine Audio-Aufzeichnung vorziehen würden, anstatt gefilmt zu werden, waren jedoch einverstanden, dass das Mikrophon der Kamera mit verdecktem Objektiv eingesetzt wird 153 . 151 Dieser Effekt wird in der Interkomprehensionsforschung in Anlehnung an den alltagssprachlichen Begriff auch als „Aha-Effekt“ (Meißner 2004a: 49) bezeichnet. 152 Hier spielen die im Rahmen der Differenzierung unterschiedlicher Dimensionen theoretischen Vorwissens von Kelle & Kluge (1999: 28; Hervorhebungen im Original) angeführten Aspekte des „Grades der Explikation des Vorwissens“ und der „Herkunft dieses Vorwissens“ eine Rolle. 153 Dennoch war diese Reaktion insofern überraschend, als sich die Schüler ansonsten recht offen verhalten haben. Es stellte beispielsweise für die meisten von ihnen kein Problem dar, auf den Fragebögen und Interkomprehensionsmaterialien ihre tatsächlichen Namen einzutragen. Ihnen wurde (selbstverständlich) erläutert, dass alle Daten im Anschluss an die Datenerhebung anonymisiert werden und die Angabe der Namen dazu dient, die einzelnen Fragebögen und Materialien einander zuordnen zu können. Das Angebot, sich selbst Decknamen auszudenken, wurde von keinem Schüler wahrgenommen. <?page no="159"?> 4. Die Datenerhebungsverfahren und instrumentarien und ihre Triangulation 145 Bei Klassenstärken von beispielsweise 31 Schülern (Klasse 6b) hätte eine Erfassung aller Schüler den Einsatz von mehr als einer Kamera erfordert, was den (potenziellen) Einfluss noch erhöht hätte 154 . Der Fokus der vorliegenden Untersuchung liegt auf dem individuellen Lerner und (der Rekonstruktion von) dessen Interkomprehensionsprozesse(n) (s. Abschnitt II 6. zur Gewichtung der Datensätze). Laut Denk Protokolle als Forschungs und als Unterrichtsmethode der Interkomprehensionsdidaktik Was die Einschätzung des Potenzials von Laut-Denk-Protokollen für die Fremdsprachenforschung so schwierig macht, ist einerseits die terminologische Vielfalt und andererseits die Frage, was genau durch Protokolle lauten Denkens erhoben wird oder überhaupt erhoben werden kann. Gass & Mackey (2007: 55) beispielsweise definieren „Laut-Denk-Proto kolle“ wie folgt: In think-aloud protocols, also known as online protocols, learners are usually asked what is going through their minds as they are concurrently solving a problem. Through this procedure, researchers can gather information about the ways in which people approach problemsolving activities. Neben dem im obigen Zitat als Synonym angeführten Begriff des „Online- Protokolls“ finden sich in der Literatur weitere Termini wie „verbal report“, verwandte Begriffe wie „talk aloud protocol“ (Ericsson & Simon 1987: 24, 33; vgl. auch Konrad 2010) und selbstverständlich jener der „Introspektion“, der häufig als ein Oberbegriff verwendet wird für „sämtliche Aussagen einer Person [...], durch die Einblicke in ihre eigenen mentalen Aktivitäten gewährt werden“ (Heine 2005: 167). Dieses weite Verständnis des Begriffs der „Introspektion“ wird auch der vorliegenden Untersuchung zugrunde gelegt. Heine (2005: 164ff.) und Konrad (2010: 478ff.) grenzen das laute Denken von anderen introspektiven Erhebungsverfahren ab, indem sie auf die Ausfüh rungen von Ericsson & Simon (1993) auf der Grundlage des Informationsver arbeitungsmodells von Newell & Simon (1972) Bezug nehmen. So weist Heine (ebd.: 164-165) darauf hin: 154 Ein eindeutiger Vorteil der Videographie im Vergleich zu Audio-Aufzeichnungen ist, dass Redebeiträge in der Regel den einzelnen Lernern zugeordnet werden können. Es wurde durch zweierlei Maßnahmen der Versuch gemacht, der geringeren Zuordenbarkeit von Redebeiträgen zu begegnen: durch Ansprechen der Schüler mit Namen während der Aufzeichnung der Interkomprehensionsstunden sowie durch Notizen von Redebeiträgen und Namen durch die anwesenden Fachlehrer. Durch diese Maßnahmen konnten einige der Redebeiträge zugeordnet werden, sie konnten jedoch nicht mit der Konsequenz durchgeführt werden, dass sie diesen Vorteil von Videoaufzeichnungen hätten komplett ausgleichen können. <?page no="160"?> 146 II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs Wird nun wie beim Lauten Denken jemand aufgefordert, die Gedanken zu verbalisieren, auf die er beim Lösen einer Aufgabe seine Aufmerksamkeit richtet, greift er nur auf die Information zurück, die sich im AG [= Arbeits gedächtnis; StM] befindet. Dagegen können Inhalte aus dem LZG [= Langzeit gedächtnis; StM] erst mitgeteilt werden, wenn sie ins AG geholt wurden. Heine (2005: 169) unterscheidet zwischen „Lautdenkprotokolle[n] ohne Stimulation von Metakognition“ und „[m]etakognitive[n] Verbalprotokollen“, eine (analytische) Differenzierung, die, wie zu zeigen sein wird, zwar für eine genauere begriffliche und konzeptuelle Bestimmung des Lauten Denkens hilfreich, jedoch nur bedingt auf die Interkomprehension(sforschung) übertragbar ist. Lautdenkprotokolle ohne Stimulation von Metakognition: In diesem Fall werden in der Regel lediglich die Inhalte aus dem Arbeitsgedächtnis während der Aufgabenbearbeitung verbalisiert. Ein Beispiel im Kontext von Interkomprehension wäre für den spanischen Satz: Estudio Biología y mi carrera es muy interesante. 155 und einem germanophonen Lerner mit Französischkenntnissen: „Studiere Biologie und meine eh meine Karriere eh meine mein Studium ist eh interessant.“ Hier spiegelt sich die Aktivität des Arbeitsbzw. Kurzzeitgedächtnisses wider. Metakognitive Äußerungen treten nicht auf, die mentale Tätigkeit ist auf die Erschließung des spanischen Satzes selbst gerichtet, ohne dass zugrundeliegende kognitive Prozesse benannt werden. Diese können von Forschenden ‚lediglich‘ aus den Produkten und den Schritten auf dem Weg dorthin − Heine (2005: 165) spricht sehr anschaulich von „Zwischenstationen“ − erschlossen werden. Im Falle des oben angeführten Laut-Denk-Protokoll-Ausschnitts könnte beispielsweise vermutet werden, dass der germanophone Proband das spanische Substantiv carrera zunächst aufgrund der interlingualen Ähnlichkeit auf Sprachformebene mit dt. „Karriere“ in Verbindung gebracht hat. Anschließend hat er möglicherweise den Kontext betrachtet (ein hispanophoner Studierender stellt sich vor) und das Wort carrera daraufhin mit „Studium“ übertragen. Diese Hypothesen über zugrunde liegende Überlegungen können von Forscherseite aus dem ,Zwischenprodukt‘ („Karriere“) und Produkt („Studium“) erschlossen werden, auch wenn der Proband diese nicht verbalisiert (s.u. zu Ericsson & Simon 1993). Wichtig für diese Konzeption von Laut-Denk- Protokollen ist auch der Zusatz ohne Stimulation von Metakognition. So könnte ein Proband zum Beispiel auch gesagt haben: 155 Beispiel, leicht adaptiert, aus Con dinámica. Competencias y estrategias. (Ainciburu et al. 2009: 16). <?page no="161"?> 4. Die Datenerhebungsverfahren und instrumentarien und ihre Triangulation 147 „Studiere Biologie und meine eh meine Karriere eh meine Karriere (? ) ist interessant? Nee, das muss ’was anderes heißen, is’ vielleicht ’n falscher Freund. Moment mal, da geht’s um ’nen Studenten, ähm, vielleicht eh mein Studium ist eh interessant? “ In diesem Fall hätte er sich sowohl metakognitiv geäußert als auch Inhalte aus seinem Langzeitgedächtnis reaktiviert, d.h. in sein Arbeitsgedächtnis geholt, jedoch aus eigener Initiative und ohne eine stimulierende Einflussnahme von außen. Vor dem Hintergrund dieser Konzeption von Laut-Denk-Protokollen als „unbeeinflusste Denkprozesse“ (Heine ebd.: 172) 156 wäre lautes Denken als Forschungs- und vor allem als Unterrichtsmethode der Interkomprehensionsdidaktik, vor allem für junge Lerner, zu überdenken (weil relativ eingeschränkt). Denn Probanden bzw. Lerner können auf metakognitiver Ebene nur das versprachlichen, was ihnen bewusst ist (ebd.: 173-174), und für das Ziel der Interkomprehensionsdidaktik, Metakognition und Sprachlernkompetenz zu fördern, ist die zumindest potenzielle Möglichkeit einer positiven Einflussnahme unumgänglich. Es geht unter anderem um eine (Befähigung zur) Reaktivierung von Vorwissen und dessen Nutzung für das Lernen im Sinne einer Verknüpfung von Inhalten aus dem Langzeitmit dem Arbeitsgedächtnis 157 . Auch Ericsson & Simon (1993; zitiert aus: Konrad 2010: 479) beziehen sich in ihrer Differenzierung von drei Verbalisierungsebenen auf unterschiedliche Gedächtnissysteme: 1. Verbalisierungsebene (talk aloud): Auf dieser Ebene werden die im Kurz zeitgedächtnis in verbal kodierter Form vorliegenden Informationen einfach nur laut ausgesprochen (Level 1 bei Ericsson & Simon 1993, S. 17). 2. Verbalisierungsebene (think aloud): Auf der zweiten Ebene liegen die Inhal te im Kurzzeitgedächtnis noch nicht in verbal kodierter Form vor, sondern müssen hierfür zuerst enkodiert werden. Diese Enkodierprozesse brauchen Zeit, was dazu führt, dass die Bearbeitung der Primäraufgabe insgesamt länger dauert (Level 2 bei Ericsson & Simon 1993, S. 17). 3. Verbalisierungsebene (reflection prompts): Verbalisationen der dritten Ebene werden gewonnen, indem Teilnehmende an wissenschaftlichen Ver suchen (im Unterschied zu den in der qualitativen Forschung oft intendier ten „natürlichen“ Situationen) explizit aufgefordert werden, ganz bestimmte Aspekte zu erklären, zu interpretieren oder zu hinterfragen (Level 3 bei Ericsson & Simon 1993, S. 17). Diese zusätzlichen Vorgänge benötigen nicht nur mehr Bearbeitungszeit; weit wichtiger ist, dass sie die kognitiven Pro zesse bei der Bearbeitung der Primäraufgabe beeinflussen können (Pressley & Afflerbach 1995 ; Bannert 2007). Die im Kurzzeitgedächtnis gespeicherten 156 Gemeint sind: nicht von außen gesteuerte Denkprozesse; StM. 157 Konrad (2010: 479) spricht in diesem Zusammenhang von „Elaborations- und Organisationsstrategien“. <?page no="162"?> 148 II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs Informationen werden sich damit verändern. (meine Hervorhebung; Anführungszeichen im Original) Eine solche Differenzierung ist für die Interkomprehensionsforschung nicht zielführend. Insbesondere die Ebene des talk aloud (s.o.) wäre bei einer Übertragung problematisch, denn die Transferbasen bei Interkomprehensionsprozessen werden aus dem Langzeitgedächtnis aktiviert - und auf diese kommt es gerade an. Zudem sind die mit Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis (und ebenso Ultrakurzzeit- und Sensorisches Gedächtnis) bezeichneten Modellierungen nicht trennscharf (Glowalla 2008: 231): Kurz- und Langzeitgedächtnis sind keine unterschiedlichen Orte im Gehirn. Stattdessen kennzeichnen sie unterschiedliche Grade der Aktivation. Ein Gedächtnisinhalt kann entweder aktiv oder inaktiv sein, er kann Ihnen bewusst sein oder nicht. […] Nicht all unser Wissen ist momentan aktiv, kann aber bei Bedarf abgerufen und damit ins Kurzzeitgedächtnis geholt werden. Das Kurz zeit- und das Langzeitgedächtnis haben demnach eine enge und dynamische Beziehung zueinander. Die bezeichneten Speicher sind somit variabel. Auch die vorgenommene Gegenüberstellung von Reflexionsanstößen auf der einen und der „oft intendierten „natürlichen“ Situationen“ auf der anderen Seite (vgl. das Zitat oben; Konrad 2010: 479) ist insbesondere für Interkompre hensionsforschung mit jüngeren Lernern weniger angemessen, da diese zum Teil „reflection promps“ (ebd.) benötigen (s.u.) 158 . In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, was Heine (ebd.: 172) ein „[s]imultanes metakognitives Verbalprotokoll“ nennt. Sie grenzt dieses von Laut-Denk-Protokollen dahingehend ab, dass: Laut-Denk-Protokolle der verbalisierenden Person selbst überlassen, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richtet, während bei metakognitiven Verbalprotokollen die Aufmerksamkeit der Lerner auf bestimmte Zusammenhänge gelenkt wird (ebd.: 169). (Insbesondere) für frühe Interkomprehension und junge Lerner ist eine Konzeption von lautem Denken wichtig, die unterschiedliche Grade der Einflussnahme durch den Forschenden einschließt, und zwar sowohl in Form von 158 Für die zweite Verbalisierungsebene nach Ericsson & Simon (1993) ist allerdings zu fragen, inwieweit das laute Denken - insbesondere für hierin Ungeübte - noch ein „natürliche Situation“ darstellt (auch Heine 2005: 176). Darüber hinaus ist vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Forschende ihrerseits einen Einfluss auf das Forschungsumfeld ausüben (können) (vgl. das „observer’s paradox“, Labov 1972, bzw. den Hawthorne- Effekt; Albert & Marx 2010: 44), zu fragen, ob ein Schaffen „natürlicher Situationen“ in der qualitativen Forschung in der Tat überhaupt (immer) möglich ist. Wichtig im Hinblick auf das Gütekriterium der Nachvollziehbarkeit ist es daher, eben diese (Forschungs-)Situationen in ihren Bedingungen und ihrem Verlauf detailliert darzustellen. <?page no="163"?> 4. Die Datenerhebungsverfahren und instrumentarien und ihre Triangulation 149 Außenimpulsen als auch insbesondere von Reaktionen auf Lerneräußerungen. So konnte in einer Pilotstudie mit Schülern der Jahrgangstufe 5 und einem niederländischen interkomprehensiven Text gezeigt werden, dass diese zwar Übertragungsvorschläge anbieten, nicht aber von sich aus erläutern, wie sie auf ihre Lösungen gekommen sind. Dass sie hierzu jedoch prinzipiell durchaus in der Lage sind, wird deutlich, wenn ein Nachfragen (in Annäherung an die Konzeption eines simultanen metakognitiven Verbalprotokolls) hinzugezogen wird. Dies lässt sich am Beispiel eines Interkomprehensionprozesses einer Fünftklässlerin illustrieren: Ein niederländischer Text über die Entstehungsgeschichte der Band Silbermond enthält die Textpassage: Met meerdere officiële fansites, vele liedjes en optredens. Die Schülerin äußert von sich aus: „Mit mehreren offiziellen Fanseiten ... vielen Liedern und Auftritten“. (1/ 24-25), was eine völlig korrekte Übertragung des niederländischen Textes darstellt, die allerdings, trotz vorheriger Auf forderung, keine einzige Kommentierung enthält. Bei einem (ersten, s.u.) Nachfragen wird deutlich, dass es im Erschließungsprozess des Kindes durch aus auch solche Interkomprehensionsprodukte gab, die Heine (2005: 165) „Zwischenstationen“ nennt, die die Schülerin jedoch nicht ausgesprochen hat: „Ich dachte zuerst Oper, aber treden“ (1/ 25-26, zu nl. optredens). Selbstver ständlich kann bei dem Zwischenprodukt „Oper“ unter anderem von einer Orientierung an Ähnlichkeiten auf Sprachformebene am Wortanfang aus gegangen werden, bei dem jedoch zugleich der Kontext „Musik“ berücksichtigt wurde 159 . Doch geht es an dieser Stelle um den forschungsmethodischen Befund, dass die Lernerin bei einem ersten Nachfragen zwar die „Zwischen station“ verbalisiert (der, wie angedeutet, durchaus strategisches Handeln zugrunde liegt), sich jedoch immer noch nicht dazu äußert, wie sie auf die korrekte Übertragung von nl. optredens mit „Auftritten“ (das verglichen mit beispielsweise dem Adjektiv officiël auf Sprachoberfläche weiter vom Deutschen entfernt ist) gekommen ist. Nachdem sie erneut gefragt wurde, wie sie die Lösung gefunden habe, sagt die Schülerin schließlich: „Mit diesem tredens da tred Tritt Auftritt“ (1/ 27-28). Dass sie hier eine für die Interkomprehension äußerst wichtige Strategie, jene der lexikalischen Dekomposition eingesetzt hat, steht wohl außer Frage. Von Bedeutung ist im vorliegenden Kontext insbesondere der Befund, dass die Lernerin auf Nachfrage verbalisieren kann, wie sie auf die (korrekte) Übertragung des Substantivs gekommen ist. Denn es sind gerade solche zugrunde liegenden Prozesse der Hypothesenbildung wie optredens = *„Oper“ und deren Verwerfen sowie der Einsatz von Strategien (interlingualer Transfer, Wortdekomposition), die 159 Da es in dem niederländischen Text um die Entstehungsgeschichte einer Musikgruppe geht (s.o.) und die Schülerin berichtete, dass sie diese Gruppe − und somit deren Musikrichtung − nicht kenne, kann hier durchaus von intelligent guessing gesprochen werden. <?page no="164"?> 150 II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs expliziert und dem Bewusstsein der Lerner zugänglich(er) gemacht werden sollen im Sinne einer Förderung von Sprachlernkompetenz und Metakognition. Diese Befunde weisen unübersehbar darauf hin, dass „simultane metakognitive Verbalprotokolle“ bei jungen Lernern (und wohl auch bei ungeübten erwachsenen Lernern) eine Rolle spielen können, da Laut-Denk-Protokolle im Sinne unbeeinflusster Denk-Prozesse (s.o.) vor allem die Produkte eines Interkomprehensionsvorgangs wiedergeben, nicht jedoch notwendigerweise die (meta)kognitiven Prozesse auf dem Weg dorthin. Es ist daher bei der Analyse (insbesondere) der Longitudinalstudie zu fragen, in welchen Fällen ein Lerner Unterstützung braucht und in welchen nicht. Zu Laut-Denk-Protokollen in Partnerarbeit: Die forschungsmethodische Anordnung des „pair thinking aloud“ (Haastrup 1987: 197; meine Hervorhebung) bzw. des „paarweisen Lauten Denkens“ (Dechert 1997: 19), die nach der Auslegung von Laut-Denk-Protokollen als „unbeeinflusste Denkprozesse“ Heine (2005: 172) gar nicht möglich wäre, zeigt, wie uneinheitlich die Konzeptionen zum Begriff des „Lauten Denkens“ sind. In der vorliegenden Untersuchung wird für eine weite Auffassung des Begriffs „Laut-Denk-Protokoll“ plädiert, die unterschiedliche Grade der Einflussnahme einschließt und zwar sowohl von Forschenden (bzw. Lehrenden) als auch von peers. Eine Konzeption von Laut-Denk-Protokollen, die auch Partner- und Gruppenarbeit und somit einen wechselseitigen Austausch der Lerner umfasst, ist in der Interkomprehensionsforschung in schulischen Kontexten durchaus gängig. Böing (2004: 21) betont für Achtklässler: „Die Aufnahme der Protokolle kann sehr gut in Partnerarbeit stattfinden“ (vgl. auch Bär 2009: 134ff. und Lenz 2011: 172-173). So konnte Bär (2009) unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit feststellen, vom fehlenden Austausch unter Schülerinnen (ebd.: 347) bis hin zu enger Zusammenarbeit (ebd.: 441). Diese Befunde deuten darauf hin, dass es sich lohnt, einen genaueren Blick auf den Gesprächsverlauf während der gemeinsamen Bearbeitung einer Interkomprehensionsaufgabe in Partnerarbeit zu richten. Dies soll bei der Analyse einer Partnerarbeit von zwei Schülerinnen aus Klasse 7-N/ M (s. Abschnitt III 3.3) erfolgen. Die Konzeption von Laut-Denk-Protokollen in Partnerarbeit („pair thinking aloud“), sei es unter peers oder in Form einer Schüler-Lehrer- Interaktion, betrifft selbstverständlich die Fragen der Organisationsform und der (wechselseitigen) Einflussnahme, denn Denken kann natürlich immer nur auf einer individuellen Ebene erfolgen. Daher wird im nächsten Kapitel zum fragend-forschenden Ansatz, der im Französischen dialogue pédagogique genannt wird, auf verschiedene Steuerungsgrade bei Interkomprehensionsprozessen einzugehen sein. Zuvor sollen im Folgenden Laut-Denk- und Interaktionsprozesse dahingehend differenziert werden, auf welche lernerseitigen Wissensformen sie stoßen können. Bär & Meißner (2011: 460) unterscheiden: <?page no="165"?> 4. Die Datenerhebungsverfahren und instrumentarien und ihre Triangulation 151 Bewusstes-Wissen von und in Sprachen, Unbewusstes-Wissen von und in Sprachen, Bewusstes-Unwissen von und in Sprachen sowie Unbewusstes-Unwissen von und in Sprachen. Bezogen auf sprachliches Vorwissen von Lernern betrifft die erstgenannte Kategorie des bewussten Wissens jene Sprach- und Transferhypothesen, die die Lerner aufgrund ihres Wissens bilden können, von dem sie zudem wissen, dass sie hierüber verfügen. Die Interkomprehensionsdidaktik, die darauf abzielt, für Lerner Transferbasen, die ihnen latent disponibel sind, für konkrete sprachliche Lernziele greifbar zu machen, ist insbesondere das unbewusste Wissen von zentraler Bedeutung, das sie auf die Ebene des Bewussten-Wissens hebt. Doch auch die Kategorien und Unterscheidung des bewussten Unwissens („Ein Lerner weiß, dass er etwas nicht weiß.“) und des unbewussten Unwissens („Er weiß nicht, dass er etwas nicht weiß.“) können eine Rolle spielen. Im ersten Fall beispielsweise, wenn lernerseitige sprachliche Entdeckungen Neugierde und somit weitere Fragen auslösen. Ein Beispiel für den zweiten Fall wären metasprachliche Zusammenhänge, die möglicherweise noch gar nicht im Bewusstsein der Lerner verankert sind, wie etwa die Tatsache, dass es verschiedene Sprachfamilien und innerhalb dieser sprachliche Ähnlichkeiten gibt 160 . Funktionen des dialogue pédagogique bei (früher) Interkomprehension Der dialogue pédagogique (vgl. Meißner 2008c: 239), der methodengeschichtlich auf den sog. „Sokratischen Dialog“ zurück geführt wird 161 , wird von Bär (2009: 84-85) folgendermaßen dargestellt: Der Interkomprehensionsunterricht greift diese Rolle [= du tuteur; StM] in Form des so genannten sokratischen Dialogs auf. Der Ablauf beim interkomprehensiven Erschließen eines unbekannten fremdsprachigen Textes im unterrichtlichen Kontext erfolgt - dem Beispiel des Sokrates im Menon folgend - durch das ständige Nachfragen und Gegenfragen von Seiten der Lehrpersonen in Bezug auf die von den Lernenden geäußerten Hypothesen. In dem von PLATON ca. 385 v. Chr. verfassten Werk Menon wird das ‚didaktische Ur-Gespräch‘ zwischen Sokrates und einem Sklaven des Menon beschrieben. Es handelt sich dabei um einen Dialog, bei dem Sokrates aufgrund seiner 160 Vgl. zum Beispiel den Deskriptor zur Ressource: „Einige Sprachfamilien kennen und einige Sprachen, die zu einer Sprachfamilie gehören“ im RePA (http: / / carap.ecml.at/ Descriptorsofresources/ tabid/ 2654/ language/ de-DE/ Default.aspx). 161 In der Pädagogik werden ebenfalls die Bezeichnungen „fragend-entwickelnder Unterricht“ (Meyer 1987: 287), „problemlösender Unterricht“ (Lange 1987: 25) und „entdeckendes Lernen“ (Kozdon 1977) verwendet, in der Didaktik der Naturwissenschaften ist auch von „forschend-entwickelndem Unterricht“ (Schmidkunz & Lindemann 1976) die Rede. <?page no="166"?> 152 II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs Fragen und Rückfragen dem (unwissenden) Sklaven Denkanstöße gibt, mit denen er diesem ‚auf die Sprünge‘ hilft und ihn selbstständig Neues verstehen lässt. (Anführungszeichen im Original) Wie sich in dem Zitat andeutet, lässt die lehrseitige Steuerung zwei Tendenzen des dialogue pédagogique erkennen: Zum einen kann die Lehrperson versuchen, durch hypothesengenerierende Fragen (meta-)sprachliche Beobachtungen bei Schülern zu fördern und ihnen diese auf der Ebene der Verbalisierung zu entlocken (Stichwort: „‚auf die Sprünge‘“ helfen). Zum anderen kann der dialogue pédagogique als eine Aufforderung zur Erläuterung von Hypothesen, die ein Schüler von sich aus auf der Grundlage des unstrukturierten Inputs und ohne Elizitation des Lehrers gebildet hat, verstanden werden. Diese beiden Verständnisweisen bzw. Zielsetzungen des Begriffs des „dialogue pédagogique“ sind in der Praxis eng miteinander verknüpft. In der vorliegenden Untersuchung soll, insbesondere im Rahmen der longitudinalen Einzelfallstudie 162 , der Versuch gemacht werden, den Fokus stärker auf die an zweiter Stelle genannte Zielsetzung zu legen, und dies unter anderem aus folgenden Gründen: Eine allzu starke Fokussierung der Hypothesengenerierung im dialogue pédagogique, d.h. des Verhaltens, einem Lerner durch entsprechend steuernde Fragen bestimmte (meta-)sprachliche Hypothesen nahe zu legen, erlaubt eben gerade nicht eine Exploration dessen, was dieser von sich aus in und durch seine(r) mehrsprachige(n) interlanguage leisten kann. Insbesondere aufgrund der starken Steuerung ist der sokratische Dialog nicht unumstritten: [D]ie Übertragbarkeit dieser philosophischen Zwiegespräche [der sokratischen Dialoge; StM] auf den Unterricht ist höchst problematisch (vgl. Steinig 1998), da die Gesprächspartner des Sokrates kaum Möglichkeiten bekommen, den Gesprächsverlauf mitzubestimmen. Die inhaltliche und formale Steuerung des Gesprächs lässt sich Sokrates nicht aus der Hand nehmen. (Steinig & Huneke 2011: 74-75) Die oben beschriebene Funktion des dialogue pédagogique, Lerner nach den Grundlagen der von ihnen aufgestellten (meta-)sprachlichen Hypothesen zu fragen (Stichwort: „Wie kommst du darauf? “; „Woher weißt du das? “ usw.), um das von ihnen herangezogene deklarative und/ oder prozedurale Wissen - vor allem auch für sie selbst zu ermitteln, ist von großer Bedeutung. In diesem Zusammenhang sei an den oben dargelegten Interkomprehensionsprozess der Fünftklässlerin erinnert, die zwar Übertragungsvorschläge anbietet, jedoch von sich aus nicht erläutert, wie sie auf ihre Lösun- 162 Zu den Datensätzen und Fallanalysen der vorliegenden Untersuchung vgl. Abschnitt II 6. <?page no="167"?> 4. Die Datenerhebungsverfahren und instrumentarien und ihre Triangulation 153 gen gekommen ist (auch Kolb 2007: 144-145 zu Grundschülern und Portfolioarbeit). Bezogen auf Rekonstruktionen der Interkomprehensionsprozesse auf der Grundlage der Produkte bzw. ‚Zwischenprodukte‘ (s.o.) sind ferner zwei Typen von Rekonstruktionen zu unterscheiden: Rekonstruktionen von Interkomprehensionsprozessen, die während des Interkomprehensionsereignisses gestützt durch die Lehrstrategie des dialogue pédagogique zum Zweck der Hypothesenuntersuchung erfolgten, und jene Rekonstruktionen, die erst nach dem Interkomprehensionsereignis, d.h. im Laufe der Analyse der (Transkriptionen der) Interkomprehensionsstunden entstanden. Sie unterscheiden sich von den Rekonstruktionen des erstgenannten Typs (selbstverständlich) insbesondere darin, dass sie sich der Möglichkeit eines Gesprächs mit dem Lerner entziehen. Indem in der Dokumentation der Longitudinalstudie konsequent alle Interpretationen zu den Transferprozessen des jungen Lerners mit den entsprechenden Zitaten aus den Interkomprehensionsstunden belegt werden (s.o. Abschnitt II 2.), wird es möglich sein, die beiden Typen von Rekonstruktionen zu unterscheiden. Das abschließende retrospektive Interview der Longitudinalstudie Die Longitudinalstudie schließt mit einem Interview ab, das „retrospektives Interview“ genannt wird und dessen Charakteristika und Ziele im Folgenden dargestellt werden. Zur Charakterisierung der eingesetzten Interviewform: Das retrospektive Interview im Rahmen der Longitudinalstudie wurde im Anschluss an die Interkomprehensionsstunden am Ende der Sommerferien 2010 (am 10. August) durchgeführt. Allein die zeitliche Distanz zu den Interkomprehensionsstunden, die unter anderem (s.u.) Gegenstand dieses Interviews sind, zeigt, dass der Begriff der „Retrospektion“ hier in einem sehr weiten Sinne als ein Zurückblicken auf die gesamte Interkomprehensionserfahrung (nicht auf einzelne Interkomprehensionsereignisse) verwendet wird. Er ist somit zu trennen von den introspektiven Methoden sowohl der „unmittelbaren“ als auch „verzögerten Retrospektion“, in der forschungsmethodologischen Literatur auch immediate retrospection (u.a. Gass & Mackey 2000: 50) und delayed recall (ebd.: 51) genannt. In Analogie hierzu kann auch das erneute Heranziehen der eingesetzten interkomprehensiven Texte und Interkomprehensionsaufgaben 163 in der Funktion einer Gesprächsgrundlage nur mit der genannten 163 Genauer gesagt handelte es sich hierbei um Kopien, da der Lerner die eingesetzten Texte und Materialien selbstverständlich behalten durfte und sollte (hierfür wurde ihm zu Beginn der Studie eine Mappe geschenkt). <?page no="168"?> 154 II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs Einschränkung als eine Form des stimulated recall (Gass & Mackey 2000: 37- 38, 2007: 54-55) betrachtet werden. Was die Fragestellungen und den Grad an Vorstrukturierung angeht, kann das Interview als ein halboffenes Leitfadeninterview im Sinne von Seliger & Shohamy (1989: 167; auch Friebertshäuser 1997; Flick 1999) bezeichnet werden. Die Erkenntnisziele des Interviews setzen sich aus zwei Teilen zusammen. Im ersten Teil, der sich schwerpunktmäßig auf den ‚regulären‘ Fremdsprachenunterricht bezieht, sollen folgende Aspekte angesprochen werden: Aktivitäten im ‚regulären‘ Fremdsprachenunterricht (Englisch und Französisch) das Lernen des Lernens im ‚regulären‘ Fremdsprachenunterricht (Englisch und Französisch) sowie persönliche Lernziele beim Fremdsprachenlernen. Für die Frage nach den Aktivitäten im ‚regulären‘ Englisch- und Französischunterricht wurden dem Lerner aus der Longitudinalstudie zwei geschlossene Fragen in schriftlicher Form vorgelegt, zu denen er auf einer sechsstufigen Likertskala die von ihm eingeschätzte Häufigkeit einer Aktivität im von ihm erhaltenen Fremdsprachenunterricht angeben sollte. Der Fragebogen sollte zur Reflexion über Aktivitäten im Fremdsprachenunterricht anregen; Ergänzungen waren möglich. Die Formulierungen der dort vorgegebenen Aktivitäten orientierten sich im Wortlaut zum Teil an den Angaben der niedersächsischen Sechstklässler aus den offenen Fragebögen 164 . Für den zweiten Teil wurden die eingesetzten Interkomprehensionsmaterialien erneut herangezogen. Die Aspekte, die im Zusammenhang mit diesen angesprochen werden sollten, waren folgende: eine Stellungnahme zu (den) interkomprehensiven Texten und Aufgaben sowie zu den behandelten inhaltlichen Themenbereichen nach den Kriterien der Interessantheit und des Schwierigkeitsempfindens, die Frage nach dem Nutzen der Interkomprehensionsaufgaben für das Lernen von Sprachen und gegebenenfalls eine Bitte um Verbesserungsvorschläge. Insbesondere zur Metakognition ist die zeitliche Dimension erneut zu diskutieren. So sind die Stellungnahmen des Lerners aufgrund der zeitlichen Distanz zur tatsächlichen Bearbeitung der Materialien (bei jenen aus der ersten Interkomprehensionsstunde fast ein ganzes Jahr) ‚nur‘ auf den Zeitpunkt des Interviews beziehbar. Umso wichtiger ist es, diese bei der Analyse mit den Befunden aus den Interkomprehensionsstunden selbst zu triangulieren. So können beispielsweise metakognitive und selbstbezogene Stellungnahmen des Lerners zu 164 Zu den konkreten Items siehe im empirischen Teil, Abschnitt III 2.13. <?page no="169"?> 4. Die Datenerhebungsverfahren und instrumentarien und ihre Triangulation 155 seinem Schwierigkeitsempfinden im Hinblick auf konkrete Materialien mit dessen tatsächlichen Leistungen in den jeweiligen Interkomprehensionsstunden verglichen werden. Auch Äußerungen des Lerners zu seinem Interesse an den eingesetzten Materialien können seinem Verhalten bzw. den lehrerseitigen Eindrücken von seinem Interesse aus den Stunden selbst gegenübergestellt werden. Hierbei ist zu beachten, dass die Stellungnahmen des Lerners aus dem Interview mit der Interpretation seiner Reaktion auf die Materialien und Aufgaben zum Zeitpunkt der Interkomprehensionsstunden verglichen werden und der Lerner in den Stunden selbst nicht explizit hierzu befragt wurde. Was die verschiedenen Typen von Triangulation anbelangt (vgl. Denzin 1989: 237f.; Flick 1999: 249ff.; Aguado & Riemer 2001: 247; Morkötter 2005: 108ff.), kann hier somit vor allem von einer between-method-Triangulation gesprochen werden. Vor dem Hintergrund der Untersuchung eines Gegenstands „zu verschiedenen Zeitpunkten oder anhand von Daten verschiedener Personen“ (Aguado & Riemer 2001: 247; meine Hervorhebung) können die Interkomprehensionsstunden als eine Form der Datentriangulation bezeichnet werden. Es ist bei der Auswertung und Analyse hier allerdings äußerste Vorsicht geboten, da die „zu verschiedenen Zeitpunkten“ (Aguado & Riemer ebd.), d.h. in den jeweiligen Interkomprehensionsstunden, erhobenen Daten, insbesondere aufgrund der Sprachenvielfalt nur bedingt unmittelbar aufeinander beziehbar sind, was bei der Datenanalyse selbstverständlich zu berücksichtigen ist. Aufgabenformate der Interkomprehensionsdidaktik als Mittel der Datenerhebung Im Folgenden werden in Anlehnung an Meißner (2004b, 2005b und 2011b) die interkomprehensionsdidaktischen Aufgabenformate, die in der vorliegenden Untersuchung zum Einsatz kamen, kurz vorgestellt. Grundlegende Kriterien bei der Materialgestaltung und Textauswahl wurden im vorangegangenen Teil I im Zusammenhang mit den Stichworten Authentizität und Themenorientierung, der Frage nach der Zielsprache früher Interkomprehension und der Rolle nicht-sprachlichen Vorwissens dargelegt. Es wurden folgende Aufgaben(formate) eingesetzt: Texte in englischer, französischer, italienischer und niederländischer Sprache eine Vorlage zur Erstellung der Hypothesengrammatik Niederländisch: Arbeitsblatt „Hypothesen zur holländischen Grammatik“ In dieser Tabelle kannst du deine Vermutungen über den Aufbau, den Wortschatz, die Formen und die Grammatik des Holländischen festhalten. Je mehr, desto besser! Die Analyse holländischer Texte verrät dir, wie das Holländische <?page no="170"?> 156 II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs funktioniert. Trage die von dir erkannten Strukturen und Regeln in das nachfolgende Raster ein. Meine Entdeckungen im holländischen Text Parallelen zu anderen Sprachen Bemerkungen Artikel (Geschlecht, Einzahl/ Mehrzahl, bestimmt/ unbestimmt) Substantive (Geschlecht, Einzahl/ Mehrzahl) Verben 165 (welche Zeit? ; welche Person? ) … Tab. 8: Hypothesengrammatik Die in der Hypothesengrammatik angeführten Wortbeispiele und die Kategorien (wie „Geschlecht“ oder „Zeit“) sollen dazu dienen, den Schülern die Aufgabe zu erleichtern, da davon ausgegangen wird, dass ihnen metasprachliche Termini wie „Possessivbegleiter“ nicht notwendigerweise bekannt sind oder sie hier unsicher sind. Die konkrete Gestaltung des Aufgabenformats der Hypothesengrammatik hängt selbstverständlich, wie bereits angesprochen (Abschnitt I 1.2), von der jeweiligen Zielgruppe ab (vgl. z.B. Bär 2009: 114). eine Vorlage zur Erstellung eines mehrsprachigen Wörterbuchs auf der Grundlage eines interkomprehensiven Textes mit der Zielsprache Italienisch: Italienisch Französisch / Latein Englisch Deutsch Weitere Sprachen Tab. 9: Mehrsprachiges Wörterbuch eine Hypothesengrammatik/ ein mehrsprachiges Wörterbuch kombiniert: Bei dieser Kombination werden auf der vertikalen Achse grammatische Kategorien wie Artikel, Verb oder Adjektiv vorgegeben (s. oben zur „Hypothesengrammatik“). Auf der horizontalen Achse umfasst das Arbeitsblatt neben einer Spalte für ein zielsprachliches (niederländisches) Wortbeispiel ebenfalls die 165 Die weiteren Einträge in der ersten Spalte sind: Adjektive, Personalpronomen, Possessiv begleiter, Präpositionen, Konjunktionen sowie eine freie Zeile für eigene Ergänzungen. <?page no="171"?> 4. Die Datenerhebungsverfahren und instrumentarien und ihre Triangulation 157 Spalten „französisches Beispiel“, „englisches Beispiel“, „Beispiele in weiteren Sprachen“ sowie „Beobachtungen, Bemerkungen“ 166 . Da Interkomprehension in der vorliegenden Untersuchung vor allem das Ziel einer Förderung von Sprachlernbewusstheit und -kompetenz verfolgt und nicht primär den schnellen Erwerb (rezeptiver) Kompetenzen in einer nahverwandten Zielsprache, ist dieses Arbeitsblatt zur Hypothesengrammatik mehrsprachig gestaltet 167 . lexikalische Serien in Gestalt eines „Wörterpuzzles“ (und „Wörtersalats“): Diese Aufgabe lehnt sich an das Aufgabenformat der lexikalischen Serien (Meißner 2004b: 86-89, 2005b, 2011b) an und wurde für die vorliegende Untersuchung im Hinblick auf das Alter und Vorwissen der Lerner modifiziert. Es gibt zwei Varianten: der „Wörtersalat“ und das „Wörterpuzzle“. Bei der Aufgabe des „Wörtersalates“ sind die Kinder aufgefordert, 24 Interlexeme in eine Tabelle mit den Sprachen (in dieser Reihenfolge): Französisch, Latein, Italienisch, Englisch, Niederländisch und Deutsch einzutragen. Auf der vertikalen Achse handelt es sich um sechs lexikalische Serien. Zur Erleichterung sind in der Tabelle pro Zeile drei Wörter (in einem Fall), zwei Wörter (in zwei Fällen) und ein Wort (in drei Fällen) bereits eingetragen. Die hinzuzufügenden Interlexeme stehen vermischt über der Tabelle. Die Aufgabe ist verglichen mit dem ‚traditionellen‘ Format der lexikalischen Serien - trotz der geringeren Gesamtanzahl an Wörtern (vgl. 132 Wörter bei Meißner 2004b: 86- 87) - insofern schwieriger, als ihr Ziel nicht ‚allein‘ ist, herauszufinden: „Quels mots vont ensemble? “ (ebd.: 86), sondern die Kinder ebenfalls bestimmen sollen, zu welcher Sprache sie jeweils gehören. Auch beim Aufgabenformat des „Wörterpuzzles“, das in der Longitudinalstudie eingesetzt wurde (vgl. Abschnitt III 2.5), sollen die Wörter sowohl einander als auch ‚ihren‘ Sprachen zugeordnet werden. Wohingegen beim „Wörtersalat“ einige Wörter vorgegeben sind, müssen bei der Aufgabe des „Wörterpuzzles“ alle interlingualen phonologischen Korrespondenzen selbst gefunden werden. Dies erfolgt - wie der Name sagt - in Form eines Puzzles mit insgesamt 80 Wortkärtchen. Sie umfassen ‚lediglich‘ vier verschiedene Sprachen, doch kommt in diesem Fall neben Französisch und Italienisch eine weitere romanische Sprache (Spanisch) hinzu. 166 Selbstverständlich ist mit jeder Vorlage für eine Hypothesengrammatik eine Bezugnah me auf „Parallelen zu anderen Sprachen“ (s.o.) intendiert, diese unterscheidet sich - an gesichts des jüngeren Alters des Lerners − lediglich dadurch, dass andere Sprachen explizit benannt werden. 167 Dieses Arbeitsblatt wurde in der Longitudinalstudie (s. Abschnitt III 2.) eingesetzt, die beiden vorangegangenen Vorlagen zur „Hypothesengrammatik“ und zum „mehrspra chigen Wörterbuch“ in Klasse 6 und 7 am niedersächsischen Gymnasium (s. Abschnitt III 3.). <?page no="172"?> 158 II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs „Wörterpuzzle: Sprachfamilien“: Bei diesem Wörterpuzzle müssen ebenfalls die Sprachen von den Lernern selbst gefunden werden. Da der Fokus dieser Aufgabe nicht auf einer Bewusstmachung interphonologischer Korrespondenzregeln beruht wie bei dem Aufgabenformat der lexikalischen Serien, sondern auf einem Erkennen (der Existenz) unterschiedlicher Sprachfamilien, wurde bei der Auswahl der Wortkärtchen auf interlinguale Ähnlichkeit innerhalb von Sprachfamilien und Divergenz zwischen Sprachfamilien geachtet 168 . Die Identifikation der Bedeutungen der Wörter - es handelt sich um die Tierbegriffe „Schlange“, „Fisch“, „Kuh“, „Bär“, und „Affe“ in den Sprachen Englisch und Niederländisch, Französisch und Italienisch sowie Polnisch 169 - wurde durch entsprechende Bildkärtchen erleichtert (die allerdings ebenfalls zugeordnet werden mussten). So ergab sich ein Puzzle aus 30 Kärtchen, das in den Klassen 6b und 7-N/ M zu Beginn der Interkomprehensionsreihe eingesetzt wurde: slang snake serpent serpente wąż usw. (s. Abschnitt III 3.2: „Wörterpuzzle: Sprachfamilien“). syntaktische Serien: das „Sätzepuzzle“: In Analogie zum Aufgabenformat der „lexikalischen Serien“ bzw. des „Wörterpuzzles“ wurde für die vorliegende Untersuchung jenes des „Sätzepuzzles“ entwickelt, das entsprechend als Aufgabe zu „syntaktischen Serien“ bezeichnet werden kann. Hierzu wurden drei Satztypen (Relativsätze, Konditionalsätze und Hypotaxe) aus (in z.T. etwas abgewandelter Form) Klein & Reissner (2006: 74-76) in den Sprachen Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch aufgeschrieben und für jedes einzelne Wort (nicht für die Syntagmen) wurde ein Wortkärtchen angefertigt: 168 Vgl. auch S. 22 und 23 in einer luxemburgischen Broschüre (Ouverture aux langues à l’école. Vers des compétences plurilingues et pluriculturelles.) mit einer Aufgabe zu den „jours de la semaine“, die allerdings nicht auf Sprachfamilien fokussiert und sich an luxemburgische Schüler richtet; abrufbar unter: http: / / www.men.public.lu/ cataloguepublications/ themes-pedagogiques/ enseignement-langues/ langues-ecole/ fr.pdf (21.06.16). 169 Ich bedanke mich bei Anna Schröder-Sura für ihre Hilfe bei den polnischen Begriffen. <?page no="173"?> 4. Die Datenerhebungsverfahren und instrumentarien und ihre Triangulation 159 Relativsätze (ebd.: 74): The train that goes to Paris has left Le train qui va à Paris est parti Il treno che va a Parigi è partito El tren que va a París ha salido Konditionalsätze (ebd.: 75): Mary is happy if she can sleep in the garden Marie est heureuse si elle peut dormir dans le jardin Maria è felice se può dormire nel giardino Maria está feliz si puede dormir en el jardín Hypotaxe (ebd.: 76): Peter says that he loves life Pierre dit qu’ il aime la vie Pietro dice che ama la vita Pedro dice que ama la vida Tab. 10: „Sätzepuzzle“ Der Fokus der Aufgabe liegt (selbstverständlich) auf dem Erkenntnisziel der syntaktischen Parallelität des Englischen und der romanischen Sprachen in Abweichung vom Deutschen. Im Vergleich zum Aufgabenformat der Interlinearübersetzung (vgl. Meißner 2004b, 2005b; Bär 2009) ist die Aufgabe des „Sätzepuzzles“ äußerst schwierig. Denn: Im Falle der Interlinearübersetzung werden Lernern zunächst „einzelne Sätze eines Textes in verschiedenen romanischen Sprachen interlinear […] dargeboten“ (Bär ebd.: 119), damit diese interlinguale syntaktische Entsprechungen erkennen (häufig auch durch eine weitere Erkenntniserleichterung, indem interlingual einander entsprechende Wörter oder Syntagmen untereinander gedruckt werden). Beim Aufgabenformat des „Sätzepuzzles“ hingegen müssen syntaktische Strukturen und deren interlinguale Entsprechungen vom Lerner selbst gefunden werden. Wie die Beispiele illustrieren, lässt das Aufgabenformat je nach Zielsetzung auch konkretere zielsprachliche Fokussierungen zu wie beispielsweise Kontraktionen von Präpositionen und dem bestimmten Artikel im Italienischen (s. Konditionalsätze) oder das Null-Subjekt im Italienischen und Spanischen (s. Konditionalsätze und Hypotaxe) oder auch brückensprachliche Sensibilisierungen wie der Wegfall des bestimmten Artikels bei abstrakten und nicht weiter bestimmten Nomen im Englischen (s. Hypotaxe). <?page no="174"?> 160 II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs ein „Sprachenquiz - Italienisch“ Zum Aufgabenformat des „Euro-Deutsch-Textes“: Das Aufgabenformat des „Euro-Deutsch-Textes“ (Meißner 2004b: 101; Bär 2009: 116; Schröder-Sura 2011: 342-343), dessen Ziel es ist, für Lerner die Rolle des deutschen Bildungswortschatzes als einen Lieferant von Transferbasen erfahrbar zu machen, wurde für die vorliegende Untersuchung von vornherein ausgeschlossen 170 . So werden Euro-Deutsch-Texte nicht in die Untersuchung einbezogen, da von der Annahme ausgegangen wird, dass der Fremdwortschatz bei Kindern im Alter von 10 bis 13 Jahren noch zu gering ist, als dass sie hiervon profitieren könnten (vgl. auch die Erfahrungen von Bär et al. 2005: 91 mit Achtklässlern). Was die Muttersprache(n) als Ressource angeht, ist hier vermutlich eher implizites prozedurales Wissen über top-down-Verfahren des Leseverstehens von Bedeutung (vgl. Abschnitt I 2.6). Es soll jedoch im Laufe der Analyse darauf geachtet werden, ob und wenn dies der Fall ist, auf welche Weise die jungen Lernenden Wissen aus ihrem Fremdwortschatz heranziehen (und ob somit gegebenenfalls ein „Euro-Deutsch-Text“ in modifizierter Form in dieser Altersgruppe einsetzbar wäre). Da die grundlegenden Merkmale interkomprehensionsdidaktischer Aufgabenformate bereits an anderer Stelle ausführlich dargestellt wurden (vgl. neben Meißner 2004b, 2005b auch Bär 2009: 113ff; vor allem Meißner 2011b), wurden die in der vorliegenden Untersuchung eingesetzten bzw. für diese entwickelten Aufgaben hier nur kurz skizziert. Die konkret eingesetzten Texte und Materialien werden zur besseren Nachvollziehbarkeit im empirischen Teil III bei der Darstellung der Fallstudien (d.h. die Longitudinalstudie (Abschnitt III 2.) und die am Gymnasium durchgeführten Studien (Abschnitt III 3.) 171 ) und Analyseergebnisse vorgestellt und begründet. Auf diese Weise können eigene Vorüberlegungen zu den Aufgaben unmittelbar mit den Interkomprehensionsprozessen und -resultaten der Kinder in Beziehung gesetzt werden. Auch wenn die Frage der Steuerung im Interkomprehensionsunterricht durch das Material und die Lehrperson nicht im Fokus der vorliegenden Untersuchung ist (speziell dazu: Schröder-Sura 2011), soll dennoch hierauf einge- 170 Ein Beispiel für den Anfang eines „Euro-Deutsch-Textes“ wäre (Bär ebd.): „Edukation per Sport Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union haben das Annum 2004 gemeinsam zum Annum der Edukation deklariert. Das Objektiv der Ini tiative ist die Sensibilisierung des Publikums in den Assoziationsstaaten der Europäi schen Union für die Importanz des Sports in der Edukation generell und die Förderung körperlicher Aktivitäten in der Schule durch Amplifikation des Schulsports speziell. Zu den primordialen Zielen des Europäischen Annums der Edukation durch Sport zählen: “ usw. 171 Der Begriff „Fall“ wird in dieser Untersuchung, wie erwähnt, weit gefasst und sowohl auf eine Einzelperson als auch auf eine Gruppe bezogen (vgl. auch Kelle & Kluge 1999: 83 und Merkens 2003: 294). <?page no="175"?> 5. Zur Transkription 161 gangen werden. Gerade weil die Perspektiven von Lehrerin und Forscherin in einer Person zusammenfallen (vgl. hierzu auch Abschnitt II 2.), ist es möglich, Gedankengänge bei der Gestaltung der Aufgaben mit Erfahrungen in der Erhebungssituation selbst und mit Überlegungen, die im Anschluss im Zuge der Transkription und Analyse der Daten entstanden sind, zu vergleichen. Solcherlei durch Introspektionen gewonnenen Vorteile sind durch Elizitationen anderer Art nicht zugänglich; andererseits verlangt diese Subjektivität die Berücksichtigung der kontextuellen Einbettung konkreter Erfahrungen und (daraus resultierender) Überlegungen. Entscheidend für die Reichweite der Aussagen ist stets die Nachvollziehbarkeit (vgl. Henrici 2001: 33ff.; zum Begriff der „reflektierten Subjektivität“ vgl. Steinke 1999: 231ff., 2003: 330f.; s. Abschnitt II 2.). 5. Zur Transkription 5. Zur Transkription Was die Transkription der aufgezeichneten Interkomprehensionsstunden, der Laut-Denk-Protokolle und des Interviews 172 anbetrifft, ist darauf hinzuweisen, dass Transkriptionen immer auch „eine erste Interpretation des Materials“ (Caspari et al. 2003: 502) und, verglichen mit den Aufzeichnungen selbst, immer eine weitere Reduktion der Wirklichkeit sind (vgl. Henrici 2001: 36). Das verwendete Transkriptionsverfahren lehnt sich an das gesprächsanalytische Transkriptionssystem von Selting et al. (1998) an. Allerdings wurde die Groß- und Kleinschreibung (ebd.: 95) beibehalten. In den Transkriptionen wird weitestgehend die Standardorthographie verwendet, die phonetische Lautschrift in jenen Fällen, in denen es um Graphem-Phonem-Korrespondenzen geht. Außerdem werden folgende Transkriptionszeichen verwendet: Kursivdruck = Wörter oder Textstücke in einer Fremdsprache 173 (…) = unverständlicher Redebeitrag (X) = Redebeitrag X wird vermutet, ist aber nicht sicher eh, ehm, äh, ähm = Verzögerungssignale (gefüllte Pausen) … = ungefüllte Pausen hm, mhm, ne 174 = Kontaktsignale und Verstärkungssignale […] = Auslassungen , = Wort- oder Satzabbruch 172 Die Verwendung desselben Transkriptionssystems für die verschiedenen Datensätze ist bewusst und erfolgt aus Gründen der Leserfreundlichkeit. 173 Im Falle interlingual identischer Schreibweise wird hier zusätzlich angegeben, welche Sprache jeweils gemeint ist (z.B. engl./ frz.: nation). 174 Das Kürzel „ne“ wurde hinzugenommen, da es in den Beiträgen der Lehrerin recht häu fig vorkommt (wie beispielsweise in: „Ja, genau, ne? Also was könnte das heißen? “) und es ansonsten mit „ne“ in der Bedeutung einer Verneinung verwechselt werden könnte. <?page no="176"?> 162 II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs Unterstreichung = Betonung Doppelklammer = Para- und Nonverbalia: Beschreibungen und Vermutungen (z.B. ((überlegt))) L = Lehrerin (und Forscherin) S = Schüler/ in T = Thomas (Pseudoym des Schülers aus der Longitudinalstudie) Anders als für die Schülerinnen und Schüler des niedersächsischen Gymnasiums wurde für den Lerner der Longitudinalstudie das Initial seines Pseudonyms bei der Wiedergabe von Ausschnitten aus dem transkribierten Datenmaterial verwendet. Nach einer Zusammenarbeit von insgesamt über einem Jahr ist es m.E. unangemessen, lediglich von „der Schüler …“ zu sprechen bzw. schreiben. Die Transkriptionen aller Datentypen wurden sprachlich etwas geglättet, wobei der Versuch gemacht wurde, Charakteristika der ‚Spreche‘ beizubehalten wie beispielsweise Wort- oder Satzabbrüche. Der Schriftsprache angepasste Äußerungen können - insbesondere bei jungen Lernern - sehr unnatürlich wirken. Wort- oder Satzabbrüche sind gerade auch für Thomas (bzw. für die Transkriptionen der ihn betreffenden Daten) sehr charakteristisch, wie folgendes Zitatbeispiel zeigt: „Äh, ich, äh, irgendwie, ähm, dieses, mit Team, also, äh, die Mannschaft mit, mit den meisten Toren …“ (vgl. Abschnitt III 2.2) Die Intensität, in der Merkmale der Sprechsprache wie beispielsweise Satzabbrüche, Redundanzen oder false starts auftreten, hängt selbstverständlich auch von den Charakteristika des transkribierten Datenmaterials selbst ab. Während die anderen Schüler seiner Altersgruppe in der vorliegenden Untersuchung sich im Klassenverband mit ihren Mitschülern befanden und ihre Äußerungen als Ergebnis eines Reflexionsprozesses zuvor im Stillen vorformulieren konnten, bevor sie sie im Plenum äußern, sind gerade sprechsprachliche Merkmale wie Abbrüche und false starts 175 Kennzeichen lauten Denkens. 175 Hierbei handelt es sich selbstverständlich nur um zwei Merkmale der ‚Spreche‘ neben einer Vielzahl von weiteren (vgl. z.B. Koch & Oesterreicher 2011: 41ff.). Zwar beziehen sich Koch & Oesterreicher (2011) auf gesprochene Sprache in der Romania, weisen je doch darauf hin, dass Erscheinungen wie unvollständige Sätze „in dem Sinne universal [sind], dass sie sich von den universalen Kommunikationsbedingungen und Versprach lichungsstrategien her begründen lassen, die das Nähesprechen fundieren […]“ (ebd.: 41). <?page no="177"?> 6. Zur Begründung der Gewichtung der einzelnen Datensätze 163 6. Zur Begründung der Gewichtung der einzelnen Datensätze 6. Zur Begründung der Gewichtung der einzelnen Datensätze Im vorliegenden Abschnitt soll begründet werden, auf welche Lernergruppen und Datensätze bei der Auswertung und Analyse sowie Dokumentation der Ergebnisse in dieser Arbeit der Schwerpunkt gelegt wird. Hierzu sei erneut an die unterschiedlichen Datensätze erinnert: eine 6. Klasse mit Schülerinnen und Schülern mit der Sprachenfolge: Französisch oder Latein ab Klasse 6 nach Englisch („Klasse 6b“) eine 7. Klasse mit sprachlichem Schwerpunkt und der Sprachenfolge: Spanisch ab Klasse 7 nach Französisch oder Latein ab Klasse 6 nach Englisch („Klasse 7-ling“) eine 7. Klasse mit mathematisch-naturwissenschaftlichem Schwerpunkt und der Sprachenfolge: Französisch oder Latein ab Klasse 6 nach Englisch („Klasse 7-N/ M“) eine jahrgangsübergreifende Lerngruppe (9 Schüler von Klasse 4 bis 7) und eine Longitudinalstudie (Klasse 5/ 6, Sprachenfolge: Französisch ab Klasse 5 (ein ‚Schnupperkurs‘ ab dem 2. Halbjahr) nach Englisch 176 ) Wie bereits in vorangegangenen Abschnitten angedeutet, liegt der Analyseschwerpunkt bei der Longitudinalstudie. Dies hat verschiedene Gründe: Gerade bei einer explorativ-interpretativen Studie (vgl. Abschnitt II 1.), die Interkomprehensionsprozesse und Metakognition zum Thema hat, erscheint es sinnvoll, diese exemplarisch an einem Einzelfall so genau wie möglich zu explorieren. Auf diese Weise kann der Frage nachgegangen werden, was in diesem jungen Alter überhaupt denkbar bzw. machbar ist (denn es liegen ja wie gesagt keine Arbeiten zu früher Interkomprehension vor). Es kann auch im vorliegenden Fall selbstverständlich nicht vom Einzelfall her generalisiert werden. Dennoch sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es sich bei dem Schüler (laut Vorgespräch mit den Eltern; s. Abschnitt III 2.) weder um einen sehr guten noch um einen äußerst motivierten Fremdsprachenlerner handelt. Schon allein aus dem Grund, dass Interkomprehension im Einklang mit grundlegenden kognitionspsychologischen Erklärungsmodellen vom Lernen steht (Rumelhart & Norman 1978; Norman 1982; Meißner 2007a, 2008a, 2011b), darf sich die Interkomprehensionsforschung nicht ausschließlich - und das tut sie ja auch nicht 177 - Ler- 176 Der Schüler aus der Longitudinalstudie gehört ebenfalls der jahrgangsübergreifenden Lerngruppe (s.o.) an. 177 Vgl. z.B. Schröder-Sura (2011) zur Umsetzung von Interkomprehensionsunterricht mit der Zielsprache Spanisch und Studierenden nicht sprachlicher Fächer. <?page no="178"?> 164 II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs nern widmen, die bereits mehrsprachig und/ oder äußerst fremdspracheninteressiert sind 178 . Ein weiteres Ziel der Longitudinalstudie besteht darin, einen detaillierten ,mikroskopischen‘ Einblick in die Sprach- und Transferhypothesen eines jungen Lerners zu geben. Ein solcher exemplarischer Blick ermöglicht ein besseres Verständnis von Interkomprehension zu Beginn der Sekundarstufe. 7. Zur Auswertung und Analyse der Daten 7. Zur Auswertung und Analyse der Daten Sequenzanalytisches Verfahren bei der Longitudinalstudie Die Sequenzanalyse (Südmersen 1983) ist ursprünglich für die Auswertung und Analyse narrativer Interviews entwickelt worden. In der Fremdsprachenforschung wurde sie unter anderem für problemzentrierte Interviews (Caspari 2003) und Leitfaden-, validierungsorientierte und retrospektive Interviews (Morkötter 2005) eingesetzt. Dass sie auch für die Auswertung und Analyse lernerseitiger interkomprehensiver Erschließungstätigkeit anwendbar ist, konnte Bär (2009) in seiner Untersuchung zeigen 179 . Die Sequenzanalyse ist ein Auswertungs- und Analyseverfahren, das sich am tatsächlichen Verlauf eines Interviewtextes bzw. im vorliegenden Fall: transkribierter Interkomprehensionsstunden orientiert. Hierbei bleiben „die ursprünglichen Äußerungszusammenhänge erhalten“ (Caspari 2001: 246). Der zu analysierende Text soll in seiner Gesamtheit betrachtet werden; Textteile herauszutrennen und nach bestimmten Kategorien oder Kriterien zu bündeln ist hier nicht vorgesehen (Südmersen 1983: 302f.; Bovet 1993: 43). 178 Aus diesem Grund wird bei den Lernergruppen (s. die Übersicht oben) der Schwerpunkt auf die sechste Klasse und die siebte Klasse mit mathematisch-naturwissenschaftlichem Profil und nicht auf die Profilklasse Sprachen gelegt, in der die Schüler bereits in der siebten Klasse mit einer dritten Fremdsprache, Spanisch, beginnen. Selbstverständlich soll hier nicht die klischeehafte Vorstellung zum Ausdruck gebracht werden, Interesse an Naturwissenschaften und Mathematik sei nicht mit Interesse an Fremdsprachen vereinbar, doch haben sich die Schüler dieser Klasse − anders als ihre Mitschüler aus der Klasse 7-ling − natürlich nicht ohne Grund gegen das sprachliche Profil und für den naturwissenschaftlich-mathematischen Schwerpunkt entschieden. Dennoch soll eingeräumt werden, dass selbstverständlich auch weitere (fachfremde) Gründe (etwa der Wunsch, in dieselbe Klasse zu kommen wie die beste Freundin etc.) bei der Wahl eine Rolle gespielt haben können. Zudem liegen aus der Klasse 7-ling aufgrund zeitlicher Dispositionen der Lehrperson, wie erwähnt, weniger Daten vor, deren Analyseergebnisse zu einem großen Teil bereits an anderer Stelle (Morkötter 2010; 2011a) publiziert wurden. 179 Neben der Analyse der Daten aus der Longitudinalstudie bezieht sich die sequenzanalytische Vorgehensweise auch auf die Unterrichtsaufzeichnungen und das analysierte Laut-Denk-Protokoll aus den Klassen 6b und 7-N/ M des Gymnasiums. <?page no="179"?> 7. Zur Auswertung und Analyse der Daten 165 Die theoretischen Grundlagen bei der Auswertung und Analyse der Daten sind in der vorliegenden Untersuchung wie in den Kapiteln zur theoretischen Verortung dargestellt: die differenzierte Transfertypologie der Interkomprehensionsdidaktik (Meißner 2002, 2007a; s. Abschnitt I 1.2), Kategorisierungen des Vorwissens, die auch nicht sprachliches, enzyklopädisches Wissen berücksichtigen (Doye 2005a, 2005b; Meißner 2007b; s. Abschnitt I 2.6) und die Differenzierung von metakognitivem Wissen in person knowledge, task knowledge und strategic knowledge im Modell von Metakognition nach Wenden (1999: 437; s. Abschnitt I 1.3) als Indikatoren eines Einsatzes (und einer möglichen Entwicklung) von metakognitivem Wissen (vgl. auch De Leeuw 1997: 92). Diese theoretischen Grundlagen und Kategorien haben für die Analyse der Interkomprehensionsstunden die Funktion eines Sensibilisierungsrasters, um die Interkomprehensions- und Transferprozesse des Lerners überhaupt detailliert erfassen zu können. Dies wäre mit traditionellen Transferkategorien, die zwischen erfolgreichem (‚positivem‘) und nicht erfolgreichem (‚negativem‘) Transfer unterscheiden, nicht möglich, da sie auf der Ebene des Produkts von Transferprozessen verbleiben. Was jedoch - insbesondere bei früher Interkomprehension - nicht sinnvoll (und m.E. auch nicht möglich) ist, ist, Lerneräußerungen vorschnell einer bestimmten (Transfer-)Kategorie zuzuordnen, ohne hierbei die konkreten Stel lungnahmen des Kindes im Auge zu behalten. Ein Grund ist hier selbstverständlich, dass junge Lerner auf metasprachlicher Ebene (noch) nicht zu Äußerungen wie: „Offenbar steht das Possessivpronomen im Italienischen nicht allein, und es kommt noch ein bestimmter Artikel davor. Wäre zu beobachten.“ (Zitat aus einem studentischen Portfolio; Meißner & Morkötter 2009: 63; Hervorhebung im Original) in der Lage sind. Ein weiterer Grund ist, dass Stellungnahmen von Lernern nicht immer eindeutig einer Transfer kategorie zugeordnet werden können. Beim obigen Beispiel aus dem Portfolio könnte es sich beispielsweise um einen intralingualen zielsprachlichen Transfer handeln (etwa, wenn bei ital. il suo problema der Artikel il aus einer anderen Textstelle wiedererkannt wird) oder auch um einen interlingualen Transfer (z.B. bei ital. la sua situazione aus dem Französischen: weiblicher bestimmter Artikel la + sa situation). Schließlich wäre eine deduktive Zuordnung von Äußerungen zu (Transfer-)Kategorien auch aus dem Grund problematisch, dass nicht immer lediglich eine einzige Wissensquelle herangezogen wird und vor allem: nicht soll. Vor dem Hintergrund der Befunde von Behr (2007: 137) und Bär (2009, passim), denen zufolge jüngere Schüler bei ihrer Erschließungstätigkeit nahezu ausschließlich auf interlinguale lexikalische Ähnlichkeiten im Schrift- oder Lautbild achten und andere Erschließungsstrategien kaum eine <?page no="180"?> 166 II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs Rolle spielen, ist gerade die Frage interessant, ob der Lerner unterschiedliche Wissensquellen miteinander kombiniert 180 , und wenn dies der Fall ist, um welche es sich hierbei genau handelt. Dies schließt eine Anwendung rein quantitativer Auswertungs- und Analyseverfahren, etwa in Form eines Auszählens von eingesetzten Strategien und herangezogenen Wissensquellen, aus. So weist auch Mayring (2008: 10) in Bezug auf die Praxis der Qualitativen Inhaltsanalyse auf: die Schwachpunkte einer rein quantitativen Inhaltsanalyse [hin], die vor allem Probleme mit dem Einfluss des Kontextes auf die jeweilige Textstelle hat. Technische Lösungen, wie die Aufstellung einer Liste der unterschiedlichen Textkontexte eines untersuchten Begriffs (Keyword-in-context-list) können das Problem dabei m.E. nur in seinem Ausmaß abschätzen, nicht aber beheben. Aus diesen Gründen wurde für die Analyse der Interkomprehensionsstunden ein sequenzanalytisches Verfahren gewählt, das sich an deren chronologischem Verlauf orientiert und die kontextuelle Einbettung von Lerneräußerungen berücksichtigt. Die Orientierung an einer chronologischen Abfolge bezieht sich sowohl auf Äußerungen innerhalb einer Interkomprehensionsstunde als auch auf die Reihenfolge der Stunden insgesamt, die sich über einen Zeitraum von etwa einem Jahr erstrecken. Hierdurch soll ermöglicht werden, Interkomprehensionsereignisse bzw. Analyseergebnisse aus den Stunden zueinander in Beziehung setzen zu können (s. hierzu auch Abschnitt II 8.). Im Gegensatz zu Rückgriffen auf bereits analysierte Texte bzw. Textteile sollen bei der Sequenzanalyse Vorgriffe vermieden werden, denn durch einen Verzicht auf Vorgriffe bei der Datenanalyse ist es eher möglich, die Perspektive der Befragten und in diesem Fall: des Lerners einzunehmen (Caspari 2001: 247). Zur Erleichterung eines Sich-Hineinversetzens in den Schüler und dessen (meta-)sprachliche und/ oder (meta-)kognitive Beobachtungen und Hypothesen wurde zudem erst nach Abschluss der Datenerhebungsphase, also nach dem retrospektiven Interview, mit der Auswertung und Analyse begonnen, um zeitliche Überlappungen von Datenanalyse- und Datenerhebungsphase zu vermeiden. Zur Sequenzierung: Bei der Analyse wurde die Einteilung der Transkriptionen der Interkomprehensionsstunden in Sequenzen, also in (thematische) Sinneinheiten, weitestgehend durch das (meta-)sprachliche Verhalten, die Beobachtungen und Äußerungen des Lerners bestimmt. In Abhängigkeit von u.a. der konkreten interkomprehensiven Zielsprache und dem verwendeten Material kann sich daher eine „Sequenz“ auf ein einzelnes Wort (oder Teile hiervon), auf ein Syntagma, einen ganzen Satz oder auch darüber hinaus beziehen. Die Länge der Sequenzen ist selbstverständlich auch vom Frageverhalten der Forscherin und den 180 Zur Relation von (Transfer-) Kategorien und Strategien s. Abschnitt II 8 und III 4.1. <?page no="181"?> 7. Zur Auswertung und Analyse der Daten 167 lernerseitigen Reaktionen hierauf abhängig (beispielsweise die Antwort „Weiß nicht“ im Gegensatz zum Zustandekommen eines längeren Dialogs). Bei der Bestimmung der Sequenzen kommen schließlich noch in sich geschlossene, thematisch abgegrenzte Passagen hinzu wie zum Beispiel die Frage nach der Vorgehensweise des Lerners beim Vokabellernen, die keinen unmittelbaren Bezug zum eingesetzten Interkomprehensionsmaterial oder zur Erschließungstätigkeit des Schülers haben. Bei der Analyse der Sequenzen wird das Augenmerk sowohl auf inhaltliche als auch (meta-)sprachliche und strukturelle Details gerichtet (Südmersen 1983: 299; Anführungszeichen im Original): Wir müssen uns in den Text „hineinbegeben“, dabei ist alles wichtig, was dort steht, auch die Wortwahl, (es ist z.B. ein Unterschied, ob die Erzählenden von ‚ich‘, ‚wir‘ - wer ist dieses ‚wir‘ - ‚man‘ sprechen etc.) evtl. Wiederholungen [...]. Um diese Schwierigkeit erfolgreich anzugehen, hat es sich als hilfreich erwiesen, eine festgesetzte Sequenz mehrfach intensiv zu lesen, dann einfach aufzuschreiben, was dort passiert, Zeile für Zeile. Sehr schnell werden wir merken, dass wir über eine bloße Inhaltsangabe hinauskommen, […]. Die gewählte Vorgehensweise folgt dem Prinzip des hermeneutischen Zirkels. Der eigene Verstehens- und Analyseprozess wird als ein Prozess des Hypothesenbildens, -prüfens, -korrigierens und -reformulierens verstanden (vgl. z.B. Riemer 1997: 92 und für die Interkomprehensionsforschung Bär 2009: 152). Wie bereits im Kontext der zugrunde gelegten Gütekriterien angesprochen, sollen meine Interpretationen zu den Beobachtungen und Stellungnahmen des Lerners sowie wahrgenommene Entsprechungen oder auch Widersprüche offengelegt werden. Bei dem Versuch, einzelne Interkomprehensionsereignisse - auch über den Rahmen einer Interkomprehensionsstunde hinaus - zueinander in Beziehung zu setzen, ist Vorsicht geboten, was die Vergleichbarkeit angeht. Abgesehen von situativen Faktoren (Müdigkeit, Konzentrationsfähigkeit, Jahreszeit 181 usw.) spielen hier insbesondere die unterschiedlichen Interkomprehensionsaufgaben sowie fokussierten Sprachen und vor allem Sprachfamilien eine Rolle. Innerhalb der interromanischen Interkomprehension bestimmt die Gruppe um InterRom (= intercomprensión en lenguas romances), der es um eine „propuesta didáctica para el desarrollo de estrategias de lectura plurilingüe” (Carullo et al. 2007: 10) in vier romanischen Sprachen (Französisch, Italienisch, 181 Diese (und weitere) situative Faktoren beziehen sich selbstverständlich nicht allein auf den Lerner, sondern ebenfalls auf die Forscherin. Als ein möglicher zeitlicher Einfluss faktor wird hier die Jahreszeit genannt, da es für die Interkomprehensionsstunden einen festen Termin gab (immer dienstags um 17 Uhr). Auf zeitliche Probleme wie beispiels weise eine bevorstehende Klassenarbeit (selbstverständlich nicht in den Fächern Franzö sisch oder Englisch) wurde Rücksicht genommen, indem eine Interkomprehensions stunde um eine Woche verschoben wurde. <?page no="182"?> 168 II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs Portugiesisch und Spanisch) geht, beispielsweise die Kriterien für eine Progression wie folgt: El orden en que [los textos; StM] son presentados responde en general a los siguientes criterios de progresión: en los comienzos, temas de interés general, vocabulario panrománico [central], enunciados de estructura canónica, estructura retórica transparente, para introducir luego, paulatinamente, textos más extensos, de estructura compleja y de contenido léxico y semántico que requieren un mayor esfuerzo inferencial de interpretación. (ebd.: 11; meine Hervorhebung) Wie diese Ausführungen zeigen, orientieren sich Carullo et al. (2007) in ihrer Bestimmung einer Progression an den Kriterien der Themenwahl (vgl. „temas de interés general”), der Vokabelauswahl („vocabulario panrománico [central]”) und der Textstruktur („enunciados de estructura canónica”). Diese haben in der vorliegenden Untersuchung zum Teil ihre Entsprechungen. So wurde (vgl. Abschnitt I 2.6) hinsichtlich der Textbzw. Themenauswahl für die Longitudinalstudie und die Datenerhebung in Niedersachsen das enzyklopädische, situative und Welt-Wissen der Kinder berücksichtigt sowie die Aktivierbarkeit auch deutsch- und englischsprachlicher Transferbasen. Eine Übertragung der genannten criterios de progresión bietet sich für die vorliegende Untersuchung jedoch insofern weniger an, als ihr Fokus im Gegensatz zu beispielsweise Interkomprehensionsmodellen wie „Spanisch nach Französisch“ 182 stärker auf einer Förderung und Exploration von savoir faire, savoir apprendre und Metakognition liegt. Daher und aufgrund der Vielfalt der eingesetzten Zielsprachen von Interkomprehension wäre hier ebenfalls ein Vergleich von Analyseergebnissen in Bezug auf verschieden(sprachig)e Texte nach der Argumentenanalyse im engeren Sinne (vgl. Meißner 2006: 271) weniger nahe liegend 183 . Umso wichtiger ist es, wie in diesem Abschnitt dargelegt, die kontextuelle Einbettung des Strategieeinsatzes und der Interkomprehensionsleistungen zu berücksichtigen, die in Abhängigkeit von jeweils fokussierter Zielsprache, Textinhalten und -sorten sowie vom diesbezüglichen sprachlichen und enzyklopädischen Vorwissen stark variieren können. Bevor sich das nächste Kapitel der Auswahl des analysierten Datenmaterials für die Dokumentation der longitudinalen Einzelfallstudie widmet, wird im 182 Vgl. z.B. das Projekt zu Interkomprehensionsunterricht im beginnenden Spanischunter richt in einer saarländischen Jahrgangsstufe 8 (Bär et al. 2005: 84), in dem es heißt: „Das primäre sprachliche Lernziel war die Entwicklung von Lesekompetenz in der Ziel sprache Spanisch auf dem Niveau der Stufe B1 des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens“ (ebd.: 87). 183 Bei der Argumentenanalyse, die vor allem das semantische Erfassen eines Textes misst, werden Interkomprehensionsleistungen berechnet und in Form von Prozent- oder absoluten Zahlen erschlossener Argumente in Relation zur Gesamtanzahl angegeben. <?page no="183"?> 7. Zur Auswertung und Analyse der Daten 169 Folgenden die Vorgehensweise bei der Auswertung und Analyse der Fragebögen I und II dargelegt. Die Auswertung und Analyse der Fragebögen Bei der Auswertung und Analyse der Fragebögen I und II wurden die Schüleräußerungen zu den einzelnen Fragestellungen lerngruppenbezogen zusammengefasst. Auch hier wurde dabei darauf Acht gegeben, die Stellungnahmen nicht vorschnell einer bestimmten Kategorie zuzuordnen, um einen Einblick in die Vorlieben und Abneigungen, Fähigkeiten und Schwierigkeiten aus einer Lernerperspektive zu erhalten. Numerische Zusammenfassungen (im Sinne von: „Sieben Schüler sind der Ansicht, dass …“) wurden nur im Falle einer eindeutigen Zuordenbarkeit einer Stellungnahme zu einer bestimmten Subkategorie vorgenommen (wie beispielsweise bei dem (bekannten und erwartbaren) Argument, dass Latein eine ‚tote‘ Sprache ist, für die Wahl des Französischen als zweiter Fremdsprache). Dass auch bei der Auswertung und Analyse der Fragebögen sehr vorsichtig mit allzu schnellen (Sub-) Kategorisierungen umgegangen werden muss bzw. diese nicht immer möglich sind, lässt sich exemplarisch an folgenden Stellungnahmen bzw. Fällen illustrieren: In einer Stellungnahme wird mehr als ein Grund (hier für die Sprachenwahl) genannt: „Für Französisch, weil ich keine tote Sprache lernen wollte und weil ich nicht so gut in Sprachen war.“ 184 Ein Kriterium wird von nur einem Schüler einer Lerngruppe angesprochen (hier: jenes der Sozialform im Kontext der Frage nach Vorlieben im Fremdsprachenunterricht), so dass keine Subkategorie gebildet werden kann: „Man kann sehr viel zu der Sprache und im Unterricht lernen, was später einmal nützlich sein kann. Latein kann nur schwer sein, weil es viele Möglichkeiten gibt aber nicht alle richtig sind. Am meißten Spaß macht mir die Partnerarbeit.“ Es wird das Argument einer anderen Person zitiert: „Französisch: Mir wurde gesagt das: Wer in Deutsch nicht gut ist wird in Latein nicht besser sein. Außerdem spricht niemand mehr Latein und meine Mutter kann Frz.“ 184 Auf inhaltlicher Ebene ist diese Äußerung interessant, wird doch in der Regel die (vermeintliche) Feststellung, „nicht so gut in Sprachen“ zu sein, häufig zur Wahl des Lateinischen angeführt (aufgrund von dessen Reduktion der Kompetenzen auf schrift liche Rezeption), doch soll an dieser Stelle hierauf nicht weiter eingegangen werden (s. Abschnitt III 3.3). <?page no="184"?> 170 II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs Aus dem Zitat des Siebtklässlers geht weder hervor, von wem der ‚Ratschlag‘: „Wer in Deutsch nicht gut ist wird in Latein nicht besser sein.“ stammt (vgl. die Passivkonstruktion: „Mir wurde gesagt …“), noch wie er selbst hierüber denkt 185 . So wurden bei der Analyse der Fragebögen zwar Subkategorien verwendet (wie beispielsweise: „der Einfluss des Umfeldes“ im Falle der Äußerung: „meine Mutter kann Frz.“ (s.o.)). Diese haben jedoch lediglich die Funktion, die Schüleräußerungen aus einer Lerngruppe zu strukturieren und ein übersichtlicheres Gesamtbild entstehen zu lassen. Die Vorgehensweise, Textbelege anzuführen bzw. in diesem Kontext besser: Originalzitate aus den Fragebögen beizubehalten 186 , wurde auch hier verfolgt. Hinzu kommt auch in diesem Kontext das Erkenntnisinteresse, auf welche Weise die Schüler ihre (meta)kognitiven und (meta)sprachlichen Beobachtungen und ihre Ansichten verbalisieren. Bei der Auswertung und Analyse der Fragebögen II wurde ebenso verfahren wie hier für die Fragebögen I geschildert. Lernerdaten auf individueller Ebene: Neben der lerngruppenbezogenen Auswertung und Analyse wurde ebenfalls der Versuch gemacht, Daten zu einer Schülerin bzw. einem Schüler auf individueller Ebene zueinander in Beziehung zu setzen. Dies betrifft sowohl Antworten eines individuellen Lerners innerhalb der Fragebögen II und I als auch Inbeziehungsetzungen von Äußerungen aus den Fragebögen II zu Daten aus den Interkomprehensionsstunden und den Fragebögen I. So wurde beispielsweise bei Stellungnahmen wie folgende aus dem Fragebogen II, in der sich eine Schülerin zur Hypothesengrammatik äußert: „Ich fand die Übungen mit der Tabelle (Präpositionen, …) schwer weil das nicht mein Ding ist.“ der Versuch gemacht diese Selbsteinschätzung („nicht mein Ding“) zu Interkomprehensionsleistungen aus den Stunden und zu im Fragebogen I (gegebenenfalls) geäußertem Schwierigkeitsempfinden in Beziehung zu setzen. Auch in Fällen, in denen Lerner beispielsweise zu den Fragen, was sie noch gerne über Sprachen und über das Sprachenlernen wissen möchten, einen konkreten Bereich angesprochen haben wie: 185 In diesem Zusammenhang sei an das Zitat von Südmersen (1983: 299) erinnert: „Wir müssen uns in den Text “hineinbegeben“, dabei ist alles wichtig, was dort steht, auch die Wortwahl, (es ist z.B. ein Unterschied, ob die Erzählenden von ‚ich‘, ‚wir‘ - wer ist dieses ‚wir‘ - ‚man‘ sprechen etc.)“. 186 Wie die hier wiedergegebenen Zitate verdeutlichen, werden die Lerneräußerungen stets im Originalwortlaut aus den Fragebögen wiedergegeben einschließlich vorhandener ‚normsprachlicher‘ Abweichungen in beispielsweise Orthographie oder Interpunktion. Auch von den Schülern verwendete Zeichen wie Pfeile oder Smileys werden mit auf genommen. <?page no="185"?> 8. Zur Auswahl des Datenmaterials für die Dokumentation der Einzelfallstudie 171 „Wie man die Aussprache am besten lernen kann.“ wurde nach Bezügen in den Stunden und im Fragebogen I gesucht. 8. Zur Auswahl des analysierten Datenmaterials für die Dokumentation der longitudinalen Einzelfallstudie 8. Zur Auswahl des Datenmaterials für die Dokumentation der Einzelfallstudie Eine komplette Dokumentation aller Analyseergebnisse von allen Interkomprehensionsstunden würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, insbesondere im Falle einer sequenzanalytischen Herangehensweise (Südmersen 1983), die die kontextuelle Einbettung interpretierter Aussagen berücksichtigt. Die Auswahl erfolgte auf der Grundlage der Fragestellung, inwieweit die Analyse der Interkomprehensionsstunden Erkenntnisse über frühe Interkomprehension liefert, indem sich (Indikatoren für) Strategieeinsatz und Metakognition nachweisen lassen 187 . Die mehrsprachige interlanguage ist sowohl systematisch als auch insbesondere dynamisch und wird mit jeder neuen Sprachhypothese fortgeschrieben und verändert. Zudem und für die vorliegende Untersuchung von besonderer Bedeutung schließt sie auch die Ebene lernerseitiger Bewusstheit und Kontrolle über Verarbeitungs- und Transferprozesse mit ein (vgl. De Angelis & Selinker 2001 und den Moniteur Didactique Plurilingue; Meißner 2004b: 27; s. Abschnitt I 1.2) 188 . Aus diesem Grund wurde ebenfalls besonderes Augenmerk auf die Frage gelegt, inwieweit sich Analyseergebnisse aus den Stunden hinsichtlich eines Einsatzes von Strategien und Metakognition zueinander in Beziehung setzen lassen. 187 Inhalt der nicht ausgewerteten Interkomprehensionsstunden sind folgende Themen bzw. Aktivitäten: die Aussprache im Französischen, ein gemeinsames Surfen auf der französischsprachigen Internetseite www.momes.net und ein weiteres Wörterpuzzle mit den Sprachen Deutsch, Englisch und Französisch zu Fußballbegriffen. Das Wörterpuzzle konnte schlichtweg aus dem Grund nicht ausgewertet werden, dass der Lerner mit den Begriffen derart vertraut war, dass keine Erschließungsleistungen mehr notwendig wa ren. Angesichts der zeitlichen Einbettung dieser Interkomprehensionsstunde in die Fuß ballweltmeisterschaft 2010 hätte diese Vertrautheit zugegebenermaßen auch antizipiert werden können. So hat der Lerner berichtet, dass sie sich auch in der Schule mit den Fußballbegriffen befasst haben. 188 Der Einbezug lernerseitiger Bewusstheit und Kontrolle über Verarbeitungs- und Trans ferprozesse ist für diese Untersuchung aus dem Grund von besonderer Bedeutung, dass durch die Vielzahl unterschiedlicher interkomprehensiver Zielsprachen (Englisch, Fran zösisch, Italienisch, Niederländisch und Spanisch) die Interkomprehensionsstunden vor allem auf der Basis von strategischem (und metakognitivem) Wissen miteinander ver glichen werden können. Sie weicht insofern, wie erwähnt, von Untersuchungen ab, die auf eine konkrete Zielsprache abzielen, bei denen die Fortschreibung der eigenen durch die Lerner eine größere Rolle spielt. <?page no="186"?> 172 II. Entwicklung des forschungsmethodischen Designs Es ist konkret zu fragen: Welche Strategien werden vom Lerner aus eigener Initiative (ohne Impulse durch die Lehrperson) eingesetzt (s.o. zum dialogue pédagogique; Abschnitt II 4.)? Welche Strategien werden wiederholt eingesetzt? Welche Strategien werden kombiniert eingesetzt? Diese Fragestellung gründet sich auch auf den Erfahrungen aus der Klasse 7ling, dass junge Lerner zwar durchaus in der Lage sind, verschiedene Strategien wie eine Betrachtung morphologischer Aspekte oder kontextueller Hinweise einzusetzen, es ihnen jedoch offenbar schwer fällt, (diese) Strategien miteinander zu kombinieren (vgl. Morkötter 2010, 2011a 189 ). Werden die Strategien zielgerichtet oder planlos (Raten) eingesetzt? Werden sie aus vorliegenden Sprachdaten oder Interkomprehensionserfahrungen entwickelt? Lässt sich eine Weiterentwicklung von strategischem Wissen feststellen (zum Beispiel in Form einer Erweiterung der Anwendungsbreite oder einer genaueren Abstimmung auf Anwendungsbedingungen (tuning; vgl. Rumelhart & Norman 1978))? In welchen Bereichen braucht der Lerner Unterstützung und in welchen nicht? Bei dieser Frage ist nach den Bezirken Sprachwissen wie Wortschatzsegmenten und Syntax und Sprachlernkompetenz (Sprachlernerfahrungen usw.) zu differenzieren. 190 Es sei an dieser Stelle erneut hervorgehoben, dass die Vergleichbarkeit der einzelnen Sitzungen zueinander, etwa in Bezug auf das eingesetzte Interkomprehensionsmaterial, die unterschiedlichen Sprachen(familien) der Interkomprehension, situative Faktoren wie Müdigkeit etc. eingeschränkt ist und daher Bezugnahmen mit äußerster Vorsicht zu behandeln sind. Aus diesem Grund ist es hier gerade notwendig, wie bereits angesprochen, dass der interpretierende Forscher bei dem Herstellen eben dieser (vermuteten) Relationen die situative Einbettung der verbalen Daten mit berücksichtigt und in seiner Dokumentation deutlich macht. 189 Hierbei handelte es sich um die Partnerarbeit zweier Schülerinnen (vgl. ebd.; zu „Laut- Denk-Protokollen in Partnerarbeit“ s. Abschnitt II 4.), doch die Tatsache, dass es ihnen zum Teil auch zu zweit nicht gelang, verschiedene Strategien zugleich zu betrachten, lässt diese Frage für einen einzelnen Lerner noch dringlicher erscheinen. 190 Die hier aufgeführten Fragestellungen beziehen sich ebenso auf die Daten aus Klasse 6b und 7-N/ M mit der Ausnahme, dass sie angesichts des Erhebungszeitraumes von zwei Wochen nur eingeschränkt Aussagen über mögliche Entwicklungen erlauben. <?page no="187"?> 8. Zur Auswahl des Datenmaterials für die Dokumentation der Einzelfallstudie 173 Zur Relation von Strategien und (Transfer-) Kategorien: Wie bereits dargelegt, bilden die differenzierte Transfertypik der Interkomprehensionsdidaktik, Kategorien des enzyklopädischen (nicht sprachlichen) Wissens und das Modell von Metakognition nach Wenden (1998, 1999) die theoretischen Grundlagen für die Auswertung und Analyse der Daten. Dennoch beziehen sich die Forschungsfragen auf den Einsatz von Strategien. Die Grundlagen, insbesondere die Transfertypik, sind unerlässliche Instrumente zur genaueren Bestimmung von Transferprozessen. Doch sind die unterschiedenen Transferprozesse selbstverständlich nicht deckungsgleich mit dem Begriff der „Strategie“. So ist ein Identifikationstransfer beispielsweise durch eine Vielzahl unterschiedlicher Strategien erreichbar wie etwa durch die Dekomposition eines Wortes in seine Morpheme, durch einen interlingualen Vergleich mit vorhandenem sprachlichen Vorwissen oder durch Erschließung durch den Kontext usw. Gerade weil es um Fragestellungen geht wie jener nach der Zielgerichtetheit von Strategieeinsatz 191 und jene nach der Fähigkeit des Lerners, Strategien miteinander zu kombinieren, müssen die oben angeführten Transferkategorien vor dem Hintergrund des manifestierten strategischen und metakognitiven Wissens reflektiert werden. Im nun folgenden Teil III der vorliegenden Untersuchung werden die Ergebnisse der Auswertung und Analyse der Daten ausführlich dokumentiert. Die Abfolge orientiert sich an der in Abschnitt II 6. dargelegten Schwerpunktsetzung sowie am Alter der Lerner. Im Anschluss an die Darlegung einer Interkomprehensionsstunde aus der jahrgangsübergreifenden Lernergruppe (Abschnitt III 1.) erfolgt im Kapitel III 2. die Dokumentation und Analyse der Longitudinalstudie. Im dritten Abschnitt werden die am niedersächsischen Gymnasium erhobenen Daten dargelegt und analysiert (Klasse 6b in Abschnitt III 3.2 und Klasse 7-N/ M in Abschnitt III 3.3). Teil III schließt mit einer Bündelung der Ergebnisse und einer Diskussion über pädagogische und Forschungs-Perspektiven (Abschnitt III 4.). 191 So bietet sich bei einem französischen Verb wie refaire eher eine Dekomposition des Wortes an als eine Suche nach beispielsweise englischen Transferbasen, bei frz. retourner hingegen wäre beides zielführend (vgl. engl. to return) usw. <?page no="189"?> III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven 1. Der Interkomprehensionsunterricht in der jahrgangsübergreifenden Gruppe 1. Der Interkomprehensionsunterricht in der jahrgangsübergreifenden Gruppe Die Interkomprehensionsstunden in der jahrgangsübergreifenden Lerngruppe wurden an der Justus-Liebig-Universität in Gießen im Zeitraum vom 23. Juni bis 9. Juli 2009 durchgeführt. Es handelt sich insgesamt um neun Schüler aus den Klassenstufen 4 bis 7. Nach einer ersten gemeinsamen Interkomprehensionsstunde haben sich die Schüler in zwei Gruppen aufgeteilt: Gruppe A: zwei Schüler aus Jahrgangsstufe 4, zwei aus Klasse 5 und ein Lerner aus Klasse 6 sowie Gruppe B: drei Schüler aus Jahrgangsstufe 6 und ein Lerner aus Klasse 7. Die Aufteilung orientierte sich am Alter sowie an den zeitlichen Dispositionen der Kinder (bzw. von deren Eltern, die sie gebracht und abgeholt haben). Der Interkomprehensionsunterricht umfasste insgesamt pro Gruppe sechs Stunden à 45 Minuten. Es wurden (in Gruppe A; s.u.) folgende Themen bzw. Materialien behandelt: Kindervakantie Duitsland Uw hond Hamsters, dogs, turtles „Wie ich Wörter erschließen kann“ „Sprachen vergleichen - Silbermond“ „Wörtersalat“ „Michael Jackson“ (interkomprehensive Texte in englischer und französischer Sprache aus Anlass seines Todes) ein niederländisch-englischer Paralleltext: Nederlands-Dutch 192 Im Folgenden wird die Analyse der ersten gemeinsamen Interkomprehensionsstunde zu einem niederländischen Text über Ferien in Deutschland, Kindervakantie Duitsland (s.u.), dargelegt. Da, wie in Abschnitt II 6. begründet, die Longitudinalstudie den Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit bildet und der Lerner aus der longitudinalen Untersuchung einer der Schüler aus der jahr- 192 Es handelt sich um eine Variante des Aufgabenformates „Paralleltext“ (s. z.B. Bär 2009: 119-120). Der niederländische und englische Text sind hier nebeneinander gedruckt. Der englische Text enthält Lücken, in denen zum einen die englischen Entsprechungen für im Niederländischen opake Formen wie taal = engl. language eingetragen werden sollen, und zum anderen den Kindern ein Produktionstransfer abverlangt wird wie im Falle von z.B.: sinds since, groepen groups. Eine Präsentation und Diskussion aller erstellten Aufgaben(formate) würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. <?page no="190"?> 176 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven gangsübergreifenden Gruppe war (einer der Fünftklässler aus Gruppe A), soll auf die weiteren fünf Interkomprehensionsstunden im Laufe der Longitudinalstudie eingegangen werden, insofern sie hierzu in Relation gesetzt werden können, d.h. für deren Befunde von Bedeutung sind. Stundenprotokoll (23.06.2009) 193 : Grundschulunterricht und Fremdsprachenlernen: Zu Beginn der Interkomprehensionsstunde schildern die Kinder zunächst ihre Erfahrungen aus dem Grundschulunterricht und mit Fremdsprachenlernen allgemein nach einer kurzen Vorstellungsrunde. Eine Schülerin, Silke, erzählt von einem Spiel mit Farben und Geburtstagen. Thomas 194 erwähnt das bekannte Spiel „Simon says“ (Total Physical Response, zu Kritik an diesem Ansatz: Mertens 2007: 64). Sowohl Silke als auch Thomas sagen, dass diese Spiele nach wie vor im Unterricht durchgeführt werden. Andreas, der Älteste unter den Lernern und ein Latein lernender Schüler (Klasse 7; s.o.) weist darauf hin, dass im Lateinischen viele Wörter ähnlich seien wie im Deutschen, so dass man hier Einiges ableiten könne. Auf die Frage nach Ähnlichkeiten macht Thomas darauf aufmerksam, dass man französische Wörter wie baguette auch in Deutschland benutze. Daraufhin werden die Kinder nach den Wörtern für éléphant und tigre im Deutschen und Englischen gefragt, was sie richtig beantworten können. Silke erwähnt, dass sich ihre Klasse in der Grundschule thematisch mit Tieren und Farben beschäftigt habe und sie es schwierig finde, dass dort überhaupt nicht geschrieben wurde, sondern nur gesprochen. Sie habe den Beginn des Schreibens in der Sekundarstufe als sehr schwierig empfunden. Thomas hingegen berichtet, dass seit dem zweiten Halbjahr des dritten Schuljahres in seiner damaligen Grundschulklasse nicht nur die Schrift eingeführt wurde, sondern die Schüler bereits ein Vokabelheft führen mussten. Dies ist ein anschauliches Beispiel für die zum Erhebungszeitpunkt und nach wie vor gegebene Heterogenität in der Gestaltung und Konzeption grundschulischen Fremdsprachenunterrichts. Hierbei ist selbstverständlich das unterschiedliche Alter der Schüler und somit die (zum Teil gegebene) zeitliche Distanz zum grundschulischen Fremdsprachenunterricht, auch im Hinblick auf deren Erinnerung(svermögen), zu berücksichtigen. 193 Da diese Interkomprehensionsstunde im Gegensatz zu den Stunden der Longitudinal studie nicht aufgezeichnet wurde, liegen hier lediglich das Tafelbild und Notizen aus der Stunde sowie ein Stundenprotokoll vor, das unmittelbar im Anschluss an die Interkom prehensionsstunde geschrieben wurde. 194 Bei allen in der vorliegenden Untersuchung verwendeten Namen handelt es sich um Pseudonyme. Thomas ist der Lerner aus der Longitudinalstudie (vgl. Abschnitt II 5. zur Transkription). <?page no="191"?> 1. Der Interkomprehensionsunterricht in der jahrgangsübergreifenden Gruppe 177 Der interkomprehensive Text: Kindervakantie Duitsland 195 : Kindervakantie Duitsland Als vakantieland heeft Duitsland dan ook veel variëteit te bieden. Het is een ideaal land voor een leuke kindervakantie. Duitsland biedt veel mogelijkheden om fijn te kamperen, of om te verblijven in een van de vele vakantieparken. Wandelliefhebbers zijn ook in Duitsland op de juiste plaats. De prachtige natuur, en voornamelijk het berggebied in het Zuiden van Duitsland bieden perfecte wandelmogelijkheden. U kunt natuurlijk ook een rondreis maken door Duitsland. Tijdens een rondreis leert u het land helemaal goed kennen. Het is goed mogelijk om de rondreis te combineren met een wandelvakantie. De verschillende grote steden bieden een prachtige mogelijkheid voor een leuke stedentrip. U bent binnen een dag in alle grote steden van Duitsland. Der Text Kindervakantie Duitsland wird zunächst von der Lehrerin vorgelesen, ohne dass die Kinder das Schriftbild vor sich haben, um ihnen einen Eindruck vom Klangbild der Zielsprache zu verschaffen. Etwa die Hälfte erkennt auf Anhieb die Zielsprache als Niederländisch. Im Anschluss erhalten die Kinder den Text und sie werden ermutigt, nach Ähnlichkeiten im Holländischen und anderen Sprachen zu suchen. Sie nennen zunächst das Wort Duitsland aus der Überschrift, das sie als „Deutschland“ erkennen, und den ersten Teil des Kompositums Kindervakantie, das sie als deutsch „Kinder“ identifizieren 196 . Daraufhin betont die Forscherin, dass das Zerlegen von Wörtern in ihre Bestandteile eine wichtige Strategie sei, um deren Bedeutung auf die Schliche zu kommen, weil man - wie im Falle von Kindervakantie - oft Teile von Wörtern verstehen kann. Obwohl einige der Kinder bereits Französisch lernen (so auch Thomas, der seit dem 2. Halbjahr der fünften Klasse an einem ‚Schnupperkurs‘ teilnimmt), erkennen sie in niederländisch vakantie nicht die französische Transferbasis vacances. 195 http: / / www.vakantiebinneneuropa.nl/ kindervakantie-duitsland.php (01.06.09). Der Einheitlichkeit wegen werden im Folgenden die interkomprehensiven Texte, die in den Fließtext integriert sind, wie andere Zitate eingerückt und (da fremdsprachlich; Die Texte, die die Kinder erhalten haben, waren selbstverständlich größer gedruckt, und die Materialien enthielten Bildmaterial sowie (im Falle der in Klasse 6b und 7--N/ M) Linien zum Schreiben. Textbegleitendes Bildmaterial wird nur wiedergegeben, wenn es bei Interkomprehensionsprozessen eine Rolle gespielt hat, d.h. hierauf Bezug genommen wurde (mit Ausnahme des hier vorliegenden Textes; s. unten). 196 Die niederländische Pluralform für kind lautet kinderen (d.h. kinder kommt in Kompo sita vor; vgl. auch den Satz aus dem Folgetext über Haustiere: Kinderen en honden kunnen elkaars beste vrienden zijn.), doch geht es hier um die Fähigkeit der Lerner, Wörter in deren Bestandteile zerlegen zu können. <?page no="192"?> 178 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Thomas schlägt allerdings für vakantie die deutsche Übertragung „Freiheit“ vor und stützt seine Hypothese mit dem Bild eines lachenden Kindes, das auf dem Arbeitsblatt unter dem Text abgedruckt ist. Des Weiteren erkennt Jonas rondreis als deutsch „Rundreise“, was wie im Falle von Duitsland und Kinder auf die Nutzung interlingualer Ähnlichkeiten des Niederländischen und Deutschen auf Sprachformebene hinweist, so auch prachtige natuur als „prächtige Natur“. Auf die Frage nach Beobachtungen zur niederländischen Schreibweise gibt Leon, einer der beiden Viertklässler, an, dass natuur im Holländischen mit doppeltem „u“ geschrieben werde, die Schreibweise aber ansonsten gleich sei. Nach weiteren Unterschieden zur deutschen Schreibweise gefragt, antworten die Kinder, dass das Wort im Niederländischen klein geschrieben werde. Nach einem weiteren Nachfragen stellen sie die Kleinschreibung von Substantiven auch im Englischen fest. Heike fügt das englische Wort nature hinzu. Bei dem Syntagma perfecte wandelmogelijkheden erkennen sie perfecte als deutsch: „perfekt“. Zudem leisten die Kinder hier von sich aus einen intratextuellen Transfer, indem sie die zuvor erarbeitete Strategie des Zerteilens eines Wortes in seine einzelnen Bestanteile nun auf ein anderes Wort übertragen und wandelmogelijkheden in wandel und mogelijkheden zerlegen. Wandel übertragen sie mit „Wandern“. Auch der zweite Teil des Kompositums, mogelijkheden, wird auf Nachfragen hin als „Möglichkeiten“ erkannt. Die Kinder sind darüber hinaus in der Lage, das dazugehörige Adjektiv, mogelijk, das zwei Zeilen weiter im Text vorkommt (s.o.), zu finden. Zu einem späteren Zeitpunkt der Stunde nehmen die Kinder wiederum auf ein zusammengesetztes Wort Bezug: wandelvakantie, und erkennen, dass hier das Wort vakantie aus der Überschrift und das von ihnen als „Wandern“ identifizierte wandel zu einem neuen Wort zusammengesetzt sind: Het is goed mogelijk om de rondreis te combineren met een wandelvakantie. Sie erkennen im niederländischen Verb: combineren das deutsche Wort „kombinieren“ (wobei sie sich allerdings zunächst unsicher sind, ob man das Verb im Deutschen mit „c“ oder mit „k“ schreibt) und sind sich bewusst, dass es zwei Objekte geben muss: „Ach so, man kann die Wanderferien mit etwas kombinieren.“ (aus der Erinnerung zitiert), d.h. sie erkennen ebenfalls die Satzstruktur. Da sie auch das niederländische Lexem rondreis bereits erschlossen haben, ist ihnen somit der ganze Satz transparent. Im letzten Paragraph wird bei den Syntagmen een prachtige mogelijkheid voor een leuke stedentrip das auf Sprachformebene opake Adjektiv leuk zunächst für ein Substantiv gehalten. Bei genauerer Betrachtung des gesamten Satzes: De verschillende grote steden bieden een prachtige mogelijkheid voor een leuke stedentrip. erkennen die Kinder grote steden als „große Städte”. Da sie die Wortform steden auch in stedentrip wiedererkennen und zudem auf der Grundlage ihrer Kenntnis des Wortes trip (ob als englische Vokabel oder deutsches Fremdwort, kann nicht eindeutig gesagt werden) das Kompositum <?page no="193"?> 1. Der Interkomprehensionsunterricht in der jahrgangsübergreifenden Gruppe 179 als „Städtereise“ identifizieren können, wird een leuke stedentrip von Thomas korrekt mit „eine schöne Städtereise“ übersetzt. Dieser Übertragungsvorschlag weist auf Zweierlei hin: Zum einen macht er deutlich, dass Thomas erkannt hat, dass es sich bei niederländisch leuk um ein Adjektiv handelt, auch wenn er diese Beobachtung nicht auf metasprachlicher Ebene verbalisiert. Doch kann aufgrund des erschlossenen stedentrip vermutet werden, dass der unmittelbare sprachliche Kotext hierbei eine Rolle gespielt hat. Zum anderen zeigt die vorgeschlagene - und korrekte - Übersetzung von leuke, dass er hier ebenfalls die Strategie des Erschließens durch den Kontext eingesetzt haben muss, denn das - im Niederländischen sehr gebräuchliche - Adjektiv leuk weist keine formalsprachlichen Ähnlichkeiten zu Bedeutungsentsprechungen im Deutschen („fein, nett, schön, lustig, hübsch, reizend“) auf. Auch der Ausdruck een ideaal land voor een leuke kindervakantie im zweiten Satz des Textes, in dem das Adjektiv ebenfalls vorkommt, wird von Silke (sechste Klasse) komplett richtig übersetzt. Der Schülerin Anja (ebenfalls Sechstklässlerin) gelingt eine Übertragung des ersten Satzes: Als vakantieland heeft Duitsland dan ook veel variëteit te bieden. mit „Als Ferienland hat Deutschland viele Varianten zu bieten”. Die Übertragung mit „Varianten“ wird bestätigt mit einem Verweis auf das deutsche Fremdwort aus dem Französischen, Variété, das aus dem Bereich des Zirkus bekannt sei. Wie gezeigt werden konnte, setzen die Kinder bereits in dieser allerersten Sitzung eine Vielfalt verschiedener Strategien von sich aus ein: Man kann Wörter zertrennen, z.B.: Kinder / vakantie. Man kann Wörter ableiten aus anderen Sprachen, schauen, was ähnlich klingt, z.B.: nl. natuur - dt. Natur, dt. Tiger - engl. tiger - frz. tigre. Man kann sich Bilder ansehen, die bei den Texten stehen, z.B.: das lachende Kind beim Text Kindervakantie. Man kann auf Wörter achten, die in der Nähe eines Wortes stehen, z.B.: beste vrienden (Kinderen en honden kunnen elkaars beste vrienden zijn.). Man kann sich fragen: Ist das ein logischer Satz? Was macht Sinn? Man kann überlegen, was man alles über ein Thema weiß, z.B. über Schildkröten. 197 . Darüber hinaus wurde in Übertragungsvorschlägen der Kinder deutlich, dass sie sowohl den sprachlichen Kotext zur Identifikation der Wortart (leuke als Adjektiv in: een leuke stedentrip) als auch den inhaltlichen Kontext (Ferien, große Städte) zur Erschließung der Wortbedeutung nutzen, ohne dies jedoch metasprachlich oder metakognitiv zu kommentieren. Hieraus kann allerdings nicht notwendigerweise abgeleitet werden, dass sie über keine metakognitive 197 Die Formulierungen entsprechen der Form, wie die Kinder die Strategien auf ihrem Arbeitsblatt: „Wie ich Wörter erschließen kann“ eingetragen haben. Die viert- und die letztgenannte Strategie stammen aus der zweiten Interkomprehensionsstunde in der jahrgangsübergreifenden Gruppe zum Thema „Haustiere“ (s. die Übersicht oben). <?page no="194"?> 180 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Bewusstheit bezüglich dieser Strategien verfügen. So kann es einerseits sein, dass sie mehr oder weniger bewusst im Kound/ oder Kontext nach Hinweisen suchen und dies lediglich nicht verbalisieren (vgl. Abschnitt II 4. zu Laut- Denk-Protokollen mit Kindern). Andererseits ist denkbar, dass ihnen diese Strategien zwar prinzipiell bewusst sein könnten, sie jedoch in diesem Moment eher intuitiv an die Aufgabe herangehen und sie unbewusst einsetzen. Aber gerade in der Möglichkeit, vorhandenes prozedurales Wissen auch auf (meta)kognitiver Ebene und für einen Transfer auf andere Lernkontexte verfügbar zu machen, liegt das Potenzial des language and learning awareness raising von Interkomprehension. 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie Die in diesem Kapitel dokumentierte Longitudinalstudie wurde im Zeitraum zwischen Juni 2009 und August 2010 an der Justus-Liebig-Universität in Gießen durchgeführt. Der Lerner aus der longitudinalen Untersuchung, Thomas, ist, wie erwähnt, einer der Schüler aus der jahrgangsübergreifenden Gruppe (s.o.). Im Schuljahr 2009/ 2010 ist er in der sechsten Klasse und besucht den Realschulzweig einer kooperativen Gesamtschule. Thomas lernt seit dem dritten Schuljahr Englisch und hat ab dem zweiten Halbjahr der fünften Klasse einen ‚Schnupperkurs‘ in Französisch besucht, der an der Gesamtschule angeboten wurde. Seine Eltern, die in Form von zwei ‚Elternabenden‘ 198 mit in das Projekt eingebunden wurden, haben die Interkomprehensionsstunden als eine Nachhilfe betrachtet. Darüber hinaus erhofften sie sich eine Entscheidungshilfe, ob ihr Kind als zweite Fremdsprache ab der sechsten Klasse eher Latein oder eher Französisch wählen solle. Es kann (zumindest den Eltern zufolge) bei Thomas nicht notwendigerweise von einer hohen motivationalen Grundhaltung in Bezug auf moderne Fremdsprachen 199 und auch nicht von vielen Sprachlernerfahrungen ausgegangen werden. Er ist, wie er später selbst erzählte, in einem monolingualen Kontext aufgewachsen. In diesem Kapitel werden die individuellen Interkomprehensionsstunden mit Thomas nach den Sommerferien 2009 in Form einer longitudinalen Einzelfallanalyse dargestellt. 198 Bei den Informationsabenden wurden Materialien aus Lehrerfortbildungen zu Inter komprehension eingesetzt, die im Hinblick auf Adressatengerechtheit (Thomas’ Eltern gehen einem anderen Beruf nach) selbstverständlich vereinfacht wurden. 199 Allerdings hatte er während des Interkomprehensionsunterrichts in der jahrgangsüber greifenden Gruppe insofern Interesse an Interkomprehension gezeigt, als er auch nach Ende der Sitzungen mitunter weiter versuchte, Fremdsprachiges, das ihm in den Blick kam, zu entschlüsseln wie die Ortsbestimmung Palais des Beaux Arts auf einem Poster. <?page no="195"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 181 Die Interaktion in den Stunden ging zum Teil über die Bearbeitung der Interkomprehensionsaufgaben im engeren Sinne hinaus, so dass einige Ausschnitte aus Gesprächen, die zwar nicht direkt die Aufgaben, aber dennoch das Fremdsprachen(lernen) betreffen, ebenfalls dokumentiert werden. Die folgende Darstellung der Analyseergebnisse ist, wie erwähnt (s. Abschnitt II 7.), sowohl bezogen auf den Verlauf der einzelnen Interkomprehensionsstunden als auch auf deren Abfolge chronologisch. Vor den Analyseabschnitten zu den Stunden werden jeweils die ausgewählten bzw. erstellten Interkomprehensionsmaterialien kurz vorgestellt und ihr Einsatz begründet (s. Kapitel II 4.). Im Anschluss an die Analyse der einzelnen Stunden werden darüber hinaus wichtige Befunde jeweils kurz zusammengefasst, wobei sich die Zusammenfassungen daran orientieren, wozu Thomas in der Lage ist; im Rahmen der Analyse selbst wird jedoch ebenfalls deutlich werden, wo er an seine Grenzen stößt. Bei nicht romanischsprachigem Material wird, wo es möglich ist, das Potenzial seiner (meta)sprachlichen Beobachtungen und Hypothesen für sein Lernen des Französischen (bzw. romanischer Sprachen) aufgezeigt. Exkurs: Fragebogen zu Interessen: Da Thomas aus der hier dokumentierten Longitudinalstudie ebenfalls an den Interkomprehensionsstunden in der jahrgangsübergreifenden Gruppe teilgenommen hatte, war beabsichtigt, ihn hierzu zu befragen, um seine Erfahrungen für die Vorbereitung der individuellen Interkomprehensionsstunden zu nutzen. In einem Fragebogen wurden zunächst die Aufgaben aus der jahrgangsübergreifenden Gruppe als Erinnerungshilfe aufgelistet und im Anschluss die offenen Fragen: „Was hat dir gefallen? Was fandest du einfach, was schwieriger? Warum? “ gestellt. Hierauf hat der Lerner jedoch nur sehr allgemein mit „Ich fand alles gut. Nichts schwierig, manches einfach“ geantwortet, ohne die Angabe „manches“ − trotz der Erinnerungshilfe − zu konkretisieren. Die Tatsache, dass hier (anders als in Klasse 6b und 7-N/ M; s. Abschnitt II 4.) zwei unterschiedliche Aspekte zugleich (Interesse und Schwierigkeitsempfinden) erfragt wurden 200 , kann zu dieser spärlichen und daher wenig aussagekräftigen Antwort des Lerners beigetragen haben. Im zweiten Teil des Fragebogens und auf die Frage: „Was machst du gern oder würdest du gern machen? “ antwortet Thomas dagegen sehr konkret: „Filme in anderen Sprachen (mit deutschen Untertiteln)“. Seinem Interesse an Filmen wurde in insgesamt vier Interkomprehensionsstunden (s. Abschnitt III 2.3 und III 2.12) zu begegnen versucht. 200 Vgl. hierzu auch den Hinweis von Altrichter & Posch (2007: 170), allerdings mit Bezug nahme auf geschlossene Fragen. So kann bei dem Item: „Ich arbeite gerne an dieser Schule, weil ich hier viele Kollegen sehr schätze“ beispielsweise im Falle einer Ablehnung nicht festgestellt werden, auf welchen Teil des Items (oder auf beide) diese sich bezieht (vgl. ebd.). <?page no="196"?> 182 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven 2.1 Die erste Interkomprehensionsstunde: Voetbal Zum Textmaterial: Für die erste Interkomprehensionsstunde wurde folgender niederländischer Text über Fußball 201 gewählt: Voetbal Voetbal is een wereldwijde populaire balsport waarbij twee ploegen van elf spelers moeten proberen de bal in het doel van de tegenstander te krijgen. De bal mag met ieder deel van het lichaam gespeeld worden, met uitzondering van armen en handen. In de praktijk wordt vooral met de voet gespeeld, maar ook wordt vaak met het hoofd gekopt. Het speelveld (voetbalveld of voetbalterrein) is rechthoekig, en moet afhankelijk van de competitie een lengte hebben van minimaal 90 en maximaal 120 meter. De breedte is minimaal 45 en maximaal 90 meter. De duur van een wedstrijd bedraagt 2 maal 45 minuten, daartussen is er een rustpauze van 15 minuten. Het spel wordt gespeeld door twee teams van normaliter elf spelers (inclusief de doelman) en staat onder leiding van een scheidsrechter die door twee assistentscheidsrechters of grensrechters wordt geassisteerd. Der Text erlaubt den Einsatz einer Vielfalt an Strategien. Eine Trennung von Wörtern in ihre Bestandteile kann beispielsweise bei interlingual nicht auf den ersten Blick transparenten Wörtern wie tegen − stander oder doel - man zum Einsatz kommen, wobei in beiden Fällen auch der Kotext bei der Erschließung hilfreich ist. Bei dem Kompositum tegenstander ist zu beachten, dass die Aufmerksamkeit in der Regel insbesondere auf den Wortanfang und das Wortende, der so genannte „Badewanneneffekt“ (Aitchison 1997: 175), gelegt wird und der erste Buchstabe bzw. Laut vom deutschen Interlexem abweicht. Auch interlinguale Transferstrategien sind bei diesem Text einsetzbar. Abgesehen von deutschen Transferbasen bieten sich teilweise auch englische an. So ist das niederländische doel dem englischen Interlexem goal ähnlicher als dem deutschen „Tor“; Ähnliches gilt für nl. voet = engl. foot = dt. „Fuß“. Bei einigen niederländischen Wörtern aus diesem Text ergibt sich eine zusätzliche Schwierigkeit, da ihre auf Signifikantenebene ähnlichen deutschen Interlexeme eine andere Bedeutung haben bzw. einem gehobeneren (literarischen) Sprachstil angehören. So ist nl. het lichaam = dt. „der Körper“ über die deutsche Transferbasis: „der Leichnam“ erschließbar und nl. het hoofd über dt. „das Haupt“. 201 http: / / nl.wikipedia.org/ wiki/ Voetbal (01.09.09). <?page no="197"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 183 Analyse der Interkomprehensionsstunde (9. September 2009): Die Stunde begann mit einem Gespräch über den Anfang des Französischunterrichts im sechsten Schuljahr nach dem ‚Schnupperkurs‘ im zweiten Halbjahr von Klasse 5. Der Beginn des Französischunterrichts war bei Thomas durch größere Zeitspannen zwischen den Stunden und einer insgesamt größeren Verzögerung in der Progression gekennzeichnet, da seine Französischlehrerin häufig krank war und die Vertretung, nach seiner Angabe, die Schüler lediglich Vokabeln abschreiben ließ. Da neben Eltern und bedeutsamen peers Lehrer für (junge) Schüler einen starken Einfluss auf deren Sprach- und vor allem auch Sprachlernbegriff ausüben können (Meißner et al. 2009: 68, 85), wurde Thomas regelmäßig gefragt, was im Französischunterricht gemacht worden sei. Hierbei diente das verwendete Lehrbuch À plus! 1 (Bächle et al. 2004) als Hilfestellung zur Erinnerung. Eine Dokumentation des tatsächlichen Inputs im Französischunterricht würde selbstverständlich Unterrichtsbeobachtungen erfordern, doch geht es im vorliegenden Zusammenhang ja gerade darum, wie Thomas den Unterricht in der Schule wahrgenommen hat. Im Folgenden wird das Thema des Führens eines Vokabelhefts bereits in der Grundschule ab dem zweiten Halbjahr des dritten Schuljahres aufgegriffen, über das vor den Ferien gesprochen worden war (vgl. Abschnitt III 1.). Thomas zeigt eine positive Haltung zum Führen eines Vokabelhefts, die er allerdings mit rein praktischen Vorteilen begründet (TR 1, Z. 73-80 202 ): T.: Ja, also, ich fand es sehr gut, weil wir, weil wenn man dann für die Arbeit lernen muss, dann muss man nicht immer hinten in, in unserem Buch, stand das ja immer drin hinten im Englisch-Buch und, ja, dann war es halt auch, äh, besser, wenn man dann das Vokabelheft, wenn man halt nicht immer das, hm, das Englisch-Buch dann mitschleppen musste und das Vokabelheft dann einfach, zum Beispiel zu Hause lassen konnte und immer wenn man dann üben will, dass dann einfach sich nehmen kann und muss halt nicht dann immer nur das Englisch-Buch mitnehmen. Als Thomas nach seinem Schwierigkeitsempfinden bezüglich der Sprachen Französisch und Englisch gefragt wird, ergibt sich folgender Dialog (Z. 84-92): L.: Glaubst du denn, dass Französisch schwieriger ist als Englisch oder Englisch schwieriger als Französisch? T.: Nee, also, also eigentlich, eigentlich finde ich ja Englisch schwieriger, weil, weil in Französisch ist ja, ähm, immer, hm, ja, zum Beispiel der Buchstabe oder da ja zum Beispiel zwei Buchstaben, die sind immer gleich, egal in welchem 202 TR 1, Z. 73-80 = Zeile 73 bis 80 im Transkript der ersten Interkomprehensionsstunde der Einzelfallstudie. Die Zeilennummerierung ist fortlaufend; es werden daher keine Seitenzahlen angegeben. Das Kürzel „TR 1 / 2 …“ zur Abfolge der Interkomprehen sionsstunden wird innerhalb der Analysetexte zu den einzelnen Stunden nicht wieder holt. Es wird bei Verweisen auf andere Stunden verwendet. <?page no="198"?> 184 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Zusammenhang die stehen und dann (...) zum Beispiel jetzt beim Englischen, da, äh, da, hm, da wird einmal das A wie A ausgesprochen und ein-, einmal dann wie Ä. L.: Ja. Mhm. Fällt dir ein Beispiel ein? Thomas begründet seine Wahrnehmung, Englisch sei schwieriger als Französisch, mit der geringeren Graphem-Phonem-Korrespondenz im Englischen. Die Tatsache, dass er im Folgenden auf Anhieb ein englisches Beispiel für die unterschiedliche lautliche Realisierung desselben Graphems a , die Aussprache von engl. can im Gegensatz zu can’t (zumindest in der Variante des Englischen, die zumeist zu Beginn der Sekundarstufe als zielsprachliche ‚Norm‘ herangezogen wird), angeben kann (Z. 94), deutet an, das er sich mit diesem Sachverhalt bereits vor dieser Frage beschäftigt hat. Es muss allerdings eingeräumt werden, dass das Beispiel nicht notwendigerweise von ihm selbst stammt, sondern er es auch aus entsprechendem Input (Englischbuch, Lehrerin) übernommen haben kann. Dennoch ist bemerkenswert, dass er dieses sprachliche Wissen hier spontan aktivieren kann. Der niederländische Text: Selbstverständlich erkennt Thomas die Überschrift Voetbal als „Fußball“, was er folgendermaßen kommentiert (Z. 104-106): T.: Fußball, Fußball, weil, weil, ähm, ähm, das ist ja eigentlich auch so eine, so eine Mischung aus verschiedenen Sprachen, also Englisch, da ist es ja dann, dann football und dann, ist halt das, ist ja auch so ähnlich dann wie football. Interessanterweise führt T. hier neben dem deutschen Interlexem „Fußball“ auch das englische an und gibt unaufgefordert eine metasprachliche Stellungnahme ab: Er bezeichnet Niederländisch bzw. das nl. Wort voetbal explizit als eine „Mischung aus verschiedenen Sprachen“ (das Niederländische liegt, wie erwähnt, sprachtypologisch zwischen dem Deutschen und Englischen; vgl. Lutjeharms 2007b: 275; Lutjeharms & Möller 2014: 205; Wenzel 2014: 269). Dieser Befund ist auch deshalb interessant, weil der letzte Interkomprehensionstext vor den Sommerferien ein niederländisch-englischer Paralleltext über die niederländische Sprache war, Nederlands-Dutch (s.o. Abschnitt III 1.). Dieser enthielt unter anderem eine Aussage über die Ähnlichkeit der niederländischen zur englischen Sprache, d.h. Thomas scheint sich hier auf den Inhalt des vorangegangenen Interkomprehensionstextes zu beziehen. Doch ist die Möglichkeit mit einzubeziehen, dass er seine Wahrnehmung der Ähnlichkeit des Niederländischen sowohl zum Deutschen als auch zum Englischen hier spontan auf der Grundlage des Wortes voetbal äußert und sich nicht notwendigerweise an den Text Nederlands-Dutch erinnern kann. Den ersten Satz des Textes (Voetbal is een wereldwijde populaire balsport waarbij twee ploegen van elf spelers moeten proberen de bal in het doel van de <?page no="199"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 185 tegenstander te krijgen.) überträgt Thomas wie folgt (vgl. Morkötter & Hirzinger-Unterrainer 2014: 13): „Fußball ist ein weltweiter populärer Ballsport […] ähm, Moment, zwei Mannschaften mit elf Spieler […] müssen probieren den Ball in ihr, nein in das Tor des Gegenspielers zu kriegen.“ (Z. 108-113). Die Selbstkorrektur des Wechsels vom Possessivbegleiter („ihr Tor“) zum bestimmten Artikel („das Tor“) erfolgte höchstwahrscheinlich auf der Grundlage des Kotextes (in het doel van de tegenstander; „des Gegenspielers“) und von Weltwissen (denn „ihr Tor“ würde schließlich ein Eigentor bedeuten). Auch auf die Nachfrage hin, wie Thomas auf die Übertragung „Mannschaften“, das dem niederländischen ploegen ja gar nicht ähnele, gekommen sei, wird der Einsatz der Erschließungsstrategie sowohl durch den Kotext (twee) als auch durch den Kontext (Weltwissen über Fußball) deutlich (Z. 116-118): T.: Äh, weil zum Beispiel, hm, Beispiel mit elf Spieler 203 , dann elf Spieler sind eine Mannschaft und wenn jetzt hier, hier twee steht, das, äh, das hört sich ja so ähnlich an, an wie zwei und dann, ja, zwei und elf und dann Die Frage, inwieweit Thomas in der Lage ist, Strategien einzusetzen, die zum konkret zu erschließenden sprachlichen Element passen, lässt sich hier positiv beantworten. So kombiniert er die Strategien des Heranziehens des unmittelbaren sprachlichen Kotextes: van elf spelers mit jener, sein Allgemeinwissen einzusetzen: „elf Spieler sind eine Mannschaft“ sowie mit einer interlingualen Vorgehensweise: „twee […] das hört sich ja so ähnlich an, an wie zwei“. Vor dem Hintergrund der Erfahrung mit den Siebtklässlerinnen aus Klasse 7-ling, die Schwierigkeiten hatten, verschiedene Strategien miteinander zu kombinieren (s. Abschnitt II 8.), ist dieser Befund von Bedeutung (vgl. auch Haastrup 1991: 209: „What appears to be acquired very late is the ability to combine top and bottom cues, especially integrating several linguistric elements.“). Bei den nächsten beiden Sätzen des Textes (De bal mag met ieder deel van het lichaam gespeeld worden, met uitzondering van armen en handen. In de praktijk wordt vooral met de voet gespeeld, maar ook wordt vaak met het hoofd gekopt.) orientiert sich Thomas dagegen zunächst an Ähnlichkeiten auf der Sprachoberfläche (armen en handen) und ergänzt seine Übertragung mit Weltwissen (Z. 120-123): T.: Irgendwie, darf nicht von Armen und Händen berührt werden. L.: Mhm. T.: Es wird mit den Füßen gespielt. L.: Ja, genau. Was, was heißt Fuß? 203 ‚Normsprachliche Abweichungen‘ wurden bei der Transkription wie bei den schriftlichen Äußerungen der Schüler aus Niedersachen (s. Abschnitt II 7. zur Auswertung und Analyse der Fragebögen) beibehalten. <?page no="200"?> 186 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Seine top down-Orientierung an dieser Stelle des Erschließungsprozesses zeigt sich auch darin, dass er zunächst nicht angeben kann, was „Fuß“ auf Niederländisch heißt. Erst durch einen Verweis auf die Überschrift erinnert er sich an voet. In der Passage met het hoofd gekopt erkennt Thomas gekopt als „geköpft“ und kann daraufhin auch hoofd als „Kopf“ erschließen. Ob ihm das deutsche Wort „Haupt“ in seiner Bedeutung als „Kopf“ bekannt ist, lässt sich dem Gespräch nicht entnehmen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, da das Wort, wie eingangs angesprochen, dem gehobenen Sprachstil angehört und (zumindest in dieser Bedeutung) sehr selten verwendet wird. Hypothesengrammatik und metasprachliche Terminologie: Nach diesem ersten Teil des Textes wird die Frage nach metasprachlicher Terminologie thematisiert. Zunächst wird der Begriff „Substantiv“ genannt und Thomas um ein deutsches Beispiel gebeten (Z. 145-147), woraufhin er antwortet: „Hm, was ist ein Substantiv? Ja, ich weiß jetzt, was Adjektiv und Artikel ist, aber Substantiv …“ (Z. 148-149). Für den von ihm angeführten Begriff „Artikel“ nennt er von sich aus ein Beispiel aus dem niederländischen Text und eine englische Entsprechung (Z. 150-153): T.: Ja, Artikel ist dann zum Beispiel - de bal, ja, zum Beispiel jetzt der, also dann der. L.: Mhm, genau. T.: The. Erst etwas später (Z. 180) stellt sich heraus, dass Thomas die Bedeutung von „Substantiv“ als grammatischer Kategorie durchaus bekannt ist, nur nicht in dieser Begrifflichkeit: „Ist Substantiv nicht ein Ha-, nicht Hauptwort? “ Hier wird die Problematik uneinheitlicher metasprachlicher Terminologie in den sprachlichen Fächern deutlich, die sich gerade für eine sprachenübergreifende Hypothesengrammatik mit dem Ziel der Förderung von Sprachlernkompetenz zeigt (vgl. hierzu auch 2005: 13 mit Bezugnahme auf das Ziel eines Gesamtsprachencurriculums). In der Longitudinalstudie wurde eine Form der Hypothesengrammatik eingesetzt, bei der auf der vertikalen Achse grammatische Kategorien wie Artikel, Substantive oder Adjektive vorgegeben sind. Auf der horizontalen Achse umfasst das Arbeitsblatt: „Meine Beobachtungen zur Grammatik“ neben einer Spalte für ein zielsprachliches (niederländisches) Sprachbeispiel ebenfalls die Spalten „französisches Beispiel“, „englisches Beispiel“, „Beispiele in weiteren Sprachen“ sowie „Beobachtungen, Bemerkungen“: <?page no="201"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 187 Meine Entdeckungen im holländischen Text Französisches Beispiel Englisches Beispiel Beispiele in weiteren Sprachen Beobachtungen, Bemerkungen Artikel Substantive Adjektive 204 Tab. 11: Hypothesengrammatik aus der Longitudinalstudie Zwar sind Thomas die Begriffe „Adjektiv“ und „Artikel“ bekannt, jedoch kann er selbst kein französisches Beispiel für „Artikel“ nennen, da, seiner Angabe zufolge, diese im Französischunterricht noch nicht besprochen worden seien, was aufgrund des erwähnten Stundenausfalls nicht unwahrscheinlich ist. Was bestimmte Artikel im Niederländischen angeht, hatte Thomas auf der Grundlage des Arbeitsblatts von sich aus das Beispiel de bal angeführt (s.o.). Nach Erhalt der Information, dass es im Niederländischen zwei bestimmte Artikel im Singular gibt, hat er keine Schwierigkeiten, den zweiten zu ermitteln: het doel. Auf interlingualer Ebene stellt Thomas bezüglich der niederländischen, französischen (die hinzugefügt wurden) und des (bzw. im Lautbild: der) englischen bestimmten Artikel(s) fest: „Sind eigentlich alle ganz unterschiedlich“ (Z. 258). Das Arbeitsblatt „Meine Beobachtungen zur Grammatik“ führt als nächste grammatische Kategorien „Personalpronomen“, „Verben“, „Präpositionen“ und „Possessivbegleiter“ an. Thomas gibt an, die ersten beiden Begriffe zu kennen und die beiden letzten nicht (Z. 267). Hier wird deutlich, dass eine (noch) nicht vorhandene Kenntnis metasprachlicher Terminologie nicht notwendigerweise bedeutet, dass auf der Ebene von Sprachbeispielen kein prozedurales Wissen über grammatische Kategorien vorliegt. So führt Thomas an, den Begriff „Possessivbegleiter“ nicht zu kennen. Dennoch hat er im Rahmen seiner Selbstkorrektur bei der Übertragung des Satzteils de bal in het doel van de tegenstander te krijgen „in ihr Tor, nein, in das Tor“ (Z. 112; s.o.) gezeigt, dass er ein Gespür für die Funktion dieser grammatischen Kategorie hat und auf der Ebene von Beispielen hiermit operieren kann. Dies zeigt das Potenzial von 204 Die grammatischen Kategorien in den weiteren Zeilen sind: Personalpronomen, Verben, Präpositionen, Possessivbegleiter, Relativpronomen, Konjunktionen und eine freie Zeile für eventuelle eigene Ergänzungen. Im Gegensatz zur Hypothesengrammatik, die am niedersächsischen Gymnasium eingesetzt wurde, wurden hier aufgrund der Möglichkeit der individuellen Aushandlung keine Wortbeispiele oder Kategorien (wie „Geschlecht“ oder „Zeit“) für die grammatischen Begriffe vorgegeben (vgl. Abschnitt II 4.). <?page no="202"?> 188 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Interkomprehension, (insbesondere) prozedurales Wissen über grammatische Kategorien in (jungen) Lernern aufzubauen. Bezogen auf die Kategorie „Verb“ gelingt es ihm, den Begriff sowohl metasprachlich mit den Worten zu umschreiben „also, was man so macht“ (Z. 273) als auch auf Anhieb ein Beispiel aus dem niederländischen Text, proberen, anzugeben. Zudem fügt er von sich aus einen Vergleich zum Englischen hinzu (Z. 275-276): „Nur, nur da, da ist dann wieder unterschiedlich, also im Englischen heißt das ja dann, probieren try und dann und dann war das ja ganz unterschiedlich.“ Diese Sprachbeobachtungen von Thomas (vgl. auch oben zum bestimmten Artikel) sind äußerst wichtig. Ein zielgerichteter Einsatz von Strategien setzt eine Analyse des Inputs dahingehend voraus, welche Strategien, in diesem Fall jene des interlingualen Transfers auf eine Brückensprache, nicht greifen, und welche stattdessen (zum Beispiel der Ko- oder Kontext) ausprobiert werden können. Metasprachliche Beobachtungen wie diese können zur Ausbildung kognitiver Schemata beitragen, die für solche mentalen Operationen der Inputanalyse eine Voraussetzung sind. Zudem ist es auch ein Ziel der Interkomprehensionsdidaktik, Schüler zu befähigen, erkennen zu können, wo Interkomprehension an ihre Grenzen stößt und wo externe Hilfe, etwa in Form eines Wörterbuchs oder durch peers, herangezogen werden muss. Bär (2009: 353) erwähnt darüber hinaus einen motivationalen Aspekt: Der kontrastive Vergleich der Pluralmarkierung bei Substantiven und die explizite Nennung des Unterschieds dieses morphosyntaktischen Elements zwischen dem Italienischen als Zielsprache und den Brückensprachen Französisch und Spanisch sind ebenso wichtig wie die Hinweise auf die vielen Gemeinsamkeiten in anderen Bereichen. Es ist auch aus motivationaler Sicht nicht akzeptabel, den Fokus der sprachenvergleichenden Arbeit ausschließlich auf die Gemeinsamkeiten zu legen: Die Schüler sind schneller frustriert und verlieren den Ehrgeiz, wenn zunächst nur der Eindruck vermittelt wird, aufgrund der vielen Parallelitäten zwischen den Sprachen sei alles gleich bzw. alles leicht. Interessant am weiteren Verlauf unseres Gesprächs ist, dass Thomas, nachdem er beobachtet hat: „also im Englischen heißt das ja dann, probieren try, und dann […] war das ja ganz unterschiedlich“ (Z. 275-276), fragt, was „probieren“ auf Französisch heißt (Z. 281). Hier zeigt sich eine sprachliche Neugier: Thomas hat festgestellt, dass nl. proberen dem deutschen „probieren“, nicht jedoch dem engl. to try ähnlich ist, und möchte offensichtlich (möglicherweise auf der Grundlage seiner Beobachtung der Verschiedenheit der bestimmten Artikel) die Hypothese überprüfen, ob das Französische hier in der Sprachform ebenfalls abweicht. <?page no="203"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 189 Die weiter oben am Beispiel der Possessivbegleiter diskutierte notwendige Unterscheidung zwischen prozeduralem Wissen über grammatische Kategorien (d.h. der Fähigkeit, mit ihnen umzugehen) auf der einen und Kenntnissen metasprachlicher Termini auf der anderen Seite erfährt eine noch deutlichere Konkretisierung, als die Opposition von bestimmter versus unbestimmter Artikel zur Sprache gebracht wird (Z. 288-290): L.: der, die, das, ne, also, ähm, das nennt man ja bestimmte Artikel, was, was gibt es da dann, dann noch? T.: Allgemeine Artikel. Entweder kennt Thomas den Begriff des „unbestimmten“ Artikels tatsächlich nicht oder kann ihn in der Situation nicht abrufen, in jedem Fall jedoch scheint seine begriffliche Verwendung bzw. Wortschöpfung eine (spontane) Kontrastierung zum Terminus „bestimmte Artikel“ zu sein. Umso beeindruckender ist seine Stellungnahme zum englischen unbestimmten Artikel (Z. 294-297): T.: Und dann gibt es, äh, das andere im Englischen, da unterscheiden die da auch noch, ob wir jetzt dieses, äh, ob es jetzt a oder an, oder an heißt, zum Beispiel bei, bei Elefant sagen sie zum Beispiel an elephant oder bei, aber bei, ähm, bei Baum sagen sie a tree. Hier wird erneut Thomas’ Aufmerksamkeit für Ausspracheregeln und Graphem-Phonem-Zusammenhänge deutlich, die sich auch schon im Kontext der unterschiedlichen Realisierung des Graphems a in engl. can versus can’t (s.o.) gezeigt hatte. An dieser Stelle, ebenso wie im oben zitierten Fall, ist neben der manifestierten Sprachbewusstheit auch Thomas’ Fähigkeit bemerkenswert, spontan ein Sprachbeispiel für die von ihm angeführten intralingualen Zusammenhänge angeben zu können (das allerdings, wie bereits angemerkt, auch aus dem Input übernommen worden sein kann). Auf die Nachfrage, warum es die beiden Formen des englischen unbestimmten Artikels a und an gebe, antwortet er: „Ja, weil das oder das hier so ein Vokal ist und so und weil *a elephant, das, man redet da nicht so, das würde sich nicht anhören“ (Z. 299-300). Thomas liefert hier eine Erläuterung einschließlich der Nennung des Falles der Regelverletzung *a elephant und der Verwendung des metasprachlichen Terminus „Vokal“. Gerade seine Erklärung „man redet da nicht so, das würde sich nicht anhören“ zeigt, dass der Begriff „Vokal“ für ihn nicht lediglich eine leere Worthülse darstellt, sondern er mit diesem ein Konzept verbindet, mit dem er auch umgehen kann. Darüber hinaus zeigt sich hier ein Verständnis einer intralingualen Graphem-Phonem-Regularität („das würde sich nicht anhören“), die keine Entsprechung im Deutschen hat. Sie liefert jedoch Grundlagen von Graphem-Phonem-Zusammenhängen, die auf die zweite Fremdsprache übertragen werden können (zum Beispiel bei Vokalen im Zusammenhang mit der Apostrophierung, z.B.: *a elephant - an elephant; *la école - l’école). <?page no="204"?> 190 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Der zweite Teil des Textes: Im Folgenden wird die Arbeit am niederländischen Text Voetbal fortgesetzt. Thomas widmet sich zunächst dem Satz: Het speelveld (voetbalveld of voetbalterrein) is rechthoekig, en moet afhankelijk van de competitie een lengte hebben van minimaal 90 en maximaal 120 meter. Es ergibt sich folgender Dialog (Z. 323-326): T.: Ähm, sie spielen, also das Spielfeld, Fußballfeld oder Fußballver-, -halle oder? L.: Ähm, ja, oder, oder so, so, äh, Platz heißt das eigentlich einfach. T.: Fußballfeld oder Fußballplatz ist rechteckig und … 120 Meter Dass Thomas den zweiten Teil, -terrein, des Wortkompositums voetbalterrein nicht erschließen kann, ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass ihm weder die französische Transferbasis terrain noch das deutsche Fremdwort „Terrain“ bekannt ist. Seine angefangene Übertragung „Fußballver-“ deutet auf die Hypothese von nl. voetbalterrein als dt. „Fußballverein“ und somit eine Orientierung auf sprachlicher Oberfläche hin (auch hier wieder ein Beispiel für die Aufmerksamkeitslenkung auf Wortanfang und -ende; Aitchison 1997: 175). Die Tatsache, dass er diese Hypothese verwirft und stattdessen „-halle“ vorschlägt, zeigt, dass sich Thomas nun am sprachlichen Kotext orientiert (voetbalveld of voetbalterrein). Er hat die niederländische Konjunktion of als dt. „oder“ erkannt (s.o.) und weiß, dass das Wort voetbalterrein einen Ort bezeichnen muss, an dem Fußball gespielt wird. Während das Lexem rechthoekig für ihn kein Problem darstellt, springt er im Anschluss an das Ende des niederländischen Satzes. Dass er die Passage afhankelijk van de competitie überspringt bzw. nicht erschließen kann, ließe sich folgendermaßen erklären: Das niederländische afhankelijk van weist mehrere Unterschiede zum deutschen „abhängig von“ auf, die sich insbesondere auf den Wortanfang und das Wortende beziehen. Während sich die Wortmitte der Interlexeme, abgesehen von der Silbenanzahl, nur durch den Umlaut und das Merkmal „stimmlos/ stimmhaft“ (k/ g) unterscheidet, ist das niederländische Präfix afschwieriger als dt. „ab-“ wiederzuerkennen 205 . Gleiches gilt für die Endung lijk, die insbesondere bei Bezugnahme auf das Schrift- und nicht das Lautbild ein Wiedererkennen des deutschen Suffix „-ig“ erschwert 206 . Hier zeigt sich wiederum der oben erwähnte bathtub-Effekt (Aitchison 1997: 175), der eine Erklärung für die geringe Transparenz von nl. afhankelijk liefert. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass Thomas gar nicht den 205 Dt. „b“ entspricht nl. f vor Konsonanten (vgl. Lutjeharms 2007b: 287). 206 Nl. ij wird im Suffix -lijk in der Regel als Schwa gesprochen (Goedbloed 1986: 63). Die Endung -lijk kann auch für dt. „-lich“ stehen (z.B.: gebruikelijk = „gebräuchlich“; vgl. ebd.), was einen Identifikationstransfer erleichtert hätte. <?page no="205"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 191 Versuch gemacht hat, dieses Wort zu erschließen, sein Zögern, bevor er zu der transparenten Zahl „120“ übergeht (Z. 326; s.o.), deutet jedoch darauf hin, dass er sich mit dem Textstück zwischen rechthoekig und 120 meter befasst hat. In Bezug auf das Wort competitie hat Thomas in der Sitzung zu lexikalischen Serien in der jahrgangsübergreifenden Gruppe („Wörtersalat“) das niederländische Morphem -tie als Intermorphem in der lexikalischen Serie: dt. engl. frz. ital. nl. Information information information informazione informatie kennen gelernt. Dass er an dieser Stelle nl. competitie nicht überträgt, kann verschiedene Gründe haben. Möglicherweise kann er sich an diese lexikalische Serie bzw. das niederländische Suffix nicht erinnern. Denkbar ist auch, dass ihm das englische Interlexem competition (und erst recht das französische compétition) nicht bekannt ist, so dass er keine Analogiebildung zu informatie herstellen kann. … en moet afhankelijk van de competitie een lengte hebben van minimaal 90 en maximaal 120 meter. De breedte is minimaal 45 en maximaal 90 meter.: Im Folgenden fasst Thomas zusammen, dass es um die „Größe von dem Spielfeld“ (Z. 326) gehe. Auf Nachfragen hin, wie er darauf gekommen sei, bezieht er den nächsten Satz im Text mit ein (Z. 328-335): T.: Ach so, ja, ähm, die, die Höhe ist also diese Länge ist, ist minimal 90 Zentimeter, M-, Meter und maximal 120 Meter und die Breite ist minimal 45 Meter und maximal 90 Meter. L.: Ja, genau. Und wie bist du da jetzt drauf gekommen auf, auf diese Übersetzung? T.: Weil hier steht ja, das hört sich ja so ähnlich an wie Breite und dann könnte das ja, das hört sich so ein, ein, also hier diese Länge (...), das (.......), das hört sich ja so ähnlich an wie Länge und ja. Thomas nutzt hier eine Kotext-Analogie, um die Sätze bzw. Satzteile: een lengte … van minimaal 90 en maximaal 120 meter. De breedte is minimaal 45 en maximaal 90 meter zu erschließen. Zudem bezieht er sich explizit auf interlinguale Ähnlichkeit („hört sich ja so ähnlich an wie …“). Auch im Folgenden (De duur van een wedstrijd bedraagt 2 maal 45 minuten, daartussen is er een rustpauze van 15 minuten.) orientiert sich Thomas an niederländisch-deutschen Ähnlichkeiten auf der Ebene der Sprachform (Z. 337-340): T.: Die Länge von einem Wettstreit, Wettstreit, also eigentlich ein Spiel dann, beträgt zweimal 45 Minuten. Dazwischen ist eine, ähm, eine Rastpause … L.: Mhm, mhm, genau. T.: Ähm, dann war das eine Halbzeit von 15 Minuten dazwischen. <?page no="206"?> 192 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Wie dem Transkript zu entnehmen ist, gibt sich Thomas trotz seiner Orientierung an Gemeinsamkeiten auf der Ebene der Sprachform allerdings nicht mit der Angabe von auf sprachlicher Oberfläche ähnlichen deutschen Wörtern zufrieden. Stattdessen überträgt er sie in ein (ihm) im vorliegenden Kontext geläufigeres Wort: nl. wedstrijd = „Wettstreit“ = „Spiel“ bzw. passt sie dem Vokabular der Fußballfachsprache an: nl. rustpauze = „Rastpause“ = „Halbzeit“ (wobei „Halbzeitpause“ gemeint ist, dennoch ist der Begriff m.E. - auch durch das Hinzufügen von „von 15 Minuten“ - in diesem Zusammenhang als Übertragung angemessener als „Rastpause“). Die letztgenannte Strategie ist ebenfalls in Bezug auf den letzten Satz des Textes zu beobachten: Het spel wordt gespeeld door twee teams van normaliter elf spelers (inclusief de doelman) en staat onder leiding van een scheidsrechter die door twee assistent-scheidsrechters of grensrechters wordt geassisteerd. Hier transferiert Thomas nl. doelman zunächst in „Tormann“ und dann in „Torwart“ (Z. 342-343): „Gespielt wird mit zwei Teams mit normalerweise elf Spieler, inklusive dem, dem Tormann, Torwart. Ein Staat oder ein, also ein Land …“. Auffallend an dieser Passage ist, dass Thomas den Satzanfang Het spel … unübersetzt lässt, obwohl er spel interlingual sicherlich als „Spiel“ hätte erschließen können und het bereits als bestimmten Artikel erkannt hatte (s.o.). Das hat vermutlich auch dazu geführt, dass er en staat nicht als dt. „und steht“ identifiziert. Stattdessen hat er staat für ein Substantiv gehalten („Staat“ heißt auf Niederländisch staat, was im Übrigen ebenfalls im Rahmen der Sitzung zu lexikalischen Serien, s.o., vorkam) und en vermutlich mit dem unbestimmten Artikel een verwechselt. Thomas scheint an dieser Stelle vor allem kontextgeleitet vorzugehen; auch die Passivkonstruktion (wordt gespeeld − „gespielt wird mit zwei Teams …“), die er nicht weiter kommentiert, wirkt eher ,unbemerkt übertragen‘. (Seine Angabe „Staat“ bzw. „Land“ ist hier kein Widerspruch, geht es doch in den bekanntesten Turnieren vor allem um Länderspiele). Für die Vermutung der unbemerkten Übertragung des Passivs wordt gespeeld spricht auch, dass es ihm schwerfällt, zu derselben Konstruktion, die sich am Ende des Satzes befindet, wordt geassisteerd, Angaben zu machen (Z. 365-371): L.: Also dieses oder gucken wir mal nur das letzte Wort an, geassisteerd, was, was für ein Wort jetzt von dieser Liste in der linken Spalte könnte das sein? T.: Ähm, ähm, also von der hier? L.: Mhm. Also so von, von … T.: Adjektiv oder, nee, Verb. L.: Mhm, genau. Was würdest du auf Deutsch sagen? T.: … Weiß ich nicht. Zwar hat er geassisteerd als Teil einer Verbform erkannt, nicht jedoch als ein Partizip, und kann das Wort auch auf semantischer Ebene nicht ins Deutsche <?page no="207"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 193 übertragen. Dies kann darin begründet liegen, dass das konkrete Sprachbeispiel geassisteerd verglichen mit gespeeld in mehrfacher Hinsicht schwieriger ist: In Bezug auf mögliche lexikalische Transferbasen: So scheint Thomas weder das deutsche Fremdwort „assistieren“ noch das englische Verb to assist bekannt zu sein. In Bezug auf morphosyntaktische Transferbasen: Die für Deutschsprachige interlingual transparente Partizipbildung im Niederländischen durch das Circumfix ge- + ik - Form + -t bzw. -d (vgl. Gabriel-Kamminga & Roodzant 2004: 57), die bei gespeeld deutlich wird, hat bei geassisteerd im Deutschen keine Entsprechung (vgl. dt. „assistiert“ und nicht *„geassistiert“), so dass ein Wiedererkennen zusätzlich erschwert wird. Darüber hinaus stellt die Dativkonstruktion im Deutschen („Ihm wird assistiert.“) eine weitere Hürde für einen Identifikationstransfer dar. Zusammenfassung wichtiger Befunde: Die Analyse dieser ersten individuellen Interkomprehensionsstunde konnte zeigen, dass es Thomas insgesamt gelingt, die Hauptaussagen des niederländischen Textes über Fußballregeln zu verstehen. Er erkennt auch bei interlingual deutlichen formalen Unterschiedlichkeiten („Mannschaften“ - ploegen) die Bedeutungsadäquanz. Seine Handlungen im Interkomprehensionsereignis zeigen ein Strategiewissen, das über eine Orientierung an formalen Ähnlichkeiten hinausgeht (eine Erschließung durch den Kotext (twee, elf spelers) und den Kontext (Weltwissen über Fußball)) und zielgerichtet eingesetzt werden kann (vgl. aber die Befunde von Haastrup 1991: 209; Behr 2007: 137 und Bär 2009: 507). Er identifiziert im Niederländischen formähnliche deutsche Signifikanten und kann sie dem deutschen Sprachgebrauch anpassen (doelman - „Tormann“ − „Torwart“). Er erkennt den niederländischen Possessivbegleiter als eine grammatische Kategorie, formal und funktional (ohne jedoch die grammatikalische Bezeichnung hierfür zu kennen). Er bringt ein grundlegendes Verständnis für eine intralinguale Graphem- Phonem-Regularität zum Ausdruck, indem er diese mit dem Missklang bei einer Regelverletzung begründet (das Zusammentreffen zweier Vokale: „das würde sich nicht anhören“). Er zeigt ein Schwierigkeitsempfinden zur englischen Sprache und illustriert dies durch ein englisches Beispiel. Er ist auf der Grundlage niederländischsprachigen Inputs (voetbal) in der Lage, aus eigener Initiative die niederländische Sprache mit der englischen zu vergleichen und eine metasprachliche Stellungnahme über das Niederländische abzugeben. <?page no="208"?> 194 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Er konkretisiert explizit und wiederum von sich aus die unterschiedliche Sprachstruktur der niederländischen, englischen (und französischen) Sprache in Bezug auf bestimmte Artikel und ein Verb (proberen - try). Prospektiv für das Erlernen der französischen Sprache bzw. romanischer Sprachen bedeutet dies: Die Fähigkeit, bei interlingualen Abweichungen auf Signifikantenebene den Ko- und Kontext hinzuzuziehen, ist für (sprachfamilienübergreifende) Interkomprehension besonders zielführend. Der von Thomas mithilfe des Beispiels *a elephant angesprochene Hiatus liefert ein Muster für Graphem-Phonem-Relationen, die auf romanische Sprachen übertragen werden können wie etwa die liaison im Französischen, die Apostrophierung von Artikeln im Französischen (*la école - l’école) und Italienischen (*una esperienza - un’esperienza) bzw. die Verschmelzung von Präposition und Artikel im Italienischen und Spanischen (*di il - del; *de el - del). Thomas’ Fähigkeit, seine sprachbezogenen Wahrnehmungen (hier: die Aussprache im Englischen im Vergleich zum Französischen) durch Beispiele illustrieren zu können, ist für eine Thematisierung des Lernens des Lernens unerlässlich. Frühe Interkomprehension innerhalb einer nahverwandten Sprache befähigt Thomas, eine Metasprache aufzubauen, die ihm einen für das Sprachenlernen so wichtigen Sprachenvergleich überhaupt erst ermöglicht. 2.2 Die zweite Interkomprehensionsstunde: Football; Vriendschap en sportiviteit Zum Textmaterial: Auch die zweite Interkomprehensionsstunde drehte sich thematisch um „Fußball“. Wie in Abschnitt I 2.6 diskutiert, ist es bei früher Interkomprehension ratsam, ebenfalls die Sprachen als Zielsprachen einzubeziehen, die die Schüler lernen, wie im Falle von Thomas Englisch und Französisch. Hierdurch, so kann vermutet werden, lässt sich die lernerseitige Bewusstheit darüber fördern, dass sie das am Beispiel des Niederländischen bei sich erkannte strategische und (meta-)sprachliche Wissen auch für die Sprache(n) nutzen können, die sie lernen. Darüber hinaus sind die Einsicht in die Transferierbarkeit dieses Wissens und dessen − im besten Fall aufgabenangemessener − Einsatz wichtige metakognitive Lernziele an sich. Aus diesem Grund wurde zu Beginn dieser zweiten Interkomprehensionssitzung ein englischsprachiger Text über „Fußball“ eingesetzt, der sich eben- <?page no="209"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 195 falls mit Regeln dieses Spiels befasst 207 . Der Einsatz desselben Bildmaterials sollte zusätzlich einen Strategietransfer nahe legen: The game is played on a rectangular grass or artificial turf field, with a goal in the centre of each of the short ends. The object of the game is to score by driving the ball into the opposing goal. In general play, the goalkeepers are the only players allowed to use their hands or arms to propel the ball; the rest of the team usually use their feet to kick the ball into position, occasionally using their torso or head to intercept a ball in midair. The team that scores the most goals by the end of the match wins. Analyse der Interkomprehensionsstunde (15. September 2009): Zu Beginn der Stunde wird Thomas gebeten, über ‚den aktuellen Stand‘ (TR 2, Z. 25) zu berichten, was seinen Französischunterricht angeht. Er sagt, dass seine Französischlehrerin „schon wieder krank war“ und sie „eigentlich dann nur jetzt Vokabeln aufgeschrieben [haben] und so.“ (Z. 27-29). In diesem Zusammenhang wird das Thema „Vokabellernen“ angesprochen (Z. 38): „Hast du da so eine bestimmte Methode? “ Das Lehrbuch À plus! liegt währenddessen auf dem Tisch und ist auf der Seite des zu jenem Zeitpunkt für Thomas gerade aktuellen Teils der Vokabelliste aufgeschlagen. Seine Schilderung des Vokabellernens erinnert zunächst an die bekannte und in der Literatur häufig dokumentierte (vgl. z.B. Haudeck 2008: 141ff.) 208 ‚Abdeckmethode‘ (Z. 39-42): T.: Äh, ich, also ich mache es eigentlich immer, immer so oder so und, oder so ((hält währenddessen seine Hände zunächst über die eine, dann über die andere Hälfte der Vokabelseite)), dann, dann gucke ich halt dann, was jetzt, äh, oder wie dieser, ähm, was zusammenhängt, also was das heißen könnte. Auf Nachfragen hin, was er mit „was zusammenhängt“ meine, antwortet Thomas allerdings (Z. 43-46): T.: Äh ja, zum Beispiel jetzt hier bei madame, das sagt man ja auch im Deutschen, für, für jetzt noch Frau und dann, da würde ich halt dann sagen, so dann Anrede für ’ne Frau und dann gucke ich und dann ist das richtig und dann ist ja gut. Seine Erläuterungen zu frz. madame zeigen, dass seine Suche nach interlingualen „Zusammenhängen“ über eine Orientierung an Ähnlichkeiten auf der Sprachoberfläche hinausgeht. Ob und inwieweit diese Herangehensweise durch 207 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Association_football (Textausschnitt, 01.09.09). Im zweiten Teil dieser Interkomprehensionsstunde wurde ein weiterer niederländischer Text behandelt, der sich zwar ebenfalls dem Thema „Fußball“ widmet, bei dem es sich jedoch um eine andere Textsorte handelt (s.u.). 208 Haudeck vermutet als einen Grund für die starke Verbreitung der ‚Abdecktechnik‘, dass es „in erster Linie Vokabelgleichungen sind, die über mündliche und schriftliche Aktivi täten gelernt und kontrolliert werden“ (ebd.: 142). <?page no="210"?> 196 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven den Interkomprehensionsunterricht vor und nach den Sommerferien (mit) beeinflusst wurde, es sich also - in der Terminologie der Interkomprehensionsdidaktik - um einen didaktischen Transfer handelt, kann nicht eindeutig gesagt werden. Was jedoch dafür spricht, ist die Tatsache, dass er seine Vorgehensweise an einem Wortbeispiel erläutert, das im Gegensatz zu anderen dem Deutschen ähnlichen Wörtern aus dem Anfangsunterricht wie la classe oder le CD nicht unmittelbar transferiert werden kann. So ist hier zum einen zunächst eine weitere Strategie erforderlich, jene, das Wort in seine Bestandteile zu zerlegen, die, wie erwähnt, in der ersten Interkomprehensionssitzung erarbeitet worden ist (Kindervakantie Duitsland; vgl. Abschnitt III 1.). Auch in der vorangegangenen Sitzung hatte Thomas diese Strategie eingesetzt (vgl. z.B. nl. doelman und seine Selbstkorrektur von „Tormann“ in „Torwart“). An dieser Stelle wendet er sie für das Lernen von Vokabeln an (ma / dame). Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass die direkte Übertragung auf sprachlicher Oberfläche („meine Dame“) im Deutschen nicht mehr sehr geläufig ist, worauf Thomas explizit hinweist: „das sagt man ja auch im Deutschen, für, für jetzt noch Frau“. Auf metakognitiver Ebene bringt er (in Form geschilderter Erfahrungen) zum Ausdruck, dass er diese Suche nach „Zusammenhängen“ für eine effektive Herangehensweise an das Lernen von Vokabeln hält und auch Vertrauen in seine eigenen diesbezüglichen Fähigkeiten hat: „und dann gucke ich und dann ist das richtig und dann ist ja gut“ 209 . Der englische Text: Der erste Teil des ersten Satzes The game is played on a rectangular grass or artificial turf field wird von Thomas folgendermaßen übertragen (Z. 61-62): „Ah ja, hier dann, das Spiel wird auf einem rechteckigen Gras, Platz, irgendwie gespielt oder auf einem, irgendwie Hallenfeld oder so.“ Die Passivkonstruktion (is played − „wird […] gespielt“) wird vermutlich wie auch im Falle des niederländischen Textes aus der Sitzung zuvor (vgl. Abschnitt III 2.1) ,unbemerkt‘, d.h. ohne eine sprachdatengeleitete (bottom up) Herangehensweise übertragen. Dies ist wahrscheinlich, da die Passivformen in Englisch bekanntermaßen mit dem Verb to be + Partizip gebildet werden, was auf Sprachformebene stärker von der deutschen Passivbildung (Handlungspassiv) abweicht. Dass Thomas das Adjektiv rectangular auf Anhieb als dt. „rechteckig“ erkennt, kann durch eine konzeptgeleitete Herangehensweise (top down), aber auch dadurch erklärt werden, dass er sich an den vorangegangenen niederländischen Text erinnert. Bemerkenswert ist seine Selbstkorrektur: „auf einem rechteckigen Gras, Platz“. So hat er erkannt, dass das englische Lexem 209 Vgl. hierzu Haudecks Befund zur Frage „Wie hast du die Wörter gelernt? “ (2008: 136ff.), demzufolge sich zwei der fünf Fünftklässler teilweise gar nicht auf diese Fragestellung beziehen (ebd.: 137) und die Anzahl genannter Kategorien bei dieser Altersgruppe verglichen mit den Achtklässlern geringer ist (ebd.: 139). <?page no="211"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 197 grass nicht mit seiner formalen deutschen Entsprechung „Gras“ bedeutungsäquivalent ist, sondern ein größeres semantisches Feld aufweisen muss. Zwar gelingt es ihm nicht, das genaue entsprechende deutsche Wort zu finden (engl. grass = dt. „Gras“ „Rasen“), doch ist seine Übertragung mit „Platz“ im vorliegenden Kontext durchaus akzeptabel, in jedem Fall angemessener als „Gras“. Darüber hinaus deutet Thomas durch das Hinzufügen von „irgendwie“ an, dass ihm bewusst ist, dass es sich hierbei um eine Annäherung handelt. Seine Änderung von „Gras“ in „Platz“ erinnert außerdem an die von ihm zuvor in Bezug auf den niederländischen Text eingesetzte Strategie, zunächst ein formähnliches deutsches Wort zu nennen und es im Anschluss dem Kontext und dem deutschen Sprachgebrauch anzupassen wie zum Beispiel bei nl. rustpauze → „Rastpause“ → „Halbzeit(pause)“. Bei dem Ausdruck artificial turf field hat Thomas Schwierigkeiten, doch kann er field als „Feld“ erkennen, bei turf gelingt ihm die Herleitung über dt. „Torf“ jedoch nicht. Bei dem Adjektiv artificial erhält er eine Hilfestellung (Z. 64-65): L.: dieses artificial, zum Beispiel, ne, da steckt art drin, weißt du, was das heißt? T.: Ah, Kunstrasen. Auch hier ist Thomas, nachdem er art als dt. „Kunst“ erkannt hat, in der Lage, einen dem deutschen Sprachgebrauch entsprechenden Begriff zu finden. Auf der Ebene der Steuerung ist zu betonen, dass an dieser Stelle zu viel vorgegeben wurde. Anstatt Thomas darauf hinzuweisen: „da steckt art drin“ hätte die Frage - man denke auch an die Alltags- und Medienpräsenz des Wortes art - zumindest lauten müssen: „Steckt in dem Wort etwas drin, das dir bekannt vorkommt? “ Sie hätte möglicherweise auch noch offener formuliert werden können, indem ihm die Analyse des Adjektivs artificial gänzlich überlassen wird. Dieser Steuerungsfehler, der durch das Interesse zustande kam, zu erfahren, ob Thomas das Wort art kennt oder nicht und daher Schwierigkeiten hat, weist auf die Spontaneität und Flexibilität auf Lehrerseite hin, die interkomprehensiver Unterricht erfordert. Ein Begriff, der sich auf die Frage nach dem Grad der Vorgabe und Steuerung in einer gegebenen Interkomprehensionssituation anwenden ließe, in der ein Lerner sein (Vor-)Wissen mehr oder auch weniger manifestiert, ist jener der „situativen Kompetenz“ 210 . 210 Dieser Begriff ist in der Fremdsprachendidaktik im Kontext des so genannten Erfah rungswissens (Appel 2000: 278) von Fremdsprachenlehrern als dessen wesentlicher Teil diskutiert worden. In der qualitativen Forschungsmethodologie wird er auch auf die geforderte Kompetenz des Interviewers bei halbstrukturierten (bzw. halboffenen) Interviews bezogen (vgl. Flick 1999: 97); vgl. in diesem Zusammenhang auch die Diskus sion des dialogue pédagogique in Kapitel II 4. Auch wenn die Frage der Steuerung im Interkomprehensionsunterricht nicht der Fokus der vorliegenden Untersuchung ist (vgl. hierzu Schröder-Sura 2011), soll im Folgenden, wie angesprochen, an einigen Stellen hierauf eingegangen werden. <?page no="212"?> 198 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven In Bezug auf den zweiten Teil des ersten Satzes (with a goal in the centre of each of the short ends) ergibt sich folgender Dialog (Z. 70-74): T.: Mit einem Tor, ähm, Ende irgendwie. Mit einem Tor an einem Ende. L.: Mhm. T.: Short heißt doch kurz, oder? L.: Ja. T.: Oder kurzen Enden. Die Änderung des Singulars „an einem Ende“ in „Enden“ weist darauf hin, dass Thomas verstanden hat, was hier gemeint ist (d.h. eine Präzisierung, an welchen Seiten des rechteckigen Feldes die Tore stehen). Was das Adjektiv und Substantiv short ends angeht, vergewissert er sich zunächst über die Bedeutung von short und bettet das Wort erst im Anschluss in den Kotext ein („kurzen Enden“). Dies deutet darauf hin, dass er es nicht über den Kontext und sein Weltwissen erschlossen hat. Stattdessen hat Thomas das Adjektiv vermutlich als bereits gespeichertes Vokabelwissen aus seinem mentalen Lexikon abgerufen. Insbesondere bei Interkomprehension in einer Zielsprache, die Schüler ebenfalls im ‚traditionellen‘ Fremdsprachenunterricht erlernen, ist somit neben Profilwörtern, -formen und -funktionen sowie Transferbasen die Kategorie der − zumindest für Sprachrezeption − aus dem Langzeitgedächtnis abrufbaren Wörter, Formen und Funktionen hinzuzufügen. Diese können zugleich interlingual transparent sein, etwa um eine abgerufene Bedeutung zu verifizieren oder falsifizieren, oder auch opak. Die obige Einschränkung „insbesondere“ bedeutet, dass diese weitere Kategorie grundsätzlich für jede Art von Interkomprehension gilt, sei es in einer Fremdsprache, die Schüler gerade lernen, oder in einer ,gänzlich unbekannten‘ Sprache. Der Unterschied ist eine Frage der Gewichtung und Verteilung des fremdsprachlichen Input (oder besser: Intake) auf diese drei Kategorien. Ein Beispiel hierfür ist das italienische Wort pesce, das ein Schüler aus der Klasse 6b (Abschnitt III 3.2) als dt. „Fisch“ angeben konnte. Diese Angabe erfolgte nicht durch einen interlingualen Erschließungsprozess − etwa über frz. poisson −, sondern durch Reaktivierung des italienischen Wortes aus seinem mentalen Lexikon, da er kurz zuvor in einem italienischen Restaurant war 211 . Dieses Beispiel zeigt, dass es auch bei Interkomprehension in einer ‚gänzlich unbekannten‘ Sprache Fälle geben kann, in denen ein zielsprachliches Lexem nicht (etwa interlingual oder kontextuell) erschlossen, sondern ‚lediglich‘ aus dem mentalen Lexikon abgerufen wird. Die Frage, ob ein Wort, eine sprachliche Funktion etc. erschlossen oder erinnert wurde, kann im Einzelfall nicht immer festgestellt werden, da (junge) Lerner, wie sich schon in der Pilotstudie andeutete (vgl. Morkötter 2008: 306), 211 Zur Rolle von Kontiguität für diese Speicherung vgl. Abschnitt III 3.2. <?page no="213"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 199 gerade bei erfolgreichen Übertragungen in der Regel nicht (zumindest nicht von sich aus) verbalisieren, wie sie auf ihre Lösung gekommen sind. Nach dem Vorlesen des zweiten Satzes (The object of the game is to score by driving the ball into the opposing goal.) bezieht sich Thomas zuerst auf score (Z. 84): „Irgendwie, score heißt ja eigentlich so Punktzahl oder so.“ Auf die Frage nach der Wortart von score und einem erneuten Vorlesen des ersten Teils des Satzes antwortet er zunächst, dass es sich um ein „Hauptwort“ (Z. 88) handele. Dies ist nachvollziehbar, da engl. score im Deutschen zwar als Fremdwort existiert, etwa auf Anzeigetafeln, die einen Punktestand angeben, oder bei elektronischen Spielen etc., jedoch nur als Substantiv. Das intransitive Verb to score ist dagegen im Deutschen nicht gebräuchlich, auch nicht in einer morphologisch angepassten Form wie etwa im Falle von „downloaden“ (*„scoren“). Nach einem dritten Vorlesen dieser Textpassage gelingt es Thomas anhand der vorangegangenen Präposition to score als ein Verb zu erkennen: „Ja, to score, das ist dann ’n Verb.“ (Z. 90). Der Satz: The object of the game is to score by driving the ball into the opposing goal. wird von ihm schließlich mit „Das Ziel vom Spiel ist es zu punkten und den Ball ins Tor zu kriegen” (Z. 96) übertragen. Da Thomas das englische Gerundium (wahrscheinlich) noch nicht kennt, verwendet er stattdessen eine weitere Infinitivkonstruktion („zu kriegen“). Auf semantischer Ebene scheint er hier intuitiv zu erkennen, dass das Verb to drive in der Bedeutung, in der er es vermutlich kennen gelernt hat (to drive a car = „ein Auto fahren“), nicht passt und überträgt es − durchaus kontextangemessen − mit „kriegen“. Er geht hier sehr kontextgeleitet vor. Dies erklärt auch, warum ihm die Übertragung von object mit „Ziel“ gelingt, obwohl die deutsche Transferbasis „Objekt“ hier wenig hilft. Dass sich Thomas an dieser Stelle vor allem an seinem Weltwissen orientiert, wird in folgendem Dialog deutlich (Z. 97-101): L.: Ja, genau. Genau. Was ist denn mit diesem opposing goal gem-, vielleicht gemeint? T.: Hm … gegnerische Tor. L.: Mhm, genau. Und wie bist du drauf gekommen? T.: Weil man beim Fußball ja nicht ins eigene Tor schießen soll. Hinzuzufügen ist, dass ihm, wie sich durch explizites Nachfragen herausstellt, das englische Wort opposite, das er zielsprachlich intralingual als Transferbasis hätte heranziehen können, durchaus bekannt ist (Z. 110). Auch im Folgenden geht Thomas kontextgeleitet vor. Die englische Partizipialkonstruktion: the goalkeepers are the only players allowed to use their hands or arms to propel the ball wird − völlig korrekt − mit einem Relativsatz wiedergegeben (Z. 113 - 114): „Es soll, ja, also die, die Torhüter sind die einzigen, die, die den Ball mit den Händen oder Armen, Armen, also (...) anfassen dürfen.“ Sein Zögern vor „anfassen“ bezieht sich wahrscheinlich eher auf das Verb to propel als auf to use, da Thomas das Verb use in der darauf folgenden Zeile: use <?page no="214"?> 200 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven their feet problemlos mit „benutzen“ (Z. 123) überträgt. Auch hier versucht er, sein Wissen über Fußball einzusetzen, und nimmt auf die Tatsache Bezug, dass nur der Torwart beim Fußballspiel auch seine Hände und Arme einsetzen darf. Die Übertragung „anfassen“ entspricht zwar nicht der Bedeutung des englischen Verbs (to propel = dt. „antreiben“, „vorantreiben“), doch zeigt Thomas’ Vorschlag, dass er das Gemeinte (die Möglichkeiten des Torwarts im Gegensatz zum Rest der Mannschaft) verstanden hat. Bei dem folgenden Satzteil the rest of the team usually use their feet to kick the ball into positon ist bei Thomas eine stärkere bottom up-Verarbeitung feststellbar (Z. 116, 123-124): T.: Und der Rest von der Mannschaft, ja … hier weiß ich nicht weiter. […] benutzen ihre Füße zum Schießen den, äh, zum Ballschießen auf die Position. Seine stärker daten- und auch einzelwortgeleitete Herangehensweise zeigt sich darin, dass er im Deutschen zunächst die englische Syntax beibehält, vorausgesetzt, er wollte in der Passage „zum Schießen den äh“ zuerst „zum Schießen den Ball“ sagen. Sein bottom up-Vorgehen an dieser Stelle des Textes im Gegensatz zu seiner vor allem an Weltwissen und am Kontext orientierten Herangehensweise zuvor (s.o.) wurde vermutlich durch die Frage, ob er wisse, was feet heißt (Z. 119-120) hervorgerufen, die er beantworten kann. Auf metakognitiver Ebene ist Thomas’ Fähigkeit, eigene Lakunen zu identifizieren, hervorzuheben: „hier weiß ich nicht weiter“. Auch beim zielsprachlich auf lexikalischer Ebene äußerst schwierigen Satzteil occasionally using their torso or head to intercept a ball in midair sucht Thomas zunächst nach ihm bekannten Wörtern: „Mit dem Kopf irgendwie da.“ (Z. 126). Hierbei kann allerdings zusätzlich Weltwissen eine Rolle gespielt haben, da Fußballspieler neben Schüssen mit ihren Füßen den Ball bekanntlich auch köpfen dürfen. Das deutsche Fremdwort „Torso“ ist Thomas nicht bekannt. Auch beim Textstück to intercept a ball in midair hat er Schwierigkeiten, so dass ihm eine Hilfestellung gegeben wird (Z. 134-139): L.: Ne, also das, genau und dieses midair, was, äh, … T.: Weiß ich nicht. L.: Äh, oder er-, kennst du das Wort air? Hattet ihr das schon? T.: Ja, Luft. L.: Ja, genau, ne? Also was könnte das heißen? T.: Ja, Luftmitte. Da Thomas das Wort air bekannt ist und er auch midwiedererkennt (vgl. z.B. auch engl. mid-night), ist die Tatsache, dass er sich nicht von sich aus zu den Bestandteilen des Wortes midair äußern kann (vgl. Z. 135), vermutlich weniger auf die mangelnde prozedurale Verfügbarkeit der Erschließungsstrategie, Komposita zu zerlegen, zu diesem Zeitpunkt zurückzuführen. Vielmehr liegt sie darin begründet, dass er nicht versteht, was mit midair im vorliegenden <?page no="215"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 201 Textzusammenhang gemeint ist. Dasselbe scheint für das von ihm vorgeschlagene deutsche Kompositum „Luftmitte“ zu gelten, da er nicht den Versuch macht, seine Übertragung in den (ko)textlichen Zusammenhang einzubetten oder zu erläutern. Die Übertragungsprobleme des Wortes midair hängen zweifelsohne mit dem vorangehenden Verb, to intercept (= dt. „abfangen“) a ball, zusammen, das für Thomas nicht transparent ist. Der letzte Satz schließlich, The team that scores the most goals by the end of the match wins., bereitet ihm keine Probleme (Z. 145-148): T.: Äh, ich, äh, irgendwie, ähm, dieses mit Team, also, äh, die Mannschaft mit, mit den meisten Toren … L.: Ja. T.: Am Ende vom Spiel, äh, vom Spiel gewinnt. Allerdings umgeht er den Relativsatz mit dem − in diesem Fall transitiv verwendeten − Verb to score, indem er ihn in eine Präpositionalkonstruktion auflöst: „mit den meisten Toren“. Zusammenfassung wichtiger Befunde zum englischsprachigen Text: Die Analyse dieses ersten Teils der Interkomprehensionsstunde konnte zeigen, dass es Thomas insgesamt weitestgehend gelingt, die Hauptaussagen des englischen Textes über Fußballregeln zu verstehen. Auch bei diesem Text ist Thomas in der Lage, interlingual weniger transparente Wörter durch eine Berücksichtigung des Ko- und des Kontextes zu erschließen, d.h. auch hier Strategien zielgerichtet einzusetzen. Er erkennt, dass zwei interlingual auf Sprachformebene einander entsprechende Lexeme (dt. „Gras“ und engl. grass), die auch (mindestens) eine gemeinsame Bedeutung haben, sich dennoch in der Anzahl ihrer möglichen Bedeutungen (im Grad an Polysemie) unterscheiden können. Diese Erkenntnis kann er auf der Ebene des savoir faire in Sprachhandlungen umsetzen und sich selbst korrigieren, indem er die interlingual gemeinsame Bedeutung in ein angemesseneres Wort ändert: „auf einem rechteckigen Gras, Platz“. Thomas kann seine Vorgehensweise beim Lernen von Vokabeln detailliert schildern und Unterschiede seiner Lernhandlungen im Vergleich zur verbreiteten ‚Abdeckmethode‘ darstellen. Diese Unterschiede in seiner Vorgehensweise, der Suche nach „Zusammenhängen“, kann er auf Nachfragen hin auf Anhieb durch ein Beispiel (frz. madame) illustrieren. Das ist eine wichtige Voraussetzung für die Bildung von Sprach- und Lernhypothesen. Er ist in der Lage, eigene Lakunen in einem zielsprachlichen Textstück zu identifizieren: „hier weiß ich nicht weiter“. <?page no="216"?> 202 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Prospektiv für das Erlernen der französischen Sprache bzw. romanischer Sprachen bedeutet dies: Die Fähigkeit, bei interlingualen Abweichungen auf Signifikantenebene den Kontext hinzuzuziehen, ist für Interkomprehension und den Erwerb fremder Sprachen besonders wichtig (s.o.). Der gelungene didaktische Transfer dieser Strategie von der niederländischen auf die englische Sprache erfolgte zwar (noch) nicht in einer Sprachfamilien übergreifenden Weise, jedoch unter anderem auf der Grundlage romanischer Wortschatzanteile im Englischen wie beispielsweise im Falle des Adjektivs opposing. Die von Thomas wahrgenommenen interlingualen Unterschiede im Grad an Polysemie zweier Interlexeme lassen sich bereits zu einem frühen Zeitpunkt auf das Erlernen der französischen und weiterer romanischer Sprachen übertragen, wie Wortreihen wie dt. „Professor“ frz. professeur - span. profesor − ital. professore (= „Professor“, aber auch: „Lehrer“) illustrieren. Die bereits an einem französischsprachigen Beispiel (ma / dame − „meine Dame“ „Anrede für ’ne Frau“) illustrierte Vorgehensweise der Suche nach interlingualen Bezügen entspricht Modellen des mentalen Lexikons als einer netzwerkartigen Struktur und lässt sich auf das Lernen von Vokabeln in weiteren romanischen Sprachen übertragen 212 . Die Fähigkeit, eigene Lakunen und hier: opake Stellen in einem Textstück zu identifizieren, ist für das Sprachenlernen bzw. die Fähigkeit der Selbstdiagnostik insgesamt wichtig (Lerner müssen in der Lage sein, festzustellen, an welcher Stelle sie nicht weiter wissen und welche externen Ressourcen wie Wörterbücher, andere Nachschlagewerke, Lehrer, Muttersprachler sie heranziehen müssten). Vriendschap en sportiviteit kennen geen grenzen: Für den zweiten Teil dieser Stunde wurde, wie erwähnt, ein weiterer niederländischer Text zum Thema „Fußball“ eingesetzt, bei dem es sich um eine andere Textsorte handelt. Die bislang behandelten Texte sind Sachtexte über die Sportart „Fußball“, die durch bestimmte morphosyntaktische Merkmale wie die oben angesprochene Verwendung des Passivs gekennzeichnet sind. In diesem Fall ist es ein Bericht über die Ergebnisse eines internationalen Fußballturniers für Kinder von 9 bis 13 Jahren, der entsprechend auch Vergangenheitsformen enthält. Neben dem Text, der wie folgt lautet, befindet sich ein Bild, das drei orangefarben gekleidete Kinder aus der Siegermannschaft zeigt, von denen eines einen Pokal in der Hand hält: 212 Wobei es neben interlingualen selbstverständlich weitere Formen der Vernetzung gibt (vgl. z.B. Kielhöfer 1994; Neveling 2004; Küster 2013). <?page no="217"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 203 Scholieren uit Duitsland, België en Nederland voetbalden voor de 16e keer voor de Drielandencup. De organiserende jeugdclub Lariks uit Amsterdam presenteerde vijf teams: twee teams in de categorie 11-13 jaar en drie in de categorie 9-10 jaar 213 . Nach dem Vorlesen der Überschrift: Scholieren uit Duitsland, België en Nederland voetbalden voor de 16e keer voor de Drielandencup ergibt sich folgender Dialog (Z. 155-158): T.: Also, Deutschland, Belgien, Niederlande wollen dann Dreiländercup oder so. L.: Ja. Wie kommst du auf dieses Dreiländercup? T.: Weil dieses Drie da. Seine Antwort „dieses Drie da“ weist auf eine interlinguale und weniger ko(n)textuelle (es wurden drei Länder genannt, die an dem Turnier teilnehmen) Herangehensweise hin. Bemerkenswert ist, dass Thomas das niederländische Wort voetbalden (= „sie spielten Fußball“), das als Verb keine Entsprechung im Deutschen hat (vgl.: *„sie fußballerten …“), mit einem Verb („wollen“) überträgt. Auf Nachfragen hin kann er sowohl die Bedeutung als auch die morphosyntaktische Funktion des Wortes angeben (Z. 158-164): L.: Und was ist das hier in diesem Fall für ein Wort? T.: Fußball. L.: Ja, also was für eine, was für eine Wortart? T.: Ähm, ein Verb oder so. L.: Ja, genau, genau, genau. Wie kommst du darauf, dass das hier ein Verb ist? Also ist, ist ja richtig, ne? T.: Ja, weil es da, dieses -balden. Das Nachfragen an dieser Stelle (Z. 158) ist im Kontext der Differenzierung des dialogue pédagogique (Abschnitt II 4.) in eine tendenziell stärkere Generierung von Hypothesen einerseits und eine tendenziell stärkere Untersuchung lernerseitig bereits gebildeter Hypothesen andererseits als ein Beispiel für letztere zu verstehen. Denn: Durch seine Übertragung von voetbalden mit „wollen“ hat Thomas bereits gezeigt, dass er weiß, dass es sich bei diesem Wort um ein Verb handelt. Das Nachfragen ist ein Versuch, zu untersuchen bzw. zu erfahren - gerade aufgrund der niederländisch-deutschen Unterschiede in diesem Fall - warum er es weiß und ob er seine gebildete Hypothese untermauern kann (vgl. Z. 162: „Wie kommst du darauf …“). Ein solches Nachfragen ist nicht nur aus Sicht der Forschung, sondern auch (und vor allem) für den Lerner von Bedeutung, weil eigene Erläuterungen zu seinen Hypothesen durch die Verbalisierung einen wichtigen Beitrag für die Entwicklung seiner Sprach(lern)bewusstheit und Sprachlernkompetenz liefern können. 213 http: / / www.opusdei.nl/ art.php? p=11200 (01.06.09). <?page no="218"?> 204 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Dass er die Frage „was ist das hier in diesem Fall für ein Wort? “ mit „Fußball“ beantwortet, sie also als eine Frage nach der Wortbedeutung interpretiert, entspricht der Vermutung, dass Lernern im ‚herkömmlichen‘ Fremdsprachenunterricht selten eine eigenständige Hypothesenbildung und -erläuterung (im morpho-syntaktischen Bereich) abverlangt bzw. besser: ermöglicht wird. Zwar ist auf semantischer Ebene das Erschließen des Wortes voetbalden insofern nicht verwunderlich, als das niederländische Verb das Thomas bekannte Substantiv voetbal komplett enthält. Auf morphosyntaktischer Ebene dagegen ist es erstaunlich, dass er es als ein Verb erkennen und darüber hinaus erläutern kann, warum es sich bei voetbalden um ein Verb handeln muss, indem er von sich aus auf die Endung -balden Bezug nimmt. Dieses Wissen und diese Fähigkeiten wären ohne ein Nachfragen verborgen geblieben. Es gelingt Thomas auch, die Person der Verbform (3. Person Plural) zu bestimmen: „sie spielen“ (Z. 167). Auf die Frage, was in der Überschrift Scholieren uit Duitsland, België en Nederland voetbalden voor de 16e keer voor de Drielandencup. denn für dieses „sie“ stehe (Z. 168), antwortet er allerdings „Deutschland, Belgien und die Niederlande“ (Z. 169). In der Interkomprehensionsstunde zu lexikalischen Serien vor den Sommerferien hat Thomas das niederländische Wort school, das im Schriftbild mit dem englischen identisch ist, kennen gelernt. Dass er das Wort scholieren nicht als „Schüler“ erkennt, kann verschiedene Gründe haben: Durch die − bedingt durch die offene Silbe − im Niederländischen notwendige Verkürzung des Doppelvokals: scho-lieren ist das Wort school nicht mehr so leicht wiedererkennbar. Auch ein Rückgriff auf die englische Transferbasis school hilft hier nur bedingt, da das englische Wort für „Schüler“ abweichend vom Niederländischen einer anderen Wortfamilie angehört (vgl. engl. pupil). Was das Textstück voor de 16e keer (= „zum 16. Mal“) angeht, trifft Thomas’ Übertragungsvorschlag mit „vor dem 16. Lebensjahr“ (Z. 174) zwar nicht zu (ein erfolgreiches Erschließen des opaken Wortes keer war aber auch nicht zu erwarten). Er lässt sich dennoch als ein Beispiel für intelligent guessing bezeichnen. Thomas führt hier mehrere Strategien zusammen: Er erkennt nl. voor als eine Präposition (die im Übrigen auch zeitlich „vor“ bedeuten kann, vgl. Gabriel-Kamminga & Roodzwant 2004: 82) und de als den bestimmten Artikel. Darüber hinaus fällt ihm das „e“ hinter „16“ auf, was dazu führt, dass er die Zahl als Ordnungs- und nicht als Grundzahl wiedergibt. Da er aufgrund der weiteren Zahlen im Text und des Bildes weiß, dass die Kinder, um die es geht, jünger sind als 16 Jahre, stellt er auf der Basis des Kontextes und seiner intra- und interlingualen Beobachtungen die Hypothese auf, dass es „vor dem 16. Lebensjahr“ bedeuten könnte. <?page no="219"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 205 Den ersten Satz des Textes, De organiserende jeugdclub Lariks uit Amsterdam presenteerde vijf teams: twee teams in de categorie 11-13 jaar en drie in de categorie 9-10 jaar., überträgt Thomas ohne Probleme (Z. 238-241): T.: Der organisierende Jugendclub Lariks aus Amsterdam machten zwei Team, machten, machten vier Teams, zwei Teams in der Kategorie 11 bis 13 Jahr und, nee, fünf Teams, zwei Teams in der Kategorie 11 bis 13 Jahren und drei Teams in der Kategorie 9 bis 10 Jahre. Die Tatsache, dass er die ausgeschriebene niederländische Zahl vijf zunächst mit „vier“ übersetzt, kann mit dem vierten Sieb der Graphien und Aussprache (vgl. Duke 2007: 145ff. und s.u.) erklärt werden. Doch ist er, wie das Zitat verdeutlicht, in der Lage, sich zu korrigieren. Auf seine Korrektur angesprochen wird deutlich, dass er sich hier an den interlingual transparenten Zahlen orientiert hat (Z. 242-244): L.: Ja, genau. Du hast dich ja gerade korrigiert, fünf. Warum hast du das in fünf geändert? T.: Weil zwei plus drei nicht vier ist, sondern fünf. Die interlingual transparenteren Zahlen twee und drie zu erschließen und daraufhin zu rechnen ist in diesem Fall natürlich ein möglicher − und wie sich gezeigt hat − erfolgreicher Weg, das niederländische vijf als „fünf“ zu identifizieren, zumal diese Herangehensweise eine Betrachtung des ganzen Satzes erfordert im Gegensatz zu einem Wort-für-Wort-Voranschreiten. Am Beispiel des Wortes vijf lässt sich sehr anschaulich illustrieren, dass es bei Interkomprehension in einer ,unbekannten‘ Zielsprache notwendig ist, Schülern sowohl das Schriftbild als auch das Lautbild zu präsentieren. Dies ist einerseits aus motivationalen Gründen erforderlich, denn Lerner möchten die Aussprache kennen lernen (vgl. Meißner 2008b: 274). Andererseits vergrößert die Kenntnis sowohl des Schriftals auch des Lautbildes eines zielsprachigen Textes die (potenzielle) Suchbreite. So ist das nl. vijf bei Kenntnis der Tatsache, dass die Graphemfolge ij als [ i] realisiert wird 214 , sehr viel einfacher auf engl. five transferier- und hierdurch als „fünf“ erschließbar als auf der Grundlage des geschriebenen Wortes allein. Als Thomas diese Textpassage erneut vorgelesen wird, ist er auf der Basis des Lautbildes auch sofort in der Lage, die englische Transferbasis zu nennen (Z. 245-247): L.: Ja, ähm, genau. Oder wenn man jetzt das so liest, vijf, woran erinnert das auch? T.: Five. 214 Nicht jedoch in unbetonter Endsilbe, in der ij in etwa als Schwa gesprochen wird (vgl. Gabriel-Kamminga & Roodzwant (2004: 5) und s.o. zu: afhankelijk). <?page no="220"?> 206 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Das Schriftbild, insbesondere am Wortanfang, erinnert dagegen in der Tat eher an die dt. Zahl: „vier“. Auf diesen Sachverhalt weist Thomas auch explizit und von sich aus hin, als er im Folgenden seine zunächst gebildete Hypothese verteidigt, indem er sich auf interlinguale Ähnlichkeiten im Schriftbild stützt (Z. 250): „Ja, es hätte ja jetzt auch vier sein können, weil diese v i, äh, i j.“ De organiserende jeugdclub Lariks uit Amsterdam presenteerde vijf teams: Thomas hat das Verb presenteerde mit „machten“ übertragen: „Der organisierende Jugendclub Lariks aus Amsterdam machten zwei Team, machten, machten vier Teams …“ (Z. 238ff.; s.o.) 215 . Da er vermutlich die Transferbasis „präsentieren“ oder auch engl. to present (bzw. frz. présenter) nicht aktivieren konnte, hat er dieses allgemeinere Verb als einen Platzhalter eingesetzt. Als er auf das Verb angesprochen wird, kommt folgender Dialog zustande (Z. 253-259): L.: du hast da jetzt gerade gesagt, machte, äh, woran erinnert das Wort denn, denn auch noch? Also jetzt, äh, dieses? T.: Ein Geschenk. present, Geschenk. L.: Ja. T.: Ein Geschenk ist ja auch gemacht, meistens. L.: Ja. Aber warum kann es hier nicht Geschenk heißen? T.: Weil, weil sonst dieses -eerde weg wär. Die bei jungen Lernern beobachtete nahezu ausschließliche Orientierung an formalen Ähnlichkeiten auf der sprachlichen Oberfläche und auf Einzelwortebene (vgl. z.B. Haastrup 1991: 209; Behr 2007: 137 und Bär 2009: 507) zeigt sich bei Thomas hier gerade nicht. Denn: Er hatte bereits zuvor das nl. presenteerde syntaktisch korrekt mit einem Verb übertragen. Dass er nun engl. present (bzw. dt. „Geschenk“) anführt, d.h. sich auf ein ähnliches Wort auf Sprachformebene konzentriert, wurde durch die Frage, woran ihn das Wort auch noch erinnere, provoziert. So ist er auch sofort in der Lage, anhand der niederländischen Wortendung die Übertragung mit „Geschenk“ auszuschließen. Wie zuvor im Falle des Verbs voetbalden und der Endung -balden zeigt Thomas auch hier die für Sprachenlernen so wichtige Fähigkeit zur Dekomposition von Wörtern in ihre Bestandteile. Darüber hinaus ist ihm bewusst, dass dieses niederländische Morphem ein Vergangenheitstempus ausdrücken muss 216 , was im Folgenden deutlich wird (Z. 260-261): L.: Und, äh, was ist das für eine, für eine Wortart, wenn man da mal sich … T.: Vergangenheit. 215 Vgl. hierzu auch die Ausführungen in Morkötter (2011b). 216 Genauer gesagt, lautet das Suffix, das im Niederländischen den Imperfekt der dritten Person Singular markiert, -de (vgl. Goedbloed 1986: 101), doch geht es im vorliegenden Kontext vor allem um die Erkenntnis des Kindes, dass das Ende eines Wortes eine wichtige Rolle bei der Derivation von Verben spielt. <?page no="221"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 207 Wie der Dialog zeigt, antwortet Thomas auf die Frage nach der Wortart präziser, als erwartet bzw. gefragt wurde. In seiner Erläuterung, woher er weiß, dass es sich um eine Vergangenheitsform handeln muss, zieht er zwei Arten von Wissen heran (Z. 262-266): L.: Und woran hast du das erkannt, dass das in der Vergangenheit ist? T.: Wei, weil die, die das ja schon gemacht haben. L.: Mhm. T.: Ist ja eigentlich wie so ein Bericht und das ist ja immer in der Vergangenheit. Thomas mobilisiert hier sein Weltwissen, zum einen über den Kontext und die Situation: Das Fußballturnier hat schon stattgefunden: „weil die, die das ja schon gemacht haben“. Zum anderen zieht er sein Wissen über Textsorten heran und spricht dieses Thema auch aus eigener Initiative an. Er bestimmt die Textsorte des vorliegenden Textes als einen Bericht, der (was sowohl generell als auch in diesem Fall zutrifft) in der Vergangenheit geschrieben sei. Die Eigenständigkeit und Explizitheit, mit der das Kind die Strategie der Nutzung von Textsortenwissen anführt, ist aus metakognitiver Sicht erstaunlich, denn diese Strategie wurde bis zu diesem Zeitpunkt weder in der jahrgangsübergreifenden Gruppe noch in den individuellen Sitzungen angesprochen (vgl. die Abschnitte III 1., III 2.1 und diesen Abschnitt). Es kann sein, dass das hier explizit manifestierte Wissen über Textsorten auch implizit zum Erkennen des niederländischen und englischen Passivs in den vorangegangenen Sachtexten (s.o.) beigetragen hat. Auf die Frage, warum man nicht nur „Geschenk“, sondern auch das Verb „schenken“ ausschließen könne, sagt Thomas (Z. 285-287): L.: warum, warum kann es auch nicht schenken heißen? Also trotz diesem present da am Anfang? T.: Man schenkt ja eigentlich so die, eine Mannschaft nicht. Hier zeigt er, dass er in der Lage ist, den niederländischen Satz zu analysieren und den sprachlichen Kotext zu nutzen, um „schenken“ als eine Übertragungsmöglichkeit auszuschließen, da das Verb auf semantischer Ebene nicht zum Objekt des Satzes passt. Dieses Ausschlussverfahren durch eine Berücksichtigung des sprachlichen Kotextes ist eine wichtige Strategie, die beispielsweise im Falle von auf Sprachoberfläche konvergierenden, in ihrer Bedeutung jedoch divergierenden Wörtern Anwendung finden kann (d.h. im Falle ‚falscher Freunde‘). Diese Analyse des niederländischen Satzes hat bei Thomas eine metasprachliche und metakognitive Beobachtung ausgelöst, die er auch verbalisieren kann (Z. 287-290): T.: Man schenkt ja eigentlich so die, eine Mannschaft nicht. L.: Eben, ne? Genau. Ne, also einfach weil, weil es, ja … <?page no="222"?> 208 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven T.: Die ist ja, wie im Englischen dieses, dieses like, das kann ja auch mal wie bedeuten und einmal mögen. Diese metasprachliche und metakognitive Erfahrung, die durch das Verb presenteerde initiiert wurde, kann das Kind, wie der Dialog zeigt, unaufgefordert und aus eigener Initiative auf die englische Sprache übertragen. Darüber hinaus gibt Thomas − ebenfalls von sich aus − ein sprachliches Beispiel. Sein Beispielwort zur Illustration der von ihm erkannten interlingualen Relation ist ein gutes Beispiel, da es sich bei like = „wie“ und like = „mögen“ um Homonyme handelt, die sowohl etwas Unterschiedliches bedeuten als auch unterschiedlichen Wortklassen (eine Präposition und ein Verb) angehören. Wenn man an die für das Französische so charakteristische Homophonie und Homographie (vgl. z.B. frz.: ver (2x), vers (2x), vair, verre) denkt, wird deutlich, wie wichtig diese Erkenntnis und mentale Operation auch für das Lernen seiner zweiten Fremdsprache ist. Außerdem wird ebenfalls deutlich, dass es neben Transfer auf der Grundlage von Ähnlichkeiten auf Sprachoberfläche mehr zu transferieren gibt, was insbesondere in einer sprachfamilienübergreifenden Perspektive von Bedeutung ist. Dass Thomas ein Transfer seiner metasprachlichen Erkenntnis auf seine zweite Fremdsprache, also Französisch, gelingen wird, ist m.E. in diesem Fall wahrscheinlich. Darauf deutet die Fortsetzung dieses Dialoges hin (Z. 289-292): T.: Die ist ja, wie im Englischen dieses, dieses like, das kann ja auch mal wie bedeuten und einmal mögen. L.: Ja. T.: Muss man halt dann gucken, in welchem Zusammenhang das da steht. Wie das Zitat zeigt, ist er nicht nur in der Lage, spontan ein passendes Beispiel für den von ihm erkannten intra- und zugleich interlingualen Zusammenhang zu finden, sondern er kann ebenfalls wiederum von diesem Beispiel abstrahieren, indem er hierzu eine Regel formuliert. Diese Regelformulierung erfolgte, wie aus dem Dialog hervorgeht, ohne Aufforderung aus eigener Initiative. Auf metakognitiver Ebene weist seine Äußerung einen sehr hohen Grad an Explizitheit auf. Hervorzuheben ist vor allem die Selbststeuerungskompetenz (vgl. Meißner 2008a), eigene Lernhandlungen zu reflektieren und zu verbalisieren, die Thomas hier und insgesamt in diesem zweiten Teil der Interkomprehensionsstunde zeigt. Sein Verweis auf Homonymie, ein Begriff, den er selbstverständlich nicht kennt, jedoch durch ein gutes Beispiel illustrieren kann, und sein Hinweis, man müsse „gucken, in welchem Zusammenhang das da steht“, lassen ihn in der Rolle des Ratgebenden erscheinen. Es muss in diesem Zusammenhang auch daran erinnert werden, dass Thomas den Fall von Homonymie und die Frage, wie damit umzugehen ist, aus eigner Initiative <?page no="223"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 209 anspricht, da dieses Thema - ebenso wie jenes der Textsorten als einer weiteren Wissensquelle - zuvor in keiner der Interkomprehensionsstunden vorkam. Zusammenfassung wichtiger Befunde zum niederländischsprachigen Text: Thomas entschlüsselt den niederländischen Text über das internationale Fußballturnier ohne Schwierigkeiten. Hervorzuheben sind bei diesem Teil der Interkomprehensionsstunde vor allem seine manifestierten Fähigkeiten im strategischen und insbesondere im metakognitiven Bereich. Thomas zeigt seine Fähigkeiten, niederländische Sätze zu analysieren, indem er z.B. ein Wort wie voetbalden, das er bislang nur als Substantiv kennen gelernt hat (voetbal) und das als ein Verb keine Entsprechung in seiner Ausgangs- oder seinen Brückensprachen hat (vgl. sie *„fußballerten“, they *footballed, ils *footballaient), dennoch in dessen grammatischer Funktion erkennen kann. Seine strategische und Sprachreflexions-Kompetenz zeigt sich noch deutlicher am Beispiel des Verbs presenteerde (Morkötter 2011b): - Thomas zerlegt das Wort in dessen Bestandteile und erkennt die Endung als eine Markierung sowohl eines Verbs als auch eines Vergangenheitstempus. - Er kann über seine eigene strategische Vorgehensweise sprechen. - Er fügt von sich aus eine weitere nutzbare Wissensquelle, das Wissen über Textsorten und die in ihnen üblicherweise verwendeten Tempora, hinzu. - Er kann eine mögliche Bedeutung eines Wortes bewusst ausschließen, indem er den Kotext (im Falle von „schenken“ das Objekt des Satzes, das semantisch nicht zu dem Verb passt) unter formal-grammatischen Gesichtspunkten analysiert. Er kann bei opaken Ausdrücken wie voor de 16e keer, die ihm keinerlei Transferbasen zur Verfügung stellen, dennoch ‚intelligente‘ Hypothesen (im Sinne des intelligent guessing) aufstellen, indem er auf den Kotext rekurriert („vor dem 16. Lebensjahr“), auch wenn diese in diesem Fall nicht zutreffen. Er zeigt hierbei eine sprachliche Aufmerksamkeit 217 , indem er für 16e eine Ordnungs- und nicht eine Grundzahl verwendet, ihm also das angehängte „e“ auffällt. Thomas erkennt, dass die Unterscheidung von Laut- und Schriftbild im Erschließungsprozess eine Rolle spielen kann, und bringt diese Erkenntnis zum Ausdruck, indem er die von ihm auf der Grundlage des Schriftbildes gebildete Hypothese als eine denkbare verteidigt („es hätte ja jetzt auch vier sein können, weil diese v i, äh, i j.“). 217 Zum Begriff der Sprachaufmerksamkeit vgl. auch Oomen-Welke (2002; 2006). <?page no="224"?> 210 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Er ist in der Lage, seine Hypothese von sich aus durch Rückgriff auf den Ko- und Kontext zu korrigieren. Wie durch die Analyse dieses zweiten Teiles der Interkomprehensionsstunde deutlich wurde, zeigt Thomas hier seine Selbststeuerungskompetenz in besonderem Maße und mit deutlicher Eigenständigkeit. Er spricht von sich aus explizit die Berücksichtigung von Textsorten als mögliches Vorwissen, das für eine Texterschließung genutzt werden kann, an 218 . Er weist darauf hin, dass Wörter, obwohl diese gleich geschrieben und ausgesprochen werden, dennoch sowohl unterschiedliche Bedeutungen haben als auch verschiedenen grammatischen Kategorien angehören können, und ist in der Lage, ein passendes Beispiel anzugeben. Er ist in der Lage, von diesem Beispiel zu abstrahieren und generalisieren, indem er auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung des Ko- und Kontextes hinweist. Prospektiv für das Erlernen der romanischen Sprachen bedeutet dies: Insbesondere die morpho-syntaktischen Analysefähigkeiten, die Thomas auf der Grundlage der niederländischen Imperfektformen voetbalden und presenteerde zeigt, lassen die niederländische Sprache für eine Weiterentwicklung dieser Fähigkeiten als Vorbereitung auf das Erlernen romanischer Sprachen geeigneter erscheinen als die englische. So weist das Niederländische eine komplexere Verbmorphologie auf, oder um es mit den Worten Eckmans (1977: 321) zu sagen: ist markierter als die zumeist erstgelernte Fremdsprache Englisch 219 . Auch die Genauigkeit, mit der Thomas bei der Dekomposition der Verbformen vorgeht, ist für das Erlernen weiterer Sprachen wichtig, bestehen doch Unterschiede in Verbtempora zum Teil lediglich aus einem Buchstaben bzw. Laut (vgl. z.B. regardons und regardions usw.). Thomas nennt den Zeitpunkt des Fußballturniers und die Textsorte eines Berichts als weitere Wissensquellen zur Bestimmung der Verbtempora mit einem hohen Maß an Eigenständigkeit und Explizitheit. Dies lässt es wahrscheinlich erscheinen, dass ihm diese selbst entwickelten Strategien auch für sein Französischlernen bzw. für das Lernen romanischer Sprachen zur Verfügung stehen. Thomas’ Bezugnahme auf Homographie bzw. Homophonie ist besonders wichtig für das Erlernen der französischen Sprache, gehört doch Homony- 218 Vgl. zu Vorwissen über Textsorten auch Hufeisen (2007), Schmidt (2010) und Uzcanga (2011) und die Überlegungen in Abschnitt I 2.6. 219 Vgl.: Zij voetbalden und hij presenteerde; Ils jouaient au foot und il présentait; They played football und he presented. <?page no="225"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 211 mie (und insbesondere Homophonie) zu einer ihrer Charakteristika und potenziellen Schwierigkeitsbereiche für Lerner (vgl. z.B.: / v r/ vers (3x: Würmer, Vers, gegen), vair (Feh), vert (grün), verre (Glas)). 2.3 Die dritte und vierte Interkomprehensionsstunde: Garfield In diesem Abschnitt werden sowohl die dritte als auch die vierte Interkomprehensionsstunde behandelt, da ihnen dasselbe Material zugrunde liegt: eine DVD zum Film Garfield gets real. Die vierte Interkomprehensionsstunde schließt daher inhaltlich an die dritte an. Ein weiterer Grund, die Interkomprehensionssitzungen zusammenzufassen, ist, dass die das Material betreffenden Transkriptionen der Stunden relativ kurz sind, bedingt durch ein längeres Gespräch über die zwischen den beiden Stunden liegenden Herbstferien. Thomas war mit seinen Eltern im Urlaub und hatte sich im Hotel einen weiteren Garfield-Film ausleihen können, von dem er berichtet. Außerdem habe er nun eine neue Englischlehrerin und er erzählt, was gerade im Englisch- und Französischunterricht durchgenommen wird. Ein weiterer Grund dafür, dass die Transkriptionen kürzer sind, ist, dass wir während der Interkomprehensionsstunden Ausschnitte des Films gesehen haben 220 . Zum Material: Es handelt sich bei der DVD um eine belgische Pressung, auf deren Cover eine kurze Zusammenfassung des Filminhalts sowohl in niederländischer als auch in französischer Sprache abgedruckt ist 221 : 220 Thomas hat sich im Anschluss an die Interkomprehensionsstunden den Film ausgelie hen und zuhause ganz angesehen. Er sagte, dass er den Film in französischer Sprach fassung gesehen habe und die Bilder hierbei sein Verständnis erleichtert haben. Selbst verständlich soll nicht angezweifelt werden, dass er die französischsprachige Fassung und nicht die englischsprachige gewählt hat, wie es vereinbart war. Doch da auf der DVD neben Englisch und Französisch noch Flämisch und Niederländisch, nicht jedoch Deutsch als Audio-Fassungen angeboten werden (s.u., auch deutschsprachige Untertitel werden nicht angeboten) und Thomas über den Filminhalt Auskunft geben konnte, kann vermutlich von einem Vorgang, „Freizeit zu Spracherwerbszeit [zu] machen“ (Meißner 2010b: 72), gesprochen werden. 221 Garfield gets real. 3D. R.: Mark A.Z. Dippé. Drehbuch: Jim Davis, Lee Kung Ho. Produktionsland: USA. Paws, Inc. in Kooperation mit Davis Entertainment und The Animation Picture Company 2007. Fassung: DVD. 20th Century Fox Home Entertainment 2008. 74 Minuten. Eine größere Abschrift der Texte der Zusammenfassungen folgt weiter unten, es geht hier um die Bilder, da Thomas hierauf Bezug genommen hat. <?page no="226"?> 212 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Abb. 5: DVD-Cover: Garfield Die Wahl dieses Materials hat verschiedene Gründe: Thomas hatte schon vor Beginn der ersten individuellen Interkomprehensionsstunde angegeben, dass er sich für Filme interessiere (s.o.: Fragebogen zu seinen Interessen). Garfield als Comic- (bzw. Film-) Figur gibt es zwar schon über 35 Jahre, dennoch ist sie aufgrund ihrer großen Popularität auch vielen Kindern in Thomas’ Alter nicht unbekannt. Hierdurch wird ermöglicht, dass diese ihr Weltwissen im Erschließungsprozess einsetzen können. Durch den faulen und sarkastischen Charakter dieser Comicfigur wird zudem der Gefahr entgegengewirkt, dass diese allzu infantil auf Lerner wirken könnte. Bei dieser DVD handelt es sich gewissermaßen um eine Form ,natürlich vorkommender‘ mehr- (bzw. hier: zwei-)sprachiger Texte, wie man sie auch beispielsweise bei mehrsprachigen Hinweisen in Zügen oder in Bedienungsanleitungen findet. Neben der erwähnten Zusammenfassung des Films betrifft dies alle weiteren Angaben auf dem Cover (z.B. talen / langues) bis auf den Filmtitel: Garfield gets real, der im englischsprachigen Original belassen wurde. Das Verstehen des Films selbst, der auf der DVD, wie erwähnt, in vier Audiosprachfassungen vorliegt (Englisch, Flämisch, Französisch und Niederländisch), wird durch die Möglichkeiten des Hörsehverstehens erleichtert, wenn das im Film Gesagte zugleich gezeigt wird (vgl. die Kriterien des „visual support of spoken text“ und der „correspondence between sound and <?page no="227"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 213 image“ bei Thaler 2014: 22). Ein Beispiel ist eine Szene zu Beginn des Filmes, in der Jon Arbuckle (der Besitzer von Garfield) einen heißen Teller, den er kaum anfassen kann, aus der Mikrowelle nimmt und in der französischen Sprachfassung stöhnt: Aah, ooh, c’est chaud, c’est chaud. Analyse der Interkomprehensionsstunde (6. und 27. Oktober 2009): Zu Beginn der Interkomprehensionsstunde wird Thomas gefragt: „Was weißt du denn so über, über Garfield? “ (TR 3, Z. 40). Die Frage dient der Aktivierung außersprachlichen Wissens, das gegebenenfalls zur Kompensation geringen zielsprachlichen Wissens eingesetzt werden kann. Hierdurch können Lerner in ihren top down-Verarbeitungsprozessen unterstützt werden und eine Erwartungshaltung an den Text aufbauen (Meißner 2004b: 53) 222 . Obwohl es die Figur Garfield schon recht lange gibt, trifft die Vermutung, dass ein Lerner im Alter von Thomas sie kennen könnte (s.o.), zu (Z. 41-46): L.: Was weißt du denn so über, über Garfield? T.: Ja, ist halt so, also so eine Katze ist, aber, aber einen Teil habe ich mal gesehen, aber das war dann, wo ich so, also wo ich klein war, wo ich acht gewesen bin oder, da habe ich den gesehen. L.: Und was für eine Art Katze ist, ist das so? Also … T.: Sprechende. Als er im Folgenden daran erinnert wird, dass in Belgien (unter anderem) sowohl Niederländisch als auch Französisch gesprochen wird 223 , nimmt Thomas von sich aus auf die Angaben auf der DVD unter talen / langues Bezug (Z. 57- 62): L.: Also das hier, äh, talen/ langues, was ist damit? T.: Ja, Sprach … L.: Genau, ne? T.: Ach so, das sind die niederländischen Sprachen. L.: Genau. T.: Und das sind die Untertitel. Die Äußerung: „das sind die niederländischen Sprachen“ bezieht sich vermutlich weniger auf die auf der DVD vorhandenen Varietäten des Niederländischen und Flämischen als vielmehr auf die Identifikation des Substantivs talen als das niederländische Wort für dt. „Sprachen“. Ob er das französische Wort langue schon aus dem Unterricht kennt, von engl. language abgeleitet oder schlichtweg aus der Tatsache erschlossen hat, dass im Folgenden Sprachen genannt werden, kann nicht gesagt werden. Auch der Identifikationstransfer 222 Dieser Vorgang wird auch der Aufbau „mentaler Szenarien“ (s. auch: Bär et al. 2005: 88; Bär 2009: 40) genannt. 223 Dies hat Thomas bereits im Rahmen der jahrgangsübergreifenden Gruppe (vgl. Abschnitt III 1.) erfahren. <?page no="228"?> 214 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven von ondertitels / sous-titres gelingt Thomas, wobei er sich hier wahrscheinlich auf das interlingual transparentere niederländische Wort bezogen hat. Im Folgenden wird der englischsprachige Titel des Films: Garfield gets real betrachtet (Z. 67-73): T.: Gar-, Garfield wirklich, oder, also real heißt ja wirklich. L.: Ja, genau. T.: Das kommt ja auch von real. L.: Mhm, genau. Und mit dem, mit dem gets? T.: Ah, er wird. L.: Ja. T.: Weil get, weil gets ist ja dann Verb. Interessant an diesem Dialog ist insbesondere, dass Thomas von sich aus ohne Aufforderung oder explizites Nachfragen gleich zwei metasprachliche Stellungnahmen abgibt. So deutet die Tatsache, dass er für das englische Adjektiv real zunächst das auf sprachlicher Oberfläche gänzlich unterschiedliche deutsche Wort „wirklich“ nennt, darauf hin, dass er dieses als (im Englischunterricht gelernte) Vokabel aus seinem mentalen Lexikon abgerufen hat. Umso beeindruckender ist, dass er zusätzlich aus eigener Initiative die Transferbasis des deutschen Fremdwortes „real“ anführt. In Bezug auf das englische Wort gets wechselt er von sich aus von der semantischen auf die morpho-syntaktische Ebene und bestimmt es als ein „Verb“. Um an die activité avant la lecture vom Beginn der Interkomprehensionsstunde (s.o.) im Sinne eines (weiteren) Aufbaus von Erwartungen anzuknüpfen, wird Thomas gefragt, worum auf der Grundlage des soeben übertragenen Filmtitels es in dem Film gehen könne. In seiner Antwort bezieht er sich allerdings nicht auf den Filmtitel, sondern auf das Bild auf dem DVD-Cover (Z. 74-79): L.: was könnte da so vorkommen, von daher gesehen, in dem, in dem Film? T.: Ja, also dass er halt sozusagen nicht nur so eine Zeichentrickfigur ist, sondern halt dann auch eben so (…). L.: Ja, mhm, genau, das ist dann auch noch ein, ein Hinweis … T.: So war er ja vorher und jetzt sieht man den auch hier und da, (Computertrickfilm). Die Bestätigung: „Ja, mhm, genau, das ist dann auch noch ein, ein Hinweis“ bezieht sich darauf, dass das Heranziehen von Bildern selbstverständlich eine ebenso wichtige Strategie ist wie die Betrachtung von Filmtiteln oder Textüberschriften (vgl. Schmidt 2007: 124). Auf dem DVD-Cover ist eine zum Teil zerrissene Zeitung zu sehen (s.o.), auf der ein Garfield-Comic abgedruckt ist (vgl.: „So war er ja vorher“). Aus dem durch den Riss entstandenen Loch klettert die computeranimierte Garfieldfigur hervor. Um zu den Texten, d.h. zu den Zusammenfassungen des Films, überzuleiten, wird Thomas gefragt, ob er etwas von den soeben auf Bildgrundlage <?page no="229"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 215 erschlossenen Informationen über den Film in den Überschriften wiederfinden kann: nl.: Garfield is terug met een nieuwe ‘look’ in zijn eerste animatiefilm die met de computer is gemaakt: Garfield Gets Real! frz.: Garfield est de retour dans son tout premier film d’animation généré par ordinateur, Garfield 3D ! Bei der Identifizierung der Informationen über den Film bezieht sich Thomas zunächst auf den niederländischen Text und hier auf das Textstück eerste animatiefilm die met de computer ist gemaakt (Z. 85-86): T.: (…) Computer ist, na, das. Also dies. Der erste Animationsfilm, der mit dem Computer gemacht wurde. Wie seine Äußerung zeigt, gelingt es ihm nicht allein, die entsprechende Information zu finden („Animationsfilm“), er erkennt darüber hinaus auch die syntaktische Struktur dieses Textes. Dies ist insofern nicht selbstverständlich, als das hier im Niederländischen notwendige Relativpronomen die (nl. film gehört zu den de-worden; vgl. Goedbloed 1986: 66) zum Referenten -film für deutschsprachige Muttersprachler etwas verwirrend sein könnte. Darüber hinaus handelt es sich bei diesem Relativsatz um einen einschränkenden Nebensatz, bei dem im Niederländischen kein Komma gesetzt wird (vgl. ebd.: 27). Auch die Passivkonstruktion erkennt Thomas. Zur französischsprachigen Überschrift äußert er sich wie folgt (Z. 87-92): L.: Und wo steht, kannst du da Entsprechungen in dem Französischen finden? T.: Ja, das hier, das, hm, das ist hier Computer. Und das dann die Animation irgendwie von L.: Und woher weißt du, dass das … T.: Weil premier, das ist ja, kommt ja auch von Premiere und das ist ja dann das erste, also … Die Partizipialkonstruktion généré par ordinateur entspricht nicht dem Relativsatz im Niederländischen und frz. ordinateur weicht auf Sprachformebene stark von computer (bzw. dt. Computer) ab. Daher sollte ermittelt werden, woher Thomas dieses Wissen über das Wort ordinateur hat (Z. 90). Wie aus dem Zitat hervorgeht, geht er jedoch nicht auf die Frage ein und setzt stattdessen seinen Erschließungsprozess fort (Z. 91-92). Gerade weil er mittlerweile herausgefunden hat, dass es sich bei Garfield gets real um den ersten computeranimierten Garfieldfilm handelt, und die niederländische Ordnungszahl eerste selbstverständlich interlingual für Deutschsprachige transparent ist, ist es erstaunlich, dass Thomas für frz. premier von sich aus eine Transferbasis anführt: „Weil premier, das ist ja, kommt ja auch von Premiere und das ist ja dann das erste“. <?page no="230"?> 216 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Seine Interkomprehensionsleistung ist strategisch in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert, denn für das Auffinden der Transferbasis ist ein Wechsel der Wortart von Adjektiv zu Substantiv (premier → „Premiere“) notwendig. Die Suche nach Wörtern aus derselben Wortfamilie und ein Wechsel der Wortart sowohl auf intralingual zielsprachlicher als auch auf ausgangs- oder brückensprachlicher Ebene stellt eine wichtige Strategie dar, da sie - gerade auch in einer sprachfamilienübergreifenden Perspektive - die Anzahl potenzieller Transferbasen erhöhen kann 224 . Ihr Einsatz ist jedoch nicht selbstverständlich. So konnte diese Strategie auch bei den Siebtklässlerinnen aus Klasse 7-ling, die bereits drei Fremdsprachen lernen und in einem Laut-Denk-Protokoll einen italienischen Text interkomprehensiv erschließen, in nur einem Fall nachgewiesen werden (ital. unica über dt. „Unikat“). Interkomprehensionsunterricht, der vor Beginn dieses Projekts mit der Zielsprache Italienisch in der Jahrgangsstufe 11 mit Schülern durchgeführt wurde, die bereits seit fünf Jahren Französisch lernten, hat gezeigt, dass auch fortgeschrittene Lerner mit einer relativ starken Brückensprache nur bedingt in der Lage sein können, auf Wörter aus derselben Wortfamilie zurückzugreifen. Das zeigte sich in diesem Fall am Beispiel von ital. fratello, das − auf Sprachformebene (zu) weit vom frz. frère entfernt − nur einige der Schüler erschließen konnten, indem sie frz. fraternité als Transferbasis heranzogen. Da nach fünf Jahren Französischunterricht davon ausgegangen werden kann, dass Schülern das französische Wort fraternité bekannt ist, sind die Probleme hier sehr wahrscheinlich auf strategischer Ebene anzusiedeln. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Thomas über fünf Jahre jünger als die hier erwähnten Elftklässler ist und gerade erst mit dem Französischlernen begonnen hat, ist es erstaunlich, dass er hier frz. premier auf das deutsche Wort „Premiere“ zurückführen kann. Er bedient sich bei seinem Identifikationstransfer eines Fremdwortes aus dem Französischen, was hier schon allein aufgrund der sprachfamilienübergreifenden Perspektive, bei der die Anzahl an interlingualen Transferbasen selbstverständlich geringer ist, als eine weitere Strategie aufgeführt wird. Seine Äußerung: „das [...] kommt ja auch von Premiere“ weist darüber hinaus darauf hin, dass ihm diese Entlehnung bewusst ist (wenn auch die Formulierung eher die umgekehrte Entlehnungsrichtung des französischen Wortes aus dem Deutschen andeutet). Im Gegensatz zum Wortpaar frère - fraternité (s.o.) liegt bei diesem Wechsel der Wortart innerhalb einer Wortfamilie: premier - dt. „Premiere“ eine 224 Exemplarisch lässt sich hier die lexikalische Serie: to continue - continuer - continuar - continuare anführen, die als Verb keine Entsprechung im Deutschen hat, wohl aber als Adjektiv: „kontinuierlich“. <?page no="231"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 217 zusätzliche Bedeutungsveränderung bzw. -verengung („Uraufführung“) und ein Sprachwechsel 225 vor. Es ist gerade die strategische Flexibilität dieser mentalen Operation, die zu betonen und für Interkomprehension insbesondere in einer sprachfamilienübergreifenden Perspektive so wichtig ist. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Erschließungsprozesse (auf der Grundlage des Bildes auf dem DVD- Cover und der niederländischen Überschrift) muss hier allerdings eingeräumt werden, dass nicht gesagt werden kann, ob Thomas bei der Lektüre der französischen Überschrift allein, d.h. ohne die weiteren Informationsquellen, die Transferbasis „Premiere“ hätte aktivieren können. Was jedoch dafür spricht, ist gerade die Tatsache, dass er im oben zitierten Dialog eben nicht beispielsweise auf das niederländische Adjektiv eerste rekurriert, sondern die Transferbasis „Premiere“ von sich aus als eine zusätzliche Erschließungsmöglichkeit angeführt hat. Im Folgenden wird die Frage, woher Thomas wisse, dass ordinateur „Computer“ bedeutet, wieder aufgegriffen (Z. 99-105): L.: Woher weißt du das mit dem ordinateur? Weil das ist ja ganz anders eigentlich als Computer, also das sieht ja anders aus, das, das Wort. T.: Äh, weil, weil ich halt, halt, wenn man, wenn man jetzt so zum Beispiel, jetzt, wenn man zum, zum Beispiel jetzt (...), in 3D wird ja eigentlich meistens mit dem Computer gemacht, also wenn zum Beispiel Animation, Animation wird ja auch mit dem Computer gemacht, die wird ja, nicht zum Beispiel jetzt gemalt oder so, äh, wie ein Comic jetzt. Wie aus dem Zitat hervorgeht, zieht Thomas nun sein Weltwissen heran, indem er Animation, die mit dem Computer erstellt werde, Comics, die „gemalt“ werden, gegenüberstellt. Die Zusammenfassungen des Films: Garfield is zijn leven als tekenfilmkarakter beu en ontsnapt uit zijn eigen stripverhaal om het echte leven te verkennen. Dan komt hij erachter dat zijn stripverhaal beëindigd zal worden als hij niet terug komt voordat de krant gedrukt wordt! Garfield moet zorgen dat hij terug gaat naar de stripwereld om zijn verhaal te redden, maar iemand probeert dit te voorkomen... Garfield, Odie en al hun vriendjes zijn terug in dit nieuwe avontuur van onze favoriete vette kat! Lassé par sa vie de personnage de bande dessinée, notre cher ami à quatre pattes Garfield s’échappe de Cartoon World afin d’explorer la vraie vie. 225 Auch das französische Substantiv wird in der Bedeutung „Uraufführung“ verwendet, was Thomas natürlich noch nicht wissen konnte, d.h. hier ist von einem zusätzlichen Sprachwechsel auszugehen. <?page no="232"?> 218 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Cependant, alors qu’il vit la dure expérience des vrais chats de quartier, il apprend que sa bande dessinée risque d’être annulée s’il ne rentre pas avant l’impression du journal. Garfield doit alors retourner à Cartoon World. Mais quelqu’un va l’en empêcher… Retrouvez Garfield, Odie et tous leurs amis dans cette nouvelle aventure de notre gros chat orange qui charmera petits et grands ! Nachdem der erste Satz der Filmzusammenfassung, nun wiederum des niederländischen Textes, vorgelesen wurde, bringt Thomas zunächst von sich aus eine metasprachliche und metakognitive Beobachtung zum Ausdruck (Z. 130- 132): „Ja, weil, dann immer, wenn wir mal, wie man es spricht, dann kriegt man es mehr raus, als wenn man es nur liest, weil dann, weil man da, dann es halt hört immer.“ Es ist denkbar, dass sich seine metasprachliche und metakognitive Stellungnahme (auch) auf seine Erfahrungen mit interlingualen Unterschieden in Graphem-Phonem-Korrespondenz im Zusammenhang mit nl. vijf (vgl. Abschnitt III 2.2) bezieht. Thomas überträgt das niederländische Satzstück zijn leven als tekenfilmkarakter korrekt mit „sein Leben ist als Zeichentrick, also Zeichentrick (...)“ (Z. 136). Seine Beobachtung des Vorteils der Kenntnis von Schrift- und Lautbild wird bestätigt, wiederum mit Bezugnahme auf die Aussprache der Graphemfolge ij (Z. 141-160): L.: Aber was du gerade gesagt hast, das stimmt, also jetzt gerade bei diesem zijn, wenn man weiß, wie es ausgesprochen wird, kann man es besser erkennen, ne? T.: Weil man so wird mehr erkennen, als wenn jetzt jemand kein Niederländisch kann, (…) oder so, oder, ja. L.: Aha. - Findest du das beim Englischen auch so, dass das dann leichter ist, äh, ja, so zu verstehen, auch wenn man es, wenn man es dann auch hört, anstatt nur zu lesen? T.: Ja, das kann ich jetzt schlecht sagen, weil ich es ja, weil ich es ja jetzt auch schon aussprechen kann. L.: Ja, ja. T.: Und zum Beispiel, wenn wir jetzt mal einen englischen Te-, Text, haben wir hier noch einen … ? L.: Stimmt, wir hatten da über Fußball einen, ne? T.: Ja, ich … L.: Ach ja, genau, ne, da auch mit, äh … T.: Hier. L.: Das war noch von, ja genau. T.. Hier, äh, zum Beispiel. … Ja, das kann ich jetzt so schlecht sagen, weil ich es ja jetzt kann, weil wenn ich es mir jetzt durchlese, dann weiß ich ja jetzt schon, wie es ausgesprochen wird und kann man jetzt … <?page no="233"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 219 Aus Thomas’ Äußerungen in diesem Dialog lassen sich Feststellungen über dessen Sprachbzw. Sprachlernbegriff ableiten: Die ,Beherrschung‘ einer Sprache schließt die Kenntnis der Aussprache mit ein: „... als wenn jetzt jemand kein Niederländisch kann“ (Z. 143-144). Wenn ein Lerner eine Sprache ,beherrscht‘, dann kennt er auch bei zuvor gänzlich unbekanntem schriftlichen Input die korrekte Aussprache: „weil wenn ich es mir jetzt durchlese, dann weiß ich ja jetzt schon, wie es ausgesprochen wird“ (Z. 159-160) 226 . Bekanntermaßen trifft dies nicht auf die englische Sprache zu (Kolbe & Marx 2007: 226): Besonders auffällig ist, dass die Aussprache englischer Wörter sehr weit von ihrer Schreibung abweicht. Das liegt daran, dass letztere ungefähr die Aussprache um 1400 wiedergibt. Sieht man ein englisches Wort geschrieben zum ersten Mal, ohne es vorher gehört zu haben, ist es fast unmöglich, die richtige Aussprache zu erraten. Dass sich Kolbes und Marx’ Ausführungen zu Graphem-Phonem-Beziehungen im Englischen nicht notwendigerweise mit subjektiven Wahrnehmungen von Schülern decken müssen, konnte bereits festgestellt werden (vgl. Morkötter 2005: 188 zu einer Stellungnahme eines Zehntklässlers). Im Falle von Thomas ist dessen Aussage zur Relation vom Laut- und Schriftbild in der englischen Sprache jedoch überraschend, hatte er doch in der ersten Interkomprehensionssitzung seinen Eindruck, Englisch sei schwieriger als Französisch, mit der geringeren Graphem-Phonem-Korrespondenz begründet. Diese Einschätzung hatte er mit dem Beispiel der Aussprache des Buchstabens a in can versus can’t untermauert (vgl. Abschnitt III 2.1). Dies ist aber dennoch kein Widerspruch zu seiner Äußerung an dieser Stelle, weil der Bezugspunkt ein anderer ist: Während es zuvor um die eigene mündliche Sprachproduktion ging, liegt der Fokus hier bei der Frage, inwieweit die zusätzliche Kenntnis der Aussprache eines Wortes zu dessen Wiedererkennungstransfer beitragen kann. Zudem hatte Thomas zuvor die Graphem- Phonem-Korrespondenz des Englischen und Französischen verglichen, wohingegen er die englische Sprache hier der niederländischen gegenüberstellt. Im Folgenden widmet er sich dem Textstück Garfield [...] ontsnapt uit zijn eigen stripverhaal om het echte leven te verkennen (Z. 168-170): T.: Also sein eigener (…) an seinem echten Leben. 226 Dass sich Thomas hier nur auf den konkreten englischen Sachtext über Fußballregeln bezieht, ist insofern ausgeschlossen, als er auch allgemein formuliert: „das kann ich jetzt schlecht sagen, weil ich es ja, weil ich es ja jetzt auch schon aussprechen kann.“ (Z. 148- 149) und zudem fragt: „Und zum Beispiel, wenn wir jetzt mal einen englischen Te-, Text, haben wir hier noch einen … ? “ (Z. 151-152), um dies unter Beweis zu stellen. <?page no="234"?> 220 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven L.: Ja. T.: Zu kennen. Thomas orientiert sich hier sehr an der Sprachoberfläche. Da er den niederländischen Artikel het kennt (die bestimmten Artikel im Niederländischen wurden in der ersten Interkomprehensionsstunde thematisiert, vgl. Abschnitt III 2.1), ist seine Übertragung von het echte leven mit „seinem ersten Leben“ hier möglicherweise durch die vorangegangene Bezugnahme auf das Possessivpronomen zijn, das in diesem Textstück ebenfalls vorkommt: zijn eigen ... (s.o.), zu erklären. Angesichts seiner Orientierung an der Sprachform und der Tatsache, dass er das interlingual opake Substantiv stripverhaal nicht erschließen kann, ist nicht sicher, ob Thomas hier das Gemeinte verstanden hat. Dies wird auch in seiner Übertragung von verkennen als „kennen“ (und nicht beispielsweise „kennen zu lernen“ 227 ) deutlich. Zu dem sowohl lexikalisch als auch morpho-syntaktisch äußerst schwierigen Satz in der französischen Filmzusammenfassung: Lassé par sa vie de personnage de bande dessinée, notre cher ami à quatre pattes Garfield s’échappe de Cartoon World afin d’explorer la vraie vie. wird Thomas gefragt: „Kannst du da irgendwas so wiedererkennen oder entschlüsseln? ” (Z. 172-173). Er erkennt personnage als „Persönliche, also eine Person“ (Z. 177). Im Folgenden wird seine Aufmerksamkeit auf notre cher ami à quatre pattes Garfield gelenkt (Z. 195-198): T.: Eins, zwei, drei - fünf. Zwei, drei, vier, fünf, da waren fünf. L.: Wo müsste auch dieses quatre wahrscheinlich stehen, wenn es vier Freunde wären? T.: Vor dem. Thomas hat im Syntagma à quatre pattes das Zahlwort quatre wiedererkannt. Offenbar verfolgt er im Anschluss die sprachliche Hypothese, dass im französischen Text von „vier Freunden“ die Rede sein könnte. Er überprüft seine Hypothese, indem er wiederum das Bildmaterial heranzieht und die dort abgebildeten Figuren zählt (s. das DVD-Cover oben). Da er sich zu wundern scheint, dass dort fünf statt vier Filmfiguren zu sehen sind (Z. 195), wird seine Aufmerksamkeit auf die syntaktische Ebene und genauer: die Stellung des Zahlwortes gelenkt. Auch wenn er das französische Wort pattes nicht kennt, kann Thomas ami als Bezugswort des Zahlwortes quatre ausschließen (Z. 198). Nachdem ihm die Bedeutung von frz. pattes angegeben wurde, bestätigt er, dass Garfield nicht so häufig auf vier Pfoten laufe (Z. 212-217): 227 Das niederländische Verb verkennen bedeutet „erkunden; aufklären“. Abweichend vom französischen Verb connaître (= „kennen“, aber auch: „kennen lernen“) hat nl. kennen nur die Bedeutung „kennen“; es gibt hier wie im Deutschen ebenfalls leren kennen (= „kennen lernen“). <?page no="235"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 221 T.: Ja, stimmt. Der Hund auch. L.: Dan komt ((beginnt, den zweiten niederländischen Satz zu lesen)). T.: Oder kann das hier Katze sein? L.: Ja. T.: ein Katzenquartier oder ein Treffpunkt der Katzen, weil ein Quartier ((/ kwartje/ )) ist ja ein Treffpunkt. Interessant ist, dass Thomas das Lesen des zweiten niederländischen Satzes unterbricht und stattdessen auf den zweiten französischen Satz Bezug nimmt: Cependant, alors qu’il vit la dure expérience des vrais chats de quartier, il apprend ... Genauer gesagt bezieht er sich auf chats de quartier. Vor dem Hintergrund der Lautunterschiede von dt./ engl.: [k] zu frz. [ ] und der zusätzlichen Änderung der Schreibweise bezogen auf den deutschen Anfangskonsonant ist bemerkenswert, dass er das Wort chats als „Katze“ (Z. 214) bzw. „Katzen“ (Z. 216) erkannt hat 228 . Dies kann selbstverständlich ebenfalls durch sein Wissen (mit-)bedingt sein, dass Garfield eine Katze ist, jedoch vermutlich nicht ausschließlich. Hierfür spricht seine anschließende ebenfalls aus interlingualem Transfer hervorgegangene Äußerung zum Substantiv quartier. Thomas geht hier ähnlich vor wie zuvor im Falle von frz. premier und dt. „Premiere“: Er zieht ein französisches Fremdwort im Deutschen, „Quartier“, als Transferbasis heran und überträgt es sodann in ein gebräuchlicheres Wort: *„ein Treffpunkt“. Ob er sich hier an Hypothesen über den Inhalt des Filmes (Garfield lernt das echte Leben kennen und trifft auf andere Katzen.) orientiert oder aber denkt, dass das deutsche Fremdwort „Quartier“ *„Treffpunkt“ (und nicht „Unterkunft“) bedeute, kann nicht eindeutig festgestellt werden. Ebenso nicht, ob seine Korrektur vom Singular „Katze“ (Z. 214) in den Plural „Katzenquartier oder ein Treffpunkt der Katzen“ (Z. 216) durch diese Übertragung (für ein Treffen muss es mindestens Zwei geben) ausgelöst wurde oder es sich um einen morpho-syntaktischen Transfer aus dem Englischen (cats → chats) handelt. Mit Sicherheit kann jedoch gesagt werden, dass ihm auch hier bewusst ist, dass „Quartier“ ein Fremdwort ist. Diese Bewusstheit bringt er an dieser Stelle nicht metasprachlich zum Ausdruck (vgl.: „das [...] kommt ja auch von Premiere“; Z. 91; s.o.), sondern durch seine Aussprache des Wortes „Quartier“ (Z. 216), dessen Endung -tier er französisch ausspricht (/ kwartje/ ). 228 Hier ist der Hinweis notwendig, dass das Wort chat im Lehrbuch À plus! 1. (Bächle et al. 2004) in der dritten Lektion eingeführt wird und Thomas erst in der siebten Inter komprehensionsstunde (s. Abschnitt III 2.6) berichtet, dass im Französischunterricht „mit der Unité 2 dann angefangen“ (TR 7, Z. 28) worden sei. Dieser späte Zeitpunkt ist durch den erwähnten Stundenausfall im Französischunterricht und die Tatsache zu erklären, dass das Schuljahr 2009/ 2010 in Hessen relativ spät begonnen hatte (am 24.08.2009). <?page no="236"?> 222 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Obwohl die Übertragung „Treffpunkt der Katzen“ im Kontext des Filminhalts, dass Garfield vit la dure expérience des vrais chats de quartier durchaus eine korrekte Annäherung ist, wird Thomas’ Aufmerksamkeit auf die englische Transferbasis quarter (= u.a. „(Stadt-) Viertel“) gelenkt (Z. 219-220): L.: Ja, ähm - ähm, kennst du, äh, quarter im Englischen? T.: Kommt mir bekannt vor, weiß aber nicht, was das heißt. Thomas ist engl. quarter in der Bedeutung von „Stadtviertel“ wahrscheinlich noch nicht bekannt, doch kann er die Wörter „Viertel“ und quarter mit Bezug auf die Uhrzeit zusammenbringen (Z. 224-225): L.: Oder von der Uhrzeit passt jetzt gerade, viertel vor sechs. T.: Ach so. Quarter to six nee … Er äußert im Anschluss aus eigener Initiative eine metasprachliche Stellungnahme (Z. 229-232): T.: Aber eigentlich müssten es doch, warum machen die im Englischen, nehmen das vom Französischen und ändern das dann um? L.: Ähm … T.: Eigentlich heißt es doch, im Englischen die vier ist doch eigentlich four. Thomas hat hier auf eine relativ explizite Weise den Charakter des Englischen als „germanisch-romanische Mischsprache“ (Scheler 1977: 74) kennengelernt. Diesen Sachverhalt bzw. die Erfahrung, dass Englisch eine „germanischromanische Mischsprache“ ist, deutet er in seiner metasprachlichen Beobachtung an, die er durch folgendes Beispiel illustriert: „Aber dann *fourter oder so. Nicht quarter, sondern *fourter.“ (Z. 241): engl. „vier“ Grundzahl (germ.): „ein Viertel“ (Bruchzahl) (rom.): four quarter, aber nicht: * fourter Thomas gibt hier durch Analogiebildung das Wort an, das er eigentlich im Englischen für dt. „Vier-tel“ erwarten würde. Hier zeigt sich das didaktische Potenzial von Sprachbeispielen in metasprachlicher Kommunikation nicht nur bei lehrerseitigen, sondern ebenfalls bei lernerseitigen Erläuterungen. Denn in dieser Situation und ohne sein Beispiel hätte ich seine Frage „Warum machen die im Englischen, nehmen das vom Französischen und ändern das dann um? “ (Z. 229-230) zunächst nicht verstanden 229 . Bei dem folgenden Textstück, sa bande dessinée risque d’être annulée, bringt Thomas erneut zum Ausdruck, dass er Strategien miteinander kombinieren kann (Z. 253-255): 229 Die Konzentration auf die semantische Ebene und Erschließung des Wortes quartier als „Stadtviertel“ kann hier eine Rolle gespielt haben. <?page no="237"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 223 L.: Ähm, kannst du da was entschlüsseln? T.: (…) irgendeine Bande, also so eine Gruppe halt. - Ein Abenteuer oder so, dieses, das kann ja auch Risiko oder so. Auch wenn beide Hypothesen, sowohl zu frz. bande als auch zu risque, hier 230 nicht zutreffen, zeigt er, dass er sich auf zwei Strategien zugleich konzentrieren, d.h. zwei unterschiedliche Wissensressourcen zugleich aktivieren kann. Er setzt eine interlinguale Herangehensweise (bande → „Bande“; risque → „Risiko“) ein. Seine Äußerung weist deutlich darauf hin, dass er sich jedoch nicht unreflektiert an Ähnlichkeiten auf Sprachoberfläche orientiert, sondern die interlingual gefundenen Transferbasen zusätzlich dahingehend überprüft, ob sie im gegebenen Kontext Sinn machen. Hier wendet Thomas seine in der Interkomprehensionsstunde zuvor (dort mit Bezugnahme auf die Homonymie von engl. like) formulierte Strategie der notwendigen Berücksichtigung des Zusammenhangs (vgl. Abschnitt III 2.2) selbst an und transferiert sie auf die französische Sprache. Besonders hervorzuheben ist schließlich der französische Satz Garfield doit alors retourner à Cartoon World, den er folgendermaßen überträgt (Z. 275- 278): T.: Wie sie zurückkommt, zu dieser Cartoon World. L.: Ja, genau. Was, was heißt da zurückkommen in dem … T.: retour, also das, äh, dieses retour, weil es ist ja auch return. L.: Ja, klasse. Wie aus dem Dialog hervorgeht, leistet Thomas hier einen erfolgreichen interlingualen Transfer aus dem Englischen. Auffallend ist, dass er in seiner Erläuterung der englischen Transferbasis ebenfalls das französische Substantiv zu retourner angibt bzw. sich auf den Anfang des Verbs bezieht. Auf der Grundlage seiner Information während des längeren Gesprächs zu Beginn der vierten Interkomprehensionsstunde (s.o.), dass im Französischunterricht „eigentlich nicht viel Neues, dann halt Begrüßung und wie man heißt“ (TR 4, Z. 29-30) durchgenommen wurde, ist es unwahrscheinlich, dass er das Wort retour aus dem Unterricht kennt. Es kann sich bei der Dekomposition des Verbs retourner entweder um sprachliche Intuition handeln oder aber er hat das nicht explizit angesprochene und in der Überschrift vorkommende Wort Garfield est de retour dans son tout premier film d’animation généré par ordinateur (mehr oder weniger bewusst) wahrgenommen. 230 Frz. la bande kann ebenfalls die von Thomas vorgeschlagene Bedeutung „Bande“ haben und als Substantiv bedeutet risque „Risiko“. <?page no="238"?> 224 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Zusammenfassung wichtiger Befunde: Thomas kann zu einem ihm (vermutlich) aus dem Englischunterricht bekannten Wort aus eigener Initiative eine Transferbasis (dt. „real“) produzieren. Er zieht von sich aus Bildmaterial sowohl zur Antizipation des Filminhalts als auch zur Überprüfung einer sprachlichen Hypothese heran. Er wechselt aus eigener Initiative für die Erschließung eines französischen Adjektivs (premier) die Wortart. Er aktiviert hierbei sein Wissen über ein deutsches Fremdwort aus dem Französischen („Premiere“) und fügt somit dem Repertoire möglicher Strategien eine weitere hinzu. Dieses Strategiewissen wendet er an einer anderen Textstelle erneut an („Quartier“ 231 ). Thomas äußert von sich aus eine metasprachliche und metakognitive Beobachtung über Erschließungsmöglichkeiten im Zusammenhang mit einer Präsentation von (interkomprehensiven) Texten im Schrift- und Lautbild. Er bemerkt, dass Englisch (u.a.) aus germanischen und romanischen Wortschatzanteilen besteht, und belegt dies an einem Beispiel. Prospektiv für das Erlernen romanischer Sprachen konnte festgestellt werden: Thomas wendet seine in der Interkomprehensionsstunde zuvor (mit Bezugnahme auf die Homonymie von engl. like) formulierte Strategie der notwendigen Berücksichtigung des Ko- und Kontextes (vgl. Abschnitt III 2.2) selbst an und transferiert sie auf die französische Sprache. Er überprüft seine interlingualen Hypothesen von bande → „Bande“ und risque → „Risiko“ dahingehend, ob sie im gegebenen Kontext Sinn machen. Er führt im Französischen aus eigener Initiative einen erfolgreichen interlingualen Identifikationstransfer aus dem Englischen durch und dekomponiert hierbei zugleich das französischsprachige Verb: retourner - retour - return. 2.4 Die fünfte Interkomprehensionsstunde: „Asterix’ Geburtstag“ Zum Textmaterial: Für diese Interkomprehensionsstunde wurde der niederländische Text: Asterix viert verjaardag met nieuw album gewählt 232 . 231 Wie deutlich wurde, liegt er in diesem Fall mit seiner Hypothese zwar falsch, doch steht hier die Eigenständigkeit, mit der Thomas Fremdwörter als eine weitere Wissensquelle angesprochen und dieses strategische Wissen auf ein anderes Textstück übertragen hat, im Vordergrund. 232 http: / / asterix.startpagina.nl/ (November 2009). <?page no="239"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 225 Asterix viert verjaardag met nieuw album donderdag 22 oktober 2009 Asterix viert verjaardag met nieuw album Vandaag verschijnt in 15 landen een nieuw album in de stripreeks Asterix. De onoverwinnelijke Galliër viert zijn vijftigste verjaardag en dat wordt gevierd met de 34ste aflevering in de reeks. Onder de titel ‘De verjaardag van Asterix en Obelix: Het gouden album’ schreven en tekenden Albert Uderzo en zijn medewerkers een reeks kortverhalen waarin alle personages uit de voorbije avonturen van Asterix en Obelix voorkomen. Asterix, de Galliër, verscheen voor het eerst op 29 oktober 1959 in het Franse stripblad Pilote. In 50 jaar zijn sindsdien al meer dan 325 miljoen albums verkocht. De verjaardag gaat gepaard met tentoonstellingen, spektakels, colloquia... In 50 jaar tijd werden de avonturen van Asterix en zijn onafscheidelijke vriend Obelix vertaald in 107 talen en dialecten. De reeks blijft een van de grootste successen in de geschiedenis van de stripwereld. Dieser Text enthält einige Wörter, die auf der Grundlage der Thomas verfügbaren Ausgangs- und Brückensprachen interlingual opak sind wie beispielsweise nl. vandaag („heute“), stripreeks („Comicserie“) oder kortverhalen („Geschichte“). Syntaktisch ist hier die Satzlänge und -komplexität zu erwähnen. Der Inhalt des Textes behandelt einen zum Zeitpunkt der Datenerhebung aktuellen Anlass, den 50. Jahrestag der Astérix-Comic-Hefte Ende Oktober 2009, von dem auch in den deutschen Medien berichtet wurde. So erfolgte die Textauswahl auch auf der Grundlage der Annahme, dass ein Junge im Alter von Thomas über Weltwissen über Astérix & Obélix verfügen würde, das <?page no="240"?> 226 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven gegebenenfalls zur Kompensation (inter)lingualer Schwierigkeiten eingesetzt werden könnte. Dies war jedoch, wie sich schnell herausstellte, nicht der Fall 233 . Analyse der Interkomprehensionsstunde (10. November 2009): Zu Beginn der Interkomprehensionsstunde sprechen wir zunächst kurz über die erste Französischklassenarbeit, die Thomas vor dieser Sitzung geschrieben hatte. Nach seinen Angaben wurde in dieser Arbeit lediglich Wissen über Begrüßungen auf Französisch abgefragt, obwohl das Schuljahr schon vorangeschritten war. Dies ist dennoch nicht unwahrscheinlich, da, wie bereits erwähnt, Thomas’ Französischlehrerin häufig krank war, was Vertretungsstunden und Stundenausfall zur Folge hatte. Zudem hatte er in der Interkomprehensionsstunde zuvor erzählt, dass die Inhalte des Schnupperkurses aus dem zweiten Halbjahr der fünften Klasse erneut durchgenommen worden sind: „Wir fangen jetzt, bis jetzt immer, das war ja so ein Schnupperkurs und, und da jetzt auch welche neu in Französisch dazugekommen sind, müssen wir dann jetzt erst nochmal alles wiederholen.“ (TR 4, Z. 26-28). Diese Aussage ist von Bedeutung, zumal Thomas ebenfalls (in der ersten Interkomprehensionsstunde) berichtet hatte, dass die meisten Französischlerner aus seiner Klasse auch an dem Schnupperkurs teilgenommen hatten. Hier zeigt sich eine Parallele zur Weiterführungsbzw. ‚Übergangsfrage‘, die in der Englisch- und Französischdidaktik (vgl. Abschnitt I 2.5) in Bezug auf den Wechsel von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen diskutiert wird. So konnte Wagner (2009) in ihrer Untersuchung feststellen, dass die Englischlehrkräfte der weiterführenden Schulen zum Teil nicht einmal wussten, ob die Kinder bereits in der Grundschule Englisch hatten, und falls dies der Fall war, um welche von ihnen es sich handelte 234 . Im Falle des oben geschilderten ,Neubeginns bei Null‘ („müssen wir dann jetzt erst nochmal alles wiederholen“) handelt es sich zwar ‚lediglich‘ um Thomas’ subjektiven Eindruck. Dieser weist jedoch insofern umso deutlicher auf die Problematik der Umsetzung einer Weiterführung hin, als es sich bei dem Schnupperkurs und dem beginnenden Französischunterricht um Sprachunterricht an ein und derselben Schule handelt. Auf die Frage, worum es in dem Text Asterix viert verjaardag met nieuw album. gehen könne, bezieht sich Thomas zunächst auf das Bild (TR 5, Z 67- 72): 233 Für diese Stunde wurde ebenfalls ein französischer Text vorbereitet, Google fête les 50 ans d’Astérix ! (http: / / www.asterix.com/ index.html.fr? rub=francais; 03.11.09), von dem aus zeitlichen Gründen am Ende der Interkomprehensionssitzung nur die Überschrift betrachtet werden konnte, die Thomas keine Schwierigkeiten bereitete: „Also Google feiert den, feiert 50 Jahre Asterix.“ (TR 5, Z. 320). 234 So zur Ausgangssituation in Klasse 5 (ebd.: 39): „In der Regel wurden die Vorkenntnisse in keiner Weise aufgegriffen oder berücksichtigt - teilweise wurde nicht einmal danach gefragt, welche Schüler in der Grundschule bereits Englisch gelernt hatten.“ <?page no="241"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 227 L.: Worum, worum geht es da? […] T.: Also dass die sich angucken. 235 Also die Figur. L.: Kennst du Asterix so? T.: Mhm. L.: Hast du da auch selber irgendwie was von? T.: Nee. Dass Thomas kaum über Weltwissen in Bezug auf Asterix und Obelix verfügt und vermutlich lediglich deren Namen schon einmal gehört hat, wird in seinem Rezeptionssignal („Mhm.“) und der Tatsache deutlich, dass er bei seiner Beschreibung des Comic-Covers lediglich von „die Figur“ spricht. Dies ist auch eine Erklärung dafür, dass er sich bei seinem Übertragungsversuch der Überschrift, Asterix viert verjaardag met nieuw album, sehr stark an Ähnlichkeiten auf der sprachlichen Oberfläche orientiert (Z. 77-79): T.: Er wird irgendw-, (...) halt mit, also viertes Jahr, vierten Jahrestag. L.: Ja, könnte, könnte … T.: Also vierten Jahrestag mit seinem neuen Album. Zwar erkennt Thomas verjaardag trotz der niederländischen Vorsilbe ver-, die im Deutschen keine Entsprechung hat, als „Jahrestag“ (Z. 77), wobei sein vorangehendes „Jahr“ (ebd.) darauf hindeutet, dass er das Wort in seine einzelnen Morpheme zerlegen kann. Mit dem Wort viert (= „feiert“) hat er jedoch Schwierigkeiten. Für seinen Übertragungsvorschlag mit „vierten Jahrestag“ (ebd.) gibt es mehrere Erklärungen: Es entspricht durchaus einer auf textuellem Wissen beruhenden Erwartungshaltung, bei dem Wort „Jahrestag“, wenn dieses in einer Überschrift vorkommt, mit einer vorangehenden Zahlenangabe zu rechnen. Aufgrund seines geringen inhaltlichen Hintergrundwissens und der angesprochenen Erwartungshaltung hat Thomas kaum Möglichkeiten, sich nicht von der großen interlingualen Ähnlichkeit von nl. viert zu dt. „vier“ ‚verleiten zu lassen‘ (so hätte ein Asterixbewunderer bzw. -kenner, auch im Alter von Thomas, wahrscheinlich gewusst, dass es die Asterix-Comics im Jahre 2009 nicht erst seit vier Jahren gab). Da Überschriften häufig, wie auch in diesem Fall, syntaktisch verkürzt sind, wird eine am sprachlichen Kotext orientierte Herangehensweise hier erschwert. Bei der Textpassage Asterix viert verjaardag betrifft dies den Wegfall des Possessivbegleiters bzw. Artikels. Allerdings bringt Thomas im Folgenden zum Ausdruck, dass er auf syntaktischer Ebene erkannt hat, dass viert eine Verbform sein könnte, schlägt jedoch „wird“ statt „feiert“ vor, was zwar auf formaler Ebene ähnlicher ist, syntaktisch 235 Auf dem Cover des Jubiläumsbandes sind die vergoldeten Asterix und Obelix abgebildet, die sich ansehen (s.o.). <?page no="242"?> 228 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven aber wiederum nicht zu dem folgenden verjaardag passt: „Oder wird der - also entweder wird oder, oder vierte.“ (Z. 82). In Bezug auf das Syntagma met nieuw album fällt auf, dass er seine Übertragung: „mit seinem neuen Album“ (Z. 79) nun in „mit neuem Album“ (Z. 85) korrigiert. Ob ihm diese Korrektur bewusst ist, kann jedoch nicht eindeutig gesagt werden, da im Folgenden das Adjektiv nieuw fokussiert wird, das er auch metasprachlich mit diesem Terminus bezeichnen kann (Z. 94). Darüber hinaus führt er aus (Z. 85-94): T.: Mit neuem Album. L.: Ja, genau. Woher weißt du, dass das neu heißt? T.: Halt, sieht halt so aus. L.: Mhm. - (...). T.: Weil das hier irgendwie ähnlich, halt jetzt wie, wie so ein, wie so eine Mischung aus dem Englischen und aus dem Deutschen ist. […] T.: Solches E, EU von, von Deutschen, das W dann vom Englischen. L.: Mhm. Wo müssten wir das denn eintragen 236 , wenn wir jetzt hier drin gucken? T.: Adjektiv. Thomas nimmt hier im Rahmen seiner metasprachlichen Beobachtungen eine Formulierung aus der ersten Interkomprehensionsstunde („eine Mischung“) wörtlich wieder auf (vgl. TR 1, Z. 104-106; Abschnitt III 2.1): „so eine Mischung aus verschiedenen Sprachen, also Englisch, da ist es ja dann, dann football ...“. Wie aus dem Vergleich der beiden Passagen ersichtlich, ist er nun sehr viel präziser: Während er zuvor von einer „Mischung aus verschiedenen Sprachen“ gesprochen hatte, konkretisiert er diese nun durch die Sprachen Englisch und Deutsch (Niederländisch liegt, wie bereits angesprochen, sprachtypologisch zwischen Deutsch und Englisch; vgl. Lutjeharms 2007b: 275; Lutjeharms & Möller 2014: 205; Wenzel 2014: 269). Darüber hinaus gelingt es ihm, seine metasprachliche Äußerung detailliert an dem betreffenden Wort, in diesem Fall das Adjektiv nieuw, zu belegen, indem er die dem Deutschen und jene dem Englischen ähnlicheren Elemente isoliert. Im Folgenden wird Thomas gefragt, was er in seine Hypothesengrammatik 237 eintragen könne, woraufhin er vorschlägt, das deutsche und englische Wort für „neu“ einzutragen (Z. 103). Auf französischsprachige Adjektive angesprochen, antwortet er Folgendes (Z. 109-112): T.: Wir hatten eigentlich generell keine Wortarten, von denen hier. 236 Die Frage bezieht sich auf das Arbeitsblatt zur Hypothesengrammatik. 237 Die Hypothesengrammatik enthält eine Spalte mit grammatischen Kategorien und wei tere Spalten für ein zielsprachiges, französisches und englisches Beispiel sowie für „Beispiele in weiteren Sprachen“ und „Beobachtungen, Bemerkungen“ (vgl. Abschnitt III 2.1). <?page no="243"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 229 L.: Hm, da kann man aber doch, äh, mal gucken, das mit dem football ((frz.)), also keine Wortarten würde ich nicht, würde ich nicht sagen. T.: Ja, aber wir haben die noch nicht durchgenommen. So scheint Thomas hier unbewusst bei grammatischen Kategorien wie Adjektiven, Substantiven oder Artikeln zwischen einer kommunikativen und einer metasprachlichen Ebene unterrichtlichen Vorkommens zu unterscheiden. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass er soeben ein Wort in einer Sprache als Adjektiv identifiziert hat, die er überhaupt nicht lernt, wäre er hierzu − und ebenso zum Erkennen weiterer Wortarten − bei entsprechendem Input sicherlich auch bei einem französischen Text in der Lage 238 . Da jedoch im ‚traditionellen‘ Fremdsprachenunterricht grammatische Kategorien wie verschiedene Wortarten zumeist in der Tat vor allem in der Form vorkommen, dass sie, wie Thomas es formuliert, „durchgenommen“ werden (sei es durch deduktive Präsentation oder induktiv), verwundert seine Differenzierung hier nicht. Es ist wahrscheinlich, dass Thomas hierbei an Grammatikübungen und/ oder vorstrukturierte Lehrbuchtexte dachte. Dies kann vermutet werden, wenn man seine Antwort auf die Frage nach Textarbeit im Unterricht aus der ersten Interkomprehensionsstunde betrachtet, die auf eine stärker an grammatischer Progression orientierte Herangehensweise verweist (TR 1, Z. 406-410): T.: Nö, also im Englischbuch hatten wir so immer mal so Texte, die wir dann zum Beispiel, jetzt irgendwie, wir haben ja jetzt Thema Vergangenheit, also dann, also mit diesem -ed und so was, mit diesen regelmäßigen und unregelmäßigen und dann guck-, äh, gucken wir uns halt auch manchmal irgendwelche Texte hier dann an, welche, wo die drin sind Zwar geht aus dieser verneindenden Antwort auf die Frage nach einem Einsatz ‚authentischer‘ 239 (d.h. nicht-lehrintentionaler) Texte im Englischunterricht nicht hervor, wie Thomas die von ihm beschriebenen Texte aus dem Englischlehrbuch und den geschilderten Umgang mit ihnen beurteilt. In jedem Fall jedoch zeigt seine Stellungnahme, dass die häufig angesprochene Reduktion von Texten im Fremdsprachenunterricht auf ein ‚grammatisches Vehikel‘ auch jüngeren Schülern durchaus bewusst sein kann. Bei der Übertragung des ersten Satzes, Vandaag verschijnt in 15 landen een nieuw album in de stripreeks Asterix, hat Thomas lediglich bei dem Adverb vandaag (= „heute“) und dem Substantiv stripreeks (= „Comicreihe“) Schwierigkeiten (Z. 118-119): 238 Bzw. er ist hierzu in der Lage, wie er an den Beispielen von frz. premier und retourner gezeigt hat, die er jeweils als Adjektiv und Verb wiedergegeben hat. Der Unterschied liegt in der hier diskutierten Unterscheidung der Erkenntnis der Funktion einer gram matischen Kategorie auf der einen Seite und der Kenntnis ihres Terminus auf der einen Seite. 239 Thomas gegenüber wurde anstelle von „authentischen Texten“ von „Texten, die für englischsprachige Leute geschrieben sind“ (ebd.: Z. 402) gesprochen. <?page no="244"?> 230 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven T.: Hm, also in 15 Ländern erscheint ein neues Album in der, ja, in der hmhmhm As-, von Asterix. Das Adverb vandaag ist insofern schwieriger zu erschließen, als ein Zerlegen des Wortes (van / daag) und eine Übertragung der Bestandteile auf ihre formähnlichen Entsprechungen im Deutschen („vom Tage“) nur wenig helfen 240 . Thomas’ Schwierigkeiten mit stripreeks sind vermutlich darauf zurückzuführen, dass ihm weder der deutsche Begriff „Comicstrip“ noch der englische Ausdruck comic strip bekannt ist. Zudem ist das niederländische reeks dem deutschen Wort „Serie“ gar nicht ähnlich und auf Signifikantenebene auch von „Reihe“ zu weit entfernt. Obwohl er vandaag und stripreeks auf semantischer Ebene nicht dekodieren kann, erkennt Thomas die syntaktische Struktur des Satzes. Dies wird zum einen dadurch deutlich, dass er für das für ihn intransparente stripreeks einen Platzhalter einsetzt: „ein neues Album in der, ja, in der hmhmhm“, und ansonsten versucht, die Struktur des Satzes beizubehalten. Zum anderen zeigt sich dies insbesondere daran, dass er trotz des opaken vandaag zu Beginn des Satzes die Inversion von Verb und Subjekt (verschijnt … een nieuw album) erkennt und durch Vorziehen der Ortbestimmung in 15 landen („in 15 Ländern“) auch im Deutschen beizubehalten versucht. Bemerkenswert ist auch, dass Thomas keinerlei Schwierigkeiten mit der niederländischen Verbform verschijnt hat trotz der vom Deutschen abweichenden Vorsilbe (ver-) und der Graphemfolge ij . Dies könnte einerseits an einer größeren Vertrautheit mit der Graphem-Phonem-Korrespondenz bei nl. ij liegen. Andererseits ist es wahrscheinlich, dass Thomas hier vor allem den Ko- und Kontext als Erschließungshilfe eingesetzt hat. Hierfür spricht auch, dass es ihm im Folgenden gelingt, für das Syntagma in de stripreeks Asterix eine dem sowohl Koals auch dem Kontext angemessene Übertragung zu finden: „In der Geschichte von Asterix“ (Z. 127). De onoverwinnelijke Galliër viert zijn vijftigste verjaardag en dat wordt gevierd met de 34ste aflevering in de reeks.: Thomas’ Übertragungsversuche bei diesem zweiten Satz des Textes bekräftigen die oben angeführte Interpretation in Bezug auf die Überschrift. Denn dadurch, dass die Jahreszahl dieses Mal angegeben wird (viert zijn vijftigste verjaardag), gelingt ihm eine Disambiguierung (Z. 135-137): T.: Ja, 50. Jahr, feiert sein 50. Jahr. L.: Genau, ne? Und wo ist das feiert? 240 Eine Ausnahme stellt das niederdeutsche Wort vandag dar (und dessen weitere Varian ten; vgl. http: / / www.deutsch-plattdeutsch.de). Zur Rolle dialektalen Vorwissens beim Erwerb des Niederländischen durch Germanophone vgl. auch die Erfahrungen einer Probandin bei Martinez (2008: 233). <?page no="245"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 231 T.: Also ist das feiert. ((zeigt auf viert)) Er ist ebenfalls in der Lage, die folgende Konstruktion wordt gevierd als Passivform desselben Verbs zu erkennen. Diese Erkenntnis versprachlicht er nicht auf der Ebene metasprachlicher Terminologie, sondern durch sprachliches Handeln, d.h. durch Angabe der korrekten Übertragung („wird gefeiert“; Z. 147). Da es gerade bei früher Interkomprehension insbesondere um das Erkennen kommunikativer Funktionen und weniger um grammatische Terminologie geht, ist das nachfolgende Insistieren unangemessen (Z. 155-159): L.: Wie nennt man denn diese Verbform, also etwas wird gekauft oder wird gefeiert? T.: Adverb. L.: Äh, nee. T.: Hilfsverb. Thomas scheint hier auf Sprachformebene metasprachliche Begriffe aus seinem mentalen Lexikon abzurufen, in denen das Wort „Verb“ vorkommt, ohne sie mit Bedeutung zu füllen (bzw. füllen zu können), was einem bloßen ‚Herumraten‘ nahekommt. Dies zeigt sich insbesondere in seinem Vorschlag „Adverb“ (Z. 157), ein Terminus, der bekanntlich gar keine Verbform bezeichnet. Dabei ist es gerade die kommunikative Funktion, die bei den grammatischen Begriffen im Vordergrund steht. Onder de titel ‘De verjaardag van Asterix en Obelix: Het gouden album’ schreven en tekenden Albert Uderzo en zijn medewerkers een reeks kortverhalen waarin alle personages uit de voorbije avonturen van Asterix en Obelix voorkomen.: Zu diesem Satz gibt Thomas zunächst eine metasprachliche Stellungnahme ab: „Warum haben die immer eigentlich, eigentlich so lange Sätze? “ (Z. 187). Es handelt sich bei diesem Textstück zugegebenermaßen um einen sehr langen und syntaktischen komplexen Satz. Dennoch sind zumindest die Formulierungen „die“ und „immer“ insofern nicht zutreffend, als in den bisherigen niederländischen Texten (Voetbal, Vriendshap en sportiviteit kennen geen grenzen, Garfield) die Sätze kürzer waren. Der englische Text über Fußball dagegen enthielt beispielsweise einen längeren Satz als diesen. Thomas’ Anmerkung zu diesem Satz könnte - neben motivationalen Gründen auch darauf zurückzuführen sein, dass hier sprachliche ,Fremdheit‘ auf thematisch Unbekanntes trifft und er daher die Eigennamen im Text (vgl. Asterix en Obelix (2x) und Albert Uderzo) auch nicht als eine Verstehenserleichterung wahrnehmen kann. Er ist nicht in der Lage, in dem Textstück het gouden album das Adjektiv „golden“ zu erkennen. Da er bereits entschlüsselt hatte, dass es um den 50. Jahrestag geht, wäre dies eine weitere Hilfe für nl. gouden gewesen (Z. 211- 213): <?page no="246"?> 232 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven L.: Also welche Farbe hat man denn, wenn man so einen 50. Jahrestag von irgendwas feiert, meistens? T.: Ja, das goldene Album. Thomas antwortet auf Anhieb korrekt, so dass vermutet werden kann, dass die Hilfestellung hier voreilig gewesen ist 241 . Bei der Frage nach dem Eigennamen Albert Uderzo bezieht er sich nicht auf das Textstück schreven en tekenden Albert Uderzo en zijn medewerkers, sondern auf das abgebildete Cover (Z. 217- 219): T.: Ja, wahrscheinlich der Autor. L.: Ja, genau. T.: Da steht es ja. ((zeigt auf „A. Uderzo“ auf dem Cover)) Zwar trägt das Comiccover auch den Namen „R. Goscinny“ (der im Jahre 1977 verstorbene Autor der Asterixcomics), doch geht aus dem niederländischen Text hervor, dass Albert Uderzo in diesem Fall sowohl Zeichner als auch Autor war (vgl.: schreven en tekenden Albert Uderzo en zijn medewerkers = „schrieben und zeichneten Albert Uderzo und seine Mitarbeiter“). Ob Thomas jedoch die Verbformen schreven en tekenden (bzw. die erst genannte) erkannt oder sich ‚nur‘ auf das Cover des Comics bezogen hat, kann nicht gesagt werden, da er sich im Anschluss dem Ausdruck en zijn medewerkers (= „und seine Mitarbeiter“) widmet. Zwar wendet er auf Anhieb die für das Substantiv mede-werk-er-s geeignete Strategie 242 der Dekomposition des Wortes in seine Bestandteile an: „Irgendwas mit Werk“ (Z. 231). Es gelingt Thomas jedoch nicht, den Wortanfang medemit Bedeutung zu füllen. Darüber hinaus erkennt er das Suffix -er nicht als Kennzeichnung einer Person. Dies ist verwunderlich, da er auf Nachfragen hin die englische Transferbasis work zu nl. werk angeben kann. So hätte er durch einen interlingualen morphematischen Transfer die Bedeutung des niederländischen Morphems -er in diesem Wort herausfinden können (vgl. engl.: work → worker und nl.: werk → werker). Dass ihm dies nicht gelingt, liegt vermutlich darin begründet, dass er aufgrund der von ihm zuvor beklagten Satzlänge den sprachlichen Kotext aus den Augen verloren hat, so dass er für en zijn medewerkers een reeks „Und seine mehreren Werke eine Reihe“ (Z. 233) vorschlägt 243 . Wie dieses Zitat zeigt, erinnert sich Thomas an das vorangegan- 241 Es wäre allerdings auch schwierig gewesen, einzuschätzen, inwieweit er von sich aus eine Verbindung von einem 50. Jahrestag und der Farbe „gold“ hätte herstellen können, da dies bei Schülern im Alter von Thomas wahrscheinlich stark von der Frage abhängt, ob es entsprechende Feste (Geburtstag, Hochzeit) in ihrem Umfeld schon gegeben hat. 242 Hier sei erneut an die Frage, ob Strategien zielgerichtet verwendet werden, erinnert, d.h. inwieweit die jeweils eingesetzte(n) Strategie(n) zu den konkreten zu erschließenden sprachlichen Elementen passen (vgl. Abschnitt II 8.). 243 Die Erklärung, dass ihm die Funktion des Suffix -er im Englischen zur Kennzeichnung einer Person (auf prozeduraler Ebene) nicht bekannt ist, ist insofern nicht nahe liegend, als sie ebenfalls im Deutschen verwendet wird (vgl. dt.: „Mitarbeit“ - „Mitarbeiter“). <?page no="247"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 233 gene reeks aus dem ihm unbekannten Kompositum stripreeks, was erstaunlich ist, da er letzteres zuvor nicht entschlüsseln konnte (s.o.). Aufgrund seiner offensichtlich großen Schwierigkeiten an dieser Textstelle gehen wir zur nächsten Textpassage über, die aus zwei (deutlich kürzeren) Sätzen besteht, für deren Verständnis dieses Textstück jedoch nicht notwendig ist 244 . Bei den folgenden Sätzen des Textes: Asterix, de Galliër, verscheen voor het eerst op 29 oktober 1959 in het Franse stripblad Pilote. In 50 jaar zijn sindsdien al meer dan 325 miljoen albums verkocht. zeigt Thomas wieder bessere Interkomprehensionsleistungen (Z. 244-248): T.: Hm, Asterix, der Gallier, weiß ich nicht. […] T.: Ach so, für seinen ersten Erscheinen oder so. L.: Ja, genau. Woher kann man das wissen? T.: Ähm, das, weil hier. Also (...), erscheint am 29. Oktober 1950. Auf syntaktischer Ebene verwundert es zwar etwas, dass er das niederländische Verb für „erscheinen“, das er trotz dessen interlingualer Abweichungen vom deutschen in der Sprachform erkannt hatte (vgl. die Diskussion oben zu: verschijnt), nun zunächst mit einem Substantiv überträgt („für seinen ersten Erscheinen“). Doch gelingt es Thomas, anhand des Datums die Bedeutung des ersten Satzes (mit Ausnahme des Erscheinungsortes) zu entschlüsseln und das Substantiv in eine Verbform zu korrigieren. Es fällt auf, dass er trotz seiner wörtlichen Übertragung der Datumsangabe 245 das Verb im Präsens („erscheint“) wiedergibt. Dies liegt vermutlich darin begründet, dass es sich bei verschijnen um ein unregelmäßiges - bzw. in der Terminologie von Grammatiken des Niederländischen starkes Verb (vgl. Goedbloed 1986: 102ff.) - handelt, das im Imperfekt den Stammvokal ändert: verschijnen - verscheen. Da diese Vokaländerung jedoch Ähnlichkeiten zum Deutschen aufweist (vgl. „erscheinen - erschien“), kann die fehlende Berücksichtigung des Vergangenheitstempus hier auch auf Thomas’ thematische Unsicherheit zurückzuführen sein. 244 Im Zusammenhang mit der Länge dieses Satzes und Thomas’ Schwierigkeiten ist auf die niederländische Kommasetzung hinzuweisen, die „recht willkürlich gehandhabt“ (Goedbloed 1986: 27) wird (so enthält der betreffende lange Satz kein einziges Komma; s. den niederländischen Text oben). So konnte auch eine Studie (Chazal 2010) mit fran kophonen erwachsenen Muttersprachlern (Studierenden) beispielsweise zeigen, dass diese Schwierigkeiten bei der Disambiguierung von Verbformen im Niederländischen auch im Falle von kürzeren Sätzen haben können, wenn keine entsprechend strukturie renden Kommata gesetzt sind. 245 Aufgrund der transparenten Ziffer 1959 im Text kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei der genannten Jahreszahl 1950 anstelle von 1959 um einen Versprecher handelt. <?page no="248"?> 234 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Auch beim zweiten Satz dieses Abschnitts, In 50 jaar zijn sindsdien al meer dan 325 miljoen albums verkocht., gelingt Thomas eine sinngemäße Übertragung (Z. 256-259): T.: Also in 50 Jahren, äh, wo sie halt 325 Millionen Album verkauft. L.: Ja, genau, ne? T.: Oder mehr als, in 50 Jahren sind mehr als, sind sein mehr als 325 Millionen Albums verkauft. Dass Thomas an dieser Stelle auch um Genauigkeit seiner Übertragung bemüht ist, zeigt sich daran, dass er die zunächst übersprungene Passage: zijn sindsdien al meer dan von sich aus wieder aufgreift („sind mehr als, sind sein mehr als 325 Millionen Albums verkauft“; Z. 258-259). Er nimmt diese Selbstkorrektur vor, obwohl er den Satz sinngemäß (d.h. die Mengenangabe der Astérix- Comicalben, die seit dem Erscheinen der Reihe verkauft wurden) verstanden hat. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass es sich um einen relativ kurzen Satz handelt (vgl. oben) und Thomas auf der Suche nach dessen syntaktischer Struktur ist. So hat er das Partizip des unregelmäßigen niederländischen Verbs verkopen, das in seiner Sprachform noch stärker vom Deutschen abweicht als der Infinitiv (vgl.: verkocht), korrekt als „verkauft“ erkannt: „wo sie halt 325 Millionen Album verkauft“. Auch hat er bemerkt, dass es hier nicht adjektivisch („verkaufte Alben“) verwendet wird. In seinem zweiten Versuch in Z. 258-259 wird deutlich, dass er den niederländischen Satz als einen Passivsatz erkannt hat: „in 50 Jahren sind mehr als ...“, überträgt ihn aber verständlicherweise mit dem Zustandspassiv 246 . Später korrigiert er diesen Übertragungsversuch zum Falschen hin, indem er „sind“ wohl aufgrund der größeren interlingualen Ähnlichkeit von zijn und „sein“ durch „sein“ ersetzt. Gelungen ist hingegen das Hinzufügen der Information, dass es sich um „mehr als 325 Millionen Albums“ handelt. Ob Thomas hier den englischen Ausdruck more than als Transferbasis herangezogen hat (vgl. nl. meer dan), kann nicht gesagt werden. Möglich ist auch, dass er auf sein muttersprachliches Wissen rekurriert ist („mehr …“). In Bezug auf das Adverb „seitdem“ (sindsdien) verneint Thomas die Frage nach der Kenntnis der englischen Transferbasis (since then). Doch fügt er etwas später aus eigener Initiative eine englische Transferbasis für den Satz an: In 50 jaar tijd werden de avonturen van Asterix en zijn onafscheidelijke vriend Obelix vertaald in 107 talen en dialecten.: „Ja, es kommt ja von dem adventure aus dem Englischen.“ (Z. 269). Interessant an Thomas’ Beobachtung ist, dass er das niederländische Substantiv avonturen nicht über dt. „Abenteuer“ erschließt, sondern eine der von ihm gelernten Fremdsprachen als Brückensprache einsetzt und auch explizit angibt. Dies könnte durch die 246 Im Niederländischen werden nur die einfachen Zeiten mit dem Hilfsverb worden gebildet, bei den zusammengesetzten Zeiten wird zijn verwendet (Goedbloed 1986: 120). <?page no="249"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 235 zweite Lautverschiebung im Deutschen, die sich in den anderen germanischen Sprachen nicht vollzogen hat (vgl. Lutjeharms 2007b: 286), mit bedingt sein, d.h. in diesem Fall durch die Änderung des „b“ vor Vokalen in „v“ (vgl. z.B. auch „geben“ geven to give; ebd.: 287). Der Erschließungsprozess bei diesem Satz (In 50 jaar tijd werden de avonturen van Asterix en zijn onafscheidelijke vriend Obelix vertaald in 107 talen en dialecten.) wird im Folgenden fortgesetzt (Z. 271-284): T.: Also die Geschichten, zu dem die Abenteuer von Asterix und sein, was ist das? Und sein Freund Obelix … L.: Ja. T.: Verteilt in 107, hm, das weiß ich auch nicht. L.: Also das letzte Wort, da kannst du bestimmt was mit anfangen. T.: Hier, ach so, in 107, und Dialekten und so. In 107 Sprachen und Dialekten. L.: Ja, genau. Und wie bist du auf Sprachen gekommen? Weil dieses talen ist ja ganz anders so von der Form. T.: Ja, irgendwie, wenn es, wenn es die Dialekte sind, dann sind es ja auch Sprachen. Es wird ja, es wird ja jetzt nie, nicht nur zum, zum Beispiel jetzt in, in, so Bayerisch jetzt, jetzt über-, übersetzt, son-, sondern halt, halt auch in Italienisch und so. L.: Mhm, genau. T.: Und dann habe ich da halt Sprache. Bei Betrachtung des ersten Teils dieser Passage (Z. 271-274) fällt auf metakognitiver Ebene vor allem Thomas’ Fähigkeit der Identifikation eigener Lakunen auf: „was ist das? “ und „das weiß ich auch nicht“, die er auch schon beim englischsprachigen Text über Fußball gezeigt hat (vgl.: „hier weiß ich nicht weiter“; TR 2, Z. 116; Abschnitt III 2.2). Das niederländische Wort vertaald (= „übersetzt“) in 107 talen en dialecten überträgt Thomas mit „verteilt“. Abgesehen von der interlingualen Ähnlichkeit auf Formebene von vertaald und „verteilt“ trägt zu dieser Übertragung vermutlich die Tatsache bei, dass ein Ausdruck mit einer Zahl folgt: in 107 talen. Das Wort talen ist darüber hinaus interlingual intransparent. Es kam zwar bereits in einer Interkomprehensionsstunde vor (die Angabe der Sprachfassungen auf dem DVD-Cover des Garfield-Films; vgl. Abschnitt III 2.3), doch kann sich Thomas nicht hieran erinnern. Als seine Aufmerksamkeit auf das letzte Wort, dialecten, gerichtet wird, gelingt es ihm, das nebengeordnete Substantiv talen zu entschlüsseln. Auf Nachfragen nach der von ihm eingesetzten Strategie („wie bist du auf Sprachen gekommen? “), argumentiert er vor allem kontextuell: Wenn ein Comicalbum in einen Dialekt übersetzt wird, dann auch in eine Sprache. Interessanterweise verwendet Thomas bei der Erläuterung seiner Erschließungsstrategie nun die deutsche Entsprechung zu nl. vertaald, „übersetzt“, angesichts der Fokussierung auf talen en dialecten aber wohl eher unbewusst. <?page no="250"?> 236 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Im Folgenden wenden wir uns erneut dem Ausdruck en zijn onafscheidelijke vriend zu. Thomas erklärt, dass er das Wort „Freund“ aus dem Englischen erschlossen habe und fügt hinzu: „Nur das halt ein V ist“ (Z. 289), d.h. er macht auf die orthographischen Unterschiede aufmerksam 247 . Nachdem ihm das zuvor ausgelassene und morphologisch komplexe Adjektiv onafscheidelijke (= „unzertrennlich“) übersetzt wurde, sagt er: „Ist mir eben auch, auch eingefallen.“ (Z. 293). Dass diese Äußerung durchaus der Wahrheit entspricht, d.h. die angegebene Übersetzung voreilig war, beweist Thomas, indem er sofort und aus eigener Initiative eine geeignete Erschließungsstrategie anführt, das Zerlegen des Wortes in dessen Bestandteile. Eines der auf diese Weise erhaltenen Wortelemente kommentiert er durch eine metasprachliche Beobachtung: „Also unzer-, also so, scheiden ist ja auch ein Trennwort“ (Z. 295). Diese Kommentierung ist erstaunlich. So hat das für das Verständnis dieses Adjektivs besonders bedeutsame Dlement -scheidezwar auf Sprachformebene eine Entsprechung im Deutschen („scheiden“). Diese ist jedoch - sieht man von Sprachformeln wie „Bis dass der Tod euch scheidet.“ ab - weniger geläufig und muss daher in „trennen“ übertragen werden. Auf der Ebene lehrerseitiger Steuerung verweist dieses Beispiel (wiederum) auf die Notwendigkeit, zurückhaltend mit Hilfen umzugehen und Lernern mehr zuzutrauen. Es kann in diesem Fall allerdings nicht gesagt werden, ob Thomas auch ohne Hilfe nl. -scheideals ein „Trennwort“ (wie er es formulierte; s.o.) erkannt hätte und (somit) die Strategie der Wortdekomposition hier hätte anwenden können. Dafür spricht aber, dass er im Folgenden das niederländische Adjektiv onafscheidelijke weiter in dessen Bestandteile zerlegt und auf die Vorsilbe „unzertrennlich“ hinweist: „mit diesem -on da“ (Z. 298). In Bezug auf den letzten Satz des Textes, De reeks blijft een van de grootste successen in de geschiedenis van de stripwereld., schließlich kommt es zu folgendem Dialog (Z. 304-309): T.: Ähm, die Reihe ist ein großer, ein großer Erfolg oder … L.: Ja, genau. Und wie bist da auf Erfolg gekommen? T.: Also, das ist irgendwie im Englischen ist das so. L.: Mhm. T.: Jetzt (...), das heißt irgend so ein englisches Wort, hier gibt es auch in Englisch. Interessant ist hier, dass Thomas einen Identifikationstransfer von nl. successen als dt. „Erfolg“ über das Englische leistet und die englische Sprache auch explizit als verwendete Transfersprache angeben kann, ohne jedoch die konkrete 247 Diese Beobachtung verweist ebenfalls auf die bereits angesprochene Lautverschiebung im Deutschen, an dieser Stelle auf die niederländische Entsprechung v von dt. „f“ (vgl. auch „Fisch“ vis), wobei hier im Unterschied zum obigen Fall auch im Englischen auch ein f stehen kann (vgl.: fish); Lutjeharms (ebd.). <?page no="251"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 237 sprachliche Form in der Brückensprache nennen zu können 248 . Dies entspricht einem Ergebnis zu Interkomprehension mit einem italienischen Text und Französisch als Brückensprache bei einer Französischlernerin, die wie Thomas in der 6. Klasse ist, in ihrem Fall eines Gymnasiums in Niedersachsen (vgl. Morkötter 2008: 304-305). So war die Schülerin in der Lage, in dem Textstück rendere il loro approccio più professionale aus einem Text zur Entstehungsgeschichte der Band Tokio Hotel den Komparativ più professionale als „professioneller“ zu erkennen. Sie konnte die französische Transferbasis plus … zu ital. più zwar (selbstverständlich noch) nicht angeben, wusste aber, dass es im Französischen ein ähnlich klingendes Wort gibt. Es ist gerade diese Fähigkeit junger Lerner, sich Wissen aus ihren Brückensprachen im Erschließungsprozess selbst bei Unsicherheiten auf Signifikantenebene zunutze zu machen, die auf das Potenzial des retroaktiven Transfers von Interkomprehension im Sinne einer Festigung sprachlichen Vorwissens verweist. Zusammenfassung wichtiger Befunde: Durch diese Interkomprehensionsstunde und deren Analyse wurde auf der Ebene lehrerseitiger Steuerung insbesondere deutlich, wie schwierig es sein kann, das Vorwissen von Sechstklässlern einzuschätzen. Im Bereich des Weltwissens betrifft dies die Auswahl des Themas selbst, jedoch ebenfalls für konkrete Erschließungsprozesse nutzbares enzyklopädisches Wissen (wie die goldene Farbe als Repräsentant der Jahreszahl 50). Die Schwierigkeit einer Einschätzung bezieht sich zudem auch auf (meta-)sprachliches Wissen wie das deutsche Verb „scheiden“ oder der Begriff des „Passivs“. Die Analyse konnte durch die lernerseitigen Reaktionen auf die lehrerseitige Steuerung sowohl Indizien für eine möglicherweise zu starke Lenkung (beim Adjektiv onafscheidelijke) als auch für ein zu starkes Insistieren auf eine Antwort (bei der grammatischen Kategorie des Passivs als Terminus) ermitteln. Wie gezeigt werden konnte, gelingt es Thomas trotz seiner Schwierigkeiten an einigen Textstellen, dem Auslassen einiger Passagen und seines sehr geringen inhaltlichen Vorwissens dem Text grundlegende Informationen zu entnehmen (zum Beispiel seit wann es die Asterixcomics gibt, von wem der 50. Jahresband ist, wie viele Alben verkauft wurden etc.). Darüber hinaus konnte beobachtet werden: Thomas kann die niederländische Sprache mit der englischen und deutschen („aus dem Englischen und aus dem Deutschen“) vergleichen und dieses detailliert an dem Adjektiv nieuw belegen, indem er dessen englisch- und deutschsprachliche Elemente angibt. 248 Das niederländische Substantiv steht im Plural, allerdings fokussiert der obige Dialog die Wortbedeutung und nicht die syntaktische Ebene. <?page no="252"?> 238 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Er kann (trotz seines geringen enzyklopädischen Wissens) für ein ihm interlingual intransparentes Substantiv (stripreeks) eine sowohl dem Koals auch dem Kontext angemessene Übertragung finden („Geschichte von Asterix“). Er nutzt von sich aus textbegleitendes Material, in diesem Fall das abgebildete Comiccover, um Informationen zu einem Eigennamen im Text zu erhalten. Er schlägt eine englische Transferbasis für ein niederländisches Substantiv vor und gibt ebenfalls Englisch explizit als Brückensprache an („Ja, es kommt ja von dem adventure aus dem Englischen.“). Auch bei einem weiteren niederländischen Substantiv (successen) gelingt ihm ein Identifikationstransfer und er ist in der Lage, die hierbei verwendete Brückensprache zu nennen, in diesem Fall jedoch, ohne das konkrete englischsprachliche Interlexem angeben zu können. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass er das englische Substantiv success zwar nicht selbst aktiv produzieren kann, dessen mentale Verfügbarkeit Thomas aber dennoch für eine erfolgreiche Entschlüsselung von nl. successen ausreicht. Prospektiv für das Erlernen der französischen Sprache bzw. romanischer Sprachen bedeutet dies: Bei Sprachen, die einer anderen Sprachfamilie angehören als die Mutterbzw. Brückensprache(n), ist die Fähigkeit, den Kotext heranzuziehen, von großer Bedeutung aufgrund der größeren Anzahl opaker Lexeme (s.o. zu nl. stripreeks). Dies gilt ebenfalls für textbegleitendes Material (bzw. den péritexte; Chazal 2010), das Thomas hier bei der Dekodierung nutzt. Die Nutzung des Englischen als Brückensprache ist für junge Lerner, denen noch wenige romanischsprachliche Transferbasen zur Verfügung stehen, besonders wichtig. Vor diesem Hintergrund ist das Ergebnis von Bedeutung, dass ein Identifikationstransfer auf der Grundlage von englischsprachlichen Transferbasen erfolgreich sein kann, die für einen Lerner von unterschiedlicher mentaler Verfügbarkeit sind (vgl. oben: engl. adventure vs. engl. success 249 ). Hier wird das Potenzial eines retro- und proaktiven Transfers deutlich. 249 Zwar ist die Zielsprache hier Niederländisch, da das französische Substantiv succès (Sing. / Pl.) im Schriftbild dem englischen success jedoch ähnlicher ist als das niederländische successen, kann m.E. angenommen werden, dass Thomas die englischsprachliche Trans ferbasis auch bei dem französischen Wort für einen Identifikationstransfer hätte aktivieren können (eventuell auch bei ital. successo). <?page no="253"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 239 2.5 Die sechste Interkomprehensionsstunde: „Wörterpuzzle“ Zum Aufgabenmaterial: Das Aufgabenformat der lexikalischen Serien bzw. „Wortserien“ (vgl. Meißner 2004b: 86ff., 2005b: 89-90), das dem Erkennen interphonologischer Regelhaftigkeiten dient, ist unter dem Namen „Wörtersalat“ bereits in der jahrgangsübergreifenden Gruppe eingesetzt worden. Thomas sagte zu Beginn der Sitzung, dass er sich an die Aufgabe erinnern könne. Verglichen mit jener Aufgabe ist die nun eingesetzte Aufgabe des „Wörterpuzzles“ in vielerlei Hinsicht schwieriger 250 : a) im Hinblick auf die Anzahl der einbezogenen Wörter bzw. interphonologischen Regularitäten: Während beim „Wörtersalat“ lediglich sechs verschiedene Wörter ihren Interlexemen zugeordnet werden sollten, handelt es sich beim „Wörterpuzzle“ um 20 Wörter und vier Sprachen, also insgesamt 80 Wörter. Angesichts der geringeren Erfahrungen junger Lerner, und hier konkret eines Schülers zu Beginn der sechsten Klasse mit Sprachen und Sprachenlernen, stellen auch die insgesamt 80 Wörter eine Reduktion gegenüber den 132 in Meißner (2004b: ebd.) vorgeschlagenen dar (vgl. hierzu auch Bär 2009: 193, der die von ihm eingesetzte Wortliste aufgrund seiner Erfahrungen mit diesem Aufgabenformat und Lernern der achten Jahrgangsstufe auf 90 Wörter kürzte). b) im Hinblick auf den Grad der Steuerung: Wohingegen bei der Aufgabe „Wörterpuzzle“ alle interlingualen phonologischen Korrespondenzen selbst gefunden werden müssen (in Form eines Puzzles mit Wortkärtchen), waren beim „Wörtersalat“ in einer Tabelle pro Zeile mindestens ein Wort, im Höchstfall drei Wörter vorgegeben. c) im Hinblick auf die herangezogenen Sprachen: Zwar umfasste die Aufgabe zum „Wörtersalat“ insgesamt sechs (verglichen mit vier bei dieser Aufgabe) Sprachen, hierzu zählten jedoch die Muttersprache (Dt.) der Lerner, die weitere germanische Sprache Niederländisch und von den Lernern (zum Teil und individuell unterschiedlich) gelernte Sprachen: Englisch, Latein und Französisch. Als neue romanische Sprache kam hier ‚lediglich‘ Italienisch hinzu, wohingegen die Aufgabe zum „Wörterpuzzle“ auch Spanisch umfasst. Bei dieser Aufgabe wurden die meisten der zuvor thematisierten interphonologischen Regularitäten wieder aufgenommen wie beispielsweise: frz.: é 250 Wie in Abschnitt II 4. dargelegt, weichen beide Aufgaben insofern vom ‚traditionellen‘ Aufgabenformat der lexikalischen Serien ab, als nicht allein der Frage nachgegangen werden soll, welche Wörter zusammengehören (vgl. Meißner 2004b: 86ff.), sondern ebenfalls, zu welchen Sprachen sie jeweils gehören, was sie in dieser Hinsicht schwieriger macht. <?page no="254"?> 240 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven + Kons. ital.: s + Kons. oder die Intermorpheme -tion -zione usw. Die Beispielwörter wurden größtenteils Klein & Reissner (2006: 45ff.) entnommen. Es wurden folgende Wortkärtchen (hier horizontal in der Sprachenabfolge: Englisch - Französisch - Italienisch - Spanisch und vertikal in alphabetischer Reihenfolge der englischen Wörter abgedruckt) verwendet: activity activité attività actividad august août agosto agosto battle bataille battaglia batalla camp champ campo campo coast côte costa costa flame flamme fiamma llama flower fleur fiore flor message message messaggio mensaje nation nation nazione nación night nuit notte noche perfect parfait perfetto perfecto place place piazza plaza plan plan piano llano school école scuola escuela situation situation situazione situación soap savon sapone jabón Spain Espagne Spagna España spirit esprit spirito espíritu state état stato estado university université università universidad Abb. 6: Wortkärtchen - „Wörterpuzzle“ Was die Dokumentation dieser Interkomprehensionsstunde angeht, muss darauf hingewiesen werden, dass insbesondere bei schnellen Verschiebungen von Wortkärtchen auf dem Tisch Thomas’ (manuell manifestierte) Entscheidungen und Umentscheidungen für eine bestimmte lexikalische Serie oder ‚Sprachen-Spalte‘ nicht immer mitnotiert werden konnten. Dies war vor allem in der zweiten Hälfte der Interkomprehensionsstunde der Fall, nachdem er darauf hingewiesen wurde: „wir müssen ja auch nicht immer dann gleich die ganze Reihe vollmachen, da, wo du halt was, was, äh, findest.“ (TR 6, Z. 98-100; s.u.). Da sich Thomas mittlerweile an das Audio-Aufnahmegerät derart gewöhnt hatte, dass er - so der Eindruck - es kaum mehr wahrgenommen hat, <?page no="255"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 241 wurde eine zusätzliche visuelle Aufzeichnung nicht in Erwägung gezogen. Denn: Um einen Gewinn gegenüber Notizen darzustellen, hätte eine Kamera entsprechend direkt auf Thomas’ Hände gerichtet sein müssen, was seine Bearbeitung der Interkomprehensionsaufgabe sicherlich beeinflusst hätte 251 . Darüber hinaus geht es ja nicht in erster Linie um ein ‚manuelles Verschieben‘ von Kärtchen, sondern gerade um Thomas’ Kommentierungen seiner Überlegungen. Analyse der Interkomprehensionsstunde (24. November 2009): Bei dem Einsatz (als Hausaufgabe) des Aufgabenformats „lexikalische Serien“ mit einer Liste von 132 Wörtern, wie sie in EuroComRom (Meißner 2004b: 86- 87) zu finden ist, konnte Bär (2009: 192ff.) Verschiedenes feststellen: So haben lediglich drei von insgesamt 27 Schülern die Aufgabe so bearbeitet, wie sie vorgesehen war, indem sie die Wörter einer Serie einander zuordneten. Dass einige Schüler nicht wussten, was sie tun sollten (und ihnen somit auch nicht das Ziel der Aufgabe bewusst sein konnte), zeigte sich beispielsweise in der Herangehensweise, die Wörter lediglich auf Deutsch zu übersetzen oder nach Sprachen zu sortieren, nicht aber nach interphonologischen Regularitäten. Einige Schüler hatten Zahlenreihen auf die Rückseite der Wortlisten geschrieben, die selbstverständlich bei Abgleich mit den dazugehörigen Wörtern durchaus korrekte Lösungen beinhalten, aber dem Ziel, interphonologische Regelmäßigkeiten zu erkennen, natürlich nicht entsprechen können. Interessant an den Befunden von Bär (ebd.) für den vorliegenden Kontext ist auch, dass bei den spanischen Wörtern fabricación, producción, investigación und construcción die Lerner ihr Augenmerk auf die Bedeutung des Wortstammes legen, jedoch nicht durchgängig -ción als Endmorphem eines Substantivs erkennen. Dies führte zu Übertragungsversuchen wie „fabrizieren“ für fabricación. Dies ist für die vorliegende Untersuchung insofern interessant, als es genau dieses Endmorphem ist, dem sich Thomas zuallererst 252 widmet (TR 6, Z. 68-78): T.: Holl-, da, Italienisch, situación. L.: Spanisch. T.: Und dann ist das Französisch, oder? L.: Ja, genau. Ne, da ist es halt nur von der, von der Aussprache her anders, ne? Halt situation ((engl.)), situation ((frz.)) … 251 Eine mögliche Alternative wäre hier eventuell die Übertragung der Aufgabe in eine elektronische Form und die Dokumentation von Mausbewegungen und -klicks. 252 Die relativ hohen Zahlen 68-78 der durchgehenden Zeilennummerierung der Trans kriptionen an dieser Stelle ergeben sich dadurch, dass Thomas in der Zwischenzeit mit seiner Klasse im Kino einen französischsprachigen Film im französischen Original mit deutschen Untertiteln gesehen hat, von dem er zu Beginn der Interkomprehensions sitzung berichtet. <?page no="256"?> 242 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven T.: Das ist dann Italienisch ((zeigt auf situazione)). L.: Ja, genau, genau. T.: Das, das, das war noch, (...), das, jetzt brauche ich nur noch Englisch. L.: Zeig mal, welche hatten, du kannst ja die, die du hast, dann schon mal da anlegen. ((räuspert sich)) Mhm. T.: Das Italienische hat sehr viel Z irgendwie. Für die Abweichungen dieses Ergebnisses zur lexikalischen Serie: -tion, -tion, -zione, -ción von jenem aus Bärs Untersuchung (ebd.; s.o.) lassen sich verschiedene Gründe anführen: Der oben wiedergegebene Übertragungsversuch „fabrizieren“ für fabricación wurden im Rahmen einer Hinführung zur Aufgabe der lexikalischen Serien geäußert, die sich in Form einer Übersetzung auf das Sprachenpaar: Spanisch Deutsch beschränkte (vgl. Bär ebd.). Thomas ist das Aufgabenformat der lexikalischen Serien aus der Aufgabe „Wörtersalat“ in der jahrgangsübergreifenden Gruppe bereits bekannt, an die er sich nach eigener Angabe (s.o.) erinnern kann. Auch das konkrete Endmorphem bzw. die intermorphematische Serie -tion, -tion, -zione wurde in der vorangegangenen Aufgabe thematisiert (am Beispiel von „Information“ und einschließlich des niederländischen Morphems -tie). Ob er sich ‚nur‘ an die Aufgabe an sich oder auch an die konkrete Wortserie erinnern kann, kann nicht eindeutig gesagt werden. Für Letzteres spricht allerdings Thomas’ metasprachliche Stellungnahme: „Das Italienische hat sehr viel Z irgendwie.“ (s.o.), denn für ein Erkennen intralingual zielsprachlicher, hier italienischer, Regularitäten (-zione) wäre es an dieser Stelle des Bearbeitungsprozesses (selbstverständlich) ansonsten zu früh, da es sich um das allererste Beispiel handelt. Dass er sich zunächst der Wortreihe zu „Situation“ gewidmet hat, kann an der interlingualen Transparenz auf Sprachform- und semantischer Ebene liegen. So vermutet auch Bär (ebd.) bei seinem Ergebnis, dass die Schwierigkeiten seiner Probanden teilweise auf die gewählten Wortbeispiele zurückgeführt werden könnten, da diese Wörter wie „Investigation“ oder „Fabrikation“ nicht aktiv verwendeten. Zu dem in Meißner (2004b: 86-87) vorgeschlagenen Aufgabenformat ist im Hinblick auf die von Thomas gewählte Reihenfolge interlingualer Zuordnungen von Wortserien zu bemerken, dass eine Auflistung unterschiedlicher Wörter in einer Reihe von 1 bis 132 selbstverständlich ein Vorgehen nach der Nummerierung der Wörter nahelegt. Der Vorteil der hier gewählten Umsetzung des Aufgabenformats der lexikalischen Serien als einem Kärtchenpuzzle ist − abgesehen von einer intendierten jüngeren Schülern angemesseneren (,spielerischeren‘) Herangehensweise −, dass die Reihenfolge der zusammengesetzten Wortserien vom Lerner selbst bestimmt werden kann. Dies ist ebenfalls <?page no="257"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 243 aus der Forschungsperspektive von Interesse, etwa um zu ermitteln, welche interlingualen Strukturen und Regularitäten von Lernern zunächst bemerkt werden und welche ihnen eher Schwierigkeiten bereiten. So ist bei einer durchnummerierten Wortvorgabe aus Lehrperspektive zu beachten, dass − selbst bei ausdrücklichem Insistieren darauf, dass Lerner zunächst die gesamte Wortliste lesen − hierdurch die Abfolge, in der sich Lernende interlingualen Regelhaftigkeiten widmen, mit gesteuert wird. Dies ist im Hinblick auf den Befund, dass insbesondere junge Lerner bei Erschließungsprozessen ihr Augenmerk vor allem oder sogar ausschließlich auf den Wortanfang und weniger auf die Wortmitte oder das Wortende legen (vgl. auch Aitchison 1997: 175ff.; Müller-Lancé 2003: 437; Bär 2009: 517), von Relevanz. Thomas gelingt es, die komplette Wortserie zum Interlexem „Situation“ zu legen, wobei er allerdings span. situación zunächst der falschen Sprache zuordnet: „Holl-, da, Italienisch, situación.“ (Z. 68, s.o.). Dass er situación zunächst für ein italienisches Wort hält, hängt vermutlich mit der Tatsache zusammen, dass bei der zuvor bearbeiteten Aufgabe zu lexikalischen Serien andere Sprachen vertreten waren (Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Latein und Niederländisch), nicht jedoch die spanische. Hierfür spricht auch sein false start „Holl“ zu Beginn der Äußerung, der sehr wahrscheinlich für „Holländisch“ steht. In jedem Fall zeigt dieses Zitat, dass Thomas offenbar mit diesem Aufgabenformat vertraut ist. Für die Annahme, dass ihm durchaus bewusst ist, worauf es bei dieser Aufgabe ankommt, nämlich interlinguale Regularitäten zu erkennen, spricht die Tatsache, dass er sich als nächstes der zweiten Wortserie desselben Typs (nation − nation − nazione − nación) aus dieser Aufgabe widmet 253 . Darüber hinaus gelingt es ihm auch - entsprechend seiner metasprachlichen Beobachtung „Das Italienische hat sehr viel Z irgendwie.“ (Z. 78; s.o.) −, das italienische Kärtchen zu finden und korrekt anzulegen. Zum französischen Kärtchen wird die Aussprache erfragt (Z. 80-94): T.: Das, das hier, der und das da ((legt nation an)). L.: Mhm. Wie spricht man das aus? T.: Ähm … L.: Wenn man da situation ((frz.)) sagt. T.: nation ((frz.)). 253 Hierbei ist allerdings einzuräumen, dass das menschliche Auge selbstverständlich nicht in der Lage ist, 80 Wortkärtchen zugleich zu überblicken und das Arbeitsgedächtnis in der Regel etwa 7 (+/ - 2) Informationseinheiten aufnehmen kann, so dass auch der Zufall, auf welche Kärtchen der Blick als nächstes fällt, eine gewisse Rolle gespielt haben kann. Allerdings gab es abgesehen von der Dauer der Interkomprehensionsstunde von 45 Minuten insgesamt ansonsten keine zeitliche Begrenzung für die Suche der Wortreihen und Interlexeme. <?page no="258"?> 244 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven L.: Ja, genau, ne, das wird -tion ((frz.)) dann gesprochen und im Italienischen, wie du gerade schon sagtest, -zione, ne, da hat man dieses Z dann ganz oft. … Was vermutest du denn jetzt? Was, was da noch hinmuss? T.: Ja, was soll denn nazione ((ital.)), ist das dann Nation ((dt.)) auch. Auf Deutsch oder nicht? L.: Ja, aber wenn das jetzt die englische Tabelle, wie würde man das dann aussprechen? T.: Wie heißt das dann im Deutschen? ((findet das weitere ‚nation-Kärtchen‘)) Ah, hier ist es ja. L.: Ja, genau. Angesichts der Gleichschreibung von engl. nation und frz. nation wird Thomas zunächst auf die Aussprache des in der Französisch-Spalte angelegten ,nation- Kärtchens‘ angesprochen. Hiermit sollte an die Erläuterung: „Ne, da ist es halt nur von der, von der Aussprache her anders, ne? Halt situation ((engl.)), situation ((frz.))“ (Z. 71-72) von zuvor angeknüpft und festgestellt werden, ob Thomas der Transfer auf ein anderes Beispiel gelingt. Dass er trotz des korrekten Anlegens des französischen Kärtchens zunächst nicht weiß, wie das Wort ausgesprochen wird (s. Z. 82), weist auf eine Orientierung an der Schreibweise bei der Zuordnung hin. Hinzu kommt, dass − zumindest bei einer Betrachtung des Inputs durch das Lehrbuch (À plus! 1; Bächle et al. 2004) − Wörter auf -ation bislang in seinem Französischunterricht noch nicht vorkamen. Außerdem weist dieses Ergebnis ebenfalls auf eine interlinguale Orientierung hin, im Sinne dieses Aufgabenformats und abweichend von Bärs (2009: 192ff.; s.o.) Feststellung, dass die Schüler unter anderem die Wörter nach Sprachen sortierten. Doch gelingt Thomas auch ein intralingualer Transfer der Aussprache, nachdem er auf das Lautbild von frz. situation aufmerksam gemacht wurde (Z. 84). Nach der anschließenden Zusammenfassung, in der ebenfalls Thomas’ Beobachtung zum Italienischen wieder aufgenommen wird (Z. 85-87), und der Aufforderung, weitere Beispiele aus der Wortreihe zu nation zu finden, identifiziert er nazione als das italienische Interlexem. Interessant ist, dass er sich erst im Anschluss an das Auffinden des Interlexems und insgesamt zum ersten Mal im Verlauf dieser Aufgabenbearbeitung nach der Bedeutung eines Wortes erkundigt. Diese Abweichung von Bärs (2009: 192ff.) Ergebnis, demzufolge dessen Probanden (Achtklässler) zunächst vor allem der Wortbedeutung und nicht − wie von der Aufgabe intendiert − der Wortstruktur Aufmerksamkeit schenkten, ist sicherlich auf Thomas’ Vertrautheit mit diesem Aufgabenformat zurückzuführen. Bär (ebd.) vermutet, wie angesprochen, die Schwierigkeiten seiner Probanden auch bei den von ihm gewählten Wortbeispielen wie fabricación oder investigación und räumt ein, dass: „bei Beispielen wie [...] ,Nation‘ (sp. nación) […] die Schüler (voraussichtlich) sofort die korrekte Entsprechung im Deutschen genannt [hätten]“ (ebd.). Die <?page no="259"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 245 Tatsache, dass Thomas die Wörter nation bzw. nazione richtig anlegen kann, sich aber bei der Bedeutung und deutschen Entsprechung unsicher ist: „Ja, was soll denn nazione ((ital.)), ist das dann Nation ((dt.)) auch. Auf Deutsch oder nicht? “ (Z. 88-89), weist darauf hin, dass er an dieser Stelle der Aufgabenbearbeitung tatsächlich auf die Wortstruktur und die interphonologischen Regularitäten konzentriert ist. Darüber hinaus zeigt dieses Zitat Unsicherheit in Bezug auf den deutschen (Fremd-) Wortschatz bei jungen Lernern 254 . Verglichen mit Bärs (2009: 517) Feststellung bei älteren Schülern (Klasse 8 bis 11): „Vielfach sind die Schüler nicht in der Lage, Wörter aus dem Fremdwortschatz des Deutschen, die ihnen z.T. formal durchaus bekannt sind, mit Bedeutung zu füllen [...]“, ist im Falle der vorliegenden Untersuchung festzuhalten, dass zum Teil auch auf Sprachformebene die deutschen Entsprechungen bzw. Transferbasen nicht angegeben werden können (vgl. nl. geassisteerd und das deutsche Verb „assistieren“; Abschnitt III 2.1). Die Tatsache, dass Thomas’ Frage nach der Wortbedeutung und dem deutschen Interlexem nicht beantwortet und er stattdessen nach der Aussprache des englischen Wortes nation gefragt wird (Z. 90-91; s. Transkriptionsausschnitt oben), deutet an, dass es mitunter schwierig sein kann, den Bestand des (Fremd-) Wortschatzes bei jungen Lernern einzuschätzen. Da nicht von Unsicherheiten bei dem deutschen Wort „Nation“ ausgegangen wurde, wurde seine Frage hier vermutlich gar nicht wahrgenommen. Im Anschluss wiederholt Thomas diese zwar, unterbricht sich dann jedoch sozusagen selbst, als er das ,englische nation-Kärtchen‘ findet, und beantwortet stattdessen (korrekt) die Frage nach der Aussprache (Z. 91-93). Als Thomas im Folgenden zunächst zögert, wird er darauf hingewiesen: „wir müssen ja auch nicht immer dann gleich die ganze Reihe vollmachen, da, wo du halt was, was, äh, findest.“ (Z. 98-100). Diesen Hinweis hätte er bereits zu Beginn der Stunde erhalten sollen. Gerade wenn es nicht um den simultanen Erwerb mehrerer romanischer Sprachen geht, wie es in verschiedenen Ansätzen interromanischer Interkomprehension für romanischsprachige Muttersprachler realisiert wird (vgl. z.B. InterRom, Carullo et al. 2007, oder Interlat, Tassara Chávez & Moreno Farías 2007; für junge Lerner vgl. die Itinéraires Romans, Álvarez & Tost 2008a, 2008b), wäre ein Insistieren auf eine Identifikation aller englischen, französischen, italienischen und spanischen Interlexeme für jede lexikalische Serie kontraproduktiv, weil es Lerner ohne eine starke romanische Brückensprache vermutlich eher einschüchtern würde. Wichtiger als die Vollständigkeit einer Wortreihe ist vielmehr das Zuordnen 254 Vorausgesetzt, das Wort „Nation“ kann als „Fremdwort“ bezeichnet werden. Im Nach schlagewerk: Das Große Fremdwörterbuch. Herkunft und Bedeutung der Fremdwörter. des Wissenschaftlichen Rats der Dudenredaktion wurde es aufgenommen (vgl. Drosdowski et al. 1994: 933). <?page no="260"?> 246 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven von analogen Beispielen, d.h. von interphonologischen Korrespondenzserien, zueinander, wie im Falle von situation und nation geschehen, da auf der Grundlage eines einzigen Beispiels weniger deutlich wird, worin die Regelmäßigkeit in den interlingualen Entsprechungen genau besteht. Im Folgenden legt Thomas die Wortserie zu: activity − activité − attività − actividad und dies auf Anhieb fehlerfrei und ohne Hilfestellung (Z. 104-110): T.: actividad, oder? L.: Ja, genau. Super. T.: Das da (attività) hier. L.: Ja, genau. T.: Dann activité, oder? L.: Mhm. T.: (...) Hier, activity. Ob er sich hierbei an die Aufgabe „Wörtersalat“, in der diese Wortreihe ebenfalls vorkam, erinnert, kann zwar nicht gesagt werden. Verwunderlich ist jedoch, dass er ausgerechnet mit jener Sprache (Spanisch) beginnt, die nicht Teil der vorangegangenen Aufgabe war und die er nicht in der Schule lernt (so kann beim Englischen davon ausgegangen werden, dass er − schon allein aus dem ,Klassenraumvokabular‘ − das Wort activity kennt). Als Thomas sich dem englischen und französischen Kärtchen mit dem Wort message widmet, diese richtig zuordnet und hierbei auch richtig ausspricht, wird die wiederum vorhandene Gleichschreibung erneut thematisiert (Z. 119-123): L.: Woher wusstest du, dass man das message ((frz.)) ausspricht? T.: Weil halt das, das G halt wie so ein / / halt. Und das E wird ja nicht ausgesprochen, und dann muss man ja einfach nur, wenn das E nicht ausgesprochen wird, dann ist das ja weg, dann würde es messag ((/ g/ )) heißen und dann halt das G, wenn das wie / / und dann message ((frz.)). Von Lernern im Alter von Thomas wäre eigentlich eine Antwort zu erwarten gewesen, die an eine konkrete Situation gebunden ist (vgl. z.B. auch passim De Leeuw 1997 für jüngere Lerner), etwa die Schilderung, in welchem Kontext sie das französische Wort message schon einmal gehört haben (wie beispielsweise im Unterricht, auf einem Anrufbeantworter/ einer Mailbox, während eines Urlaubs im französischsprachigen Ausland etc.). Stattdessen liefert Thomas hier eine kontextgelöste, metasprachliche Analyse. Da die Unterschiede in der Aussprache des englischen und des französischen Wortes message am Wortende auffälliger sind als am Wortanfang, widmet er sich der lautlichen Unterscheidung von / Id / und / a / . Nachdem er zunächst die Graphem-Phonem-Korrespondenz von g im französischen Wort erläutert, schildert Thomas den Einfluss des Endvokals auf die Aussprache dieses Graphems. Er verdeutlicht ihn, indem er − metasprachlich <?page no="261"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 247 korrekt − angibt, dass man bei Wegfall des „E“ am Ende des Wortes das „G“ / mesag/ (d.h. als palatalen Okklusiv) sprechen würde. Ob Thomas bewusst ist, dass französische Wörter, die im Auslaut / ag/ gesprochen werden, im Schriftbild zumeist durch die Endung -ague wiedergegeben werden (vgl. blague, vague etc.), lässt sich nicht feststellen. In jedem Fall ist sein metasprachliches Wissen eine gute Grundlage für das Erkennen auch dieses Zusammenhangs. An diesem Beispiel wird darüber hinaus wiederum Thomas’ Sensibilität für Aussprache und Graphem-Phonem-Zusammenhänge deutlich, wie sie bereits in der ersten Interkomprehensionsstunde deutlich wurde (vgl. Abschnitt III 2.1). Während er sich zuvor jedoch ,lediglich‘ auf eine intralinguale Ebene und auf seine erste Fremdsprache Englisch bezogen hatte (vgl. an elephant/ a tree und can/ can’t), nimmt er nun auf einer intra- und interlingualen Ebene und zu seiner neu begonnenen zweiten Fremdsprache Stellung. Seine Konzentration auf den Konsonanten „G“ und dessen Aussprache ist vermutlich einer der Gründe dafür, dass es ihm im Folgenden gelingt, das italienische Wort der Serie, messaggio, zu finden, nicht jedoch das spanische mensaje. Im Folgenden wird die lexikalische Serie zu „Nacht“ behandelt, ausgelöst durch die Äußerung: „Da ist ein nuit runtergefallen.“ (Z. 129). Durch diesen Vorfall ist indirekt auch die Frage der praktischen Umsetzbarkeit des hier vorgeschlagenen und vorgestellten Aufgabenformats des „Wörterpuzzles“ angesprochen, insbesondere wenn man an kleine Klassenräume und Lerngruppenstärken von 30 Schülern (oder mehr) denkt. 255 Thomas kann das angesprochene Substantiv nuit sofort identifizieren (Z. 129-140): L.: Da ist ein nuit runtergefallen. T.: Die Nacht, oder? L.: Ja, genau. T.: Ah ja, hier. Night, nuit, das, nee, das ist auch Französisch. Das ist doch auch Französisch, oder? ((zeigt auf noche)) L.: Ähm, nee, wo woll-, wo wolltest du das denn zuordnen? T.: Ja, zur Nacht. L.: Ja, genau, genau. T.: Dann hier. 255 Hier bietet sich sicherlich eher eine Partner- oder Gruppenarbeit an, die dann ebenfalls einen ,spielerischen Ausbau‘ dieser Aufgabe ermöglichte (beispielsweise hinsichtlich der Frage der Verteilung der Kärtchen unter den einzelnen Schülern). Allerdings sind diese Überlegungen nicht neu, wie „Vokabel-Memory-Spiele“ zeigen, die z.T. von Schulbuch verlagen (als download) angeboten werden (vgl. z.B. das Memory-Spiel zum Wortschatz der Unidad 1B von Línea uno; Jäschke 2004: (02.01.11): http: / / www.klett.de/ sixcms/ list.php? page=titelfamilie&titelfamilie=L%EDnea+uno+und+dos&modul=produktdetail &isbn=A050-70100001). <?page no="262"?> 248 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven L.: Mhm. T.: Dann, und das, oder? L.: Ja, genau. Mhm. Interessant an diesem Dialog ist vor allem, dass Thomas, obwohl er bereits nuit vielleicht kennt er es aus der Grußformel bonne nuit als das französische Wort der Reihe erkannt hat, ebenfalls das Substantiv noche für ein französisches hält. Es gibt bekanntermaßen im Französischen bei Tageszeiten in der Tat zum Teil zwei Wörter (vgl. matin − matinée, soir − soirée), es ist jedoch fraglich, ob ihm dies nach wenigen Stunden Französischunterricht bekannt ist. In jedem Fall ist hervorzuheben, dass anders als bei weiteren spanischen Wörtern des Puzzles wie plaza oder llano die Buchstabenbzw. Laut-Folge noche (frz. gesprochen: [n ]) im Französischen phonologisch nicht nur möglich, sondern durchaus geläufig ist (vgl. cloche, moche etc.). So könnte eine Hypothese hier lauten, dass Thomas im Französischunterricht möglicherweise gerade ein im Schriftbild entsprechendes Wort (vielleicht poche) gelernt hat und daher spanisch: noche für ein französisches Wort hält. Im Folgenden korrigiert Thomas eines der englischen Wortkärtchen (Z. 146- 157): T.: Hier liegt schon August ((deutsch ausgesprochen)), äh, wird das nicht eigentlich groß geschrieben, oder? Im Englischen wird doch, werden doch die Monate groß geschrieben, oder? L.: Oh ja, da hast du allerdings Recht. 256 T.: Ja, jetzt kommen die ganzen englischen. Und das irgendwie hier oder, nee ((coast und côte)) L.: Ja, ja, ja, ja, genau, genau. Ne, man kennt ja die, die Côte d’Azur zum Beispiel, ne? Was, was heißt das? T.: Hm, weiß ich gar nicht so recht. Ich habe jetzt eigentlich nur nach der Ähnlichkeit und dann das hier. L.: Ja. Das heißt, ähm, Küste. T.. Hm, ja. Bemerkenswert ist hier, dass Thomas das Wort coast als das englische erkennt und es auch explizit als ein englisches bezeichnen kann („jetzt kommen die ganzen englischen“), dessen Bedeutung jedoch nicht kennt. Es gelingt ihm ebenfalls, dem englischen Lexem das französische zuzuordnen. Auch nachdem versucht wurde, über den Eigennamen Côte d’Azur an sein Weltwissen zu appellieren, kann Thomas nicht angeben, was coast bzw. côte bedeutet. 256 Die meisten Beispielwörter sind, wie eingangs erwähnt, Klein & Reissner (2006: 45ff.) entnommen, wo dieses Wort angesichts der Fokussierung auf interphonologische Regu laritäten ebenfalls klein abgedruckt ist (vgl. ebd.: 54). Es ist ein Zeichen für sprachliche Aufmerksamkeit, dass Thomas die Kleinschreibung auffällt. <?page no="263"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 249 Eine Erschließung von Wortbedeutungen ist allerdings (und selbstverständlich) auch nicht der Schwerpunkt des Aufgabenformates der lexikalischen Serien (so dass ihm die Übersetzung gegeben wurde). Dies wird nicht zuletzt durch den fehlenden Ko- und Kontext der Wörter bzw. Wortreihen deutlich. In diesem Zusammenhang sei an die Unterscheidung der Begriffe „Aufgabe“ und „Übung“ im Rahmen der Interkomprehensionsdidaktik von Meißner et al. (2011b: 98) erinnert: Die Komplexität der Aufgabe führt zu einer Hierarchisierung von Aktivitäten, wie sie sich in der traditionellen terminologischen Unterscheidung zwischen Aufgabe und Übung konkretisiert. In Anlehung an Leupold (2007, S. 113) lassen sich „Übungen als Elemente der Vorbereitung auf eine komplexere Aufgabe“ fassen. In der Interkomprehensionsdidaktik übernehmen solche Übungsformate diese Funktion, welche sehr konkret die Beziehungen zwischen Sprachen (Korrespondenzregeln und Korrespondenzbrüche) verdeutlichen. Eine Übertragung der Unterscheidung von „Übungen“ und „Aufgaben“ auf die Interkomprehensionsdidaktik ist m.E. sinnvoll. Würden Übungen zu Korrespondenzregeln jedoch allein auf die Phase der Vorbereitung auf komplexere Aufgaben (Leupold 2007: 113) bezogen, wäre dies ein Widerspruch zu dem Grundsatz der Interkomprehensionsdidaktik, sich in Erklärungen und (hier) sprachenbewusstheitsfördernden Übungen an den Hypothesen und Fragen der Lerner zu orientieren: Die lehrseitigen Erklärungshilfen bleiben stets in der Reichweite der lernerseitigen Hypothesen. […] Von daher sind Lehrende gut beraten, wenn sie auf die bewährten Strategien von learning by doing setzen und dieses mit der Analyse der Lernvorgänge verbinden. (Meißner 2008b: 277) So wird für einen flexibleren Umgang mit „Übungen“ plädiert, in dem Sinne, dass diese auch beispielsweise während einer komplexeren Aufgabe zum Einsatz kommen können, wenn lernerseitige (spontane) Entdeckungen entsprechende (intra- oder interlinguale) Fragestellungen aufwerfen 257 . Mit anderen Worten: Angesichts der Orientierung der Interkomprehensionsdidaktik am individuellen Wissen der Lerner sollte der Begriff der „Übung“ durch deren unterstützende Funktion definiert und von jenem der „Aufgabe“ abgegrenzt werden, nicht jedoch durch eine zeitliche Dimension (vgl. Leupold ebd.). Auch Legutke & Thomas (1991: 33) weisen darauf hin: First of all there are LANGUAGE LEARNING TASKS, which through controlled and guided practice aim at developing discrete language skills in areas of grammar, phonology, lexis and semantics. Although language skills are prerequisites of any form of linguistic communication, this does not imply that language learning tasks have to precede all other types in the classroom. […] 257 Für einen konkreten Vorschlag vgl. Abschnitt III 2.8. <?page no="264"?> 250 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven they can appear at any point in the learning process (Hervorhebung im Original; zitiert aus: Müller-Hartmann & Schocker-v. Ditfurth 2005a: 17). Wie oben deutlich wurde, ist Thomas in der Lage, die Lexeme coast und côte sowohl einander als auch ,ihren‘ Sprachen korrekt zuzuordnen, obwohl er gar nicht weiß, was sie bedeuten. So könnte das französische Wort durch den accent circonflexe als ein solches identifiziert worden sein. Für diese Vermutung spricht, dass Thomas - ebenso wie im Falle der Wortreihen zu „Situation“ und „Nation“ - im Anschluss an die Reihe august bzw. August > août > agosto > agosto auch hier seine Aufmerksamkeit auf eine Wortreihe desselben Typs lexikalischer Serien richtet 258 . Wahrscheinlich ist auch, dass er sich mehr oder weniger bewusst daran orientiert hat, welchen Buchstabenkombinationen er in welcher Sprache bislang (häufiger) begegnet ist. Während die Buchstabenfolge „oa“ im Englischen sehr verbreitet ist (vgl. boat, coat, road usw.), kommt sie im Französischen abgesehen vom Präfix co- (z.B. frz. coauteur) nur relativ selten vor (beispielsweise im Fachjargon: vgl. le boa, le coaster). In Bezug auf die Zuordnung der Wörter zueinander gibt Thomas selbst an, dass er „nach der Ähnlichkeit“ (s.o.) vorgegangen sei. Im Folgenden gelingt es ihm ebenfalls, auch das italienische und spanische Wort für „Küste“ zu finden. Die lexikalische Serie zu: state > état > stato > estado kann Thomas selbstständig legen und auch einen metasprachlichen Kommentar hierzu abgeben (Z. 172-179): L.: bei school und bei state ((engl.)), da fehlt noch das französische und spanische. T.: Vielleicht das hier. L.: Ja. Wo muss das? T.: Hier. L.. Ja. Und wie bist du darauf gekommen? T.: Irgendwie, weil das hier mit dieses, ein TAT ((buchstabiert)) und hier auch dies TAT und das ist genauso. So nähert er sich hier der Korrespondenzregel engl.: s- + Konsonant > frz.: é- + Konsonant (vgl. Klein & Reissner 2006: 49) an, indem er umgekehrt auf das Gemeinsame im englischen und französischen Wort („TAT“) Bezug nimmt. Nachdem er stato und estado hinzugefügt hat, wird gefragt (Z. 184-192): L.: Und, und was, was ist da auffällig? Was ist im Französischen und Spanischen da anders als im Englischen und Italienischen? T.: Wie? L.: Also wenn du dir jetzt diese Reihe anguckst. State, état, stato, estado. 258 Es kann sich jedoch hierbei, wie bereits oben eingeräumt, auch um einen Zufall handeln. <?page no="265"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 251 T.: Ähm, weil da halt, hier ist immer so, ja, da ist halt, dass halt bei den halt immer nur mit einem, ja, immer mit einem A, E, I, O, U oder so endet. L.: Ja. T.: Zum Beispiel jetzt hier nicht und hier auch nicht, aber da ist dann wieder O und ein U (espíritu) dann. Thomas’ Reaktion („Wie? “; Z. 186) zeigt, dass die Frage, was „im Französischen und Spanischen da anders“ (Z. 184-185) sei, zu allgemein formuliert ist und er nicht weiß, worauf sie abzielt. Wie aus seiner Antwort (Z. 188-189) hervorgeht, bezieht er sich der nun und im Gegensatz zu den Befunden von Müller-Lanće (2003: 437) und Bär (2009: 517) (s.o.) gerade auf das Wortende. Interessant ist, dass er, um seine Hypothese zu untermauern, im Folgenden aus eigener Initiative Wortbeispiele aus einer lexikalischen Serie anführt, die demselben Typus interphonologischer Korrespondenzregeln angehört wie state état stato estado, nämlich ital. spirito und span. espíritu (Z. 191-192). Da es bei der hier angesprochenen Korrespondenzregel jedoch um den Wortanfang geht und es unter den Wortkärtchen weitere gibt, die auf -o enden, kann dies aber auch ein Zufall sein. Thomas’ Äußerung (Z. 191-192) deutet zudem an, dass er die ihm (ansatzweise) bekannten Sprachen Englisch und Französisch hier mit Italienisch und Spanisch vergleicht und nicht wie in der Frage intendiert Französisch und Spanisch mit Englisch und Italienisch, was zu seiner Bezugnahme auf das Wortende (und nicht den -anfang) beigetragen haben kann. Im Anschluss widmet er sich der lexikalischen Serie zu „Blume“. Es gelingt ihm, die Wörter frz. fleur und ital. fiore einander zuzuordnen, er vertauscht jedoch die Sprachen (Z. 220-226): T.: Dann das und das. L.: Ja, aber wenn du guckst, ne, hier bei dem Italienischen steht dann ein I, ne, fleur, fiore T.: Ja, dann andersrum. L.: Genau. T.: Ich tausch das nochmal. L.: place, piazza, mhm. ((bestätigend)) Auffallend ist hier insbesondere, dass Thomas, nachdem er auf die Korrespondenzregel: frz. fl- > ital. fiaufmerksam gemacht wurde, ein analoges Beispiel findet: frz. pl- > ital. piin den Wörtern place und piazza. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass seine Bezugnahme auf eine lexikalische Serie desselben Korrespondenztypus zuvor (vgl. spirito / espíritu oben) doch kein Zufall war und seine Schwierigkeiten eher darin lagen, auszudrücken, was er beobachtet hat (vgl. auch seine Äußerung zu „TAT“; Z. 178-179). Im Zusammenhang mit der Serie zu „Schule“ wird dieses Thema wieder aufgenommen (Z. 253-260): <?page no="266"?> 252 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven L.: Ja. Wenn, wenn wir uns mal das angucken, die Wörter mit S, zum Beispiel, Spain, Espagne, school, école, state, état Was, was fällt dir da auf? Wie verändert sich das dann im Französischen? T.: Ach so, der erste Buchstabe halt nicht, halt anders ist dann immer. L.: Genau. T.: Immer so ein E oder so oder halt so. L.: Ja, genau. Und in welcher Sprache macht man das noch? T.: Beim Spanischen. Thomas’ Äußerungen in diesem Dialog deuten an, dass er in seiner Stellungnahme zuvor („ein TAT und hier auch dies TAT“; Z. 178-179), in der er ,seine‘ Sprachen Englisch und Französisch verglichen hat, in der Tat auf dem richtigen Weg war. Darüber hinaus weisen sie darauf hin, dass seine Schwierigkeiten zu jenem Zeitpunkt der Interkomprehensionsstunde darauf zurückzuführen waren, dass für diese Korrespondenzregel lediglich ein Beispiel in vier Sprachen (vgl.: „state, état, stato, estado“; Z. 187) genannt wurde (s.o.). Für die Feststellung, dass er nun auf Anhieb die korrekte Antwort, d.h. eine Bezugnahme auf den Wortanfang, geben kann und dies in präziser Weise („immer so ein E“), obwohl die Frage hier ähnlich allgemein formuliert ist wie zuvor (vgl. „was fällt dir da auf? Wie verändert sich …? “), gibt es, abgesehen von der Bezugnahme auf „Wörter mit S“, weitere Erklärungen: Zum einen könnte die nun gezeigte Erkenntnis der Regel, wie bereits angedeutet, damit zusammenhängen, dass Thomas hier mit den Sprachen Englisch und Französisch operiert, die ihm vertrauter sind als Italienisch und Spanisch, und diese Vertrautheit sein Arbeitsgedächtnis entlastet, so dass er seine Aufmerksamkeit (stärker) auf weitere Aspekte lenken kann. Zum anderen ist sie sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass Thomas nun drei Beispiele desselben Typs: „Spain-Espagne, school-école, state-état“ (Z. 254) präsentiert wurden, so dass strukturelle Gemeinsamkeiten besser (oder überhaupt erst) erkannt werden können. So weist auch Bär (2009: 118) darauf hin: „Für die Einübung einzelner Lautentsprechungen, die nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind, ist eine höhere Anzahl an Wörtern vonnöten, die einem bestimmten ,Lautentsprechungsmuster‘ folgen“. Während es intuitiv plausibel ist, dass, je höher die Anzahl an Beispielen lexikalischer Serien pro Korrespondenzregel ist, die Wahrscheinlichkeit umso größer ist, dass Lerner diese erkennen, deutet sich in den hier dargelegten Befunden ebenfalls an, dass auch die Anzahl der herangezogenen Sprachen zumindest bei jungen Lernern eine Rolle spielen könnte. Diesen Fragen sollte in weiteren Untersuchungen genauer nachgegangen werden. Es ist auch zu fragen, ob eher die angesprochene Vertrautheit mit den Sprachen von Bedeutung ist oder ob es eher darauf ankommt, wie viele Sprachen zugleich in den Blick genommen werden, unabhängig davon, ob es ,bekannte‘ oder ,fremde‘ Sprachen sind. Auch diese Frage wird durch die hier diskutierten Ergebnisse <?page no="267"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 253 aufgeworfen, denn bei den Wortpaaren: fleur − fiore und place − piazzo gelang Thomas die Analogiebildung (s.o.), obwohl eine ihm ,fremde‘ Sprache, Italienisch, im Spiel war. Die Korrespondenzregel bzw. -regeln zu frz. fl- > ital. fi- und frz. pl- > ital. piwerden an späterer Stelle noch einmal aufgenommen (Z. 350-352 u. 356-360): L.: Ja, genau. Fallen dir da auch Regelmäßigkeiten auf, wenn du jetzt plan ((engl.)), plan ((frz.)), piano, llano, flame, flamme, fiamma, llama? T.: Aber heißt piano nicht eigentlich auch ganz leise? Also mäßig leise? […] L.: was ist da ganz häufig im Italienischen zum Beispiel anders, wenn du jetzt auch hier bei der Blume flower, fleur, fiore, flor? T.: Hm … sehe ich jetzt gar nicht, nicht, nee. L.: Also da hat man halt dann dieses I anstelle von dem, von dem L. T.: Ah ja. Zunächst fällt auf, dass Thomas ähnlich wie im Falle von nation zuvor („was soll denn nazione ((Ital.)), ist das dann Nation ((dt.)) auch. Auf Deutsch oder nicht? “; Z. 88-89) zunächst nicht auf die Frage nach interlingualen Korrespondenzen eingeht, weil er eine Hypothese bezüglich der Bedeutung eines Wortes bestätigt haben möchte. So kennt er das italienische Adjektiv piano vermutlich aus dem Musik-Fachjargon. Im Folgenden wird das Beispiel der lexikalischen Serie „Blume“ wieder aufgegriffen (Z. 356-360). Obwohl Thomas zuvor erfolgreich ein analoges Beispiel zu dieser Serie nennen bzw. anlegen konnte (vgl. Z. 220-226) und auf das „I“ im Italienischen aufmerksam gemacht wurde (vgl. Z. 221-222), ist er nun nicht in der Lage, aus der Serie „flower, fleur, fiore, flor“ (Z. 357) eine Regel zu abstrahieren. Die Unterschiede in seinen Leistungen verglichen mit zuvor könnten wiederum mit der viersprachlichen Präsentation an dieser Stelle zusammenhängen. Denn: Dass sie nicht darin bestehen, dass Thomas zuvor mit konkreten Wortbeispielen operiert hat und es hier lediglich eine Frage der metasprachlichen Verbalisierung der Erkenntnis ist, sagt er selbst: „sehe ich jetzt gar nicht, nicht, nee“ (Z. 358). Allerdings fügt er, nachdem er erneut auf das „I“ im Italienischen aufmerksam gemacht wurde, bemerkenswerterweise von sich aus eine metasprachliche Beobachtung zur lexikalischen Serie: plan > plan > piano > llano hinzu (Z. 373-378): T.: Da ist dann nicht das L verändert worden, sondern halt das P da. L.: Ja. Ne, genau. Und hier ist halt ja auch dann zu diesen Doppel-L, äh, geworden, ne? T.: Ist das Doppel-L? L.: Ja, das ist ein Doppel-L, ja. T.: Ist das nicht I L oder ist das Doppel-L? Ich habe gedacht, das wäre jetzt I L? <?page no="268"?> 254 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Thomas erkennt, dass an zweiter Stelle im Spanischen zwar wie im Englischen und Französischen auch ein „L” steht, sich hier jedoch der erste Buchstabe verändert. Er hält allerdings den ersten Buchstaben für ein „I“. Hier wird eine gewisse Erwartungshaltung von Lernern je nach Ausgangs- und Brückensprachen deutlich, in diesem Fall in Bezug auf mögliche Buchstabenkombinationen und vor allem -positionen. So fragt Thomas, der über keine Spanischkenntnisse verfügt, im Anschluss an die Erläuterung, dass der erste Buchstabe kein „I“ sei, skeptisch: „Doppel-L am Anfang? “ (Z. 381). Diese Äußerung stützt die Hypothese, dass er bei der Zuordnung der Interlexeme (Beispiel: coast und côte) implizites Wissen über (aus seiner Sicht) mögliche und wahrscheinliche Buchstabenkombinationen eingesetzt hat. Zusammenfassung wichtiger Befunde: Thomas ist bei auf Sprachformebene interlingual transparenten Wörtern und (insofern er sich an die vorangegangene Aufgabe erinnert) ihm bekannten lexikalischen Serien in der Lage, diese auf Anhieb und selbstständig zu bilden (vgl.: situation ...; activity ...). Er kann von ihm erkannten interlingualen Korrespondenzen bzw. Korrespondenzregeln, darauf deuten die Befunde hin, selbstständig analoge Beispiele zuordnen (die Serien zu -tion, -tion, -zione, -ción und fl > fi − pl > pi). Er kann Wörter sowohl einander als auch den korrekten Sprachen (coast und côte) zuordnen, obwohl er deren Bedeutung nicht kennt. Hierbei rekurriert er vermutlich auf sein (implizites) Wissen, welche Buchstabenkombinationen und -positionen in welcher Sprache geläufig oder überhaupt möglich sind. Thomas analysiert interlinguale Unterschiede und Auffälligkeiten ohne Aufforderung und kann dies verbalisieren („Das Italienische hat sehr viel Z irgendwie“; Z. 78). Er ist sensibel für die Schriftbilder englischer und französischer Wörter (message − message) und bemerkt Unterschiede zwischen der Schrift und der Aussprache. Er gibt interlinguale Korrespondenzregeln an (z.B. engl.: s- + Kons. > frz.: é- + Kons.), wenn ihm mehrere Beispiele in wenigen (zwei) Sprachen präsentiert werden. Wenn seine Aufmerksamkeit auf eine bestimmte lexikalische Serie fokussiert ist (engl. plan > frz. plan > ital. piano > span. llano), ist Thomas in der Lage, eigenständig eine weitere interlinguale Korrespondenz (im Spanischen steht kein pam Wortanfang) zu erkennen und zu verbalisieren. <?page no="269"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 255 Prospektiv für das Erlernen romanischer Sprachen bedeutet dies: Thomas’ Fähigkeiten zur Analogiebildung und zu metasprachlichen Beobachtungen und deren Verbalisierung bzw. Explizierung sind für das Erlernen romanischer Sprachen in vielerlei Hinsicht von Bedeutung: das Generieren von Transferbasen: Dass Thomas nicht nur Vertreter einer lexikalischen Serie (situation − situazione…) identifiziert, sondern einer Serie auch eine weitere Variante zuordnet (nation - nation… nación), belegt, dass er bereits über interlinguale Wortbildungsmuster zu verfügen beginnt. - Produktionstransfer: Thomas’ explizite Stellungnahme zur Schreibweise italienischer Interlexeme (Wörter) („Das Italienische hat sehr viel Z irgendwie“; Z. 78) in Kombination mit der erwähnten Analogiebildung weist darauf hin, dass ihm die interlinguale Regularität auch für die Sprachproduktion zur Verfügung steht (z.B. um ital. conversazione aus < dt. „Konversation“, en. / fr. conversation zu bilden). - Fehlerprophylaxe bei mündlicher Sprachproduktion: Auch die detaillierte Erläuterung der Unterschiede in der englischen und französischen Aussprache des Substantivs message sind für das Erlernen romanischer Sprachen, hier der französischen Sprache, und eine Fehlerprophylaxe wichtig, um eine Orientierung der französischen Aussprache am Englischen im Falle interlingualer Gleichschreibung (en. / fr.: nation, lion usw.) zu vermeiden. - Auch für das Einprägen von Vokabular bringen lexikalische Serien Vorteile, um den so wichtigen Vernetzungen im mentalen Lexikon (Wortfamilien, Wortfelder usw.) eine weitere - interlinguale - Dimension hinzuzufügen. Im Falle von Thomas ist es nicht unwahrscheinlich, dass er dies umsetzen wird, da er für frz. madame bereits eine interlinguale Verknüpfung von sich aus hergestellt hatte („meine Dame“; s. Abschnitt III 2.2), die bei weitem weniger nahe liegend ist als beispielsweise dt. „Situation“ und frz. situation. Wie die Analyse dieser Interkomprehensionsstunde zeigen konnte, schwanken Thomas’ Leistungen. Es wurde vermutet, dass die Unterschiede, abgesehen von der Frage, ob sich die interlingualen Korrespondenzen am Wortanfang, in der Wortmitte oder am Wortende befinden, auf folgende Faktoren zurückgeführt werden könnten: die Frage, inwieweit die in lexikalischen Serien herangezogenen Wortbeispiele zugleich auf semantischer und Sprachform-Ebene interlingual transparent sind (Bsp.: situation - situazione − situación): Hier sind auch die in der Regel geringere Aufmerksamkeitskapazität junger Lerner (vgl. z.B. Wagner 2009: 180) und motivationale Aspekte zu bedenken. Vor dem Hintergrund des Ergebnisses, dass diese die Bedeutung von Wörtern <?page no="270"?> 256 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven wissen bzw. diesbezügliche Hypothesen äußern möchten (vgl. o. Thomas’ Frage nach der Bedeutung von ital. nazione bzw. dt. „Nation“ und seine Hypothese zu ital. piano), würde dies bedeuten, sich auf zwei Beobachtungsschwerpunkte (Bedeutungen und interlinguale Korrespondenzen) konzentrieren zu müssen. Obwohl, wie das Beispiel coast − côte zeigt, auch jungen Lernern sprachstrukturelle Zuordnungen selbst ohne Kenntnis der Bedeutung möglich sind, kann dennoch vermutet werden, dass die Identifikation zumindest eines der Interlexeme auch auf semantischer Ebene die Aufgabe der Zuordnung erleichtert. die Frage, ob es sich vorwiegend um dem Lerner (ansatzweise) vertraute oder vorwiegend um ihm ,fremde‘ Sprachen handelt: Diese Frage ist, abgesehen von den Auswirkungen auf den Schwierigkeitsgrad der Aufgabe, vor allem auch in Bezug auf deren Zielsetzungen relevant. Denn: Wenn die Hypothese zutrifft, dass (junge) Lerner bei der Zuordnung von Lexemen zu Sprachen auf implizites Wissen über Laut- und Buchstabenfolgen und deren mögliche Position zurückgreifen, so kann dieses Wissen vor allem dann erweitert und expliziter werden, wenn ihnen ‚fremde‘ Sprachen mit aufgenommen werden. Dies konnte am Beispiel des ‚Sich-Verlesens‘ von Thomas bei dem spanischen Wort llano gezeigt werden, dessen Anfang er für „I L“ gehalten hatte. So hat hier möglicherweise ein awareness-raising (vgl. oben „Doppel-L am Anfang? “) darüber stattgefunden, dass Buchstabenkombinationen in anderen Sprachen in Wortpositionen auftreten können, die man in der eigenen Sprachenlernbiographie noch nicht kennen gelernt hat und daher nicht erwarten würde. In dieser Hinsicht stellt die Aufgabe des „Wörterpuzzles“ möglicherweise eine Erweiterung des ‚traditionellen‘ Aufgabenformates der lexikalischen Serien dar, da auf diese Weise Graphem-Phonem-Korrespondenzen zusätzlich auf intralingualer Ebene (stärker) in den Blick genommen werden können wie im Falle von frz.: flamme - fleur - place - plan und ital.: fiamma - fiore - piazza - piano 259 . Diese wiederum spielen bei Interproduktion bzw. Produktionstransfer eine große Rolle. So wird beispielsweise kaum ein deutschsprachiger (auch jüngerer) Lerner - um beim Italienischen zu bleiben - Schwierigkeiten haben, auf rezeptiver Ebene im Wort situazione das deutsche Interlexem „Situation“ wiederzuerkennen, auf produktiver Ebene muss er jedoch wissen, dass im Italienischen im Endmorphem, abweichend vom Englischen und Französischen, ein „Z“ stehen muss (vgl. hierzu auch die Aufgabenbeispiele in Meißner et al. 2011b: 104ff.). 259 Denkbar wäre hier m.E. ein zweischrittiges Verfahren, indem in einem ersten (‚horizon talen‘) interlingualen Schritt der Frage: „Quels mots vont ensemble? “ (Meißner 2004b: 86) nachgegangen wird und in einem zweiten (‚vertikalen‘) Schritt nach intralingualen Gemeinsamkeiten und Mustern gesucht wird (vgl. die Lernerwahrnehmung: „Das Italienische hat sehr viel Z irgendwie“; s.o.). <?page no="271"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 257 die Anzahl an Beispielen pro interlingualer Korrespondenzregel: Selbstverständlich kann davon ausgegangen werden, dass sich die Schwierigkeit des Erkennens interlingualer Korrespondenzregeln mit der Anzahl an Beispielen verringert. Doch sollte sich die Interkomprehensionsforschung in noch stärkerem Maße mit der Frage befassen, was neben der Position von Korrespondenzregeln am Wortanfang oder -ende oder in der Wortmitte - in Abhängigkeit von Faktoren wie der Mutter- und Brückensprache(n), der Zielsprache(n), der Relation der Sprachen zueinander (aus Schülersicht), dem Alter der Lerner etc. ‚schwierig(er)‘ zu erkennende Korrespondenzregeln sind. 2.6 Die siebte Interkomprehensionsstunde: „L’exposition jung.de“ Zum Textmaterial: Dieses ist die erste Interkomprehensionsstunde, in der ausschließlich ein französischer Text eingesetzt wurde. Es handelt sich um Textmaterial einer französischsprachigen Homepage des Goethe-Instituts. Auf den Webseiten wird für eine Wanderausstellung in Frankreich mit dem Namen „jung: de“ zum Thema: les jeunes en Allemagne geworben, die von Oktober 2008 bis März 2009 durchgeführt und als Posterversion bis März 2010 fortgeführt wurde (s. Text unten 260 ). Die erstellte Textzusammenstellung enthält drei Bilder (eines davon zeigt Personen, die die Ausstellung besuchen). Die französischen Textstücke setzen sich aus einzelnen Begriffen wie mode oder musique (die z.T. angeklickt werden können) und auch ganzen Sätzen und Fragen zusammen: L’exposition jung: de L’exposition « jung: de » Comment vivent les jeunes en Allemagne ? Qu’est-ce qui est important pour eux et pour quoi s’engagent-ils ? Quel est leur quotidien, quels sont leurs loisirs ? Selon quels critères choisissent-ils leurs relations et leurs amis ? Quelles visions ont-ils de leur avenir ? C’est à ces questions que l’exposition « jung: de » cherche à répondre. Cette exposition itinérante a circulé en France d’octobre 2008 à mars 2009. Elle se poursuit par une version poster jusqu'en mars 2010. Dossier : les jeunes en Allemagne Mode, musique, opinions politiques : quelles sont les caractéristiques des jeunes et de leur culture ? L'exposition 260 http: / / www.goethe.de/ Ins/ fr/ lp/ prj/ jde/ aus/ frindex.htm (03.11.09). <?page no="272"?> 258 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Accueil L'exposition Musique Langage des jeunes Emotions Mon truc préféré L’exposition a fait une tournée en France d’octobre 2008 à mars 2009. Elle sera présentée en octobre et novembre 2009 à Besançon. Les 32 posters présentent différents aspects de la vie des jeunes : famille, sentiments, modes de vie, sport, loisirs, école, formation, musique, langage jeune, médias, cinéma et livre, informatique, migration/ immigration, problèmes, valeurs, engagement. Analyse der Interkomprehensionsstunde (19. Januar 2010): Diese Interkomprehensionsstunde ist bezogen auf die Behandlung des beschriebenen Textmaterials deutlich kürzer als die anderen. Zum einen liegt dies darin begründet, dass die letzte Interkomprehensionsstunde aufgrund der Weihnachtsferien eine längere Zeit zurücklag 261 und Thomas mich zunächst informiert, was im Französischunterricht behandelt wurde bzw. wird. Zum anderen habe ich an jenem Tag wegen eines Termins die Stunde auf 30 Minuten verkürzen müssen. Thomas berichtet, dass im Französischunterricht „mit der Unité 2 dann angefangen“ (TR 7, Z. 28) worden sei, die er mit „Thema Schule und, und jetzt halt, ja (...) Klassenzimmer und Klassen eben jetzt in dem Buch halt“ (Z. 9-10) umschreibt. Zu der ersten im Text aufgeworfenen Frage: Comment vivent les jeunes en Allemagne? sagt Thomas (Z. 39-42): T.: Also hier, comment heißt doch wie, oder? L.: Ja. Genau. T.: Also - wie ist, äh also die drei Wörter kann ich jetzt nicht, also wie ist, wie ist hmhmhm en Allemagne, also in Deutschland. Wie aus dem Zitat hervorgeht, gelingt es ihm, die syntaktische Struktur der Frage zu erkennen, was vermutlich dadurch begünstigt wird, dass die französische Inversionsfrage (etwa verglichen mit dem Fragetypus mit est-ce que) einem aus dem Deutschen bekannten Muster entspricht. Auch hier ist er in der Lage, Lakunen zu identifizieren, wie bereits beim englischen Text in der zweiten Interkomprehensionsstunde (TR 2, Z. 123; Abschnitt III 2.2). Für das ihm 261 Die vorherige Sitzung fand am 24. November 2009 statt (s. vorangegangener Abschnitt). Da (bekanntermaßen) vor den Weihnachtsferien in der Regel viele Klassenarbeiten geschrieben werden, hatten wir beschlossen, uns im Dezember nicht zu treffen. <?page no="273"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 259 intransparente vivent setzt er ähnlich wie im Falle des niederländischen Wortes presenteerde (vgl. Abschnitt III 2.2) ein allgemeineres Verb („ist“) als Platzhalter ein, les jeunes ersetzt er durch ein „hmhmhm“ 262 . Im Folgenden wird der gesamte erste Abschnitt des Textes vorgelesen: Comment vivent les jeunes en Allemagne? Qu’est-ce qui est important pour eux et pour quoi s’engagent-ils ? Quel est leur quotidien, quels sont leurs loisirs ? Selon quels critères choisissent-ils leurs relations et leurs amis ? Quelles visions ont-ils de leur avenir ? Thomas scheint in seiner Vorgehensweise zunächst sein Augenmerk auf ihm aus dem Französischunterricht bekannte Wörter zu legen. Zu frz. amis gibt er eine metasprachliche Stellungnahme ab: „Junge. Junge. Ami nur mit I ist Junge, amie I E ist Mädchen.“ (Z. 54). Nachdem er daran erinnert wurde, dass die französischen Entsprechungen zu „Junge“ und „Mädchen“ die Substantive garçon und fille sind, ist er in der Lage, sich zu korrigieren: „Ach so, ja, Freund und Freundin.“ (Z. 59). Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der lexikalische ,Fehler‘ durch seine Konzentration auf die Wortendungen von ami und amie als Markierer des Geschlechts entstanden ist. Thomas’ metasprachliche Äußerung entstammt mit großer Wahrscheinlichkeit dem Input aus dem Französischunterricht (der somit zu Intake geworden ist). So ist bei Interkomprehension in einer Zielsprache, die zugleich eine Sprache ist, die Kinder (auf ,traditionellem‘ Wege) lernen, zu berücksichtigen, dass nicht alle (metasprachlichen) Stellungnahmen notwendigerweise auf Hypothesenbildungen zurückgehen, sondern aus unterrichtlichem Input übernommen worden sein können 263 . Auch die folgende Identifikation der Präposition pour ist wahrscheinlich eine Reaktivierung lexikalischen Wissens aus dem mentalen Lexikon (Z. 75-81). Qu’est-ce qui est important pour eux et pour quoi s’engagent-ils ? : T.: Pour ist für. L.: Mhm, genau. Kennst du das Wort davor aus dem Englischen vielleicht? T.: Important. L.: Important. T.: Important. L.: Ja, genau. Genau. T.: Aber ich weiß nicht, was das heißt. Interessant an diesem Dialog ist, dass Thomas für frz. important zwar die im Englischen im Schriftbild identische Transferbasis important nennen kann, 262 Auch diese Strategie hatte er bereits zuvor verwendet (vgl. nl. Stripreeks; TR 5, Z. 118; Abschnitt III 2.4). 263 Auf diesen Aspekt wird in Abschnitt III 4.2 eingegangen. <?page no="274"?> 260 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven deren Bedeutung jedoch nicht kennt oder nicht abrufen kann. Dies ist der genau umgekehrte Fall verglichen mit dem niederländischen Substantiv successen, bei dem er die Bedeutung, nicht jedoch die konkrete Sprachform, d.h. die englische Transferbasis success, angeben konnte (vgl. TR 5, Z. 304-309; Abschnitt III 2.4). Beim Verb engagent in pour quoi s’engagent-ils hat er hingegen weder Schwierigkeiten, die Transferbasis noch die herangezogene Transfersprache anzugeben (Z. 96-98): T.: Engagieren oder so was? L.: Äh, was … T.: Von dem deutschen Wort engagieren oder so. Darüber hinaus zeigt er, dass er erkannt hat, dass es sich hier um zwei Fragen in einer handelt und dass die von ihm identifizierte Präposition pour zweimal vorkommt: „Also für wen und für was engagieren, und das ist da auch so eine Frage.“ (Z. 102). Auffallend an Thomas’ Übertragung ist vor allem die Frage: „für wen“. Es ließ sich rekonstruieren, wie es zu dieser Übertragung kam (Z. 116-118): T.: Nein, es kommt, kommt mir irgendwie da, was kommt mir da - ähm … nee, das war doch hier, wo, wo was hier ist doch ce qui und das heißt dann wer ist das. Und hier steht ja jetzt auch nochmal ce qui drin. Thomas hat hier den ihm bekannten Ausdruck C’est qui? mit ce qui in der Frage: Qu’est-ce qui ...? verwechselt. Im Folgenden verlangt er eine Disambiguierung: „Und was ist dann dieses ce hier? “ (Z. 124) und findet im Text ein Beispiel für c’est (im Ausdruck: C’est à ces questions que l’exposition ...): „Hier, c’est, das ist.“ (Z. 131). Zwar gelingt Thomas im Anschluss an entsprechende Erläuterungen eine korrekte Übertragung der französischen Doppelfrage: „Mhm. Also was ist wichtig für sie und für was engagieren sie sich oder so.“ (Z. 143). Dennoch hat das Zerlegen des chunks: Qu’est-ce qui in diesem Fall möglicherweise eher für Verwirrung gesorgt, doch sollten auf der anderen Seite seine Fragen auch nicht unbeantwortet bleiben. Für die Frage: Quel est leur quotidien ...? sind seine Äußerungen insbesondere auf der Ebene seiner strategischen Vorgehensweise interessant (Z. 147-150): T.: Hm. - Gibt es irgendwas mit Quotient oder so was im Deutschen? L.: Ja, mhm, gibt es auch. T.: Also kann das hiermit was zu tun haben, aber ich weiß nicht diesen Zusammenhang. Für frz. quotidien schlägt Thomas eine Transferbasis aus seiner Muttersprache (vermutlich aus dem Mathematikunterricht) vor: „Quotient“, die er durch die <?page no="275"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 261 Frageform auch explizit als eine Hypothese ausweist. Es kann davon ausgegangen werden, dass er sich an Ähnlichkeiten auf Signifikantenebene orientiert hat. Bemerkenswert ist hier vor allem die Beobachtung, wie strategisch und systematisch er in seinem Interkomprehensionsprozess vorgeht: Nach dem Erhalt der Bestätigung, dass es das Wort „Quotient“ im Deutschen gibt, schlussfolgert er, dass es mit frz. quotidien verbunden sein könne, und bringt explizit seine Bewusstheit darüber zum Ausdruck, dass nun eine Suche nach dem Zusammenhang erfolgen muss. Im Folgenden kehrt Thomas aus eigener Initiative zur bereits korrekt übertragenen Frage: „für was engagieren sie sich“ (Z. 143; s.o.) zurück (pour quoi s’engagent-ils ? ), weil er hierzu noch Fragen hat: „Ils ist doch sich, oder? Oder ist es das s? “ (Z. 152). Sein Nachfragen deutet darauf hin, dass die vorangegangenen Erläuterungen zu Qu’est-ce qui est important pour eux et pour quoi s’engagent-ils? ihn nicht verunsichert oder ‚zumindest‘ nicht demotiviert haben, denn ansonsten hätte er die bereits bestätigte Übertragung von s’engagent-ils nicht von sich aus wieder aufgegriffen. Er hat erkannt, dass s’ und ils in der Inversionsfrage für „sich“ und „sie“ stehen und verlangt eine Disambiguierung, welches der Wörter für das Reflexiv- und welches für das Personalpronomen steht. Im Folgenden möchte Thomas anhand des Lehrbuchs (À plus1; Bächle et al. 2004) zeigen, dass im Französischunterricht gerade mit dem Plural begonnen wurde. Hierbei stößt er auch auf eine Découvrir-Aufgabe zum Vokabellernen (ebd.: 18; s. Aufg. 2b): l’amie ? amie Tipp: Lerne die Wörter, die mit einem Vokal anfangen, l’ami ? ami immer zusammen mit dem unbestimmten Artikel. Erkläre, warum. Wie die Aufgabenstellung zeigt, sind die Lerner hier aufgefordert, den unbestimmten Artikel zu ergänzen. Von der Sprachbeobachtung, dass sowohl maskuline als auch feminine Nomen mit Vokal am Anfang beim bestimmten Artikel apostrophiert werden, sollen sie dann abstrahieren, indem sie den Lerntipp auf der Grundlage ihrer Beobachtungen erklären (vgl. zu dieser Aufgabe auch Morkötter 2009: 57-58). Thomas äußert sich wie folgt (Z. 192-209): T.: Nee, das, hier une und da un. L.: Genau, mhm. Und ähm, dann steht da ja: Lerne die Wörter, die mit einem Vokal anfangen, immer zusammen mit dem unbestimmten Artikel. Erkläre, warum. T.: Weil immer (…) (die Franzosen dass man), die Engländer ja auch die (…) zum Beispiel auch irgendwas mit einem Vokal beginnt, dann sagen die ja auch nicht the [ð ], sondern the [ði] da. L.: Ja. T.: Also zum Beispiel jetzt bei Elefant, da sagen sie ja nicht the elephant, sondern the elephant. Und so machen die das halt ja auch und wenn man dann <?page no="276"?> 262 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven nicht zum Beispiel, was wenn man jetzt bei, bei Freundin, was wäre da nochmal, la oder le? L.: Bei Freundin? T.: Das ist ja la, oder? L.: Ja, genau. T.: Das würde hier ja sicher la amie, dann würde es ja, dann klingt es ja besser, wenn man l’amie dann sagt und, und nicht la amie und so le ami, ne. Interessant ist hier vor allem, dass Thomas zwar ausführliche und inhaltlich korrekte metasprachliche Erläuterungen zur Apostrophierung gibt, diese aber mit dem Erkenntnisziel der Aufgabe (Vokabeln mit initialem Vokal sollten zusammen mit dem unbestimmten Artikel gelernt werden, um sich zugleich deren grammatisches Geschlecht einzuprägen, z.B.: un art, nicht *une art, une école, nicht *un école usw.) weniger zu tun haben. Thomas bringt stattdessen was ebenso wichtig ist! sein Verständnis für die Notwendigkeit der Apostrophierung des bestimmten französischen Artikels vor Vokalen zur Vermeidung eines Hiatus zum Ausdruck. Hierbei leistet er von sich aus einen retroaktiven Transfer im phonologischen Bereich, indem er auf seine erste Fremdsprache Englisch und die Aussprachevarianten [ð ] und [ði] des bestimmten Artikels rekurriert. Er nennt hierbei das englische Wortbeispiel elephant, das er auch schon in der ersten Interkomprehensionsstunde verwendet hatte (vgl. Abschnitt III 2.1). An jener Stelle hatte er sich jedoch auf den unbestimmten Artikel und eine zielsprachlich intralinguale Perspektive bezogen: „Ja, weil das oder das hier so ein Vokal ist und so und weil *a elephant, das, man redet da nicht so, das würde sich nicht anhören“ (TR 1, Z. 299-300). Ähnlich wie zu jenem Zeitpunkt führt Thomas auch hier den Fall der Regelverletzung an: *la amie, *le ami und fügt sein diesbezügliches Sprachempfinden, jenes des Missklangs, hinzu: „dann klingt es ja besser, wenn man l’amie dann sagt“ (Z. 208-209). Zum Zeitpunkt der Analyse der ersten Interkomprehensionsstunde wurden seine Erläuterungen zur Hiatusvermeidung am Beispiel von *a elephant versus an elephant als ein weiterer möglicher Bereich interlingualen Transfers von der englischen auf die französische Sprache angesehen (vgl. Abschnitt III 2.1). Seine metasprachlichen Erklärungen zur Apostrophierung des bestimmten Artikels im Französischen, die Thomas hier aus eigener Initiative (da nicht Fokus der Aufgabe; s.o.) gibt, deuten an, dass ein solcher Transfer in der Tat erfolgt ist. Angesichts der bereits fortgeschrittenen Zeit wird seine Aufmerksamkeit auf die Begriffe: mode, musique, opinions politiques gelenkt: „Das ist ja Mode, Musik, irgendwie Politiker oder so was, oder Politik.“ (Z. 257-258). Bemerkenswert ist hier, dass, obwohl er das englische opinion (wie er berichtet) noch nicht kennt, er seine Übertragung „Politiker“ in „Politik“ ändert. Ob hier eher das Endmorphem des Wortes politiques oder eher der Kontext eine Rolle gespielt hat, kann allerdings nicht gesagt werden. <?page no="277"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 263 L’exposition a fait une tournée en France d’octobre 2008 à mars 2009. Elle sera présentée en octobre et novembre 2009 à Besançon.: Auch bei dieser Passage nimmt Thomas eine Selbstkorrektur vor (Z. 282-295): L.: Was, was erfährt man denn da? Kannst du da was verstehen? L’exposition a fait une tournée en France. T.: Die Präsentation. L.: Mhm. T.: Also das, das ist ja sie. L.: Mhm. Genau. T.: Und dann irgendwie präsentiert oder … L.: Ja, genau. T.: Ein im Oktober und November 2009 eine hm. L.: Mhm. T.: Ach so hier, also die haben irgendeine Tour-, Tournee in Frankreich. L.: Ja. T.: Die ähm im Oktober 2008 im März, März 2009 also - ähm … ja. … (Das sieht lustig aus). Seine Vorgehensweise deutet hier allerdings weniger darauf hin, dass er zunächst (in Z. 284) dachte, frz. présentée sei ein Substantiv, als vielmehr, dass er in einem zweischrittigen Verfahren vorgeht. So wendet er sich in einem ersten Schritt der Bedeutungserschließung zu. In einem zweiten Schritt erfolgt dann die syntaktische Analyse des Satzes: „Also das, das ist ja sie.“ 264 Nachdem er das Personalpronomen des Satzes identifiziert hat, gelingt es ihm auch, die Form des Verbs présentée zu bestimmen („präsentiert“). Angesichts der Zweideutigkeit der deutschen Verbform „präsentiert“ (3. Person Singular im Präsens und Partizip Perfekt) erhält Thomas die für diesen Satz wichtige Information über das Alter der Webseite. Er erkennt das Passiv, was er durch eine Übertragung ins Deutsche zum Ausdruck bringt: „Sie wird.“ (Z. 310). Im Gegensatz zum niederländischen Verb presenteerde aus der zweiten Interkomprehensionsstunde (vgl. Abschnitt III 2.2) gelingt ihm hier auf Anhieb ein Identifikationstransfer auf semantischer Ebene. Dies spricht dafür, dass Interkomprehensionsprozesse Transferbasen generieren. Thomas geht im Folgenden auf den vorangegangenen Satz zurück. Wie aus dem Dialog hervorgeht, gelingt es ihm, den Satz sinngemäß korrekt zu erschließen mit Ausnahme der Zeitangabe. Dass ihm die Verschiedenheit der Präpositionen, die ein Hinweis gewesen wäre, dass nicht beides „im“ bedeuten 264 Die Vermutung, dass sich Thomas’ Vorschlag „Präsentation“ (Z. 284) auf exposition beziehen könnte auch angesichts des vorangegangenen Vorlesens von L’exposition a fait une tournée en France am Anfang dieses Dialogs ist weniger nahe liegend. Was dagegen spricht, ist sein Ausruf in Z. 292: „Ach so hier, also die haben irgendeine Tour-, Tournee in Frankreich.“, der darauf hindeutet, dass er sich erst an dieser Stelle diesem Satz widmet. <?page no="278"?> 264 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven kann, nicht auffällt, hängt vermutlich (neben der Wiederholung des Monatsnamens octobre; s.o.) damit zusammen, dass er hier auf Ähnlichkeiten auf sprachlicher Oberfläche fokussiert ist. So könnte sich sein metasprachlicher Kommentar: „Das sieht lustig aus.“ auf den Monat mars beziehen, ein Wort, das ihn vermutlich eher an den Planeten erinnert. Worauf der Kommentar konkret bezogen ist, kann allerdings nicht gesagt werden, da unser Gespräch durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen wird. Thomas setzt seinen Erschließungsprozess mit dem letzten Abschnitt fort (Z. 334-337): Les 32 posters présentent différents aspects de la vie des jeunes : famille, sentiments, modes de vie, sport, loisirs, école, formation, musique, langage jeune, médias, cinéma et livre, informatique, migration/ immigration, problèmes, valeurs, engagement.: T.: Ähm, die 32 Poster präsentieren die Unterschiede, den Aspekt gibt es doch auch im Deutschen. L.: Ja, super. Super. Mhm. T.: Und die Unterschiede zwischen - den … was heißt das vie hier? Auch in diesem Satz kann er die Verbform von présenter korrekt identifizieren. Darüber hinaus leistet er einen interlingualen Identifikationstransfer vermutlich über die englische Transferbasis different und erkennt die Bedeutung von différents. Da die Endmorpheme zur Bildung des Adjektivs und Substantivs im Französischen dem Englischen (und auch dem deutschen Fremdwort) entsprechen (différent la différence, different the difference, „different“ „die Differenz“), ist Thomas’ Übertragung von différents als ein Substantiv möglicherweise kontextbedingt (vgl. Comment vivent les jeunes en Allemagne? ). Für frz. aspects führt er die Transferbasis „Aspekt“ an und nennt explizit die herangezogene Sprache. Dass er dennoch in Zeile 337 das Substantiv „Unterschiede“ nicht in „unterschiedliche Aspekte“ korrigiert, ist (unter anderem) auf einen Steuerungsfehler zurückzuführen. So wurde bei der Bestätigung („Ja, super ...“; Z. 336) nicht präzisiert, worauf diese sich genau bezieht, nämlich die Aktivierung der Transferbasis „Aspekt“, bei der bei Thomas eine gewisse Unsicherheit mitklang („gibt es doch auch ...“). Auch von den aufgezählten différents aspects kann er einige erschließen (Z. 340-351): T.: Familie … L.: Genau. T.: … ähm weiß ich nicht, Moden, das Leben, Sport, ähm weiß ich nicht, Musik, ähm Sprachen oder … L.: Ja. So die, die Art zu reden ist damit gemeint. T.: Ach so. L.: Mhm. <?page no="279"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 265 T.: Ähm Medien. L.: Ja, genau. T.: Also Film, nee, nee hier, also für Kino ist das dann ja. L.: Ja, genau, mhm. T.: Und das livre, das kommt mir auch irgendwie bekannt vor. (…) Dass er modes de vie nicht als „Lebensweisen“ erkennt, ist kaum verwunderlich, zumal modes auch „Moden“ bedeuten kann (was darüber hinaus auch in den Kontext passen würde 265 ). Außerdem kommt hinzu, dass der Ausdruck modes de vie im Originaltext durch einen Zeilenwechsel unterbrochen wird. Interessant ist hier auch, dass sich Thomas bei frz. langage vergewissert, ob das Wort „Sprachen“ bedeute (Z. 343). Ob ihm der Unterschied zu frz. langue, das er von den Sprachenangaben auf der Garfield-DVD (und möglicherweise auch aus dem Unterricht) kennt, bewusst ist, kann nicht gesagt werden. Wahrscheinlich ist jedoch, dass er sich an das ungefähre Schriftbzw. Lautbild erinnert und sich aus diesem Grund vergewissern möchte. Bei Thomas’ Übertragung von cinéma et livre ist hervorzuheben, dass er zum einen eine Selbstkorrektur von „Film“ zu „Kino“ durchführt. Zum anderen kann er angeben, den Signifikanten livre schon einmal gehört oder gelesen zu haben, kann jedoch dessen Bedeutung nicht abrufen. Als diese genannt wird, fällt ihm der Zusammenhang ein, in dem ihm das Wort begegnet ist (Z. 355-356): T.: Das, das war in dieser Bücherei, da war es ja, hier, weil, weil ich ja hier in dieser. Deswegen kam es mir auch hier bekannt vor, weil es ja hier auch ist. Thomas bezieht sich hier auf eine Hörverstehensaufgabe aus À plus 1. zu einem centre de documentation et d’information (CDI), in der das Wort livre sowohl im Singular als auch im Plural vorkommt (Bächle et al. 2004: 24; Aufg. 1). Von den folgenden Begriffen kann Thomas noch problèmes korrekt erschließen (Z. 359-361): T.: Ja. Also Kino, Filme und Bücher, Informationen, äh, weiß ich nicht, Probleme, ähm, weiß ich nicht und in - das ist doch irgendwie so, (…) irgendwie heißt es, das (…). Bei dieser Übertragung fällt auf, dass er für cinema et livre seine Selbstkorrektur von „Film“ zu „Kino“ (Z. 349) wieder ,rückgängig macht‘. Den Singular livre überträgt er mit dem Plural. Dies könnte dadurch bedingt sein, dass er sich daran orientiert, was im deutschen Sprachgebrauch üblicher wäre. So würde 265 Das Wort mode in der Bedeutung „Mode“ kam im Text bereits vor: „Das ist ja Mode“ (Z. 257; s.o.). <?page no="280"?> 266 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven man im Deutschen vermutlich eher „Filme und Bücher“ als Kategorie nennen und nicht „Kino und Buch“ sagen 266 . Schließlich ist noch die Übertragung von informatique mit „Informationen“ zu erwähnen, die vor dem Hintergrund der interlingualen Ähnlichkeit von informatique und „Informatik“ und Thomas’ guten Leistungen gerade in Bezug auf die lexikalische Serie zu -tion, -tion, -zione, -ción in der Interkomprehensionsstunde zuvor (vgl. Abschnitt III 2.5) vermutlich darauf zurückzuführen ist, dass er dem Wort hier zu geringe Aufmerksamkeit schenkt. Zusammenfassung wichtiger Befunde: Thomas reaktiviert sowohl lexikalisches (pour) als auch morphologisches (ami versus amie) Wissen (aus dem Französischunterricht) und setzt dieses für sein Textverständnis ein. Er führt für französische Wörter Transferbasen aus der Muttersprache Deutsch an („engagieren“, „Aspekte“). Er erkennt so den Wert des deutschen Bildungswortschatzes für den interlingualen Identifikations- und Produktionstransfer. Er kann grammatische Phänomene interlingual einander zuordnen und zielführend vergleichen (participe passé (Elle sera présentée)). Dies betrifft vor allem die Bedeutung, die Bildung und die Aktionsart (Passiv). Thomas weist ein ein grundlegendes Verständnis für intralinguale Graphem-Phonem-Regularitäten nach: Im Englischen die Vermeidung des Hiat beim unbestimmten Artikel an („das würde sich nicht anhören“; Abschnitt III 2.1) und im Französischen die Begründung der Apostrophierung der bestimmten Artikel. Prospektiv für das (spätere) Erlernen (weiterer) romanischer Sprachen ist insbesondere von Bedeutung: die erwähnte Aktivierung des Fremd- und Bildungswortschatzes. die ebenfalls erwähnte grammatikalisch-explikative Kompetenz. 2.7 Die achte Interkomprehensionsstunde: Giessen and Hesse Giessen et la Hesse Zum Textmaterial: In dieser Interkomprehensionsstunde wurden ein englischer und ein französischer Text über Hessen und Gießen eingesetzt. Durch die Textauswahl sollte selbstverständlich eine Aktivierung von enzyklopädischem und hier genauer: 266 Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch im französischen Text cinéma et livres gemeint war und es sich hier um einen Fehler handelt. <?page no="281"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 267 geographischem Wissen angeregt werden; die zweisprachliche Gestaltung sollte einen Sprachvergleich ermöglichen. Zu Beginn dieser achten Interkomprehensionssitzung kommentiert Thomas indirekt das für diese Sitzung erstellte Material, indem er sagt: „Also muss man da eigentlich nur eins vorlesen, oder? Weil dann ist ja die Bedeutung das Gleiche.“ (TR 8, Z. 61-62). Er hat zweisprachige Texte im Zusammenhang mit dem DVD-Cover zum Film Garfield gets real kennen gelernt, einer belgischen Pressung, auf dem eine Zusammenfassung des Filminhalts in niederländischer und französischer Sprache gegeben wurde (vgl. Abschnitt III 2.3). Zwar treffen Lerner in ihrem Umfeld (bedauerlicherweise selten im ‚herkömmlichen‘ Fremdsprachenunterricht) durchaus auf zwei- oder mehrsprachige Texte (wie beispielsweise die erwähnten mehrsprachigen Hinweisschilder in Zügen oder Bedienungsanleitungen), die Zielsetzung bei deren Lektüre ist jedoch in der Regel die Entnahme von Informationen und nicht, wie hier ebenfalls intendiert, der Sprachenvergleich. Diese Konzeption deutet sich auch in Thomas’ Stellungnahme an: Wer sich über Gießen und Hessen informieren möchte und den englischen Text verstanden hat, würde vermutlich nicht zusätzlich den französischen lesen (oder umgekehrt). Die in der Stunde eingesetzten Texte waren nebeneinander gedruckt 267 : Gießen (also written in English as Giessen) is a town in the German federal state (Bundesland) of Hesse. The population is approximately 71,000, with roughly 22,000 university students. Hesse (German: Hessen, Hessisch: Hesse) is a state of Germany with an area of 21,110 km 2 (8,150 sq mi) and just over six million inhabitants. The state capital is Wiesbaden. Hesse’s largest city is nearby Frankfurt am Main. Hesse contributes the largest share to the Rhine Main Area. Situated in west-central Germany, Hesse borders on the German states (starting from the northwest and proceeding clockwise) of North Rhine- Westphalia, Lower Saxony, Thuringia, Bavaria, Baden-Württemberg and Rhineland-Palatinate. Giessen (Gießen) est une ville universitaire d’Allemagne dans le centre du Land de Hesse, située sur le Lahn comprenant environ 73 000 habitants plus 20 000 étudiants. La Hesse (Hessen en allemand) est l’un des 16 Länder composant l’Allemagne. La capitale est Wiesbaden, la plus grande ville est Francfort-sur-le-Main. Située dans le centre-ouest de l’Allemagne, la Hesse est frontalière des États allemands de Rhénanie du Nord- Westphalie, Basse-Saxe, Thuringe, Bavière, Bade-Wurtemberg et Rhénanie- Palatinat (dans le sens horaire à partir du nord-ouest). 267 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Gießen, http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Hesse, http: / / fr.wikipe dia.org/ wiki/ Gießen, http: / / fr.wikipedia.org/ wiki/ Hesse_(Land) (02.01.10, gekürzt). <?page no="282"?> 268 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Analyse der Interkomprehensionsstunde (2. Februar 2010): Thomas’ anfängliche Stellungnahme: „Also muss man da eigentlich nur eins vorlesen, oder? Weil dann ist ja die Bedeutung das Gleiche.“ (Z. 61-62) zeigt somit - neben der expliziten Bezugnahme auf das Vorlesen - eine Orientierung an der Textbedeutung und nicht an formalsprachlichen Elementen. Auf den Hinweis hin, dass die Texte nicht immer ganz gleich seien, nennt er einen Unterschied und bezieht sich hierbei auf einen Eigennamen: „Lahn ist gar nicht drin bei denen.“ (Z. 64), d.h. Thomas vergleicht hier nicht (beispielsweise) Interlexeme auf Einzelwortebene (wie etwa students und étudiants), sondern den Inhalt des ersten Abschnitts der beiden Texte, wobei ihm auffällt, dass der Fluss Lahn in der englischen Fassung nicht erwähnt wird. Im Folgenden widmet er sich ausschließlich dem englischen Text und überträgt den Anfang des Textes: Gießen (also written in English as Giessen) is a town in the German federal state (Bundesland) of Hesse. The population is approximately 71,000, with roughly 22,000 university students. wie folgt (Z. 75-85): T.: Ähm Gießen wird in Englisch ähm, ähm wird Giessen mit Doppel-S in Englisch geschrieben und ist ein, eine Stadt in, in Deu-, in einem deutschen Bundesland. L.: Mhm, genau. T.: Von Hessen. L.: Mhm. T.: Denn die - ähm Beliebigkeit, oder? Population ist doch beliebt? Weil … L.: Ach, du meinst … T.: Populär. L.: … äh popularity, ne? T.: Ja. Wie aus dem Dialog hervorgeht, überträgt Thomas − abgesehen von der Verwendung des unbestimmten Artikels: „in einem deutschen Bundesland“ und der Mitübertragung der Präposition bei of Hesse − den ersten Satz ohne Probleme. Erste Schwierigkeiten bereitet ihm das Wort population. Es gelingt ihm zwar nicht, es korrekt zu identifizieren, auf strategischer Ebene zeigt Thomas hier jedoch, dass er in der Lage ist, Inferenzstrategien miteinander zu kombinieren wie in diesem Fall eine Änderung der Wortart von einem Substantiv in ein Adjektiv, das er zu (er)kennen glaubt, verbunden mit einer interlingualen Herangehensweise. So hat er offenbar zunächst -tion als Suffix erkannt, den Wortanfang jedoch auf popular bzw. dt. „populär“ (Z. 83) bezogen. Interkomprehensionsdidaktisch betrachtet können die hier initiierten Interkomprehensionsprozesse: die Suche nach Interlexemen, die Änderung der Wortklasse von Substantiv zu Adjektiv, die Bestimmung formal ähnlicher Adjektive in der <?page no="283"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 269 Brückenbzw. Ausgangssprache und die Rückübertragung des Adjektivs in ein Substantiv (mit „Beliebigkeit“ ist wohl „Beliebtheit“ gemeint; Z. 81) als strategisches Handeln bezeichnet werden. Sie erweitern das transferrelevante Wissen, auch wenn sie hier nicht zur Bedeutungserschließung führen. Dass Thomas trotz des Kontextes der Stadtbeschreibung nicht auf die Übertragung mit „Bevölkerung“ kommt, deutet darauf hin, dass ihm das deutsche Fremdwort „Population“ nicht bekannt ist. Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass „Euro- Deutsch-Texte“ (vgl. Meißner 2004b: 101; Bär 2009: 116) zu Beginn der Sekundarstufe vermutlich nur sehr eingeschränkt einsetzbar sind. Nachdem sich die Erschließung über „populär“ als nicht zutreffend herausgestellt hat, macht Thomas für den zweiten Satz des Textes, The population is approximately 71,000, with roughly 22,000 university students., einen zweiten Versuch (Z. 91-94): T.: Die Schüler oder so. Weil hier ist ja, hier ist ja und mit 22.000 Univer-, Uni- Studenten. L.: Ja, genau. T.: Und einen 71.000 irgendwie dieses ähm, oder? Nee. Das hier. Thomas versucht nun, kotextuell an den ,Problemfall‘ population heranzugehen und nutzt hierbei sein Wissen über Textstrukturen. Da er 22,000 university students als „22.000 [...] Uni-Studenten“ erkennt, vermutet er eine Nebenordnung inhaltlich analoger Elemente und stellt die Hypothese auf, dass es „Schüler“ bedeuten könne. Beim folgenden Versuch, Thomas durch Bezugnahme auf den Kontext zu helfen: „Also das hier, da hattest du schon völlig Recht, ne, 22.000 ähm Uni-Studenten und wenn da steht ähm the population is 71,000, was könnten dann diese 71.000 sein? “ (Z 95-97), fällt ihm ein: „Ach so, das ist doch people, oder? “ (Z. 98). Dass er mit engl. people anstatt „Leute“ in seiner Muttersprache antwortet, weist darauf hin, dass er trotz der Fokussierung auf den Kontext hier offenbar zu seiner ursprünglichen Vorgehensweise der Suche nach Transferbasen für population zurückkehrt, nun aber den Kontext berücksichtigt, was zur Aktivierung von people führt. Für approximately fordert er die Angabe des Signifikats ein. Hierdurch gelingt ihm, vermutlich durch die parallelisierende Struktur des Teilsatzes (approximately 71,000, with roughly 22,000…), auch die Übertragung von roughly: „die Einwohnerzahl sind ungefähr 71.000 mit rund 22.000 Uni- Studenten.“ (Z. 102-103). Hierbei fällt auf, dass er nicht das deutsche Wort für people verwendet, sondern es in ein dem Kontext angemesseneres ändert. Eine weitere Korrektur bezieht sich auf den englischen Ausdruck university students, die Thomas metasprachlich kommentiert: „Also Studenten sozusagen, muss <?page no="284"?> 270 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven man nicht Uni dazusagen, also Studenten. Mit rund 22.000 Studenten.“ (Z. 105-106) 268 . Im Anschluss nimmt er für den dritten Satz des Textes, Hesse (German: Hessen, Hessisch: Hesse) is a state of Germany with an area of 21,110 km 2 (8,150 sq mi) and just over six million inhabitants., sozusagen eine Textkorrektur vor (Z. 107-109): T.: Also Hessen, äh Hesse, Ger, Germany Hessen, German Hessen, Hessisch Hesse, is a, ähm ist ein Bundesland, weil da steht federal state und hier steht nur state. Hier zeigt Thomas eine Aufmerksamkeit, die generell bei schriftlicher Interkomprehension sowohl für das Erkennen morpho-syntaktischer Strukturen als auch für das Erschließen von auf dem ersten Blick gänzlich unbekannten zielsprachlichen Lexemen von Bedeutung ist. Das strategische Zurückgehen im Text und die Suche nach Stellen, an denen eine morpho-syntaktische Struktur oder ein opakes Wort schon einmal aufgetreten ist, stellen eine wichtige Stütze für die Organisation des Identifikationstransfers dar. Im Folgenden bereitet ihm das Wort inhabitants Schwierigkeiten. Dies kann an einem Steuerungsfehler liegen. Gerade weil Thomas es gelungen war, engl. population auf people zurückzuführen, und angesichts des noch folgenden Begriffs inhabitants hätte sein Übertragungsvorschlag mit „Einwohnerzahl“ (Z. 102; s.o.) nicht akzeptiert werden dürfen, sondern es hätte stattdessen an die Übertragung people angeknüpft werden sollen. Die Hilfestellung bezieht sich daher auf seine Übertragung zuvor (Z. 116-121): L.: Wenn es ja jetzt nicht mehr um Gießen geht, sondern um Hessen, um ganz Hessen, über sechs Millionen. T.: Hm, weiß ich nicht so. L.: Du hast das Wort gerade bei Gießen hier oben auch schon gesagt, äh, auf Deutsch. T.: Einwohner? Für den folgenden Textabschnitt (The state capital is Wiesbaden. Hesse’s largest city is nearby Frankfurt am Main. Hesse contributes the largest share to the Rhine Main Area.) ergibt sich folgender Dialog (Z. 125-134): T.: Also die Hauptstadt ist Wiesbaden. Ähm, Hessens größte Stadt ist - Frankfurt. L.: Mhm. T.: Am Main. (…), ne, wie ist das, ist das nah am Main? L.: Ja, das … 268 Ob Thomas bekannt ist, dass engl. student (zumindest in einigen Varietäten des Englischen) sowohl „Student“ als auch „Schüler“ heißen kann und daher der Zusatz university notwendig ist, kann nicht gesagt werden. Wahrscheinlich ist jedoch, dass er sich hier am deutschen Sprachgebrauch orientiert. <?page no="285"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 271 T.: Ach so, Frankfurt am, ist, nee. Also ist Frankfurt am Main. Hessen ähm … da ist irgendwie der größte Platz, wo der Main durchfließt, also irgendwie. […] Ach so, ist ja Rhein-Main-Gebiet, oder? L.: Mhm, genau, genau. T.: Ist die größte ähm hmhmhm vom Rhein-Main-Gebiet. Thomas scheint zunächst in seiner Frage: „ist das nah am Main? “ das englische Wort nearby übertragen zu wollen, im Anschluss fällt ihm jedoch der Ausdruck „Frankfurt am Main“ ein bzw. auf. Da er offenbar das englische Verb to contribute nicht kennt, vermutet er für das ihm nicht transparente Substantiv share die Bezeichnung für einen Ort und schlägt „Platz“ vor. Nachdem er Rhine zunächst überlesen hatte, erkennt er den Eigennamen Rhine Main Area als „Rhein-Main-Gebiet“ und ändert seinen Übertragungsvorschlag für the largest share to the Rhine Main Area („der größte Platz, wo der Main durchfließt“) nun in eine syntaktisch dem englischen entsprechendere Form, in der er für das intransparente share einen Platzhalter einsetzt: „die größte ähm hmhmhm vom Rhein-Main-Gebiet“. Im folgenden Satz: Situated in west-central Germany, Hesse borders on the German states (starting from the northwest and proceeding clockwise) of North Rhine-Westphalia, Lower Saxony, Thuringia, Bavaria, Baden-Württemberg and Rhineland-Palatinate. bereitet Thomas die Angabe der Himmelsrichtung, west-central Germany, Schwierigkeiten (Z. 141-148): T.: Ähm - also Westdeutschland, weil es da noch geteilt wurde (…), Westdeutschland gibt es ja nicht mehr. Oder? L.: Nee. T.: Ach nein, nein, nein. Nein, das ist irgendwie westlich von Germany. Westlich in … L.: Ja. T.: Ach so, ach so, hier. Ähm west-central ist doch ähm west, Westen in der Mitte. Wie aus dem Dialog hervorgeht, sind Thomas’ Verständnisschwierigkeiten nicht auf der Sprachformebene angesiedelt, sondern liegen in der semantischen Verknüpfung der Ortsbestimmungen „west“ und „zentral“ (bzw. „in der Mitte gelegen“) begründet, der er in der Form bislang vermutlich noch nicht begegnet ist. Seine Äußerungen zeigen, dass er kontextuell nach Erklärungen für die Hinzufügung von „west“ sucht. So vermutet er zunächst, dass es sich um einen älteren Text aus der Zeit vor der Wende handele: „also Westdeutschland, weil es da noch geteilt wurde“ (Z. 141), wobei auch Unsicherheiten im diesbezüglichen Weltwissen deutlich werden („Westdeutschland gibt es ja nicht mehr. Oder? “; Z. 141-142). Seine zweite Hypothese ist: „irgendwie westlich von Germany“, was er jedoch sofort selbst − schließlich geht es um Hessen − in „west- <?page no="286"?> 272 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven lich in“ korrigiert und was schließlich zur korrekten Übertragung führt. Der Text in der Klammer, starting from the northwest and proceeding clockwise, bereitet Thomas keinerlei Probleme (Z. 155-158): T.: Ähm Hessen - ähm … irgend was ist doch ähm, startet von dem Nordwesten und bewegt sich ähm nach, ähm nach … L.: Ja, ja, genau, genau, genau, genau. Genau. T.: Im Uhrzeigersinn. Das hier als Verb gebrauchte Wort borders (borders on the German states) erfragt er. Trotz der Hilfestellung („grenzen an“) und die von ihm selbst entschlüsselte Information, dass die nun folgende Aufzählung der an Hessen angrenzenden Bundesländer im Uhrzeigersinn, beginnend im Nordwesten, zu lesen sei („Ach so, gre-, grenzt an und dann jetzt Klammer also aufgezählt im Uhrzeigersinn? “; Z. 173-174), gelingt ihm die Erschließung einer der Eigennamen nicht gänzlich ohne Probleme (Z. 176-200): T.: Und dann ähm von Nor-, Nordrhein-Westfalen, ähm - Sachsen, oder Sachsen-Anhalt? Sachsen-Anhalt, glaube ich, oder? Lower Saxony. L.: Low, low, es gibt ja high und low. T.: Sachsen. L.: Ja, hattet ihr low schon als, als Wort? T.: Ja. L.: Ja? T.: Leise. Oder nei- L.: Nee, leise ist quiet. T.: Ja, L.: Nee, etwas, etwas ist high oder low. T.: Ach, tief. L.: Ja, genau. T.: Tiefsachsen. L.: Ja, was ist damit dann gemeint? T.: Das untere. L.: Ja, oder gibt es ein Bundesland, was so ähnlich heißt, Tiefsachsen, irgendwas mit tief? T.: Nee. L.: Also Niedersachsen ist damit gemeint. T.: Ach so. L.: Ne, das äh, mhm. T.: Ähm ja, Thüringen, ähm Bayern? L.: Mhm. T.: Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Gerade weil Thomas selbst unmittelbar vor diesem Dialog zusammengefasst hatte „also aufgezählt im Uhrzeigersinn“ (Z. 173-174), ist es unwahrscheinlich, dass ihm die Ressource, Wissen über die deutschen Bundesländer hier nutzen <?page no="287"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 273 zu können, nicht bewusst war. Hinzu kommt, dass auf dem Arbeitsblatt eine Karte von Deutschland mit den Grenzen der Bundesländer und einem dunkler hervorgehobenen Hessen abgebildet ist. Vielmehr scheint Thomas für diese Nutzung nicht ausreichend Weltwissen zur Verfügung zu stehen. So führt er für Lower Saxony zunächst zwei Bundesländer an, Sachsen und Sachsen- Anhalt, die gar nicht an Hessen grenzen. Auch die Erschließungshilfe über das Adjektiv low scheitert. Zwar kann er nach Angabe des Antonyms („etwas ist high oder low“; Z. 186) die Bedeutung von engl. low angeben, doch hilft ihm dies nicht für die Übertragung von Lower Saxony und führt zur Wortbildung „Tiefsachsen“ (Z. 189). Auch als im Folgenden an sein enzyklopädisches Wissen appelliert wird („Ja, oder gibt es ein Bundesland, was so ähnlich heißt, Tiefsachsen, irgendwas mit tief? “; Z. 192-193), kann Thomas den Eigennamen „Niedersachsen“ nicht angeben. Es ist nicht auszuschließen, dass die Formulierung „was so ähnlich heißt, […], irgendwas mit tief“, die sich auf die semantische Ähnlichkeit von „nieder“ und „tief“ bezog, bei ihm eine Suche nach ähnlichen Wörtern auf Sprachformebene (zum Beispiel jene, die auch mit einem „T“ beginnen) ausgelöst hat, so dass das Nachfragen hier aufgrund der Ungenauigkeit der Fragestellung nicht zielführend war. Auf der anderen Seite kann jedoch ebenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass Thomas - auch aufgrund der räumlichen Distanz von Niedersachsen zu seinem Wohnort - der Eigenname „Niedersachsen“ in der Tat weniger geläufig war. Dies wäre ein weiteres Beispiel für die Erfahrung, wie schwierig es trotz einer gewissen Vertrautheit sein kann, das nicht-sprachliche Vorwissen junger Lerner einzuschätzen (vgl. auch die Erfahrungen mit dem Thema „Astérix“; Abschnitt III 2.4). Der französische Text: Obwohl Thomas zu Beginn der Interkomprehensionssitzung selbst einen Unterschied zwischen dem englischen und französischen Text identifiziert hatte (die Angabe des Flusses Lahn; Z. 64), wiederholt er nun seine Stellungnahme über die Texte (Z. 202): „Ja, und das andere ist ja das Gleiche.“ Bei dem Versuch, ihn zu ermutigen bzw. zu motivieren, sich auch den französischen Text anzusehen, äußert er folgende selbstbezogene Stellungnahme (Z. 203-207): L.: Ja, wir können ja mal gucken, ob wir, äh, ob es da halt … T.: Na ja, nur im Englischen kann ich es besser, weil ich da einen größeren Wortschatz habe als im Französischen. L.: Ja, aber das - das kommt ja, ne, das wird ja immer mehr im Französischen. T.: Ja (dann versuchen wir es im Französischen halt). Hier dokumentiert Thomas eine Selbstreflexion, die sich dem Bereich des person knowledge von metakognitivem Wissen nach Wenden (1998: 518; vgl. Abschnitt I 1.3) zuordnen lässt. Seine Äußerung kann als ein „self-efficacy belief [...] about [one´s] ability to mobilize and manage the resources“ sowie über den <?page no="288"?> 274 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Umfang dieser Ressourcen bzw. genauer: des lexikalischen Wissens im Englischen und Französischen bezeichnet werden. Die im Theorieteil dieser Arbeit aufgeworfene Frage, ob sich personenbezogenes metakognitives Wissen bei jungen Lernern überhaupt nachweisen lässt, da diese ja gerade erst beginnen, sich selbst als Fremdsprachenlerner kennenzulernen, kann somit positiv beantwortet werden. Interessant an diesem Befund ist auch, dass dieser Fall von person metacognitive knowledge im Zusammenhang mit einem Vergleich persönlicher Erfahrungen (vgl. „kann ich es besser“) in der einen mit der anderen Fremdsprache auftritt. So kann die Hypothese aufgestellt werden, dass es gerade der Beginn des Erlernens einer zweiten Fremdsprache ist, der durch die Möglichkeit des Vergleichens eine Selbstreflexion im personenbezogenen Bereich des metakognitiven Wissens auslösen bzw. fördern kann. Im Falle von Thomas’ Äußerung kann jedoch nicht von motivationaler Interferenz (Düwell 2002: 177-178, 2003: 348; s. Abschnitt I 1.3) gesprochen werden. Dies wurde bereits in der vierten Interkomprehensionsstunde im Zusammenhang mit der Wahl der Sprachfassung (Englisch oder Französisch) beim Garfield-Film deutlich (TR 4, Z. 373-376): T.: Also in Englisch verstehe ich es ja dann, wenn (...), in ein paar Jahren werde ich es wahrscheinlich dann auch in Französisch verstehen, nur, nur Englisch habe ich ja jetzt schon seit der dritten Klasse und dann und dann finde ich es halt jetzt auch da und dann verstehe ich ja dann schon die meisten Wörter, ja. Es sind gerade die zukunftsgerichtete Vermutung („in ein paar Jahren werde ich es wahrscheinlich dann auch in Französisch verstehen“) und die vergangenheitsbezogene Stellungnahme („Englisch habe ich ja jetzt schon seit der dritten Klasse“), die deutlich zeigen, dass es sich hier zwar um einen Vergleich der Fremdsprachen Englisch und Französisch, jedoch nicht um eine negative Selbsteinschätzung handelt. Giessen (Gießen) est une ville universitaire d’Allemagne dans le centre du Land de Hesse, située sur le Lahn comprenant environ 73 000 habitants plus 20 000 étudiants.: Dem deutschen Sprachgebrauch entsprechend überträgt Thomas den Ausdruck une ville universitaire nicht adjektivisch („universitär“): „Gießen ist eine Stadt, eine Universitätsstadt.“ (Z. 207-208). Dass er für d’Allemagne − obwohl ihm das Wort de, auch in apostrophierter Form, aus dem Französischunterricht bekannt ist − hier „In Allemagne, äh, in Deutschland“ (Z. 210) vorschlägt, entspricht ebenfalls französisch-deutschen Unterschieden im Sprachgebrauch. Sodann überträgt er d´Allemagne mit „von Deutschland“, bezieht es nun jedoch auf dans le centre (Z. 218-219): <?page no="289"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 275 T.: Ja, gut, so weiter geht’s. Also. Ähm - ähm, also Gießen ist eine Universitätsstadt im Zentrum von Deutschland. Vor dem Hintergrund der Rechtsversetztheit romanischer Sprachen verwundert die Bezugnahme auf das vorangegangene d’Allemagne etwas, wobei Thomas selbstverständlich gerade erst im Begriff ist, morpho-syntaktische Strukturen dieser Sprachfamilie kennenzulernen. Es ist möglich, dass die Übertragung mit „im Zentrum von Deutschland“ (Z. 219) durch seine Reflexion über westcentral Germany (s.o.) beim englischen Text beeinflusst wurde. Anders als beim englischen Text (vgl. oben: Situated in west-central Germany) übergeht Thomas im französischen Text das Partizip nicht (hier: située sur le Lahn), übersetzt es mit „ist“ und bezieht es allerdings auf Hesse (Z. 221-225): T.: Und Hessen ähm ist - sur heißt doch auf, oder über? L.: Ja. T.: Über der Lahn ähm und Einwohner 73 - ähm, also 73.000 Einwohner. L.: Ja. T.: Und 20.000 Studenten. Dass Thomas située sur le Lahn auf Hesse und nicht auf une ville universitaire bezieht, ist nicht verwunderlich, da − abgesehen von den folgenden geographischen bzw. demographischen Informationen − die Kondardanz des Partizips (das -e für une ville) das einzige Indiz für den Bezug auf Giessen bzw. die Stadt (und nicht auf le Land de Hesse) ist. Dies kann Thomas zu diesem frühen Zeitpunkt des Französischlernens nicht aus dem Unterricht wissen und auch nicht aus ,seinen‘ anderen Sprachen (Deutsch, Englisch) transferieren. Wie der Dialog zeigt, gelingt ihm die Übertragung von 73 000 habitants plus 20 000 étudiants. Es ist möglich, dass er sich bei habitants auf das vorangegangene englische inhabitants bezieht, wobei allerdings das Wort im englischen Text an einer anderen Stelle vorkommt. Wahrscheinlich ist, dass sich Thomas an den - zwar im englischen und französischen Text nicht ganz deckungsgleichen - transparenten Zahlen 73 000 und 20 000 sowie an den bei der Lektüre des englischen Textes erhaltenen Informationen orientiert. La Hesse (Hessen en allemand) est l’un des 16 Länder composant l’Allemagne. La capitale est Wiesbaden, la plus grande ville est Francfort-sur-le-Main.: Wie schon beim Text über Gießen lässt Thomas auch hier das Partizip Präsens composant (vgl. oben comprenant) weg, liefert allerdings eine akzeptable Übertragung des ersten Satzes (Z. 227-228): „Ähm, Hessen ähm ist eines von 16 Ländern, ähm, von 16 Bundesländern in Deutschland.“ Auch für den zweiten Satz gelingt ihm eine Übertragung, wobei er den Superlativ jedoch nicht erkennt (Z. 230-232): T.: Ähm, und die Hauptstadt ist Wiesbaden. L.: Mhm. <?page no="290"?> 276 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven T.: Und - eine große Stadt ist Frankfurt am Main. Dass Thomas den französischen Superlativ nicht erkennt, kann darauf zurückgeführt werden, dass er auf der Grundlage seiner Ausgangs- und Brückensprache (vgl. „größte“ und largest im englischen Text oben) hier vermutlich eine Superlativbildung durch ein Suffix erwarten würde. Dass er sein Wissen bzw. die Informationen aus dem englischen Text nicht nutzt (vgl. seine Äußerung oben: „Hessens größte Stadt ist - Frankfurt.“; Z. 125-126) kann einerseits dadurch erklärt werden, dass er mit jenem Textstück, insbesondere mit der zweiten Hälfte (Hesse’s largest city is nearby Frankfurt am Main. Hesse contributes the largest share to the Rhine Main Area.), Schwierigkeiten hatte und seine Aufmerksamkeit hierdurch von der erfolgreich erschlossenen Textpassage abgelenkt war 269 . Andererseits spielt vermutlich auch die Tatsache eine Rolle, dass Thomas zweisprachige Texte aus dem ‚herkömmlichen‘ Fremdsprachenunterricht nicht kennt und daher nicht vergleichend auf den anderen Text zurückgreift. In diesem Zusammenhang ist allerdings darauf hinzuweisen, dass er weiß, dass der englische und französische Text inhaltlich nicht ganz identisch sind (vgl. seine Äußerung zum Eigennamen „Lahn“ oben) und die Aussage: „eine große Stadt ist Frankfurt am Main“ selbstverständlich nicht inhaltlich falsch ist. Dass sich Thomas - auch ohne im englischen Text nachzusehen - an die entsprechende Textpassage erinnert, könnte durch die zeitliche Distanz zwischen der Behandlung jener und dieser französischen Textstelle erschwert werden. Située dans le centre-ouest de l’Allemagne, la Hesse est frontalière des États allemands de Rhénanie du Nord-Westphalie, Basse-Saxe, Thuringe, Bavière, Bade-Wurtemberg et Rhénanie-Palatinat (dans le sens horaire à partir du nordouest).: Auch in diesem Fall (vgl. oben) lässt Thomas das Partizip située nicht unübersetzt und überträgt es − wohl aus dem Kontext heraus - korrekt mit „es liegt“ (Z. 236-244): T.: Und eine große Stadt ist Frankfurt am Main. Ähm - ähm - irgendwie, es liegt in, in Mittelwest ähm von Deutschland. L.: Was ist davon das West von diesem Mittelwest? T.: Das ouest da. L.: Genau, ouest, genau. T.: Ähm, ähm, also von Deutschland und Hessen ist - irgendwie angrenzend an - an - an andere alle deutsche irgendwie deutsche Bundesländer ähm wie Rheinland Pfalz, nee, Nordrhein-Westfalen, dieses Rhein-Nordwestfalen steht da ja eigentlich wörtlich übersetzt, oder? 269 Vgl. auch den Begriff der „‚unbemerkten‘ Übertragung“ im Zusammenhang mit dem niederländischen Passiv (Abschnitt III 2.1) und jenen des „inzidentielle[n] (beiläufige[n]) Erkennen[s] sprachlicher Strukturen“ bei Meißner et al. (2011b: 87). <?page no="291"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 277 Dass er dans le centre-ouest ohne Probleme und auf Anhieb mit „in Mittelwest“ überträgt, deutet darauf hin, dass er sich durchaus auch am englischen Text und an den vorausgegangenen Erschließungsprozessen orientiert. Angesichts der Reflexion über den Ausdruck west-central im englischen Text, bei dem Thomas zwar die Bedeutung der einzelnen Elemente („westlich“, „zentral“) ermitteln, diese aber nicht mit Sinn füllen konnte, wundert er sich nun nicht über die Verbindung von centre und ouest im französischen Text. Darüber hinaus kann er die französische Entsprechung zu „West“ trotz der verglichen mit dem englischen Text umgekehrten Wortfolge (west-central − centre-ouest) und des unterschiedlichen Wortanfangs (ou-) ermitteln. Es ist jedoch gerade die Wortfolge bei dem Eigennamen Rhénanie du Nord- Westphalie, die Thomas zunächst Schwierigkeiten bereitet bzw. ihn dazu veranlasst, diesen mit „Rheinland-Pfalz“ zu übertragen. Er korrigiert sich allerdings sofort selbst und fügt eine metasprachliche Stellungnahme über die französische Entsprechung deutscher Komposita hinzu: „Rhein-Nordwestfalen steht da ja eigentlich wörtlich übersetzt, oder? “ (Z. 243-244). Ob es die angesprochenen Unterschiede in der Wortfolge von west-central und centre-ouest sind, die zu dieser Beobachtung beigetragen haben, oder diese metasprachliche Äußerung zufällig an dieser Stelle erfolgt, kann nicht gesagt werden (zumal die deutschsprachliche Übertragung - „Mittelwest“ − in diesem Fall der französischen Wortabfolge entspricht). Auffallend an Thomas’ Übertragung dieses Textstücks ist darüber hinaus, dass er den Ausdruck est frontalière de übertragen kann („irgendwie angrenzend an“; Z. 241). Es kann nicht eindeutig festgestellt werden, ob er das Wort frontière schon kennt, sich am Kontext orientiert oder sich schlichtweg an die Übersetzung von borders aus dem englischen Text erinnert (vgl. oben). Letzteres ist m.E. jedoch unwahrscheinlicher aufgrund der großen formalsprachlichen Unterschiedlichkeit des englischen und französischen Begriffs und seiner Äußerung „irgendwie angrenzend an“, die eher auf eine Hypothese verweist. Der Beginn der nun folgenden Übertragung (Z. 250-251) ist hingegen wahrscheinlich am englischen Text bzw. an der Erinnerung an seinen Inhalt orientiert, was vor allem in der Formulierung: „aufgezählt im Uhrzeigersinn“ deutlich wird (Z. 250-255): T.: Ähm Niedersachsen, Thüringen, Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz und aufgezählt im Uhrzeigersinn. L.: Ja. T.: Oder - irgendwie Nordosten. L.: Ja. Ne, da ist ja hier starting from the northwest … T.: Ach so. Ach so, ja, ja, von, von, von Norden nach Osten hin. Bei dem Textstück dans le sens horaire à partir du nord-ouest verwundert es, dass Thomas sich an dieser Stelle von der Schreibweise ouest ‚verleiten‘ lässt <?page no="292"?> 278 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven und für nord-ouest „Nordosten“ als Übertragung vorschlägt, da er bei der Ortsangabe centre-ouest zuvor ouest als „West“ erkannt hat („Was ist davon das West von diesem Mittelwest? − Das ouest da.“; Z. 238-239). Dies kann dadurch erklärt werden, dass er sich bei dem zweiten Teil der Informationen in der Klammer (dans le sens horaire à partir du nord-ouest) weniger am englischen Text orientiert und sich stärker auf den französischen konzentriert. Selbst als seine Aufmerksamkeit auf den englischen Text und die in ihm enthaltene Himmelsrichtung northwest gelenkt wird, weicht er anscheinend zunächst nicht von seiner Hypothese ab, dass ouest „Osten“ bedeute, und schlägt nun eine Richtungsangabe („von Norden nach Osten hin“) vor. Da die Aussage, dass die Bundesländer im Text von Norden nach Osten hin genannt werden, inhaltlich nicht falsch ist, ist allerdings nicht auszuschließen, dass Thomas verstanden hat, dass nord-ouest nicht dem deutschen „Nordosten“ entspricht und er nun stärker am Gesamtverständnis dieses Textabschnitts orientiert ist. So gelingt es ihm auch, sich im Folgenden zu korrigieren: „Hier, da steht es auch. Ach nee, das ist Nordwest und da steht ja auch Nordwest.“ (Z. 262-263). Auf motivationaler Ebene ist an dem folgenden Dialog vor allem interessant, dass Thomas nun sprachliche Neugier zeigt und die Entsprechungen für die englischen Ausdrücke im französischen Text finden möchte, obwohl er zuvor zweimal gesagt hatte, man brauche ja nicht beide Texte zu lesen, denn die Bedeutung sei ja dieselbe (Z. 263-268): T.: Also, also fängt an bei, was heißt dieses Wort? L.: Ja, ähm … T.: Horaire à partir oder wie das heißt. L.: Ja. Das da, dieses, dieses dans le sens horaire, das haben wir auch im englischen Text stehen. Was wäre da? T.: Ja, das will ich ja gerade wissen. An dieser Stelle bestätigt sich die Hypothese, dass sich Thomas zuvor bei seiner Übertragung „im Uhrzeigersinn“ (s.o. Z. 251) am Inhalt des englischen Textes und nicht am französischen Text orientiert hat. Dies zeigt sich darin, dass er nicht in der Lage ist, das Textstück dans le sens horaire − à partir du nord-ouest in dessen Syntagmen zu zerlegen (vgl. „Horaire à partir“). Auch als ihm, nachdem er à partir (du) als „fängt an bei“ (Z. 263) erkannt hat, der erste Sinnabschnitt dans le sens horaire genannt wird, kann Thomas die Entsprechung im englischen Text nicht angeben. Dies ist jedoch nicht weiter verwunderlich, da den vier Wörtern im französischen Ausdruck für „im Uhrzeigersinn“ im Englischen nur ein einziges, clockwise, entspricht und dieses im englischen Text darüber hinaus an anderer Stelle (vor den aufgezählten Bundesländern und nicht wie im französischen Text dahinter) steht. So lässt er sich (vielleicht nicht zu Unrecht) hier auch nicht auf die Frage: „Was wäre da? “ ein und bekundet stattdessen mit Nachdruck erneut sein Interesse: „Ja, das will ich ja gerade wissen.“ (Z. 267-268). <?page no="293"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 279 Abgesehen von dieser expliziten Äußerung bringt Thomas auch im Folgenden durch Hypothesen bzw. Fragen zum Ausdruck, dass er − obwohl die Bedeutung des englischen und französischen Textes an dieser Stelle in der Tat „die gleiche“ ist − nun daran interessiert ist herauszufinden, wie man eben diese Bedeutung auf Sprachformebene im Englischen und Französischen ausdrückt: „Und dann muss ja hier auch irgendwo noch stehen, dass es im Uhrzeigersinn ist.“ (Z. 270-271) „Also, aber dieses partir heißt Start? “ (Z. 273) „Also im Uhrzeigersinn startet es von Nordwesten.“ (Z. 275). Nach der Zuordnung der englischen und französischen Versprachlichung des Ausdrucks „im Uhrzeigersinn ausgehend von Nord-Westen“ wird Thomas zum weiteren Vergleich des englischen und französischen Textes aufgefordert. Er bezieht sich zunächst ausschließlich auf die Orthographie und nennt die Beispiele: „Dass Bayern fast gleich geschrieben wird.“ (Z. 279) „Und - dass dies Westphalia hier und Westphalie gleich geschrieben wird und dass Rheinland-Pfalz hier fast genauso wie da geschrieben wird.“ (Z. 281-282) „Dass Hessen gleich geschrieben wird.“ (Z. 284) „Und dass Gießen gleich geschrieben wird. Also, hier steht ja Gießen erst in Deutsch, dann in Englisch, da steht erst in, erst in Französisch, dann in Deutsch.“ (Z. 286-288). Angesichts der Präzision in der Äußerung, dass Bayern und Rheinland-Pfalz fast gleich geschrieben werden, sowie zu den Sprachenabfolgen bei den Wörtern für „Gießen“ ist die Thomas’ Aussage, dass Westphalia und Westphalie gleich geschrieben werden, wahrscheinlich auf die Beobachtung bezogen, dass im Englischen und Französischen (abweichend von der deutschen Schreibweise) ein -phsteht. Hierfür spricht, dass er die unterschiedlichen Wortendungen -ia und -ie ausspricht. Im Folgenden wird Thomas’ Aufmerksamkeit auf morpho-syntaktische Aspekte gelenkt und er wird gefragt, ob ihm bei dem Übersetzungspaar German states − Etats allemands etwas auffalle (Z. 289-291). Er antwortet (Z. 292-295): T.: Dieses E, das ist ja […] L.: Mhm, genau. T.: Also nur, dass das S halt eigentlich da vorne hin müsste und das E nach hinten, also E und S sind vertauscht Thomas äußert sich nicht zur Stellung der Adjektive. Dies hängt wahrscheinlich mit der Orientierung an der Schreibweise in diesem Moment zusammen. Andererseits sei daran erinnert, dass engl. state und frz. état ebenfalls Teil der Aufgabe zu den lexikalischen Serien waren, die zwei Interkomprehensions- <?page no="294"?> 280 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven stunden zuvor behandelt wurden („Wörterpuzzle“; vgl. Abschnitt III 2.5; TR 6, Z. 253-260). Abschließend fügt Thomas aus eigener Initiative noch eine weitere Sprachbeobachtung hinzu und bezieht hierbei das Deutsche als dritte Sprache mit ein (Z. 299): „Und im Deutschen sagt man nicht Staaten, sondern Bundesländer.“ Wie aus dem Zitat hervorgeht, vergleicht er die Begriffe state, état und „Staat“ nun auf semantischer Ebene und weist auf Abweichungen in der Bedeutung hin. Dass er nicht auf die unterschiedliche Stellung der Adjektive Bezug nimmt (obwohl er hierzu angesichts der korrekten Zuordnung der englischen und französischen Wörter states und Etats vermutlich in der Lage wäre), ist dadurch zu erklären, dass er an dieser Stelle auf andere Beobachtungsschwerpunkte (Schreibweise, Wortbedeutungen) konzentriert ist und die Frage allgemein formuliert war („Was fällt dir da auf? Was ist da unterschiedlich? “; Z. 290-291). Zusammenfassung wichtiger Befunde: Bei seinem Erschließungsversuch des englischen Substantivs population kombiniert Thomas verschiedene Inferenzstrategien miteinander. Ihm fällt auf, dass dt. „Bundesland“ einmal mit federal state und einmal mit state übersetzt wird, was auf die Fähigkeit, im Text zurückzugehen, anstelle eines linearen ‚Wort-für-Wort-Vorgehens‘ hindeutet. Es gelingt ihm, das französische Adjektiv (une ville) universitaire in die dem deutschen Sprachgebrauch entsprechende Form des Wortkompositums: eine „Universitäts-(Stadt)“ umzuwandeln. Er nutzt inhaltliche Informationen aus dem englischen Text für die Erschließung des französischen. Thomas kann den englischen und französischen Text miteinander vergleichen und nimmt hierbei Bezug auf: die Schreibweise von Eigennamen (die Bundesländer) die Schreibweise der Wörter state und Etat. Im letzteren Fall erweitert er von sich aus den Fokus des Vergleichs auf eine dreisprachliche und semantische Ebene, indem er darauf hinweist, das engl. states und frz. Etats hier nicht dem auf sprachlicher Oberfläche ähnlichem deutschem Wort „Staaten“ entsprechen. Analyse auf der Ebene der Wortbildung: Am Beispiel der französischen Adäquanz für Nordrhein-Westfalen macht Thomas von sich aus auf die unterschiedliche Abfolge der Bestandteile deutscher und französischer Wortkomposita aufmerksam. Zur Metakognition ist hervorzuheben, dass Thomas hier erneut (vgl. Abschnitt III 2.3) sehr explizit person knowledge (Wenden 1998: 518) heranzieht (wenn er einen englischen und einen französischen Text erschließt). <?page no="295"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 281 2.8 Die neunte Interkomprehensionsstunde: „Karneval“ Zu Beginn der Sitzung wird zunächst allgemein über das Thema „Karneval“ gesprochen, was mit Bär (2009: 195ff.) als ein „Aufbau mentaler Szenarien“ bezeichnet werden kann. Hierbei handelt es sich um keine interkomprehensionsspezifische Aufgabe, sondern ebenso wie Mind-Maps oder Phantasiereisen um eine typische avant la lecture- (bzw. avant l’écoute-)Aktivität des Drei- Phasen-Modells (z.B. Surkamp 2010a: 141). Um ein mentales Szenarium aufzubauen, können zum Beispiel Bilder oder es kann wie im vorliegenden Fall die Überschrift eines Textes als Impuls dienen. Ziel ist es, lernerseitiges „enzyklopädisches“ (Vor-) Wissen (Meißner 2007b) zu aktivieren, damit eine Erwartungshaltung an den Text aufgebaut werden kann. Für diese Interkomprehensionsstunde zum Thema „Karneval“ wurden - ähnlich wie beim englischen Sachtext und niederländischen Bericht über Fußball - zwei unterschiedliche Textsorten und Sprachen eingesetzt. In diesem Fall handelt es sich um einen englischsprachigen Text über Karnevalsbräuche weltweit und einen französischsprachigen über Karneval an einer französischen Schule: La fête de carnaval du LFH Eugène Delacroix. Auf die Frage, (auch) im Hinblick auf den französischsprachigen Text von der Webseite der Schule in Frankreich, ob an seiner Schule Karneval gefeiert werde, berichtet Thomas, dass dies nur alle zwei Jahre der Fall sei und 2010 in ein Jahr ohne Karnevalsfeier falle. Er sei aber mit seinen Eltern zu einem Umzug gefahren. Analyse der Interkomprehensionsstunde (16. Februar 2010): In dieser Sitzung wirkt Thomas unkonzentrierter als sonst, was sich in einer geringeren Genauigkeit bei seinen Übertragungsvorschlägen äußert. Zunächst widmen wir uns dem englischsprachigen Text 270 : Carnival typically involves a public celebration or parade combining some elements of a circus, masque and public street party. People often dress up or masquerade during the celebrations, which mark an overturning of daily life. The Brazilian Carnaval is one of the best-known celebrations today, but many cities and regions worldwide celebrate with large, popular, and days-long events. These include the Carnevale of Venice and the German Rhineland carnivals, centering on the Carnivals in Dusseldorf, Cologne and Mainz. Although the festival and party season in Germany starts as early as the beginning of January, the actual carnival week starts on the Thursday ("Weiberfastnacht") before Ash Wednesday. German Carnival parades are held on the weekend before and especially on Rosenmontag (Rose Monday), the day before Shrove Tuesday, and sometimes also on Shrove Tuesday ("Faschingsdienstag") in the suburbs of larger carnival cities. The carnival session begins each year on 11 270 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Carnival (05.02.10). <?page no="296"?> 282 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven November at 11: 11 a.m. and finishes on Ash Wednesday with the main festivities happening around Rosenmontag; this time is also called the "Fifth Season." Den ersten Teil des ersten Satzes: Carnival typically involves a public celebration überträgt er wie folgt: „Also, ja, ähm typically (…) Also Karneval, also Fasching ist ein typisches ähm, weiß ich nicht. Fest? “ (TR 9, Z. 5-7). Zunächst fällt auf, dass Thomas zwar typically vorliest, dann jedoch adjektivisch übersetzt. Auf semantischer Ebene erkennt er natürlich typically als „typisch“ und bezieht es auf celebration, das er mit „Fest“ überträgt. Im Rahmen seiner Entschlüsselungsversuche des nächsten Textabschnitts (or parade combining some elements of a circus, masque and public street party) ergibt sich folgender Dialog (Z. 15-21): T.: Hier, ähm eine - ((lachend)) eine weiß nicht. Eine Par-, oder eine Parade kombiniert mit (…). L.: Ja. T.: Also Fasching, in dieser Kleidung halt. Masken und ähm, ja, weiß ich nicht, Umzüge oder so. Ähm … L.: Ja, public street party, kannst du da was von entschlüsseln? T.: Ein Straßenfest oder so. Thomas geht hier sehr stark kotextgeleitet vor, was insbesondere in der Äußerung „in dieser Kleidung halt, Masken und (...) Umzüge oder so“ deutlich wird. Äußerst verwunderlich ist, dass er aus dem englischen elements of a circus weder dt. „Elemente“ noch (und vor allem) den „Zirkus“ nennt beziehungsweise diese Passage übergeht. Dies kann damit zusammenhängen, dass er sie schlichtweg überlesen hat. Auch kann angesichts der morpho-syntaktischen Komplexität des Textes und des Termins dieser Interkomprehensionsstunde (Karnevalsdienstag) das Überspringen dieser Passage in einer geringeren Anstrengungsbereitschaft zu diesem Zeitpunkt begründet liegen. Doch kann selbstverständlich davon ausgegangen werden, dass Thomas eigentlich hätte engl. circus entschlüsseln können müssen. Bei seinem Übertragungsvorschlag „Umzüge“ (Z. 19) ist nicht sicher, ob er sich tatsächlich auf den englischen Ausdruck public street party bezogen oder sein Weltwissen herangezogen hat. Auf Nachfragen hin findet er auf Anhieb eine entsprechendere Übertragung („Straßenfest“; Z. 21). Bei seinem Vorschlag „Leute ziehen sich oft Masken an“ (Z. 23) für die Passage People often dress up or masquerade fällt auf, dass er to dress up als ein Verb erkennt, was sich auf einen wenn auch möglicherweise nicht gänzlich bewussten Einbezug syntaktischer Hinweise zurückführen lässt. Denn es ist wahrscheinlich, dass ihm dress (bzw. dress up) − im Gegensatz zum Substantiv („Kleid“) nicht als ein Verb bekannt ist. Allerdings hält er es für ein transitives Verb und masquerade für das dazugehörige Objekt, möglicherweise da er die nebenordnende Konjunktion or überlesen hat. Auch bei dem Relativsatz im darauf folgenden Textstück: during the celebrations, which mark an <?page no="297"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 283 overturning of daily life scheint Thomas Schwierigkeiten zu haben, so dass er eine Hilfestellung erhält (Z. 27-38): L.: Kennst du da ein Wort? T.: Nee, deswegen habe ich ja L.: Life, hattet ihr das schon? T.: Ja, Leben. L.: Genau. (…) L.: Mhm. Da steckt ja day drin, ne, in diesem daily. T.: Ach so. Den Alltag? L.: Ja, genau, und, und was passiert mit dem Alltag? T.: Das Gegenteil vom Alltag. L.: Ja, genau, ne. T.: Turn around also. Ähm ja. Dies ist der erste Fall in den Interkomprehensionsstunden insgesamt, in dem sehr kleinschrittig gefragt werden musste. Doch zeigt Thomas in der Äußerung „Turn around also“ (Z. 38) wiederum seine Erschließungsfähigkeiten, indem er das Substantiv overturning in seine einzelnen Morpheme over turn ing zergliedert und aus dem Schlüsselelement turn ein ihm bekanntes Verb bildet, das den Sinn des Gemeinten, den Alltag „umzudrehen“ ausdrückt. Die hier manifestierte Fähigkeit lässt darauf schließen, dass Thomas ebenso das Adjektiv daily (trotz der Veränderung des „Y“ von day in ein „I“) durchaus auch allein hätte erschließen können und das Nachfragen voreilig war. Aufgrund der Tatsache, dass er die Frage, ob er in diesem Textstück ein Wort kenne, verneint, im Anschluss jedoch auf Anhieb die deutsche Entsprechung von life angeben kann (s.o. Z. 27-30), muss vermutet werden, dass Thomas’ Schwierigkeiten an dieser Stelle eher auf der Ebene der Konzentrationsfähigkeit und/ oder Motivation angesiedelt sind als auf jener der interkomprehensiven Kompetenz. Zu der nächsten Passage, The Brazilian Carnaval is one of the best-known celebrations today, fragt er verwunderlicherweise: „Dann das brasilianische Karneval ist eins von den besten - was heißt celebration? Kenne ich irgendwoher.“ (Z. 40-41). Seine Reaktion auf die Erinnerung („Du hast es schon gesagt vorhin.“; Z. 44): „Hm. Ja, da habe ich aber jetzt wörtlich irgendwie halt...“ (Z. 45) deutet darauf hin, dass er sich an die vorherige Textstelle erinnern kann und mit seinem Übertragungsvorschlag zu Unrecht unzufrieden ist, woraufhin ihm „Feier“ als eine Alternative angeboten wird (Z. 50). Die weitere sinngemäße Erschließung dieses zweiten Textabschnitts 271 bereitet Thomas keine Schwierigkeiten, bis auf die Tatsache, dass er bei dem Aus- 271 The Brazilian Carnaval is one of the best-known celebrations today, but many cities and regions worldwide celebrate with large, popular, and days-long events. These include the <?page no="298"?> 284 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven druck many cities and regions das Wort many mit dem formal ähnlichen deutschen Wort „manche“ übersetzt. Bei den Eigennamen erkennt er lediglich Cologne nicht als „Köln“, was ihm aber durch kontextgeleitetes Nachfragen, welche Städte üblicherweise mit Karneval in Zusammenhang gebracht werden (Z. 65-66) gelingt. Der erste Satz des dritten Abschnitts, Although the festival and party season in Germany starts as early as the beginning of January, the actual carnival week starts on the Thursday ("Weiberfastnacht") before Ash Wednesday., führt zu folgendem Dialog (Z. 73-82): T.: Ähm, weiß ich nicht, das Festival und die ähm Festival in Deutschland startet - früher als - der Beginn von Januar, hä? - früher als … nein, genauso. L.: Ja, genau. T.: Es, nee, es heißt doch, startet genauso wie der Beginn vom Januar. L.: Ja, genau. Genau. T.: Der aktuelle Fasching oder carnival, Karne-, wie heißt das jetzt nochmal auf Deutsch? Das ist ja ganz in En-, Karnevalwochen start und am Mittwoch, nein, am Donnerstag die Weiberfastnacht auf Deutsch. L.: Mhm. T.: Vorm Aschermittwoch. Wie aus dem Dialog hervorgeht, gelingt es Thomas, in einem bottom-up- Verfahren alle Elemente dieses Textstücks, sieht man von der Konjunktion although, dem Ausdruck party season und den falschen Freunden actual − „aktuell“ ab, zu entschlüsseln. Jedoch kann er die einzelnen Elemente auf Konzeptebene, wie sich bereits in der Äußerung: „Beginn von Januar, hä? “ (Z. 74) andeutet, nicht zu einem Sinn verbinden (Z. 85-88): T.: Ach, nein, nein, nein, das ist doch Fast, ist das Fastenzeit? L.: Äh, dieses Ash Wednesday? Oder welches meintest du jetzt? T.: Nein, nein, hier ist doch, hier startet, irgendwie, Fasching fängt doch auch zur Fastenzeit an, oder? In diesem Gesprächsabschnitt wird deutlich, dass es durchaus möglich sein kann, einen fremdsprachigen Text auf bottom-up-Ebene nahezu lückenlos zu erschließen und ihn dennoch nicht zu verstehen. Dies erinnert an den Befund von Bär (2009: 517), demzufolge Schüler fremdsprachlichen Ausdrücken zum Teil durchaus deutschsprachliche Entsprechungen auf Signifikantenebene zuordnen, diese jedoch nicht mit Bedeutung füllen können, wobei es sich im Falle von Bär (ebd.) um den Fremdwortschatz und die Einzelwortebene handelt. Durch seine Aussage, Fasching fange zur Fastenzeit an, signalisiert Thomas hier, dass er den Satz nicht verstanden hat. Dies liegt jedoch, wie oben Carnevale of Venice and the German Rhineland carnivals, centering on the Carnivals in Dusseldorf, Cologne and Mainz. (http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Carnival). <?page no="299"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 285 dargelegt, nicht daran, dass ihm interlingual nicht genügend Transferbasen zur Verfügung stünden, sondern dass ihm die notwendigen Konzepte, d.h. das erforderliche inhaltliche Hintergrundbzw. Weltwissen, fehlen, um die interlingual erschlossenen Elemente zu einem Sinn zusammenzufügen. Interessanterweise scheint es hier sogar gerade der im Text enthaltene deutschsprachliche Begriff, „Weiberfastnacht“, zu sein, der zu den Missverständnissen geführt hat. Bei genauerer Betrachtung der Transkription dieser Passage wäre eine mögliche Erklärung, dass Thomas bei seiner Frage: „Fasching fängt doch auch zur Fastenzeit an, oder? “ (Z. 87-88) den Begriff „Fastenzeit“ auf Grund formaler Ähnlichkeiten mit „-fastnacht“ verwechselt hat, zumal „Fasching“ der für ihn geläufige Begriff ist. Für diese Interpretation spräche auch seine zuvor manifestierte Unsicherheit in Bezug auf diatopische Varianten des Begriffs: „Fasching oder carnival, Karne-, wie heißt das jetzt nochmal auf Deutsch? “ (Z. 78). German Carnival parades are held on the weekend before and especially on Rosenmontag (Rose Monday), the day before Shrove Tuesday: Dieses auf Karnevalsumzüge bezogene Textstück bereitet Thomas weder auf Daten- (sieht man von der Auslassung des Adverbs especially ab) noch auf Konzeptebene Schwierigkeiten (Z. 98-104): L.: Are held on the weekend before and especially on … T.: Was heißt held? (…), ich brauche nur dieses held. L.: Äh, wie kö-, was, was würde denn da reinpassen so vom, vom Sinn her? Wenn du das, sag mal das andere, wenn du das schon raus hast. T.: Die deutschen Karnevalparaden sind hmhm ähm am Wochenende vor dem Beginn von Rosenmontag, Rose Monday. Der Tag vor dem Fast-, nein, vor dem Faschingsdienstag. Auch wenn Thomas das Entschlüsseln des Verbs held im Folgenden nicht gelingt, zeigt er auf metakognitiver Ebene hier eine für die (Weiter-)Entwicklung der Fähigkeit des Selbstmonitoring wichtige Leistung des in diesem Fall Planens und Überwachens eigener Sprachhandlungsprozesse, indem er Lakunen in seiner Lernersprache identifiziert und sich Hilfe sucht: „Was heißt held? [...] ich brauche nur dieses held.“ (Z. 99). Dies erinnert an Wendens Konzeption der task analysis (vgl. Wenden 1999: 437) zur Bestimmung des für die Lösung einer Aufgabe notwendigen Wissens (vgl. auch den Begriff des domain knowledge, Wenden 1998: 518-519; Abschnitt I 1.3). Zwar hatte Thomas bereits in der zweiten Interkomprehensionsstunde seine Fähigkeit zum Ausdruck gebracht, Lakunen in seiner Lernersprache zu identifizieren, jedoch weder im Vorfeld des Interkomprehensionsprozesses noch mit der hier vorliegenden Präzision (vgl. „hier weiß ich nicht weiter“; TR 2, Z. 116; Abschnitt III 2.2). Dass er an dieser Stelle des Erschließungsprozesses anders als bei anderen Interkomprehensionsprozessen in der hier analysierten Stunde seinen Sprach- <?page no="300"?> 286 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven handlungen größere Aufmerksamkeit schenkt, zeigt sich auch darin, dass Thomas nach einem längeren Exkurs über unregelmäßige Verben und Englischbücher fragt: „Was heißt das da? “ (Z. 156; bezogen auf das zuvor ausgelassene Adverb especially). Hier wird deutlich, dass er ganz im Gegensatz zu seinem Vorgehen zu Beginn des Textes bzw. der Stunde (vgl. z.B. die Ausführungen zu engl. circus oben) in diesem Fall sehr wohl bemerkt hat, dass er das Wort especially übergangen hatte. Ihm gelingt es im Folgenden auch, in dem Adverb das Wort special herauszufiltern und es mit „spezial“ (Z. 160) zu übertragen. Eine mögliche Hypothese zur Erklärung der größeren Genauigkeit im Erschließungsprozess, die Thomas hier verglichen mit vorangegangenen Erschließungshandlungen zeigt, wäre, dass seine größere Vertrautheit mit dem Textinhalt an dieser Stelle (Karnevalsumzüge) hiermit im Zusammenhang steht, indem diese sein Arbeitsgedächtnis entlastet. Wie andererseits inhaltliche Unsicherheiten mit Interkomprehensionsprozessen auf datengeleiteter Ebene interagieren können, zeigt sich in Thomas’ Übertragungsversuch von and sometimes also on Shrove Tuesday in der Textpassage: German Carnival parades are held on the weekend before and especially on Rosenmontag (Rose Monday), the day before Shrove Tuesday, and sometimes also on Shrove Tuesday ("Faschingsdienstag") in the suburbs of larger carnival cities.: „Und manchmal auch am […] oder manchmal auch am, zweimal? [...] am Faschingsdienstag.“ (Z. 167, 173). Auch hier hat er wiederum auf bottom up- Ebene keine Probleme, das englische Textstück zu übertragen, wundert sich inhaltlich jedoch darüber, dass zwei Karnevalsumzüge hintereinander („zweimal? “) durchgeführt werden. Dies liegt vermutlich darin begründet, dass er den englischen Satz auf eine Stadt bezieht, zumal er die folgende Passage, in the suburbs of larger carnival cities, nicht in seinen Übertragungsvorschlag einbezogen hatte. Bei seiner Erschließung des letzten Satzes 272 geht Thomas wiederum sehr genau und auch konzentriert vor, was sich in Selbstkorrekturen: „immer im Jahr ähm, immer im Jahr vom 11 (...) jedes Jahr am 11. November“ (Z. 184-185) und in der Überwachung und Evaluation eigener Erschließungsprozesse: „am 11. November um 11: 11 Uhr vormittags, oder? Oder nach-, nee, nachmittags geht ja gar nicht.“ (Z. 185-186) zeigt. So war er sich vermutlich hier unsicher, für welchen Zeitraum a.m. und für welchen p. m. steht, hat diese Unsicherheit bei sich bemerkt und eine Lösung gefunden. Auch das genaue Diagnostieren eigener Lakunen gelingt ihm hier wiederum (Z. 188-193): T.: Und enden am Aschermittwoch mit den main, ähm, mit den, wie heißt die? festivities, was ist denn das? L.: Ja, so Festivitäten sagt man da auf Deutsch. 272 The carnival session begins each year on 11 November at 11: 11 a.m. and finishes on Ash Wednesday with the main festivities happening around Rosenmontag; this time is also called the "Fifth Season." <?page no="301"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 287 T.: Ach so, mit den main Festivitäten (…) rund um den Rosenmontag, der, die Zeit ist auch ähm - heute ist doch irgendwie, ja, dieses call irgendwie, ist call nicht anrufen? Dass Thomas bei dem Satzstück this time is also called ... Schwierigkeiten mit dem Verb to call hat und die gemeinte Bedeutung „wird genannt“ bzw. „heißt“ nicht angeben kann, verwundert zunächst etwas vor dem Hintergrund, dass ihm Sätze wie: My name is Thomas. und He is called Peter. selbstverständlich bekannt sein dürften. Seine Probleme hängen hier vermutlich damit zusammen, dass Thomas den Ausdruck to be called wie im Anfangsunterricht üblich (vgl. z.B. Vollmer 1998: 239) als einen unanalysed chunk, d.h. als eine Sprachformel kennengelernt hat und diese im vorliegenden Kontext darüber hinaus nicht auf eine Person bezogen ist. Der französische Text: In der zweiten Hälfte dieser Interkomprehensionsstunde erfolgt eine Auseinandersetzung mit dem französischen Text über Karneval. Wie eingangs angesprochen, handelt es sich ebenso wie in Bezug auf das Thema „Fußball“ zu Beginn der individuellen Interkomprehensionssitzungen auch hier um einen Wechsel der Textsorte ausgehend von einem Sachtext 273 zu einem in diesem Fall Informationsschreiben über die angebotenen Karnevalsaktivitäten am Lyćee Eugène Delacoroix 274 . Ein weiterer Unterschied ist der hier vorliegende Sprachwechsel von Englisch zu Französisch statt von Englisch zu Niederländisch 275 . Die Erschließung des Textes La fête de carnaval du LFH 276 Eugène Delacroix: Nachdem die Überschrift angesichts der Intransparenz des Kürzels LFH mit den Worten: „Das, das ist von einer Seite von äh, von einem lycée“ (Z. 229) erläutert wurde, geht Thomas sofort zum ersten Programmpunkt der Karnevalsaktivitäten über: LA FÊTE DE CARNAVAL DU LFH EUGÈNE DELACROIX SAMEDI 6 FÉVRIER 2010 273 Football und Vriendschap en sportiviteit kennen geen grenzen; vgl. Abschnitt III 2.2. 274 http: / / www.ape-lfh.net/ spip.php? article78 (05.02.10). 275 Bei unterschiedlichen Textsorten zu einem Thema können deren Spezifika vermutlich besser herausgearbeitet werden, was die Texterschließung erleichtern kann. So wird „im Rahmen von Lesestrategien der Einsatz von Wissen über Textmuster und -strukturen gefördert, um die allgemeine Lesekompetenz zu verbessern“ (Schmidt 2010: 175; vgl. auch Abschnitt I 2.6). An dieser Stelle sei auch an Thomas’ Hinweis im Kontext der Texte: Voetbal und Vriendschap en sportiviteit kennen geen grenzen: „Ist ja eigentlich wie so ein Bericht und das ist ja immer in der Vergangenheit.“ (TR 2, Z. 265-266; Abschnitt III 2.2) erinnert. 276 LFH = lyćee français-hellénique. <?page no="302"?> 288 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven De 17h à 24h Des concerts de musique rock Une soirée Dj pour les collégiens Puis pour les lycéens jusqu’à minuit Ob er die Angabe des Datums und der Uhrzeit übergeht, weil er samedi und février nicht entschlüsseln kann (was m.E. unwahrscheinlich ist) oder gerade weil er deren Bedeutung aufgrund der Ziffern für offensichtlich hält, kann nicht gesagt werden. Am wahrscheinlichsten ist jedoch die Annahme, dass er sich sofort dem Angebot: Des concerts de musique rock widmet, weil er hierzu etwas zu sagen hat oder genauer: eine metasprachliche Stellungnahme abgeben möchte (Z. 230-240): T.: Ja. So ein (...) - Das kann man doch gar nicht übersetzen. Das gibt es ja gar nicht im Deutschen. So die Mehrzahl vom unbestimmten Artikel. L.: Ja. Gut. T.: Das kann man doch gar nicht übersetzen. L.: Gut. T.: Ah so, okay. L.: Was, ja, genau, was, wie würde man es denn da sagen, wenn dich jetzt jemand fragt? T.: Konzerte, Konzerte, Konzerte. L.: Genau, was wird, was findet … T.: Einfach nur Konzerte. Man sagt nicht die Konzerte, das wäre ja dann les. Thomas’ Bedürfnis, sich hier auf metasprachlicher Ebene zu äußern, wird auch in dessen Stellungnahme zum bestimmten Artikel deutlich, eine Zusatzinformation, die für eine angemessene Übertragung der im Text angebotenen Karnevalsaktivität nicht notwendig ist. Ihm gelingt es auch, den Ausdruck concerts de musique rock in die im Deutschen angemessene Form eines Wortkompositums zu verwandeln (Z. 243-245): L.: Und wenn du das jetzt das de musique rock, ne, weil ist ja auch von Interesse, was für eine Art von Musik das ist. T.: Ja, Rockmusik. Rockmusikkonzerte. Die Tatsache, dass er nicht beispielsweise nur mit „Rock“ oder „Konzerte mit Rockmusik“ antwortet, sondern gleich alle drei Elemente, concerts, musique und rock, in eine dem deutschen Sprachgebrauch entsprechende Form bringt, zeigt, dass er verstanden hat, dass sich die französische und deutsche Sprache im Falle von Komposita unterscheiden. Dies erinnert auch an seine von sich aus geäußerte metasprachliche Stellungnahme zum Eigennamen Rhénanie du Nord-Westphalie aus der Interkomprehensionsstunde zuvor: „Nordrhein- Westfalen, dieses Rhein-Nordwestfalen steht da ja eigentlich wörtlich übersetzt, oder? “ (TR 8, Z. 243-244; Abschnitt III 2.7). <?page no="303"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 289 Bei der Aktivität: Une soirée DJ pour les collégiens kommt es zu folgendem Dialog (Z. 250-259): T.: Ein DJ für die Schule? L.: Ja, wenn äh das, das hattet ihr doch bestimmt auch. T.: Collège, ja. L.: Genau, ne. T.: Schule. L.: Und was, was ist denn collégiens, was könnte das dann heißen? T.: Nein, Schüler heißt ja nicht - weiß nicht. L.: Doch aber, ne, das ist damit gemeint, ne. T.: Das soll Schüler heißen? L.: Ja, also eben die Schüler auf dem collège, ne. Die Tatsache, dass Thomas hier collégiens mit „Schule“ übersetzt, ist m.E. an dieser Stelle nicht auf eine Ungenauigkeit bzw. Unkonzentriertheit zurückzuführen wie zu Beginn der Erschließung des englischen Textes, da er seine Übertragung mit „für die Schule? “ als eine Frage formuliert (Z. 250). Auch die Tatsache, dass er auf Anhieb das französische Wort collège angeben kann, deutet darauf hin. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass ihm der Unterschied zwischen collège und collégiens zunächst nicht aufgefallen ist, seine Schwierigkeiten sind jedoch vermutlich darauf zurückzuführen, dass: ihm einerseits das Suffix -ien zur Markierung einer Person bzw. eines (im weitesten Sinne) Berufs (vgl. chirurgien, mécanicien etc.) im Gegensatz beispielsweise zum Suffix -eur in le professeur nicht bekannt ist; andererseits ist ihm jedoch das Wort für „Schüler“ bekannt (élève) 277 . Interessant ist hier insbesondere die Beobachtung, dass er das Wort élève in dieser Situation zwar nicht für die Sprachproduktion abrufen, es jedoch in seinem mentalen Lexikon so weit aktivieren kann, dass er es auch aufgrund der großen formalen Differenz zwischen élève und collégien als Übertragungsmöglichkeit ausschließen kann: „Nein, Schüler heißt ja nicht ...“ (Z. 256). Bei der nächsten Zeile, puis pour les lycéens jusqu´à minuit, erhält Thomas eine Hilfestellung, da er im Gegensatz zum collégien noch nicht im Alter eines französischen lycéen ist und es daher unwahrscheinlich ist, dass er das Wort kennt. Es gelingt ihm auch nicht, in minuit das Nomen nuit zu erkennen, er nimmt aber aufgrund des Kound/ oder Kontextes wahr, dass es etwas mit Zeit zu tun haben muss und fragt (wohl auch angesichts der formalen Ähnlichkeit): „Heißt das Minute? “ (Z. 282). 277 Thomas hatte zwei Sitzungen zuvor erzählt, dass gerade das Thema „Schule“ behandelt werde (TR7, Z. 9). Die Vokabelgesamtliste des von ihm verwendeten Lehrbuchs À plus! 1. (Bächle et al. 2004) enthält die Wörter „élève“ und „collège“, nicht jedoch „collégien“. <?page no="304"?> 290 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven DIMANCHE 7 FÉVRIER 2010: Auch im Folgenden orientiert sich Thomas stark an Ähnlichkeiten auf der Sprachoberfläche und schlägt für dimanche „Dienstag“ vor, eine Überlegung, die er jedoch selbst sofort wieder verwirft: „Der 17. 278 Februar, Dienstag? Heißt das Dienstag? Nein, ist doch nicht Dienstag, oder? “ (Z. 289-290). Dass er überhaupt auf den Vorschlag „Dienstag“ gekommen ist, könnte auch ein Ausstrahlungseffekt des vorangegangenen Textes sein, in dem vom Shrove Tuesday die Rede war. In diesem Fall ist dies jedoch insofern unwahrscheinlich, als Thomas’ erste und sofort wieder zurückgenommene Hypothese „Dienstag“ hier aufgrund der formalen Ähnlichkeit am Wortanfang sehr verleitend ist. Hinzu kommt, dass der Sonntag bekanntlich der (einzige) Tag in der Karnevalswoche ist, an dem in der Tat kaum etwas stattfindet, so dass die tatsächliche Bedeutung von dimanche hier am wenigsten nahe liegt. Diesen Sachverhalt deutet er im Folgenden, allerdings ohne Bezugnahme auf den Wochentag, auch an: „Der 7. Februar. … Da war doch nichts Besonderes, oder? “ (Z. 296). Thomas kommt schließlich zu dem Ergebnis, dass dimanche „Sonntag“ bedeutet, indem er sich durch Nachfragen vergewissert: „Ist das irgendein Wochentag? “ (Z. 298) und diesen schließlich anhand des Datums ausrechnet: „Sonntag, der 7. Februar 2010.“ (Z. 303) 279 . Für die zwei folgenden Programmpunkte: Une kermesse Des spectacles pour petits et grands ergibt sich folgender Dialog (Z. 305-317): T.: Eine Messe. L.: Mhm. T.: Die … L.: Ich weiß nicht, Kirmes, sagt man das hier auch, oder? T.: Kirmes. Stimmt, ja, sagt man (…). L.: Mhm. T.: Ja. Kirmes, das, die Spektakel, das Spekta-, Spektakel. 278 Im Text steht DIMANCHE 7 FÉVRIER. 279 Im Nachhinein ist die Auswahl des französischen Textes in zweierlei Hinsicht zu kritisieren: Einerseits hätte - auch wenn Thomas eine Gesamtschule besucht - eine französische Schule gewählt werden sollen, die nur von collégiens, also nur von Schülern in seinem Alter besucht wird (vgl. die Anmerkung zu lycéens oben). Andererseits ist es schade, dass an der gewählten Schule die Karnevalsaktivitäten bereits so früh (am 6. und 7. Februar 2010) stattfanden und nicht - wie diese Interkomprehensionsstunde - beispielsweise am Karnevalsdienstag (16. Februar 2010). Hierdurch haben sich die interlingual transparenten Ziffern im Text weniger verstehenserleichternd ausgewirkt, sondern haben vermutlich sogar im Gegenteil eher für Verwirrung gesorgt (vgl. auch das Zitat: „Der 17. Februar, Dienstag? “ oben). <?page no="305"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 291 L.: Mhm. T.: Einfach nur Spektakel für, heißt grand nicht groß? L.: Ja, genau. T.: Für Klein und Groß. L.: Ja, genau. T.: Für Jung und Alt Zunächst verwundert es, dass Thomas das Wort kermesse dekomponiert und mit „Messe“ überträgt, einerseits aufgrund der großen interlingualen Ähnlichkeit von kermesse und „Kirmes“ und andererseits weil eine Messe eher zu anderen Feiern wie beispielsweise Weihnachten passt, also kontextuell weniger in Frage kommt. Die Frage in Zeile 308 nach dem Wort „Kirmes“ ist allerdings nicht als eine Hilfestellung im Sinne des dialogue pédagogique zu verstehen, sondern vielmehr auf eigene Unsicherheiten im regionalen Sprachgebrauch zurückzuführen. Diese wurden dadurch ausgelöst, dass Thomas die Übertragung „Kirmes“ nicht vorgeschlagen hatte. (So hatte mir eine Kollegin mitgeteilt, dass man anstelle des mir geläufigen Begriffs „Jahrmarkt“ am Ort, wo die hier analysierten Daten erhoben wurden, auch das Wort „Kerb“ verwende.) Für das Textstück: des spectacles pour petits et grands zeigt Thomas gute Interkomprehensionsleistungen: Bei der Übertragung von des spectacles korrigiert er sich zweimal selbst: Zunächst erkennt er den Plural und ändert entsprechend den deutschen Artikel: „das, die Spektakel“ (Z. 311). Im Folgenden bemerkt er den unbestimmten Artikel im Französischen, korrigiert sich ein zweites Mal und fügt erneut (wenn auch hier weniger explizit; vgl. „Das kann man doch gar nicht übersetzen. Das gibt es ja gar nicht im Deutschen. So die Mehrzahl vom unbestimmten Artikel.“ Z. 230-231 oben) eine metasprachliche Erläuterung hinzu: „Einfach nur Spektakel“ (Z. 313). Er scheint die gänzliche Auslassung des französischen Artikels im Ausdruck: pour petits et grands mehr oder weniger bewusst wahrzunehmen und schlägt daher „Für Klein und Groß“ (Z. 315) und nicht beispielsweise „für die Kleinen und Großen“ vor. Er ändert seine Übertragung „für Klein und Groß“ in die im deutschen Sprachgebrauch üblichere Wendung: „Für Jung und Alt“ (Z. 317). Die Bewusstheit über interlinguale Unterschiede im Sprachgebrauch, die Thomas hier zeigt, ist eine wichtige Voraussetzung für das Lernen von Kollokationen 280 . Diese wiederum sind bekanntlich grundlegend wichtig für das Fremdsprachenlernen oder, wie Hausmann es bereits 1984 formulierte: „Wortschatzlernen ist Kollokationslernen“. 280 Vgl. auch die Übersicht von Mehrwortverbindungen in Rössler (2011: 58). <?page no="306"?> 292 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Des stands de cuisine du monde: Bei dieser Karnevalsaktivität gelingt Thomas die Entschlüsselung von des stands (Z. 317-321): T.: Ähm - Stande oder so was, diese Stände. L.: Stände, ne, ja, genau. T.: Ja. Ähm von sieben - nein. Ähm, von - heißt das Mond, oder? L.: Nee. T.: Nee, heißt es nicht. - Dann weiß ich nicht. Da er das französische Wort monde noch nicht kennt (und wohl auch nicht die deutsche Transferbasis „mondän“), orientiert er sich hier an Ähnlichkeiten auf der sprachlichen Oberfläche und schlägt daher „Mond“ vor. Es ist einzuräumen, dass Thomas hier aufgrund der schwachen kotextuellen Einbettung von des stands de cuisine du monde, verglichen beispielsweise mit einem Fließtext, in dem viele verschiedene Länder und somit interlingual transparentere Eigennamen genannt werden, kaum eine andere Wahl hat als interlingual vorzugehen. Auch zusätzliches Bildmaterial, wie etwa ein Foto von einem Stand mit internationalen Gerichten, hätte hier eine Hilfestellung bedeuten können. Bei dem Textstück des stands de cuisine du monde hätte die Bedeutung „Welt“ allenfalls ko(n)textuell auf der Grundlage von des stands de cuisine und Weltwissen erraten werden können, da Thomas aber auch das Wort cuisine noch nicht kannte, war ihm das nicht möglich. So verteidigt er ähnlich wie beim niederländischen vijf (TR 2, Z. 250; Abschnitt III 2.2) auch hier seine Hypothese, indem er explizit auf die interlinguale Ähnlichkeit verweist: „Das sieht irgendwie so aus wie Mond, aber nicht wie Welt“ (Z. 330). Exkurs: zum „Wörterpuzzle“ und „Wörterpuzzle Sprachfamilien“: An dieser Stelle hätte sich sehr gut die Übung der Zuordnung von Wörtern zu Sprachen und vor allem: Sprachfamilien anschließen können, die am niedersächsischen Gymnasium in den Klassen 6 und 7-N/ M am Beispiel von Tierbegriffen eingesetzt wurde (vgl. Abschnitt III 3.2 und 3.3): Germanische Sprachfamilie Romanische Sprachfamilie Slawische Sprachfamile Niederländisch Englisch Französisch Italienisch Polnisch slang snake serpent serpente wąż vis fish poisson pesce ryba koe cow vache vacca krowa beer bear ours orso niedźwiadek aap ape singe scimmia maĨpa Tab. 12: Sprachfamilien I <?page no="307"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 293 Dies wäre ein Fall einer Interkomprehensionsübung, die nicht zur Vorbereitung einer komplexeren Aufgabe, sondern währenddessen zum Einsatz kommt in Abhängigkeit von lernerseitigem Vorwissen und dessen Fragen, wie es in Abschnitt III 2.5 im Zusammenhang mit der Abgrenzung der Begriffe „Aufgabe“ und „Übung“ im Rahmen der Interkomprehensionsdidaktik diskutiert wurde (Meißner et al. 2011b: 99). Die Tatsache, dass Thomas das französische Wort monde auf dt. „Mond“ zurückführt, dadurch zu erklären, dass ihm (in diesem Moment) nicht bewusst ist, dass es sich hier um eine andere Sprachfamilie handelt. Zudem wurde seine Aktivierung der vermeintlichen Transferbasis „Mond“ durch die Tatsache begünstigt, dass er französisch des stands soeben erfolgreich über dt. „Stand“ erschlossen hatte. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls das Aufgabenformat der lexikali schen Serien (vgl. Abschnitt III 2.5) zu diskutieren, wenn es in einer sprach familienübergreifenden Perspektive eingesetzt wird. So enthielt die Aufgabe des „Wörterpuzzles“ selbstverständlich ausschließlich englische Wörter aus jenen Wortschatzanteilen, die eine Transferbasis für romanische Sprachen (Französisch, Italienisch und Spanisch; vgl. ebd.) darstellen, denn sonst könn ten sie keine lexikalische Serie mit ihnen bilden. Der hier diskutierte Befund zu frz. monde deutet darauf hin, dass bei früher Interkomprehension in einer sprachfamilienübergreifenden Perspektive sowohl ein Wörterpuzzle zu Sprach familien als auch eines zu lexikalischen Serien, d.h. die Aufgabenformate in Kombination eingesetzt werden sollten, um Lerner für Unterschiede interlin gualer Tranferierbarkeit innerhalb von Sprachfamilien und über diese hinaus zu sensibilisieren. An dieser Stelle hätte sich entsprechend ein „Wörterpuzzle: Sprachfamilien“ zum Wortfeld „die Welt und die Himmelskörper“ angeboten: Germanische Sprachfamilie Romanische Sprachfamilie Slawische Sprachfamile Niederländisch Englisch Französisch Italienisch Polnisch maan moon lune luna księżyc wereld world monde mondo świat aarde earth terre terra ziemia … Tab. 13: Sprachfamilien II Une loterie Concours des meilleurs costumes Bei diesen letzten beiden Programmpunkten der Karnevalsaktivitäten bereitet Thomas lediglich das Wort concours Schwierigkeiten (Z. 338-339): <?page no="308"?> 294 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven T.: Eine Lotterie. Ähm - was heißt concours? Irgendwie, irgendwas so mit Kostümen, oder? Während die Erschließung von frz. une loterie nicht überraschend ist, ist es erwähnenswert, dass er trotz der französisch-deutschen Abweichungen in der Schreibwiese des [k]-Lautes, die nicht explizit angesprochen worden waren, auf Anhieb in costumes das deutsche Wort „Kostüm“ erkennt. Das Lexem concours kann sich Thomas jedoch nicht herleiten. Nachdem ihm die Bedeutung genannt wird, ist er dann auch in der Lage, für meilleurs eine zwar nicht wortgetreue, aber dem Kontext angemessene Übertragung zu finden, die auch morpho-syntaktisch als Superlativ dem französischen Text entspricht: „Ach, Wettbewerb für die schönste Verkleidung.“ (Z. 346). Chers parents, chers enfants, ... Für den Fall, dass noch Zeit zur Verfügung stehen sollte, war ein dritter Text vorbereitet worden, wiederum in französischer Sprache und über Karneval. Es handelt sich um einen „appel aux volontaires“, eine Bitte um Mithilfe bei der Karnevalsfeier von derselben Schule Eugène Delacroix 281 . Auf morphosyntaktischer (und auch lexikalischer) Ebene ist der Text äußerst anspruchsvoll (z.B. Partizipialkonstruktionen, Hypotaxe, Imperativ). Im lexikalischen Bereich lassen sich als Verständniserleichterung einerseits Begriffe aus den behandelten Karnevalsaktivitäten (spectacles, cuisine du monde), die Thomas (nun) bekannt sind, und andererseits Interlexeme mit englischen und/ oder deutschen Transferbasen (joie, animations, week-end, différentes communautés, spécialités) anführen. Angesichts der Komplexität des Textes und der Beobachtung, dass Thomas an diesem Tag, vor allem zu Beginn der Interkomprehensionsstunde, unkonzentrierter bzw. unmotivierter (vielleicht auch einfach nur müder) wirkte als sonst, wurde er gefragt (Z. 350-351): L.: Wenn, es geht noch weiter, wenn du Lust hast also. T.: Dann machen wir weiter. Interessant ist, dass er bei einem ersten flüchtigen Blick auf das französische Wort parents den Text für einen englischen Text hält 282 (Z. 355-358): T.: Das ist Englisch, das ist doch Englisch. Oh nee, ach so, stimmt. Ach nee, da ist noch, war jetzt (parents) sah so aus. L.: Ja. T.: Wie Englisch und auch France sah so aus wie Französisch. 281 http: / / www.ape-lfh.net/ spip.php? article78 (05.02.10). 282 Dass dies − also die vermeintliche Rückkehr zu seiner stärkeren Sprache Englisch − der oder ein Grund ist, dass er weitermachen möchte, kann insofern ausgeschlossen werden, als dieses Missverständnis erst im Anschluss an seine Antwort erfolgte. <?page no="309"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 295 Interessant an diesem Dialog ist, dass Thomas, nachdem er seinen ,Fehler‘ erkannt hat, von sich aus ein weiteres Beispiel für im Englischen und Französischen gleich geschriebene Wörter mit derselben Bedeutung angeben kann („France“). Da der Text das Wort France jedoch gar nicht enthält, muss ihm diese Gleichschreibung im Englischen und Französischen schon zuvor aufgefallen sein. In Bezug auf den Textabschnitt Chers parents, chers enfants, sagt Thomas schließlich: „Liebe Eltern und liebe Kinder, ähm, das ist ein Elternbrief.“ (Z. 361). Es ist bemerkenswert, dass er sofort aus eigener Initiative eine Bestimmung der Textsorte hinzufügt. So hatte Thomas im Zusammenhang mit dem nieder ländischsprachigen Bericht über das internationale Fußballturnier selbst auf diese Strategie zur Verständnishilfe hingewiesen (vgl. Abschnitt III 2.2), die er nun für seine zweite Fremdsprache anwendet. Auch hier zeigt sich eine deutliche Abweichung zu den Befunden aus der Untersuchung von Bär (2009), die zeigte, dass die jüngeren Schüler es häufig bei der Strategie des inter lingualen Transfers belassen und Möglichkeiten zur Texterschließung wie Überschriften und das Layout nicht nutzen (ebd.: 515; s. Abschnitt I 2.4). Nous avons la joie de nous réunir à nouveau pour notre 2 ème carnaval de l’École, où animations et spectacles rythmeront le week-end pour le plaisir des petits et des grands. : Nachdem der erste Satz gelesen wurde, versucht Thomas, ihm bekannte Wörter zu identifizieren (Z. 366-371): T.: Ja, also, liebe Eltern, liebe Kinder, äh, ach du meine Güte. Irgendwas mit neu und schön. L.: Mhm, ja. T.: Dem 2. Karneval. L.: Genau. T.: Was heißt où? Was heißt das? Oder? Oder, und? Oder was heißt das? Während sich die Übertragung „neu“ zweifelsohne auf nouveau im Ausdruck à nouveau bezieht, ist das Bezugswort von „schön“ weniger eindeutig. Bei der Zahlenangabe fällt ihm − ebenso wie beim niederländischen voor de 16e keer (vgl. Abschnitt III 2.2) − auf, dass es sich um eine Ordnungszahl handelt. Im Anschluss an die Disambiguierung von frz. où und ou fährt er fort: „Wo die Animationen und Spektakel - das Wochenende für die, ach du meine Güte - für die Kleinen und die Großen. Oder? Klein und Groß. Hm.“ (Z. 374-375). Wie aus der Übertragung hervorgeht, hat Thomas hier lediglich Schwierigkeiten mit dem Verb rythmeront (rythmer = „einem Rhythmus unterwerfen“) und dem Substantiv plaisir. In Bezug auf das Verb liegt die Schwierigkeit vermutlich weniger darin begründet, in rythmeront das deutsche Wort „Rhythmus“ zu erkennen, als <?page no="310"?> 296 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven vielmehr, es mit dem erschlossenen Objekt le week-end („das Wochenende“) zu einem Sinn zusammenzufügen. Zu frz. plaisir ist zu sagen, dass Thomas zwar den Ausdruck s’il-vous-plaît kennt, das darin enthaltene Wort aus derselben Wortfamilie (plaît) jedoch nicht als eine intralinguale Transferbasis nutzen kann, da er ihn vermutlich als eine Sprachformel (unanalysed chunk) kennen gelernt hat 283 . In Bezug auf das im Hauptsatz nicht übertragene de l’École sagt Thomas: „Ja, das hatten wir schon. Aber ich habe es vergessen.“ (Z. 388). Diese Äuße rung ist insbesondere vor dem Hintergrund der oben geführten Diskussion der Wörter collégien und élève interessant. An jener Stelle konnte er zwar das Wort élève nicht in produktiver Weise aktivieren, hatte jedoch auf dessen Grundlage „Schüler“ als Bedeutung von collégiens ausgeschlossen. Auch hier weiß er, dass er das Wort école kennt, kann dessen Bedeutung jedoch nicht abrufen. Bei einer erneuten Betrachtung des Nebensatzes où animations et spectacles rythmeront le week-end pour le plaisir des petits et des grands ergibt sich folgender Dialog (Z. 408-412): T.: Wo Animationen und Spektakel was heißt dieses rythmeront, hat das irgendwas mit Rhythmus zu tun oder so? L.: Ja, genau. Genau. T.: Ähm, nacheinander oder so was. Ähm, äh, jedes Wochenende oder so was. Das Wochenende und für - die - was heißt dieses plaisir? Wie aus Thomas’ Äußerungen hervorgeht, gelingt es ihm nicht ‚nur‘, eine interlinguale Transferbasis zu rythmeront zu finden, sondern erstaunlicherweise ebenfalls, das Wort „Rhythmus“ in seiner Bedeutung in den Kontext zu integrieren: „Animationen und Spektakel ... nacheinander oder so was.“, was (bis auf die Äußerung „jedes Wochenende“) der Aussage des französischen Textes schon recht nahe kommt. Auf der Grundlage des ersten Wortes des Satzes (nous) kommt im Fol genden ein etwas längerer Dialog über Personalpronomen im Französischen zustande. Thomas berichtet, dass er die Personalpronomen im Singular, jedoch noch nicht im Plural kenne. Nach einer Zusammenfassung der Personalprono men im Singular zeigt Thomas insofern sprachliches Interesse, als er alle Personalpronomen im Plural wissen möchte, d.h. auch jene, die im Text gar nicht vorkommen (Z. 417-427): L.: Je - tu. T. : Äh il. L.: Mhm. T.: Und elle oder wie das heißt. 283 Zur Frage des Umgangs mit unanalysed chunks im Anfangsunterricht vgl. auch Butzkamms „Theorie des Doppelverstehens“ (2007: 163ff.) und Schmid-Schönbein (2008: 66); vgl. Abschnitt I 2.1. und s.o. zu is called im Englischen. <?page no="311"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 297 L.: Ah ja. T.: Also das weibliche. L.: Mhm, genau. Und das nous wäre halt dann das, was danach kommt, ne, wir, nous. T.: Und ihr? L.: Ganz ähnlich. Vous. T.: Sie? Erstaunlich ist im Folgenden, dass Thomas, nachdem er erfahren hat, dass ils die Pluralform zu il und elles zu elle ist, von sich aus bemerkt, dass hiermit noch nicht die Frage gelöst ist, wie bei gemischten Geschlechtergruppen verfahren wird. Er erläutert seine metasprachliche Beobachtung, indem er auf das polyseme Pronomen „sie“ im Deutschen Bezug nimmt (Z. 444-447): T.: Ja, ja. Schau, schau sie an, das Mädchen. Oder schau sie an, die Jungen, die da vorne stehen. Wir sagen ja nicht irgendwie jetzt: Schau sie an. Dann weiß man ja nicht, ob es jetzt Junge oder Mädchen sind. Oder ob es beides ist. Was, wenn es beides ist? Zwar verwendet er in seiner Erläuterung das Objektpronomen „sie“, doch ändert dies nichts an der Richtigkeit seiner metasprachlichen Feststellung, zumal das Personalpronomen in Subjektfunktion sowohl für „die Mädchen“ als auch für „die Jungen“ ebenfalls „sie“ lautet. Dieses Beispiel macht deutlich, dass um das Thema grammatischer Terminologie erneut aufzugreifen auch junge Lerner ihre Beobachtungen (durch sprachliche Beispiele) ausdrücken können, auch wenn sie (noch) nicht über die entsprechenden metasprachlichen Begriffe verfügen. Nous nous régalerons avec les diverses cuisines du monde proposées par les différentes communautés présentes au LFH et partagerons les spécialités culinaires apportées par chacun.: Bei diesem (insbesondere durch die Partizipialkonstruktion) syntaktisch und auch lexikalisch komplexen zweiten Satz wird Thomas’ Aufmerksamkeit auf den Abschnitt les diverses cuisines du monde gelenkt (Z. 461-466): L.: Ähm, wir können ja vielleicht hier nochmal hingucken, les diverses cuisines du monde, was war das nochmal? Weißt du es noch? T.: Das waren ähm - die Welt. L.: Genau. T.: Die verschiedenen, diverse, also diverse oder, also im Deutschen irgendwie, diverse, gibt es das? Wie aus dem Dialog hervorgeht, erinnert sich Thomas an die Bedeutung von monde (und im Folgenden ebenfalls von cuisines, was er auch als Plural überträgt: „Küchen“ (Z. 468)). Darüber hinaus gelingt es ihm, für das Adjektiv diverses eine interlinguale Transferbasis aus dem Deutschen zu aktivieren. Er ist <?page no="312"?> 298 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven sich aber nicht sicher, ob dieses Wort in der deutschen Sprache existiert: „diverse, gibt es das? “ (Z. 465-466). Interessanterweise hat Thomas jedoch bereits vor dieser Frage die Bedeutung von frz. diverses mit „die verschiedenen“ (s. Z. 465) angegeben. Ähnlich wie bei nl. successen in der fünften Interkomprehensionsstunde („Erfolg […] das heißt irgend so ein englisches Wort, hier gibt es auch in Englisch“; TR 5, Z. 304, 309; vgl. Abschnitt III 2.4) kann er auch hier die Bedeutung des französischen Wortes diverses angeben, ohne die genaue - in diesem Fall deutschsprachliche - Transferbasis nennen zu können. Hinzu kommt, abweichend vom Beispiel der englischen Transferbasis success, dass er sich hier nicht sicher ist, ob das Wort im Deutschen überhaupt existiert („gibt es das? “). Dies ist wiederum ein Beispiel für das Potenzial der Interkomprehensionsdidaktik, Wissen in zuvor gelernten bzw. erworbenen Sprachen zu generieren und zu festigen (retroaktiver Transfer). Im Anschluss wird der Beginn des Satzes betrachtet (Nous nous régalerons …). Thomas zeigt wiederum sprachliche Neugier, indem er fragt: „Aber warum ist jetzt zweimal wir? “ (Z. 473). Bereits während des Erklärungsversuchs stellt er eine weitere Frage: „Warum heißt das auf einmal uns, warum heißt das nicht wir? “ (Z. 476). Zusätzlich zu dem Vorgehen, ein interlingual auf Sprach oberfläche transparentes reflexives Verb (s’amuser) heranzuziehen (Z. 479), hätte in den Erläuterungen hier an die eigenen Erklärungen des Lerners dazu, dass ein und dasselbe Pronomen in einer Sprache für Unterschiedliches stehen kann (am Beispiel von dt. „sie“; s. Z. 444-447; s.o.), angeknüpft werden müssen. Wie Thomas nous nous régalerons übertragen hat, lässt sich im Nachhinein aufgrund einer Störung in der Aufnahme nicht mehr sagen, doch wurde in der Interkomprehensionsstunde sein Vorschlag akzeptiert (Z. 483-488): T.: Mit. Wir lassen uns mit den verschiedenen Küchen der Welt ähm (…). L.: Ja. Warum nicht, so kann man es auch sagen. T.: Und die unterschiedlichen irgendwas präsentieren unsere LFH, was ist denn LFH? L.: Das ist, das ist das Kürzel der, der Schule. T.: Ach so. Okay, LFH. Wie das Zitat zeigt, erkennt er im Textstück les différentes communautés présentes au LFH frz. différentes („unterschiedlichen“; Z. 485), was er vermutlich über die englische Transferbasis different hergeleitet hat. Dies muss jedoch Spekulation bleiben, da er sich hierzu nicht explizit äußert. Bei communautés hingegen stößt er an seine Grenzen, da er wahrscheinlich das englische Wort community noch nicht kennt oder nicht abrufen kann. Stattdessen verwendet er wie schon häufiger bei ihm opaken Wörtern einen Platzhalter: „irgendwas“. Für das Syntagma présentes au LFH schlägt Thomas für présentes hier „präsentieren“ vor. Es kann sein, dass er das Adjektiv „präsent“ noch nicht kennt. Auf semantischer Ebene handelt es sich dennoch um eine intelligente Hypothese, da das Wort „präsentieren“ sehr gut in den Zusammenhang der <?page no="313"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 299 Karnevalsveranstaltung passt, in dessen Rahmen ja in der Tat internationale Küche „präsentiert“ wird. Was diesen zweiten Satz anbetrifft, gelingt Thomas schließlich noch die Entschlüsselung von spécialités culinaires: „Spezialitäten, kulinarischen“ (Z. 497). Im Folgenden nimmt er von sich aus auf die Textpassage: le document cijoint „appel aux volontaires“ Bezug (Z. 512-515): T.: Da stand irgendwie Doku- L.: Ah, ach so, äh … T.: Weil das so in Anführungszeichen ist, irgendwie ein Programm von Apple oder so was? Thomas hat das Wort document erkannt (geht man davon aus, dass der Wortanfang „Doku-“ ohne die Unterbrechung mit „-ment“ weitergegangen wäre) und ihm ist das appel aufgefallen. Da es in Anführungszeichen steht, vermutet er einen Eigennamen und genauer: „ein Programm von Apple“ 284 . Als Thomas erfährt, dass mit appel ein „Aufruf“ (Z. 518) gemeint sei, ist er sofort in der Lage, das Wort zu einem Ausdruck aus derselben Wortfamilie, der ihm bekannt ist, je m’appelle, in Beziehung zu setzen und erläutert hierzu (Z. 522- 526): T.: Ach so, weil (ich dachte das) dieses apple wie im Englischen. Also normalerweise schreibt man ja immer hier nur dieses dann - je. L.: Ja. T.: Je m’appelle ähm, und deswegen kam es jetzt halt, weil dann ist ja jetzt dieses appel und dann kommt hier ein L E dran. Dass er sich bei diesen metasprachlichen Erläuterungen anders als beim Programm Apple nicht allein auf Ähnlichkeiten auf sprachlicher Oberfläche bezieht, zeigt sich darin, dass Thomas nicht allein weiß, dass je m’appelle „ich heiße“ bedeutet, sondern den Ausdruck auch in seine einzelnen Bestandteile zerlegen kann: „Ich rufe mich mit“ (Z. 537). Die Tatsache, dass er Wissen über die Struktur der Formel je m’appelle besitzt und es ihm daher möglich ist, Bestandteile hieraus zu isolieren (appelle) und zu anderen Lexemen (appel) in Beziehung zu setzen, d.h. diese produktiv für sein Lernen zu nutzen, spricht für Butzkamms (2007: 163ff.) „Theorie des Doppelverstehens“ (vgl. Abschnitt I 2.1 und s.o.). In diesem Zusammenhang sei an den englischen Satz this time is also called the „Fifth Season“ (s.o.) erinnert, bei dem Thomas nicht in der Lage war, den Ausdruck is ... called zu übertragen, d.h. hiermit nicht so flexibel umgehen 284 Dass Thomas die Anführungszeichen berücksichtigt, ist keineswegs selbstverständlich; vgl. auch hierzu das Ergebnis von Bär (2009: 515), demzufolge die jüngeren Schüler Hinweise wie Zeichensetzung oder Textmarkierungen kaum nutzen (vgl. Abschnitt I 2.4). <?page no="314"?> 300 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven konnte wie mit dem französischen je m’ appelle, obwohl er Englisch fast drei Jahre länger lernt (vgl. „ist call nicht anrufen? “ (Z. 193). Zusammenfassung wichtiger Befunde: Thomas passt einen wörtlich entschlüsselten französischen Ausdruck („für Klein und Groß“) von sich aus dem deutschen Sprachgebrauch an („für Jung und Alt“), was auch als eine Voraussetzung für Kollokationsbewusstheit (Hausmann 1984; Rössler 2011) interpretiert wurde. Er entschlüsselt ein opakes französisches Wort (des meilleurs costumes) durch Ko- und Kontext-Analyse sowohl semantisch als auch auf morphosyntaktischer Ebene als einen Superlativ („schönsten“). Bei französisch: rythmer, das im Deutschen als Verbform keine Entsprechung hat, aktiviert Thomas nicht allein die Transferbasis „Rhythmus“, sondern semantisiert das Verb in seiner ko- und kontextuellen Einbettung (animations et spectacles rythmeront le week-end). Er erkennt, dass es kein Substantiv ist, was auch als ein didaktischer Transfer aus dem Niederländischen (vgl. voetbalden; Abschnitt III 2.2) bezeichnet werden kann. Thomas plant und kontrolliert explizit seine Sprachhandlungen, indem er ein fremdsprachiges Textstück im Vorfeld und präzise dahingehend analysiert, wo seine eigenen Lakunen sind („ich brauche nur dieses held.“). Er zieht die Strategie‚ Wissen über Textsorten für das Textverständnis einzusetzen, heran (vgl. Abschnitt III 2.2 zum Niederländischen) und wendet sie (aus eigener Initiative) auf seine neue zweite Fremdsprache Französisch an. Nachdem Thomas die Personalpronomen ils und elles in ihrem Genus und ihrer Numerusmarkierung kennen gelernt hat, erkennt er von sich aus die Notwendigkeit nach weiterer Disambiguierung (die Frage der Wahl des Personalpronomens bei gemischten Geschlechtergruppen). Es muss eingeräumt werden, dass (insbesondere) der französischsprachige Brief sprachlich äußerst anspruchsvoll ist. Doch konnte gezeigt werden, dass Thomas trotz seiner zweifachen Äußerung „auch du meine Güte“ bei der Lektüre des ersten Satzes (Z. 366 u. 374; s.o.) hierdurch nicht entmutigt wurde, sondern der Text im Gegenteil eher sprachliche Neugier weckte. Dass er offenbar nicht durch die Komplexität des Textes gehemmt war, entspricht dem Gesamteindruck von Thomas’ Selbsteinschätzung im Französischen verglichen mit dem Englischen. In diesem Zusammenhang sei an seine Stellungnahme: „in ein paar Jahren werde ich es wahrscheinlich dann auch in Französisch verstehen, nur, nur Englisch habe ich ja jetzt schon seit der dritten Klasse“ (TR 4, Z. 373-376; Abschnitt III 2.3) und die Selbstevaluation seines Wortschatzes im Kontext der Texte Giessen and Hesse − Giessen et la Hesse (Abschnitt III 2.7) erinnert. Auch bei letzterer wirkten seine Äußerungen weniger wie eine geringe Einschätzung der eigenen Kompetenz im Französischen bzw. jener, Franzö- <?page no="315"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 301 sisch lernen zu können, im Sinne motivationer Interferenz als vielmehr wie eine faktische Feststellung der Tatsache, dass sein (rezeptiver) Wortschatz in einer Sprache, die er fast 285 drei Jahre länger lernt, selbstverständlich größer ist. Dennoch muss an dieser Stelle, gerade weil es sich bei der hier dokumentierten Longitudinalstudie um eine Einzelfallanalyse handelt, darauf hingewiesen werden, dass, je nach Lerner(gruppe) und den sprachlichen und motivationalen Voraussetzungen, abzuwägen ist, wo vermutlich die Grenze des Machbaren und einer möglichen Frustration liegt. Auch sei an das „kritische Schwellenniveau“ interkomprehensiver Texte erinnert, das „sowohl die Form- oder Signifikantenebene als auch die von Inhalt und Weltwissen [betrifft], was gerade im Hinblick auf junge Lernende zu beachten ist.“ (Meißner 2008a: 38; vgl. Abschnitt I 2.6). Doch konnten Beispiele wie das oben angeführte zu frz. ils und elles sowie weitere Fragen von Thomas (z.B. zu nous und appel; s.o.), die durch diesen Text ausgelöst wurden, zeigen, dass auch sehr anspruchsvolles Material lernerseitiges Interesse wecken kann. Darüber hinaus wurde deutlich (vgl. das Beispiel zum Verb rythmer), zu welchen sprachlichen Analyseprozessen auch junge Lerner im Anfangsunterricht in der Lage sind. 2.9 Die zehnte Interkomprehensionsstunde: Une maison à la campagne Zum Textmaterial: In dieser Interkomprehensionsstunde wurde ein französischer Text eingesetzt. Er handelt von einem Mädchen mit Namen Charlotte Brevet, die einer Freundlin aus Paris das Haus zeigt, in dem sie wohnt. Charlottes Äußerungen, die nur durch kurze Redebeiträge ihrer Gesprächspartnerin unterbrochen werden, lassen sich inhaltlich grob durch die Überschriften: „eine Führung durch das Erdgeschoss“, „eine Führung durch die erste Etage“ und eine Stellungnahme über „das Leben in Paris und das Leben auf dem Land“ strukturieren. Der Text entstammt einem Lehrwerk für das Niveau A1 (Couleurs de France 1; Verger et al. 2006: 186): Alors, au rez-de-chaussée, il y a bien sûr la cuisine, … Et puis là, c’est le salon et la salle à manger avec une porte-fenêtre pour aller dans le jardin. On peut manger sur la terrasse, c’est super sympa. Là, c’est le bureau de papa 286 , et à côté le bureau de maman, parce qu’ils travaillent à la maison, tu sais? Il y a aussi une 285 Die Einschränkung „fast“ bezieht sich auf den ,Schnupperkurs‘ Französisch im zweiten Halbjahr des fünften Schuljahres, so dass korrekterweise eigentlich von zweieinhalb Jahren gesprochen werden müsste. 286 Gemeint ist hier bureau in der Bedeutung von „Büro“, nicht von „Schreibtisch“ (Verger et al. 2006: 91). <?page no="316"?> 302 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven petite chambre d’amis … tu dors là. C’est mignon, hein? Viens, on va au premier étage. … C’est les chambres, ici. La porte, là, c’est la chambre de mes parents. - Qu’est-ce qu’il y a, là ? Là, c’est la douche. Mais il y a aussi une salle de bain au rez-de-chaussée. C’est pratique, le matin. Regarde, ça, c’est ma chambre, pour moi toute seule. C’est génial, non ? Je peux écouter de la musique, lire, téléphoner. J’ai même un ordinateur pour moi. Tu aimes ma chambre ? - Oui, c’est très joli, mais… Charlotte… ça te plaît d’habiter à la campagne ? Bof, c’est vrai, des fois, je voudrais bien être à Paris, … les cinémas, et surtout les copines, ça me manque. Mais ici, à la campagne, j’ai ma chambre, je peux faire du vélo, du roller. Oui, finalement, c’est pas mal. Bei diesem Text wurde der Lektüre eine kurze Hörverstehensphase vorgeschaltet. Ziel war, zu ermitteln, ob Thomas ein Grobverstehen im Sinne einer „Klärung von Fragen wie: Wer spricht? Welche Textsorte? Zu wem? (Grob) worüber? “ (Meißner 2010b: 81) anhand „einiger weniger identifizierter ‚Inseln‘“ (ebd.) gelingt. Analyse der Interkomprehensionsstunde (9. März 2010): Zunächst wurde der Text im Ganzen angehört. Thomas gelingt es, bereits beim ersten Hören die Wörter fenêtre und ordinateur zu identifizieren; auch den Ausdruck il y a hört er heraus und kann diesen auch auf Französisch wiedergeben. Im Folgenden wird der Hörtext in Abschnitten vorgespielt. Schon nach dem ersten Abschnitt identifiziert Thomas ein weiteres Wort. Er ordnet es seiner deutschen Entsprechung zu (TR 10, Z. 59-62): T.: Das irgendwie jemand reinkommt und - dass - das war’s. … Irgend, auf, was drauf. Da war irgendwas mit sur, glaube ich. L.: Ja, genau, mhm. Sur la terrasse war da. T.: Ja, auf der Terrasse. Im Folgenden stellt Thomas eine Verknüpfung des Ausdrucks „auf der Terrasse“ mit dem bereits identifizierten Wort fenêtre her (Z. 67-73): T.: Ja. Und dann noch auf der Terrasse. L.: Mhm. T.: Aber (…) (Weil da ja auch noch ein Fenster da), (…) und - L.: Mhm. Also wie könnte man die Situation so insgesamt dann beschreiben, also jetzt von dem? T.: Also ich weiß jetzt nur von Terrasse, dass einer auf der Terrasse sitzt und der andere kommt dazu. <?page no="317"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 303 Eine solche bewusste Verknüpfung zweier demselben semantischen Feld angehörenden Lexeme bzw. zweier Lexeme in kontiguitiver Nähe (wo eine Terrasse ist, ist auch ein Fenster) ist eine wichtige Memorisierungsstrategie. Es ist an die Locitechnik oder das Mind-Mapping zu denken. Zwar stellt Thomas’ Beschreibung des situativen Kontextes (Z. 72-73) nur eine Annäherung an die Situation dar, doch zeigt er seine Fähigkeit, einige − wenn auch kleine − sprachliche Bausteine zusammenzufügen (Z. 77-83): AG 287 : Là, c’est le bureau de papa, et à côté le bureau de maman. T. : Also irgendwas mit dem Anzug von Papa und da ähm das Kleid von Mama oder so. L.: Nee, le bureau ist … T.: Ach so, im Büro von Papa (…), was stand da dabei? L.: Ähm, là, c’est le bureau de papa. T. : Nein, aber bei der Mutter, da war doch, war irgendwas hmhm der maman. Trotz der Nähe auf Signifikantenebene von frz. bureau und dt. „Büro“ erkennt Thomas die Adäquanz nicht, obwohl im Hörtext das Wort zweimal genannt wird. Wie im Falle von sur la terrasse zuvor ist Thomas auch bei le bureau sofort in der Lage, das deutsche Interlexem zu nennen, wenn die französische Adäquanz aus der chaîne parlée isoliert wiederholt wird (s. Z. 80), wie seine Unterbrechung in Zeile 81 zeigt. Dies spricht für die Notwendigkeit, bei sprachformbezogenem Hörverstehen, das echotische Gedächtnis nicht über sieben bis neun Silben hinaus zu belasten (vgl. Meißner 2006, 2010b). (Allerdings fokussiert diese Hörverstehensaufgabe, wie erwähnt, nicht auf sprachformbezogenem Hörverstehen.) Beim Syntagma au premier étage gelingt es Thomas, das Adjektiv premier zu identifizieren (Z. 96-105): T.: Was war davor, vor der Etage? Das Wort davor. L.: Premier étage. T.: (…) L.: Ja, genau. T.: Und premier, ist das nicht die erste? L.: Ja. Wie kommst du darauf? T.: Weil es ja auch zum Beispiel bei Filmen die Premiere gibt. L.: Mhm, genau, genau, ne. T.: Das ist auch der erste, also wo er zum ersten Mal gezeigt wird. Ist ja auch Premiere. Thomas ist auf Anhieb in der Lage, die Bedeutung von premier anzugeben (Z. 100). Aus seinen folgenden Ausführungen geht eindeutig hervor, wie er den Signifikanten premier auf Bedeutungsebene erschlossen hat: über das Fremdwort „Premiere“. Bei der Zusammenfassung des Garfield-Films und dem 287 AG = Abspielgerät. <?page no="318"?> 304 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Textstück: le premier film d’animation (vgl. Abschnitt III 2.3) war er ebenso vorgegangen. Dass es sich hierbei um einen didaktischen Transfer dieser Strategie der Aktivierung von Wissen über Fremdwörter − einschließlich eines Wechsels der Wortart − auf eine andere Textsorte handelt, geht aus Thomas’ Äußerungen eindeutig hervor: Während die Interkomprehensionsstunde zum Garfield-Film auch thematisch in das Sachfeld „Filme“ eingebettet war, aktiviert er das Fremdwort hier in bzw. für einen völlig anderen Kontext (die „erste Etage“ in einem Haus). Während Thomas zuvor ‚lediglich‘ angegeben hatte: „das ist ja, kommt ja auch von Premiere“ (TR 3, Z. 92), sind seine Erläuterungen hier sehr viel expliziter: „Weil es ja auch zum Beispiel bei Filmen die Premiere gibt.“; „wo er zum ersten Mal gezeigt wird. Ist ja auch Premiere.“ (Z. 104-105). Was diese beiden Punkte anbelangt, kann somit von einer Weiterentwicklung dieser Strategie gesprochen werden. Neben dem didaktischen Transfer wird auch deutlich, dass er auch das konkrete Sprachbeispiel in sein mentales Lexikon aufgenommen hat. Dies ist hilfreich für sein weiteres Französischlernen, wie beispielsweise die Verwendung der Ordnungszahl premier beim ersten Monatstag in der Angabe des Datums zeigt. C’est les chambres, ici. La porte, là, c’est la chambre de mes parents. Bei diesem Hörtextstück gelingt es Thomas nicht, Signifikanten zu identifizieren, er vermutet jedoch, dass jemand „die Treppe hoch“ (Z. 113) gehe. Hierbei nutzt er vermutlich die auf der Audio-CD zu hörenden Hintergrundgeräusche − eine für das globale Hörverstehen bekanntlich wichtige Strategie. Es ist jedoch auch denkbar, dass die vorangegangene adverbiale Ortbestimmung au premier étage hierbei zusätzlich eine Rolle gespielt hat. - Qu’est-ce qu’il y a, là ? Là, c’est la douche. Mais il y a aussi une salle de bain au rez-de-chaussée.: An dieser Stelle des Hörtextes, an der sich die zweite Person zu Wort meldet, erkennt Thomas den situativen Kontext (s.u.). Er unterbricht den Hörtext nach dem Dialog: Qu’est-ce qu’il ya, lá? − Là, c’est la douche. (Z. 119-122): AG: Qu’est-ce qu’il y a, là? - Là, c’est la douche. Mais il y a aussi … T.: Was - was gibt’s da? L.: Mhm. Genau. Und die Antwort. T.: Hm, das war die Dusche? ((lacht)) Thomas versucht im Folgenden, den erfassten situativen Kontext zu verbalisieren, und stellt auf der Grundlage seines Weltwissens eine weitere Hypothese <?page no="319"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 305 über den Textinhalt auf. Bei der Person, der das Haus gezeigt wird, könnte es sich um den neuen Freund der weiblichen Sprecherin handeln (Z. 128-131): T.: Ah, ah, ach so. Da kommt so eine und die zeigt ihm, ihr das Haus, ne? L.: Ja, genau, genau, ne, genau das ist die, die Situation, ne, da kommt eine und äh halt äh, die, die das meiste … T.: Und ihr neuer Freund oder so was hat (…). Diese Elaboration führt er im Folgenden fort (Z. 141-145): Regarde, ça, c’est ma chambre, pour moi toute seule. C’est génial, non ? Je peux écouter de la musique, lire, téléphoner. J’ai même un ordinateur pour moi. Tu aimes ma chambre ? : T.: Also das ist mein Zimmer. L.: Mhm. T.: Und dann (…) zeigt sie auf Sachen, die in ihrem Zimmer sind. L.: Ja. T.: Das ist das, das ist das, das ist das, das ist mein Computer und so weiter. Wie aus der korrekten Identifikation von c’est ma chambre hervorgeht, zieht Thomas hier keineswegs ausschließlich sein Weltwissen heran. Dennoch ist seine Hypothese (Z. 143) insofern auch eine Elaboration, als es sich um einen Hörtext und nicht Hörsehtext handelt und er daher selbstverständlich nicht wissen kann, ob die Person tatsächlich auf Gegenstände, die sich im Zimmer befinden, zeigt. Bei der Untermauerung seiner Hypothese, dass die Sachen im Zimmer gezeigt werden, geht Thomas datengeleitet vor und bezieht sich auf die im Hörtext identifizierten Elemente: c’est (vgl. "Das ist das, das ist das, das ist das, das ist ...") und ordinateur. Was die identifizierten Substantive ordinateur und chambre angeht, kann Thomas letzteres nicht mehr produktiv wiedergeben (Z. 151), ordinateur jedoch schon, was er auch aus eigener Initiative macht: „Und dann (…) war dann diese ordinateur.“ (Z. 157). Es ist hier jedoch auch durchaus möglich, dass er den französischen Signifikanten chambre beim Hörverstehen nicht als solchen identifiziert, sondern die Bedeutung: „das ist mein Zimmer“ aus einer Kombination von datengeleitetem (die Identifikation von c’est ma ...) und konzeptgeleitetem (das Wort „Zimmer“ ist in diesem Kontext plausibel) Vorgehen erschlossen hat. Hierfür spricht, dass er den französischen korrekten Possessivbegleiter ma durchaus produktiv wiedergeben kann: „Ma (mein - Zimmer)“ (Z. 151). Oui, c’est très joli, mais… Charlotte… ça te plaît d’habiter à la campagne ? : Bei diesem Textstück gelingt es Thomas, den Eigennamen zu identifizieren: „Die eine heißt, heißt Charlotte.“ (Z. 165). Bei erneutem Hören dieser Textpassage, nun um einen Satz (Bof, c’est vrai, des fois, je voudrais bien être à Paris) erweitert, versteht Thomas, dass es sich bei Charlotte um die „Hausbesitzerin“ <?page no="320"?> 306 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven handelt, die von einer Besucherin etwas gefragt wird (Z. 193 − 194): „(…) eine, eine Besucherin, Charlotte, ob (…), ähm fragt, ähm die Charlotte, (…)“. Auf bottom up-Ebene gelingt es ihm, einen Signifikanten in der Antwort: des fois, je voudrais bien être à Paris zu identifizieren (Z. 199-202): T.: Très bien, aber ich weiß nicht, was es heißt. L.: Mhm. T.: Irgendwie - habe ich schon oft gehört, ich weiß nicht, wie es heißt. Très bien. Bei diesen Äußerungen fällt auf: Thomas erweitert das Adverb bien um ein weiteres verstärkendes Adverb: très bien, das jedoch im Hörtext gar nicht vorkommt. Im Gegensatz zum Lexem chambre zuvor kann er das gehörte Adverb bien auf Signifikantenebene auch produktiv wiedergeben. Obwohl er hierzu in der Lage ist, kann er dessen Bedeutung jedoch nicht angeben. Ebenso wie bei der Sechstklässlerin aus Niedersachsen, die den italienischen Komparativ più professionale (frz.: plus professionnel) erkannt und gesagt hatte, im Französischen habe sie etwas Ähnliches gehört (z.B.: „plus fort, s’il te plaît“ im Französischunterricht; vgl. Abschnitt III 2.4), ist auch Thomas’ Äußerung, er habe den Ausdruck très bien „schon oft gehört“, mit großer Wahrscheinlichkeit dem ‚Klassenraumvokabular‘ entnommen. Während seine Altersgenossin die Bedeutung („professioneller“) angeben konnte, nicht jedoch den Signifikanten (plus professionnel bzw. plus …), ist es bei Thomas hier genau umgekehrt. Auch wenn eine Kenntnis von bien bzw. très bien und plus … auf Signifikanten- und Signifikatenebene wünschenswerter wäre, so deuten diese Äußerungen der beiden Sechstklässler dennoch darauf hin, dass sich Bestandteile des ‚Klassenraumvokabulars‘ durchaus im mentalen Lexikon verankern können. Nachdem Thomas erfahren hat, was bien (in diesem Zusammenhang) bedeutet, vermutet er für: je voudrais bien être à Paris (Z. 210-212): T.: Das ist unser Wohnzimmer (…), oder? Also - L.: Ähm - T.: Irgendein Raum oder irgend so was, wo sie gerne ist. Seine Hypothese lässt sich dadurch erklären, dass er das Toponym Paris nicht identifiziert hat. So wird das Hörtextverständnis an dieser Textstelle dadurch erschwert, dass die Besucherin auf die ihr gestellte Frage: Tu aimes ma chambre? − abgesehen von einem kurzen: Oui, c’est très joli − gar nicht weiter eingeht und relativ abrupt das Thema wechselt („das Leben auf dem Land“). Nachdem Thomas von dem Themenwechsel erfahren hat, vermutet er, dass Paris Charlottes „Lieblingsstadt“ (Z. 218) sei, und betont: „Ja, genau, genau, da wäre sie gern.“ (Z. 220). Nach dem erneuten Anhören von Charlottes Äußerungen über <?page no="321"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 307 Paris („Wir können ja nochmal hören, was sie da dann über Paris nochmal sagt.“; Z. 222-223) schildert Thomas auf der Grundlage von frz. cinémas eine wichtige metakognitive Beobachtung: „Ich kann ja eigentlich nur das raushören, was wir bis jetzt in Französisch hatten.“ (Z. 233). Hier zeigt sich für sprachformbezogenes Hörverstehen die Notwendigkeit der Eingrenzung von Lakunen und der Bestimmung der Lautform, um im Wörterbuch nachschlagen zu können (vgl. Meißner 2006: 269) 288 . Nachdem Thomas im Folgenden die schriftliche Fassung des Hörtextes ausgehändigt wird, reagiert er zögerlich, so dass Hilfsfragen gestellt werden: (Z. 260- 270): L.: Was könnte damit gemeint sein, dieses une petite chambre d’amis? T.: Ein … kleines Kinderzimmer? L.: Äh, ja, fast, ami, was war nochmal ami? T.: Oh, ach so, ein Gästezimmer. L.: Ja, genau, ne, also, genau, ein Freundezimmer wortwörtlich, ne, genau. Mhm. La chambre de mes parents, was wäre das? Das könnte man auch ableiten. T.: Von meinen Eltern. Das ist das Zimmer meiner Eltern. L.: Mhm. Hattet ihr das schon, das parents ((frz.))? T.: Nö, aber, aber im Englischen heißt es ja auch parents, was genauso geschrieben wird. Bemerkenswert ist, dass Thomas das Kompositum chambre d’amis dem deutschen Sprachgebrauch entsprechend und nicht ‚Wort für Wort‘ („Gästezimmer“, nicht „Freundezimmer“) überträgt. So ist die Erläuterung „genau, ein Freundezimmer wortwörtlich, ne“ in Zeile 264 hier sicherlich überflüssig. Thomas hatte bereits zuvor seine Fähigkeit gezeigt, wörtliche interlinguale Entsprechungen in eine im deutschen Sprachgebrauch geläufige Form zu bringen (vgl. z.B. pour petits et grands „für Klein und Groß“ „für Jung und Alt“ aus der Stunde zuvor; TR 9, 315 u. 317). Es kann daher angenommen werden, dass er weiß, dass ami „Freund“ und nicht „Gast“ bedeutet und er diesen ‚Zwischenschritt‘ hier lediglich nicht verbalisiert hat. Frz. parents erkennt Thomas über die englische Transferbasis parents. Im Folgenden möchte Thomas den ersten Teil des Textes (das Gespräch im Erdgeschoss) noch einmal hören (Z. 292-299): T.: Ja, wir können ja nun mal gucken, weil, weil normalerweise sind die ja Treppenstufen hochgegangen, bevor dieses qu’est-ce qu’il y a kam, oder? L.: Ja, genau, ne, das, das war ja hier, ne. On va au premier étage. 288 Für Spanisch als Zielsprache siehe auch die Aufgabenstellung (Meißner 2010b: 176): „Höre den Text erneut und schreibe einzelne, dir unbekannte Wörter heraus, deren äußere Gestalt du so weit erkannt hast, dass du sie in einem Wörterbuch nachschlagen könntest.“ <?page no="322"?> 308 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven T.: Aber dann kommen da ja noch mal, gucken, dann können wir ja nochmal gucken, oder? L.: Ja, klar, ich kann es ja nochmal anmachen. ((räuspert sich)) AG: Activité 7. Alors, au rez-de-chaussée, il y a bien sûr la cuisine. T.: Ach, das ist die Cousine. Trotz seines Wunsches, den Anfang des Hörtextes erneut zu hören, kann aufgrund des Unterschieds von frz. cuisine und dt. „Cousine“ im Lautbild davon ausgegangen werden, dass sich Thomas bei seiner Sprachhypothese an Ähnlichkeiten im Schriftbild orientiert 289 . Interessant ist seine Äußerung zum Adverb bien sûr (Z. 305-306): L.: Äh, nee, das ähm, die Cousine est la cou-sine, la cui-sine … T. : Auf. Es gibt ein - au - wird sur nicht ohne das Dach geschrieben, oder (…)? Thomas hatte zu Beginn der Interkomprehensionsstunde beim Hören der einzelnen Abschnitte zum Syntagma sur la terrasse gesagt: „auf, was drauf. Da war irgendwas mit sur, glaube ich“ (Z. 59-60). Es ist ein Fall von Sprachaufmerksamkeit (vgl. Oomen-Welke 2002, 2006), dass ihm nun beim Adverb bien sûr im Satz: il ya bien sûr la cuisine auffällt, dass hier die Schreibweise eine andere ist. So unterbricht er seine Übertragung von „Auf. Es gibt ein − au ...“ (Z. 306), bei der er nun auch den Ausdruck il y a berücksichtigt, selbst und bittet um eine Disambiguierung. Auch beim folgenden Abschnitt aus dem Textstück, das im Erdgeschoss spielt: Et puis, là, c’est le salon et la salle à manger avec une porte-fenêtre pour aller dans le jardin. On peut manger sur la terrasse, c’est super sympa. bezieht sich Thomas auf ein bereits zuvor identifiziertes Lexem: fenêtre (Z. 332 − 336): AG: … et la salle à manger avec une porte-fenêtre pour aller dans le jardin. On peut manger sur la terrasse. C’est super sympa. T. : Ah, das … L.: Ja? T.: Ähm - die, das - das Türfenster hier, eine Glastür oder so was, … Auch in seiner Stellungnahme zum Kompositum porte-fenêtre zeigt Thomas seine Fähigkeit, fremdsprachliche Lexeme nicht nur zu dekodieren, sondern sie auch dem deutschen Sprachgebrauch anzupassen. So geht er bei porte-fenêtre folgendermaßen vor: 1. Dekodierung der einzelnen Elemente „Tür-fenster“ 289 Dass er sich nicht an das Wort cuisines aus der Interkomprehensionsstunde zuvor erinnert, kann - abgesehen von der zeitlichen Distanz - damit zusammenhängen, dass es an jener Stelle anders verwendet wurde (im Sinne von Kochart, Kochkunst - les diverses cuisines du monde) und nicht wie hier zur Bezeichnung des Raumes. <?page no="323"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 309 2. Erfassung der Bedeutung, wahrscheinlich auf der Grundlage des Kotextes (sur la terrasse) 3. Disambiguierung durch Übersetzung. Dass Thomas schon ein Gespür dafür hat, dass im Französischen und Deutschen formkongruente Lexeme mit einer gemeinsamen Bedeutung dennoch nicht gänzlich bedeutungsadäquat sein müssen, zeigt er in seiner Stellungnahme zu: C’est super sympa. (Z. 338-345): T.: Für - für - (was stand da). Für, für, für - für in … also da geht’s raus, also bei der Tür geht’s raus. Das ist eine Glastür zur Terrasse. L.: Ja, genau. T.: (…) L.: Ja, genau. T.: Die ist supertoll. Super sympathisch, also sympa heißt eigentlich … L.: Ja. T.: Sympathisch. Zwar bezieht er C’est super sympa auf la terrasse und nicht, wie im französischen Text intendiert, auf ‚auf der Terrasse essen können’, was sich in der Äußerung: „Die ist supertoll“ zeigt. Doch ändert dies nichts an seinem Gespür für eingeschränkte Bedeutungskongruenz bei Formentsprechungen. Es gelingt ihm auch auf Anhieb, eine bedeutungsadäquate Entsprechung im Deutschen („supertoll“) zu finden. Dass dies nicht rein intuitiv geschieht, sondern Thomas die Unterschiede im Französischen und Deutschen, die er beobachtet hat, durchaus bewusst sind, zeigt seine explizite Stellungnahme: „also sympa heißt eigentlich […] sympathisch“. Hier wird bereits deutlich, dass über den Wunsch nach Disambiguierung eine Fehlerprophylaxe auftritt. Im Folgenden erkundigt sich Thomas nach der Bedeutung von rez-dechaussée, wobei ihm bewusst ist, dass es sich auch hier um ein Kompositum handelt (s.u.: „das Ganze hier“) (Z. 353-357): T.: Was hat die hier, was soll dieses heißen? L.: Äh, welches? T.: Da, hier, das hier, das Ganze hier. L.: Ähm, ja, ähm, das heißt Erdgeschoss, im Erdgeschoss. T.: Also hier im Erdgeschoss gibt es natürlich eine Küche. Auch das Lexem salle à manger wird erfragt, doch ist Thomas hier sofort in der Lage, es selbst zu erschließen: „Das Esszimmer“ (Z. 368). Zum Ende der Interkomprehensionsstunde greifen wir die Beispiele von sur versus sûr und cuisine und cousine wieder auf. Zu erstem möchte Thomas wissen (Z. 515-521): T.: Wird das eigentlich genauso ausgesprochen? L.: Ja. <?page no="324"?> 310 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven T.: Ja. - L.: Mhm. Also das macht man da halt dann da drauf, um eben die Sachen unterscheiden zu können. T.: Wie, wie dieses (…), wie dieses (…) ähm … eins oder und das andere wo, ist wo, ne? Es ist bemerkenswert, dass er auf Anhieb und aus eigener Initiative in der Lage ist, für die (auch) bedeutungsunterscheidende Funktion französischer Akzente der Opposition von sûr und sur ein weiteres Gegensatzpaar hinzuzufügen: die Konjunktion ou und das Fragewort où (Z. 520-521). Auch für das französische Lexem cuisine und genauer: die Lautfolge [yi] gibt er von sich aus eine metasprachliche Stellungnahme ab: „Das gibt es alles im Deutschen nicht. Das ist so, wie wenn man das in Englisch hätte und das TH, ich meine, das gibt ja auch (…).“ (Z. 558-559). Wie aus der Äußerung hervorgeht, nimmt Thomas hier einen dreisprachlichen Vergleich vor: Ebenso wie der französischsprachliche Diphtong [yi], der in der deutschen Sprache nicht vorkommt, hat auch das Englische Laute wie die labio-dentalen Frikative („TH“), die im Deutschen nicht existieren. Zusammenfassung wichtiger Befunde: Thomas ist in der Lage, bereits nach einmaligem Hören des französischen Textes Signifikanten zu identifizieren. Er ist in der Lage, zwei Lexeme kontiguitiv miteinander zu verbinden und ein mentales Szenario aufzubauen (Terrasse − Fenster). Thomas kann auf der Grundlage von top down-Verarbeitung gebildete Hypothesen mit einer bottom up-Herangehensweise kombinieren (c’est ma chambre, ordinateur). Thomas leistet einen didaktischen bzw. lernstrategischen Transfer, indem er sein Wissen über Fremdwörter (am Beispiel von „Premiere“) aktiviert, einschließlich eines Wechsels der Wortart, der Textsorte und des Kontextes: vom Zusammenhang „Filme“ auf jenen einer Hausbesichtigung. Er kommentiert diese Strategie nun explizit (Metakognition). Thomas zeigt seine Fähigkeit, fremdsprachliche Komposita nicht nur zu dekodieren, sondern auch hierfür deutschsprachliche Entsprechungen zu finden (chambre d’amis „Gästezimmer“; porte-fenêtre „Türfenster“ „Glastür“). Er zeigt ein Gespür dafür, dass im Französischen und Deutschen formkongruente Lexeme nicht gänzlich bedeutungskongruent sein müssen: super sympa: „supertoll“. Auch in diesem Fall kann von einem didaktischen Transfer gesprochen werden, hier aus dem Englischen: engl. grass: „auf einem rechteckigen Gras, Platz“ (TR 2, Z. 61-62; Abschnitt III 2.2). Ein weiterer Fall eines didaktischen Transfers bezieht sich auf die Sprachaufmerksamkeit und Genauigkeit, die Thomas zuvor bei den englisch- <?page no="325"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 311 sprachlichen Lexemen für dt. „Bundesland“ (federal state und state; s.o. Abschnitt III 2.7) gezeigt hatte. So fällt ihm in dieser Stunde nicht ‚nur‘ auf, dass frz. sur im Text einmal mit und einmal ohne accent circonflexe auftritt. Er kann ebenfalls auf Anhieb ein eigenes Beispiel für eine bedeutungsunterscheidende Funktion französischsprachlicher Akzente nennen (ou und où). 2.10 Die elfte Interkomprehensionsstunde: „Sätzepuzzle“ Zum Aufgabenmaterial: In Analogie zum Aufgabenformat der „lexikalischen Serien“ bzw. des „Wörterpuzzles“ (vgl. Abschnitt II 4. und III 2.5) wurde für diese Interkomprehensionsstunde jenes der „syntaktischen Serien“, bzw. des „Sätzepuzzles“ entwickelt. Folgende drei Sätze aus Klein & Reissner (2006: 74-76) wurden (in z.T. etwas abgewandelter Form) in den Sprachen Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch aufgeschrieben und für jedes einzelne Wort (nicht für die Syntagmen) wurde ein Kärtchen angefertigt: Relativsätze (ebd.: 74): The train that goes to Paris has left Le train qui va à Paris est parti Il treno che va a Parigi è partito El tren que va a París ha salido Konditionalsätze (ebd.: 75): Mary is happy if she can sleep in the garden Marie est heureuse si elle peut dormir dans le jardin Maria è felice se può dormire nel giardino Maria está feliz si puede dormir en el jardín Hypotaxe (ebd.: 76): Peter says that he loves life Pierre dit qu’ il aime la vie <?page no="326"?> 312 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Pietro dice che ama la vita Pedro dice que ama la vida Tab. 14: Wortkärtchen - „Sätzepuzzle“ Wie die Beispiele illustrieren, liegt der Fokus auf dem Erkenntnisziel der syntaktischen Parallelität des Englischen und der romanischen Sprachen in Abweichung vom Deutschen. Es muss betont werden, dass im Vergleich zum Aufgabenformat der Interlinearübersetzung (vgl. Meißner 2004b, 2005b; Bär 2009) diese Aufgabe des „Sätzepuzzles“ äußerst schwierig ist. Denn: Im Falle der Interlinearübersetzung werden Lernern in der Regel zunächst Sätze eines Textes in verschiedenen Sprachen interlinear präsentiert (vgl. z.B. Bär 2009: 119), damit diese interlinguale syntaktische Entsprechungen erkennen (mit der weiteren Erkenntniserleichterung, dass interlingual einander entsprechende Wörter oder Syntagmen untereinander gedruckt werden). Im Anschluss sind sie dann aufgefordert, auf der Grundlage von Hypothesenbildung selbst interlinear zu schreiben (Meißner 2005b: 89). Beim Aufgabenformat des „Sätzepuzzles“ hingegen müssen syntaktische Strukturen und deren interlinguale Entsprechungen vom Lerner selbst gefunden werden. Um die Aufgabe für Thomas zu erleichtern, werden die drei Sätze (selbstverständlich) nacheinander behandelt (d.h. es werden nicht alle insgesamt 94 Kärtchen vermischt). Darüber hinaus werden zunächst (s.u.) ‚lediglich‘ die Sprachen Englisch, Französisch und Italienisch betrachtet und Thomas erhält die Karten nach Sprachen getrennt (dies jedoch nicht hintereinander, d h. sie liegen in drei ,Kartenhäufchen‘ auf dem Tisch). Um die Abweichungen der deutschen Syntax vom Englischen und den romanischen Sprachen und die englisch-romanischen Gemeinsamkeiten für ihn deutlicher zu machen, wurden für die deutschen Übersetzungen der jeweiligen Sätze bzw. Satzarten Papierstreifen angefertigt, die ebenfalls auf den Tisch gelegt werden sollten, von denen jedoch nicht alle zum Einsatz kamen (s.u.). Analyse der Interkomprehensionsstunde (23. März 2010): Die Relativsätze: Nachdem Thomas die Aufgabe erläutert wurde, nimmt er überraschenderweise zunächst auf die ihm ,fremde‘ Sprache Italienisch Bezug: „Treno ist Zug.“ (TR 11, Z. 36) und vermutet (Z. 38): „Entweder Italienisch oder, oder Spanisch“. Er scheint eine gewisse Assoziation der Wortendung -o mit den Sprachen Italienisch und Spanisch ‚verinnerlicht‘ zu haben (vgl. auch seine Äußerung: „da ist dann wieder O und ein U“ (TR 6, Z. 191) in der Interkomprehensionsstunde zum „Wörterpuzzle“; Abschnitt III 2.5). Da er auch die Bedeutung von <?page no="327"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 313 ital. treno angeben kann und Englisch und Französisch als Sprachen ausschließt, wird nachgefragt (Z. 40-42): L.: Warum nicht Französisch oder Englisch? T.: Ähm, weiß ich nicht. Jedenfalls ist das so, also sind manche so. Englisch ist nämlich train. Im Folgenden findet Thomas das englische Kärtchen und - angesichts der interlingualen Übereinstimmung im Schriftbild - selbstverständlich auch das entsprechende (train) im ‚französischen Kartenhäufchen‘. Er zeigt hier wiederum (vgl. Abschnitt III 2.8) sprachliche Neugier (Z. 46-49): T.: The train, das passt auch. Das ist, glaube ich, Französisch. Train oder irgend so was, weiß ich jetzt nicht. L.: Ja, genau. T.: Wie wird das ausgesprochen? Dass er wissen möchte, wie frz. train ausgesprochen wird, ist vermutlich gerade darauf zurückzuführen, dass ihm aufgefallen ist, dass das englische und französische Wort in der Schreibweise identisch sind (vgl. auch seine Äußerungen zu engl. und frz. message in Abschnitt III 2.5). Thomas legt sehr eigenständig fast den gesamten englischen Satz: „Ähm, ja. - The train that goes to Paris“ (Z. 53). Interessanterweise sucht er im Anschluss unter den (mittlerweile auf dem Tisch verteilten) Wortkärtchen nach einem weiteren Wort für „Zug“, so dass er darauf aufmerksam gemacht wird (Z. 57- 60): L.: Die Züge, die Züge hast du ja alle schon, ne? Für alle drei. T.: Ach so, das sind nur drei Sprachen, ach so. L.: Mhm. T.: Dann nur die Satzstellung halt. Diese hier. Das ist Paris. Obwohl die Aufgabe zum „Wörterpuzzle“ (24. November 2009) zu diesem Zeitpunkt bereits vier Monate zurücklag, ist es aufgrund der Ähnlichkeit in der methodischen Umsetzung m.E. nicht ausgeschlossen, dass Thomas’ Erinnerung daran dazu beigetragen hat, dass er nach einem Wort für „Zug“ in einer vierten Sprache sucht. Bei jener Aufgabe (vgl. Abschnitt III 2.5) wurden von Beginn an vier Sprachen eingesetzt (vgl. auch seine Hypothese: „Italienisch oder, oder Spanisch“ oben). Dennoch scheint er verstanden zu haben, worum es in dieser Aufgabe geht, wie seine Äußerung: „Dann nur die Satzstellung halt“ (Z. 60) andeutet. Aus dem bereits gelegten englischen Satzteil The train that goes to Paris sucht er sich nun selbst einen weiteren Fokus aus und wählt − strategisch klug − den Eigennamen „Paris“. Nachdem er das französische Wort für „Paris“ gefunden hat, entdeckt er (in diesem Fall jedoch eher nach dem Ausschluss- <?page no="328"?> 314 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven verfahren) auch das italienische Wort Parigi und bringt auf metasprachlicher Ebene seine Verwunderung hierüber zum Ausdruck (Z. 62-64): T.: Paris - das kann, (…) ist doch irgendwie (…), oder? L.: Mhm, ja. T.: Paris, also das soll Paris heißen? 290 Thomas hatte die Aussprache von ital.: g + hellem Vokal bereits im Zusammenhang mit der Aufgabe zum „Wörterpuzzle“ kennengelernt (vgl. Abschnitt III 2.5). An jener Stelle handelte es sich jedoch um das Interlexem messaggio, dessen Unterschied zum englischen bzw. französischen Wort message aufgrund der Wortlänge weniger ins Gewicht fällt. Hinzu kommt, dass der Buchstabe „g“ in jenem Fall auch im englischen und französischen Interlexem auftrat, hier im Beispiel „Paris“ jedoch nicht, so dass er sich über die Abweichung wundert. Auch die Tatsache, dass das Wortbeispiel hier ein Eigenname ist, kann eine Rolle gespielt haben. Er setzt nun sein strategisch intelligentes Vorgehen fort, indem er das großgeschriebene italienische Wortkärtchen: „Il“ zur Hand nimmt (Z. 68-69): T.: So - Il, das ist doch großgeschrieben, also muss es an den Anfang, oder wird das immer großgeschrieben? Abgesehen von der Strategie, in der ihm ,unbekannten‘ Sprache − mit dem Satzanfang im Blick − nach einem weiteren groß geschriebenen Wort zu suchen, bringt Thomas hier zwei metasprachliche Beobachtungen bzw. Hypothesen zum Ausdruck: Auch im Italienischen werden wie im Englischen und Französischen (und Niederländischen) abweichend vom Deutschen Wörter in der Regel klein geschrieben (so dass eine Suche nach groß geschriebenen Wörtern für den Satzanfang Sinn macht). Dennoch gibt es auch in diesen Sprachen Ausnahmen, d.h. Wörter, die großgeschrieben werden (z.B. engl. I). Thomas ist auch in der Lage, die Wortart des italienischen Wortes Il zu bestimmen (Z. 75-76): L.: Was, was wäre dann für eine Wortart? Also, es liegt da ja richtig. T.: Bestimmter Artikel. Im Folgenden widmet er sich dem französischen Satz (Z. 80-82): T.: Kann das so? L.: Ja, also mhm. T.: Ähm - qui - so? Der, nach, was ist nach? Ach so, à, va, oder was? 290 Angesichts der Unverständlichkeit der Aufnahme in Zeile 62 muss darauf hingewiesen werden, dass die Bezugnahme auf Parigi aus der Erinnerung heraus und auf der Grundlage der bestätigenden Äußerung in Zeile 63 erfolgte. <?page no="329"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 315 Er erkennt frz. qui als das Relativpronomen, obwohl Relativpronomen und sätze (selbstverständlich) noch nicht im Französischunterricht behandelt worden sein können und qui auf sprachlicher Oberfläche keinerlei Ähnlichkeit zu dt. „der“ oder engl. that aufweist. Obwohl Thomas den englischen Satzanfang: The train that goes to Paris … bereits gelegt hat, orientiert er sich zunächst an der deutschen Satzstellung: „Der nach, was ist nach? Ach so, à, va“ (Z. 82). Ihm gelingt es jedoch, sich zu korrigieren (Z. 91-93): T.: Das geht, oder? L.: Ja, genau. T.: Deswegen auch ça va, oder? Es ist erstaunlich, dass Thomas nicht nur in der Lage ist, seinen Vorschlag zu korrigieren, sondern dass er seine Selbstkorrektur aus einer Initiative durch einen intralingualen Transfer in der französischen Sprache untermauert: „Deswegen auch ça va, oder? “ Da Begrüßungen seinen Angaben zufolge in der Schule recht intensiv behandelt wurden (auch noch Anfang November 2009; vgl. Abschnitt III 2.4), ist dies zweifelsohne ein Transfer aus dem Französischunterricht. Dieser syntaktische Transfer ist dennoch insofern bemerkenswert, als er den französischen Ausdruck ça va höchstwahrscheinlich als einen unanalysed chunk kennengelernt hat. Er macht im Folgenden den Vorschlag einer wörtlichen Übersetzung aus dem Französischen ins Deutsche, um seine syntaktische Hypothese bestätigt zu bekommen (Z. 110-114): T.: Der, jetzt mal wörtlich übersetzt, der Zug, der geht Paris nach ist abgefahren. L.: Ja, wobei, also das war ja vorher so richtig, ne, also es war halt nur dieses va. T.: Der. Der geht nach Paris. L.: Mhm. T.: Also nicht der nach Paris geht, sondern der, der geht nach Paris. Auch die Zuordnung der noch fehlenden Elemente has left und est parti (und ebenfalls − wohl auch bedingt durch die interlinguale Ähnlichkeit auf Sprachformebene − è partito) gelingt Thomas. Die Konditionalsätze: Anders als bei den Relativsätzen (vgl. oben) beginnt er nun bei den Konditionsätzen mit seiner stärksten Sprache Englisch (Z. 133-139): T.: Mary is happy if the, she ähm she can? L.: Ja, genau. T.: Sleep … L.: Genau, ne, da war ja auch dann das Personalpronomen und dann das Verb. T.: In - the? L.: Mhm. T.: Garden. <?page no="330"?> 316 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Wie der Transkriptausschnitt zeigt, legt Thomas den kompletten Satz eigenständig und korrekt, so dass der metasprachliche Hinweis in Zeile 136 nach seinem Zögern (im Nachhinein) überflüssig wirkt (und wohl auch war). Im Anschluss sucht er − ähnlich seiner Vorgehensweise bei den Sätzen zuvor − nach interlingualen Entsprechungen in den anderen Sprachen für die einzelnen Satzelemente. Er findet für Französisch den Satzanfang: Marie est und stößt bei seiner Suche nach dem (ihm anscheinend bekannten) französischen Wort heureuse auf das italienische Adjektiv felice. Für letzteres ergibt sich eine sehr interessante Transfersituation (Z. 145-153): T.: Marie est - ähm - wo ist denn das? - felice [gesprochen als / fe’li: s/ ] ist, da, das wollte ich. Ähm, felice ist, das, nein, nein, ist (glücklich), das heißt doch glücklich, oder? L.: Woher weißt du das? T.: Weil wir haben in der Schule so, so an Weihnachten so ein Lied so Felice [/ fe’li: s/ ] Navidad. L.: Ah. T.: So, und das heißt ja fröhliche Weihnachten, und dann halt fröhlich, also nicht glücklich, sondern fröhlich. Wie aus dem Dialog hervorgeht, kann Thomas die Bedeutung des italienischen Adjektivs felice, das auf Sprachformebene weder dem engl. happy, noch dem frz. heureuse noch dem dt. „glücklich“ ähnelt, durch eine spanische Transferbasis (Feliz Navidad) herleiten. Dieses Beispiel ist aus dem Grund so interessant, dass es zwar die spanisch-italienischen Interlexeme feliz felice gibt, man jedoch an Weihnachten − anders als im Falle von Feliz Navidad − im Italienischen nicht *Felice Natale, sondern Buon Natale sagt. Da Thomas in der Erläuterung seiner herangezogenen Wissensquelle (Z. 149-150) / fe’li: s/ Navidad sagt, kann im Nachhinein nicht mit Sicherheit festgestellt werden, ob ihm der Sprachenwechsel vom Spanischen zum Italienischen bei diesem Wissenstransfer bewusst war. Hinzu kommt, dass er bereits an zwei Stellen in dieser Interkomprehensionssitzung zuvor das Spanische ,im Hinterkopf‘ hatte: Einerseits in seiner Vermutung: „Entweder Italienisch oder, oder Spanisch“ (Z. 38) und andererseits bei seiner Suche nach einem vierten Wort für „Zug“ („Ach so, das sind nur drei Sprachen“; Z. 58), bei der aufgrund der Ähnlichkeit der Aufgabenstellung zu jener des „Wörterpuzzles“ die spanische Sprache vermutet wurde. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die hier analysierte Interkomprehensionsstunde Ende März 2010, also (fast) ein Vierteljahr nach Weihnachten durchgeführt wurde. Je nachdem, in welchem Unterrichtsfach und mit welchem Fokus (z.B. im Fach Musik) das Lied Feliz Navidad im Unterricht eingesetzt wurde, kann es durchaus sein, dass sich Thomas der konkreten Sprache weniger bewusst ist. In jedem Fall ist es bemerkenswert, dass ihm nach einer solchen Zeitspanne diese lexikalische Transferbasis zur Verfügung steht, die er auch noch weiter kommentieren kann, indem er darauf hinweist, dass das Ad- <?page no="331"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 317 jektiv in der weihnachtlichen Grußformel dem deutschen „fröhlich“ entspricht, obwohl es „glücklich“ bedeutet (Z. 152-153). Im Anschluss identifiziert er das französische Wort für „Garten“ (Z. 154) und für „glücklich“ (Z. 160). Interessant ist hier, dass sich Thomas − trotz des bereits komplett gelegten englischen Satzes − wiederum an der deutschen Sprache orientiert, sie an dieser Stelle jedoch lediglich als Metasprache für die französische Syntax verwendet. Dies zeigt sich darin, dass er die deutsche Satzklammer auflöst und den französischen Satzbau in deutscher Sprache wiedergibt („Marie ist glücklich, wenn [...] sie kann ...“) (Z. 162-167): T.: Marie ist glücklich, wenn, das? L.: Mhm. T.: Wirklich? L.: Mhm. T.: Wenn sie … kann das? L.: Ja, genau. Thomas’ Herangehensweise bei der Versprachlichung der französischen Syntax entspricht seinem von ihm selbst vorgeschlagenen Vorgehen bei den Sätzen zuvor: „Der jetzt mal wörtlich übersetzt, der Zug ...“ (Z. 110). Hier wird deutlich, dass auch junge Lerner ohne (umfassende) Kenntnisse grammatischer Terminologie ihre metasprachlichen Beobachtungen zum Ausdruck bringen können. Es gelingt ihm auch, die weiteren französischen Wörter an die richtige Stelle zu legen, so dass er den bestätigenden Kommentar erhält: „Ja, genau. … est heureuse si elle peut dormir dans le jardin. Genau, das Verb nach vorne wie im Englischen auch.“ (Z. 182-183). Im Nachhinein ist zu fragen, ob dieser zusätzliche metasprachliche Kommentar wirklich notwendig war, geht es doch um die Abweichungen in der Syntax im Englischen und in den romanischen Sprachen vom Deutschen, die Thomas bereits erkannt hatte und für die er eine Möglichkeit gefunden hat, sich mitzuteilen, und nicht um grammatische Terminologie. Bevor er sich im Folgenden dem italienischen Satz widmet, weist Thomas zunächst darauf hin, dass die französische Verbform est in beiden Sätzen zu finden sei (Z. 184-186), was bestätigt wird, allerdings ohne an dieser Stelle auf die unterschiedlichen Funktionen des Verbs être in den beiden Sätzen (Hilfsverb und Kopulaverb) einzugehen. Beim italienischen Satz erhält Thomas zunächst eine Hilfestellung (Z. 197- 202): L.: Nee, wenn das schlafen heißt, was ist dann hier das schlafen? T.: Das. L.: Genau. T.: Wenn - das ist aber doch nicht sie, oder? L.: Nee. T.: Das ist doch wenn, oder? <?page no="332"?> 318 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Der Identifikationstransfer des italienischen Verbs dormire auf der Grundlage des französischen dormir verwundert angesichts der Formentsprechung nicht weiter. Doch ist es erstaunlich, dass Thomas als ein Lerner, der keine Sprache mit Null-Subjekt kennt, sich nicht von der Ähnlichkeit von ital. se zu dt. „sie“ auf Sprachoberfläche ‚verleiten‘ lässt, sondern es (wohl durch interlingualen Transfer aus dem Französischen) als „wenn“ erkennt. Da ein (junger) Lerner mit Französisch als ,einziger‘ romanischer Sprache kaum von sich aus auf das Null-Subjekt ,kommen kann‘ und hier eine einzelne Beispielsprache nicht ausreicht, wird an dieser Stelle der Interkomprehensionsstunde (s.o.) das Spanische mit herangezogen. Thomas identifiziert sofort den Eigennamen María und die Verbform está als Satzanfang. Auch das Adjektiv feliz kann er auf Anhieb zuordnen, was angesichts seiner Transferbasis (das Weihnachtslied; s.o.) nicht weiter verwundert. Nachdem auch die ,puede- und dormir-Kärtchen‘ angelegt wurden, wird er gefragt (Z. 215-223): L.: Also das hier ist so schon mal richtig. Was, was fällt dir da bei Spanisch und Italienisch auf, wenn man das jetzt, elle peut dormir, può dormire, puede dormir, wenn man das so untereinander legt? T.: Marie ist glücklich, wenn sie kann schlafen. L.: Mhm. T.: Kann schlafen, kann schlafen, kann schlafen. Wenn sie kann schlafen im Garten. L.: Mhm. Was fehlt da im Italienischen und Spanischen? T.: Wenn sie. Es fällt auf, dass Thomas auch beim Spanischen zunächst seine Strategie wieder aufgreift, seine Bewusstheit über die Unterschiede in der Syntax zum Deutschen auszudrücken, indem er den spanischen Satzbau in deutscher Sprache wiedergibt: „Marie ist glücklich, wenn sie kann schlafen.“ (Z. 218). Dass er auch das Personalpronomen „sie“ angibt, kann durch die Verwendung des Deutschen erklärt werden. Denn die Frage, was im Italienischen und Spanischen ,fehle‘, kann Thomas auf Anhieb beantworten. Er bringt im Folgenden seine Bewusstheit über das Null-Subjekt gleich zweifach zum Ausdruck (Z. 225-229): T.: Maria ist glücklich, wenn schlafen im Garten kann. L.: Mhm. T.: Kann schlafen im Garten. L.: Ja, genau. T.: Wenn sie kann schlafen. Also sie ist ganz weg. Wie dieses Zitat zeigt, verdeutlicht Thomas sein Verstehen zum einen, indem er nun auch im deutschen Satz das Personalpronomen weglässt. Zum anderen fügt er eine explizite metasprachliche Erläuterung hinzu: „Also sie ist ganz <?page no="333"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 319 weg.“ Dass er zu Beginn die deutsche Verbklammer zum Teil verwendet hat (vgl. „... wenn schlafen im Garten kann.“; Z. 225), ist neben Sprachgewohnheit dadurch zu klären, dass er an dieser Stelle auf den Wegfall des Personalpronomens konzentriert ist. So ist er auch sofort in der Lage, sich (bezogen auf die spanische Syntax) zu korrigieren („Kann schlafen im Garten.“; Z. 227). Schließlich möchte Thomas noch wissen: „Dann muss man die Personalpronomen ja da gar nicht lernen, oder? “ (Z. 233), woraufhin ihm kurz (mit Bezugnahme auf die Betonung) erläutert wird, wann die Personalpromomen im Italienischen und Spanischen verwendet werden. Überflüssig dagegen war die Erläuterung, dass es für die französischen Kärtchen dans und le im Italienischen nur eine Karte (nel) gebe, da Thomas sofort von sich aus kommentiert: „Also im, wie im Deutschen.“ (Z. 243). Im Gegensatz zur Orientierung am Französischen ist seine Orientierung an der deutschen Sprache hier zielführender (vgl. engl. in the, frz. dans le, span. en el vs. ital. nel und dt. „im“). Die Hypotaxe: Beim dritten Satz, in dem ebenfalls das Null-Subjekt vorkommt (s. oben), wird das Spanische von vornherein mit hinzugenommen. Im Laufe der Interkomprehensionsstunde hatte sich herausgestellt, dass die Papierstreifen mit den deutschen Übersetzungen - anstatt wie intendiert die Abweichungen der Syntax im Deutschen zu verdeutlichen - für Thomas eher verwirrend waren, gerade weil er die Strategie entwickelt hatte, die deutsche der fremdsprachlichen Syntax anzupassen, um seine Bewusstheit über Unterschiede zu versprachlichen. Daher wurde die deutsche Übersetzung während der Bearbeitung des zweiten Satztyps weggenommen und für diesen dritten erst gar nicht auf den Tisch gelegt. Thomas widmet sich zunächst einem der dice-Kärtchen und möchte wissen (Z. 256-264): T.: Da. Wie wird das ausgesprochen? L.: Äh dice. ((ital.)) T.: Das? ((leise)) Welche Sprache ist das denn? L.: Dice? T.: Mhm. L.: Was würdest du sagen, so vom Klang her? T.: Nein das. Das. Das ist (…), oder? Weil wenn es Englisch wäre, dann würde es ja Würfel heißen, oder? L.: Ja, mhm, genau. Das Wort wurde italienisch ausgesprochen (vgl. span. dice) und Thomas’ Frage nach der Sprache zunächst mit einer Gegenfrage ‚beantwortet‘ (Z. 261). Er schließt Englisch als Sprache aus, indem er feststellt: „Weil wenn es Englisch wäre, dann würde es ja Würfel heißen, oder? “ (Z. 262-263). Es ist wahrscheinlich, dass er sich auch wenn er es nicht explizit sagt bei dieser Äußerung an <?page no="334"?> 320 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven der englischen Aussprache, die in diesem Fall [da s] wäre, orientiert hat. Denn: Da der Satz noch nicht gelegt wurde und die drei Sätze nicht in einen weiteren Kontext eingebettet sind, kann Thomas an dieser Stelle noch nicht wissen, ob es sich nicht vielleicht doch um ein englisches Substantiv mit der Bedeutung „Würfel“ handelt. Er macht zuvor auch den Versuch, die Sprache zu bestimmen: „Das ist (...), oder? “ (Z. 262), doch ist diese aufgenommene Passage leider unverständlich. Auch die Bestätigung in Zeile 264: „Ja, mhm, genau.“ hilft nicht bei der Rekonstruktion, da nicht sicher ist, ob sie sich auf die Stellungnahme zum Englischen, auf die Bestimmung der Sprache oder auf beides bezieht (übrigens auch nicht für Thomas, d.h. das Feedback hätte präziser sein müssen). Im Folgenden werden zunächst die Namen Peter, Pierre, Pietro und Pedro den Sprachen zugeordnet (Z. 267-270). Thomas beginnt wiederum mit dem englischen Satz, der durch den notwenigen Wegfall des bestimmten Artikels (he loves life) verglichen mit den romanischen Sprachen eine Schwierigkeit darstellt (Z. 271-274): T.: That he (……). Ähm … he ähm loves the (life). (…) the gibt es hier? Gibt es hier ein the? L.: Nee. T.: Also nur loves life. So sucht Thomas zunächst nach dem Kärtchen für engl. the. Dass er im Prinzip jedoch weiß, dass in diesem Fall im Englischen kein bestimmter Artikel steht und diese komplexe Regel des englischen Artikelgebrauchs im Unterricht bereits behandelt worden sein muss, wird in seiner Reaktion auf die diesbezügliche Frage deutlich: „Ja, ja, ja, ja“ (d.h. durch das vierfache „ja“; Z. 277). So weist er (ebd.) auch explizit darauf hin, dass seine Suche nach dem Artikel durch eine Orientierung am Deutschen zustande gekommen sei. Im Folgenden fällt Thomas auf, dass es zwei ,dice-Kärtchen‘ gibt. Er ist in der Lage, sowohl die Bedeutung von ital. bzw. span. dice zu bestimmen („... das ist ein sagt. Dieses dice, dieses sagt? “; Z. 279-280) als auch das französische ,dit- Kärtchen‘ zu finden („Ach, die hier? “; Z. 285), obwohl er angibt, das Wort aus dem Französischunterricht noch nicht zu kennen (Z. 287). An dieser Stelle werden Thomas beide Lautbilder zu dice präsentiert (Z. 281). Da er zuvor nur eines der Kärtchen gefunden hatte, wurde zu jenem Zeitpunkt (s.o.) nur eine Aussprachevariante gewählt, um ihn nicht zu verwirren. In Bezug auf die den Nebensatz der indirekten Rede einleitende Konjunktion „dass“ hat Thomas zunächst Schwierigkeiten, die französische Entsprechung zu finden. Dies ist nicht weiter verwunderlich, da die indirekte Rede im Französischunterricht noch nicht behandelt worden sein kann und es sich darüber hinaus hier um eine apostrophierte Form handelt (qu’ il aime la vie). Doch dann fällt ihm ein (Z. 309-310): <?page no="335"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 321 T.: Warte, warte, das kommt doch auch in - in diesen - ähm in, in, in, in, in, in diese - hier, in diesen qu’est-ce que c’est vor, was ist das. 291 Dass sich Thomas auch selbst über seine sprachliche Beobachtung freut, zeigt sich in der Art und Weise, wie er diese zum Ausdruck bringt (insbesondere die sechsfache Wiederholung von „in“). Es ist in der Tat bemerkenswert, wie er sein noch geringes sprachliches Wissen 292 aktivieren und produktiv für seine Erkenntnisprozesse nutzen kann. Diese Fähigkeit hatte er auch schon beim ersten Satz mit Bezugnahme auf die vom Deutschen abweichende Wortstellung gezeigt: Referent RelativpronomenVerb adverbiale (in Subjektfunktion) Ergänzung (Le train) qui va (à Paris) Der Zug der * geht nach Paris An jener Stelle (s.o.) hatte er gesagt: „Deswegen auch ça va, oder? “ (Z. 93) und die Grußformel zu qui va in Beziehung gesetzt. Auch bei diesem Satz zeigt Thomas seine Fähigkeit die sehr wahrscheinlich im Unterricht ebenfalls als Formel gelernte französische Entsprechung zu dt. „Was ist das? “: qu’est-ce que c’est in ihre einzelnen Elemente zu zergliedern und eines hiervon (qu’) in produktiver Weise für seinen Erkenntnisprozess zu nutzen. Im Folgenden sucht Thomas die französischen Kärtchen für dt. „Leben“ und „liebt“ (Z. 325- 337): T.: Peter, äh Pierre sagt, dass, dass er das Leben, das? L.: Ja, la vie, genau. T.: Leben ähm - (…). L.: Lieben oder er liebt. T.: (…) oder das? L.: Ja, genau. Dieses aime, ne. Aber, wenn äh, wenn du dich jetzt äh wiederum dann an der englischen Satzstellung orientierst, wo müsste das denn dann hin? T.: Peter sagt, dass er … liebt das Leben. L.: Ja, genau. Ne, da ist es im Prinzip dann, wenn man den englischen Satz einmal … T.: (…) Außenseiter. L.: Hm? T.: Deutschland ist ein Außenseiter. Wie aus Z. 325 hervorgeht, orientiert er sich hier an der deutschen Syntax, was aber dadurch zu erklären ist, dass er auf die Suche nach dem französischen 291 Thomas hat mich während der Studie in den Interkomprehensionsstunden hin und wieder geduzt, beispielsweise wenn er − wie in diesem Fall − eine sprachliche Entdeckung gemacht hat. 292 Es sei daran erinnert, dass der Beginn des Französischunterrichts in der sechsten Klasse bei Thomas durch häufigen Stundenausfall gekennzeichnet war. <?page no="336"?> 322 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Wort für „Leben“ konzentriert ist. Es ist ein Steuerungsfehler, seinen Satz der deutschen Syntax entsprechend fortzusetzen (Z. 328). Dies ist insofern bedauerlich, als sich Thomas anscheinend mittlerweile an seine Strategie, Abweichungen in der Syntax durch eine wörtliche Übersetzung ins Deutsche zum Ausdruck zu bringen, gewöhnt hat. So setzt er diese Strategie auch wieder ein (Z. 332), nachdem er darauf aufmerksam gemacht wurde, dass er das ,aime- Kärtchen‘ falsch angelegt hat. Beeindruckend ist seine Unterbrechung in Zeile 335-337: „Außenseiter. [...] Deutschland ist ein Außenseiter.“ Seine Stellungnahme ist aus dem Grund bemerkenswert, dass er aus eigener Initiative seine Beobachtungen und Erfahrungen zur Syntax im Deutschen, die sowohl vom Englischen als auch von den romanischen Sprachen abweicht, hier metasprachlich zusammenfasst. Im Prinzip war genau diese Erkenntnis (vgl. oben den Abschnitt zum Aufgabenformat des „Sätzepuzzles“) das Ziel dieser Interkomprehensionsstunde. Die Metapher des „Außenseiters“, die Thomas hier verwendet, deutet darüber hinaus eine Bewusstheit an, dass Englisch und die romanischen Sprachen in gewisser Weise ,zusammengehören‘, d.h. dass er zwischen ihnen eine syntaktische Parallelität wahrgenommen hat. Thomas gelingt es auch (im ersten Fall mit einer kleinen Hilfestellung) die italienischen und spanischen Entsprechungen zu „Leben“ und „liebt“ zu finden und zuzuordnen (Z. 357-363): L.: Wenn du jetzt dich an den Ähnlichkeiten von Französisch, Italienisch und Spanisch? T.: Ah, Leben. L.: Genau, ne. T.: Ama ist Liebe. L.: Ja, genau. T.: Ach so, da ist wieder dieses (il) drin. Wie aus dem Dialog hervorgeht, erkennt Thomas trotz der ungenauen Reaktion (Z. 362) auf seine Äußerung „Ama ist Liebe.“ (Z. 361), in der das deutsche Substantiv akzeptiert wurde, anstatt auf die Übertragung mit „liebt“ zu bestehen ama als Verb (d.h. als Entsprechung zu aime). Darüber hinaus erinnert er sich daran, dass im Französischen ein Personalpronomen steht, nicht jedoch im Italienischen und Spanischen: „Ach so, da ist wieder dieses (il) drin.“ (Z. 363). Zusammenfassung wichtiger Befunde: Insgesamt konnte die Analyse dieser Interkomprehensionsstunde zeigen, dass das hier vorgeschlagene Aufgabenformat der „syntaktischen Serien“, das in Form einer Legeaufgabe von Wortkarten in vier Sprachen zu Relativsätzen, Konditionalsätzen und Sätzen in der indirekten Rede umgesetzt wurde, mit einem jungen Lerner durchführbar ist. Dass das Erkenntnisziel, jenes der syn- <?page no="337"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 323 taktischen Parallelität des Englischen und der romanischen Sprachen in Abweichung vom Deutschen, erreicht wurde (vgl. o. und s.u.), ist umso bedeutsamer, als es sich um einen Schüler handelt, der gerade erst mit dem Französischlernen begonnen und keinerlei Kenntnisse in weiteren romanischen Sprachen hat. Es konnte beobachtet werden: Thomas kann Wörter in ihm bislang unbekannten romanischen Sprachen identifizieren, indem er einerseits auf seine Brückensprachen zurückgreift (z.B. bei ital. treno). Andererseits reaktiviert er sein Wissen über das an Weihnachten im Unterricht thematisierte Lied Feliz Navidad, d.h. er nutzt Kontiguität („Weihnachten“, „Lied“, „fröhlich“, „glücklich“) für einen Identifikationstransfer 293 . Er orientiert sich bei der Suche nach interlingualen Entsprechungen und beim Aufbau der Sätze an Eigennamen, Toponymen („Paris“) und an graphischen Merkmalen wie der Groß- und Kleinschreibung (ital. Il). Er erkennt ital. nel als eine Kontraktionsform, die er zum Deutschen („im“) in Beziehung setzt. Thomas ist in der Lage, aus seinem sprachlichen Repertoire im Französischen Sprachformeln (ça va, qu’est-ce que c’est) zu aktivieren, diese in ihre einzelnen Elemente zu zerlegen und deren Bestandteile produktiv für metasprachliche Erkenntnisprozesse zu nutzen. Um seine metasprachlichen Beobachtungen zur Syntax der Zielsprachen und deren Abweichung vom Deutschen zu verbalisieren, entwickelt er im Laufe der Interkomprehensionsstunde (von sich aus) die Strategie, die fremdsprachliche Syntax durch entsprechende Wortumstellungen im deutschen Satz zum Ausdruck zu bringen. Hierbei handelt es sich um eine erfolgreiche Strategie, seine metasprachlichen Erkenntnisse auszudrücken, auch wenn seine Kenntnisse grammatischer Terminologie noch gering sind. Sie ist wichtig für Thomas’ Sprachenlernen und insbesondere für ein awareness raising über interlinguale syntaktische Unterschiede, die er durch die Nebenordnung von frz. le train qui va und ça va in Gegenüberstellung zu dt. *„der Zug, der geht nach …“ zum Ausdruck bringt. Da er diesen sowohl intraals auch interlingualen Sprachenvergleich selbst initiiert hat, können hier Nachhaltigkeitseffekte vermutet werden. 293 Hinsichtlich der Abrufbedingungen kann hier ebenfalls von „episodischem Wissen“ ge sprochen werden. Der Begriff des „episodischen Wissens“ wird in Anlehnung an Flick (1999: 124ff., 2000) als an konkrete situative Begebenheiten wie Zeit, Raum, Menschen, Ereignisse, usw. gebundenes Wissen verstanden; vgl. auch den Begriff des „episodischen Gedächtnisses“, das nach Tulving (1972; zitiert nach Mitschian 2000: 8) „zeitliche und raum-zeitliche Angaben [speichert] und […] sie mit einem autobiographischen Bezug dem vorhandenen Wissen ein[ordnet]“. <?page no="338"?> 324 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Bei Präsentation von entsprechendem Input (ein italienisches und ein spanisches Satzbeispiel) erkennt Thomas das in diesen Sprachen begegnende Null-Subjekt und transferiert diese Erkenntnis auf ein weiteres Beispiel. Er fasst syntaktische Parallelitäten zwischen dem Englischen und romanischen Sprachen in Abweichung vom deutschen Satzbau aus eigener Initiative zusammen. Auch hier bedient er sich einer Strategie, um seine metasprachlichen Beobachtungen zum Ausdruck zu bringen, in diesem Fall die Verwendung einer Metapher: „Deutschland ist ein Außenseiter.“ 2.11 Die zwölfte Interkomprehensionsstunde: Uno zoo da amare - „Sprachenquiz“ Zum Material: Nachdem Thomas in der vorangegangenen Interkomprehensionsstunde die italienische Sprache auf Satzebene kennengelernt hatte, wurde in dieser Stunde ein etwas längerer Text eingesetzt: Uno zoo da amare. Es handelt sich um Informationen über den Tierpark Parco Zoo Punta Verde in Lignano Sabbiadoro in der Provinz Udine und der Region Venetien 294 . Dem Text, in dem es vor allem um die Tiere geht, die in dem italienischen Tierpark zu sehen sind, wurden Tierbilder der Webseite beigefügt: Uno zoo da... amare Un paradiso da scoprire Lo zoo è un’opportunità per conoscere animali e piante provenienti da tutto il mondo. Passeggerete tra tigri, leoni, antilopi, giaguari, giraffe, zebre, canguri, lama, cammelli, ippopotami, scimmie, struzzi, pappagalli, fenicotteri e tanti altri animali. Der Text wurde ins Französische übersetzt; die englischsprachige Fassung wurde der Homepage des Zoos entnommen. Hierzu wurden einige Aufgaben entwickelt und mit „Sprachenquiz“ überschrieben: 1. Ordne die italienischen, französischen und englischen Wörter für die Tiere einander zu: (+ Linien zum Schreiben in drei Spalten) 2. Nenne mindestens drei Sachen (Gemeinsamkeiten oder Unterschiede), die dir auffallen. 3. Wie wird im Italienischen die Mehrzahl gebildet? Wenn „canguro“ ein Känguru und „zebra“ ein Zebra ist, wie sagt man dann auf Italienisch: 294 www.parcozoopuntaverde.it (10.04.10). <?page no="339"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 325 1 Giraffe: __________________________________ 1 Kamel: __________________________________ 1 Affe: __________________________________ 1 Papagei: __________________________________ 4. Welche unbestimmten Artikel kommen im italienischen Text vor, welche im französischen? 5. Kannst du noch weitere italienische und französische Wörter einander zuordnen? 6. a) Ordne die italienischen Begriffe den englischen zu: Facilities and service for all your needs [Wortkärtchen zum Anlegen]: (auf dem Arbeitsblatt abgedruckt): Bars and restaurants [bar e ristorante] Dogsitting service (for free) [servizio custodia cani gratuito] Toilets, access for disabled [toilettes, servizi per disabili] Picnic areas [aree picnic] Parking lot [parcheggio] Post boxes [cassetta della posta] Playgrounds [parco giochi] b) Was wird in dem Zoo alles angeboten? Wie aus den Aufgaben hervorgeht, fokussierte das Quiz die Identifikation von Interlexemen und die Pluralbildung im Italienischen. In der letzten Aufgabe sollten, wiederum anhand von Wortkärtchen, wie Thomas sie aus der Interkomprehensionsstunde zum „Wörterpuzzle“ (Abschnitt III 2.5) kannte, interlinguale Entsprechungen gefunden werden. In diesem Fall gehen die Beispiele jedoch über die Wortebene hinaus (mit Ausnahme von ital. parcheggio und engl. playgrounds), unter anderem um die unterschiedliche Versprachlichung, auch im morpho-syntaktischen Sinne (vgl. z.B. engl. picnic areas und ital. aree picnic) zu verdeutlichen. Die englischsprachigen Begriffe sind im Quiz abgedruckt, die italienischen lagen als Wortkärtchen vor und sollten entsprechend angelegt werden. Analyse der Interkomprehensionsstunde (20. April 2010): Zu Beginn der Interkomprehensionsstunde berichtet Thomas zunächst, was im Französischunterricht nach den Osterferien behandelt worden war (TR 12, Z. 9-14): T.: das hier und den Namen, also buchstabieren können, Vor- und Nachname. Und das war dann, also wir hatten jetzt … hier ist Alphabet hatten wir jetzt nochmal wiederholt. <?page no="340"?> 326 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven L.: Aha. T.: Hier das hier jetzt gemacht, wie die verschiedenen (Akzente) dann ausgesprochen werden und so. Nachdem ihm die Texte und das „Sprachenquiz“ vorgelegt wurden, identifiziert Thomas sofort sowohl die beteiligten Sprachen („Italienischen, französischen und englischen.“; Z. 29) als auch das Thema der Texte: „Tiere, oder? Ja, Wörter für Tiere.“ (Z. 33). Bei der ersten Aufgabe fällt zunächst auf, dass er − obwohl die Aufgabenstellung die Sprachenfolge: Italienisch, Französisch und Englisch beinhaltet und ihm auch die Texte in dieser Reihenfolge präsentiert wurden − die Abfolge Englisch, Italienisch und Französisch wählt und die Spalten entsprechend beschriftet. Möglicherweise möchte er sich an seiner stärksten Sprache Englisch orientieren, was allerdings nicht zur Wahl der ihm gänzlich ‚fremden‘ Sprache Italienisch an zweiter Stelle passen würde. Im Folgenden unterbricht Thomas nach etwa drei Minuten seinen Schreibprozess (Z. 35-38): T.: Ja. Uh, uh, hier. - (…) … Ach so, ähm, das S kommt da hinten weg, oder? L.: Ach so. T.: Weil ich weiß, weiß es nicht, weil ich die Wörter jetzt noch nicht so, weil hier muss F, F, S weg, oder ich (mache einfach das S noch dazu) 295 . Seine Frage: „das S kommt da hinten weg, oder? “ (Z. 35) zu der Wortbzw. Tierreihe: engl. giraffes − ital. giraffe − frz. girafes deutet eine erste (mehr oder weniger bewusste) Wahrnehmung an, dass im Italienischen der Plural nicht mit dem Endmorphem -s gebildet wird (die italienische Sprache also nicht zu den westromanischen Sprachen gehört; vgl. z.B. Kabatek & Pusch 2009: 12). Ob er ausgerechnet bei dieser Wörterreihe innehält, da das italienische Wort nach tigri, leoni, antilopi und giaguari das erste ist, das auf -e endet und ihm hierdurch an dieser Stelle (verglichen mit engl. giraffes und frz. girafes) das nicht vorhandene „S“ auffällt, kann nicht eindeutig gesagt werden. Bei der Tierreihe: hippopotami − ippopotami − hippopotames möchte er die Bedeutung wissen (Z. 42-44): T.: Was ist das denn? L.: Ähm, oder kennst du Hippos? T.: Ja. Auf der Grundlage der Verständnishilfe kann Thomas das deutsche Wort angeben: „Flusspferd.“ (Z. 53). 295 Bedingt durch die Materialmenge stand das Aufnahmegerät in dieser Interkomprehen sionsstunde weiter von Thomas entfernt, so dass bedauerlicherweise auch die Anzahl an unverständlichen Passagen hier größer ist. <?page no="341"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 327 Nachdem er die drei Spalten mit den englischen, italienischen und französischen Tierbegriffen vervollständigt hat, bringt er eine metasprachliche Beobachtung zum Italienischen zum Ausdruck: „Also … da ist überall I hinten dran.“ (Z. 74) 296 . Im Folgenden wird die zweite Aufgabe vorgelesen. Thomas fragt jedoch zunächst nach der Bedeutung von ostriches struzzi autruches (Z. 80) und führt an, die Bedeutung aller weiteren Tierbegriffe erschließen zu können (Z. 82). Auch zu der Aufgabenstellung hat er eine Frage: „Ähm, Gemeinsamkeiten oder Unterschiede. Also so (....), müssen das alle drei sein, die Gemeinsamkeiten? “ (Z. 91-92). Es war in Aufgabe 2 intendiert, dass Thomas drei sprachliche Beobachtungen insgesamt, die sich auf Gemeinsamkeiten oder Unterschiede beziehen können, macht und zu versprachlichen versucht. Angesichts des sehr ungenauen Begriffs „drei Sachen (Gemeinsamkeiten oder Unterschiede)“ (s.o. im Aufgabentext) vergewissert er sich hier zu Recht. In seiner ersten Angabe zu dieser Aufgabe bezieht sich Thomas auf die Wörterreihe zum „Löwen“ mit dem Hinweis, dass das englische und das französische Wort gleich geschrieben werden (Z. 95-105): L.: Weißt du auch, wie man das aussprechen würde? Also, könnte man an der Aussprache hören, ob das jetzt das französische oder englische ist? T.: Ja. L.: Mhm. Englische? T.: Lion. L.: Ja, genau, genau. … T.: Ist das eigentlich hier nur in der Einzahl? Oder ist (das Mehrzahl)? L.: Ja, genau das ist es. Das ist nämlich gar nicht die Einzahl, weil … T.: Ja, dann kann es ja nur die (…) sein. Weil (…) ein S ist. L.: Genau, ne, das wäre dann halt ein Unterschied. T.: Also theoretisch kann das Italienische nie gleich mit dem Englischen (…). Vor dem Hintergrund der identischen Schreibweise von engl. lion und frz. lion wird der Versuch gemacht, eine Disambiguierung im Lautbild zu initiieren. Dieser Prozess wird allerdings von Thomas, nachdem er die Aussprache des englischen Wortes für „Löwe“ korrekt angegeben hat, unterbrochen, indem er fragt, ob die italienischen Wörter im Singular oder im Plural stehen (Z. 101). 296 Da das Aufschreiben der Tierbegriffe (inklusive der Interaktionen währenddessen) rela tiv viel Zeit in Anspruch genommen hat, ist im Nachhinein zu fragen, ob die Präsenta tion der Tierwörter in den drei Sprachen allein ausreichend gewesen wäre. Auf der ande ren Seite kann − in Anlehnung an Häussermann & Piephos (1996: 321f.) Hinweis, dass „Schreiben, als tastendes Tun, ein Tun mit der Hand, [...] tiefe Spuren [gräbt]“ − jedoch auch angenommen werden, dass das eigene Schreiben mit der Hand bei Thomas eine Aufmerksamkeitslenkung bewirkt hat, die (beispielsweise) zur oben zitierten meta sprachlichen Beobachtung („da ist überall I hinten dran.“) beigetragen haben könnte. <?page no="342"?> 328 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Dies zeigt, dass er zuvor zwar erkannt hatte, dass im Italienischen kein „S“ steht (Z. 35) und „überall I hinten dran“ (Z. 74) ist (s.o.), ihm zu jenem Zeitpunkt jedoch noch nicht (oder weniger) bewusst war, was diese Beobachtung zu bedeuten hat. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass er die regelmäßige Pluralbildung sowohl im Englischen als auch im Französischen als ein Anhängen des Pluralmorphems -s kennengelernt hat, ist seine Unsicherheit, ob es sich bei den italienischen Wörtern um die „Einzahl“ oder die „Mehrzahl“ handelt (Z. 101), verständlich. Bei seiner schriftlichen Angabe zu Aufgabe 2 hat Thomas den Singular verwendet: „„Löwe“ wird beim englischen u. b. franz. gleich geschrieben.“ 297 . Nun möchte er offenbar wissen, was es mit dem -i im italienischen leoni auf sich hat: „Ist das eigentlich hier nur in der Einzahl? Oder ist (das Mehrzahl)? “ (Z. 101). Seine Schlussfolgerung, das Italienische könne theoretisch nie mit dem Englischen gleich sein (Z. 105), deutet auf die Wahrnehmung eines systematischen Unterschieds hin. Auf dem Arbeitsblatt hat Thomas als zweiten Beobachtungspunkt geschrieben: „beim engl. u. b. franz. wird bei der Mehrzahl ein „s“ drangehängt, beim ital. nicht“ 298 . Nachdem er nach der Abkürzung für das Wort „italienisch“ gefragt hat, schlägt er von sich aus eine weitere Tierreihe als Fokus der Betrachtung vor (Z. 110-125): T.: Was ist die Abkürzung für Italienisch? L.: Äh, ital Punkt. - Mhm, genau. ((Räuspern)) T.: Ähm … Wie werden die drei ausgesprochen? L.: Äh - T.: Also jetzt nacheinander. L.: Äh welche? Diese? T.: Also die drei. L.: Die Lamas? T.: Ja. L.: Äh, du hattest zuerst Englisch, ne? T.: Mhm. L.: Lamas, lama, lamas. T.: Ah. Ähm … L.: Was wolltest du jetzt schreiben? T.: Lama wird doch eigentlich im Französischen und Italienischen genau, also gleich ausgesprochen. Wie aus dem Dialog hervorgeht, wählt Thomas die Wörterreihe engl. lamas ital. lama frz. lamas und kehrt zum metasprachlichen Fokus interlingualer Relationen von Schriftbild und Aussprache zurück (vgl. oben zur Wörterreihe: 297 Wortlaut vom Aufgabenblatt. 298 Ebenfalls Wortlaut vom Aufgabenblatt. <?page no="343"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 329 „Löwe“). Er beobachtet, dass die französische und italienische Pluralform gleich ausgesprochen werden 299 . Da die Pluralbildung im Französischen aufgrund von häufigerem Stundenausfall, insbesondere zu Beginn des Schuljahres, erst relativ spät behandelt wurde (Thomas’ Angabe zufolge im Januar 2010), scheint er hier die Hypothese zu überprüfen, dass die Pluralbildung im Französischen zwar im Schriftbild durch ein Anhängen von „-s“ erfolgt, im Lautbild diese Änderung abweichend vom Englischen jedoch nicht hörbar ist. Zwar geht aus seiner Frage: „Wie werden die drei ausgesprochen? “ (Z. 112) der genaue (meta-) sprachliche Fokus nicht hervor, wohl jedoch seine Absicht eines interlingualen Vergleichs: „Also jetzt nacheinander.“ (Z. 114). Darüber hinaus ist er auf Nachfragen hin (Z. 123), was er zu schreiben beabsichtige, in der Lage, seine metasprachliche Beobachtung zu verbalisieren (Z. 124-125). Auf dem Arbeitsblatt hat er als dritten Punkt notiert: „‚Lama‘ wird beim ital. u. b. franz. gleich ausgesprochen.“ Zwar hat er hier den Plural nicht explizit erwähnt, dass er sich jedoch hierauf bezieht, kann gerade aus der Tatsache geschlossen werden, dass er in seiner (sowohl mündlichen als auch schriftlichen) Stellungnahme die englische Sprache ausschließt, obwohl er zuvor von einem dreisprachlichen Vergleich ausgegangen war (vgl. oben). Diese Hypothese bestätigt sich im Folgenden (Z. 130-135): Zunächst stellt Thomas fest, dass das italienische Wort für mehrere „Lamas“ kein Plural-„s“ hat (Z. 130). Dass er im Anschluss die Schreibung und Aussprache auf interlingualer Ebene vergleicht und dies offenbar mit Erfolg, lässt sich aufgrund der schlechten Aufnahmequalität bei dieser Interkomprehensionsstunde leider nur aus dem bestätigendem Feedback rekonstruieren (Z. 133-135). In der dritten Aufgabe ist Thomas nun im Sinne eines Produktionstransfers gefordert, seine Erkenntnis der Bedeutung der Endvokale -i und -e im Italienischen zum Ausdruck zu bringen, indem er für vier der im Plural genannten Tierarten, die im Parco Zoo zu sehen sind, den Singular angeben soll (s.o.). Da dies auf der Textgrundlage allein selbstverständlich nicht möglich ist, da dort alle Tiere im Plural erscheinen, wird in der Aufgabenstellung exemplarisch der Singular für canguri → canguro und zebre → zebra angegeben. Dass in der Aufgabe selbst (s.o.) jedoch lediglich die Singularformen, die dazu gehörigen Pluralformen aber nicht aufgeführt werden, hat sich als irreführend herausgestellt (Z. 150-154): T.: Ah. Ah ja. … (…) - Ein - (…) da gibt es aber auch keine Regel oder irgend so was. Da ist ja immer an, beim, beim davor Buchstaben kann man es auch 299 Abgesehen von der Silbenbetonung. Da Thomas die Pluralbildung im Italienischen gerade erst kennenlernt, hätte - im Nachhinein betrachtet - die Tierart „Lamas“ weg gelassen werden sollen, denn es handelt sich bei ital. il lama → i lama um einen unregel mäßigen Plural. <?page no="344"?> 330 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven nicht, weil beides ein R ist, unterschiedliche Buchstaben. - Ach so, aus dem I wird dann O. L.: Ja, genau. Genau. T.: Ähm (…) - Ach so ein Zebra, und aus dem E wird ein A. Und aus einem I wird ein O. Zu Beginn dieser Passage (Z. 150-153) wird die Suche nach Regularitäten durch Thomas’ lautes Denken sehr explizit. So vergleicht er zunächst die in der Aufgabenstellung enthaltenen italienischen Wörter canguro und zebra miteinander. Er sucht nach Merkmalen, die diese beiden italienischen Wörter voneinander unterscheiden, um eine Hypothese über eine Regelhaftigkeit aufstellen zu können: „Da gibt es aber auch keine Regel oder irgend so was. Da ist ja immer an, beim, beim, davor Buchstaben kann man es auch nicht, weil beides ein R ist“ (Z. 150-156). Dass er sich bei diesem intralingualen Vergleich auf den Buchstaben vor den Endvokalen (canguro und zebra) konzentriert, kann als ein strategisches Vorgehen bezeichnet werden. Denn: Auch bei der Pluralbildung im Englischen spielt bekanntermaßen der „[Buchstabe davor]“ (bzw. der Endlaut) eine Rolle, wie sich an Beispielen wie: one park two parks, aber: one church two churches illustrieren lässt. Wie die Fortsetzung des Dialogs verdeutlicht („Ach so ...“; Z. 152-156), ist Thomas, nachdem er bemerkt hat, dass der Konsonant vor dem Endvokal hier keine Rolle spielt, auf Anhieb in der Lage, die Regeln zum italienischen Plural und Singular zu formulieren. Auch die schriftliche Aufgabe des Regeltransfers auf andere Wortbeispiele, d.h. hier: Tierbegriffe, leistet Thomas ohne Probleme: giraffa, cammello, scimmia, pappagallo. Lediglich beim Singular für „Kamele“ vergewissert er sich: „wird aus dem I ein U? Oder ein O? Ein I wird ja ein O, ne? “ (Z. 182-183). Aus seinen Fragen, die er sich sofort selbst beantwortet, geht hervor, dass er nicht bei der Regel an sich unsicher ist, sondern lediglich in Bezug auf die Frage, durch welchen konkreten Buchstaben der Singular markiert wird (Z. 185-189): T.: Also … Cammello. L.: Genau. T.: Cammello. Erst, ach so, na ja gut. … Scimmia. L.: Mhm, mhm. … T.: Pappagalli - pappagallo. Bei der vierten Aufgabe zu den unbestimmten Artikeln im Italienischen und Französischen ergibt sich folgender Dialog (Z. 214-220): L.: Genau. Warum ist der Apostroph da? T.: Weil zwei E oder O (...) L.: Ja. T.: Also ist das Gleiche. Un - und soll ich jetzt un Apostroph schreiben, oder wie? <?page no="345"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 331 L.: Ja, genau. T.: Das geht ja da auch im Französischen, oder? Oder geht es da nicht? Thomas fällt auf, dass es den italienischen Artikel un ohne (vgl. Un paradiso) und mit (un’opportunità) Apostroph gibt. Als Erklärung gibt er „weil zwei E oder O“ an. Dies entspricht seiner Sensibilität für intralingual zielsprachliche Ausspracheregelungen, die er bereits zuvor sowohl auf seine erste Fremdsprache Englisch bezogen (vgl. „* a elephant, das, man redet da nicht so, das würde sich nicht anhören“; TR 1, Z. 299-300) als auch für seine zweite Fremdsprache Französisch zum Ausdruck gebracht hat („dann klingt es ja besser, wenn man l’amie dann sagt“; TR 7, Z. 208-209). Vermutlich aufgrund der großen interlingualen Ähnlichkeit auf Sprachoberfläche bzw. im Schriftbild: Übereinstimmung des italienischen Artikels un mit dem französischen (un) ist Thomas einen Moment verunsichert, ob es die Apostrophierung des unbestimmten Artikels auch im Französischen gebe (Z. 220). In der Antwort wird das Beispiel von l’amie une amie / l’ami un ami aus der Découvrir-Aufgabe aus À plus 1 (Bächle et al. 2004: 18) wieder aufgegriffen, die in der siebten Interkomprehensionsstunde bearbeitet wurde (Abschnitt III 2.6). Angesichts der bereits fortgeschrittenen Zeit widmen wir uns im Folgenden der sechsten Aufgabe, „Facilities and service for all your needs“, in der italienische Begriffe über weitere Angebote des Parco Zoo Punta Verde den englischen zugeordnet (Teil a)) und in ihrer Bedeutung erschlossen werden sollen (Teil b); s.o.). Die englischen Begriffe sind, wie eingangs erwähnt, auf dem Aufgabenblatt abgedruckt, die italienischen liegen als Wortkärtchen vor, so dass sie angelegt werden können. Angesichts der vorangegangenen Aufgabe 3 zum Singular und Plural im Italienischen ist es im Nachhinein als ungünstig anzusehen, dass die Information über die Lokale in dem Zoo einmal im Plural und einmal im Singular angegeben wird (bars and restaurants bar e ristorante) 300 . Interessanterweise bezieht sich Thomas zuallererst nicht auf das auf sprachlicher Oberfläche interlingual hochgradig ähnliche Wörterpaar bars and restaurants bar e ristorante, das zudem in der Liste an erster Stelle steht, sondern auf post boxes cassetta della posta (Z. 296-298): T.: Ähm … (…) passt da, genau. Ah, (…). Man sagt doch zu Boxen auch Kassette, oder? L.: Ja. Thomas fügt seiner Zuordnung aus eigener Initiative eine metasprachliche Stellungnahme bzw. Frage hinzu, jene, ob die Substantive „Boxen“ und „Kas- 300 Die Frage von Singular oder Plural wird, allerdings mit Bezugnahme auf die deutsche Sprache, im Zusammenhang mit diesem Angebot thematisiert (s.u.). S. außerdem: post boxes und cassetta della posta. <?page no="346"?> 332 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven sette“ synonym verwendet werden können. Da die deutsche Entsprechung („Briefkasten bzw. -kästen“) weder das eine noch das andere Wort enthält, er jedoch im Aufgabenteil b) die Bedeutung von post boxes bzw. cassetta della posta angeben kann, wird hier seine Vorgehensweise bei der Zuordnung (Aufgabenteil a)) deutlich: Er sucht nach formalen deutschen Entsprechungen für engl. boxes und ital. cassetta und prüft im Anschluss, ob diese sich auf semantischer Ebene miteinander verknüpfen lassen. Im Folgenden gelingt ihm die Zuordnung von toilettes, servizi per disabili zu toilets, access for disabled. Er kann die Bedeutung von disabled bzw. disabili allerdings nicht erschließen. Auch der Hinweis auf den englischsprachlichen Ausdruck „to be able to do something“ (Z. 303) hilft ihm nicht, da er angibt, diesen noch nicht zu kennen, so dass ihm die Übertragung genannt wird. Zu den Wörterpaaren picnic areas und aree picnic stellt Thomas fest (vermutlich mit Bezugnahme auf picnic): „Das ist genau das gleiche Wort, das muss doch stimmen.“ (Z. 319). Mit der Zuordnung von playgrounds und parco giochi hat Thomas Schwierigkeiten. Zwar kann er aufgrund der interlingualen Ähnlichkeit auf Sprachformebene das deutsche Substantiv „Park“ (Z. 335) für ital. parco nennen, seine Zuordnungsprobleme sind an dieser Stelle jedoch vermutlich im konzeptuellen Bereich anzusiedeln (Z. 339-341): T.: Ach so, die, also was playgrounds ist im Park. Ach so. L.: Ja, was, was ist playground? Also das englische playground auf, auf Deutsch? T.: Spielplatz. Der Dialog verdeutlicht, dass Thomas, gerade weil ihm das englische Wort playground bekannt ist, hier Schwierigkeiten auf konzeptueller Ebene hat, weil er auf der Grundlage seiner Erfahrungen vermutlich einen „Spielplatz“ nicht mit einem „Park“ in Verbindung bringt: „also was, playgrounds ist im Park“ (Z. 339). Für das Wörterpaar bars and restaurants und bar e ristorante fragt Thomas, was er unter Aufgabe 6 b) als Angebot des Parco Zoo in deutscher Sprache schreiben soll, den Singular oder den Plural: „Muss im Deutschen die Mehrzahl von Bar, also deswegen? “ (Z. 346). Zum Zeitpunkt der Interkomprehensionsstunde wurde seine Frage als eine Nachfrage nach der deutschsprachlichen Pluralform für „Bar“ interpretiert, da es sich um ein Fremdwort im Deutschen handelt 301 . Der Vorschlag, den Thomas daraufhin macht, um eine Antwort auf diese Frage zu finden, ist aus Sicht der Wörterbuchdidaktik interessant (Z. 349-350): 301 Diese Interpretation wurde möglicherweise auch durch die Kenntnis des italienischen Plurals (un bar due bar) zusätzlich beeinflusst. <?page no="347"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 333 T.: Komm 302 , wir gucken einfach im Wörterbuch. Wir gucken im Englisch- Deutsch, dann haben wir ja hier bars und dann können wir auf Deutsch Aus seiner Äußerung lässt sich ablesen, dass er, obwohl er ein zweisprachiges Wörterbuch Englisch-Deutsch Deutsch-Englisch besitzt 303 , noch nicht geübt im Umgang mit diesem ist. So nimmt er an, in einem zweisprachigen Wörterbuch die Antwort auf die Frage zu finden, ob der Plural im Deutschen „Bar“ oder „Bars“ heißen muss. Ihm ist offenbar (noch) nicht bewusst, dass er gerade weil es sich bei der Form bars im Englischen um einen regelmäßigen Plural handelt diese Pluralform im englisch-deutschen Wörterbuch nicht finden wird („dann haben wir ja hier bars“). Gleiches gilt für die deutsche Pluralform, da das Wörterbuch an Germanophone gerichtet ist und daher (zumindest im Wörterverzeichnis) keine Informationen über die Pluralbildung im Deutschen enthält. Nach Erhalt des gewünschten Wörterbuchs 304 stellt Thomas fest (Z. 358-360): T.: Bar. - Bar, bar, bar, bar, bar, bar, bar (…). … Bar, bar. (…) Bar. Hier, bar. Es gibt auch hier - das ist das allerbeste (…) bar. (…) Bar (…) … (…) Wo haben wir denn Mehrzahl? Steht die Mehrzahl gar nicht drin? Dieser Befund weist deutlich darauf hin, dass ein kompetenter Umgang mit lexikalischen Hilfsmitteln wie Wörterbüchern einer expliziten Thematisierung und Einübung im Sinne des savoir apprendre bedarf und sich nicht ,nebenbei‘ oder ,von selbst‘ herausbildet. Für eine Entwicklung von Lernerautonomie ist eine solche Heranführung unerlässlich. Zum Thema von Wörterbüchern im Fremdsprachenunterricht und zur Wörterbuchbenutzungsforschung liegen bereits einige Arbeiten vor (Meißner 1987, 2003b, 2010d: 118ff.; Müllich 1990; Zöfgen 1994). Dennoch weisen Lernerbefragungen darauf hin, dass eine Förderung der Kompetenz zur effektiven Wörterbuchnutzung noch nicht wirklich Eingang in den schulischen Fremdsprachenunterricht gefunden hat 305 . 302 Zum Duzen vgl. Fußnote 291. 303 Thomas zufolge handelt es sich um ein Wörterbuch von Langenscheidt mit etwa 80.000 Stichwörtern. Selbstverständlich konnte er nicht diese genauen Angaben machen, zeigte jedoch auf ein Niederländisch-Deutsch Deutsch-Niederländisch-Wörterbuch im Regal und sagte, dass sein Englischwörterbuch in etwa diese Größe habe. 304 Es handelt sich um Englisch-Deutsch Deutsch-Englisch. Das große Oxford-Wörterbuch. (Deuter 2003). 305 In einer online-Befragung von 1113 Studierenden (jüngere Semester aller Fachbereiche) der Justus-Liebig-Universität in Gießen im Zeitraum 2006/ 2007 über ihren schulischen Fremdsprachenunterricht war beispielsweise die Rücklaufrate bei den Fragen zur Arbeit mit dem Wörterbuch äußerst gering, was damit erklärt wurde, dass „ein Großteil der Probanden mit dem Item wenig anfangen konnte“ (Meißner & Schröder-Sura 2009: 31). Die Frage, ob Wörterbuchbenutzung ein Teil des Unterrichts gewesen sei, beantwor teten für das Fach Französisch lediglich 40% der Studierenden mit „Ja“, 48,6% ver neinten und 11% konnten keine Angaben zu der Frage machen (ebd.). <?page no="348"?> 334 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Nachdem mit Hilfe des Rechtschreibdudens (Drosdowski et al. 1980: 145) ermittelt wurde, dass der Plural im Deutschen „Bars“ lautet, widmet sich Thomas dem englischsprachlichen Angebot: Dogsitting service (for free). Zwar hatte er die italienische Entsprechung (servizio custodia cani gratuito) bereits korrekt zugeordnet vermutlich auf der Grundlage der interlingualen Ähnlichkeit von service und servizio , er kann jedoch zunächst die fremdsprachigen Wortketten nicht mit Bedeutung füllen (Z. 424-434): T.: Ähm, was ist dogsitting service? L.: Ja, was ist, was dog? T.: Ei, Hund. L.: Mhm. T.: Hund-Sit-Service. L.: Ja, oder Sitting, wo kennt man das noch? Wenn jetzt Babysitting, wenn du daran zum Beispiel denkst. T.: Ach so, dogs, also ach so, Hundebetreuung. L.: Ja, genau, genau. T.: Ja, wie soll man das im Deutschen (fassen). L.: Wie du es gesagt hast, Hundebet-, Hundebetreuung, ne. Obwohl ihm das englische Wort dog selbstverständlich bekannt ist, kann Thomas auch mit seiner Teilübersetzung „Hunde-Sit-Service“ (Z. 428) zunächst kein Konzept verbinden. Erst als der Begriff „Babysitting“ (Z. 429) fällt (der wohl geläufiger ist als dogsitting ebenso wie die Dienstleistung, für die er steht), versteht Thomas, was gemeint ist. Da es jedoch, abweichend von „Babysitting“, den Ausdruck „Dogsitting“ im Deutschen nicht gibt, gelingt es ihm, wie schon häufig im Laufe dieser Untersuchung 306 , einen dem deutschen Sprachgebrauch entsprechenden Begriff („Hundebetreuung“) zu finden. Sein Nachfragen in Zeile 433: „wie soll man das im Deutschen (fassen)“ deutet allerdings darauf hin, dass es sich bei „Hundebetreuung“ um eine spontane Übertragung handelt und er sich nicht sicher ist, ob dieses Wort in der deutschen Sprache existiert. In Bezug auf die Wörterpaare picnic areas und aree picnic ergibt sich folgender Dialog (Z. 443-446): T.: Picknickareal, was immer das heißt, Picknick (…), weiß nicht, was soll man denn da schreiben im Deutschen? L.: Area? T.: Ja, ja, ich weiß schon. Also Picknickbereich oder so? Thomas scheint hier zunächst die Strategie zu verfolgen, den englischen Ausdruck picnic area der deutschsprachigen Variante anzupassen. Seine Äußerung „Picknickareal, was immer das heißt“ deutet darauf hin, dass ihm die Existenz 306 Vgl. z.B. zum Transferauslöser nl. doelman (Abschnitt III 2.1), engl. university students (Abschnitt III 2.7) und frz. pour petits et grands (Abschnitt III 2.8). <?page no="349"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 335 des deutschen Fremdwortes „Areal“ bekannt ist, er dessen genaue Bedeutung aber nicht kennt. Zumindest scheint er sicher zu sein, dass man das Wort „Picknickareal“ hier nicht verwenden kann („was soll man denn da schreiben im Deutschen? “). Schließlich ist noch seine Übertragung von engl. parking lot zu erwähnen: „Viele Parkplätze“ (Z. 448). Da zu Beginn des Englischlehrgangs in den weiterführenden Schulen in der Regel British English fokussiert wird 307 , hat Thomas das englische Wort für „Parkplatz“ sicherlich (wenn überhaupt) als car park, nicht jedoch als parking lot (American English) kennengelernt. Dies hat vermutlich dazu geführt, dass obwohl sich der Ausdruck im britischen Englisch ebenfalls aus zwei Wörtern zusammensetzt Thomas lot als nicht zur Entsprechung von dt. „Parkplatz“ gehörend wahrgenommen hat. Seine Hypothese zu engl. lot, die seinem Übertragungsvorschlag offensichtlich zugrunde liegt, d.h. dass es sich um eine Form des englischen Ausdrucks a lot of handelt (den er sicherlich aus dem Englischunterricht kennt), kommt zwar syntaktisch weniger in Frage. Kontextuell ist es hingegen in der Tat naheliegend, auf einer Webseite, die über Angebote in einem Zoo informiert und Besucher anlocken möchte, zu erwarten, dass von „vielen Parkplätzen“ die Rede ist. Zusammenfassung wichtiger Befunde: Thomas ist in der Lage, die italienischen, französischen und englischen Tierwörter einander zuzuordnen. Er kann die Regeln zum Singular und Plural im Italienischen in Form eines Produktionstranfers anwenden und die Singularformen für die Tierbegriffe im Plural durch Analogiebildung angeben. Er ordnet die englische und italienische Adäquanz post boxes und cassetta della posta einander zu, indem er auch die deutschsprachigen Varianten (boxes „Boxen“ und cassetta „Kassette“) nennt. Thomas entdeckt, dass die italienischen Substantive nicht auf -s enden, sondern (viele) auf -i und bildet so eine Hypothese. Er formuliert die Hypothese als Frage („Ist das eigentlich hier nur in der Einzahl? Oder ist (das Mehrzahl)? “). Bei der offenen Frage nach interlingualen Gemeinsamkeiten oder Unterschieden ist er in der Lage, selbst den metasprachlichen Fokus (u.a. die Schreibweise von „Löwe“ und Englischen und Französischen und die Aussprache von „Lamas“ im Französischen und Italienischen) zu bestimmen. 307 Im an der Gesamtschule, die Thomas besucht, verwendeten Lehrwerk English G 21 heißt es beispielsweise in der Einführung des vierten Bandes: „Welcome to the United States of America“ (http: / / www.cornelsen.de/ ). <?page no="350"?> 336 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven 2.12 Die 13. und 14. Interkomprehensionsstunde: Inspector/ teur Gadget Zum Material: Für die 13. und 14. Interkomprehensionsstunde wurde angesichts Thomas’ Interesse wiederum ein Film gewählt. Dieses Mal handelt es sich um den Animationsfilm zur gleichnamigen Fernsehserie Inspecteur Gadget. Die Serie ist eine Koproduktion der USA, von Frankreich, Kanada und Japan. Die Originalsprachen sind Englisch und Französisch 308 . Die DVD zum Film ist eine französische Pressung, die nur mit der französischen Sprachfassung (Audio und Untertitel) versehen ist. 309 Bei Inspecteur Gadget handelt es sich um einen tollpatschigen Inspektor, dessen Körper und Besitzgegenstände mit zahlreichen eingebauten Geräten („Gadgets“) ausgestattet sind. So lassen sich die Arme und Beine des Inspektors beispielsweise wie ein Teleskop ausfahren; er kann seine Hand als ein Telefon benutzen; aus seinem Hut kommen bei Bedarf Propellerblätter, so dass er fliegen kann, usw. In dem Animationsfilm aus dem Jahre 2005 mit dem Titel: Inspecteur Gadget et le ptérodactyle géant (Originaltitel: Inspector Gadget’s Biggest Caper Ever steht das prähistorische Ei einer Rieseneidechse im Mittelpunkt. Auf dem DVD-Cover sind unter anderem sowohl das Ei als auch die Echse zu sehen, im Text zum Film heißt es: Inspecteur Gadget se lance dans une amusante aventure. Cette fois-ci, le détective maladroit doit enquêter sur le vol de la nouvelle acquisition de Métro Cité, l’œuf préhistorique d’un énorme lézard ailé ! L’œuf va bientôt s’ouvrir, et l’inspecteur doit le retrouver le plus vite possible avant que l’énorme bête ne détruise la ville. Grâce à ses nombreux gadgets ingénieux et à son astucieuse nièce, il va bientôt résoudre le mystère. Gags, maladresse et gadgets sont de retour. Toujours entouré de sa fidèle équipe, l’inspecteur Gadget affronte de nouveau son pire ennemi : le docteur Gang. Un film réjouissant pour toute la famille ! Da die DVD zum Inspecteur-Gadget-Film, wie erwähnt, anders als im Falle der Garfield-DVD ausschließlich die französische Sprachfassung enthält und vermutet wurde, dass Thomas die Figur des Inspektor Gadget nicht kennt, wurde 308 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Inspector_Gadget (01.05.10). 309 Gadget 3D : Inspecteur Gadget et le Ptérodactyle géant. [Inspector Gadget's Biggest Caper Ever]. R.: Ezekiel Norton. Drehbuch: Phil Harnage. Produktionsland: Kanada / USA. DIC Entertainment, Mainframe Entertainment 2005. Fassung: DVD. FIP 2006. 70 Minuten. <?page no="351"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 337 zunächst ein englischsprachiger Text über den Inspektor eingesetzt. Der Text enthält eine kurze Information über dessen Eigenschaften und erwähnt die weiteren Hauptfiguren, dessen Nichte Penny und ihren Hund Brain. Im Anschluss wird eine Liste gegeben mit den am häufigsten benutzen gadgets von den binoculars bis hin zu den springs 310 : Inspector Gadget Often cluelessly stumbling through any case he is given, Gadget frequently ignorantly makes foolish and insufferably clumsy mistakes pertaining to surroundings and current environment, mistaking innocent bystanders (and sometimes Brain, his niece Penny’s dog) for enemies, and believing that the real enemies are friends. His ineptitude always leads him into danger, but he always gets out of trouble through either his trusty gadgets (most notably his springs), Penny’s unseen assistance, or pure luck. Most commonly used gadgets Gadget Binoculars: Binoculars lower down out of his hat and over his eyes. Gadget 'Brella: A hand holding an umbrella that comes out of his hat. It can be used as a parachute. More often than not, he will fall rapidly when using his ‘Brella’ when it turns inside-out. Gadget Coat: His trench coat inflates when he pulls one of its buttons and enables him to float − in water or in the sky. Gadget 'Copter: Helicopter propeller blades that come out of his hat that enable him to fly. Gadget Cuffs: A handcuff comes out of his forearm just above his hand. Gadget Hands: Several mechanical hands can pop out of Gadget’s hat. These hands will sometimes hold various objects including a camera, a spotlight, a can opener, and other useful things. Of course, there are times when they will also be holding something useless or unhelpful to the situation. Gadget Legs/ Arms/ Neck: His neck, arms, and legs can telescope and extend to great lengths. Top-Secret Gadget Phone: A telephone in his hand. The earpiece is in his thumb, while the mouthpiece is in his pinky finger. Gadget Skates: Roller skates come out of the bottom of his shoes. He is often very clumsy and struggles to keep his balance on the skates. Gadget Springs: A spring comes out of his hat, enabling him to bounce, usually when falling head first and hitting his head against the ground. His legs can also extend with springs, which he uses often for jumping and landing. 310 http: / / en.wikipedia.org/ wiki/ Inspector_Gadget (Mai 2010). <?page no="352"?> 338 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Neben der Lektüre des englischsprachigen Textes über den Inspektor und dessen gadgets und einer Betrachtung des Klappentextes der französischsprachigen DVD sollten selbstverständlich Ausschnitte des Films angesehen werden 311 . Analyse der Interkomprehensionsstunde (4. und 18. Mai 2010): Zunächst bestätigt Thomas die Vermutung, derzufolge er die (Zeichentrick-) Figur des Inspektor Gadget nicht kennt (TR 13, Z. 286). Für das englischsprachliche Substantiv gadget kann er eine Bedeutung ausschließen (Z. 292- 297): L.: Und das ist halt ein Inspektor, kennst du das englische Wort gadget? T.: Ähm … (…) Weil Fall ist ja case. L.: Ja. T.: Also kann das nicht. L.: Genau, case, aber kann man schon mal festhalten, das kommt nämlich in dem Text auch vor. Im Folgenden wird Thomas erläutert, dass es das Wort gadget sowohl im Englischen als auch im Französischen gibt und was es bedeutet. Er unterbricht das Vorlesen des ersten Satzes, um eine Hypothese zu überprüfen (Z. 328-333): T.: Kommt niece von nice? L.: Äh nee. Von nephew. T.: Was war nephew denn? L.: Das ist Neffe und hier in diesem Fall ist es Nichte. T.: Ach so. Also - seine - also der Hund von seiner Cousin-, äh von seiner Neffin Penny? So vermutet Thomas aufgrund der formalen Ähnlichkeit einen intralingualen Zusammenhang von engl. niece und nice. Dies muss nicht notwendigerweise bedeuten, dass er niece für ein Adjektiv hält, da seine Formulierung („Kommt niece von nice? “) die Möglichkeit einer Derivation mit beinhaltet. Thomas’ Wortbildung *„Neffin“ in Zeile 333 deutet an, dass er an dieser Stelle möglicherweise tatsächlich intralinguale Derivationen ,im Hinterkopf‘ hatte (auch vor dem Hintergrund, dass ihm das Wort „Nichte“ kurz zuvor genannt wurde). Andererseits könnte aufgrund seines false starts („von seiner Cousin, äh“) auch angenommen werden, dass er vielleicht etwas unsicher mit Verwandschaftsbezeichungen ist. Bemerkenswert ist, dass er die Genetivkonstruktion (his niece Penny’s dog) ohne Probleme überträgt: „der Hund ... von seiner Neffin Penny“. 311 Aus diesem Grund sind die Transkriptionen der Interkomprehensionsstunden kürzer und werden diese in einem Abschnitt zusammengefasst. Auch in diesem Fall hat sich Thomas den Film im Anschluss an die Stunden ausgeliehen und zuhause im Ganzen gesehen. <?page no="353"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 339 Often cluelessly stumbling through any case he is given: Im Folgenden spricht Thomas das Adverb cluelessly zu Beginn des Textes an (Z. 340-342): T.: Clueless. Was war denn clue? L.: Kennst du dieses clue? Man sagt: I haven’t got a clue. T.: Ich kenne nur glue mit G. Seine Frage, was clue bedeute, zeigt, dass Thomas in der Lage ist, das Adverb cluelessly bzw., falls er die Auslassung des Endmorphems -ly nicht bemerkt hat, das Adjektiv clueless in seine Bestandteile zu dekomponieren. Darüber hinaus zeigt seine Äußerung in Zeile 342, dass er sich bewusst ist, dass trotz der intralingualen Ähnlichkeit von engl. clue und glue das eine Wort nichts mit dem anderen zu tun haben kann. Ob diese Bewusstheit durch die Wortelemente des Adverbs clue-less-ly oder durch die Bedeutung von glue (= „Klebstoff“) zustande gekommen ist, kann nicht gesagt werden. Im Folgenden wird seine Aufmerksamkeit auf das Suffix -less gelenkt (Z. 347-351): L.: Nee, es gibt ja zum Beispiel auch meaningless, also dieses -less, was sagt man da auf Deutsch meist? T.: Hm. … Vielleicht fehlen, oder? L.: Bitte? T.: Vielleicht fehlend, oder? Auf der Grundlage eines weiteren Adjektivs mit dem Suffix -less kann er die deutschsprachige Entsprechung („bedeutungslos“) zwar nicht anführen, wohl aber die Bedeutung der Endsilbe -less, die er mit „fehlend“ umschreibt. Dass Thomas bewusst ist, dass es sich hierbei um eine Umschreibung bzw. Annäherung handelt, zeigt sich darin, dass er das Verb (Z. 349) in ein Partizip (Z. 351) ändert. Mit der Übertragung des Verbs stumbling hat er auf semantischer Ebene keinerlei Schwierigkeiten (Z. 356-359): T.: Ah, ähm stolpert? L.: Ja. […] wie bist du da jetzt drauf gekommen? T.: Nö. Ei, weil es ja, weil es ja, in manchen Filmen ist es so, wenn irgendjemand stolpert ins nächste Abenteuer oder so sagt man. Thomas zeigt sich in der Lage, sehr genau die Wissensquelle anzugeben, auf die er bei der Erschließung der Bedeutung des Verbs rekurriert. Hier zeigt sich erneut sein Weltwissen über Filme, das bereits im Rahmen des Garfield-Films in seiner Erläuterung deutlich wurde, woher er wisse, dass „Computer“ auf Französisch ordinateur heißt (TR 3, Z. 99-105; vgl. Abschnitt III 2.3). Darüber hinaus setzt er wiederum seine Bewusstheit über und Sensibilität für Textsorten ein, eine Wissensquelle, auf die er selbst hingewiesen (TR 2, Z. 265-266; Abschnitt III 2.2) und die er auf seine zweite Fremdsprache Französisch über- <?page no="354"?> 340 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven tragen (TR 9, Z. 361; Abschnitt III 2.8) hatte. Der Befund in dieser Interkomprehensionsstunde stellt insofern eine Erweiterung dieser Strategie dar, als die Textsorte, die Thomas zur Bestimmung der Bedeutung von to stumble heranzieht (wie etwa ein Filmtrailer oder eine Filmkritik) hier gar nicht real vorliegt. Stattdessen stellt er sich einen (fiktiven oder erinnerten) entsprechenden Text vor und bettet die deutsche Übersetzung von to stumble in diesen ein: „irgendjemand stolpert ins nächste Abenteuer ...“. through any case he is given: Dies führt allerdings auch dazu, dass er any case im vorliegenden Text mit „in den nächsten Fall“ überträgt: „In den nächsten Fall, den irgendwie, den ihn jemand gibt oder so was.“ (Z. 364). Bemerkenswert ist seine Übertragung des passivischen Relativsatzes: any case he is given. Abgesehen vom Wegfall des Relativpronomens besteht die Schwierigkeit hier auf syntaktischer Ebene vor allem darin, dass im Englischen abweichend vom Deutschen das indirekte Objekt zum Subjekt des Passivsatzes werden kann: He is given a case. (aber nicht *„Er wird ein Fall gegeben“). Zwar überträgt Thomas den Relativsatz, indem er ihn in einen Aktivsatz umwandelt und „jemand“ hinzufügt, er kann hierdurch jedoch zum Ausdruck bringen, dass er die syntaktischen Bezüge (Wem wird etwas gegeben? ) verstanden hat. Gadget frequently ignorantly makes foolish and insufferably clumsy mistakes pertaining to surroundings and current environment: Thomas erkennt im Adverb ignorantly die deutsche Transferbasis „ignoriert? “ (Z. 369), wobei seine Frageintonation andeutet, dass er sich nicht sicher ist. Im Folgenden erkennt er das ihm bekannte Wort mistakes und möchte wissen (Z. 387-391): T.: Fehler. Zum ähm, was hieß surroundings? L.: Hm. Ja. T.: Was heißt das? L.: Kannst du da ein Wort drin wiedererkennen, was ihr schon hattet? T.: (Round) Er zeigt hier wiederum seine Fähigkeit, auch ihm unbekannte zielsprachliche Lexeme in deren Elemente zu zerlegen: sur-round-ing, kann jedoch, anders als im Falle des englischsprachigen Textes zu Karneval (over-turn-ing; vgl. TR 9, Z. 38; Abschnitt III 2.8), hier mit dem isolierten Bestandteil im Zusammenhang des Textes keinen Sinn verbinden, so dass er auf das folgende Wort environment aufmerksam gemacht wird (Z. 392). mistaking innocent bystanders (and sometimes Brain, his niece Penny’s dog) for enemies, and believing that the real enemies are friends: Was den ersten Teil dieses Abschnitts angeht, nimmt Thomas nicht auf das Wort mistaking, in dem er das ihm bekannte Substantiv mistake (s.o. Z. 387) <?page no="355"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 341 sicherlich wiedererkannt hätte, Bezug, sondern widmet sich sofort der bereits erschlossenen Passage: „und manchmal Brain, der Hund von ihrer - Neffin oder so was“ (Z. 397). Es fällt auf, dass er wiederum *„Neffin“ statt „Nichte“ sagt, was für die oben genannte Vermutung von Unsicherheiten bei Verwandschaftsbezeichnungen spricht. Den zweiten Teil, and believing that the real enemies are friends, kann Thomas, nachdem ihm die Bedeutung von enemies genannt wurde, sinngemäß und mit Ausnahme von believing ebenfalls morphosyntaktisch komplett erschließen (Z. 404-408): T.: Was heißt enemy? L.: Feind. T.: Ach so. Für ihre Feinde und glauben, believe ist doch glauben, oder? L.: Ja. T.: Und glaube, und glaubt, dass die realen Feinde Freunde sind. His ineptitude always leads him into danger, but he always gets out of trouble: Auch hier erhält Thomas eine Hilfestellung (die Bedeutung des Substantivs ineptitude; Z. 419), woraufhin es ihm gelingt, diese Textpassage sinngemäß annähernd zu erschließen (Z. 420-423): T.: Seine Unbe-, Geschicklichkeit ähm bringt ihn häufig auf Gefahren zu oder so was. L.: Mhm, mhm. T.: Aber - er - bringt immer aus trouble ist doch ähm irgendwie Pech oder so? Im Folgenden betrachtet Thomas das Textstück: most notably his springs und fragt: „Spring ist doch Frühling, oder? “ (Z. 437). Da er Inspektor Gadget vor den Interkomprehensionsstunden noch nicht kannte, hätte allenfalls die Pluralform springs hier ein Hinweis sein können, dass engl. spring (was selbstverständlich auch „Frühling“ heißen kann) noch weitere Bedeutungen haben muss, hier: „Sprungfedern“. An dieser Stelle wird zum zweiten Teil des Textes übergegangen, in dem die verschiedenen gadgets vorgestellt werden, und hier zuallererst zu dem Gadget Springs: Gadget Springs: A spring comes out of his hat, enabling him to bounce, usually when falling head first and hitting his head against the ground. His legs can also extend with springs, which he uses often for jumping and landing. Wie der folgende Dialog zeigt, ist Thomas in der Lage, den Text mit Ausnahme des Gerundiums enabling weitestgehend eigenständig sinngemäß zu erschließen (Z. 470-486): T.: Ein, was ist ein springs 312 ? Springbrunnen oder so was? 312 Ob Thomas die Pluralform nicht auffällt (vgl. die Überlegung oben) oder er springs trotz der Endung -s für einen Singular (etwa wie bei engl. bus, vgl. „ein springs“) hält, kann nicht eindeutig gesagt werden. <?page no="356"?> 342 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven L.: Ähm, lies mal weiter, vielleicht kommst du ja drauf, äh was, was mit diesem … T.: Ein hmhm kommt aus … seinem Hut … und … L.: Mhm. T.: Ei, was heißt denn enabling hier? L.: He can, kann man auch einfach sagen, statt enabling him he can bounce. T.: Er kann … (…) wenn sein Kopf, ach so, eine Feder? L.: Ja, genau. Genau. T.: Also er kann sie rausholen, wenn er mit dem Kopf nach vorne runterfällt, macht seinen Hut irgendsowas? L.: Ja, genau. T.: Seinen Hut ab und L.: Ne, das, genau, genau. T.: Und (…) seine Beine können auch ähm springen, […] T.: Dass er die er oft zum Springen benutzt und. Auf seiner Suche nach der Bedeutung von engl. springs geht Thomas zunächst interlingual und auf Sprachformebene vor und aktiviert eine deutschsprachliche Transferbasis, „Springbrunnen“, die zwar nicht so zielführend ist, wie es das Verb „springen“ (vgl. Z. 484) gewesen wäre, aber dennoch Bedeutungsanalogien (die Auf- und Ab-Bewegung, in diesem Fall des Wassers) zum englischen Substantiv aufweist. Nach der Aufforderung, weiterzulesen und somit den Ko(n)text zu nutzen (Z. 471), geht Thomas zunächst Wort für Wort vor, was sich darin zeigt, dass er für spring einen gefüllten Platzhalter („hmhm“, Z. 473) einsetzt und im Anschluss an die Übertragung von: a spring comes out of his hat nach der Bedeutung von enabling fragt, anstatt im Text weiterzugehen. Wie aus der Fortsetzung des Dialogs hervorgeht, ändert er, nachdem er die Information erhalten hat, dass man anstelle von enabling him to bounce auch he can bounce sagen könne (Z. 476), seine Vorgehensweise. Während er zuvor sehr auf eine Einzelwortebene konzentriert war, geht er nun sehr viel stärker kontextgeleitet vor und, wie deutlich wird, dies mit größerem Erfolg. So gelingt ihm die Entschlüsselung der im Text intendierten Bedeutung von engl. spring: „Feder“ (Z. 477). Seine vorangegangene Äußerung „wenn sein Kopf“ deutet darauf hin, dass es die englische Textpassage when falling head first and hitting his head against the ground war, die zum Erkennen der Bedeutung von spring geführt hat (dass Thomas das englische Verb to bounce bereits kennt, ist unwahrscheinlich). Hierfür spricht auch seine Äußerung: „Also er kann sie rausholen, wenn er mit dem Kopf nach vorne runterfällt“ (Z. 479), die auf eine Orientierung am Zusammenhang hinweist und andeutet, dass er versucht, sich die Funktionsweise dieses gadgets bildlich vorzustellen. Für den zweiten Satz: His legs can also extend with springs, which he uses often for jumping and landing. und die hierauf bezogene Dialogpassage (Z. 484- <?page no="357"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 343 486) ist Thomas’ Übertragung: „seine Beine können auch ähm springen“ zweideutig. So könnte vermutet werden, dass er sich aufgrund des ihm intransparenten Verbs to extend hier auf das Substantiv springs im Hauptsatz bezieht. Was jedoch gegen diese Vermutung spricht, ist seine kontextgeleitete Herangehensweise an dieser Stelle sowie die Tatsache, dass er die Bedeutung von springs in diesem Text mittlerweile kennt und ihm offenbar auch das englische Verb: to jump bekannt ist (Z. 486). Als nächstes wählt Thomas das gadget ‚Copter‘ (Z. 492-497): Gadget ’Copter: Helicopter propeller blades that come out of his hat that enable him to fly. T.: die (Hub-, also Heliko-), ähm, also eigentlich … Schrauber. (…) Helikopter. Ähm, ach, schon wieder kommt was aus seinem Hut. Ähm, es kommt aus seinem Hut so ein Propeller, also so … ja, ein (Rotorblätter). L.: Ja. T.: Ähm, und die kommen aus … seinem Hut und dann kann er fliegen. Also dass er fliegen kann. Zunächst fällt Thomas auf, dass in der Bezeichnung des gadgets ’Copter der Anfang fehlt, was er auf das deutsche Wort „Hubschrauber“ überträgt: „also eigentlich Schrauber“. Auch hier geht er wieder sehr kontextgeleitet vor und versucht herauszufinden, wie das gadget funktioniert. So übergeht er zunächst den Begriff blades und erkennt die Textpassage come(s) out of his hat wieder, die er auf inhaltlicher Ebene kommentiert. Auf dieser Grundlage gelingt ihm die Erschließung nicht allein des interlingual auf Sprachoberfläche selbstverständlich transparenten Wortes propeller, sondern ebenfalls eine dem deutschen Sprachgebrauch angemessene Übertragung des gesamten Ausdrucks propeller blades mit „Rotorblätter“. Darüber hinaus scheint er sich an den Ausdruck enabling (s.o.) und die diesbezüglichen Erläuterungen zu erinnern und ihn mit der hier verwendeten Verbform enable in Verbindung zu bringen: „und dann kann er fliegen“ (Z. 496). Zum Gadget Legs/ Arms/ Neck: His neck, arms, and legs can telescope and extend to great lengths. sagt Thomas Folgendes (Z. 500-501): T.: ähm Bei-, Beine, Arme und Nacken. Sein Nacken, seine Arme und Beine können telescope ist doch eher lang werden, oder? Interessant ist hier auf morpho-syntaktischer Ebene insbesondere, dass er das Wort telescope als eine Verbform erkennt, was er durch seinen Übertragungsvorschlag mit „lang werden“ zum Ausdruck bringt. Auch seine sinngemäße Übertragung von can ... extend to great lengths mit „können größer werden, also so großen“ (Z. 504) ist durchaus akzeptabel. Im Folgenden widmet sich Thomas dem Top-Secret Gadget Phone: <?page no="358"?> 344 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven A telephone in his hand. The earpiece is in his thumb, while the mouthpiece is in his pinky finger. Er überträgt die Bezeichnung des gadgets und den ersten Satz ohne Probleme; erste Schwierigkeiten hat er mit dem Substantiv thumb (Z. 506-508): T.: Also … ähm, ganz geheime, ähm, ganz geheime Funktion, das Telefon. Ein Telefon ist in seiner Hand und der Kopfhörer oder so was, der Ohrhörer, also so ein Ohrknopf ist in seinem thumb, was ist thumb? Die Übertragung von earpiece (= „Hörmuschel“) mit „Ohrhörer“ bzw. „Ohrknopf“ ist im Zeitalter von Handys und Freisprechanlagen m.E. akzeptabel. Dennoch deutet Thomas’ Frage nach der Bedeutung von thumb darauf hin, dass er das Gemeinte noch nicht verstanden hat. Dies kann u.a. darin begründet sein, dass die Erläuterung A telephone in his hand. zweideutig ist. So könnte sie als eine Beschreibung eines Telefons, das der Inspektor in seiner Hand hält, verstanden werden. Gemeint ist jedoch ein Telefon ,im Inneren seiner Hand‘ (d.h. seine Hand kann zu einem Telefon werden), was selbstverständlich die weniger naheliegende Deutung ist. Aus diesem Grund erhält Thomas eine Hilfestellung (Z. 511-512): L.: Wenn man so, das macht man ja auch, wenn man das dann so, so andeutet, so ein, so ein Telefon halt mit der Hand. Durch die Umsetzung des Textinhalts in eine Geste, jene des Andeutens eines Telefons mit der Hand (im Sinne des Abschiedsgrußes von „Wir telefonieren ...“) gelingt es Thomas, den Text im Ganzen sinngemäß zu erschließen (Z. 515- 524): T.: Ach so. Ähm, er nimmt seine ähm, irgendwie so das Ding, also die Hand, so die Hand, ja, so ein, so eine (…), weil das Mikrofon in seinem kleinen Finger ist. L.: Ja, genau. T.: Dann macht er so, dann kann er hier telefonieren und hier ist sein (…). L.: Genau. Er braucht praktisch kein Handy, sondern muss dann nur die Hand, ne, und dann, genau, genau. T.: Ach so, weil das Mikrofon hier in seinem kleinen Finger ist. L.: Ja. Und was, was heißt das dann nämlich? Wo ist das, das Ohrteil dann? T.: Im Daumen? Wie der Dialog zeigt, gelingt ihm durch den Einsatz von Gestik die Erschließung des Textstücks: the mouthpiece is in his pinky finger. Zwar überträgt er mouthpiece mit „Mikrofon“ anstelle von „Sprechmuschel“, doch hat er verstanden, was gemeint ist. Dass er die Konjunktion while mit „weil“ überträgt, ist an dieser Stelle wohl weniger mit der interlingualen Ähnlichkeit der englischen und deutschen Konjunktion auf Sprachformebene als vielmehr damit zu erklären, dass sich Thomas hier in seinem Versuch, sich dieses Telefon vorzu- <?page no="359"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 345 stellen, teilweise vom Text löst. Auf der Grundlage der Telefongeste gelingt es ihm schließlich auch, die Bedeutung von thumb, interlingual auf Sprachformebene zu weit vom deutschen Substantiv „Daumen“ entfernt 313 , zu bestimmen. Er erkennt die Zweideutigkeit des Textstücks: A telephone in his hand. und korrigiert (in deutscher Sprache): the telephone is his hand (Z. 526-532): T.: Ach so. Der Kopfhörer ist in seinem Daumen. - Ach so, hier, das Telefon ist in seiner Hand, also nicht das richtige Telefon, das, was er einfach hier jetzt in die Hand nimmt und dann so telefoniert, sondern das Telefon ist seine Hand sozusagen. L.: Ja genau, mhm. T.: Also, denn der Ohrhörer ist in seinem Daumen ähm und der, das Mikrofon ist in seinem kleinen Finger. Und dann muss er so halten. Gadget Skates: Roller skates come out of the bottom of his shoes. He is often very clumsy and struggles to keep his balance on the skates.: Auch bei diesem gadget geht Thomas stärker kontextorientiert und vom Text gelöster vor (Z. 534-535): T.: ja, ähm, Funktion Skates, Rollschuhe kann man, kommen aus … kommen raus auf den Boden, also kommen aus seinen Schuhen raus auf den Boden. Die kontextuelle Orientierung zeigt sich hier insbesondere auf morphosyntaktischer Ebene. Einerseits wird dies in der Übertragung: „Rollschuhe kann man ...“ deutlich, die Thomas jedoch sofort in die korrekte Form korrigiert: „kommen aus“. Andererseits zeigt sich seine tendenzielle Distanzierung vom konkreten Text in seiner Übertragung von the bottom of his shoes. Da er, wie aus seiner Äußerung hervorgeht, sowohl die Bedeutung von bottom („Boden“) als auch (selbstverständlich) von shoes kennt und zudem davon ausgegangen werden kann, dass Thomas ebenfalls der of-Genetiv bekannt ist, lässt sich die Übertragung mit „kommen aus seinen Schuhen raus auf den Boden“ m.E. nur durch seine kontextuelle, inhaltliche Fokussierung erklären. Hätte er der Morpho-Syntax mehr Aufmerksamkeit geschenkt, hätte er auf der Grundlage seines sprachlichen Wissens (s.o.) the bottom sicherlich als dt. „Sohle“ erkennen können. Beim zweiten Satz fragt Thomas (Z. 538-546): T.: Er ist oft sehr ähm, was heißt clumsy and struggles? L.: Ähm, kannst du da noch ein Wort verstehen? He struggles to keep his balance on the skates. 313 Wobei es sich bei engl. „th“ → dt. „d“ um eine Regularität handelt, auf die Lerner aufmerksam gemacht werden können, was den Identifikationstransfer erhöhen kann (vgl. z.B. Materialien aus dem Bereich „Deutsch nach Englisch“, Kursiša & Neuner 2006: 44-45) <?page no="360"?> 346 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven T.: Ähm, er hält so seine Balance auf den … also, er ist oft sehr … wackelig oder so was? L.: Ja, genau, genau. T.: Sehr wackelig und ihm fällt es schwer oder so was. L.: Ja. T.: Und ihm fällt es schwer, die Balance auf seinen Rollschuhen zu halten. Da ihm, wie aus Zeile 538 hervorgeht, weder das Adjektiv clumsy noch das Verb to struggle bekannt ist, lässt sich die akzeptable Übertragung „er ist oft sehr ... wackelig [...] und ihm fällt es schwer, [...] die Balance auf seinen Rollschuhen zu halten“ (Z. 541-546) dadurch erklären, dass er hier sein − mittlerweile vorhandenes − Hintergrundwissen eingesetzt hat, konkret das Wissen, dass dieser Inspektor trotz seiner vielen gadgets recht tollpatschig ist und mit diesen nicht immer umgehen kann. Denn Thomas verwirft seine Hypothese „er hält so seine Balance auf den …“, bricht den begonnenen Satz ab und schlägt stattdessen für clumsy „wackelig“ vor, was zwar nicht mit der exakten Denotation des englischen Adjektivs übereinstimmt, jedoch eine dem Kontext (Rollschuhe) angemessene Konkretisierung darstellt. Auch seine Übertragung der recht schwierigen, weil nicht Wort für Wort übersetzbaren, englischen Verbkonstruktion: He … struggles to keep his balance on the skates. mit „ihm fällt es schwer, die Balance auf seinen Rollschuhen zu halten“ ist m.E. durchaus gelungen. Aus interkomprehensionsdidaktischer Perspektive ist bei dem oben wiedergegebenen Dialog ein wichtiger Befund, dass Thomas, auf die Anregung hin: „kannst du da noch ein Wort verstehen“ (wobei hier das auf Sprachoberfläche transparente Substantiv balance gemeint war), selbstständig in der Lage ist, sowohl für das Adjektiv clumsy als auch das Verb to struggle eine (dem Kontext) völlig angemessene Übertragung zu finden. Seine Frage: „was heißt clumsy and struggles? “ (Z. 538) war somit voreilig bzw. überflüssig. Gadget Binoculars: Binoculars lower down out of his hat and over his eyes.: Thomas hat keine Schwierigkeiten, die englischsprachige Erläuterung zu verstehen: „kommen runter von seinem Hut und über sein Auge” (Z. 560-561), Probleme bereitet ihm jedoch das Wort binoculars (Z. 552-556): T.: Binoculars, das sind doch so, so, so Mikroskope, oder? L.: Ähm, ja, eher das, wenn du da etwas ganz weit weg sehen willst. T.: Ja. L.: Also. T.: Also ein Mikroskop (…) Wie der Dialog zeigt, ist ihm bewusst, dass dieses Wort etwas mit einer Sehhilfe zu tun haben muss (Z. 552). Dass er sich hierbei auf das Wort eyes am Ende des Textes bezieht, ist allerdings unwahrscheinlich, da er erst später weiterliest (s.o. Z. 560-561). Thomas scheint hier Schwierigkeiten mit dem deutschen Begriff zu haben, was sich darin zeigt, dass er auch nach der Erläuterung: „wenn du da <?page no="361"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 347 etwas ganz weit weg sehen willst“ bei seiner Übertragung „Also ein Mikroskop“ bleibt (s.o.). Gadget ’Brella: A hand holding an umbrella that comes out of his hat. It can be used as a parachute. More often than not, he will fall rapidly when using his ‘Brella’ when it turns inside-out.: Wie bei der verkürzten Form ‚Copter‘ für helicopter (s.o.) erkennt Thomas auch hier, was gemeint ist, lässt die Abkürzung nun jedoch unkommentiert (Z. 569- 574): T.: ((hustet)) Eine Hand ähm hält einen Regenschirm und der kommt natürlich aus dem Hut. L.: Ja. T.: Ähm … er kann … benutzt werden als ähm Schutzschirm oder so was? L.: Ja, a parachute ist auch ein Schirm. Sagt man auch auf Deutsch. T.: Sonnenschirm? Dass Thomas den Relativsatz that comes out of his hat nicht als solchen überträgt, liegt wohl weniger darin begründet, dass er ihn auf morpho-syntaktischer Ebene nicht hätte erkennen können, als vielmehr in seinem Bedürfnis, einen Kommentar zum ,multifunktionalen‘ Hut des Inspektors abzugeben (ebenso kann vermutet werden, dass ihm bewusst ist, dass der englische Nebensatz das Wort „natürlich“, also of course, gar nicht enthält). Bei seiner Übertragung des zweiten Satzes hat er mit dem Substantiv parachute Schwierigkeiten: „er kann … benutzt werden als ähm Schutzschirm“ (Z. 572). Er versteht den Hinweis „Sagt man auch auf Deutsch.“ zwar so, wie dieser gemeint war, d.h., dass es sich um ein Wortkompositum handelt, dessen zweiter Bestandteil „-schirm“ lautet, schlägt jedoch den ‚falschen Schirm‘ vor. Nachdem ihm die Bedeutung genannt wurde: „Wenn man zum Beispiel aus dem Flugzeug rausspringt? “ (Z. 577), ist er in der Lage, eine Transferbasis zu nennen: „Paraglider“ (Z. 583). Ob ihm die Struktur des Wortes para-chute („für (den) Fall“) bewusst ist, kann nicht eindeutig gesagt werden. Wahrscheinlicher ist m.E. jedoch 314 , dass er diesen Begriff aus seinem Weltwissen, hier: über die Sportart des Gleitschirmfliegens, abgerufen hat. More often than not, he will fall rapidly when using his ‘Brella’ when it turns inside-out.: T.: Ähm … ähm … oft dann nicht, er wird, wird er fallen, schnell, wenn er, also er wird … oft, er wird nicht oft schnell fallen, wenn er seinen ‚Brella‘ nutzt und wenn er in so, inside-out, was soll denn dieses inside-out heißen? (Z. 585-587) 314 Ein Lerner mit Spanisch- und fortgeschritteneren Französischkenntnissen hätte hier beispielsweise die spanische Präposition para und das französische Substantiv (la) chute heranziehen können. <?page no="362"?> 348 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Wie Zeile 585 zeigt, geht Thomas hier Wort-für-Wort vor. Den Ausdruck more often than not versteht er nicht, da einerseits das − bedingt durch die Hervorhebung − syntaktisch vorgezogene gesteigerte Adverb more often das Verständnis erschwert und er darüber hinaus engl. than mit then verwechselt (vgl.: „dann“; Z. 585). Da er sich − anders als beim Ausdruck an overturning of daily life im englischsprachigen Text zu Karneval (s. Abschnitt III 2.8) − hier nicht erklären kann, was mit it turns inside-out gemeint ist, führt dies dazu, dass er diese Textpassage nicht versteht (vgl. auch die Verneinung: „er wird nicht […] schnell fallen“ in Zeile 586). Daher wird eine Zeichnung eines umgeklappten Regenschirms angefertigt. Überlegungen zum Textmaterial: Der zu Beginn dieser Interkomprehensionsstunde behandelte einführende Text über Inspector Gadget (s.o.) sollte bei einem erneutem Einsatz bei Lernern dieser Jahrgangsstufe, denen diese Zeichentrickbzw. Filmfigur nicht bekannt ist, d.h. die nicht über entsprechendes Hintergrundwissen verfügen, aufgrund von dessen lexikalischer und syntaktischer Komplexität sprachlich vereinfacht werden. Anders verhält es sich bei dem Text zu den verschiedenen gadgets des Inspektors, der auch in dieser Form wieder eingesetzt werden könnte. Bei diesem zweiten englischen Text konnte bei Thomas eine deutliche Motivationssteigerung beobachtet werden, die auf verschiedene Gründe zurückführen ist: die Länge der einzelnen Textstücke und die Art von deren Präsentation: Im Layout sind die Namen für die einzelnen gadgets durch Fettdruck hervorgehoben und eingerückt, was den Text insgesamt ,überschaubarer‘ erscheinen lässt. sein inhaltliches Interesse: Thomas vermittelte den Eindruck, dass er wissen wollte, wie die einzelnen gadgets funktionieren 315 . die Möglichkeit, das Textverständnis (auch) durch nonverbale Mittel, d.h. Zeichnungen und Gestik, zum Ausdruck zu bringen. Die französischen Texte auf dem DVD-Cover: Die folgende Interkomprehensionsstunde hatte die französischsprachigen Texte auf dem DVD-Cover zum Film Inspecteur Gadget et le ptérodactyle géant zum Inhalt. Es lassen sich vier verschiedene Texte unterscheiden, die auf dem DVD-Umschlag farblich unterschiedlich abgedruckt oder unterlegt sind und hier nummeriert werden: 1. Inspecteur Gadget se lance dans une amusante aventure. Cette fois-ci, le détective maladroit doit enquêter sur le vol de la nouvelle acquisition de Métro Cité, l’œuf préhistorique d’un énorme lézard ailé ! L’œuf va 315 Dass nicht alle gadgets behandelt werden konnten, hat schlichtweg zeitliche Gründe. <?page no="363"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 349 bientôt s’ouvrir, et l’inspecteur doit le retrouver le plus vite possible avant que l’énorme bête ne détruise la ville. 2. Grâce à ses nombreux gadgets ingénieux et à son astucieuse nièce, il va bientôt résoudre le mystère. 3. Gags, maladresse et gadgets sont de retour. Toujours entouré de sa fidèle équipe, l’inspecteur Gadget affronte de nouveau son pire ennemi : le docteur Gang. 4. Un film réjouissant pour toute la famille ! Thomas hat sich zu Beginn zunächst allein mit dem DVD-Cover des Films vertraut gemacht und versucht, Angaben zum Film zu erschließen. Er hat sich auf die Überschrift des ersten Textes sowie auf die Texte 3 und 4 konzentriert. Er hat Folgendes geschrieben: „Inspektor Gadget stürzt sich in ein aufregendes Abenteuer.“ (1.) „Witze, und Geheimwaffen sind zurück.“ (3.) 316 „Inspektor Gadget hat einen neuen Fall: der Doktor GANG.“ (3.) „Ein Film für die ganze Familie.“ (4.) Anschließend zeigt Thomas, was er herausgefunden hat (TR 14, Z. 5-10): T.: Inspektor, Inspektor Gadget ist in einem aufregenden Abenteuer. Dann habe ich hier unten etwas, weil ich das jetzt nicht hatte, sondern halt hier Witze, weiß ich nicht und Geheimwaffen sind zurück. L.: Mhm. T.: Ähm, das habe ich dann jetzt nicht. Und dann wieder Inspektor Gadget hat einen neuen Fall (…). Wie aus dem Zitat hervorgeht, ist Thomas bei der mündlichen Wiedergabe seiner Interkomprehensionsergebnisse weniger präzise als in der schriftlichen Form, da er das französische reflexive Verb se lancer nun anstatt mit „stürzt sich“ mit dem Verb „sein“ („Inspektor Gadget ist ...“) wiedergibt, was an späterer Stelle wieder aufgegriffen wurde. Für das ihm opake Substantiv maladresse im dritten Text, für das er im Schriftlichen eine Lücke gelassen hatte, fügt er nun ein „weiß ich nicht“ ein. Dass er gadgets mit „Geheimwaffen“ überträgt, hängt sicherlich mit dem Ausdruck Top-Secret aus dem englischsprachigen Text (beim Telefon, ein Text, mit dem wir uns relativ lange befasst hatten, s.o.) zusammen. Während sich Thomas bei der Übertragung der Sätze: Inspecteur Gadget se lance dans une amusante aventure. und Gags, maladresse et gadgets sont de retour. sehr an die französische Syntax gehalten hat, hat er die Textpassage: l’inspecteur Gadget affronte de nouveau son pire ennemi: le docteur Gang. deutlich freier übersetzt. Wahrscheinlich hat er das Wort nouveau als „neu“ erkannt (vgl. hierzu auch das Ergebnis zu dem französischsprachigen Eltern- 316 Diese Lücke für das ihm intranparente Substantiv maladresse hat auch Thomas gelassen. <?page no="364"?> 350 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven brief in der Interkomprehensionssitzung zum Thema „Karneval“; Abschnitt III 2.8) und das Übrige durch sein (mittlerweile vorhandenes) Hintergrundwissen über Inspektor Gadget ergänzt. Der Versuch, Thomas’ Aufmerksamkeit auf das Interlexem zu ennemi (enemy) aus dem englischsprachigen Text (dort stand es im Plural, s.o.) zu lenken, scheitert, so dass ihm die Bedeutung genannt wird: „Ach so. Er hat neue Feinde.“ (Z. 16). Wie diese Äußerung zeigt, bringt er hier das Adjektiv nouveau aus dem Ausdruck de nouveau mit dem Substantiv ennemi zusammen, was aufgrund der Distanz jedoch weniger naheliegend ist. Nachdem die Bedeutung des Verbs affronter geklärt wurde, ergibt sich folgender Dialog über den Ausdruck de nouveau (Z. 32-38): T.: Steht gegenüber dem, steht dem neuen Freund, also neuen Feind gegenüber. L.: Was, was heißt de auf Französisch? T.: De? Ei, eigentlich jetzt, also jetzt - ähm - irgendwie de, also von irgendwie. L.: Ja, genau, genau, genau. - Und was, was könnte … T.: Von neuem … L.: Ja, genau, genau. T.: Steht gegenüber einem neuen Feind. Interessant ist hier vor allem, dass Thomas auf der Grundlage der Übertragung der einzelnen Bestandteile des Ausdrucks de nouveau angeben kann, dass er „von neuem“ (Z. 36) bedeutet, im Anschluss jedoch nouveau sofort wieder als ein Adjektiv benutzt (Z. 38). Dass ihm der Possessivbegleiter son und der Superlativ pire unbekannt sind, kann hier nicht der Grund sein, da deren Bedeutungen bereits geklärt wurden (Z. 17-18). Bei der Verwandtschaftsbezeichnung „Nichte“ bestätigt sich die Hypothese (s.o.), dass Thomas bei dieser Bezeichnung unsicher ist (Z. 87-98): T.: Nichte. L.: Mhm. Steht das … T.: Ja, ist das nicht, die Nichte ist doch die - Tochter von Bruder oder von der Schwester, oder? L.: Ja. Ja. T.: Also es wäre der Onkel? L.: Ja, genau, genau. T.: Also, von seiner Nichte der Hund. L.: Mhm. Genau, und wie hieß der nochmal? Der kommt … T.: (…) Brain. L.: Aha. T.: Und die heißt Penny. Wie der Dialog zeigt, vergewissert er sich, für welche Beziehung zwischen Personen der deutsche Begriff „Nichte“ genau steht (Z. 89-90). Er überprüft sein Verständnis, indem er die Relation umkehrt und den Gegenbegriff nennt („Onkel“; Z. 92). Thomas ist auch in der Lage, im französischsprachigen Text die Entsprechung zu „Nichte“ zu finden (Z. 114-119): <?page no="365"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 351 L.: Ja, genau, ne. Und wie spricht man das, wenn da so ein Akzent, äh, man kann die Schrift echt schlecht erkennen. T.: E. L.: Ja. Wie würde man das, wie würde man das auf Französisch aussprechen? T.: (…) L.: (…), genau, ne Da der zweite Text auf dem DVD-Cover in einer gelbfarbenen Schrift gedruckt ist, die schlecht zu erkennen ist, wird Thomas darauf aufmerksam gemacht, dass das gesuchte Wort dort zu finden ist. Nachdem seine Aufmerksamkeit auf den accent grave im ansonsten mit dem englischen Wort im Schriftbild identischen französischen Substantiv nièce gelenkt wurde, ist Thomas in der Lage, dieses korrekt auszusprechen 317 . Im Folgenden wird der erste Text betrachtet, der zunächst vorgelesen wird 318 . Thomas identifiziert die Wörter: „Detektiv“, „Inspektor“ (Z. 125), „möglich“ (Z. 127) und „Stadt“ (Z. 129). Hier kann bei den beiden erstgenannten Entsprechungen ein unmittelbarer retroaktiver Transfer zum Deutschen vermutet werden, wohingegen Thomas beim Adjektiv possible sehr wahrscheinlich die englischsprachige Variante als Transferbasis eingesetzt hat. Das Substantiv ville schließlich kennt er vermutlich aus dem Unterricht. Zum Adjektiv préhistorique möchte er wissen (Z. 135-138): T.: Ähm … prähistorisch. L.: Ja, ja, genau. Prähistorisch. T.: Genau, das ist, also die (…), weil historisch ist doch da, wo die Menschen schon leben, oder? Prähistorisch? Anders als bei dem Fremdwort „divers“ (Abschnitt III 2.8) ist sich Thomas hier sicher, dass das Wort „prähistorisch“ in der deutschen Sprache existiert, weiß jedoch nicht genau, was es bedeutet und wie es sich von seiner Entsprechung ohne Präfix, „historisch“, abgrenzt. Im Folgenden wird seine Aufmerksamkeit auf die (unter anderem; s.o.) auf dem DVD-Cover abgebildete Rieseneidechse gelenkt (Z. 141-143): L.: du hast hier ja auch so ein, so ein Viech abgebildet. Das bezieht sich auf dieses lézard, ne, un énorme lézard. T.: Hm … Ein enormes Tier, ein enormes Vorzeitwesen. Wie Thomas’ Äußerung in Zeile 143 zeigt, erkennt er (angesichts der interlingualen Ähnlichkeit auf Sprachformebene selbstverständlich) das Adjektiv 317 Leider ist diese Stelle der Aufnahme etwas undeutlich, doch kann die korrekte Aussprache aus der bestätigenden Reaktion in Zeile 119 erschlossen werden. 318 Cette fois-ci, le détective maladroit doit enquêter sur le vol de la nouvelle acquisition de Métro Cité, l’œuf préhistorique d’un énorme lézard ailé ! L’œuf va bientôt s’ouvrir, et l’inspecteur doit le retrouver le plus vite possible avant que l’énorme bête ne détruise la ville. (s.o.). <?page no="366"?> 352 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven énorme und setzt, da er die Eidechse auf dem Bild nicht als solche erkennt und ihm wohl auch die englische Transferbasis lizard noch nicht bekannt sein dürfte, das Hyperonym „Tier“ ein. Im Anschluss verbindet er seine Hypothese über frz. lézard jedoch dann mit jener zu préhistorique: „Vorzeitwesen“. Als er im Folgenden gebeten wird, auf der Grundlage der erschlossenen Textelemente Aussagen über den Textinhalt zu machen, spricht er von einem „Dino“ (Z. 148-161): L.: Was muss dieser Inspecteur machen in der Geschichte? T.: Der Doktor … hat irgendwas … mit dem Dino zu tun. Ähm, der will dann die (…) oder so was. Also weiß nicht, und ähm, der Inspektor Gadget soll ihn dabei aufhalten. L.: Mhm, genau. Du hattest ja hier zum Beispiel Stadt, ne, und da détruise la ville. Was könnte dieses détruise, gibt es so ein ähnliches englisches Wort. T.: Zerstören? L.: Ja, genau. Was wäre das auf Englisch? T.: Ähm, weiß nicht, wie das geschrieben wird. Destroy oder so was. L.: Ja, genau, genau. T.: Ähm, ja, also er will damit die … enorme Stadt, ähm, ach so, er will mit diesen Echsen die Städte zerstören. L.: Ähm … T.: Und der Inspektor Gadget (soll ihn dabei aufhalten). Wie der Dialog zeigt, ist Thomas in der Lage, den französischensprachigen Text auf dem DVD-Umschlag ansatzweise zu erschließen und somit herauszufinden, worum es in dem Film gehen könnte. So stellt er auf der Grundlage erschlossener Textelemente und seines Wissens über Inspecteur Gadget eine Verbindung zwischen dem pire ennemi : le docteur Gang (s.o.) und dem énorme lézard préhistorique her. Als Thomas’ Aufmerksamkeit auf das bereits übertragene Wort ville und nun auf den Ausdruck détruise la ville gelenkt wird, ist er sofort in der Lage, sowohl die Bedeutung als auch die englische Transferbasis anzugeben. Dass er die deutsche Entsprechung zu détruise nicht schon zuvor genannt hatte, obwohl er bereits an jener Stelle eine englische Transferbasis (wahrscheinlich) aktiviert hatte (possible; s.o.), hängt vermutlich damit zusammen, dass er hier den Kontext (stärker als zuvor) zusätzlich hinzuzieht. Es kann aber auch in seiner Unsicherheit mit der Transferbasis détruire → to destroy begründet liegen: „Ähm, weiß nicht, wie das geschrieben wird. Destroy oder so was.“ (Z. 156). Für diese Vermutung spricht, dass er zunächst das deutsche Verb („zerstören“; Z. 154) angibt, obwohl explizit nach einem englischen gefragt wurde. Hier zeigt sich wiederum das Potenzial retroaktiven Transfers, brückensprachliches Vorwissen zu festigen. Zwar zeigt Thomas’ Übertragung einige Ungenauigkeiten wie „die enorme Stadt“ (was allerdings auch ein Versprecher gewesen sein kann) oder der Plural „Echsen“ (s.o.), dennoch ist es m.E. bemerkenswert, wie viele Informationen er <?page no="367"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 353 insgesamt den vier eigentlich an frankophone Kinder gerichteten Texten auf dem Cover der DVD entnehmen kann. Im Folgenden wird Thomas’ schriftliche Übertragung von: Inspecteur Gadget se lance dans une amusante aventure. wieder aufgegriffen: „Inspektor Gadget stürzt sich in ein aufregendes Abenteuer“ (s.o.). Er nennt aus eigener Initiative die englische Transferbasis für aventure (Z. 165-170): L.: Mhm. Darf ich noch einmal kurz sehen, du hattest da bei diesem Abenteuer hattest, ach da oben, genau, genau. Ähm … T.: Weil in (englischen Geschichten) heißt es ja (adventure) und da dann da, aber wenn (…). L.: Mhm, und wie bist du auf aufregend gekommen? Worauf T.: Amüsant in Deutsch? Bedauerlicherweise ist die Fortsetzung von Thomas’ Äußerung in Zeile 168 unverständlich, doch hat er an dieser Stelle (aus der Erinnerung zitiert) erläutert, wie er auf die Übertragung „stürzt sich“ für se lance gekommen ist, nämlich durch Rekurrenz auf sein textuelles Wissen über Filmzusammenfassungen bzw. -trailer, ähnlich wie bei dem Verb to stumble im englischen Text zuvor (s.o.). Ein wichtiges Ergebnis bei diesem Dialog ist m.E. die Tatsache, dass er auf die Frage, wie er für frz.: une amusante aventure auf die Übertragung des Adjektivs mit „aufregend“ gekommen sei (Z. 169), auf Anhieb das korrekte deutschsprachliche Interlexem „amüsant“ angeben kann (Z. 170). Interessant ist hier aufgrund der großen interlingualen Ähnlichkeit auf Sprachformebene weniger, dass er das deutsche Adjektiv zu amusante nennen kann, als vielmehr dass er sich zuvor trotz dieses Wissens für die Übertragung „ein aufregendes Abenteuer“ entschieden hat. Entweder hatte er zuvor die sprachliche Nähe von frz. amusante und dt. „amüsant“ tatsächlich nicht wahrgenommen, was m.E. jedoch unwahrscheinlich ist. Oder aber Thomas hat wie zuvor bei to stumble und se lancer sein Textsortenwissen über Filmtrailer, -kritiken bzw. -zusammenfassungen aktiviert und dieses Wissen hat hier dominiert, denn das Adjektiv „aufregend“ passt in der Tat besser zum Substantiv „Abenteuer“ und zu einer Detektivgeschichte als „amüsant“. Ob diese Dominanz dazu geführt hat, dass er die interlinguale Ähnlichkeit von amusante und „amüsant“ gar nicht wahrgenommen hat, oder er sich bei den sich widersprechenden Resultaten einer interlingualen Herangehensweise auf der einen und einer kotextuellen sowie textsortenbezogenen auf der anderen Seite für die letztere entschieden hat, kann nicht eindeutig gesagt werden. Für die Annahme, dass hier trotz großer interlingualer Ähnlichkeit Kotext- und Textsortenwissen dominiert haben, spricht, dass er (ähnlich wie bei seinen Übertragungen von nl. vijf (Abschnitt III 2.2) und frz. monde (Abschnitt III 2.8)) auch hier seine Hypothese verteidigt: „(…) ja bei den meisten Texten (…) ähm irgendwie (…) als Abenteuer oder so, was wir ja hier in diesem Englisch auch haben (…).“ (Z. 172- 173). Der Einsatz von Wissen über Textsorten hat wahrscheinlich auch bei <?page no="368"?> 354 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven seiner schriftlichen Übertragung von 4. Un film réjouissant pour toute la famille ! (s.o.) eine Rolle gespielt: „Ein Film für die ganze Familie.“ (4.). Die französischsprachlichen Substantive film und famille sind interlingual auf Sprachformebene zwar transparent, der indefinite Begleiter tout, der (zumindest bei Betrachtung des Inputs durch das Lehrbuch) noch nicht im Französischunterricht behandelt worden sein kann, jedoch nicht. Da es sich bei dem Ausdruck „Ein Film für die ganze Familie! “ um eine sloganhafte Formulierung handelt, die wohl in der Tat auf vielen DVD-Umschlägen und Filmplakaten zu finden sein dürfte, auf die diese Information zutrifft, ist wahrscheinlich, dass die Erschließungsstrategie des Textsortenwissens auch hier von Bedeutung war. Darüber hinaus kann in diesem Fall vermutet werden, dass Thomas das zum ‚üblichen Slogan’ hier hinzugefügte Adjektiv réjouissant wahrscheinlich nicht aufgefallen ist, denn ansonsten hätte er hier - ebenso wie bei dem Substantiv maladresse (s.o.) - im Schriftlichen eine entsprechende Lücke gelassen. Zusammenfassung wichtiger Befunde: Bei der Erschließung der Beschreibungstexte zu den einzelnen technischen Geräten (gadgets) setzt Thomas Gestik ein, um die Texte (besser) zu verstehen, indem er die Funktionsweisen der gadgets nachvollzieht. Er gibt (aus eigener Initiative) für das französische Substantiv aventure die englische Transferbasis adventure an. Thomas erschließt auf der Grundlage erschlossener Textelemente und seines Wissens über das Thema Inspecteur Gadget auch ansatzweise den längeren französischsprachigen Text (Text 1.) auf dem DVD-Umschlag. Thomas setzt bewusst sein Wissen über Textsorten ein, eine Wissensquelle, auf die er selbst hingewiesen hatte. Er wendet diese Strategie sowohl auf seine erste Fremdsprache Englisch (für to stumble) als auch auf das Französische (für das reflexive Verb se lancer) an. Auch bei diesen französischen Texten (vgl. den Elternbrief in Abschnitt III 2.8) auf dem DVD-Cover ist an das „kritische Schwellenniveau“ interkomprehensiver Texte zu erinnern (Meißner 2008a: 38; vgl. Abschnitt I 2.6), das bei Zugrundelegung einer rein sprachlichen Textanalyse selbstverständlich deutlich überschritten wäre. Doch konnte gezeigt werden, dass auch ein junger Lerner in der Lage ist, für das Textverständnis nicht sprachliche Wissensquellen wie enzyklopädisches Wissen, hier über Filme, und Textsortenwissen zu aktivieren. Dennoch ist auch hier der Hinweis notwendig, dass es sich um eine Einzelfallanalyse handelt und ein Einsatz dieses (Text-) Materials auch in motivationaler Hinsicht abzuwägen ist (vgl. auch Thomas’ positives Selbstbild als Fremdsprachenlerner, das er im Zusammenhang mit der Wahl der Sprachfassung beim Garfield-Film zum Ausdruck gebracht hat; TR 4, Z. 373-376). Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen: <?page no="369"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 355 Filme gehören zu Thomas’ Interessengebieten. Durch vorgeschaltete Texte in einer bekannteren Sprache (Englisch; s. auch Niederländisch beim Garfield-Film) wurde die Rezeption inhaltlich ein Stück weit vorbereitet. Die Interkomprehension erfolgte in Sprachen, die Thomas lernt, und weicht somit ab von der ‚traditionellen‘ Konzeption von Interkomprehension in einer ‚unbekannten‘, d.h. weder erworbenen noch formal erlernten Sprache, auf die das „kritische Schwellenniveau“ bezogen ist. 2.13 Das abschließende retrospektive Interview Zur Interviewsituation: Bei den Interkomprehensionsstunden war es üblich, dass Thomas von seinem Vater oder seiner Mutter, die im Rahmen zweier Informationsabende in das Projekt eingebunden wurden (vgl. Abschnitt III 2.), gebracht und im Anschluss abgeholt wurde. Beim abschließenden Interview ergab sich eine Situation, auf die ich nicht vorbereitet war. So kam Thomas’ Mutter mit in den Raum und setzte sich neben ihren Sohn. Sie sagte (möglicherweise auch ausgelöst durch den Mailwechsel mit Thomas und ihr zwecks einer Terminvereinbarung für das Interview), sie habe gedacht, dass ich auch Fragen an sie habe. Zwar hatten wir bereits zuvor vor und/ oder nach den Interkomprehensionsstunden in Anwesenheit von und mit Thomas häufiger über die Themen „Schule und Fremdsprachenlernen“ gesprochen, so dass es für ihn keine ungewöhnliche Situation war. Dennoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass ihre Anwesenheit ihn in seinem Antwortverhalten beeinflusst hat. Dass Thomas bei der (einzigen) Stelle im Interview, an der seine Mutter inhaltlich Stellung bezieht, dieser widerspricht (s.u.), spricht allerdings eher dafür, dass der Grad an Beeinflussung nicht sehr hoch war. Hinzu kommt, dass auf der anderen Seite insbesondere bezogen auf den Interviewteil zur retrospektiven Stellungnahme zu den Interkomprehensionsstunden Gefälligkeitsaussagen auch ohne Anwesenheit weiterer Personen nie ganz ausgeschlossen werden können. Denn die Forscherin dieser Untersuchung war zugleich auch die Lehrerin, eine Doppelrolle, die − wie im Kontext der eingesetzten Fragebögen II diskutiert (s. Abschnitt II 4.) − potenzielle Gefälligkeitsaussagen begünstigen kann. Doch sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass es sich hier um eine longitudinale Einzelfallstudie handelt und sich während des Zeitraumes von über einem Jahr eine gewisse Vertrautheit zwischen Thomas und mir aufgebaut hat. Die einzigen weiteren zwei Stellen, an denen Thomas’ Mutter etwas während des Interviews sagte, war zum einen der (berechtigte) Hinweis, dass es sich um eine Ton- und nicht Videoaufzeichnung handele und ein Schulterzucken als Antwort nicht ausreiche. Zum anderen gab sie mir die Information, in welcher Jahrgangsstufe an der Schule, die Thomas besucht, ein Schüleraus- <?page no="370"?> 356 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven tausch mit Frankreich vorgesehen ist. 319 Darüber hinaus soll nicht unerwähnt bleiben, dass auch Thomas’ kleiner Bruder anwesend war. Da ich sein Alter jedoch auf höchstens drei Jahre schätze, ist es kaum denkbar, dass Thomas in seinen Äußerungen von der Anwesenheit seines Bruders hätte beeinflusst sein können. Der kleine Bruder seinerseits saß während des gesamten Interviews brav und still auf dem Schoß seiner Mutter, was diese im Anschluss lobend anmerkte. Analyse des Interviews: Das Interview beginnt mit einer Stellungnahme von Thomas zu seinem Schwierigkeitsempfinden im Hinblick auf ‚seine‘ Fremdsprachen Englisch und Französisch. Zu Englisch gibt er an: „Ja, weil sie mir jetzt leicht fällt, weil ich sie ja schon lange gelernt habe, irgendwie.“ (Interview, Z. 16-17). Der zeitliche Bezug, der hier deutlich wird („jetzt“, „schon lange“) zeigt sich noch konkreter, als Thomas gefragt wird, ob es Bereiche gebe, die er im Französischen einfach finde (s.u.). Zunächst jedoch seine Stellungnahme zu Schwierigkeiten (Z. 24- 26): T.: Weil es halt so schwierig ist und so. L.: Was findest du denn vor allem, also besonders schwierig an Französisch? T.: Hm, diese, überm a, diese Strichelchen da, in welche Richtung die kommen. Thomas gibt auf sehr konkrete Weise einen Bereich der französischen Sprache an, den er als schwierig wahrnimmt: die Unterscheidung der verschiedenen Akzente bzw. - da er die Frage nach der „Richtung“ anspricht - des accent aigu und des accent grave. Dass er hier „überm a“ sagt, ein Vokal, bei dem der accent aigu nicht vorkommt, kann darin begründet liegen, dass er ein Beispiel für ein französisches Wort mit Akzent nennen möchte und ihm zu diesem Zeitpunkt ‚nur‘ die Präposition à einfällt (insofern er an diese gedacht hat). Es ist auch möglich, dass ihm die Kombinationsmöglichkeiten von Vokalen und Akzenten noch nicht (gänzlich) bekannt sind. Da Thomas mit der Apostrophierung im Französischen, die er in einer der Interkomprehensionsstunden aus eigener Initiative ausführlich erläutert (TR 7, Z. 192-209; Abschnitt III 2.6), offenbar keinerlei Probleme hat und auch im Deutschen apostrophiert wird („Wie geht’s? “), könnte vermutet werden, dass es die Fremdheit der Akzente ist, die zu Thomas’ Schwierigkeitsempfinden beiträgt. Nun zu der Frage, was er als einfach empfindet (Z. 29-44): 319 Vgl. hierzu die Erfahrungen von Wagner (2009: 270) in ihrer „Fallanalyse Lisa“, in der sich die Mutter des Kindes massiv in die Datenerhebung einmischte: „Während bereits ihre Anwesenheit Lisa stark unter Druck zu setzen schien, verstärkte sich dieses Gefühl durch ihre sehr drängenden Kommentare, wie z.B. „Guck mal, das ist doch einfach“, „Du bist heute ein bisschen langsam. Mal ein bisschen schneller“ oder „Weißt du nicht, was Junge und Mädchen heißt? “ und ein sich stetig durchziehendes insistierendes „Hm? “. <?page no="371"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 357 L.: Gibt es denn auch was, was du, was du einfach findest im Französischen? T.: Also jetzt … äh von der Grammatik oder von der Satzstellung? L.: Hm? T.: Von der Grammatik oder von der Satzstellung? L.: Ganz allgemein, was du, was du da einfach findest. Also kann im Wortschatzbereich sein oder in der Grammatik oder - halt so. T.: Was wir so ganz am Anfang gelernt haben, also irgendwie jetzt so … ja, was so in den letzten Arbeiten erst vorkam. L.: Mhm. Aber das hört sich doch gut an, wenn du das, was in den letzten Arbeiten vorkam … T.: Ja, jetzt finde ich es leicht, aber da nicht. ((lacht)) L.: Mhm. Und was, was war das so, was da? T.: Dieses was ist das? , oder dann halt diese ähm - Possessiv-, oder? Possessivpronomen. Halt, also diese Grammatik. L.: Also mon cahier und ma gomme? 320 T.: Ja, so was finde ich dann auch einfach. Abgesehen von seinen Antworten ist zunächst Thomas’ Nachfragen: „Von der Grammatik oder von der Satzstellung? “ interessant. Hier hätte sich die zusätzliche Frage angeboten, was er genau unter dem Begriff „Grammatik“ versteht. Der oben angesprochene sehr deutliche zeitliche Bezug zeigt sich in seiner von Lachen begleiteten Äußerung in Zeile 39: „Ja, jetzt finde ich es leicht, aber da nicht.“ Bemerkenswert ist auch, wie genau Thomas hier seine Fortschritte sowohl im Hinblick auf den Bereich der französischen Sprache (die Frage „was ist das? “ und die Possessivbegleiter) als auch den Zeitpunkt konkretisieren kann. In dieser Hinsicht kann seine Stellungnahme zu den Akzenten im Französischen und die Äußerung: „Weil es halt so schwierig ist“ (s.o.) nicht als eine Generalisierung des Schwierigkeitsempfindens der Akzentsetzung auf die französische Sprache im Allgemeinen interpretiert werden. Wie zu Beginn der Longitudinalstudie angesprochen, erhofften sich Thomas’ Eltern eine Hilfe bei der Entscheidung, ob er in der sechsten Klasse als zweite Fremdsprache Latein oder Französisch wählen solle (Z. 45-59): L.: Mhm. Und ähm, also, es war ja, es stand ja auch jetzt da, vor, vor einem Jahr oder über einem Jahr mittlerweile war ja auch dann die Frage, ob du halt jetzt 320 Da die Possessivpronomen, anderes als die Possessivbegleiter, in der Regel erst sehr viel später (im an ‚Thomas’ Schule‘ verwendeten Lehrwerk À plus! im vierten Band) im Unterricht behandelt werden, kann seine begriffliche Verwendung hier auf Unsicher heiten in der Terminologie zurückgeführt werden, wofür sein Zögern in Z. 41-42: „diese ähm - Possessiv-, oder? Possessivpronomen“ spricht. Auf der anderen Seite werden be kanntermaßen in einigen Grammatiken „adjektivische“ und „substantivische“ Possessiv pronomen unterschieden, so dass dieser Terminus als ein Oberbegriff verwendet wird. Dies trifft zwar nicht auf das Lehrbuch À plus! zu; dennoch könnte Thomas den Begriff „Possessivpronomen“ statt „-begleiter“ im Französisch- (oder auch im Englisch- oder Deutsch-) Unterricht gehört haben, da dieser durchaus gängig ist. <?page no="372"?> 358 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Latein nimmst oder Französisch. Und wenn du jetzt so nach einem Schuljahr Französisch darauf zurückblickst? T.: Französisch. L.: Ja? T.: Mhm. L.: Also du bereust deine Entscheidung nicht? T.: Nö. L.: Mhm. Und äh warum bereust du die nicht? T.: Weil Französisch jetzt einfacher ist vom Lernen her. L.: Und sonst, wenn es das … T.: Und weil wir in der letzten Arbeit den besseren Durchschnitt hatten. L.: Einen besseren Durchschnitt als wer? Als eine an- … T.: Als Latein. Als die Lateinklasse. Interessant ist, dass Thomas seine Aussage, er bereue nicht, Französisch gewählt zu haben, nicht mit einem Verweis auf die Tatsache, dass Französisch eine lebende Sprache ist, begründet wie einige der Französisch lernenden Sechstklässler aus Niedersachen (vgl. Abschnitt III 3.2). Stattdessen führt er an, dass Französisch „vom Lernen her“ einfacher sei, wobei er nicht präzisiert, was er genau meint 321 . Er untermauert schließlich seine Stellungnahme durch das Ergebnis, dass die Französischklasse in der letzten Klassenarbeit einen „besseren Durchschnitt“ gehabt habe als die Lateinklasse. Selbstverständlich vergleicht Thomas hier die berühmten ‚Äpfel mit den Birnen‘ (eine andere Lerngruppe, ein anderes Fach, ein anderer Lehrer, eine andere Klassenarbeit usw.). Es muss jedoch eingeräumt werden, dass er als ein Schüler, der noch nie Latein gelernt hat, auch keine andere Vergleichsgrundlage und somit keine andere Möglichkeit hat, als ‚externe Quellen‘ heranzuziehen. Aktivitäten und das Lernen des Lernens im ‚regulären‘ Fremdsprachenunterricht: Für die Frage nach Aktivitäten im ‚regulären‘ Englisch- und Französischunterricht wurden Thomas zusätzlich zwei geschlossene Fragen in schriftlicher Form vorgelegt, zu denen er auf einer sechsstufigen Likertskala (von „sehr häufig“ über „häufig“, „manchmal“, „selten“ und „sehr selten“ bis „gar nicht“) die Häufigkeit einer Aktivität im von ihm erhaltenen Fremdsprachenunterricht einschätzen soll (vgl. Abschnitt II 4.). Die jeweils neun vorgegebenen Aktivitäten für den Englischbzw. Französischunterricht orientieren sich zum Teil, wie erwähnt (vgl. ebd.), im Wortlaut an den Formulierungen der niedersächsischen Sechstklässler aus den offenen Fragebögen: englische / französische Texte lesen, Grammatikübungen, englische / französische CDs hören, englische / französi- 321 Bedauerlicherweise wurde die begonnene Frage in Zeile 56: „wenn es das …“ nicht wieder aufgegriffen; zum Thema der „situativen Kompetenz des Interviewers“ vgl. Flick (1999: 97). <?page no="373"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 359 sche DVDs, Filme sehen, über das Lernen sprechen, Schreiben, Rollenspiele, etwas über englischsprachige / französischsprachige Länder lernen und Sprechen. Während des Ankreuzens stoppt Thomas bei dem Item „englische DVDs, Filme sehen“ und beklagt - ganz seinem Interesse an Film entsprechend (Z. 67-74): T.: haben wir ja nicht mal geschafft. L.: Was denn? T.: Hier (…). L.: Ach so. Hattet ihr vor? T.: Ja. L.: Was wolltet ihr denn gucken da? T.: Wir wollten Herr der Ringe gucken, aber das ging da nicht, weil das Schuljahr zu kurz war. Für den vorliegenden Kontext besonders wichtig ist allerdings seine Frage zum Item „über das Lernen sprechen“ (Z. 78-91): T.: Wie denn über das Lernen sprechen? L.: Ja, habt ihr mal darüber gesprochen, also zum Beispiel, wie man am besten Vokabeln lernen kann … T.: Ach so, ja. L.: Oder - was, was habt ihr da gemacht, also wenn du jetzt da manchmal ange … T.: Wie man Vokabeln lernen kann, dies, das eine da zudecken oder im Vokabelheft umgedreht (…). L.: Aha. Fandest du das denn hilfreich, dass ihr darüber gesprochen habt? T.: Zuhalten schon. L.: Mhm. Und so machst du das dann auch, wenn du Vokabeln lernst? T.: Manchmal. Wenn die schwierig sind. L.: Und was machst du bei den einfachen? T.: Da merke ich es mir einfach, wenn ich es abschreibe ins Heft. Dass Thomas nicht versteht, was mit diesem Item gemeint ist: „Wie denn über das Lernen sprechen? “ deutet darauf hin, dass der Bereich des savoir apprendre noch nicht wirklich Eingang in den Fremdsprachenunterricht gefunden hat 322 . Nach einer Konkretisierung („Vokabeln lernen“) nennt er die häufig dokumentierte „Abdecktechnik“ (Haudeck 2008: 141ff.) 323 . Es ist allerdings zu beto- 322 Hier sei an den Befund von Bär (2009: 511) erinnert, demzufolge „57% der in die Unter suchungen einbezogenen Schüler [angeben], bislang noch nie mit diesem Thema [= das Lernen des Lernens von Sprachen; StM] im Unterricht konfrontiert worden zu sein“. 323 Selbstverständlich ist Thomas’ Antwort durch die Konkretisierung von savoir apprendre mit „Vokabeln lernen“ (mit)bedingt, doch konnte er offenbar mit dem Item „über das Lernen sprechen“ nichts anfangen (s.o.), so dass dieser Bezugspunkt gewählt wurde. <?page no="374"?> 360 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven nen, dass er - auch wenn er eine Thematisierung der ‚traditionellen‘ Zuhaltemethode im Unterricht für sinnvoll hält (s.o.) - diese für sich elaboriert hat, indem er ebenfalls nach interlingualen „Zusammenhängen“ sucht. Dies hatte er bereits in der zweiten Interkomprehensionssitzung am Beispiel von frz. ma - dame erläutert (TR 2, Z. 43-46; s. Abschnitt III 2.2). Dieser Sprachvergleich der Muttersprache auch mit der zweiten Fremdsprache und die morphologische Analyse von ma - dame weichen ab von Haudecks (ebd.) Befunden, die diese Formen der Elaboration beim Vokabellernen nur bei den Achtklässlern nachweisen konnte (2008: 354). Bei dem auf den Französischunterricht bezogenen Teil der beiden geschlossenen Fragen (s.o.) wiederholt sich der Dialog von zuvor, denn auch hier beklagt Thomas, dass man sich noch nicht mit Filmen befasst habe, woraufhin er an den Kinobesuch seiner Klasse (s. Fußnote 252) erinnert wird (Z. 110-113). Über das Item „über das Lernen sprechen“ wundert sich Thomas nun nicht mehr, er scheint es jedoch - durch die Konkretisierung vermutlich provoziert mit dem Lernen von Vokabeln gleichzusetzen, so dass die Erschließung von Bedeutungen explizit angesprochen wird (Z. 117-126): T.: Ähm, über das Lernen sprechen manchmal. L.: Und äh, was, was habt ihr da dann so besprochen? T.: Auch das Gleiche wie in Englisch besprechen (…) L.: Mhm. T.: Eigentlich das Gleiche wie in Englisch (…) die Vokabeln sind nur anders (…). L.: Aha. Und ähm, was wir jetzt hier auch so gemacht haben, wie man sich so Wörter erschließen kann bei unbekannten französischen Texten oder englischen, habt ihr das mal gemacht? T.: Englisch haben wir es (…) ein paar Mal gemacht, aber Französisch nicht. So scheinen Thomas’ Wahrnehmung zufolge Inferenzstrategien mittlerweile im Englischunterricht thematisiert worden zu sein. Inwieweit hierbei auch nicht lehrintentionales (lehrwerkunabhängiges) Material eingesetzt wurde, kann nicht gesagt werden, doch deutet sich verglichen mit seiner Stellungnahme aus der ersten Interkomprehensionsstunde (TR 1, Z. 406-410) hier eine Veränderung an: T.: Nö, also im Englischbuch hatten wir so immer mal so Texte, die wir dann zum Beispiel, jetzt irgendwie, wir haben ja jetzt Thema Vergangenheit, also dann, also mit diesem -ed und so was, mit diesen regelmäßigen und unregelmäßigen und dann guck-, äh, gucken wir uns halt auch manchmal irgendwelche Texte hier dann an, welche, wo die drin sind (meine Hervorhebung) Denn vermutlich - insofern das Lernen des Lernens thematisiert wird - ist es vor allem dieser Bereich, der im Fremdsprachenunterricht angesprochen wird. <?page no="375"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 361 Schließlich ist im vorliegenden Kontext noch Thomas’ Äußerung: „Eigentlich das Gleiche wie in Englisch (…) die Vokabeln sind nur anders (…).“ hervorzuheben, da sie auf eine Bewusstheit über Transferierbarkeit strategischen Wissens hinweist. Was seine Vorlieben angeht, führt er für Englisch „das Schreiben“ (Z. 99) und „Rollenspiele“ (Z. 101), für Französisch „die Texte“ (Z. 132) an. Auf die Frage, ob er im Fremdsprachenunterricht etwas vermisst habe, wechselt Thomas das Thema vom Unterrichtsinhalt zur Unterrichtsmethodik und bezieht sich hierbei auf den Französischunterricht (Z. 153-156): L.: Also, hast du da was vermisst, also jetzt auch unabhängig von diesen, diesen Listen hier? T.: Den Unterricht ein bisschen koordinierter. ((lacht)) Es ist alles etwas chaotisch. Ja. Dies ist die oben angesprochene Stelle im Interview, an der sich Thomas’ Mutter in das Gespräch einschaltet (Z. 162-165): Mutter: (…) Muttersprachlerin im Französischunterricht. L.: Ah ja, mhm. Mutter: Und insofern ähm denke ich vom Lernen schon das Optimale. T.: Vom Lernen, aber nicht vom Wie. Seine Äußerung, eine (bzw. die) Muttersprachlerin sei „vom Lernen“ her das Optimale, nicht jedoch „vom Wie“, da ihr Unterricht nicht ausreichend „koordiniert“ (Z. 155) und „etwas chaotisch“ (Z. 155-156) sei, wirkt wie eine Differenzierung einer Lern- und Lehrperspektive. Ein muttersprachlicher Input kann aus der Perspektive eines Lerners von Vorteil sein (je nachdem, wie er mit diesem umgeht), obwohl, aus einer Lehrperspektive betrachtet, der Unterricht unkoordiniert abläuft. Diese Gegenüberstellung weicht von der schülerseitigen Vorstellung ab, der Lehrer allein müsse die Sprache „rüberbringen“, die Kallenbach (1996: 183) in ihrer Studie ermitteln konnte. Doch angesichts des deutlich jüngeren Alters von Thomas, verglichen mit Kallenbachs Befragten (Oberstufenschüler) und den (hiermit verbundenen) geringeren Sprachlernerfahrungen, kann die Stellungnahme „Vom Lernen, aber nicht vom Wie.“ auch als ein Bemühen von Thomas, in der Situation zu ‚vermitteln‘, interpretiert werden. So reagiert auch seine Mutter ‚entgegenkommend‘, versucht jedoch auch, ihre Position mit Bezugnahme auf die Aussprache zu verteidigen (Z. 166-172): Mutter: Äh, ja, aber vielleicht so in der Methodik nicht so ((lacht)) nicht so top. Aber äh, sicher in dem, was sie den Kindern beibringen könnte, äh, sicher super, ne 324 . […] 324 Da Thomas’ Eltern nicht der Fokus der vorliegenden Untersuchung sind, wird diese Äußerung seiner Mutter - wie auch im Interview selbst - unkommentiert belassen. <?page no="376"?> 362 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Mutter: Von der Aussprache her und so da - die hat dann gar keinen Akzent oder so. L.: Ja. Mutter: Als Muttersprachlerin. Zwar hatte Thomas zuvor im Kontext des Items „über das Lernen sprechen“ angegeben, im Englischunterricht sei darüber gesprochen worden, wie man Wörter erschließen kann (s.o.), die Textvielfalt schien jedoch im Allgemeinen nicht sehr groß zu sein (Z. 193-196): T.: Hm, also - unsere Englischlehrerin jetzt hat sich zu sehr am Buch gehalten und hat dann irgendwie jetzt eine Geschichte jetzt auch beim Vertretungslehrer immer gesagt, wir sollen das lesen, da haben wir eine Geschichte zehnmal gelesen oder so. Ja. Die hat sich zu sehr ans Buch gehalten. Persönliche Lernziele: Was seine persönlichen Lernziele beim Fremdsprachenlernen anbetrifft, differenziert Thomas zwischen Englisch und Französisch (Z. 211-214): T.: Hm, Englisch ähm … so gut können, dass man im Ausland leben könnte, also in England oder in Amerika. Und in Französisch, dass es - hm … ähm … ja, dass ich mich in Frankreich zurechtfinden könnte. (…) Also jetzt nicht, dass ich mal hinziehen könnte wie beim Englisch, sondern nur zurechtfinden. Er spricht hier zwei Abstufungen davon an, was es heißt, eine Sprache zu ‚können‘: einerseits in einem Zielsprachenland „leben“ und andererseits sich dort „zurechtfinden“ zu können, und ordnet die von ihm gelernten Sprachen diesen Bereichen zu. Für Französisch sind seine Äußerungen zu der Frage, ob er „auch konkret kurzfristige Ziele“ (Z. 221) habe, interessant (Z. 223-231): T.: bei dem Schüleraustausch, also da halt ich alles ((lacht)), aber, dann halt auch ein bisschen was zu können. (…) schon seit der (…) Klasse. L.: Mhm. - Steht denn da konkret ein Schüleraustausch an, oder? T.: Achte Klasse. L.: Ah ja, mhm. T.: Französisch. L.: Ja, ist doch schön, wenn man da dann so ein konkretes kurzfristiges Ziel dann, was heißt kurzfristig, aber … T.: (…) achte Klasse ist nicht mehr so weit. Nach seiner Stellungnahme, dass es sich bei einem Schüleraustausch in der achten Klasse aus seiner Sicht durchaus um ein kurzfristiges Ziel handele (vgl. Z. 231), präzisiert Thomas (Z. 252-253): T.: Ich finde es zu wenig, was ich bis jetzt gelernt habe, für einen Schüleraustausch. Aber deswegen ist er ja auch in der 8. und nicht in der 7. Klasse. <?page no="377"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 363 Er gleicht hier sein Ziel, „beim dem Schüleraustausch […] ein bisschen was zu können“ (s.o.), mit einer Selbsteinschätzung zum Zeitpunkt des Interviews ab. Obwohl er hierbei zu dem Ergebnis kommt, dass es „zu wenig“ sei, führt dieser Vergleich - erfreulicherweise und wiederum - nicht zu einem Frustrationserlebnis. Stattdessen lässt sich auch hier die (für Thomas so typische und häufiger im Rahmen der Longitudinalstudie dokumentierte) zeitliche Einbettung finden: Der Schüleraustausch findet schließlich nicht ohne Grund im achten und nicht im siebten Schuljahr statt. Dieser Befund erinnert unmittelbar an die (zu Recht) gestellte Forderung nach Zielorientierung im Kontext einer Motivierung für Französisch(unterricht) und nach einer Förderung von Selbstwirksamkeitswahrnehmungen (Düwell 2002: 175-176; Reinfried 2002: 185ff.; Caspari 2010: 15). Dass Thomas ein Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten besitzt, wurde beispielsweise auch in den Interkomprehensionsstunden zum Garfield- Film deutlich: T.: Also in Englisch verstehe ich es ja dann, wenn (...), in ein paar Jahren werde ich es wahrscheinlich dann auch in Französisch verstehen, nur, nur Englisch habe ich ja jetzt schon seit der dritten Klasse und dann und dann finde ich es halt jetzt auch da und dann verstehe ich ja dann schon die meisten Wörter, ja. (TR 4, Z. 373-376) und auch in jener zu den Texten Giessen and Hesse Giessen et la Hesse: T.: Na ja, nur im Englischen kann ich es besser, weil ich da einen größeren Wortschatz habe als im Französischen. (TR 8, Z. 204-205) Wie die Zitate verdeutlichen, vergleicht er seine sprachliche Kompetenz im Englischen mit jener im Französischen. Hierbei schneidet das Französische schlechter ab, jedoch ohne sich negativ auf sein Selbstvertrauen, Französisch lernen zu können, im Bereich des savoir être auszuwirken. Selbstverständlich ist hier einzuräumen, dass Thomas erst seit einem Jahr (bzw. mit dem ‚Schnupperkurs‘: seit eineinhalb Jahren) Französisch lernt und sich seine Äußerungen daher als Indikatoren für die häufiger dokumentierte (allerdings auch relativ schnell nachlassende) Anfangsmotivation (Caspari 2010: 14) interpretieren ließen. Dies ist jedoch im Falle von Thomas insofern unwahrscheinlich, als - etwa verglichen mit den von Marschollek (2007b: 139) befragten Viertklässlern, die „in der 6. Klasse fließend Englisch“ sprechen können möchten 325 - seine Ziele als realistisch bezeichnet werden können bzw. er sich auf eigene Erfahrungen bezieht. Die Possessivbegleiter (s.o.), die er 325 Die Unterschiede in den Ergebnissen lassen sich sehr wahrscheinlich auf das jeweilige Alter der Lernenden zurückführen und hiermit verbunden auf die unterschiedlichen Erfahrungen mit dem Lernen von Fremdsprachen, was schon allein in Thomas’ Ver gleich von Englisch und Französisch deutlich wird, der den Grundschülern selbst verständlich noch nicht möglich ist. <?page no="378"?> 364 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven zunächst als schwierig wahrgenommen hat, in der Klassenarbeit jedoch nicht mehr, sind hier ein Beispiel. Es ist zu fragen, wo genau die Quelle dieser positiven Grundhaltung von Thomas, der sich auch kurzfristige Ziele setzt und in der Lage ist, bei sich Fortschritte festzustellen, liegt. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass seine Französischlehrerin häufig krank war und die Vertretung, seiner Angabe zufolge, die Schüler lediglich Vokabeln abschreiben ließ (vgl. Abschnitt III 2.1). Zudem hat Thomas seine Französischlehrerin auf methodischer Ebene kritisiert (vgl. oben: „nicht vom Wie“; „etwas chaotisch“). Es würde sich ebenfalls lohnen, in weiteren Untersuchungen der Frage nachzugehen, was für junge Lerner „kurzfristige“, „mittelfristige“ und „langfristige“ Ziele sind, da die hier dokumentierte Vorstellung von „kurzfristig“ von der Definition in Düwell (2002: 176): „z.B. nach einer oder mehreren Schulstunden“ abweicht (s.o.; Z. 229-231): L.: Ja, ist doch schön, wenn man da dann so ein konkretes kurzfristiges Ziel dann, was heißt kurzfristig, aber … T.: (…) achte Klasse ist nicht mehr so weit. Hierbei müssen allerdings der Bezugsrahmen und die situative Einbettung dieses Dialogs im Interview berücksichtigt werden. Es wurde kurz zuvor über das Ziel, die englische Sprache soweit zu beherrschen, dass ein Leben in einem anglophonen Zielsprachenland möglich ist (s.o.), gesprochen, demgegenüber jenes, beim Schüleraustausch „ein bisschen was zu können“ (für einen Sechstklässler) selbstverständlich als kurzfristig erscheint. Vor dem Hintergrund seiner Differenzierung, er wolle in anglophonen Zielsprachenländern „leben“ und sich „in Frankreich zurechtfinden“ können (s.o.), wird Thomas gefragt (Z. 277-283): L.: findest du es eigentlich richtig, dass man außer Englisch noch eine weitere Fremdsprache lernt? T.: Ja. … Ja. - Ja, ich meine Englisch, ja so, also da - Franzosen ja nicht so viel Englisch sprechen, dann schon, aber wenn man jetzt nicht unbedingt so der Frankreich-Fan ist, sondern sich lieber irgendwo in Italien aufhält oder so und die - also eigentlich schon, je nachdem, wo man hin will oder was man im späteren Leben machen möchte. Wie sich aus seiner Antwort ablesen lässt, fasst er die Frage nicht als eine Bitte um eine grundsätzliche Stellungnahme zum Thema Mehrsprachigkeit auf, sondern argumentiert konkret bedarfsbzw. interessensorientiert. Zunächst konkretisiert er die „weitere Fremdsprache“ (Z. 277-278) durch ‚seine‘ zweite Fremdsprache Französisch und begründet die Notwendigkeit, sie zu erlernen, mit der (klischeebehafteten) Vorstellung, dass „Franzosen ja nicht so viel Englisch sprechen“. Hierbei bleibt unklar, ob er die Fähigkeit oder die Bereitschaft hierzu meint. Im Folgenden führt er seinen Gedanken weiter, indem er sich <?page no="379"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 365 nun die Frage stellt, wie es sich mit Menschen verhält, die stärker an Italien interessiert sind als an Frankreich. Thomas’ Äußerung weist deutliche Anzeichen lauten Denkens auf, was sich insbesondere darin zeigt, dass er schließlich selbst seinen Reflexionsprozess unterbricht und zu dem Schluss kommt: „also eigentlich schon“. Es sind gerade diese Merkmale des lauten Denkens, die darauf hindeuten, dass ihm diese Frage bislang noch nicht (häufig) gestellt wurde. Auch die angesprochene Bedarfsorientierung präzisiert er weiter (Z. 290-297): T.: Wenn man zum Beispiel gar nichts mit Frankreich zu tun hat, dann müsste man von meiner Seite auch nicht jetzt Französisch lernen. Außer, wenn man natürlich auch in dieser Schweiz ist, wo ja auch Französisch gesprochen wird. Wenn man sich da aufhält (sollte man auch eigentlich Französisch können). L.: Mhm. T.: Wenn man aber natürlich jetzt nur zum Beispiel jetzt Außendienst hat, jetzt nur in Amerika oder irgendwie so was, dann in Amerika bringt einem Französisch wenig. Wie aus den Äußerungen hervorgeht, präzisiert Thomas hier die angesprochene persönliche Bedarfsorientierung nicht nur im Hinblick auf mögliche Orte (Z. 290-293), sondern fügt der integrativen Orientierung (s.o.: „Frankreich- Fan“, „sich lieber irgendwo in Italien aufhält“) eine instrumentelle („Außendienst“) hinzu. Die Verwendung des Demonstrativbegleiters („in dieser Schweiz“) und die Tatsache, dass er nicht beispielsweise Belgien erwähnt, weisen zudem auf Unsicherheiten hin, was französischsprachige Länder anbelangt. Auf die Frage, ob er sich „denn vorstellen [könne], irgendwann nochmal eine weitere Fremdsprache zu lernen, also da so ein bisschen - reinzugucken, reinzuhören“ (Z. 298-300), antwortet Thomas: „Italienisch vielleicht“. Er begründet seine Wahl damit, dass neben Spanisch Italienisch zu den (in dritter Position) angebotenen Fremdsprachen an ‚seiner‘ Schule gehört. Retrospektive Betrachtung der Interkomprehensionsstunden: Für diesen zweiten Teil des Interviews wurden, wie erläutert (vgl. Abschnitt II 4.), die eingesetzten Interkomprehensionsmaterialien (bzw. Kopien hiervon) erneut herangezogen. Die interkomprehensiven Texte wurden hierbei zur Erleichterung der Bezugnahme nach Sprachen sortiert. Dass Thomas - ebenso wie bei der Bitte um eine Meinungsäußerung zum Thema Mehrsprachigkeit (s.o.) - bislang noch nicht häufig um eine Stellungnahme zu Unterricht bzw. Materialien gebeten wurde, zeigt sich darin, dass er trotz Erläuterungen (Z. 304-312) dieses Anliegen zunächst missversteht. So fragt er (Z. 319-321): T.: Soll ich das nochmal sagen? L.: Bitte? T.: Soll ich das nochmal sagen, was da steht <?page no="380"?> 366 III. Dokumentation und Analyse: Ergebnisse und Perspektiven Die Frage, ob er die Texte bzw. Aufgaben „nochmal“ bearbeiten solle (was wohl den zeitlichen Rahmen des Interviews gesprengt hätte), zeigt, wie ungewöhnlich es für ihn (und wohl auch für weitere junge Lerner) ist, sich zu Unterricht(smaterialien) auf einer Metaebene zu äußern. Entsprechend der Anordnung der interkomprehensiven Texte nach Sprachen (s.o.) vergleicht Thomas diese hinsichtlich der Frage nach seinem Schwierigkeitsempfinden (Z. 326-330): T.: Ähm, ja, also das ist jetzt halt äh viel mit Zusammenhängen jetzt. Also jetzt mit dem - also jetzt mit dem Holländischen, weil das nicht ganz viel ist. (…) wie es in Deutschland heißt und so. L.: Mhm. T.: Also Englisch, also das Schwierigste, was ich jetzt finde, ist das Französische. Wie seine Äußerungen andeuten, beurteilt er den Schwierigkeitsgrad der interkomprehensiven Aufgaben auf der Grundlage der Anzahl an verfügbaren interlingualen Transferbasen. Ähnlich wie in seinen Erläuterungen zum Vokabellernen im Französischen am Beispiel ma - dame und „meine Dame“ (vgl. Abschnitt III 2.2) verwendet er auch hier den Begriff der „Zusammenhänge“. Zur Untermauerung seiner Position führt Thomas Beispiele aus dem ersten niederländischen Interkomprehensionstext Voetbal und hierbei aus dem Satz: Voetbal is een wereldwijde populaire balsport waarbij twee ploegen van elf spelers moeten proberen de bal in het doel van de tegenstander te krijgen. (s. Abschnitt III 2.1) als Beleg an (Z. 334-338): L.: Warum fandest du das bei Holländisch äh einfacher? T.: Ja, wenn man hier, hier auch in, zum Beispiel jetzt hierbei denkt (…) kann man auch hier, hier dieses populärer Ballsport und hier dieses, das könnte jetzt zum Beispiel weltweit, so Sachen halt, ne. Hm. - Dann hier das, elf ist ja genauso elf Spieler, ne. Wie das Zitat zeigt, bezieht er sich hierbei auf interlinguale Ähnlichkeiten und - bei der Zahl elf - Übereinstimmungen auf Sprachformebene. Auch bei der Frage, ob er es sinnvoll finde, sich mit dem Holländischen zu beschäftigen, argumentiert er ähnlich (Z. 341-346): T.: Ja. L.: Also glaubst du, dass, dass das auch was äh fürs Englisch- oder Französischlernen bringen kann, dass man da dann das übertragen kann, wenn man, wenn man so was macht? T.: Also Französisch glaube ich jetzt nicht, aber - Englisch vielleicht, weil (…), das ist ja eher so ein Mischmasch aus Deutsch und Englisch. Dass Thomas eine Auseinandersetzung mit dem Niederländischen für das Englisch-, nicht jedoch Französischlernen als sinnvoll einschätzt, zeigt, dass er - zumindest an dieser Stelle des Interviews - in seinen Überlegungen auf interlinguale Transferbasen und weniger auf die Ebene von top down-Strategien <?page no="381"?> 2. Interkomprehensionserfahrungen - eine longitudinale Einzelfallstudie 367 konzentriert ist. Dies kann durch die vorangegangene interlinguale Betrachtung des niederländischen Textstücks und auch durch die Formulierung: „dass man da dann das übertragen kann“ (mit)bedingt sein. Auf interlingualer Ebene ist die metasprachliche (allerdings selbstverständlich nicht politisch korrekt verbalisierte 326 ) Einschätzung der niederländischen Sprache als einem „Mischmasch aus Deutsch und Englisch“ (s.o.) durchaus zutreffend, denn, wie erwähnt, liegt das Niederländische sprachtypologisch zwischen dem Englischen und Deutschen (vgl. Lutjeharms 2007b: 275; Lutjeharms & Möller 2014: 205; Wenzel 2014: 269). Im Folgenden äußert sich Thomas zu der Frage, was ihm „weniger gut gefallen“ (Z. 354-355) habe, und gibt eine für insbesondere frühe Interkomprehensionsdidaktik sehr wichtige Stellungnahme ab (Z. 356-359): T.: Hm, also das Fußball hier. L.: Hm. T.: Weil davon wusste ich ja eigentlich auch, aber jetzt vom, jetz