Sprache und Kommunikation in der beruflichen Aus- und Weiterbildung
Ein interdisziplinäres Handbuch
1112
2018
978-3-8233-9041-1
978-3-8233-8041-2
Gunter Narr Verlag
Christian Efing
Karl-Hubert Kiefer
Die Bedeutung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen und entsprechende Anforderungen nehmen in allen Berufen stetig zu. Dies begründet - auch vor dem Hintergrund des oft geforderten lebenslangen Lernens - einen steigenden Bedarf an sprachlicher Aus- und Weiterbildung im Beruf.
Dieses Handbuch gibt einen breiten Überblick über die Interessen, Perspektiven und Ansätze verschiedenster Disziplinen und Institutionen, die das Themenfeld der berufsbezogenen sprachlich-kommunikativen Aus- und Weiterbildung in den Blick nehmen. Dabei stehen methodische Fragen der Forschung und Erhebung ebenso im Fokus wie didaktische Fragen der Diagnose und Förderung sprachlicher und kommunikativer Anforderungen und Kompetenzen. Das Handbuch enthält zahlreiche Überblicksartikel zu den einzelnen Forschungsdisziplinen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, sowie zu den Forschungsmethoden und didaktisch-methodischen Ansätzen. Von besonderer Bedeutung ist das Kapitel C mit differenzierten Beiträgen zu den einzelnen sprachlichen Dimensionen, ihrer Diagnose und Förderung sowie zu ausgewählten Text- und Diskursarten, die in der beruflichen Aus- und Weiterbildung zentral sind.
Sprache und Kommunikation in der beruflichen Aus- und Weiterbildung Christian Efing / Karl-Hubert Kiefer (Hrsg.) Sprache und Kommunikation in der beruflichen Aus- und Weiterbildung Ein interdisziplinäres Handbuch © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISBN 978-3-8233- 9 041- 1 Umschlagabbildung: Businessman holding discussion icons sketch (Adobe Stock © 2018, sdecoret) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. 9 11 A 23 33 43 53 63 73 85 95 105 115 B 127 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Günter Kutscha Das Berufsbildungssystem in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Disziplinen und Akteure Hans G. Bauer & Nicolas Schrode Ein Blick aus der Ausbildungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Gerwinski, Christine Hrncal, Sabine Jautz, Britta Thörle & Antje Wilton Die Perspektive der Angewandten Sprachwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Efing Die Perspektive der Deutschdidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Iris Beckmann-Schulz & Jana Laxczkowiak Das Arbeitsfeld Berufsbezogenes Deutsch - DaZ-Lernen in der beruflichen Weiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annegret Middeke Die Perspektive der Interkulturalitätsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Siemon Die Perspektive der Berufs- und Wirtschaftspädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annika Schach Die Perspektive der Organisationsforschung. Narration in der Kommunikation von Organisationssystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helmut E. Klein & Sigrid Schöpper-Grabe Die Perspektive der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anke Settelmeyer & Christina Widera Die Perspektive der Berufsbildungspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Nill Die Perspektive der Lehrwerkspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exemplarische Domänen: Ausgewählte Berufsfelder/ Fachgruppen Sascha Bechmann & André Karger Ärztliche Gesprächsführung in der Medizinerausbildung - Probleme, Chancen und Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 149 159 171 181 C 193 D 219 229 239 251 D1 265 Gloria Bosch Roig Ausbildung kommunikativ-fachspezifischer und interkultureller Handlungskompetenz im berufsorientierten Deutsch als Fremdsprache-Unterricht für den Tourismus (DaFT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dietmar Heisler & Jeanette König-Wendel Bedeutung und Förderung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen im Friseurhandwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Judith Theuerkauf Kommunikative Anforderungen im Ingenieurberuf und deren Vermittlung im Ingenieurstudium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andrea Schlögl & Wassilios Klein Ausgewählte Berufsgruppen: Fachgruppe der Pflege- und Betreuungsberufe . . . . . . . . Volker Rexing & Christina Keimes Wozu lesen? ! Subjekt- und kontextspezifische Lesekompetenzförderung am Beispiel des Berufsfeldes Bautechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansätze und Methoden der Erhebung von s-k Anforderungen, Bedarfen und Gebrauch im Beruf Christian Efing & Karl-Hubert Kiefer Methoden zur Erhebung, Analyse und Beschreibung kommunikativer Anforderungen, Praktiken und Verhaltensweisen in beruflichen und Ausbildungs-Kontexten . . . . . . . . Sprachliche Dimensionen/ Fertigkeiten; literarische Text- und Diskursarten: Diagnose und Förderung Dietmar Heisler & Jens Reißland Funktionaler Analphabetismus in der beruflichen Bildung und Arbeitswelt . . . . . . . . . Christian Efing Registerbezogene Förderung der Sprachkompetenz in der beruflichen Bildung: Berufs-, Bildungs- und Fachsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Margit Riedel Literaturunterricht an beruflichen Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alex Deppert Poetry Slam im Deutschunterricht an Berufsschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sprechen/ Zuhören Michael Krelle Diagnose von Gesprächskompetenz im Bereich der beruflichen Bildung . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 275 285 297 307 317 D2 329 339 349 361 373 D3 385 395 409 E 427 Peter Weber Förderung von Gesprächskompetenz im Bereich der beruflichen Bildung . . . . . . . . . . . Jan Henning Maxin Ausbildungsvorbereitende Gesprächsförderung in der Sekundarstufe I . . . . . . . . . . . . . Karl-Hubert Kiefer Kommunikative Kompetenzen für beratende Dienstleistungen im Rahmen von Verkaufsgesprächen und ihre Vermittlung im berufsbezogenen Deutschunterricht . . . Jan Henning Maxin Erklären/ Instruieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annette Lepschy Mündliche Bewerbungskompetenz beschreiben und entwickeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schreiben Astrid Neumann & Winnie-Karen Giera Diagnose von Schreibkompetenzen in der beruflichen Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Hoefele & Liana Konstantinidou Förderung der allgemeinen Schreibkompetenz im Bereich der beruflichen Bildung . . . Maik Philipp Ausbildungsvorbereitende Schreibförderung in der Sekundarstufe I . . . . . . . . . . . . . . . Petra Drewer Technische Redaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Efing Formulare als textuelle Herausforderung in der beruflichen Ausbildung . . . . . . . . . . . . Lesen Birgit Ziegler & Aileen Balkenhol Diagnose von Lesekompetenz - Ansätze und Instrumente in der beruflichen Bildung Christina Keimes & Volker Rexing Förderung von Lesekompetenz im Bereich der beruflichen Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . Thorsten Roelcke, Felicitas Tesch & Gesina Volkmann Infografiken in der Fachsprache der beruflichen Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aspekte inter- und transkulturellen s-k Lernens für den Beruf - Mehrsprachigkeit Hannah Schrage & Julia Ricart Brede Zugänge zu und Inhalte von Fördermaßnahmen für Schülerinnen und Schüler mit Deutsch als Zweitsprache in der beruflichen Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt 437 447 457 F 469 481 493 503 Anhang 517 525 Elisabetta Terrasi-Haufe, Barbara Baumann & Alfred Riedl Die Förderung neu Zugewanderter an beruflichen Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias Jung Fach- und berufsbezogener DaF-Unterricht an Schulen und Hochschulen im Ausland Christina Kuhn Fremdsprachen in der Aus- und Weiterbildung und im betrieblichen Weiterbildungsmanagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Didaktik und Methodik der Vermittlung Karl-Hubert Kiefer Didaktische Szenarien in der berufsbezogenen Sprachausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Constanze Niederhaus Ansätze des Integrierten Fach- und Sprachlernens in der beruflichen Bildung . . . . . . . Wassilios Klein Didaktik und Methodik der Vermittlung sprachlich kommunikativer Kompetenzen in Aus- und Weiterbildung: Prüfungsformate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Roche Didaktik und Methodik der Vermittlung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen: Der Einsatz von Neuen Medien im berufsbezogenen Deutschunterricht . . . . . . . . . . . . Christian Efing Weiterführende Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Inhalt Vorwort Sprache und Kommunikation im Beruf ist ein gesellschaftsrelevantes Thema, das schon seit längerem von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen rege beforscht wird. Die Zu‐ spitzung auf den Bereich der Aus- und Weiterbildung, die ganz eigene bildungspolitische und (sprach)didaktische Implikationen mit sich bringt, ist jüngeren Datums. Disziplinen wie die (Angewandte) Linguistik, die Sprachdidaktik, die Berufs- und Wirtschaftspäda‐ gogik, die (Arbeits-)Soziologie und andere mehr haben Interesse an diesem Thema, ebenso verschiedenste Institutionen wie Universitäten, das Bundesinstitut für Berufsbildung, das Institut der deutschen Wirtschaft oder das Deutsche Institut für Erwachsenenbildung. Eine Vielzahl weiterer Akteure arbeitet forschend wie fördernd am Thema Sprache und Kom‐ munikation in Aus- und Weiterbildung für verschiedenste Zielgruppen: Deutsch-Erst-, -Zweit-, -Fremdsprachler, Akademiker, Auszubildende im dualen System usw. Die gegen‐ seitige Wahrnehmung und Befruchtung der einzelnen Disziplinen und Akteure ist ange‐ sichts dieser Feldaufteilung noch optimierbar; ihrer Förderung hat sich das vorliegende Handbuch verschrieben, indem interdisziplinär und überinstitutionell der state of the art der verschiedenen Akteure zusammengefasst wird, was nicht nur den gegenseitigen Aus‐ tausch über Themen, Methoden, Ergebnisse und Standards fördert, sondern auch Deside‐ rate für die zukünftige Weiterarbeit hervortreten lässt. Das vorliegende interdisziplinäre Handbuch zu Sprache und Kommunikation in der be‐ ruflichen Aus- und Weiterbildung bietet demnach - aus deutsch(sprachig)em Blickwinkel - einen breiten Überblick über die Interessen, Perspektiven und Ansätze der verschiedensten Disziplinen und Institutionen auf das Themenfeld. Dabei stehen methodische Fragen der Forschung und Erhebung ebenso wie didaktische Fragen der Diagnose und Förderung sprachlicher und kommunikativer Anforderungen und Kompetenzen von Personen in der Aus- und Weiterbildung im Fokus. Das Handbuch ist in nach einem einleitenden Artikel zum Berufsbildungssystem in Deutschland in sechs Hauptrubriken gegliedert. In der ersten, „Disziplinen und Akteure“, werden die Perspektiven verschiedenster Interessensgruppen auf Sprache und Kommuni‐ kation in Aus- und Weiterbildung überblicksartig dargestellt. In der folgenden Rubrik, „Exemplarische Domänen“, werden ausgewählte Fachgruppen und Berufsfelder mit Blick auf sprachlich-kommunikative Anforderungen und Förderansätze dargestellt. Dabei folgte die Auswahl der beispielhaften Berufsgruppen der Prämisse, sowohl akademische wie nicht-akademische und sowohl produktionswie dienstleistungsorientierte Berufe vorzu‐ stellen. In der dritten Rubrik werden verschiedene Methoden zur Erhebung, Analyse und Beschreibung kommunikativer Anforderungen, Praktiken und Verhaltensweisen in beruf‐ lichen und Ausbildungs-Kontexten beschrieben. Die zentrale vierte, didaktische Haupt‐ rubrik stellt, untergliedert nach den sprachlichen Teilfertigkeiten des Sprechens/ Zuhörens, Schreibens und Lesens, generell wie exemplarisch zu bestimmten Text- und Diskursarten, Ansätze zur Diagnose und Förderung von Sprache und Kommunikation dar. Zusätzlich werden quer zu diesen Teilfertigkeiten liegende didaktische Themen beleuchtet. Die fol‐ gende fünfte Hauptrubrik hebt „Aspekte inter- und transkulturellen sprachlich-kommuni‐ kativen Lernens für den Beruf “ sowie Aspekte der Mehrsprachigkeit hervor, die in der heutigen Arbeitswelt immer zentraler werden. Schließlich versammelt die letzte Rubrik „Didaktik und Methodik der Vermittlung“ Artikel zu teilfertigkeitsunabhängigen Ansätzen der Förderung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen und geht dabei auf spezifische Lernsettings und Medienpotenziale ein. Aus organisatorischen Gründen entfielen kurz vor Druckschluss leider Artikel zu den zentralen Themen der Aus- und Weiterbildung von Ausbildungspersonal im Bereich Sprachförderung (Train the Trainer), zur Perspektive des Deutschen als Fremdsprache sowie zu multimedialen Lernplattformen, für die kurzfristig keine Ersatzautoren gefunden wurden. Das Handbuch richtet sich mit seiner interdisziplinären Ausrichtung und dem Ziel der Förderung der gegenseitigen Wahrnehmung dezidiert an Vertreter aller Disziplinen, die sich mit Sprache und Kommunikation in der Aus- und Weiterbildung beschäftigen. Dabei werden sowohl Forscher als auch Praktiker angesprochen, die sich mit dem Thema aus einer konkreten Förderperspektive - etwa in (Berufs-)Schulen - befassen. Insbesondere ist es geeignet als Grundlage für die universitäre Ausbildung von Forschern wie Berufsschul‐ lehrern und anderen (zukünftigen) Akteuren im Bereich der Sprachbildung und Sprach‐ förderung in der Aus- und Weiterbildung wie generell im Beruf. Dieses Handbuch wäre nicht zustande gekommen ohne die Expertise und Bereitschaft der vielen Autoren, die sich auf seine Idee und Konzeption eingelassen und über die lange Wegstrecke oft viel Geduld bewiesen haben. Ihnen allen gilt unser herzlicher Dank. Da ein Buch nicht nur eine inhaltliche, sondern auch eine formale Seite hat, möchten wir an dieser Stelle Frau Larissa Schlößer und Frau Kristina Rendl danken, die als wissenschaftliche Hilfskräfte unermüdlich und mit akribischem Blick dafür gesorgt haben, dass die Manu‐ skripte korrigiert und formal korrekt eingerichtet wurden. Wuppertal und Berlin, im September 2018 Christian Efing und Karl-Hubert Kiefer 10 Vorwort Das Berufsbildungssystem in Deutschland Günter Kutscha Vorbemerkungen Gegenstand des vorliegenden Beitrags sind die grundlegenden Strukturen und Funktionen der betrieblichen und schulischen Berufsbildung in Deutschland (Gesamtüberblicke siehe Baethge 2008, Kutscha 2010, Schanz 2006, Spöttl 2016). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Entwicklung der beruflichen Aus- und Weiterbildung nicht allein und primär ein schul‐ interner Vorgang war, sondern auf zwei unterschiedlichen Systementwicklungs- und Steu‐ erungskonzepten basiert. Die betriebliche Berufsbildung entstand und vollzieht sich im Rahmen privatwirtschaftlicher Unternehmen und korporativer Organisationen (Kammern, Sozialpartner) mit dominanter Ausrichtung des Qualifikations-, Selektions- und Sozialis‐ ationsbedarfs auf innerbetriebliche Erfordernisse und überbetriebliche Herausforderungen des Beschäftigungssystems (vgl. Harney 1997). Bei den beruflichen Schulen handelt es sich in der Regel trotz aller Bemühungen um die Einführung neuer Steuerungs- und Manage‐ mentkonzepte nach wie vor um nichtrechtsfähige „Anstalten“ unter staatlicher Schulauf‐ sicht und systeminternen Unterrichts-, Prüfungs- und Berechtigungsmodalitäten, die sich dem unmittelbaren Einfluss des Arbeitsmarkts weitgehend entziehen. Jede Diskussion zum Verhältnis von schulischer und betrieblich-korporativer Berufsbildung betrifft folglich nicht nur pädagogische Alternativen, sondern das Verhältnis zweier Systeme mit je eigener institutioneller Logik. Übergreifend für die schulische und betriebliche Berufsbildung gilt das Prinzip der Beruflichkeit (vgl. Bolder et al. 2012). Es ist in den diversen Bereichen des Berufsbildungssystems unterschiedlich ausgeprägt, besonders markant in den Strukturen des Dualen Systems von betrieblicher Berufsausbildung und Berufsschulunterricht (vgl. Deißinger 1998). 1. Betriebliche Berufsbildung 1.1 Gesetzliche Grundlagen Grundlegend für die formale betriebliche Berufsbildung ist das Berufsbildungsgesetz ( BB iG) von 1969 in der Neufassung aus dem Jahr 2005 (Berufsbildungsreformgesetz) und die daran angepasste Handwerksordnung (HwO). „Berufsbildung“ im Sinne des Berufsbildungsge‐ setzes (§ 1 Abs. 1 BB iG) „sind die Berufsausbildungsvorbereitung, die Berufsausbildung, die berufliche Fortbildung und die berufliche Umschulung.“ Das Berufsbildungsgesetz gilt für die Berufsbildung, soweit diese nicht in berufsbildenden Schulen durchgeführt wird. Daraus ergibt sich für den speziellen Fall der Berufsausbildung im Dualen System, dass der be‐ triebliche Teil durch Gesetze und Rechtsverordnungen des Bundes geregelt wird, während die Aufsicht und Regelung der Berufsschule in die Zuständigkeit der Länder fällt. Die Du‐ alität der Lernorte in Ausbildungsbetrieben und Berufsschulen korrespondiert mit der Du‐ alität der Regelungsbefugnisse von Bund und Ländern. 1.2 Berufsausbildungsvorbereitung Die Berufsausbildungsvorbereitung dient laut BB iG dem Ziel, durch die Vermittlung von Grundlagen für den Erwerb beruflicher Handlungsfähigkeit an eine Berufsausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf heranzuführen. Sie richtet sich an Personen, deren Entwicklungsstand eine erfolgreiche Ausbildung in einem anerkannten Ausbildungsberuf noch nicht erwarten lässt. Die wichtigste Form der betrieblichen Berufsausbildungsvorbe‐ reitung ist die Einstiegsqualifizierung Jugendlicher ( EQJ ). Es handelt sich um eine mindes‐ tens sechs Monate und längstens bis zu einem Jahr dauernde praxisnahe betriebliche Qua‐ lifizierung. Sie kann unter bestimmten Umständen einer anschließenden Berufsausbildung im Dualen System angerechnet werden. 1.3 Betriebliche Berufsausbildung im Dualen System Schwerpunkt der betrieblichen Berufsbildung ist die Berufsausbildung im Rahmen des Dualen Systems (vgl. Spöttl 2016). Zum Begriff Berufsausbildung führt das Berufsbildungs‐ gesetz (§ 1 Abs. 3 BB iG) aus: Die Berufsausbildung hat die für die Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit in einer sich wandelnden Arbeitswelt notwendigen beruflichen Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten (berufliche Handlungsfähigkeit) in einem geordneten Ausbildungsgang zu vermitteln. Sie hat ferner den Erwerb der erforderlichen Berufserfahrungen zu ermöglichen. Die wesentlichen Merkmale der betrieblichen Berufsausbildung im Dualen System lassen sich gemäß dieser Legaldefinition auf folgende Punkte fokussieren: (1.) Berufsausbildung bereitet auf „qualifizierte“ berufliche Tätigkeiten vor. So genannte „Anlernberufe“ mit kurzer Anlernzeit, wie sie vor Verabschiedung des Berufsbildungsgesetzes üblich waren, gibt es nicht mehr. Die weit überwiegende Zahl der Ausbildungsordnungen sieht eine Aus‐ bildungsdauer von drei Jahren vor. Daneben gibt es eine nicht unbeträchtliche, aber abneh‐ mende Zahl von Ausbildungsberufen mit dreieinhalbjähriger und zweijähriger Ausbil‐ dungsdauer. (2.) Die Berufsausbildung hat „berufliche Handlungsfähigkeiten“ zu vermitteln. Das Leitbild der beruflichen Handlungsfähigkeit zielt darauf ab, Auszubildende zu befä‐ higen, Arbeitsabläufe selbständig zu planen, durchzuführen und zu kontrollieren. Hinter‐ grund für die Orientierung am Leitziel der beruflichen Handlungsfähigkeit ist der Trend zur Höherqualifizierung und Flexibilisierung der Arbeitsanforderungen. (3.) Die in der Berufs‐ ausbildung zu vermittelnden Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten sind in einem „geordneten Ausbildungsgang“ zu vermitteln, und zwar auf der Grundlage bundeseinheit‐ licher Ausbildungsordnungen. Zur Wahl stehen derzeit über 300 geregelte Ausbildungsbe‐ rufe. Für einen anerkannten Ausbildungsberuf darf nur nach der Ausbildungsordnung aus‐ gebildet werden. In anderen als anerkannten Ausbildungsberufen dürfen Jugendliche unter 18 Jahren nicht ausgebildet werden (Ausschließlichkeitsgrundsatz gemäß § 4 BB iG). Aus‐ 12 Günter Kutscha bildungsordnungen haben als Rechtsverordnung der zuständigen Bundesministerien Ge‐ setzeskraft. An der Entwicklung von Ausbildungsordnungen sind nicht nur staatliche Akteure beteiligt, sondern paritätisch auch Sachverständige der Arbeitnehmer und Arbeit‐ geber (Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände). Es gilt das Konsensprinzip, wonach Ausbil‐ dungsordnungen im Einvernehmen der Akteure von Staat, Gewerkschaften und Arbeitge‐ berverbänden verbindlich geregelt werden (korporative Steuerung). (4.) Der Erwerb der „erforderlichen Berufserfahrungen“ erfolgt in der betrieblichen Praxis aufgrund eines pri‐ vatrechtlichen Ausbildungsvertrags zwischen Ausbildenden und Auszubildenden. Der Vertragsabschluss ist nach dem Grundrecht der Berufsfreiheit den Ausbildenden und Aus‐ zubildenden überlassen; die Durchführung der Ausbildung selbst unterliegt den Bestim‐ mungen der Ausbildungsordnungen. 1.4 Betriebliche Weiterbildung Im Vergleich zur Berufsausbildung ist die betriebliche Weiterbildung nur wenig geregelt und deshalb schwer überschaubar (vgl. Schanz 2006: 91-99). Das Berufsbildungsgesetz spricht nicht von Weiterbildung, sondern von „beruflicher Fortbildung“ und unterscheidet dabei vier Anlässe bzw. Arten: Anpassungsfortbildung, Erweiterungsfortbildung, Erhal‐ tungsfortbildung und Aufstiegsfortbildung. Bei der abschlussbezogenen Aufstiegsfortbil‐ dung, zum Beispiel zum Meister oder zum Techniker, kann das Bundesministerium für Bildung und Forschung Fortbildungs- und Umschulungsordnungen erlassen; ansonsten obliegt die Regelung der Fortbildungs- und Umschulungsprüfungen den „zuständigen Stellen“ (z. B. den Handwerkssowie den Industrie- und Handelskammern). Darüber hinaus besteht eine Vielzahl gesetzlich nicht geregelter betrieblicher Weiterbil‐ dungsaktivitäten, zum Beispiel die Anpassungsweiterbildung am Arbeitsplatz im Fall tech‐ nischer Innovationen oder organisatorischer Änderungen. Insgesamt liegt die Weiterbil‐ dungsbeteiligung der Betriebe in Deutschland bei rund 50 %. Der betriebliche Weiterbildungsbereich ist hoch selektiv (vgl. Dummert & Leber 2016: 40-48). So nehmen höher qualifizierte Beschäftigte (z. B. mit abgeschlossener Berufsausbildung oder Hoch‐ schulabschluss) deutlich häufiger an Weiterbildungsmaßnahmen teil als gering qualifi‐ ziertes Personal. Differenziert nach Betriebsgrößenklassen zeigt sich, dass die Weiterbil‐ dungsbeteiligung der Betriebe mit Zahl der Beschäftigten steigt. Einer der wichtigsten Gründe für diesen Befund ist, dass größere Betriebe eher als kleinere über die finanziellen und organisatorischen Voraussetzungen verfügen, um Qualifizierungsmaßnahmen durch‐ führen zu können. 2. Schulische Berufsbildung 2.1 Gesetzliche Grundlagen Bei Gründung der Bundesrepublik Deutschland knüpfte die Entwicklung des beruflichen Schulwesens unter neuen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen an die in der Weimarer Republik und zur Zeit des Nationalsozialismus geschaffenen institutionellen Strukturen an. Schulpolitische Entscheidungen werden seither durch den föderalen Staatsaufbau und die hiermit verbundene Aufgaben- und Kompetenzverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden bestimmt (vgl. Kultusministerkonferenz 2015a: 6-8). Der einzige spezielle 13 Das Berufsbildungssystem in Deutschland Schulartikel des Grundgesetzes (Art. 7) unterstellt das gesamte Schulwesen der Staatsauf‐ sicht. Darunter fallen die öffentlichen wie die privaten, die allgemeinbildenden wie die berufsbildenden Schulen. Die Gesetzgebung über das berufliche Schulwesen liegt bei den einzelnen Bundesländern. Die föderale Kompetenzverteilung und insbesondere die Zuständigkeit der Länder für die Regelung und Aufsicht des Schulwesens führte schon frühzeitig dazu, Einrichtungen für die Koordination und Abstimmung schulpolitischer Entscheidungen zu treffen. Eine herausragende Rolle spielt hierbei die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (Kultusministerkonferenz, KMK ). Speziell für das be‐ rufliche Schulwesen hat die Kultusministerkonferenz insofern eine besondere Bedeutung, als sie Vereinbarungen über die Anerkennung und Gleichwertigkeit von Abschlüssen und über Rahmenlehrpläne für den beruflichen Unterricht trifft und am Zusammenwirken der betrieblichen und schulischen Berufsausbildung, etwa bei der Abstimmung von Ausbil‐ dungsordnungen und Rahmenlehrplänen, beteiligt ist. 2.2 Schularten des beruflichen Schulwesens 2.2.1 Gesamtüberblick und Klassifikation der Schularten an berufsbildenden Schulen Die Vielfalt berufsbezogener Schularten und Bildungsgänge (vgl. Statistisches Bundesamt 2016) lässt sich nach der Systematik des nationalen Bildungsberichts folgenden Teilberei‐ chen zu ordnen (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016: 105): • Duales System: Teilzeit-Berufsschule, • Schulberufssystem: Berufsfachschulen, soweit sie eine vollständige Berufsausbildung mit berufsqualifizierendem Abschluss vermitteln, • Übergangssystem: Bildungsgänge ohne berufsqualifizierenden Abschluss (Berufs‐ vorbereitungsjahr, Berufsgrundbildungsjahr, Berufsfachschulen ohne Berufsab‐ schluss), • Weiterbildung: Fachschulen für berufliche Fortbildung. Nicht berücksichtigt sind im Bildungsbericht berufliche Schulen, die primär eine Schul‐ laufbahnberechtigung vermitteln. Dazu gehören insbesondere: Berufsaufbauschulen mit Abschluss der Fachschulreife (kaum noch von Bedeutung), Fachoberschulen mit Abschluss der Fachhochschulreife, Berufsoberschulen mit Abschluss der fachgebundenen Hochschul‐ reife, Fachgymnasien mit Abschluss der allgemeinen Hochschulreife (vgl. Schanz 2015: 83-85). 2.2.2 Berufsschulen im Dualen System Weit mehr als die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler an beruflichen Schulen besucht außerhalb der betrieblichen Ausbildungszeit die (obligatorische) Teilzeit-Berufsschule. Der Berufsschulunterricht umfasst nach Vereinbarung der Kultusministerkonferenz (2015b) zwölf Wochenstunden, davon entfallen acht Stunden auf den berufsbezogenen und vier Stunden auf den berufsübergreifenden Unterricht. Gegenstand der KMK -Rahmenlehrpläne ist nur der berufsbezogene Unterricht. Er orientiert sich nicht an der Fachsystematik von Unterrichtsfächern, sondern an Lernfeldern, die unter Bezugnahme auf berufsrelevante 14 Günter Kutscha Arbeitssituationen handlungssystematisch aufgebaut sind (Kultusministerkonferenz 2011). Damit soll dem gemeinsamen Bildungsauftrag von Berufsschule und Ausbildungsbetrieben unter dem Leitziel der beruflichen Handlungskompetenz entsprochen werden. Die Lehr‐ planung für den berufsübergreifenden Unterricht obliegt den einzelnen Ländern. Sie haben sich verpflichtet, dass die Berufsschule „durchgängige Sprachbildung“ ermöglicht (Kultus‐ ministerkonferenz 2015b: 3). Die Fächer des berufsübergreifenden Bereichs sind von Land zu Land verschieden; so sehen die Berufsschullehrpläne für Nordrhein-Westfalen die Fächer Deutsch/ Kommunikation, Religionslehre, Politik/ Gesellschaftslehre und Sport/ Gesund‐ heitsförderung vor. Darüber hinaus gibt es einen Differenzierungsbereich, der unterschied‐ lich genutzt werden kann, z. B. bei entsprechenden schulischen Voraussetzungen zum Er‐ werb der Fachhochschulreife. Der Berufsschulbesuch führt zu einem eigenen zertifizierten Abschluss, der allerdings nicht mit einer eigenen Prüfung verbunden ist. Das Berufsbildungsgesetz sieht am Ende der Berufsausbildung eine Abschlussprüfung in Eigenverantwortung der „zuständigen Stellen“ (Kammern) vor, und zwar ohne Abstimmungserfordernisse mit den Ländern bzw. Berufsschulen. Berufsschulverbände sehen darin eine Ungleichgewichtigkeit von betrieb‐ licher und schulischer Berufsbildung im Dualen System und fordern, neben der so ge‐ nannten Kammerprüfung eine eigene Berufsschulprüfung einzuführen, um damit den fach‐ theoretischen und allgemeinbildenden Inhalten des Berufsschulunterrichts stärker Geltung verschaffen zu können (vgl. Krüger 2014). 2.2.3 Berufsfachschulen im Übergangs- und Schulberufssystem Hinter der Sammelbezeichnung Berufsfachschule verbirgt sich eine Vielzahl von Schul‐ formen mit Vollzeitunterricht von mindestens einjähriger Dauer. Für deren Besuch wird - im Unterschied zu den Fachschulen als Einrichtungen der beruflichen Fortbildung - keine Berufsausbildung oder berufliche Tätigkeit vorausgesetzt. Die Rahmenvereinbarung der Kultusministerkonferenz (2013) über Berufsfachschulen rechnet diesen Schularten Bil‐ dungsgänge zu, (1.) die eine breit angelegte berufliche Grundbildung (z. B. für Berufsfelder wie Wirtschaft und Verwaltung, Metall-, Elektrotechnik) vermitteln; sie dienen der Vorbe‐ reitung auf eine berufliche Ausbildung und können auf die Ausbildungszeit in anerkannten Ausbildungsberufen angerechnet werden; (2.) die auf der Grundlage der entsprechenden Ausbildungsordnungen und Rahmenlehrpläne zu einem Abschluss in einem anerkannten Ausbildungsberuf führen; (3.) die einen Berufsausbildungsabschluss anbieten, der nur über den Besuch einer beruflichen Schule erreichbar ist; dazu gehören Bildungsgänge nach Bundesrecht (z. B. bundesrechtlich geregelte Berufe im Gesundheitswesen) und nach Lan‐ desrecht (z. B. staatlich geprüfter/ geprüfte Kinderpfleger/ Kinderpflegerin, Assistentenbe‐ rufe). Bedeutung und Nutzen der Berufsfachschule werden in der Fachliteratur unterschiedlich beurteilt. Hierbei spielt die Vielfalt und Multifunktionalität der Berufsfachschule eine ent‐ scheidende Rolle. Ein- und zweijährige Berufsfachschulen ohne anerkannten Berufsab‐ schluss übernehmen zu einem großen Teil die Funktion einer „Warteschleife“ für Jugend‐ liche, die keinen betrieblichen Ausbildungsplatz gefunden haben. Sie werden deshalb dem „Übergangssystem“ zugeordnet. Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass diese Schulen für 15 Das Berufsbildungssystem in Deutschland Hauptschulabsolventen die Möglichkeit bieten, den Realschulabschluss zu erwerben und damit die Chancen am Ausbildungsstellenmarkt zu verbessen. Voll qualifizierende Berufsfachschulen von drei- und mehrjähriger Dauer, die zu einem Berufsabschluss führen, setzen den Realschulabschluss oder einen gleichwertigen Ab‐ schluss voraus und schließen mit einer staatlichen Abschlussprüfung nach Bundes- oder Landesrecht ab. Im Schuljahr 2013/ 14 wurden rund 215 000 Schüler und Schülerinnen an Berufsfachschulen für einen Schulberuf ausgebildet, davon gut zwei Drittel weiblich (Schanz 2015: 81). Schwerpunkt der vollzeitschulischen Berufsausbildung an Berufsfach‐ schulen sind (landesrechtlich geregelte) Berufsausbildungen, deren Abschlüsse nur schu‐ lisch erreichbar sind. Dazu gehören die Berufsbereiche der Technischen Assistenten, der Wirtschaftsassistenten und der Dienstleistungsassistenten. 2.2.4 Fachschulen als Einrichtungen der beruflichen Fortbildung Mit den Berufsschulen und Berufsfachschulen gehören die Fachschulen zu den ursprün‐ glichen Kernbereichen der schulischen Berufsbildung. Im Unterschied zu Berufsschulen und Berufsfachschulen setzt der Unterricht an Fachschulen den Abschluss einer Berufs‐ ausbildung und - nach Fachgebieten und Regelungen der einzelnen Bundesländer unter‐ schiedlich - eine mehr oder weniger lange (in der Regel mindestens einjährige) Berufstä‐ tigkeit voraus. Die Berufstätigkeit kann vielfach auch parallel zur Fachschulausbildung abgeleistet werden. Bei Vollzeitunterricht liegt die Dauer des Fachschulbesuchs zwischen sechs Monaten und drei Jahren, bei Teilzeitunterricht im Fall einer Berufstätigkeit beträgt sie bis zu vier Jahren. Nach Beschluss der Kulturministerkonferenz (2009) über den „Hochschulzugang für be‐ ruflich qualifizierte Bewerber ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung“ erhalten Inhaber von Abschlüssen der Fachschulen entsprechend der jeweils geltenden KMK -Rah‐ menvereinbarung die allgemeine Hochschulzugangsberechtigung. Damit konnte nach dem Prinzip der Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung eine wichtige Lücke im staatlichen Berechtigungssystem geschlossen werden. Allerdings werden die Möglich‐ keiten der formellen Durchlässigkeit in diesem Bereich nur minimal genutzt, was darauf hindeutet, dass die herkunfts- und sozialisationsbedingten Bildungsbarrieren bisher zu wenig beachtet und in geeignete Fördermaßnahmen beim Übergang von der Berufstätigkeit in den Hochschulbereich und während des Studiums umgesetzt worden sind. 2.2.5 Studienpropädeutische Bildungsgänge an beruflichen Schulen Anders als Berufsschulen, Berufsfachschulen und Fachschulen dienen die studienpropä‐ deutischen Bildungsgänge beruflicher Schulen (Fachoberschulen, Berufsoberschulen, Fach‐ gymnasien) nicht primär berufsqualifizierenden Zwecken. Bei ihnen stehen Schullauf‐ bahnberechtigungen bezüglich des Hochschulzugangs im Vordergrund (vgl. Schanz 2015: 83-85). Die Gründung und Verbreitung studienpropädeutischer Bildungsgänge ist einzuordnen in die seit den 1960er Jahren initiierten Reformversuche zur Verbesserung der Bildungschancen im segmentierten, nach allgemeiner und beruflicher Bildung getrennten Schulwesen. Als Aufbaugymnasien boten und bieten Berufsoberschulen und Fachgymn‐ asien (z. B. Wirtschaftsoberschulen und Wirtschaftsgymnasien) Jugendlichen, die nach der Grundschule nicht ins Gymnasium wechseln, die Möglichkeit, nach Beendigung der Voll‐ 16 Günter Kutscha zeitschulpflicht in der Sekundarstufe I (mit Abschluss der Mittleren Reife) im beruflichen Schulwesen studienberechtigende Abschlüsse zu erwerben. Die überwiegende Mehrheit der Absolventen an Berufsoberschulen und Fachgymnasien strebt ein Universitätsstudium an (vgl. Georg 2008: 15). Die Fachoberschule verdankt ihre Einrichtung einer systemintern geschaffenen „Berechtigungslücke“. Sie entstand als „Zulieferin“ für die seit Ende der 1960er Jahre errichteten Fachhochschulen. Mit der schulorganisatorischen Zuordnung der Fachoberschule zum Bereich der beruflichen Schulen war zwar der Anspruch verbunden, auch beruflich verwertbare Qualifikationen zu vermitteln; tatsächlich aber ist der Berufs‐ bezug nur in wenigen Ansätzen vorhanden. 3. Leistungen und Probleme des Berufsbildungssystems Im Unterschied zu markt- oder schuldominierten Qualifizierungssystemen (z. B. Großbri‐ tannien einerseits, Frankreich andererseits; vgl. Greinert 1999) liegen die Vorzüge des Dualen Systems in Deutschland neben der Verbindung von theorie- und praxisbezogener Ausbildung in Betrieb und Schule (Dualitätsprinzip) darin, dass mit der Kooperation von staatlichen Instanzen, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften bei der Ordnung der Be‐ rufsausbildung ein hohes fachliches Kompetenzpotenzial zur Verfügung steht und ein Aus‐ gleich zwischen betrieblichen und überbetrieblichen Interessen angestrebt werden kann (Konsensprinzip). Die Ausbildung ist nicht eingeschränkt auf enge betriebsspezifische Qua‐ lifikationsbedarfe, sondern bezogen auf arbeitsmarktrelevante berufliche Handlungskom‐ petenzen, deren Vermittlung durch staatlich anerkannte Ausbildungsordnungen geregelt werden (Berufsprinzip). Damit ist im internationalen Vergleich ein weitgehend reibungs‐ loser Übergang von der Berufsausbildung in die anschließende Berufstätigkeit und dem‐ entsprechend eine relativ niedrige Jugendarbeitslosigkeit verbunden ( OECD 2016). Aner‐ kannt werden im OECD -Bericht ausdrücklich auch Reformen zur Verbesserung der Möglichkeiten, auf dem Weg über die berufliche Bildung weiterführende Schulabschlüsse zu erwerben und ein Hochschulstudium aufzunehmen. Wie ausgeführt, findet Berufsausbildung in Deutschland nicht nur im Dualen System, sondern in beträchtlichem Umfang auch im Schulberufssystem statt. Es kompensiert nicht primär Ungleichgewichte am (betrieblichen) Ausbildungsstellenmarkt, sondern bietet für solche Berufsbereiche eine vollständige Ausbildung an, die weitgehend nur in schulisch organisierter Form durchgeführt werden kann. Duales System und Schulberufssystem er‐ gänzen sich, womit für Deutschland ein hohes Qualifizierungspotenzial unterhalb der aka‐ demischen Ausbildung gesichert ist. Hinzu kommt, dass sowohl die betriebliche als auch die schulische Berufsausbildung Anschlüsse für Berufskarrieren über den Weg der beruflichen und schulischen Aufstiegsfortbildung bereitstellen. Die Berufsbildungspolitik der jüngsten Zeit zielt verstärkt darauf ab, Gleichwertigkeit von allgemein- und berufsbildenden Ab‐ schlüssen herzustellen und durch ein Netzwerk von Anrechnungen den Zugang zum Hoch‐ schulstudium auf den Weg der beruflichen Bildung zu erleichtern. Trotz internationaler Anerkennung und bemerkenswerter Leistungen ist das Berufsbil‐ dungssystem in Deutschland unter Druck geraten. Kritik greift allerdings zu kurz, wenn sie nur Mängel und Unzulänglichkeiten innerhalb des Berufsbildungssystems in den Blick nimmt. Denn zentrale Probleme entstehen nicht allein im institutionell abgezirkelten Be‐ 17 Das Berufsbildungssystem in Deutschland reich der Berufsbildung, sondern sind immer auch in deren Bezug und Konkurrenz zu an‐ deren Bildungsinstitutionen und zu Einflussfaktoren außerhalb des Bildungssystems an‐ gelegt. So lassen der demographische Wandel und der anhaltende Akademisierungstrend die Zahl der Ausbildungsabschlüsse sinken. Gleichzeitig wachsen in Zeiten der verstärkten Digitalisierung (Industrie 4.0 bzw. Wirtschaft 4.0) in vielen Ausbildungsberufen die Leis‐ tungsanforderungen. Der Ausbildungsmarkt ist durch Widersprüche gekennzeichnet. Der Berufsbildungsbericht spricht von „Passung als zentrale Herausforderung“ (Bundesminis‐ terium für Bildung und Forschung 2016: 68-72). Gab es in der Vergangenheit erhebliche Ungleichgewichte, weil der Rückgang an betrieblichen Ausbildungsplatzangeboten ein‐ herging mit einem demographisch bedingten Anstieg der Ausbildungsnachfrage, zeichnet sich seit dem letzten Jahrzehnt wegen des Rückgangs der Schulabsolventen und des er‐ warteten Anstiegs von Absolventen, die ein Studium aufnehmen wollen, das Risiko eines gravierenden Defizits an Ausbildungsplatzbewerbern und Ausbildungsplatzbewerberinnen ab. Dennoch wurde das Potenzial im unteren, aber teilweise auch im oberen Qualifikati‐ onsbereich nur unzureichend genutzt (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016: 121). Hauptschulabsolventen waren und sind - mehr denn je - die Modernisierungs‐ verlierer der so genannten Bildungsexpansion. Als Quintessens halten Baethge & Wieck (2015: 5) fest, „dass Jugendlichen mit maximal Hauptschulabschluss nur noch ein begrenztes Spektrum an Berufen offen steht.“ Dem dualen Ausbildungssystem drohe, eine seiner großen Stärken einzubüßen: „Jugendlichen aus den sozial benachteiligten Schichten eine gute berufliche Perspektive zu bieten“ (ebd.). Kritische Beobachter machen darauf aufmerksam: Ohne grundlegende Reformen könnte das deutsche Bildungs- und Ausbildungssystem in eine Bildungspolarisierung hinein ge‐ raten, die den künftigen Anforderungen des Gesellschafts- und Wirtschaftssystems zuwider laufen. Als Optionen für die Weiterentwicklung der beruflichen Bildung werden u. a. ge‐ nannt: Verbesserung der Finanzierungs- und Qualitätsmodalitäten beruflicher Bildung sowie kontinuierliche und nachhaltige Qualifizierung und Förderung des betrieblichen und schulischen Berufsbildungspersonals (vgl. Blaß & Himmelrath 2016). Nicht zuletzt steht das Verhältnis von beruflicher Bildung und Hochschulstudium zur Diskussion, und zwar nicht einseitig unter dem Gesichtspunkt von Durchlässigkeit und Qualifizierungsstandards auf Seiten des beruflichen Bildungssystems, sondern auch in Bezug auf Öffnung und Gestaltung des Hochschulsystems für Studium und Weiterbildung im Medium von Wissenschaft und Beruf (vgl. Kutscha 2015). Literatur Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.) (2016). Bildung in Deutschland 2016. Bielefeld: W. Bertelsmann. Baethge, Martin (2008). Das berufliche Bildungswesen in Deutschland am Anfang des 21. Jahrhun‐ derts. In: Cortina, Kai S./ Baumert, Jürgen/ Leschinsky, Achim/ Mayer, Karl Ulrich/ Trommer, Luit‐ gard (Hrsg.). Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Reinbek: Rowohlt, 541-598. Baethge, Martin/ Wieck, Markus (2015). Neue Konstellation zwischen Berufsausbildung und Hoch‐ schulstudium. Wendepunkt in der deutschen Bildungsgeschichte. In: Mitteilungen aus dem SOFI. Ausgabe 22, 2-6. 18 Günter Kutscha Berufsbildungsgesetz (BBiG). Abrufbar unter: http: / / www.gesetze-im-internet.de/ bbig_2005/ BJNR093110005.html (Stand: 18/ 09/ 2018) Blaß, Katharina/ Himmelrath, Arnim (2016). Berufsschulen auf dem Abstellgleis. Wie wir unser Aus‐ bildungssystem retten können. Hamburg: Körber-Stiftung. Bolder, Axel/ Dobischat, Rolf/ Kutscha, Günter/ Reutter, Gerhard (Hrsg.) (2012). Beruflichkeit zwischen institutionellem Wandel und biographischem Projekt. Wiesbaden: Springer VS. Bundesinstitut für Berufsbildung (Hrsg.) (2016). Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2016. Bielefeld: W. Bertelsmann. Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.) (2016). Berufsbildungsbericht 2016. Bonn: BMBF. Deißinger, Thomas (1998). Beruflichkeit als „organisierendes Prinzip“ der deutschen Berufsausbildung. Markt Schwaben: Eusl. Dummert, Sandra/ Leber, Ute (2016). Betriebliche Berufsausbildung und Weiterbildung in Deutsch‐ land. Abrufbar unter: https: / / www.bibb.de/ dokumente/ pdf/ a2_iab-expertise_2016.pdf (Stand: 18/ 09/ 2018) Georg, Walter (2008). Studium und Beruf. In: Jäger, Wieland/ Schützeichel, Rainer (Hrsg.). Universität und Lebenswelt. Wiesbaden: VS Verlag, 84-117. Greinert, Wolf-Dietrich (1999). Berufsqualifizierung und dritte Industrielle Revolution. Baden-Baden: Nomos. Handwerksordnung: Gesetz zur Ordnung des Handwerks (HwO). Abrufbar unter: https: / / www.gesetze-im-internet.de/ hwo/ BJNR014110953.html (Stand: 18/ 09/ 2018) Harney, Klaus (1997). Geschichte der beruflichen Bildung. In: Harney, Klaus/ Krüger, Heinz-Hermann (Hrsg.). Einführung in die Geschichte der Erziehungswissenschaft und der Erziehungswirklichkeit. Opladen: Leske + Budrich, 209-245. Krüger, Michael (2014). Die Abschlussprüfung in der dualen Ausbildung aus Sicht der Berufsschule. Die berufsbildendende Schule 66: 2, 59-62. Kultusministerkonferenz (2009). Hochschulzugang für beruflich qualifizierte Bewerber ohne schulische Hochschulzugangsberechtigung. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 06. 06. 2009. Bonn: KMK. Kultusministerkonferenz (2011). Handreichung für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen der Kultus‐ ministerkonferenz für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule und ihre Abstimmung mit den Ausbildungsordnungen des Bundes für anerkannte Ausbildungsordnungen. Bonn: KMK. Kultusministerkonferenz (2013). Rahmenvereinbarung über die Berufsfachschulen. Beschluss der Kul‐ tusministerkonferenz vom 17. 10. 2013. Bonn: KMK. Kultusministerkonferenz (2015a). Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland 2013/ 14. Bonn: KMK. Kultusministerkonferenz (2015b). Rahmenvereinbarung über die Berufsschule. Beschluss der Kultmi‐ nisterkonferenz vom 12. 03. 2015. Bonn: KMK. Kutscha, Günter (2010). Berufsbildungssystem und Berufsbildungspolitik. In: Nickolaus, Reinhold/ Pätzold, Günter/ Reinisch, Holger/ Tramm, Tade (Hrsg.). 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Fachserie 11, Reihe 2. Wies‐ baden. Abrufbar unter: https: / / www.destatis.de/ DE/ Publikationen/ Thematisch/ BildungForschungKultur/ Schulen/ BeruflicheSchulen.html (Stand: 18/ 09/ 2018) 20 Günter Kutscha A Disziplinen und Akteure Ein Blick aus der Ausbildungsforschung Hans G. Bauer & Nicolas Schrode Hinter dem begrifflichen Wandel steht ein Wandel des zu Begreifenden. Erpenbeck 1996: 9 Vorbemerkung Seit der sogenannten kompetenzorientierten Wende der 1990er Jahre stellen sich für die berufliche Aus- und Weiterbildung neue Fragen gerade auch an den Komplex Sprache und Kommunikation in der beruflichen Bildung. Es ist vor allem der Kompetenzgedanke, der die bislang übliche Methodik/ Didaktik und damit verbundene (Lehr-/ Lern-)Haltungen zum Gegenstand des arbeitswissenschaftlich-/ berufspädagogischen Diskurses und der Verän‐ derungsbemühungen gemacht hat. Hoch interessant dabei, dass der Kompetenzansatz hin‐ sichtlich seiner ideengeschichtlichen Wurzeln auf maßgeblichen Grundlagenarbeiten von Sprachwissenschaftlern (insb. N. Chomsky‘s „competence/ performance“) basiert. Der so‐ zial-kommunikativen Kompetenz kommt in allen beruflichen Handlungsfeldern immer grö‐ ßere Bedeutung zu. These: Formal-funktionalistische, linguistische Spracherwerbskonzepte reichen nicht mehr aus, wenn es um den Erwerb von Kompetenzen geht. Denn Kompetenzentwicklung fordert und spricht durch ihre benötigte Methodik/ Didaktik und Haltung eine eigene Sprache. Wer (sprachliche) Kompetenzen entwickeln und fördern will, muss selbst die „Sprache der Kompetenzentwicklung“ sprechen. Dies gilt für den Lehrenden und dessen persönliche (Sprach-)Haltung, wie auch für die besonderen methodisch-didaktische Struk‐ turen, die er sprechen lässt. Eine solche Sprache wird jedoch noch nicht überall gesprochen. 1. Ein Blick auf „Sprach“-Entwicklungen 1.1 Unterweisung als Methodenikone des Taylorismus Der Notwendigkeit, sich sprachlich mitteilen zu können, kam in tayloristisch geprägten Arbeitsstrukturen relativ geringe Bedeutung zu. Bezogen auf die berufliche Aus- und Wei‐ terbildung spiegelt das die vorherrschende sogenannte Vier-Stufen-Methode, die einen ähnlich methodisch-ikonischen Rang erreicht hat(te) wie der Frontalunterricht in der schu‐ lischen Bildung: Die „unterweisende“ Dominanzfigur des Ausbilders (in männlicher Rol‐ lenvorherrschaft) bereitet die Lehr(! )situation durch Erklärung vor (Stufe 1), macht das zu Erlernende vor (Stufe 2), was der/ die Lernende dann nachmacht (Stufe 3), welches dann vertieft wird (Stufe 4). Zwar zunächst am Arbeitsplatz eingesetzt, wurde dieser berufliche Lehransatz dann, der schulischen Trennung von Leben und Lernen folgend, insbesondere in industriellen Zusammenhängen in dafür geschaffenen Lehrwerkstätten praktiziert. Auch wenn dabei dem Tun und Üben eine wichtige Rolle zukommt: Lerntheoretische Patenfi‐ guren sind vor allem der Behaviorismus, der Instruktionalismus, die Wissensdominanz des Lerndenkens. Arbeitsorganisatorisch spiegeln sich klare, steile Hierarchien, die Vorherr‐ schaft des Fachwissens und anweisungsbezogene Kommunikationsstrukturen, kurz: die Erfordernisse des dominierenden Tätigkeitstypus „herstellender Arbeit […] für den die we‐ sentlichen Kompetenzen der Mehrheit der Beschäftigten arbeitsintegriert nach dem Prinzip ‚Anschauen und Nachahmen‘ in betrieblichen Ausbildungsprozessen vermittelt werden konnte, ohne dass ein hohes kognitives Niveau der Auszubildenden erforderlich gewesen wäre“ (Baethge 2011: 16). Die „Sprache der Unterweisung“, so könnte man zusammenfassen, zeichnet sich aus durch Direktivität (Befehlen, Anordnen, Kritisieren, einseitiges Fragenstellen, Irreversibilität der Aussagen). Ein Wissender spricht im Habitus eines Wissenden mit einem Unwissenden, der sich in diesem Verhältnis von Dominanz und Subordination in den Habitus des Unwis‐ senden zu begeben hat und sich in die Abhängigkeit des Wissenden begibt. 1.2 Die Schlüsselqualifikationsdebatte Mit der „Schlüsselqualifikationsdebatte“ der 1980er Jahre hat die Berufsbildung auf die massiv eingetretenen Wandlungsbedingungen in der Arbeitswelt reagiert. Vor allem die Veränderungen hin zu einer wissensbasierten Dienstleistungsökonomie weisen auf grund‐ legend neue Qualifikationsanforderungen hin. War in der älteren Qualifikationsforschung noch die Rede von der wachsenden Bedeutung extrafunktionaler/ prozessunabhängiger Qua‐ lifikationen, ging es danach um fachübergreifende „Schlüssel“-Qualifikationen, die zur Er‐ schließung von sich schnell änderndem Fachwissen und zur Selbstanpassung an neue Ar‐ beitssituationen genutzt werden können. Die „Neuordnungen“ verschiedener Berufe (1987) nimmt Elemente des „selbständigen beruflichen Handelns“ auf, womit sich ein Paradig‐ menwechsel in der Aufgabenstellung der beruflichen Bildung andeutet: von einem Ort der Fachqualifizierung hin zu einem Medium der Persönlichkeitsbildung bzw. -entwicklung (vgl. Brater & Bauer 1992: 50-69). Folgt man der Baethge’schen Diagnose über die Veränderung der Tätigkeitsstrukturen, lassen sich „zwei qualifikatorische Basisdimensionen ausmachen, die zunehmende Bedeu‐ tung besitzen: Kommunikationsfähigkeit und Wissen. Beide gehen bei moderner Dienstleis‐ tungsarbeit eine Kombination ein und erlangen einen neuen Stellenwert.“ Er „resultiert aus dem Zusammenhang von interaktiver (Dienstleistungs-)Arbeit und dem fortgeschrittenen Stadium der Wissensbasierung aller Arbeits- und Kommunikationsprozesse. […] Kommu‐ nikationsfähigkeit wird als fachübergreifende Kompetenz bei interaktiver Arbeit die Ba‐ siskompetenz (Baethge 2011: 17). Angesichts der Neukonstituierung der Arbeitswie Lernwelten, die von „offenen Ent‐ wicklungstendenzen“ und „komplexen Ungleichzeitigkeiten der Bewegung“ (Kirchhöfer 2004: 13) gekennzeichnet sind, hat sich der Schlüssel-Gedanke der fachübergreifenden Per‐ spektive als fruchtbar erwiesen. Schwieriger verhält es sich mit den Qualifikationen. Die Ermittlung eines Qualifikationsbedarfs ergab/ ergibt sich üblicherweise aus den unterneh‐ merischen Zielvorgaben und den aktuellen Qualifikationsdefiziten. Hier fließen zwei Prob‐ 24 Hans G. Bauer & Nicolas Schrode lematiken zusammen: Zum einen die Annahme eines „linearen Transformationsprozesses“ (Schäffter 1998: 25) - des Übergangs von einem bekannten Zustand A in einen bekannten Zustand B - der in den Betrieben tendenziell in kürzeren Intervallen erfolgt. Dem folgte (und folgt) die betriebliche Bildungsarbeit durch die Vermittlung formaler fachlicher und sozialer Qualifikationen. Trotz des Additivs „sozial“ verbleibt jedoch die zweite Problematik des Qualifikationsdenkens: Qualifikationen orientieren sich an einem Maßstab, der von einem Menschen erfüllt werden muss, um einer Tätigkeit nachzugehen. Sie sind daher Konstrukte, die, wenn sich die qualifikatorische Bedingung verändert, „nur noch Aussagen über denjenigen zu treffen vermögen, der sie als Maßstab verwendet, nicht unbedingt je‐ doch über den, an den das Maß angelegt wird“ (Lang-von Wins & Triebel 2006: 38). Letzterer tritt damit immer als Qualifikationsdefizit in Erscheinung. In der „Sprache des Qualifikationsdenkens“ kommt dem Wissen und den formalen Formen des Erwerbs große Bedeutung zu. Beurteilung und Defizitorientierung sind wichtiger als Ressourcenorientierung. In den Vordergrund rückt der Begriff der Vermittlung. Positiv ge‐ sehen beinhaltet er ein Kommunikationsverhältnis, das ein herzustellendes Verhältnis zwi‐ schen Lehrenden und Lernenden im Blick hat. Oft aber bleibt es beim Begriffsaustausch: Unterweisung heißt jetzt Vermittlung. 1.3 Kompetenzorientierte Wende Mit der sogenannten Kompetenzorientierten Wende etwa ab Beginn der 1990er Jahre wurde ein Leitbegriff adaptiert, der geeignet schien, die Herausforderungen zunehmender wirt‐ schaftlicher und gesellschaftlicher Individualisierung, Beschleunigung, Globalisierung, der Virtualisierung organisatorischer Strukturen u. ä. aufgreifen zu können. Auch sollte den Menschen in den neuen Bundesländern mit der Qualifizierungsoffensive verdeutlicht werden, dass „mit der Arbeit an neuen Werthaltungen und Einstellungen begonnen werden sollte“ (Kirchhoff 2007: 85). Begriffe wie Werte und Haltungen stehen dem subjektzentrierten Kompetenzverständnis sehr nahe. Letzteres rückte in den Vordergrund: Die alte Bildungslogik muss […] ergänzt werden durch eine neue Logik, die auf die Entdeckung und Entwicklung der individuellen Kompetenzen bei den Beschäftigten in der Aus- und Weiter‐ bildung setzt (Wittwer 2015: 7). Im Kern geht es dem Kompetenzansatz daher um die Hinwendung zum arbeitenden und lernenden Subjekt. Damit steht die jeweilige Besonderheit der Person, d. h. deren individuelle Kompetenzen im Vor‐ dergrund der Bildungsarbeit. Nur so kann das individuelle Potenzial im Sinne des Individuums, der Organisation bzw. des Unternehmens sowie der Gesellschaft genutzt werden (Wittwer 2015: 3). Kompetenzen stellen immer „das Individuum in den Fokus der Betrachtung“ (Lang-von Wins & Triebel 2006: 39). Die Begrifflichkeit z. B. der „Selbstorganisationsdisposition“ (Er‐ penbeck & Rosenstiel 2003: XXXI ) verweist darauf, dass Fertigkeiten, Fähigkeiten, Wissen und Qualifikationen zwar unumgängliche Voraussetzungen, für sich genommen aber noch keine Kompetenzen sind. 25 Ein Blick aus der Ausbildungsforschung (1) → (2) Das, was Kompetenzen ausmacht, beinhaltet immer auch Hinweise auf die spezifischen Bedingungen ihres Erwerbs: Die Selbstorganisationsdisposition muss durch Handlung zum Leben, zur Sprache kommen. Da es bei Kompetenzen um die Bewältigung komplexer An‐ forderungen geht, benötigt man zu ihrer Entwicklung Lernsituationen mit direktem Pra‐ xisbezug, möglichst ein Lernen in Realsituationen. Über Wissen, Fertigkeiten und Qualifi‐ kationen hinausgehend sind auch „interiorisierte, also zu eigenen Emotionen und Motivationen verinnerlichte Regeln, Werte (Bewertungen) und Normen“ (ebd.: XXXI ) Kern‐ bestandteile von Kompetenzen. Damit wird der Wertebereich zum zentralen Drehpunkt des Subjektbezugs des Kompetenzansatzes. Auf emotional gesättigte Erlebens- und Erfah‐ rungssituationen als „Grundlagen des Kompetenzerwerbs“ (Arnold & Erpenbeck 2014: 13) kommen wir noch zurück. Der Kompetenzbegriff ist heute zu einem „Containerbegriff “ geworden, „in den man alles hineinpacken kann“ (Wittwer 2015: 10). Vielfach besteht die kompetenzorientierte Wende in einer schlichten Umbenennung bisher benutzter Fähigkeits- und Qualifikationsbegriffe. Auch in diesem Band trifft man vielfach auf Kompetenzgebilde wie Sprach-, Gesprächs-, Kommunikations-, Erklärungs-, Schreib-, Lesekompetenz u.ä.m., bei denen es sich eher um Voraussetzungen für Kompetenzen handelt, nicht aber um Kompetenzen selbst. Das Ver‐ ständnis von Kompetenz scheint sich „trotz gegenteiliger Beteuerung“ wieder in Richtung Qualifikation zu bewegen. Es geht jetzt „weniger um die Entwicklung ganz persönlicher Kompetenzen als um den Erwerb gesellschaftlicher bzw. betrieblich erwünschter Kompe‐ tenzen“, um den „Wunsch nach einer ‚sicheren‘ Prognose des menschlichen Verhaltens im Arbeitsprozess und dem Einsatz der Kompetenzen als betriebliches Steuerungsinstru‐ ment. […] Dieser Wunsch steht allerdings im Widerspruch zum Subjektbezug des Begriffs.“ (Wittwer 2015: 11). 2. Sprache, Kommunikation und Kompetenzentwicklung 2.1 Kompetenzentwicklung/ -reifung Kompetenzen benötigen ihrer besonderen Merkmale wegen zu ihrer Entwicklung - Arnold & Erpenbeck sprechen sogar von „Kompetenzreifung“ - auch eine eigene Methodik/ Di‐ daktik. Einige Stichworte hierzu haben wir bereits skizziert. Einem konkreten methodisch/ didaktischen Konzept bereits näher kommen u. E. die folgenden Anregungen, die einem - akademisch sehr unüblich - in einem gemeinsamen Band publizierten Dialog (! ) ent‐ stammen (Arnold & Erpenbeck 2014: 57 f.): Lernen ist Aneignung. Dieses ‚lebt‘ von den Umgangserfahrungen des Subjekts mit sich selbst und seiner Selbstwirksamkeit, seiner Stellung in sozialen Systemen und mit überlieferten bzw. übergebenen Wissensbeständen. Eine Kompetenzdidaktik muss deshalb „gezielt günstige Gelegenheiten für ein solches reflexives Lernen schaffen.“ Das Eigene ist mächtig, es kann nicht übersehen oder dementiert werden. Es ist in erster Linie emotionale Identität, d. h. die Summe der biografisch zu Mustern des Wollens und Könnens geronnenen Selbstwirksamkeitsgefühle des reifenden Subjekts. 26 Hans G. Bauer & Nicolas Schrode → (3) → (4) → Diese emotionale Identität bestimmt bereits den Bereich der Wissensauf‐ nahme und -vermittlung. Eine methodisch-didaktische Konsequenz besteht daher in der besonderen Aufmerksamkeit für Werte, Haltungen, Emotion, Motivation und den damit verbundenen methodisch-didaktischen Umge‐ hensweisen wie emotionale Labilisierung, Wertinteriorisation. Kompetenzentwicklung gelingt nur in Eigenregie des lernenden Subjekts. Dieses muss die Ziele, um die es geht, möglichst früh und möglichst präzise kennenlernen - in einer Weise, die es ihm ermöglicht, kontinuierlich den eigenen Prozess zu überprüfen und immer wieder neu zu justieren. Dazu verhilft, wie z. B. im Konzept der Lernprozessbegleitung veranlagt, eine dialogische Beziehungsstruktur zwischen Lehrenden und Lernenden. Lehren ist eine Inszenierung von Erfahrungsräumen, in denen den Lernenden Erklä‐ rungs-, Vertiefungs- und Diskursmöglichkeiten eröffnet werden, die sie zu ihren Be‐ dingungen nutzen können, ohne dass diese unmittelbar auf die Lernenden einwirken oder ihre Kompetenzentwicklung ohne deren innere Zustimmung nachhaltig beein‐ flussen können. Eine Konsequenz besteht in der Orientierung an einer „Ermöglichungsdi‐ daktik“ (vgl. z. B. Arnold 2012). Was besagt das alles hinsichtlich unserer anfänglichen Frage nach der Entwicklung sprach‐ licher bzw. sozial-kommunikativer Kompetenzen? 2.2 Anwendung auf die Entwicklung von Sprache und Kommunikation - Beispiele Die Wandlungsbedingungen in der Arbeits- und Berufswelt lassen keinen Zweifel daran, dass das Subjekt zunehmend auf sich, seine Handlungserfahrungen und inneren Orientie‐ rungen angewiesen ist und eine sozial-kommunikative Kompetenz eine Handlungsanfor‐ derung darstellt, die durchgängig an Bedeutung gewinnt. Ihre Benennung als sozial und kommunikativ beschreibt die real wachsende Verflechtung dieser Anforderungen: „kom‐ munikativ und kooperativ selbstorganisiert zu handeln, d. h. sich mit anderen kreativ aus‐ einander- und zusammenzusetzen, sich gruppen- und beziehungsorientiert zu verhalten, und neue Pläne, Aufgaben und Ziele zu entwickeln“ (Erpenbeck & Rosenstiel 2003: XVI ). Zumindest in Annäherung haben wir in verschiedenen Projekten Konzeptbestandteile einer Methodik/ Didaktik der Kompetenzentwicklung herausgearbeitet und erprobt. Zwar ohne spezifische Linguismus-Expertise zum Sprachlernen wollen wir einige Erkenntnisse und Erfahrungen beisteuern, die u. E. besonders der Entwicklung einer sozial-kommunika‐ tiven Kompetenz dienen können. Als übergreifendes Konzept gilt dabei das der „Lern(pro‐ zess)begleitung“ (Bauer et al. 2006), das sich insbesondere durch seine individuelle Lern‐ orientierung und die dialogisch-reflexive Struktur radikal vom Unterweisungslernen absetzt und daher auch in weitere Projekte eingeflossen ist. Eine Grundlage hierfür bildet auch die Beschäftigung mit dem Erfahrungsgeleiteten Lernen, dessen Sprache sehr direkt auf die für die Kompetenzentwicklung so bedeutsamen Kategorien eines objektivierenden und eines subjektivierenden Handelns und Lernens hinweist (s. Bauer 2007). 27 Ein Blick aus der Ausbildungsforschung 2.2.1 Das Beispiel „Lernbegleitung“ Geht man vom Ziel der Kompetenzentwicklung aus, erfolgreich komplexe physische wie geistige Handlungssituationen bewältigen zu können, die ohne Selbstorganisationspro‐ zesse nicht zu bewältigen wären, sieht man sich mit einem pädagogischen Paradoxon kon‐ frontiert: Lernende müssen in eine Situation gebracht werden, deren Bewältigung sie ja erst lernen sollen. Dies bedeutet für die Lernenden eine Belastung. Sie benötigen deshalb eine einfühlsame Begleitung. Diese Lernbegleitung ist eine gesprächsbasierte Begleitme‐ thode des Lernens, die dem Lernenden Angebote macht und ihm hilft, diese auf- und an‐ zunehmen, damit er sein Können und Lernen verbessern kann. Sie besteht aus den fol‐ genden, logisch aufeinanderfolgenden Schritten bzw. Phasen: 1. Individuellen Lernbedarf feststellen: In einem Lernbedarfsgespräch tauschen sich Lernender und Lernprozessbegleiter über Selbst-/ Fremdbeobachtung, Anforderungen und eigene Ziele aus. Ergebnis ist ein gemeinsam vereinbarter Lernbedarf. 2. Lernweg entwickeln: Er besteht in einer Arbeit/ Aufgabe, die es dem Lernenden ermöglicht, seinen Lernbedarf zu decken. Sie soll jene Kompetenzen herausfordern, die der Lernende erwerben will. Dafür muss sie ausrei‐ chend komplex und problemhaltig sein. 3. Lernvereinbarung treffen: Lernender und Lernprozessbegleiter treffen eine Vereinbarung darüber, wie der Lernweg be‐ schritten werden soll. Ggf. gleich damit verknüpft: 4. Aufgabe zum Lernen aufbereiten und übergeben: Ziel ist die möglichst selbständige Bearbeitung der komplexen Aufgabe. Dazu muss sie speziell für den Lernenden aufbereitet werden. Folgende Instrumente stehen dazu zur Verfügung: • Erkundungsaufgaben: Sie leiten den Lernenden dazu an, die nötigen Informationen zu re‐ cherchieren und sich das nötige Wissen selbständig zu erarbeiten. • Lernarrangement: Die komplexe Arbeitsaufgabe soll auf den individuellen Lernenden zu‐ geschnitten werden (variiert werden dabei vor allem die Vorgaben für die Bearbeitung). • Kontrollpunkte: vereinbarte Gespräche zur Abstimmung zwischen Lernendem und Begleiter, z. B. nach Abschluss der Planung, vor wichtigen Schritten, und jederzeit nach Bedarf. Ziel: kontinuierliche Reduzierung der Kontrollpunkte, der Lernende soll selbständig werden. 5. Begleitung des Lernprozesses: Vor allem durch „aktive Passivität“ des Lernbegleiters. Aktiv ist er in seiner Passivität darin, den Lernenden zu beobachten, ihn mit den richtigen Fragen auf eine weiterführende Lösungsspur zu bringen. Ansonsten geht es um „Heraushalten“. 6. Auswertung des Lernprozesses: Wenn Lernenden unklar bleibt, was sie durch die Bewältigung einer komplexen Aufgabe gelernt haben, bleibt das Lernen implizit. Lernender und Begleiter führen daher ein auf den Lernprozess rückblickendes Auswertungsgespräch. Das Erlebte wird zur Erfahrung, das Gelernte zur bewussten Kompetenz. Übersicht 1: Lernbegleitung als dialogischer Lehr-/ Lernprozess (vgl. Bauer et al. 2006; Bauer & Dufter-Weis 2012) 28 Hans G. Bauer & Nicolas Schrode Der Lernende ist an der Gestaltung aller Phasen seines Lernprozesses maßgeblich beteiligt. Von höchster struktureller Bedeutung sind die Echtheit des „Lernarrangements“ (reale Arbeitsaufgaben) und methodisch-didaktisch die dialogischen (inkl. feedback- und refle‐ xionsorientierten) Elemente, die als Lernbedarfsgespräch, Vereinbarungsgespräch, als Zwi‐ schengespräche an Kontrollpunkten, als Feedback zwischendurch und als Auswertungs‐ gespräch am Ende alle Phasen des Lernprozesses durchziehen. Sozial-kommunikatives Handeln ist somit nicht Curriculum, sondern integrativer Struk‐ turbestandteil des Lernprozesses - der durchaus auch dem Erwerb fachlicher Sprachkom‐ petenzen dienen kann. 2.2.2 Das Beispiel „Graswurzel“ Im Modellversuch „Entwicklung, Erprobung und Verbreitung einer ausbildungsprozessin‐ tegrierten Qualitätsentwicklung und -sicherung in der betrieblichen Berufsausbildung (Graswurzel QES )“ wurde ein bottom-up-orientiertes Verfahren entwickelt (vgl. Brater 2013, Maurus et al. 2016), das es ermöglicht, die Qualität von Lehr-Lernprozessen zu sichern und zu entwickeln. Die Gestaltung der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden ist das Kernelement, das über die Qualität von Lehr-Lernprozessen entscheidet. Entsprechend wurde an der Basis, bei den Lehrenden und Lernenden ansetzend, eine „wiederkehrende Abfolge von Schritten der allmählichen Annäherung eines Istzustandes an ein Soll über eine Kette von Handlungen“ (Brater 2013: 17) entwickelt, inkl. der zugehörigen Überprü‐ fungen, Modifikation etc. Es handelt sich hier um eine dialogische, auf „gleicher Augen‐ höhe“ angelegte Kommunikationsstruktur zwischen Lehrenden und Lernenden, die ganz besonders beim Element der „gemeinsamen Gestaltung der Lehr-/ Lernprozesse“ zum Aus‐ druck kommt. Denn „für hohe Ausbildungsqualität sind […] bestimmte anspruchsvolle Kommunikationsformen wichtig, die das Lernen stützen und einen tragenden klimatischen Rahmen schaffen (Beziehungsgestaltung, gegenseitige Anerkennung und Achtung usf.)“ (ebd.: 19). Diese im Sinne der erwähnten Ermöglichungsdidaktik angelegte Struktur der Kommu‐ nikation berücksichtigt auch, dass die Möglichkeiten des Miteinander-Sprechens nicht in erster Linie von der Sprachfähigkeit der Lernenden abhängt, sondern sehr deutlich auch davon, ob sich ein Lernender sozial eingebunden fühlt, wie mit ihm persönlich gesprochen wird (bspw. wertschätzend oder abwertend). Seine Möglichkeiten, Machbarkeit, Beherr‐ schung und Erfolg beim Lernen zu erleben, sind wiederum eng damit verbunden, wie mit ihm über seine Arbeit kommuniziert wird. Werden in erster Linie Fehler sprachlich (ne‐ gativ) thematisiert, Fortschritte jedoch kaum, wirkt das völlig anders als wenn Fortschritte in den Mittelpunkt sprachlicher Rückmeldung gerückt und Fehler als Chance kommuniziert werden. Was bedeutet das konkret für die Sprache und Kommunikation von Ausbildenden bzw. Lernbegleitern? Im Graswurzel-Kontext wurde hierzu auf den personenzentrierten Ansatz von Rogers (2014) zurückgegriffen, der besagt, dass Menschen sich nur verändern können, wenn sie das Empfinden einer „sicheren Beziehung“ haben. Förderlich für eine dergestaltige Sprache und Kommunikation sind demnach vor allem Akzeptanz, Empathie und Kon‐ gruenz. Dies hat entscheidende Konsequenzen für die Haltung sowie die sprachliche wie auch nonverbale Kommunikation seitens der ausbildenden/ lehrenden Personen: 29 Ein Blick aus der Ausbildungsforschung „Sprache der Achtung und positiven Zuwendung (Akzeptanz)“ • Die Sprachäußerungen, Aktivitäten, Gestik und Mimik zeigen, dass jeder Lehrende die Lernenden als Personen grundsätzlich gleichen menschlichen Wertes ansieht und respek‐ tiert. • Die Äußerungen sind sozial-reversibel, d. h. Lernende können sie dem Lehrenden gegenüber in gleicher Weise verwenden, ohne dass ein Mangel an Achtung/ Respekt vorhanden wäre. • Lehrende empfinden Anteilnahme/ Wärme für den Lernenden, sind rücksichtsvoll, haben eine positive, annehmende Einstellung gegenüber dessen Erlebniswelt, akzeptieren die Person. • Sie suchen, die Selbstbestimmung und persönliche Entwicklung des Lernenden deutlich zu fördern. • Sie haben keinen Wunsch, über die Lernenden zu dominieren, Macht auszuüben oder sie in Abhängigkeit zu halten. • Sie nehmen Schwierigkeiten der Lernenden ernst, berücksichtigen deren Wünsche und Be‐ dürfnisse bzw. nehmen darauf Rücksicht, selbst dann, wenn sie diese nicht erfüllen können - es ist keine Abwertung, kein Herabblicken vorhanden. „Sprache des einfühlenden, nicht-bewertenden Verstehens der Erlebniswelt des Gegen‐ übers (Empathie)“ • Die Anliegen, Gedanken, Motive, Gefühle, die Art, wie Lernende sich und ihre Umwelt wahrnehmen, wollen verstanden werden (aktives Zuhören, Paraphrasieren, Verbalisieren emotionaler Erlebnisinhalte). • Lehrende bemühen sich, aktiv und intensiv zu verstehen, welche Bedeutungen die eigenen Äußerungen und Verhaltensweisen für die Lernenden haben und wie sie sich fühlen. • Sie verstehen die Schwierigkeiten der Lernenden und • berücksichtigen die seelische Situation Lernender - wenn situationsangemessen: Mitteilung dazu an Lernende. „Sprache der Kongruenz, Aufrichtigkeit und Echtheit“ • Aufrichtigkeit, Echtheit: Übereinstimmung von Fühlen, Denken, Äußerungen und Hand‐ lungen des Lehrenden gegenüber Lernenden, aufrichtige Äußerungen. • Keine Fassadenhaftigkeit, panzerndes professionelles, routinemäßiges Gehabe. Lehrende verhalten sich natürlich, spielen keine (falsche) Rolle, geben sich so, wie sie wirklich sind und • sind offen für Verbesserungswünsche und Kritik der Lernenden, und fragen auch danach. Übersicht 2: Kompetenzentwicklungsförderlicher Sprachgebrauch der Lehrenden (nach Maurus & Schrode 2015: 5-8) Das „Graswurzel“-Modell, das grundsätzliche Elemente der Lernbegleitung aufnimmt, sucht somit bereits auf der Strukturebene, Möglichkeiten für die Entwicklung sozial-kom‐ munikativer Kompetenz zu ermöglichen und zu verankern. Diese Struktur bliebe allerdings leer und „sprachlos“, würde sie nicht belebt durch die persönliche „dialogische Haltung“ (vgl. Maurus et al. 2016: 107) der Lehrenden - die ihren Ausdruck auch in ganz spezifischen, insb. „subjektivierenden“ Sprachformen findet, etwa in (nach-)fragenden, in bildhaften, as‐ soziativen, beziehungsstiftenden u. ä. Der Gedanke der Kompetenzentwicklung/ -reifung ermutigt aus unserer Sicht zur Orien‐ tierung an den individuellen Stärken und Ressourcen der Lernenden- und zur Nutzung der Potenziale handlungsbestimmter, selbstorganisierter Lernprozesse in sprechenden, weil realen Kontexten. Kompetenzen entstehen durch Handeln. Sozial-kommunikative Kompe‐ 30 Hans G. Bauer & Nicolas Schrode tenzen entstehen in Lern- und Sprachstrukturen, welche die Herausforderung zu selbstor‐ ganisatorischem und kreativem Handeln in sich tragen - etwa dem Gedanken folgend: Nicht zufällig bezog sich Chomsky, der Erfinder der Sprachkompetenz, auf Humboldt. Auf das Vermögen, von den endlichen Mitteln einer Sprache selbstorganisiert und kreativ unendlichen Gebrauch zu machen (Arnold & Erpenbeck 2014: 32). Literatur Arnold, Rolf (2012). Ermöglichen. Texte zur Kompetenzreifung. Baltmansweiler: Schneider Hohen‐ gehren. Arnold, Rolf/ Erpenbeck, John (2014). Wissen ist keine Kompetenz. Baltmansweiler: Schneider Hohen‐ gehren. 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Band 3. Bielefeld: Bertelsmann (wbv). Bauer, Hans G./ Dufter-Weis, Angelika (2012). Lernbegleitung als strukturierter Prozess - Erfah‐ rungen und Reflexionen. In: Ulmer, Philipp/ Weiß, Reinhold/ Zöller, Arnulf (Hrsg.). Berufliches Bil‐ dungspersonal - Forschungsfragen und Qualifizierungskonzepte. Bielefeld: Bertelsmann (wbv), 117-134. Brater, Michael (2013). Qualitätsentwicklung in der Berufsausbildung - „bottom up“. In: Fischer, M. (Hrsg.). Qualität in der Berufsausbildung. Anspruch und Wirklichkeit. Bielefeld: Bertelsmann (wbv), 227-260. Brater, Michael/ Bauer, Hans G. (1992). Schlüsselqualifikationen - Der Einzug der Persönlichkeits‐ entwicklung in die Berufliche Bildung? In: Herzer, Hans/ Dybowsky, Gisela/ Bauer, Hans G. (Hrsg.). Methoden betrieblicher Weiterbildung. Ansätze zur Integration fachlicher und fachübergreifender be‐ ruflicher Bildung. Eschborn: RKW, 51-69. Erpenbeck, John (1996). Kompetenz und kein Ende? QUEM-Bulletin 1, 9-13. Erpenbeck, John/ Rosenstiel, Lutz v. 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Wissenschaftliche Diskussionspapiere. Heft 167. Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung (BiBB), 99-113. Rogers, Carl (2014). Entwicklung der Persönlichkeit: Psychotherapie aus der Sicht eines Therapeuten. Stuttgart: Klett Kotta (Kindle Edition), Position 872-986. Schäffter, Ortfried (1998). Weiterbildung in der Transformationsgesellschaft. Berlin. Abrufbar unter: https: / / www.erziehungswissenschaften.hu-berlin.de/ de/ ebwb/ team-alt/ schaeffter/ i11 (Stand: 18/ 09/ 2018) Settelmeyer, Anke (2013). Sprachlich-kommunikative Anforderungen in der beruflichen Ausbildung. Projektbeschreibung des Forschungsprojekts 2.2.304 (JFP 2013). Bonn: BIBB. Wittwer, Wolfgang (2015). Von der Qualifizierung zur Kompetenzentwicklung. In: Cramer, Günter/ Dietl, Stefan F./ Schmidt, Hermann/ Wittwer, Wolfgang (Hrsg.). Ausbilder-Handbuch. 171. Aktuali‐ sierungslieferung. Köln, Deutscher Wirtschaftsdienst, 1-32. 32 Hans G. Bauer & Nicolas Schrode Die Perspektive der Angewandten Sprachwissenschaft Jan Gerwinski, Christine Hrncal, Sabine Jautz, Britta Thörle & Antje Wilton Am Übergang von der Schule zum Beruf werden Auszubildende mit Formen fachlich, be‐ ruflich und institutionell geprägter Kommunikation konfrontiert, mit denen sie durch ihre bisherige (schulische) Ausbildung häufig nicht vertraut sind und die bestimmte Kompe‐ tenzanforderungen an sie stellen. Diese Anforderungen betreffen u. a. die Beherrschung von Terminologien und Fachtextsorten - unter Umständen auch in einer Fremdsprache -, die aktive Teilnahme an institutionell geprägten Gesprächstypen und die Kommunikation mittels fach- oder organisationsspezifischer Medieninfrastrukturen. Mit der Zunahme des Anteils der Kommunikationsarbeit an der Berufstätigkeit (etwa durch die Expansion des Dienstleistungssektors), durch die Globalisierung in vielen professionellen Bereichen sowie durch technische Innovationen verändern sich auch die sprachlichen und kommunikativen Anforderungen an Auszubildende und Berufstätige. Sie müssen über entsprechende Kennt‐ nisse und Fähigkeiten verfügen, diese im betrieblichen Kontext nach und nach einüben oder sich diese in Weiterbildungen aneignen, um erfolgreich in beruflichen Kontexten agieren zu können. Vor diesem Hintergrund sehen wir die Aufgabe der Angewandten Sprachwissenschaft darin, Beschreibungen berufsbezogener kommunikativer Praktiken zur Verfügung zu stellen, sprachliche und kommunikative Anforderungen an Arbeitsplätzen zu erfassen, entsprechende Kompetenzen von Berufstätigen zu beschreiben und damit die Basis für eine angemessene Vermittlung dieser Kompetenzen in der Aus- und Weiterbildung zu schaffen. Dabei spielen sowohl die sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten, Defizite und Lernprozesse des Individuums eine Rolle (Mikroebene) als auch die gesellschaftlichen, ar‐ beitsmarkt- und bildungspolitischen Rahmenbedingungen (Makroebene). Dazwischen liegt die Mesoebene der Organisationen und Institutionen mit den darin eingebetteten Interak‐ tionen, die die berufliche Kommunikation in besonderer Weise prägen. Sie bildet den Aus‐ gangspunkt unserer Überlegungen (vgl. auch Habscheid et al. 2014). 1. Angewandte Sprachwissenschaft Die Angewandte Sprachwissenschaft ist ein Betätigungsfeld, das vielfach an praktischen Problemen ansetzt und in dem Forscherinnen und Forscher mit den im Feld tätigen Ak‐ teuren gemeinsam daran arbeiten, Probleme zu identifizieren, zu verstehen und Lösungs‐ wege zu entwickeln (vgl. www.aila.info/ en/ about). Dieses Betätigungsfeld ist weit und he‐ terogen. Es umfasst die Arbeitsbereiche sprachwissenschaftlicher Subdisziplinen wie beispielsweise der Fachsprachenforschung, der Wirtschaftslinguistik oder der Ange‐ wandten Gesprächsforschung und dehnt sich auch über nicht primär linguistische bzw. interdisziplinär ausgerichtete Forschungsrichtungen aus wie beispielsweise die Sprach‐ lehrforschung oder die Transferwissenschaft. Mehr als um eine eigene, autonome Disziplin mit klar abgegrenztem Gegenstandsbereich und festgelegten methodischen Prinzipien han‐ delt es sich bei der Angewandten Sprachwissenschaft deshalb um einen „specific, problem-oriented way of ‚doing linguistics’ related to the real-life world“ (Knapp & Antos 2009: xi), der sich durch ein hohes Maß an Interdisziplinarität, Empirie und Praxisorientie‐ rung auszeichnet. Angewandt sprachwissenschaftliche Forschung basiert in der Regel auf authentischen, im Feld erhobenen Daten, die für die Analyse dokumentiert und aufbereitet und ggf. auch für die Rückmeldung an die Praxis oder zur Entwicklung von Trainingsan‐ geboten eingesetzt werden können. Die Aufgabe linguistischer Forschung ist in erster Linie deskriptiv in dem Sinne, dass faktisches sprachliches und kommunikatives Verhalten auf der Grundlage wissenschaftlicher Theorien und Methoden erhoben und beschrieben wird. Deshalb sehen manche Forscherinnen und Forscher das Anliegen der Angewandten Sprachwissenschaft hauptsächlich in der kritischen Beschreibung und Bewusstmachung der (problemverursachenden) Eigenschaften von Sprache und Kommunikation („awareness raising“, vgl. Stegu 2011: 32). Andere wiederum betrachten es darüber hinaus auch als Auf‐ gabe der Angewandten Sprachwissenschaft, Messinstrumente und Handlungsempfeh‐ lungen für gelingende Kommunikation zu formulieren sowie konkrete Beratungsangebote und Trainingskonzepte auf sprachwissenschaftlicher Basis zu entwickeln (vgl. z. B. Be‐ cker-Mrotzek & Brünner 2004). Der Anwendungsbereich der beruflichen Aus- und Weiterbildung hat in der Ange‐ wandten Sprachwissenschaft bisher wenig Berücksichtigung gefunden (vgl. jedoch die frühe Arbeit von Brünner 1987 sowie die neueren Studien von Efing, z. B. 2010). Dabei bietet der in der Angewandten Sprachwissenschaft durchaus intensiv beforschte Bereich „Sprache und Arbeit“ zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Beschäftigung mit Sprache und Kom‐ munikation in der Aus- und Weiterbildung. Ausgehend von einem breiten Aufgaben‐ spektrum (siehe oben) finden sich Anschlussmöglichkeiten auf mehreren Ebenen: 1. Faktische Beschreibung: Die Angewandte Sprachwissenschaft beschreibt sprach‐ liche Varietäten, Text- und Gesprächstypen sowie (aus kommunikationsbzw. in‐ teraktionszentrierter Perspektive) organisationale Prozesse am Arbeitsplatz. In Texten und Gesprächen am Arbeitsplatz werden Auszubildende mit der Fachsprache ihres Berufs konfrontiert, möglicherweise auch mit Fachfremdsprachen, die sie im Laufe der Zeit beherrschen und für die auf der Basis linguistischer Forschung Lehr‐ konzepte entwickelt werden (Forner 2016). Beschreibungen von Gesprächstypen am Arbeitsplatz wie z. B. Besprechungen, (interkulturelle) Verhandlungen, Verkaufs- und Reklamationsgespräche (siehe für einen Überblick Brünner 2000) bieten einen empirisch basierten Einblick in die für diese Gespräche typischen Handlungssche‐ mata, Beteiligungsrollen und Konfliktpotenziale. Die Beschreibungen können dazu dienen, empiriebasierte Kompetenzprofile für Auszubildende in bestimmten Berufen zu formulieren sowie entsprechende Lehr- und Trainingskonzepte zu entwickeln (siehe unten). Wichtig erscheint hierbei jedoch, Anforderungen und Schulungsmo‐ delle nicht losgelöst von der konkreten kommunikativen Praxis der Auszubildenden zu formulieren. So zeigen empirische Studien, dass Anforderungen an Auszubil‐ 34 Jan Gerwinski, Christine Hrncal, Sabine Jautz, Britta Thörle & Antje Wilton dende nicht nur fachlicher Natur, sondern auch zunehmend organisatorischer Art sind, da beispielsweise die Einführung der Projektarbeit in die Ausbildung neue kommunikative Aufgaben im Zusammenhang mit der Koordination im Projektteam und mit der Präsentation von Ergebnissen mit sich bringt (vgl. Efing 2010: 5 f.). Au‐ ßerdem ist zu bedenken, dass das Gelingen von Aus- und Weiterbildung nicht allein von den Kompetenzen der Auszubildenden abhängt. Für das Funktionieren der Or‐ ganisation ist es entscheidend, dass sich die Arbeit des Einzelnen möglichst rei‐ bungslos in die Gesamtorganisation einfügt, wofür etwa ein Unternehmen entspre‐ chende Rahmenbedingungen und Infrastrukturen schaffen muss. Hier kann sprachwissenschaftliche Forschung dazu beitragen, die tatsächliche kommunikative Praxis an Arbeitsplätzen zu erheben, Divergenzen aufzudecken und ggf. auf not‐ wendige Strukturveränderungen hinzuweisen (vgl. Hartung 2011). 2. Kriterienbildung und Evaluation: Die Angewandte Sprachwissenschaft liefert em‐ pirisch und theoretisch fundierte Kriterien für die Definition von Kompetenzen und die Beurteilung der Qualität sprachlicher Produkte und kommunikativer Prozesse. Für die Ausbildung relevante Ansätze sind hier u. a. das Konzept der „Textkompe‐ tenz“, das ein zentrales Bildungsziel im Sinne von Literalität darstellt und insbeson‐ dere in der Deutsch- und DaF-Didaktik fruchtbar gemacht wird (z. B. Portmann-Tse‐ likas 2002), sowie das im Rahmen der Angewandten Gesprächsforschung diskutierte Konzept der „Gesprächskompetenz“ (Becker-Mrotzek & Brünner 2004). Wie Dep‐ permann (2004: 19) zeigt, ist die Formulierung von Kompetenzen aus linguistischer Sicht allerdings nicht unproblematisch, da die Beschreibung von Kompetenzen als optimale Handlungsformen über die empirisch basierte Deskription faktisch be‐ obachtbarer Handlungsweisen hinausgeht. Kompetenz als normativer Begriff kommt aber im Wissenschaftsverständnis z. B. der Gesprächsforschung nicht vor, weshalb die Angewandte Gesprächsforschung hier einer theoretischen und metho‐ dischen Reflexion und Weiterentwicklung bedarf. Bei der Beurteilung der Güte sprachlicher Produkte und kommunikativer Prozesse geht es u. a. um die Verständlichkeit und Optimierung von Texten der externen Unternehmenskommunikation (vgl. Lutz 2015). Ansätze in diesen Bereichen sind typischerweise interdisziplinär und verbinden sprachwissenschaftliche mit kogni‐ tionslinguistischen, psychologischen, pädagogischen oder betriebswirtschaftlichen Grundlagen. 3. Vermittlung: Die Angewandte Sprachwissenschaft beteiligt sich an der Entwicklung von Unterrichts-, Beratungs- und Trainingskonzepten für die Vermittlung sprach‐ licher und kommunikativer Kompetenz. Dieses Anliegen schlägt sich nicht nur in der Verzahnung zwischen Sprachwissenschaft und (schulischer) Sprachdidaktik nieder, sondern beispielsweise auch in der Entwicklung von sprachwissenschaftlich fundierten Ratgebern (z. B. Porila & ten Thije 2008 für die interkulturelle Kommu‐ nikation), Beratungskonzepten für die betriebliche Praxis (vgl. z. B. Hartung 2011) sowie in der Diskussion verschiedener Methoden für Kommunikationstrainings (z. B. Fiehler & Schmitt 2011). Quer zu den drei Bereichen faktische Beschreibung, Kriterienbildung und Evaluation sowie Vermittlung liegen die verschiedenen Gegenstandsbereiche angewandt 35 Die Perspektive der Angewandten Sprachwissenschaft sprachwissenschaftlicher Forschung (siehe für eine erste Übersicht Knapp et al. 2011), von denen die folgenden aus unserer Sicht von besonderer Relevanz für die Untersuchung von Sprache und Kommunikation in Aus- und Weiterbildung sind. 2. Kommunikation in Institutionen und Organisationen Linguistische Forschung zu Kommunikation in Institutionen und Organisationen sollte mindestens folgende Interaktionseinflüsse analytisch und konzeptionell einbeziehen: • die Rahmenbedingungen der Interaktion (u. a. bestehende Strukturen und Hierar‐ chien, Machtverteilungen, die Organisation von Arbeitsabläufen sowie juristische, räumliche und institutionsspezifische Möglichkeiten und Grenzen der Interaktion) - Kontextsensitivität • verwendete (und ggf. alternative) Kommunikationsformen (inkl. Medien und Kom‐ munikationskanäle) - Medien- und Kommunikationsformensensitivität • kommunikative Gattungen und kleinere Formen bei mündlichen sowie Textsorten bei schriftlichen Kommunikationsformen - Mustersensitivität Unabhängig davon, ob das vornehmliche Untersuchungsziel faktische Beschreibung, Kri‐ terienbildung und Evaluation oder Vermittlung ist, kann die Erforschung nicht in ange‐ messener Weise ohne Reflexion der o. a. Einflüsse erfolgen. Dies hat seinerseits Einfluss auf die Forschungsmethodik. So sind authentische Interaktionen in natürlichen Situationen unabdingbar, die für umfassende (kommunikationsfokussierte) Auswertungen konserviert und möglichst interpretationsarm aufbereitet werden müssen. Für Gespräche heißt das, dass unabhängig von der Forschung stattfindende Gespräche möglichst wenig situations‐ verzerrend aufgezeichnet, für die anvisierten Zwecke hinreichend genau transkribiert (also verschriftlicht) und möglichst alle situations- und kontextrelevanten Aspekte erfasst werden sollten. Letzteres macht eine wenigstens zeitweise und stichprobenhafte Teilnahme der Forscherinnen und Forscher an den zu untersuchenden Interaktionssituationen erfor‐ derlich (teilnehmende Beobachtung), so dass diese möglichst alle Rahmenbedingungen erfassen können. Des Weiteren muss ein (idealiter regelmäßiger) Austausch mit den Aufgenommenen und weiteren Personen unterschiedlicher Hierarchiestufen und Organisationseinheiten erfolgen, um deren (Arbeitsalltags-)Expertise zu nutzen und damit unvermeidbare blinde Flecken zu entdecken und so gut wie möglich zu bearbeiten (vgl. Deppermann 2013). Außerdem können so auch fachliche (und weitere) Wissenslücken ge‐ schlossen und Probleme aus Sicht der Akteure eruiert werden. Ein großer Vorteil dieses Vorgehens ist die präzise Erfassung der tatsächlichen Ereignisse, ohne dass diese durch Gedächtnisprotokolle der Forscherinnen und Forscher und/ oder durch vage Erinnerungen einzelner Akteure rekonstruiert werden müssen. So können zu mündlichen Kommunikationen auch kleinste Formulierungs- und weitere Gesprächspar‐ tikel erfasst und deren interaktionale Auswirkungen sowie interaktionale Bedeutungsaus‐ handlungen untersucht werden (siehe z. B. Deppermann 2015). Dies erfolgt, indem die In‐ teraktionen sequenzanalytisch, also schrittweise (‚Turn‘ für ‚Turn‘), einer detaillierten Betrachtung unterzogen und vorläufige Ergebnisse durch nachfolgende Gesprächsbeiträge 36 Jan Gerwinski, Christine Hrncal, Sabine Jautz, Britta Thörle & Antje Wilton der Akteure sowie durch die Gesamteinbettung (ins Gespräch und des Weiteren bestimmt durch die o. a. Interaktionseinflüsse) überprüft werden. Neben der Sequenzialität und der Einbettung in spezifische institutionelle und organi‐ sationale Kontexte spielen in kommunikationsgeprägten beruflichen Zusammenhängen Medien eine entscheidende Rolle, indem sie zum einen als massenmediale Institutionen Öffentlichkeit und Teilöffentlichkeiten herstellen, in denen Organisationen wie Betriebe, Unternehmen, Parteien und Vereine mit ihren Kundinnen und Kunden, Wählerinnen und Wählern oder Mitgliedern in Austausch treten. Zum anderen nehmen Medien als kommu‐ nikationsunterstützende Technologien nicht nur auf die äußeren Bedingungen der mit ihnen möglichen Kommunikationsprozesse Einfluss (mediale Affordanz, vgl. Zillien 2009), sondern auch auf die interaktionsstrukturellen und sprachlichen Mittel sowie die Gepflo‐ genheiten, die für einen bestimmten medial unterstützten Kommunikationsanlass als an‐ gemessen beurteilt werden. In der innerbetrieblichen Kommunikation beispielsweise müssen sich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in elektronischen Kommunikationssys‐ temen wie Intranetzen, Videokonferenzen und E-Mail-Verkehr bewegen (vgl. Kleinberger 2013). Für die externe Unternehmenskommunikation sind mediengesellschaftliche Ent‐ wicklungen wie die Nutzung sozialer Netzwerke, die neue Formen der Kundenkommuni‐ kation, -rezeption und -partizipation ermöglichen, zunehmend wichtig (vgl. Ettl-Huber et al. 2013). Durch den Einsatz von und den Umgang mit Medien(technologien) verändern sich auch die Anforderungen an die kommunikativen Kompetenzen von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Bei der Erforschung der Rolle der medialen Infrastrukturen und der damit verbundenen sprachlichen Merkmale für betriebliche Prozesse und somit auch für beruf‐ liche Kompetenzanforderungen hat die Angewandte Sprachwissenschaft deutliche Über‐ schneidungsbereiche mit der Medienlinguistik, den Kultur- und den Kommunikationswis‐ senschaften (vgl. z. B. Androutsopoulos 2014). In gesellschaftlichen Institutionen wie der Wirtschaft, der Politik, der Wissenschaft und in den Medieninstitutionen selbst beinhaltet der kompetente Umgang mit Kommunikationstechnologien und -medien die sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten, die diese Medien erfordern. Besonders offensichtlich wird die Relevanz medienbezogener sprachlicher Kompetenzen in journalistischen Berufs‐ feldern. Für angehende Journalistinnen und Journalisten sowie Redakteurinnen und Red‐ akteure sind beispielsweise neue Formen des multimedialen Schreibens und Publizierens wie das Public Storytelling wichtige Ausbildungsinhalte, die von Sprachwissenschaftle‐ rinnen und Sprachwissenschaftlern erforscht, beschrieben und entwickelt werden (vgl. Perrin et al. 2009). Sprache und Kommunikation in Institutionen und Organisationen sind schließlich durch ihre Musterhaftigkeit geprägt, die sich sowohl in rekurrenten funktionalstilistischen Ei‐ genschaften des (Fach-)Sprachgebrauchs als auch in spezifischen Textsorten und Hand‐ lungsmustern niederschlägt. Wie die Studie von Efing (2010) zeigt, ist der im engeren Sinn fachsprachliche Bedarf in der Ausbildung eher gering. Von größerer Relevanz ist hingegen die Berufssprache, die Efing (2014: 429 f.) definiert als „eigenständiges, berufs(feld)übergrei‐ fendes Register auf einem Kontinuum zwischen Allgemein- und Fachsprache“, das gekenn‐ zeichnet ist 37 Die Perspektive der Angewandten Sprachwissenschaft durch ein Set typischer berufsbezogener Sprachhandlungen (ANLEITEN/ INSTRUIEREN, ER‐ KLÄREN, DEFINIEREN …), Textsorten (Bericht …) und Darstellungsformen (Tabellen, Formu‐ lare …), die für zahlreiche Berufstätigkeiten als charakteristisch gelten können. Diese Beobachtung deckt sich mit den Ergebnissen von Studien zur mündlichen Fachkom‐ munikation, die sich weniger auf die in der gesprochenen Fachkommunikation tatsächlich sehr reduzierten fachstilistischen Merkmale konzentrieren (Brünner 1993: 751) und sich stattdessen etwa mit kommunikativen Gattungen und Formen (Müller 2006) bzw. typischen Handlungsschemata am Arbeitsplatz beschäftigen, wie sie beispielsweise in Besprechungen vorkommen. Fachlexikalische und fachstilistische Eigenschaften sind in der mündlichen Kommunikation am Arbeitsplatz allerdings keineswegs unwichtig, sie erfüllen mitunter nur andere Funktionen als eine rein referentielle und dienen im Gespräch unter anderem der Rollenkonstitution (Experten, Fachleute), dem Ausdruck von Gruppenzugehörigkeit und zum Anzeigen spezifischer Orientierungsrahmen (vgl. Thörle 2005: 227 f.). 3. Beispiel Coaching Am Beispiel von Coaching als Gegenstand und Anwendungsfeld von Gesprächsanalyse soll gezeigt werden, wie aus angewandt sprachwissenschaftlicher Perspektive berufsbezogene kommunikative Praktiken beschrieben werden können und wie Produkte dieser Gesprächs‐ analyse in der Aus- und Weiterbildung eingesetzt werden können. Gemeinsam mit Nazar‐ kiewicz & Krämer (2012: 59) verstehen wir Coaching allgemein als eine zielorientierte, systematische und zeitlich begrenzte Unterstützung eines Entwicklungs- und Veränderungsprozesses im Rahmen beruflicher oder privater Neuorientierung […]. Übergeord‐ netes Ziel ist die methodisch geförderte Verbesserung oder Wiederherstellung von professioneller Leistungsfähigkeit und privater Zufriedenheit des Coachingpartners […]. Dass eine solche Unterstützung häufig nachgefragt wird, führen die Autorinnen auf eine komplexe und sich verändernde, häufig interkulturelle Lebens- und Arbeitswelt zurück (ebd.). Im Zuge der Globalisierung und gesellschaftspolitischer Entwicklungsprozesse gewinnt die Fähigkeit, in interkulturellen und mehrsprachigen Begegnungssituationen adäquat kommunizieren zu können - und damit auch die Vermittlung dieser Fähigkeit im Rahmen verschiedener Aus- und Weiterbildungsformate - immer mehr an Bedeutung. Linguistische Analysen interkultureller und mehrsprachiger Kommunikation (vgl. u. a. Kotthoff & Spencer-Oatey 2007), beispielsweise in Behörden (vgl. u. a. Porila & ten Thije 2007) oder im medizinischen Kontext (vgl. z. B. Roberts 2007), zeigen, dass Probleme in interkulturellen Kommunikationssituationen in Institutionen und Organisationen aufgrund unzurei‐ chender sprachlicher sowie interkultureller Kompetenz(en) für die Beteiligten erhebliche Folgen haben können. Die Angewandte Sprachwissenschaft kann durch Analysen authen‐ tischen Sprachmaterials aus der Praxis theoretisch und empirisch fundiert kulturell diver‐ gierende Kommunikationspraktiken sowie möglicherweise darin begründete Ursachen von Missverständnissen aufdecken und beschreiben sowie - auch in Zusammenarbeit mit den Beteiligten - z. B. im Rahmen von interkulturellem Training oder Coaching (vgl. Nazar‐ 38 Jan Gerwinski, Christine Hrncal, Sabine Jautz, Britta Thörle & Antje Wilton kiewicz & Krämer 2012) Lösungen erarbeiten und Strategien für den Umgang mit Kom‐ munikationsproblemen entwickeln und vermitteln. Sprache und Kommunikation spielen im Coaching eine zentrale Rolle und sind sowohl Gegenstand als auch Modus Operandi (vgl. Habscheid 2015: 256 f.). Einerseits benennen Kli‐ enten oftmals Kommunikationsprobleme als Grund für die gewünschte Unterstützung („Wie sage ich’s meiner Chefin? “; vgl. allgemein Nothdurft 1984 zu Problemschilderungen). Andererseits setzen Coachs - neben verschiedenen Arten des Zuhörens (vgl. Albrecht & Perrin 2013) - hauptsächlich sprachlich realisierte Interventionen ein, um Klienten anzu‐ regen, Routinen zu durchbrechen und damit selbst Veränderungen herbeizuführen. Ein Beispiel sind verschiedene Arten von (offenen) Fragen als wichtiges Instrument im Coa‐ ching (vgl. z. B. Richter 2010), u. a. zirkuläre Fragen („Was würde Ihre Chefin antworten, wenn Sie sie fragen, warum ihrer Ansicht nach die Zusammenarbeit in der Abteilung nicht funktioniert? “), Wunderfragen („Wenn Ihr Problem wie durch ein Wunder plötzlich gelöst wäre, woran würden Sie das erkennen? “) oder Skalierungsfragen („Sie sagen, dass Sie auf einer Skala von 1 bis 10 schon bei 4 stehen, was die Erreichung Ihres Ziels angeht. Woran merken Sie, wenn Sie bei 5 sind? “). Zur Benennung und einer allgemeinen Beschreibung der verschiedenen Fragearten bedarf es keiner dezidiert sprachwissenschaftlichen Exper‐ tise. Wenn es aber darum geht zu illustrieren, welche vorab (nicht) diskutierten Aspekte ein Coach in einer Frage aufgreift oder auf welchen Aspekt einer Frage oder auf welche Formulierung eine Klientin reagiert (etwa, indem sie im Verlauf des Gesprächs mittels Wiederholung darauf Bezug nimmt und Lösungsansätze für ihr Problem entwickelt), oder wie sich (Macht- und Wissens-)Asymmetrien und Perspektivendivergenzen sprachlich ma‐ nifestieren (vgl. Jautz 2017), bedarf es einer detaillierteren (Sprach-)Analyse längerer Ge‐ sprächssequenzen. Um Äußerungen in ihrem jeweiligen Kontext analysieren zu können und im Idealfall auch para- und nonverbales Verhalten miteinbeziehen zu können, benötigt man Transkripte von Coachingsitzungen. Diese lassen sich am besten mit einem interdis‐ ziplinären Ansatz untersuchen. Graf et al. (2010) empfehlen, verschiedene diskursanalyti‐ sche Methoden zu kombinieren (Konversationsanalyse, Ethnomethodologische Gesprächs‐ forschung, Kritische Diskursanalyse, Diskursive Psychologie, Interaktionale Soziolinguistik und Pragmatik), um das Datenmaterial aus unterschiedlichen Perspektiven und mit Blick auf unterschiedliche Fragestellungen betrachten zu können - beispielsweise mit Blick darauf, wie Sprecherwechsel stattfinden oder ob ein Einfluss unterschiedlicher Spre‐ cherrollen konstatiert werden kann. Bei einer (multimodalen) Betrachtung im Kontext kann deutlich werden, was Adressaten „anspricht“ und was nicht, was Rapport herstellt und aufrechterhält und was zu Veränderungen der Sicht auf ein Problem (und damit ggf. zu Veränderungen) führt. Hier zeigt sich der Nutzen der Sprachwissenschaft: Schaut man sich beispielsweise Nachfragen, Bitten um Beispiele oder Fortführungen von vom Gesprächs‐ partner angefangenen Äußerungen durch einen Coach an, so kann man diese als Dominanz und Divergenz signalisierende Elemente interpretieren, die womöglich das Gespräch stören. Sie können - im jeweiligen Kontext - aber auch Symmetrie und Perspektivenkon‐ vergenz herstellen und einem guten Rapport zwischen Coach und Klient dienen (vgl. Jautz 2017). Eine solche Analyse funktionaler wie auch dysfunktionaler Kommunikation ist nicht nur aus theoretischer Perspektive interessant, sondern kann gerade in der Aus- und Weiterbil‐ 39 Die Perspektive der Angewandten Sprachwissenschaft dung gewinnbringend eingesetzt werden. Wenn Teilnehmerinnen und Teilnehmer mithilfe von Transkripten ihre eigenen Coachingübungen nachvollziehen können und ihre Ein‐ drücke mit denen von Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftlern abgleichen, die bei ihrem Blick auf das Datenmaterial möglicherweise ganz andere Aspekte fokussieren als Coachs, kann dies zu einer Erweiterung des Verständnisses von Kommunikationsprob‐ lemen und berufsbezogenen kommunikativen Praktiken beitragen, die eine reine Auflis‐ tung von Interventionen nicht zu leisten vermag. Literatur Albrecht, Christine/ Perrin, Daniel (2013). Zuhören im Coaching. Wiesbaden: Springer VS. Androutsopoulos, Jannis (2014). Mediatization and Sociolinguistic Change. Berlin/ New York: de Gruyter. Becker-Mrotzek, Michael/ Brünner, Gisela (Hrsg.) (2004). Analyse und Vermittlung von Gesprächskom‐ petenz. (= Forum Angewandte Linguistik 43). Frankfurt a. M.: Peter Lang. Brünner, Gisela (1987). Kommunikation in institutionellen Lehr-Lern-Prozessen. 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Verfügbar unter https: / / www.uni-trier.de/ fileadmin/ fb4/ prof/ SOZ/ AMK/ PDF_Dateien/ Affordanz.pdf (Stand: 18/ 09/ 2018) 42 Jan Gerwinski, Christine Hrncal, Sabine Jautz, Britta Thörle & Antje Wilton Die Perspektive der Deutschdidaktik Christian Efing Vorbemerkung Die berufliche Bildung fristet im Rahmen der deutschdidaktischen Lehre und Forschung ein relatives Schattendasein, nur wenige Deutschdidaktiker beschäftigen sich mit dem Zu‐ sammenhang bzw. der Rolle von Sprache und Literatur in der und für die berufliche(n) Bildung. Selbst für die politisierten 1970er Jahre, als die Berufspädagogik die Sprache „als wichtigstes Medium für den Erwerb der Berufsrolle“ (Grundmann 2001: 89) entdeckte, kon‐ statiert Grundmann ein „nahezu völlige[s] Desinteresse“ am und eine „Abstinenz der Deutschdidaktiker gegenüber dem berufsbildenden Schulbereich“ (ebd.: 95, 92). Hierzu passt, dass es in Deutschland bis heute keinen eigenen Lehrstuhl für Deutschdidaktik in der beruflichen Bildung und auch keine deutschdidaktische Fachzeitschrift mit berufsbil‐ dendem Schwerpunkt gibt. Diese Abstinenz verwundert angesichts der Diskrepanz zwi‐ schen nicht erst seit Neuestem allseits beklagten Defiziten von Berufsschülern und Berufs‐ schülerinnen im Bereich sprachlich-kommunikativer Kompetenzen einerseits und allseits konstatierten steigenden sprachlich-kommunikativen Anforderungen andererseits - es gäbe also genug zu tun für die Deutschdidaktik. Andere Disziplinen, wie etwa die Berufs- und Wirtschaftspädagogik, und andere Insti‐ tutionen, wie das Bundesinstitut für Berufsbildung ( BIBB ), das Institut der deutschen Wirt‐ schaft/ Köln oder das Deutsche Institut für Erwachsenenbildung ( DIE ), die sich forschend und fördernd mit dem Thema Sprache und Kommunikation (und ihrer Vermittlung) in der beruflichen Bildung beschäftigen, können dieses Fehlen der Deutschdidaktik nicht kom‐ pensieren, da sie eigene Perspektiven, Fragestellungen und Ansätze verfolgen; dennoch sind sie eine wertvolle Bereicherung der deutschdidaktischen Perspektive. Bisweilen wird es angesichts von interdisziplinärem Austausch, interdisziplinärer (inhaltlicher, methodi‐ scher) Befruchtung und Zusammenarbeit schwer zu sagen, was genau noch oder schon (auch) als genuin deutschdidaktische Perspektive betrachtet werden kann; dennoch ver‐ sucht der folgende Beitrag diese zu skizzieren. Ausgehend von einer historischen Aufarbeitung der Beschäftigung der Deutschdidaktik der letzten Jahrzehnte mit dem Bereich der beruflichen Bildung stellt der Beitrag insbe‐ sondere die nach dem PISA -Schock und der Empirisierung der Sprachdidaktik in den 2000er Jahren aktuellen Tendenzen und Herausforderungen in der Deutschdidaktik vor. 1. Zur Geschichte der deutschdidaktischen Perspektive auf Deutschunterricht an berufsbildenden Schulen Angesichts zweier vorliegender Monographien sowie eines Aufsatzes zur Geschichte des Deutschunterrichts an berufsbildenden Schulen (Ludwigsen 1981, Jahn 2000, Grundmann 2001) wird die Geschichte in diesem Kapitel nur überblicksartig zusammengefasst; der Schwerpunkt dieses Beitrags liegt auf der Darstellung der deutschdidaktischen Perspektive auf berufliche Bildung nach dem Jahr 2000. Auch wenn umstritten ist, ob die Deutschdi‐ daktik den Deutschunterricht an berufsbildenden Schulen - ein „Stiefkind der Didaktik“ (Grundmann 1977) - erst in den 1960ern/ 70ern entdeckte (vgl. Ludwigsen 1981: 424), soll in diesem Beitrag zeitlich genau hier angesetzt werden. Eine von Beginn an grundlegende und kontinuierlich bis auf den heutigen Tag immer wieder geführte Debatte in der berufsschulbezogenen Deutschdidaktik ist die um die „Un‐ geklärtheit des Verhältnisses von allgemeiner und beruflicher Bildung“ (Grundmann 2001: 13), wobei Grundmann diese Ungeklärtheit gar „als Geburtsfehler der berufsbildenden Schulen“ (ebd.) bezeichnet. Jahn (2000: 12) sieht im „Widerspruch von allgemeiner und be‐ ruflicher Bildung“ ein Dilemma für das Unterrichtsfach Deutsch als allgemeinbildendes Fach. Es stellte sich sowohl die Frage nach der Legitimation von Deutschunterricht an berufsbildenden Schulen generell wie die nach dessen (berufsbezogenen? ) Themen und Inhalten sowie (eigenen, spezifischen? ) Zielen (Hebel & Hoberg 1985: 7) zwischen einem humanistischen vs. technischen Bildungsideal, zwischen Hochliteratur vs. Unterschich‐ tenpädagogik, zwischen Persönlichkeits- und Identitätsbildung vs. berufspragmatischer Verwertbarkeit/ utilitaristischem Ansatz (ausführlich vgl. etwa Hebel 1987, Grundmann 2010). Umstritten seien deshalb sowohl die Inhalte und Gegenstände (bzw. die Frage nach ihrem Berufsbezug) des Deutschunterrichts als auch die dort zu fördernden Fähigkeiten (nur die betrieblich verwertbaren oder auch die persönlichkeitsbildenden? ) bzw. anzustrebenden Lernziele wie generell die Rolle des Faches Deutsch im Fächerkanon der berufsbildenden Schulen und die Legitimation seiner dortigen Existenz (Grundmann 2001: 13). Die Ge‐ schichte des Deutschunterrichts an berufsbildenden Schulen sei daher „in erster Linie die Geschichte des permanenten Kampfes dieses Unterrichtsfaches gegen seine Funktionali‐ sierung durch berufsspezifische Fächer“ bzw. eines „allgemein bildenden Faches um seine Existenzberechtigung an berufsbildenden Schulen“ (ebd.: 14), das nicht nur Wissen vermit‐ teln und ausbilden, sondern auch erziehen und individuell bilden wolle. Eng hiermit ver‐ knüpft ist die Frage nach der Rolle des Ästhetischen bzw. der Existenzberechtigung und Relevanz des Literaturunterrichts an berufsbildenden Schulen (vgl. Hummelsberger 2002 sowie D: Riedel, S. 241 in diesem Band) wie generell nach der Aufmerksamkeit für die Le‐ seinteressen und -sozialisation der Berufsschülerinnen und Berufsschüler (vgl. Mittmann 1981, Katz 1994). 1.1 Deutschdidaktik und berufliche Bildung zwischen 1960 - 2000 Einen wegweisenden Diskussionsbeitrag in Richtung Ablösung vom traditionellen deut‐ schen Bildungsbegriff stellt Robinsohns bildungspolitisch breit rezipiertes Werk „Bildungs‐ reform als Revision des Curriculum“ (1967) dar, das eine Abkehr von inhaltshin zu lern‐ 44 Christian Efing zielzentrierten Curricula forderte und dabei den outcome- und Nützlichkeits-orientierten Begriff der Qualifikationen akzentuiert - mit der Folge, dass die strikte Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung aufweicht und allgemeinbildende Inhalte an berufs‐ bildenden Schulen marginalisiert werden und zwischenzeitlich das „Verwertungsprinzip“ im Deutschunterricht die „Persönlichkeitsbildung“ als Ziel dominiert, ehe ab Mitte der 1970er Jahre auch allgemeinbildende Aspekte wieder stärker in den Vordergrund der deutschdidaktischen Diskussion rücken und Modelle der Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung diskutiert wurden, die den Gegensatz der beiden überwinden sollten. Ohnehin ist die in der Deutschdidaktik wesentlich häufiger und stärker vertretene Position diejenige, dass der Deutschunterricht im sprachlich-kommunikativen wie literarischen Be‐ reich auch allgemeinbildenden Zielen der Persönlichkeitsentwicklung dienen solle. Ehe sich die Deutschdidaktik neben dieser Grundsatzdebatte für spezifischere, konkre‐ tere Themen und Aspekte interessiert, dauert es bin in die 1980er Jahre. „[Z]u Beginn der 70er Jahre [wird] der Deutschunterricht an berufsbildenden Schulen schlicht nicht zur Kenntnis genommen“, und noch 1977, als die Zeitschrift Diskussion Deutsch ihr insgesamt 34. und dabei erstes Heft zu „Deutschunterricht an beruflichen Schulen“ vorlegt, konsta‐ tieren die Herausgeber in ihrem Vorwort selber, Deutsch in der Berufsschule sei „weitge‐ hend noch terra incognita“ (zitiert nach Grundmann 2001: 102, 94). Auch in Sammelbänden und Lexika zum Deutschunterricht sowie zur Sprach- und Literaturdidaktik kommt der Deutschunterricht an berufsbildenden Schulen in dieser Zeit „nicht einmal am Rande vor“ (ebd.). Grundmann führt dies auf die „Sozialisation der Fachdidaktiker an den Universi‐ täten“ zurück, die wahrscheinlich „während ihrer Schullaufbahn nicht ein einziges Mal mit dem beruflichen Schulwesen in Berührung gekommen“ seien (ebd.: 95). Selbst die Deutsch‐ lehrer an beruflichen Schulen traten in den 1970er Jahren nicht in Erscheinung (Ludwigsen 1981: 347). Kurz danach aber kommt es zur „Entdeckung des Deutschunterrichts an berufs‐ bildenden Schulen durch die Fachdidaktik Deutsch“ (Grundmann 2001: 103). Im Rahmen eines durchaus so zu nennenden deutschdidaktischen Wahrnehmungs- und Publikationshöhepunktes zu berufsbildenden Schulen in den 1980er Jahren (Grundmann 1980, 1981, 1985, Ludwigsen 1981, Hebel 1983, 1987, Hoberg 1983, Hebel & Hoberg 1985) erscheinen auch Handbuchartikel zum Deutschunterricht speziell an berufsbildenden Schulen, werden spezifische berufsschul-deutschdidaktische Sektionen bei Tagungen aus‐ gerichtet, es wird durch Franz Hebel und Rudolf Hoberg die Zeitschrift „Sprache und Beruf “ (1980-1986) gegründet und explizit und detailliert die Frage nach einer eigenen berufs‐ schulbezogenen Deutschdidaktik und damit auch „die Frage nach der Legitimation einer eigenen Deutschlehrer-Ausbildung für Berufsschulen“ (Hebel & Hoberg 1985: 7), also die Frage und Forderung nach eigenen Hochschul-Curricula, gestellt. Auch rücken speziell die Gruppe der „ausländische[n] Jugendliche[n]“ und ihre „Sprachprobleme“ (Hoberg 1983) ins Blickfeld. Spezifischere diskutierte Themen sind etwa „erste Grundlagen für einen berufs‐ schulspezifischen Literaturunterricht“ (Grundmann 2001: 142) sowie eine weiterführende Beschäftigung mit dem Teilbereich Literaturunterricht und dem Lesen generell; Sprachre‐ flexion/ (politische) Sprachkritik, Rechtschreibung, die Rolle von Fachsprache und ihrer Vermittlung (Funk & Ohm 1991, Fluck 1992) usw. In den 1990er Jahren lässt das wissenschaftliche Interesse der Deutschdidaktik am be‐ rufsschulischen Deutschunterricht nach einer Abarbeitung am Begriff der Schlüsselquali‐ 45 Die Perspektive der Deutschdidaktik fikationen (Grundmann 1991) partiell wieder nach - zumindest, wenn man die Anzahl an Dissertationen im thematischen Feld als Indikator heranzieht (Grundmann 2001: 136; vgl. jedoch die Arbeiten von Katz 1994, Wyss Kolb 1995, Jahn 1998). Jedoch vermittelt die Durchführung verschiedener Projekte ein anderes Bild einer wesentlich regeren, kontinu‐ ierlichen deutschdidaktischen Forschung von den 1980er bis in die 1990er Jahre, etwa die Modellversuche GOLEM (1987-1991 zu Computern in Sprache und Literatur), TEFAS (Texterschließung Fachsprachen für ausländische Jugendliche) und TEBA (Textverstehen in der Berufsausbildung - Arbeit mit interaktiven Texten) der drei Darmstädter Sprachdi‐ daktiker Franz Hebel, Rudolf Hoberg und Karl-Heinz Jahn, die das Ziel hatten, auf For‐ schungsbasis Unterrichtsmaterialien zum Umgang mit neuen Technologien sowie mit tra‐ ditionellen Fachtexten im Deutschunterricht zu entwickeln. In Zusammenhang dieser Arbeiten erklärt Grundmann (2001: 165 f.), dass die Technische Universität Darmstadt (bzw. ihre Deutschdidaktik) „zu einem Zentrum wurde, von dem bis in die jüngste Vergangenheit die meisten Anstöße zu einer veränderten Einstellung dem Deutschunterricht an berufs‐ bildenden Schulen gegenüber ausgegangen sind“. Hierfür steht insbesondere Franz Hebel als zentrale Figur der berufsschulbezogenen Deutschdidaktik und Vater des sog. „Darm‐ städter Modells“ für einen berufsschulspezifischen Deutschunterricht zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung, der sich von einer reinen Bedarfsorientierung abwendet und der mit Sprach- und Literaturunterricht sowohl prozessgebundene wie prozessunge‐ bundene Qualifikationen fördert - und den Grundmann (2001: 168) daher mit dem Schlag‐ wort „Zweckrationalität und sinnfordernde Deutungsleistungen“ zusammenfasst. Unter „sinnfordernden Deutungsleistungen“, die auf eine „symbolische Sinnwelt“ und „das ‚Ganze‘ der Gesellschaft […] und auf das ‚Ganze‘ des Lebens gerichtet sind“, versteht Hebel berufsrollenunspezifische Leistungen, „die auf Legitimierung und Motivierung im Dienste der sozialen Integration bezogen sind“ und den Schülerinnen und Schülern, die auf „Sinn‐ konstanz“ angewiesen sind, helfen, die Welt als sinnvoll zu ver- und Krisen zu überstehen. Der Deutschunterricht sei hier gefordert, da Sprache und Literatur „die Vermittler unserer moralischen und ästhetischen Erfahrungen sind und diese begründen“ - und daher müsse der Deutschunterricht die Verbindung dieser moralischen und ästhetischen Inhalte zum beruflichen Wissen erkennen helfen und die Schüler somit zu einer kulturellen Aneignung ihrer Berufsrolle (statt einer unreflektierten Akzeptanz) befähigen (Hebel 1985, zitiert nach Grundmann 2001: 172-182). Jahn fasst das Darmstädter Modell wie folgt zusammen: Ein wesentliches Moment der Didaktik des Faches Deutsch aus dieser Sicht ist die Verknüpfung sprach- und literaturwissenschaftlichen Grundwissens mit Themen, die eine hohe Relevanz für die jungen Berufstätigen haben. Rechtschreibung, Grammatikwissen, Entwicklung von Lesever‐ ständnis gegenüber fiktionalen und pragmatischen Texten ist immer eingebunden in den Bedürf‐ niszusammenhang, der sich aus der Berufsausbildung ergibt. […] Leitbild ist der junge Berufstätige, der die Erfordernisse seines Berufes erfüllt und vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ist, der in der Lage ist, im Beruf, in der Öffentlichkeit und im Privatleben an der Kommunikation teilzuhaben, sich Informationen zu verschaffen, sie auszuwerten und inhaltlich zu prüfen. ( Jahn 2000: 11 f.) Stärker auf berufspädagogische Begründungszusammenhänge beruft sich Hilmar Grund‐ mann in seinem dem „Darmstädter Modell“ didaktisch-methodisch dennoch ähnlichen „Hamburger Modell“ des berufsschulspezifischen Deutschunterrichts, der auf personale 46 Christian Efing Sinnerfahrung und -findung durch berufliche Tätigkeit sowie auf Vermittlung von Orien‐ tierungswissen und Förderung von Identitätsausbildung durch den Deutschunterricht ab‐ zielt und sich somit eher als berufliche Erziehung denn als Wissensvermittlung versteht (Grundmann 2001: 198-251). Während die Deutschdidaktik neben diesen Grundsatzdebatten insgesamt ein bevor‐ zugtes Interesse am „‘Berufsschüler als Leser‘“ von literarischen wie Fachtexten (Grund‐ mann 2001: 144) hat, vernachlässigt sie mit Blick auf berufsbildende Schulen andere Themen fast gänzlich, wie etwa den Grammatikunterricht (vgl. - mit Verweis auf die wenigen Aus‐ nahmen - Grundmann 2001: 142-144). Und erst spät in den Blick geraten im Bereich der sprachlichen Förderung nach einem Fokus auf „ausländische“ (zweitsprachige) Jugendliche auch die Deutsch-Erstsprachler. Karl-Heinz Jahn (1998) zeigt in seiner Untersuchung („Sprachstandsanalyse“) zur Fachtexterschließung, dass jedoch auch Letztere erhebliche Probleme mit der Fachsprache haben und deswegen Ziel der Förderbemühungen werden müssen. Hierbei diskutiert er den Einsatz von interaktiven multimedialen Lernsystem ge‐ genüber traditionellen Lehr-Lern-Materialien - ein Ansatz (Lernen mit Neuen Medien), der auch in den Folgejahren weiter zentral bleibt. 1.2 Deutschdidaktik und berufliche Bildung nach dem Jahr 2000 Nach dem PISA -Schock rund um das Jahr 2000 dominiert allerdings, neben den medien‐ bezogenen (vgl. etwa die Beiträge in Hebel et al. 2002, Jahn & Wyss 2003) und allgemeineren Themen (vgl. als Überblick Josting & Peyer 2002), das Thema Lesekompetenz schnell auch die berufsschulbezogene Deutschdidaktik - zumal in der empirischen Forschung. In ver‐ schiedenen Disziplinen gibt es Projekte und Modellversuche zur Diagnose und Förderung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen (etwa LAU , ULME , VERLAS , MDQM ), aber die Deutschdidaktik fokussiert in gleich drei größeren Unternehmungen deutlich das Lesen: an der TU Darmstadt wird im Rahmen des Modellversuchs VOLI (2004-2006) die allge‐ meine wie fachsprachliche Lesekompetenz von Berufsschülerinnen und Berufsschülern di‐ agnostiziert und (u. a. mit Strategietrainings, Textentlastung/ -aufbereitung und Leseport‐ folio-Arbeit) gefördert (Efing 2006a, 2006b, 2008a); zeitlich wie inhaltlich sehr vergleichbar gehen ein von der Universität zu Köln begleitetes (Becker-Mrotzek et al. 2006, Drommler et al. 2006) sowie ein Schweizer Projekt zur Leseförderung vor (Schiesser & Nodari 2007). Einen Fokus auf Fachsprache und fremdsprachige Deutsch-Lerner nehmen weiterhin Ohm et al. (2007) ein. Am Rande nimmt bereits VOLI das Schreiben aus diagnostischer wie Förderperspektive mit in den Blick (Efing 2008b); systematischer erhält das Schreiben aber erst in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit der Deutschdidaktik; hier sind insbesondere Astrid Neumann (etwa Neumann 2006, 2015) sowie das Forscherteam Hoefele/ Konstantinidou (u. a. Hoefele/ Konstantinidou 2016, Hoefele et al. 2017) aus der Schweiz zu nennen, das Förderpro‐ gramme - insbesondere für Zweitsprachler - erstellt und empirisch in ihrer Wirksamkeit evaluiert. Die Gesprächskompetenz (Weber 2014) bleibt weiterhin, wie an anderen Schul‐ formen, Stiefkind unter den sprachlichen Teilfertigkeiten, wird aber mittlerweile ebenfalls stärker auf genereller (vgl. Grundmann 2007; sowie Kirndorfer und auch Hoffmann in Ter‐ rasi-Haufe & Börsel 2017) wie auf Ebene bestimmter kommunikativer Praktiken - wie z. B. dem Erklären - aus diagnostischer wie Förderperspektive erforscht. 47 Die Perspektive der Deutschdidaktik Doch die Deutschdidaktik entdeckt und verfolgt auch quer zu den einzelnen Teilfertig‐ keiten liegende methodische Forschungs- und Förderansätze: Neben der Diskussion um den Zusammenhang von sprachlichen Kompetenzen und Ausbildungsfähigkeit und die Prävention von sprachlich-kommunikativen Defiziten bei den angeblich immer sprach‐ schwächeren Auszubildenden (Grundmann 2007, Efing 2013) sowie der bereits genannten empirischen Wirksamkeitsanalyse zu spezifischen Förderansätzen sind dies etwa die An‐ forderungsbzw. Bedarfsermittlung (siehe C: Efing/ Kiefer, S. 195 in diesem Band, Efing 2014b, Efing 2015) als Grundlage für die Entwicklung von empirisch basierten Curricula, Aufgabenformaten und Förderansätzen; die Perspektive auf sprachliche Register als För‐ dergegenstand jenseits nur der Fachsprache, die mittlerweile als eine geringere Hürde ein‐ geschätzt wird (Efing 2014a), sowie Ansätze zur Sprachförderung im sprachsensiblen Fach‐ unterricht bzw. integriertes Fach- und Sprachlernen. Generell werden dabei handlungsorientierte Förderansätze favorisiert (Efing 2017, Roche & Terrasi-Haufe 2017 sowie das Projekt „Bildungssprache Deutsch für berufliche Schulen“ der LMU und TU München, 2014-2017). Im Rahmen der aktuellen Migrationssituation erlangt zudem jüngst auch die Entwick‐ lung von DaZ-Curricula für Seiteneinsteiger eine hohe Relevanz (vgl. Müller, Weber und Wiażewicz in Efing & Kiefer 2017), wie generell der Bereich der Mehrsprachigkeit und Integration (vgl. Daase et al. 2017, Terrasi-Haufe & Börsel 2017) und der interkulturellen Bildung (vgl. A: Middeke, S. 63 in diesem Band) in der beruflichen Bildung auch durch eine interdisziplinär orientierte Deutschdidaktik entdeckt wird. In diesem Zusammenhang rückt auch die Frage nach dem Verhältnis von Sprache, Beruf und Integration in den deutschdi‐ daktischen wie interdisziplinären Fokus (vgl. IQ konkret 2017). Noch wenig deutschdidaktisch bzw. stärker von anderen Disziplinen beforscht ist die Frage der Grundbildung/ Alphabetisierung (vgl. D: Heisler/ Reißland, S. 221 in diesem Band und für die Deutschdidaktik Sturm 2016), der Textoptimierung (vgl. jedoch Schlenker-Schulte & Wagner 2006) und leichten Sprache für spezifische Zielgruppen sowie generell die Perspektive der beruflichen Weiterbildung; gänzlich brach liegt das zentrale Thema der Wortschatzförderung. Generell lässt sich sagen, dass die Themenbreite in den letzten 20 Jahren deutlich zuge‐ nommen hat (die Themen Rechtschreibung und Grammatik und zunehmend auch Literatur bleiben in der aktuellen Diskussion jedoch zugunsten von kommunikativen Aspekten des Sprachhandelns weitgehend unbeachtet) - und dass es einen deutlichen Umschwung von theoretischen Grundsatzdebatten über Stellenwert und Ziele von Deutschunterricht in der beruflichen Bildung hin zu detaillierten empirischen Untersuchungen zu einzelnen Teil‐ fertigkeiten und konkreten sprachlich-kommunikativen Fragestellungen und Förderan‐ sätzen gegeben hat. Dabei zeigen die meisten Untersuchungen, dass der Bedarf der Berufs‐ schülerinnen und Berufsschüler an allgemeinen, d. h. an standard- und bildungssprachlichen Kompetenzen, bereits auf allen sprachlichen Ebenen (Lesen, [Recht-]Schreiben, Wortschatz, Grammatik) hoch ist und Deutschförderung an beruflichen Schulen nicht verengt werden kann und darf auf fach- und berufssprachliche oder berufs‐ spezifische Aspekte, die natürlich dennoch relevant bleiben. Zur Zielgruppe der Förderung gehören dabei neben den Flüchtlingen bzw. Seiteneinsteigern und Zweitsprachlern auch viele Deutsch-Erstsprachler, sodass sich hier Ansätze und Methoden der Didaktik des 48 Christian Efing Deutschen als Erst-, Zweit- und Fremdsprache (vgl. etwa Funk 2010) in der beruflichen Bildung gegenseitig wahrnehmen und befruchten müssen. Gerade auch der Bereich des Deutschen-als-Fremd- und Zweitsprache steht hier angesichts vieler Seiteneinsteiger im berufsfähigen Alter, angesichts prekärer Arbeitsverhältnisse von Zweitsprachlern in Deutschland sowie angesichts der Verlagerung von Arbeitsplätzen von Deutschland ins Ausland vor neuen Herausforderungen eines frühen Fach(fremd)sprachenlernens. 2. Fazit und Ausblick Es ist fraglich, ob man auch heutzutage von der Existenz einer eigenständigen berufsschul‐ spezifischen Deutschdidaktik sprechen kann oder sollte - oder ob nicht eher herausragende Individuen wie Franz Hebel und Hilmar Grundmann durch individuelle Schwerpunkte die Diskussion präg(t)en, ohne dass dadurch eine eigene Teildisziplin der Deutschdidaktik ent‐ standen wäre. Inhaltlich-thematisch ist eine starke Konstanz der Themen und v. a. der Selbstbeschäftigung der Deutschdidaktik mit ihrem eigenen Stellenwert und ihren grund‐ legenden Zielen in der beruflichen Bildung festzustellen. In einer zunehmend interdiszip‐ linär agierenden und sich gegenseitig befruchtenden Forschungslandschaft wird es schwer und wohl auch nicht zwingend nötig, noch eine eigene, unabhängige berufsschulbezogene Deutschdidaktik zu entwickeln: Es macht mehr Sinn, von einer Didaktik des Deutschun‐ terrichts und der Sprach- und Kommunikationsförderung in der beruflichen Bildung zu sprechen, die ebenso bestimmt wird etwa von der Berufs- und Wirtschaftspädagogik wie von der Deutschdidaktik. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die berufliche Bildung keine ganz eigenen deutschdidaktischen Diskussionen benötigt! Was die Deutschdidaktik zur Diskus‐ sion um die Didaktik des Deutschunterrichts und der Sprachförderung beitragen kann, kann nur die Deutschdidaktik mit ihrer disziplinären Perspektive und linguistischen und sprachdidaktischen Expertise beitragen - aber sie muss dabei offen sein für inhaltliche und (forschungs-)methodische Ansätze aus anderen Disziplinen. Diese interdisziplinäre und institutionenüberschreitende Zusammenarbeit am Thema Sprache und Kommunikation in der beruflichen Bildung zeigt sich an gemeinsamen Tagungen, Publikationen, In‐ ternet-Plattformen (www.berufsbildungssprache.de), Mailinglisten (skibb@kbx7.de), an in‐ terdisziplinären Förderprojekten („Berufssprache Deutsch“ in Bayern) wie v. a. auch an größeren, interdisziplinären Forschungsverbünden wie etwa der Studiengruppe „Deutsch am Arbeitsplatz (DaA)“ (2007-2009) oder dem BIBB -Projekt „Sprachlich-kommunikative Anforderungen in der beruflichen Ausbildung“ (2013-2015), an dem Deutschdidaktiker im Rahmen von interdisziplinären Teams beteiligt waren. Insgesamt lässt sich sagen, dass die berufliche Bildung innerhalb der Deutschdidaktik zwar recht randständig ist, aber mittlerweile wieder einen stabileren Platz eingenommen hat, was etwa die gesonderte Behandlung in einschlägigen Handbüchern (Efing 2017) und die aktuell recht rege Publikation von einschlägigen Sammelbänden belegt - die oft von der Deutschdidaktik herausgegeben werden, aber den Blick weit über die eigene Disziplin hinaus werfen. Auch hat die Deutschdidaktik ihren Blick ausgeweitet weg nur vom Deutschunterricht an beruflichen Schulen hin zu Anforderungen und Fördermöglichkeiten im Betrieb im Rahmen der Aus- und Weiterbildung. Die Diskussion um die Ausrichtung und Lernziele des berufsschulischen Deutschunterrichts scheint zu einem Konsens geführt 49 Die Perspektive der Deutschdidaktik zu haben, da Anforderungsanalysen zeigen, dass zweckgerichtete und zweckfreie Bildung, dass allgemeine und berufliche Bildung und dass demnach auch Persönlichkeitsbildung und Berufsvorbereitung keine sich ausschließenden Gegensätze, sondern eng miteinander ver‐ zahnt sind. Literatur Becker-Mrotzek, Michael/ Kusch, Erhard/ Wehnert, Bernd (2006). Leseförderung in der Berufsbildung. Duisburg: Gilles & Francke. Daase, Andrea/ Ohm, Udo/ Mertens, Martin (Hrsg.) (2017). Interkulturelle und sprachliche Bildung im mehrsprachigen Übergang Schule - Beruf. Münster/ New York: Waxmann. Drommler, Rebecca et al. (2006). Lesetest für Berufsschüler/ innen. LTB-3. Duisburg: Gilles & Francke. Efing, Christian (2017). Deutschunterricht und berufliche Bildung. In: Baurmann, Jürgen/ Kammler, Clemens/ Müller, Astrid (Hrsg.) (2017). 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Von maßgeblicher Bedeutung sind in diesem Arbeitsfeld die integrations- und arbeits‐ marktpolitischen Rahmungen der letzten Jahrzehnte sowie die entsprechenden Fördervor‐ gaben und deren Implikationen für die Praxis. Der Beitrag erfolgt aus der Perspektive der Fachstelle Berufsbezogenes Deutsch, einer Einrichtung im Förderprogramm Integration durch Qualifizierung ( IQ ) 1 , die an dieser Schnittstelle von Wissenschaft, Weiterbildungs‐ praxis und Förderverwaltung arbeitet. 1. Zur Historie des Arbeitsfeldes Berufsbezogenes Deutsch 1.1 Anfänge und Entwicklungen Die Anfänge der Diskussion und Entwicklungen in diesem Arbeitsfeld reichen bis in die 1970er Jahre zurück, eine Zeit, die bis in die 1990er Jahre geprägt war von einer „Auslän‐ derpolitik“, die primär auf Konzepte zur temporären Integration und nicht dauerhaften Partizipation von Migrantinnen und Migranten an Weiterbildung und Beschäftigung aus‐ gerichtet war. Geschah die Anwerbung und Beschäftigung ausländischer Arbeitnehme‐ rinnen und Arbeitnehmer auf dem deutschen Arbeitsmarkt ursprünglich mit dem vorran‐ gigen Ziel, Arbeitsplätze für Geringqualifizierte zu besetzen, bei denen allenfalls ein Weiterbildungsbedarf zum Thema Arbeitsschutz gesehen wurde (Nispel & Szab‐ lewski-Çavuş 1996a), änderte sich dies mit Beginn der 1990er Jahre im Zuge der Verände‐ rungen innerhalb der Gruppe der Zugewanderten (zweite Generation, nachziehende Fa‐ milienangehörige, hohe Zahl an Asylsuchenden) sowie insbesondere vor dem Hintergrund 2 Die VW-Studiengruppe DaA unter Leitung des DIE bestand aus Expertinnen und Experten der Friedrich-Schiller-Universität Jena, den VHS Braunschweig und Ottakring, Wien sowie der Henkel KGaA.s. www.die-bonn.de. 3 Vgl. dazu u. a. den Bericht der Zuwanderungskommission (Zuwanderungskommission 2001: 218-219). des fortschreitenden technischen Wandels in der Arbeitswelt (vgl. Kaufmann 1996). Als Voraussetzung für eine dauerhafte Teilhabe am Erwerbsleben wird nun die Bereitschaft zu einer kontinuierlichen beruflichen Weiterbildung postuliert. Mit dem Forschungsprojekt Berufliche Weiterbildung mit MigrantInnen des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung ( DIE ) wurde von 1992 bis 1995 erstmalig systematisch der Fragestellung nachgegangen, welchen Beitrag die Erwachsenenbildung zur Verbesse‐ rung der Chancen von Migrantinnen und Migranten in der beruflichen Weiterbildung leisten kann (Nispel & Szablewski-Çavuş 1996a). In den Ergebnissen und Praxisempfeh‐ lungen (Nispel & Szablewski-Çavuş 1996b) wird der Vermittlung von berufs- und qualifi‐ zierungsbezogenen Deutschkenntnissen eine entscheidende Bedeutung für die erfolgreiche Teilnahme an beruflicher Weiterbildung beigemessen. Die Frage danach, was „guter“ berufsbezogener Deutschunterricht ist und wie er gestaltet werden muss, um sowohl den kommunikativen Anforderungen des Arbeitsmarktes und des Betriebs als auch der beruflichen Weiterbildung sowie den Lernbedürfnissen der Teil‐ nehmenden gerecht zu werden, fand in der Forschung bis dahin kaum Berücksichtigung. Einen wichtigen Beitrag leistete hier das Projekt „Deutsch am Arbeitsplatz“ des DIE (2007-2011) 2 , dessen Ergebnisse maßgeblich zur Entwicklung der unter Punkt 2 dargelegten Instrumente des berufsbezogenen DaZ-Unterrichts beigetragen haben. Darüber hinaus konnten zentrale Empfehlungen für die Umsetzung des ESF - BAMF -Programms zur berufs‐ bezogenen Sprachförderung ( BAMF 2007) gegeben werden (vgl. Grünhage-Monetti 2010 und 2013, Berg & Grünhage-Monetti 2009). 1.2 Neu-Orientierung im Zuge des Zuwanderungsgesetzes: Programme zur Systematisierung Demografischer Wandel und zunehmender Fachkräftebedarf einerseits und andererseits die Erkenntnis, dass die Teilhabe schon langjährig in Deutschland lebender Migrantinnen und Migranten an Bildung und Beschäftigung vielfach nicht gelungen ist, 3 erforderten An‐ fang der 2000er Jahre neue Regelungen und Instrumente zur Steuerung des Zuzugs und zur nachhaltigen Erwerbsbeteiligung zugewanderter Menschen. Mit Inkrafttreten des Zuwan‐ derungsgesetzes 2005 ging u. a. die Einführung der Integrationskurse als verpflichtendes Instrument zum Deutschlernen einher. Darüber hinaus wurden u. a. mit dem Förderpro‐ gramm IQ bundesweit Strukturen geschaffen, die durch regionale Netzwerke dazu bei‐ tragen, dass die Beratung, Qualifizierung und Arbeitsmarktintegration von Migrantinnen und Migranten befördert werden. Das Förderprogramm IQ hat 2005 berufsbezogenes Deutschlernen als ein zentrales Hand‐ lungsfeld aufgenommen. Dabei kam der jetzigen IQ Fachstelle Berufsbezogenes Deutsch von Beginn an die zentrale Aufgabe zu, bestehende Konzepte und Materialien zu bündeln und der Fachöffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, Praxishandreichungen zu publizieren, 54 Iris Beckmann-Schulz & Jana Laxczkowiak die bundesweite Fachdiskussion zu koordinieren sowie Fortbildungskonzepte für Lehr‐ kräfte in der sprachlichen und beruflichen Weiterbildung zu entwickeln. Im Jahr 2007 wurde mit der Einführung des bundesweiten ESF - BAMF -Programms der besonderen Bedeutung von zweitsprachlicher berufsbezogener Sprachkompetenz für die Teilhabe an beruflicher Qualifizierung und am Arbeitsmarkt seitens der Politik erstmals insofern Rechnung getragen, als flächendeckend Kurse vorgehalten werden, mit denen Personen mit Migrationshintergrund durch die Vermittlung berufsbezogener Deutschkom‐ petenzen der Zugang zu Qualifizierung und zum Arbeitsmarkt erleichtert werden soll. Mit Inkrafttreten der neuen Verordnung über die berufsbezogene Deutschsprachförderung (DeuFöV) auf der Grundlage des § 45a Aufenthaltsgesetz startete im Juli 2016 ein erstmalig aus Bundesmitteln finanziertes regelhaftes Programm zum Berufsbezogenen Deutsch. Vor‐ gesehen ist u. a. die Verknüpfung arbeitsmarktpolitischer Instrumente mit den berufsbezo‐ genen Sprachmodulen des Programms. Bildungspolitisch ist dies ein Meilenstein; ob diese Verzahnung aber im Sinne eines integrierten Ansatzes von Fach- und Sprachlernen (s. Punkt 3) gelingt, wird maßgeblich von der Gestaltung der Rahmenbedingungen und Fördervor‐ gaben abhängen. 2. Instrumente zur Planung und Durchführung von berufsbezogenem DaZ-Unterricht Zu den zentralen Aufgaben der Fachstelle gehört es, die Qualität von Deutschlernangeboten zu verbessern, indem u. a. Instrumente und Handreichungen für die Bildungspraxis entwi‐ ckelt bzw. deren Einsatzmöglichkeiten im berufsbezogenen Deutschunterricht diskutiert werden. Im Folgenden werden die gegenwärtig zentralen Instrumente zur Planung und Umsetzung von Angeboten skizziert. 2.1 Qualitätskriterien für den berufsbezogenen Unterricht Deutsch als Zweitsprache Berufs- und arbeitsplatzbezogene Sprachkurse haben zum Ziel, die Teilhabe an betriebli‐ chen Arbeits- und Kommunikationsprozessen und beruflicher Weiterbildung zu verbes‐ sern. Dafür ist die Bearbeitung und Vermittlung von Sprachhandlungen essentiell, die not‐ wendig sind für den Zugang zum Arbeitsmarkt (z. B. sich bewerben, sich vorstellen), zur Informationssicherung, -verarbeitung und -weitergabe (z. B. Nachfragen zur Sicherung des Verständnisses und zu Hintergrundinformationen), zur Etablierung von sozialen Netz‐ werken am Arbeitsplatz und zur Teilhabe an betrieblichen Prozessen (sich einbringen in Pausengespräche, sich beschweren), zur Bewältigung mündlicher und schriftlicher Inter‐ aktionssituationen (z. B. beschreiben, verhandeln, dokumentieren, Störungen melden) (Beckmann-Schulz & Kleiner 2011: 12). Eine weitere zentrale Aufgabe berufsbezogener Deutschkurse ist es, die für den Erwerb (fach-)sprachlich-kommunikativer Kompetenzen erforderlichen Lerntechniken und Methodenkompetenzen zu vermitteln (Beck‐ mann-Schulz & Bethscheider 2013: 6). Um diesen vielfältigen Aufgaben in der Umsetzung von Lernangeboten begegnen zu können, wurden im Förderprogramm IQ Qualitätskriterien für den berufsbezogenen Deutsch‐ unterricht entwickelt, die als Instrument zur Planung, Umsetzung und Evaluation von An‐ 55 Das Arbeitsfeld Berufsbezogenes Deutsch - DaZ-Lernen in der beruflichen Weiterbildung 4 Zur Sprachstandsfeststellung im Arbeitsfeld Berufsbezogenes Deutsch siehe u. a. die Dokumentation des Fachtags „Berufsbezogene Sprachkompetenz feststellen, fördern & zertifizieren“ am 28. 11. 2013 (Fachstelle Berufsbezogenes Deutsch im Förderprogramm IQ 2014), insb. den Beitrag von Schramm. geboten dienen. Sie basieren auf den Prämissen der Handlungs-, Teilnehmer- und Bedarfs‐ orientierung, die jeweils für unterschiedliche Angebotstypen in Fragenkataloge aufgeschlüsselt sind und zur Entwicklung und Sicherung einer Mindestqualität der Bildungs‐ angebote beitragen. Zentrales Instrument zur Ermittlung der teilnehmer- und kursrelevanten berufsbezo‐ genen sprachlich-kommunikativen Anforderungen ist die Sprachbedarfsermittlung. 2.2 Sprachbedarfsermittlung Eine teilnehmer- und bedarfsorientierte Planung und Durchführung berufsbezogener DaZ-Angebote setzt im Vergleich zu allgemeinsprachlichen Deutschkursen eine intensive Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen der Teilnehmenden sowie deren jeweiligen beruflichen Bedarfslagen voraus. Im deutschsprachigen Raum spielten Konzepte der Sprachbedarfsermittlung bis dato allenfalls in betrieblichen und wissenschaftlichen Zusam‐ menhängen eine Rolle (Weissenberg 2012, vgl. auch Haider 2008, Maurer 2010, Szablewski- Çavuş 2009, im Kontext von Ausbildung Efing 2010 und Settelmeyer 2015). Weissenberg hat mit dem Praxis-Leitfaden Sprachbedarfsermittlung im berufsbezogenen Unterricht DaZ ein Instrument zur Ermittlung von sprachlichen und kommunikativen Bedarfen für die Planung und Unterrichtsgestaltung berufsbezogener DaZ-Kurse entwickelt (Weissenberg 2012). 2.3 Die Szenario-Methode im berufsbezogenen Unterricht Deutsch als Zweitsprache Mit der gleichnamigen Handreichung (Eilert-Epke & Sass 2014) werden die bisher in der Praxis entwickelten Lernszenarien in ein Gesamtkonzept für den Unterricht eingebettet und Anleitungen für die Erstellung und Anwendung von Szenarien gegeben. Darüber hi‐ naus leitet die Handreichung zu einer zyklischen Kursplanung und -umsetzung an, bei der auf der Grundlage der Kann-Beschreibungen des Gemeinsamen Europäischen Referenz‐ rahmens ( GER ) die Szenario-Methode u. a. zur Lernfortschrittsmessung eingesetzt wird (vgl. ebd. 2014: 24). Der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen ( GER ) (Sheils 2001) hat sich seit seiner Einführung 2001 weitgehend als normatives Bezugssystem für die Niveauzuordnung und Leistungsmessung 4 durchgesetzt. Für den berufsbezogenen Spracherwerb verweist Kuhn sowohl auf die Unzulänglichkeiten dieses Instruments in Bezug auf die authentische Sprachverwendung im Arbeitsalltag (Kuhn 2014: 234) als auch auf dessen Rolle bei der be‐ rufsbezogenen Bedarfs-, Material- und Unterrichtsplanung (Kuhn 2007: 251). Darüber hi‐ naus gibt sie Empfehlungen zu zusätzlichen Konzepten und Instrumenten (Profile Deutsch, Arbeitsplatz Europa), um bestehende Lücken zu füllen. 56 Iris Beckmann-Schulz & Jana Laxczkowiak 3. Erweiterung der Instrumente zum berufsbezogenen DaZ-Lernen: der Ansatz des Integrierten Fach- und Sprachlernens (IFSL) 3.1 Integrative Ansätze der Sprachförderung in beruflicher Weiterbildung Die geförderte berufliche Weiterbildung hat die Aufgabe, die Chancen auf eine Arbeits‐ marktintegration zu verbessern. Jedoch ist die Teilhabe von Migrantinnen und Migranten an beruflicher Weiterbildung geringer als die von Personen ohne Zuwanderungsgeschichte (vgl. Bethscheider et al. 2010: 3, BMBF 2013: 12). Vor diesem Hintergrund und der Erkenntnis, dass die in allgemeinsprachlichen Kursen erworbenen Deutschkenntnisse für die spezifi‐ schen sprachlichen Anforderungen in beruflicher Weiterbildung häufig nicht ausreichen (vgl. Bethscheider et al. 2010, Ohm 2010 und 2014, Kimmelmann 2010), entstanden Kon‐ zepte, die sprachliches und fachliches Lernen miteinander verzahnen: Das Positionspapier Weiterbildungsbegleitende Hilfen (WbH) empfiehlt bspw., sprachliche Förderung als Kernaufgabe in der beruflichen Aus- und Weiterbildung zu verankern (Beth‐ scheider et al. 2010). WbH werden beschrieben als ein flankierender sprachsensibler För‐ derunterricht in Kleingruppen, der sich auf fachliche Inhalte bezieht und individuelle Un‐ terstützungsbedarfe der Teilnehmenden aufgreift. In der beruflichen Weiterbildungspraxis hat sich insbesondere der Begriff der Integrierten Sprachförderung durchgesetzt, der jedoch nicht einheitlich konzeptuell hinterlegt ist. Es handelt sich dabei häufig um additive Sprachkursangebote, die einer fachlichen Qualifizie‐ rung entweder vorgeschaltet, nachgeschaltet oder begleitend angeboten werden. Im Sinne eines integrativen Ansatzes wird auf unterschiedliche Weise versucht, diese Angebote mit den fachlichen Lerninhalten zu verknüpfen. Erfahrungen mit solchen Konzepten sind nur teilweise erfasst (vgl. z. B. Pinkert et al. 2012). Der Ansatz eines sprachsensiblen oder sprachaufmerksamen Fachunterrichts (vgl. Leisen 2010, Schmölzer-Eibinger et al. 2013) wurde ursprünglich für die allgemeinbildende Schule entwickelt und fand in den letzten Jahren Eingang in die berufliche Weiterbildung. Im sprachsensiblen Fachunterricht werden fachrelevante sprachliche Lernziele explizit geför‐ dert und von entsprechend fortgebildeten Fachlehrenden umgesetzt (s. Punkt 4 sowie den Beitrag F: Niederhaus, S. 485 in diesem Band). 3.2 Berufliche Weiterbildung im Kontext von Anerkennungsverfahren: Der Ansatz des Integrierten Fach- und Sprachlernens (IFSL) Die Fachstelle hat es sich zur Aufgabe gemacht, die in Punkt 2 genannten qualitätssi‐ chernden Instrumente durch die Entwicklung eines Konzeptes zu erweitern, das einen be‐ rufs(feld)spezifischen sprachlichen Kompetenzerwerb eng mit fachlichen Lernzielen ver‐ zahnt. Der Bedarf einer konsequenten Verzahnung ergibt sich aus der Situation erwachsener DaZ-Lernender in der beruflichen Weiterbildung. Seit 2015 werden im Förderprogramm IQ vor dem Hintergrund des Gesetzes zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen Qualifizierungsmaßnahmen durchgeführt, die auf berufliche Anerkennung zielen und teilweise (z. B. in Pflegeberufen) mit der Anforde‐ rung verbunden sind, ein bestimmtes Sprachniveau zu erreichen. Oftmals bildet hier das allgemeinsprachliche Niveau jedoch nur unzureichend die Sprachkompetenzen ab, die für 57 Das Arbeitsfeld Berufsbezogenes Deutsch - DaZ-Lernen in der beruflichen Weiterbildung 5 Der Begriff des Integrierten Fach- und Sprachlernens (IFSL) ist im Arbeitskontext der Fachstelle Be‐ rufsbezogenes Deutsch entstanden und wurde hergeleitet vom englischen Akronym CLIL, das für Content and Language Integrated Learning steht und als Integriertes Sprach- und Fachlernen (auch bilinguales Sachfachlernen, Sudhoff 2011: 1) übersetzt wird. Der Begriff steht international als Ober‐ begriff für Unterrichtskonzepte, die Fremdsprachenunterricht mit Sachunterricht verschränken (vgl. Haataja 2007). Während der Ansatz des Integrierten Sprach- und Fachlernens das Fremdsprachen‐ lernen zum Ausgangspunkt für Ziele und Methodik nimmt, zielt Integriertes Fach- und Sprachlernen auf die Bewältigung beruflicher Qualifizierungsanforderungen durch die Einbindung sprach‐ lich-kommunikativer Lernziele. erfolgreiches berufliches Handeln notwendig sind. Hinzu kommt, dass das Lernen in diesen Qualifizierungsmaßnahmen zunehmend individualisierter abläuft: Lerninstrumente, Lern‐ orte und Organisationsformen werden flexibler, Lernziele werden auf Einzelne oder kleine Gruppen mit speziellen Bedürfnissen ausgerichtet. Diese besonderen Lernbedarfe werden durch das Konzept des Integrierten Fach- und Sprachlernens 5 aufgegriffen. Es fußt auf der Annahme, dass passgenaue sprachlich-kommunikative Kompetenzen ein professionelles Handeln im Beruf ermöglichen. Aufgabe des IFSL ist somit, bedarfsgerechte Unterstützungsangebote zum weiterführ‐ enden Deutschlernen in beruflicher Qualifizierung zu gestalten. In der Umsetzung heißt das, sprachliche Kompetenzen als zentralen Teil beruflicher Handlungsfähigkeit zu ge‐ wichten, als Konsequenz daraus fachliches und sprachliches Lernen gleichberechtigt mit‐ einander zu verzahnen und die Lernplanung interdisziplinär zu gestalten. Dabei verstehen wir den Begriff IFSL als Schirmbegriff, der unterschiedliche Deutsch‐ lernangebote im Rahmen beruflicher Qualifizierungen umfasst. Das sind zum einen flan‐ kierende Angebote wie DaZ-Kurse, digitale Lernangebote (vgl. Moodle-Kurs „Kommuni‐ kation in der Pflege“, VHS Main-Taunus-Kreis), individuelles Sprachcoaching (vgl. Kaplinska-Zajontz 2015), Tutorials oder Sprachpatenschaften (vgl. Dimpl & Feger 2014). Zum anderen bieten sich inklusive Formate an, wie ein sprachsensibler Fachunterricht (vgl. Kimmelmann et al. 2014) oder auch Team-Teaching von Fach- und Sprachlehrenden (vgl. Scheerer-Papp 2015). Diese Instrumente können abhängig von den Rahmenbedingungen, Qualifizierungszielen und Bedürfnissen der Lernenden bedarfsgerecht, flexibel und indi‐ viduell miteinander kombiniert werden. Der hier grob skizzierte Ansatz bedarf jedoch noch einer differenzierten Ausgestaltung mit folgenden Aufgaben für die Zukunft: • Interdisziplinäre Teamprozesse gestalten. • Instrumente (weiter)entwickeln. • Auf der Grundlage vorliegender Rahmenkonzepte (vgl. BAMF 2017), Handbücher (vgl. z. B. Günter et al. 2013) oder Projektdokumentationen (vgl. z. B. Cehak-Behr‐ mann & Schulz 2014) weitere berufsspezifische Lehr-Lern-Materialien entwickeln. • Alle Beteiligten müssen durch geeignete Schulungsformate auf ihre Aufgaben vor‐ bereitet und im Prozess unterstützt werden. 58 Iris Beckmann-Schulz & Jana Laxczkowiak 6 Informationen zu beiden Projekten der IQ Fachstelle s. http: / / www.deutsch-am-arbeitsplatz.de. 4. Professionalisierung von Lehrkräften im Arbeitsfeld Berufsbezogenes Deutsch Um den Qualitätskriterien für berufsbezogenen DaZ-Unterricht gerecht zu werden, ist die Fortbildung des Lehrpersonals essenziell (vgl. Daase & Stallbaum 2010, Beckmann-Schulz & Kleiner 2011). Aufgrund der Heterogenität von Zielvorgaben und Lerngruppen erfordert das Unterrichten in berufsbezogenen Deutschkursen und integrativen Deutschlernange‐ boten über die Qualifizierung im Bereich DaZ hinaus zusätzliche methodische und didak‐ tische Fertigkeiten sowie das Bereitstellen von Materialien. Das IQ Förderprogramm über‐ nimmt hier seit 2009 die praxisbegleitende Weiterbildung u. a. der im ESF - BAMF -Programm tätigen DaZ-Lehrkräfte. Die Gruppe der Fachlehrkräfte in beruflicher Qualifizierung ist weitaus heterogener. Sie umfasst alle Personen, „die berufliches Wissen vermitteln, in berufliche Tätigkeiten ein‐ führen bzw. anleitend tätig sind“ (Kimmelmann et al. 2014: 5). Kurse mit Teilnehmenden unterschiedlicher Herkunftssprachen, Sprachniveaus und Lernerfahrungen stellen diese Lehrkräfte ebenfalls vor hohe Anforderungen im Bereich DaZ. Kimmelmann et al. (2014) haben im Rahmen des Forschungs- und Entwicklungsprojektes SpraSiBeQ - Sprachsensibilisierung für Fachlehrende in beruflicher Qualifizierung ein Rah‐ mencurriculum entwickelt, das zehn Kompetenzbereiche beschreibt. Ziel war es, Kompe‐ tenzen von Fachlehrkräften zu modellieren, die notwendig sind, um sprachlich sensibel auf Lernende eingehen zu können. Der Entwicklung ging eine Bedarfserhebung voraus, sodass hiermit eine wichtige wissenschaftliche Grundlagenarbeit für die Entwicklung von Schu‐ lungsangeboten geleistet wurde. Ein weiteres Ziel des Projektes wurde mit der Konzeption und Erprobung von drei Mo‐ dulen zur berufsübergreifenden Sprachsensibilisierung von Fachlehrkräften verwirklicht. In einem Anschlussprojekt Integriertes Fach- und Sprachlernen in beruflicher (Anpas‐ sungs-)Qualifizierung wurden für ausgewählte Berufsfelder weitere Fortbildungsmodule für Lehrkräfte entwickelt (Projektdauer 2015-2017). 6 Für die Verzahnung von Sprachlernangeboten und beruflicher Qualifizierung benötigen beide Gruppen von Lehrkräften übergreifende Kompetenzen des kooperativen Arbeitens. Gemeinsam geht es darum, fachliche und sprachliche Lernziele zu ermitteln, curricular zu verknüpfen und in enger Abstimmung die methodische Umsetzung zu planen und durch‐ zuführen. Die größte Herausforderung eines solchen interdisziplinären Arbeitens besteht in den Rahmenbedingungen, wie z. B. die meist institutionelle Trennung von Deutsch‐ kursen und Angeboten beruflicher Weiterbildung, die freiberufliche Tätigkeit sowohl von DaZals auch von Fachlehrkräften und die fehlenden Ressourcen für Planungs-, Abstim‐ mungs- und Teambildungsphasen. 5. Handlungsbedarfe Zusammenfassend bestehen aus unserer Sicht folgende Handlungsbedarfe im Arbeitsfeld Berufsbezogenes Deutsch: 59 Das Arbeitsfeld Berufsbezogenes Deutsch - DaZ-Lernen in der beruflichen Weiterbildung • Weitere systematische Evaluationen von Deutschlernangeboten • Weitere Analysen berufsspezifischer sprachlich-kommunikativer Anforderungen • Entwicklung von weiteren Rahmenkonzepten zu berufsspezifischen Deutschlern‐ angeboten und von entsprechenden Lehr-Lern-Materialien sowie digitalen Lernan‐ geboten • Entwicklung von Qualitätskriterien des Integrierten Fach- und Sprachlernens • Weiterentwicklung und Erprobung der Szenario-Methode als Instrument der Lern‐ fortschrittsmessung • Entwicklung innerbetrieblicher Deutschlernangebote • Forschung zu Anforderungen an Teilnehmende, Fachlehrende, DaZ-Lehrkräfte, be‐ triebliche Akteure • Weiterentwicklung von flächendeckenden Fortbildungsangeboten für DaZ- und Fachlehrkräfte • Integration des Berufsbezogenen Deutsch in DaZ-Studiengänge Literatur BAMF (2007). 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Sprach- und Kulturkompetenz hängen insofern zusammen, als die kognitive Erschlie‐ ßung, die Artikulation und Konstruktion von Welt primär über den Erwerb und die An‐ wendung von Sprache erfolgen (Oomen-Welke 2008: 479 f.) und auch die persönliche Iden‐ tität eines jeden Menschen großenteils über sprachliche und kulturelle Vermittlung konstruiert wird (ebd.: 480). Das Zusammentreffen und die Auseinandersetzung mit (einer) fremden Sprache(n) bedeuten somit eine Infragestellung, aber auch eine Erweiterung der eigenen kulturellen Identität. In realen Kommunikationssituationen wird kulturelle Diversität von den Interaktanten oft erst dann wahrgenommen, wenn Verständigungsprobleme auftauchen. In einer explo‐ rativen Studie über multikulturelle Pflegeteams wird festgestellt, dass von migrationsbe‐ dingten sprachlichen Schwierigkeiten nicht nur hetero-, sondern auch autostereotype Fremdheitszuschreibungen abgeleitet werden (Stagge 2016: 186 f.). So neigen Pflegekräfte mit Zuwanderungsgeschichte dazu, sich wegen begrenzter Sprachkenntnisse „isoliert, so‐ zial ausgegrenzt, gestresst und nicht ernst genommen“ sowie „bei Aufstiegsmöglichkeiten benachteiligt“ zu fühlen (ebd.: 133), wobei sie als Grund für die Benachteiligung oft ihre Hautfarbe oder ethnische Herkunft annehmen. Über solche Mitgliedschaftskategorisie‐ rungen werden Differenzen konstruiert, die in der Realität möglicherweise nicht vorhanden sind und dennoch - schon durch die aufgebauten Erwartungshaltungen - wirkungsmächtig das Handeln der Interaktanten beeinflussen können. Dass interkulturelle Kompetenz eine professionelle Schlüsselqualifikation ist, zeigt auch die Auswertung von 45 am 7. 10. 2016 in den Jobbörsen „Kimeta“ und „indeed“ erschienenen Stellenanzeigen, in denen „interkulturell“ bzw. „Interkulturalität“ vorkommt. Davon fällt eine Stelle in den Bereich „Öffentlichkeitsarbeit“, fallen je zwei in „Kultur“, „Schulverwal‐ tung“, „Büro“ und „Pflege“, je drei in „Soziales (kirchlich)“, „(Sozial-)Pädagogik“ und „Wis‐ senschaftliche Forschung und Lehre“, je vier in „Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht“ und „Öffentlicher Dienst“, fünf in „Soziales (gemeinnützig)“ sowie 14 in die sog. kommu‐ nikationsarmen Bereiche der „Wirtschaft und Industrie“ (Entwicklungsingenieur, IT -Spe‐ zialist, Produktmanager u. a. m.). Entsprechend rasant vergrößert und erweitert hat sich das Angebot an interkulturellen Trainings, Coachings, Consultings und Mentorings (Kinast 2005: 182, Ang-Stein 2015: 19). Dabei geht es nicht mehr nur um die personalisierte Vorbe‐ reitung von Beschäftigten großer Unternehmen und Non-Profit-Organisationen auf Ar‐ beitseinsätze im Ausland, sondern auch um die Vorbereitung ganzer Institutionen (Schulen, Ämter, Firmen etc.) auf multikulturelle Kontexte als ubiquitäre Alltagsrealität. 2. Interkulturalität und Kultur Seit Johann Gottfried von Herders in seinen geschichtsphilosophischen „Ideen zur Philo‐ sophie der Menschheit“ (1784-1791) dargelegter essentialisierender Vorstellung von dem Eigenwert einer jeden Volkskultur, der ein je spezifischer Volksgeist innewohne, haben sich zahlreiche Kultur- und Interkulturalitätsbegriffe herausgebildet, die in unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen Systematisierungen (etwa Casper-Hehne 1999, Bolten 2012, Ang-Stein 2015: 105-139 u. v. a. m.) typologisiert wurden. Was im aktuellen Fachdiskurs konsensual nicht (mehr) als Interkulturalität verstanden wird, fasst Bolten (2016: 77 f.) zu‐ sammen: zum einen das Beharren auf Objektivitätsbehauptungen und Substanzverständ‐ nissen von Kultur, Homogenitätsprämissen, monokausalen Erklärungen von kulturellen Entwicklungen sowie auf einem Interkulturalitätskonstrukt als eigenständigem „Drittem“ (A + B = C); zum anderen die Reduktion von Interkulturalität auf Binärkonstruktionen, nationalkulturelle Bezüge, sog. Kulturvergleiche sowie auf sog. interkulturelle Missvers‐ tändnisse und Krisen. Jüngere Interkulturalitätsdefinitionen basieren auf einem sozialkonstruktivistischen, wissens- und bedeutungsbasierten Kulturbegriff, der Kulturen als dynamische, nach außen offene und nach innen differenzierende diskursive Konstruktionen versteht und grund‐ sätzlich von kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten und Netzwerkorientierungen des Indi‐ viduums ausgeht. Der Paradigmenwechsel von einem monokulturell angelegten Kultur‐ verständnis hin zu einem hybriden, prozessualen lässt sich am besten an den Begriffen „Kohärenz“ und „Kohäsion“ veranschaulichen. Das Kohärenzparadigma basiert auf der Vorstellung von kultureller Homogenität und damit von Merkmalskongruenz zwischen dem Individuum und dem meist national definierten Primärkollektiv (Rathje 2009: 92-94). Das Kohäsionsparadigma hingegen nimmt Diversität, Heterogenität, Divergenzen und Wi‐ dersprüche als kulturelle Gegebenheit an und sucht nach dem Verbindenden und Gemein‐ schaftsstiftenden als stabilisierenden Faktoren. Geht man von der „Multikollektivität des Einzelnen“ (Hansen 2000), d. h. der netzwerkartigen Mehrfachverortung von Individuen in zahlreichen lokalen, nationalen und inter-/ transnationalen Kollektiven, aus, so stellt die Berufstätigkeit eine organisationale Kollektivmitgliedschaft dar, bei der weitere Kollektiv‐ konstellationen zusammentreffen (Gewerkschaften, Abteilungen, Arbeitsgruppen, Perso‐ nalrat, Geschäftspartner etc.). Maßgebender Kohäsionsfaktor für den Zusammenhalt zwi‐ schen Kollektiven (nicht trotz, sondern wegen der inhärenten Differenzen) ist neben den für alle geltenden Gesetzen und übergeordneten Institutionen eine gemeinsame Sprache, die das Fundament für die Reziprozität des kommunikativen Handelns innerhalb eines Kollektivs und zwischen den Kollektiven bildet, ohne das eine gegenseitige Anerkennung 64 Annegret Middeke nicht möglich wäre. Die differenztheoretische Idee von der Bekanntheit und Normalität kultureller Differenzen als Bestandteil sozialer Praktiken lässt sich auf das gesamte Feld der interkulturellen Berufskommunikation übertragen (z. B. Rathje 2006, 2009, 2010, Bolten 2007, 2016). 2.1 Transkulturalität und Kulturspezifik Transkulturalität und Interkulturalität werden häufig synonym verwendet oder als Kon‐ kurrenzkonzepte behandelt, wie es der Urheber des Begriffs „Transkulturalität“, Wolfgang Welsch (1994), selbst tut, wenn er Interkulturalität auf überwundene Kohärenzparadigmen reduziert. Er überträgt den philosophischen Begriff „Transversalität“ auf die Kulturtheorie und betont das Hindurchgehen „durch die klassischen Kulturgrenzen“ (ebd.: 28). Bauer (2015) schlägt vor, den Begriff „Transkulturalität“ für jene Räume und Produkte vorzube‐ halten, die kulturell nicht markiert sind, etwa Dinge und Orte „‚außerhalb‘ kulturspezifi‐ scher Deutungsmuster“ wie Flughäfen, internationale Hotelketten, Supermärkte etc. (ebd.: 202 f.). Transkulturalität steht in enger Verbindung mit Internationalisierungs- und Globa‐ lisierungsprozessen und ist eine zentrale Kategorie in Corporate Identity-Strategien inter‐ nationaler Unternehmen, bei denen mit dem Ziel der Alleinstellung im globalen Markt der Markenkern in maximalem Umfang auf eine gemeinsame, transkulturelle semantische Ko‐ dierung reduziert wird. Die realen die Kommunikationsprozesse in transnationalen Unternehmen hingegen zeichnen sich trotz einzelner pankollektiver Klammern durch Disparität und Differenzen aus (Rathje 2010: 19). Vor dem Hintergrund der mangelnden Umsetzbarkeit des Kohärenz‐ prinzips zeigt sich, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl von Gruppen nicht durch An‐ passung und Cultural Fit, sondern durch die Aktivierung differenzerhaltender Dynamiken entsteht, da dies ein Klima der gegenseitigen Anerkennung und Wertschätzung ermöglicht. Als Gegenreaktion auf die globalen, transkulturellen Homogenisierungstendenzen und die damit einhergehende schwindende Rückversicherung der individuellen Identität in re‐ gionalen oder nationalen Kulturmustern (Bauer 2015: 208) kommt es zu neuen, partikula‐ ristischen Ausdifferenzierungen der eigenen kulturellen Identität. Die verstärkte Reakti‐ vierung von autokulturellen Wahrnehmungs- und Handlungsmustern in transkulturellen Kontexten nennt Bauer „katakulturell“. Katakulturelle Rückgriffe auf regionale, nationale und ethnische Stereotype findet man häufig in der Werbung, weshalb eine Vielzahl von Werbeskandalen auf interkulturelle Problematiken zurückgeht, seien es ungeschickte Pannen oder strategisch geplante kulturelle Tabubrüche. In der interkulturellen Berufskommunikation spielt Kulturspezifik bzw. kulturspezifi‐ sches Wissen dann eine wichtige Rolle, wenn es um die national- und regionalspezifischen rechtlichen, ökonomischen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen von Berufsfel‐ dern, Berufen und Arbeitsplätzen geht. Berufsprofile divergieren im internationalen Ver‐ gleich, was Zugangsbedingungen, Ausbildungswege und -inhalte, zu erwerbende Qualifi‐ kationen und Abschlüsse, aber auch was die Verdienstmöglichkeiten und das Sozialprestige anbelangt. Ein Übersetzungsinstrument zur Förderung der Komparabilität von Qualifika‐ tionen in Europa und der europaweiten Mobilität von Lernenden und Berufstätigen stellt der „Europäische Qualifikationsrahmen“ ( EQR ) dar. Der „Deutsche Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen“ ( DQR )“ ist die nationale Umsetzung des EQR , in welchem es um 65 Die Perspektive der Interkulturalitätsforschung die Besonderheiten des deutschen Bildungssystems bezogen auf die allgemeinen Deskrip‐ toren des EQR geht. Auch über „weiche“ Faktoren wie Arbeitsorientierung und -einstellung (Kern 2004), Leistungsmotivation (Storch 2012), Arbeitszufriedenheit (Bosau 2009) u. v. a. m. liegen datenbasierte Forschungsarbeiten vor, bei denen es sich i. d. R. um kulturkontrastiv angelegte Ländervergleiche handelt, die das jeweils Kulturspezifische hervorheben. 2.2 Interkulturelle Kompetenz und ihre Messung Maßgebende Impulse zur Erforschung von interkulturellen Kommunikationsprozessen im Berufs- und Arbeitsleben kommen aus der Kontakt- und der interaktionalen Soziolinguistik, die sich ab den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts verstärkt mit Kommunikationsschwierig‐ keiten der sog. Gastarbeiter beschäftigte und primär problembasiert war. Neutraler defi‐ nieren zu dieser Zeit Knapp/ Knapp-Potthoff (1990: 66) „Interkulturelle Kommunikation“ als „interpersonale Interaktion zwischen Angehörigen verschiedener Gruppen, die sich mit Blick auf die ihren Mitgliedern jeweils gemeinsamen Wissensbestände und sprachlichen Formen symbolischen Handelns unterscheiden“. Dieser frühen Definition liegt bereits der hybride Kulturbegriff zugrunde, nach dem jede Kommunikation (potentiell) interkulturell ist. Ebenso vielfältig wie die Kultur- und Interkulturalitätskonstrukte sind die Definitionen von interkultureller Kompetenz. Es kursieren zahlreiche alternative Begriffe wie interkul‐ turelle kommunikative Kompetenz, interkulturelle Handlungskompetenz, interkulturelle Kommunikationsfähigkeit, interkulturelle Sensibilität, interkulturelles Bewusstsein, inter‐ kulturelle Bewusstheit, (inter-)kulturelle Intelligenz, internationale Kompetenz (vgl. z. B. Thomas et al. 2005, Otten et al. 2007, Barmeyer & Bolten 2010, Moosmüller 2009), die sich oft nur in ihren Schwerpunktsetzungen unterscheiden oder aber synonym verwendet werden. Inhaltlich beschrieben wurde interkulturelle Kompetenz zunächst als Summe von Teil‐ kompetenzen wie z. B. Empathie, Rollendistanz, Respekt vor kultureller Vielfalt u. a., die in Merkmallisten zusammengefasst wurden. Eine systematische Zuordnung der Teilkompe‐ tenzen in kognitive, affektive und konative Teilkonstrukte leistet das sog. Strukturmodell. Dieses wurde ergänzt um den prozessualen Aspekt der synergetischen Interdependenz der in den Listen genannten Wissensbestandteile, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Einstellungen und Motive, da diese ohne deren funktionierendes Zusammenwirken nur eine Ressourcenbasis bilden. Interkulturelle Kompetenz bezeichnet Bolten (2007: 27) als „anwendungsbezo‐ gene[n] Spezialfall allgemeiner Handlungskompetenz“, der sich wie folgt darstellen lässt: 66 Annegret Middeke Abb. 1: Interkulturelle Kompetenz als „Spezialfall allgemeiner Handlungskompetenz“ (Bolten 2007: 27) Interkulturelle Handlungskompetenz als transversale Orientierungskompetenz ist aber nicht nur „ein Spezialfall“, sondern bildet im Zuge der Internationalisierung aller Lebens‐ bereiche auch die Voraussetzung für die Wirksamkeit anderer - fachlicher, sprachlicher, strategischer und weiterer - Handlungskompetenzen in interkulturellen Berufskontexten (Rathje 2006: 9, Hammerschmidt 2010: 218 f., Bolten 2012: 126-130). Sie umfasst sowohl kul‐ turspezifische Kenntnisse der jeweiligen Rahmenbedingungen als auch kulturübergrei‐ fende Verständigungskompetenzen. Berufsbezogene interkulturelle Kompetenz kann als berufsfeldadäquate Diskurs- und Handlungsfähigkeit in interkulturellen Kommunikati‐ onssituationen (Middeke 2014: 162) zusammengefasst werden, die dazu beiträgt, im Berufs‐ alltag Normalität zu stiften und Kohäsion zwischen den auf dem Berufsfeld (inter-)agier‐ enden Kollektiven zu erzeugen. Zwecks Entwicklung von Instrumenten und Maßnahmen zur bedarfsökonomischen För‐ derung von interkultureller Kompetenz wurden Messungen zur Feststellung des Ist-Zu‐ standes erforderlich. Die Messbarkeit von interkultureller Kompetenz ist aufgrund feh‐ lender psychometrischer Gütekriterien umstritten, wohingegen Konsens darüber herrscht, dass interkulturelle Kompetenz sich bei unbegleitetem Kulturkontakt nicht automatisch entwickelt, sondern einer reflexiven und (bei Kindern und Jugendlichen) einer pädagogi‐ schen Unterstützung bedarf. Zur Kompetenzbeschreibung wurde in dem von der EU ge‐ förderten INCA -Projekt (Intercultural Competence Assessment, 2001-2003) nach dem Vor‐ bild des „Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen“ ein interkultureller Referenzrahmen entwickelt, der eine Einstufung in niedrige, mittlere, hohe Kompetenz nachfolgenden Profilen vorsieht: I) Ambiguitätstoleranz, II ) Verhaltensflexibilität, III ) Kom‐ 67 Die Perspektive der Interkulturalitätsforschung munikationsbewusstsein, IV ) Wissenserwerb, V) Offenheit gegenüber anderen Kulturen, VI Empathie). Die textbasierten Kompetenzbeschreibungen („can do“) erfolgen anhand von drei Testarten: Fragebögen, Szenarios und Rollenspiele. Zielgruppen sind laut Inca Asses‐ sorenhandbuch (2004: 4) alle Berufstätigen von den Lehrlingen und Angestellten (zwecks Förderungen der individuellen Mobilität in einem globalen Arbeitsumfeld) bis zum Arbeit‐ geber in der Industrie (zwecks Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit). Prinzipiell können die Messverfahren interkultureller Kompetenz subjektiv wie objektiv sein, sich auf Selbst- oder Fremdeinschätzung oder auf empirische Beobachtungsverfahren stützen, sie können kulturspezifisch oder kulturallgemein, status- oder förderdiagnostisch sowie punktuell oder systemisch angelegt sein (Over et al. 2008: 76). Bei den punktuellen geht es um die Beurteilung einzelner Teilmerkmale wie z. B. Empathiefähigkeit, Ambigui‐ tätstoleranz, Rollendistanz u. a., bei den systemisch-prozessualen um das ausgewogene Zu‐ sammenspiel aller Teilkompetenzen in interkulturellen Handlungskontexten (Bolten 2007: 28-31). Unter den fünf gängigen Methoden (Over et al. 2008: 70-77) der Messung von interkultureller Kompetenz - Fragebogenverfahren, Kognitive Strukturtests, Critical-Inci‐ dent-Methode, Repertory Grid, Assessment-Center - ist letztere die bekannteste und am weitesten verbreitete (Kinast 2005: 168, Stumpf 2007). Interkulturelle Assessment Center können eignungsdiagnostisch, z. B. für Stellenbesetzungen, oder förderdiagnostisch, z. B. in multikulturellen Schulen, angewendet werden. 3. Interkulturelles Lernen Maßnahmen zur Förderung von interkultureller Kompetenz waren lange Zeit auf den ter‐ tiären Bildungsbereich beschränkt (Göbel & Buchwald 2008: 115), etwa auf die Vorbereitung auf Arbeitseinsätze im Ausland, werden aber zunehmend zur Unterstützung von kultur‐ sensibel angemessenem Professionshandeln in multikulturellen Arbeitskontexten im In‐ land genutzt (Kinast 2005: 182). Zu den Maßnahmen interkultureller Kompetenzentwick‐ lung „on the job“ zählen interkulturelle Mentorings und Coachings, zu denen „off the job“ interkulturelle Trainings und Consultings. Aber auch im Fremdsprachenunterricht mit be‐ rufsvorbereitenden, -begleitenden und -qualifizierenden Kurszielen spielt Interkulturalität eine zentrale Rolle. 3.1 Interkulturelle Trainings, Consultings, Mentorings, Coachings Die Methoden interkultureller Trainings sind entweder informatorisch wissensorientiert oder interaktionistisch erlebnisorientiert. Der informatorische Ansatz ist zumeist kultur‐ spezifisch, er hat ein kognitives Trainingsziel, das durch die Vermittlung von faktenorien‐ tiertem Wissen über die sog. Zielkultur erreicht werden soll. Der interaktionsorientierte Ansatz kann kulturspezifisch und kulturallgemein sein (in der Praxis zumeist Letzteres), er hat primär affektive, konative und behaviorale Trainingsziele, die mit interkulturellen Rol‐ lenspielen, Szenarios, Fallsimulationen etc. erreicht werden sollen. Kulturspezifische und kulturallgemeine Trainingsinhalte schließen einander nicht notwendig aus, sondern können sich mit entsprechendem Methodenmix auch ergänzen. Folgende Trainingstypen werden unterschieden: 68 Annegret Middeke Abb. 2: Trainingstypen interkultureller Kompetenz nach Kinast (2005: 200), Göbel & Buchwald (2008: 126), Bolten (2012: 129) Mit TRIKK bzw. TRIKK -R liegt ein an den Entwicklungsaufgaben, der Lebenswelt, den subjektiven Lebenstheorien und der Berufswelt von Heranwachsenden orientiertes Trai‐ ning für Berufsschüler vor, das diese auf multikulturelle Arbeitskontexte vorbereiten soll (Over & Mienert 2008). Zunehmend an Bedeutung gewinnen, insbesondere für die Zusammenarbeit in inter‐ kulturellen virtuellen Teams in der Wirtschaft, aber auch in akademischen Kontexten, webbasierte Angebote zum interkulturellen Lernen wie informatorische Trainingsmodule, Culture Assimilators, E-Planspiele, E-Assessment-Center etc. (Zeutschel 2005, Bolten 2007: 30, Hochschulforum Digitalisierung 2015). Interkulturelles Consulting ist ein Instrument des diversitätssensiblen Personalentwick‐ lungsmanagements ebenso wie Interkulturelle Mentorings. Geht es beim Consulting um professionelle Expertenberatung, z. B. bei der Zusammenstellung internationaler Teams, so steht bei den Mentorenprogrammen die Austauschbeziehung zwischen berufserfahrenen Mentoren und weniger berufserfahrenen Mentees mit unterschiedlichem kulturellen Hin‐ tergrund zu deren betrieblicher Integration und frühzeitiger Vorbereitung auf Führungs‐ positionen im Mittelpunkt (Voigt 2013). Auch Interkulturelle Coachings sind individuali‐ sierte Beratungs- und Fördermaßnahmen der Personalentwicklung, i. d. R. für Fach- und Führungskräfte in Unternehmen und anderen Organisationen, und passgenau auf deren 69 Die Perspektive der Interkulturalitätsforschung Persönlichkeit und professionellen Bedarfe zugeschnitten (Kinast 2005: 217-226, Barmeyer 2007, Bolten 2012: 153-158). Die Wirkungen von Maßnahmen zur Förderung interkultureller Kompetenz sollen über einen Transpositionseffekt erzielt werden, bei dem internalisiertes Gelerntes in interkul‐ turellen Erfahrungen sukzessiv in automatisierte Handlungen überführt wird (Kinast 2005: 213). Jedoch stößt die Lerntransferevaluation an ihre Grenzen, da bei einem qualitativ wie quantitativ so schwer zu erfassenden Gegenstand wie interkultureller Handlungskom‐ petenz die Indikatoren für den Kompetenzzuwachs weder zuverlässig identifiziert noch kontextsensibel operationalisiert werden können. 3.2 Interkulturelles Lernen im Rahmen von berufsbezogenem DaF-/ DaZ-Unterricht Interkulturalität und Mehrsprachigkeit gelten trotz berechtigter Zweifel an der Evaluier‐ barkeit von interkultureller Kompetenz (Koreik 2008) als grundlegende didaktische Prin‐ zipien des modernen Fremdsprachenunterrichts. Wie in den interkulturellen Trainings können im berufsbezogenen Deutsch als Fremd- und Zweitspracheunterricht (DaF/ DaZ), der berufsvorbereitend, -begleitend oder -qualifizierend ausgerichtet sein kann (Kuhn 2007: 135), sowohl kulturspezifisches Wissen, bezogen auf die rechtlichen, ökonomischen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen der Zielsprachenkulturen, als auch allge‐ meine interkulturelle Sprachhandlungskompetenzen vermittelt werden (Middeke 2014: 163). Die Forderung nach Authentizität schließt die Simulation professioneller wie auch interkultureller Interaktionen ein (Reuter 2011, Middeke 2016) und lässt sich am besten in handlungsorientierten Lernarrangements wie Fallstudien, Berufsszenarien, Planspielen etc. umsetzen (s. die Beiträge von Kiefer und Roche unter „F: Didaktik und Methodik der Vermittlung“ sowie von Bosch Roig unter „B: Exemplarische Domänen“ in diesem Buch). Literatur Ang-Stein, Claudia (2015). 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Es geht dabei zumeist um Jugendliche und junge Erwachsene, die erstmals eine berufliche Beschäftigung anstreben. Für die erste Phase der Professionalisierung des pä‐ dagogischen Personals in diesem Segment sind eigene Studiengänge an den Universitäten eingerichtet. Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik ist in diesen Studiengängen für den pädagogischen Teil inklusive der Fachrichtungsdidaktik verantwortlich. Forschungsergeb‐ nisse können direkt in die Lehre einfließen, um zukünftige Lehrerinnen und Lehrer an beruflichen Schulen und weiteres pädagogisches Personal auf durch Wissenschaft er‐ kannte, systematisierte und reflektierte Problemlagen und Lösungsstrategien im berufli‐ chen Bildungssystem vorzubereiten. Eine ganze Reihe solcher Problemlagen und Lösungsstrategien stehen in direktem Zu‐ sammenhang mit Sprache und Kommunikation. Das Vorhandensein von Sprache ver‐ standen als Mittel der Verständigung, was neben natürlicher Sprache auch nonverbale, technische, symbolische und formale Sprachen miteinschließt, ist eine notwendige Voraus‐ setzung für jeden Bildungsprozess. Wegen der Komplexität von Sprache und dem Sprach‐ gebrauch lassen sich kaum einfache Zusammenhänge identifizieren. Einen Forschungsstand zu charakterisieren, welche Erkenntnisse zu Sprache und Kom‐ munikation in der beruflichen Bildung vorliegen, die sich auf die Professionalisierung des pädagogischen Personals beziehen oder dort Verwendung finden sollten, wird das Haupt‐ anliegen dieses Textes sein. Zuvor wird umrissen, um welche Kompetenzen es geht bzw. was unter Sprachkompetenz und kommunikativer Kompetenz verstanden wird. Mit einigen zusammenfassenden Thesen wird der vorliegende Text beendet. Der vorliegende Text schließt an eine frühere Zusammenstellung des Forschungsstandes (Siemon 2016) an. Mitt‐ lerweile liegt eine Vielzahl neuerer Ergebnisse vor, sodass die für den Forschungsstand hier herangezogenen Studien nur geringfügige Überschneidungen zur vorherigen Zusammen‐ stellung aufweisen. 2. Sprachkompetenz, kommunikative Kompetenz Die in diesem Kapitel vorgenommene kurze Einordnung von zentralen Begriffen soll dazu beitragen, die anschließend beschriebenen Studien besser verstehen und aufeinander be‐ ziehen zu können. Unter Kompetenz sollen entsprechend Weinert die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen er‐ folgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können (2001: 27 f.) verstanden werden. Der Terminus Sprachkompetenz wird teilweise mit der Idee eines end‐ lichen Inventars von Elementen und Verknüpfungsregeln assoziiert, über die ein Mitglied einer Sprachgemeinschaft verfügt und aus der er eine unendliche Anzahl an Sprachver‐ wendungen generieren kann (Chomsky 1981). Dieser sehr regelbasierten Kompetenzerfas‐ sung steht die Idee der kommunikativen Kompetenz gegenüber, die heute das vorherr‐ schende Paradigma der Sprachlehr- und -lernforschung und der Sprachdidaktik ist. Kommunikative Kompetenz wird als ein Zusammenwirken von grammatikalischer Kom‐ petenz, soziolinguistischer Kompetenz, Diskurskompetenz und strategischer Kompetenz angesehen (Hymes 1974, Canale & Swain 1980, Canale 1983). Im deutschen Sprachraum werden Sprachkompetenz und kommunikative Kompetenz vielfach Synonym oder undifferenziert verwendet. Eine Zusammenführung beschreibt Efing (2012, vgl. ähnlich auch Trim 2001: 109), der Sprachkompetenz entgegen Chomsky als die didaktisch beeinflussbare Fähigkeit eines Individuums ansieht, die Vorgaben eines Sprachsystems bzw. einer Sprachnorm einzuhalten. Davon grenzt er die Sprachgebrauchs‐ kompetenz ab, die die kontextuellen Bedingungen in kommunikatives Handeln einbezieht. Für die Sprachstandsdiagnostik wird von Ehlich et al. (2005) das Modell der sprachlichen Basisqualifikationen vorgeschlagen. Dieses differenziert in phonetische, semantische, morpho-syntaktische, literale, diskursive und pragmatische Anteile. Die Unterscheidung in eine eher alltags- oder umgangssprachlichen Kommunikation und eher schriftsprachlich-akademischen Kommunikation geht auf Cummins (2008) zu‐ rück. Dieser unterscheidet die basic interpersonal communicative skills ( BICS ) von der cog‐ nitive academic language proficiency ( CALP ). Eine solche Unterscheidung ist gerade für bildungswissenschaftliche Fragestellungen von großer Bedeutung, da sich damit erklären lässt, warum es auch für Schüler und Schülerinnen mit Deutsch als Erstsprache sprachliche Barrieren gibt, sich in der eigenen Sprache Bildungsinhalte zu erschließen. Dieser Gedanke steht auch hinter dem Konzept Bildungssprache (Gogolin 2009), mit dem kontext- und fach‐ bezogene Kommunikation, wie sie unter anderem in Bildungseinrichtungen anzutreffen ist, von Alltagskommunikation unterschieden wird. Im den weiteren Kapiteln werden nun thematisch zusammenhängende Gruppen von Studien vorgestellt, die typisch für eine bestimmte Forschungsrichtung sind und sich mit Sprache und Kommunikation in der beruflichen Bildung auseinandersetzen. 74 Jens Siemon 3. Kommunikative Kompetenz als Bedingung für die Aufnahme einer Berufsausbildung Im Auftrag der Bundesagentur für Arbeit formulierte eine Expertengruppe aus Vertretern der Arbeitgeberverbände, beruflicher Schule, der Wissenschaft sowie der Bundesagentur selbst Mindestanforderungen für die Aufnahme einer Berufsausbildung. Dahinter steht der Gedanke, dass eine Berufsausbildung nur dann gelingen kann, wenn ein Jugendlicher be‐ reits vor der Ausbildung über ein Mindestmaß an personellen und kognitiven Dispositionen verfügt. In dem von der Expertengruppe formulierten Anforderungskatalog finden sich Merkmalsbereiche der schulischen Basiskenntnisse, psychologische Leistungsmerkmale, physische Merkmale, psychologische Merkmale des Arbeitsverhaltens und der Persönlich‐ keit sowie die Berufswahlreife (Bundesagentur für Arbeit 2006). Auch eine Reihe von Merkmalen, die der kommunikativen Kompetenz zugerechnet werden können, sind in den Mindestanforderungen enthalten. Dies sind im Bereich der schulischen Basiskenntnisse die Merkmale Rechtschreiben, Lesen, mit Texten und Medien umgehen sowie Sprechen und Zuhören. Zu den psychologischen Leistungsmerkmalen zählt die Sprachbeherrschung und zu den psychologischen Merkmalen des Arbeitsverhaltens zählt die Kommunikationsfä‐ higkeit. Obwohl das von den Experten erarbeitete Konzept nicht empirisch überprüft wurde, hat es mittlerweile unter dem Namen Ausbildungsreife eine weite Verbreitung gefunden. Es dient nicht nur als Orientierungsrahmen für Jugendliche, Eltern sowie Lehrerinnen und Lehrer, sondern wird auch in der Berufsberatung eingesetzt und dient als Entscheidungs‐ hilfe, ob Jugendliche Informationen zu offenen Ausbildungsplätzen erhalten oder ihnen empfohlen wird, zunächst weiterführende Schulen zu besuchen. Zur Überprüfung der schriftsprachlichen Anteile der sogenannten Ausbildungsreife un‐ tersuchte Baumann (2014) eine Kohorte von 164 Auszubildenden in den Ausbildungsbe‐ rufen Anlagenmechaniker bzw. Anlagenmechanikerin für Sanitär-, Heizung- und Klima‐ technik, Friseur bzw. Friseurin sowie Verkäufer bzw. Verkäuferin. Die Quote der Auszubildenden mit Hauptschulabschluss lag zwischen 58 und 68 %. Das Geschlechterver‐ hältnis war in der Kohorte ungefähr gleich verteilt, allerdings mit nur einem Prozent An‐ lagenmechanikerinnen und 88 % bei den Friseurinnen. 88 Auszubildende waren im ersten Ausbildungsjahr, 76 Auszubildende im letzten Ausbildungsjahr des jeweiligen Ausbil‐ dungsberufs. Über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügten 85 %, in Deutschland ge‐ boren waren 86,6 % und Deutsch als Erstsprache gaben 72,4 % der Auszubildenden an. Die der Arbeit zu Grunde liegende Überlegung von Baumann ist, dass wenn Auszubildende identifiziert werden können, die trotz Unterschreitung der Mindestanforderungen der Aus‐ bildungsreife eine Ausbildung aufgenommen haben, ihre Abschlussprüfung bestehen und gegebenenfalls auch noch eine unbefristete Beschäftigung in ihrem Ausbildungsberuf auf‐ nehmen können, das Konzept der Ausbildungsreife im Sinne einer Mindestanforderung nachgewiesenermaßen fehlerhaft sein muss. Zur Feststellung der schriftsprachlichen Fähigkeiten benutzt Baumann ein breites Spektrum an Instrumenten. Sie setzt einen Rechtschreibtest (Lehmann et al. 2005) mit ge‐ schlossenem Antwortformat, einen Test zur Textproduktion (Dirim & Döll 2009) sowie einen Test zur Leserlichkeit der Handschrift (Mahrhofer 2004) ein. Sie überprüft Orthografie 75 Die Perspektive der Berufs- und Wirtschaftspädagogik und Interpunktion zusätzlich anhand des Vorgehens von Dürscheid et al. (2010) und quan‐ tifiziert diese mithilfe des Oldenburger Fehleranalysewerkzeuges (Thomé & Thomé 2010). Zusätzlich werden unter Rückgriff auf verschiedene Ansätze auch Verständlichkeit und Kohärenz der Textproduktion beurteilt. Zudem werden Selbst- und Fremdeinschätzungen zu den schriftsprachlichen Fähigkeiten der Auszubildenden erhoben (Baumann 2014). Hinsichtlich der eingesetzten Tests erreichen weniger als 20 % der Probanden zu Beginn ihrer Berufsausbildung ein Niveau, das als normnah oder normal bezeichnet werden kann. Die allermeisten untersuchten Jugendlichen sind also bezogen auf ihre kommunikative Kompetenz normabweichend oder normfern und konnten trotz dieses Defizits eine Be‐ rufsausbildung beginnen. Insgesamt bestanden 93,4 % der Auszubildenden im dritten Aus‐ bildungsjahr ihre Abschlussprüfung im ersten oder zweiten Versuch. Der Anteil derer, die zum Zeitpunkt der Prüfung hinsichtlich ihrer kommunikativen Kompetenz normabwei‐ chend oder normfern waren, lag bei 84 %. 86,2 % der Jugendlichen mit einer erfolgreich abgeschlossenen Berufsausbildung, die über eine Festanstellung in ihrem erlernten Aus‐ bildungsberuf verfügen, hatten zum Zeitpunkt ihrer Abschlussprüfung normabweichende oder normferne kommunikative Kompetenzen (Baumann 2014: 245). Auch wenn Baumann dies etwas vorsichtiger formuliert, muss man feststellen, dass zum Glück nicht das Konzept der Ausbildungsreife über die Aufnahme einer Berufsausbildung entscheidet, sondern die ausbildenden Unternehmen, die einen Auszubildenden einstellen. Bezogen auf die Teile des Konzeptes der Ausbildungsreife, die sich auf die schriftsprachliche Kompetenz beziehen, muss festgestellt werden, dass diese Anforderungen aufweisen, die keinesfalls eine Min‐ destanforderung für die Aufnahme einer Berufsausbildung sind. 4. Sprachgebrauch am Ausbildungs- und Arbeitsplatz Welche der im vorangehenden Kapitel untersuchen kommunikativen Kompetenzen tat‐ sächlich am Ausbildungs- und Arbeitsplatz erforderlich sind, untersuchen eine Reihe von Studien, die in diesem Kapitel vorgestellt werden. Im Rahmen ihres BMBF -geförderten Projekts „Alpha-Quali“ beschäftigen sich Hanisch und Heisler (2016) mit der Frage, warum Menschen trotz Schulbesuchs und Berufsausbil‐ dung nicht richtig lesen und schreiben können. Dabei knüpfen sie vor allem an die Ergeb‐ nisse der leo.Level-One Studie (Grotlüschen & Riekmann 2012) an, die davon ausgeht, dass etwa 7,5 Mio. Menschen in Deutschland als funktionale Analphabeten zu bezeichnen sind. Über 70 % dieser Menschen sind erwerbstätig, wobei etwa 68 % von ihnen einen Abschluss im dualen Ausbildungssystem erworben haben und sich 6,5 % noch in der Ausbildung be‐ finden. Die Ergebnisse dieser Studie legen nahe, dass das Risiko für funktionalen Analpha‐ betismus mit dem Alter steigt, in der Schule erworbene Fähigkeiten also wieder verloren gehen. Um herauszufinden, wie sich die schriftsprachlichen Fähigkeiten von Auszubildenden im Laufe der Ausbildung verändern, befragten Hanisch und Heisler (2016) in einer eigenen Studie insgesamt 217 Auszubildende im ersten und dritten Lehrjahr verschiedener Berufe, die sich laut leo.-Studie durch einen besonders hohen Anteil an funktionalen Analphabeten auszeichnen, nach der Häufigkeit und Art der in ihrer Ausbildung wahrgenommenen Lese- und Schreibanlässe. Eine Schwäche der Studie liegt darin, dass sie aus Zeitgründen nicht 76 Jens Siemon als Längs-, sondern als Querschnittsstudie durchgeführt wurde und so nicht festgestellt werden konnte, wie sich die schriftsprachlichen Kompetenzen einzelner Auszubildender im Laufe der Ausbildung veränderten. Im Ergebnis wurde deutlich, dass im Laufe der Ausbildung nicht im Allgemeinen weniger geschrieben und gelesen wird, sondern vielmehr vermehrt spezifische Lese- und Schreib‐ anlässe wahrgenommen werden, andere aber wegfallen. So gaben zum Beispiel die Aus‐ zubildenden im dritten Lehrjahr im Vergleich zu den Auszubildenden im ersten Lehrjahr an, mehr Diagramme zu lesen, dafür aber weniger Berichte zu schreiben. Dies deutet auf eine zunehmende Funktionalisierung des Einsatzes der Schriftsprache hin. Ob hierin jedoch ein Risiko für die Entstehung von funktionalem Analphabetismus zu sehen ist, konnte im Rahmen der Studie nicht geklärt werden. In ihrem Verbundprojekt Sprachsensibilisierung in der Beruflichen Qualifizierung (Spra‐ SiBeq) beschäftigen sich Birnbaum et al. (2016) mit den schriftsprachlichen Herausforde‐ rungen, denen die Fachlehrer in der beruflichen Aus- und Weiterbildung aufgrund einer zunehmenden Anzahl an Teilnehmenden mit Deutsch als Zweitsprache begegnen. Mit dem Ziel, ein Weiterbildungskonzept für Fachlehrer zu entwickeln, wurde zunächst eine Be‐ darfsanalyse durchgeführt, in deren Rahmen konzeptionelle Dokumente sowie Lehr- und Lernmaterialien untersucht, Lehrende und Teilnehmende befragt und in Weiterbildungs‐ maßnahmen hospitiert wurden. Dabei wurden Materialien und Kurse aus Branchen ge‐ wählt, die gemäß dem statistischen Bundesamt besonders häufig von Teilnehmenden mit Migrationshintergrund besucht werden. Zur Analyse herangezogen wurden 30 konzeptio‐ nelle Dokumente, Lehr- und Lernmaterialien im Umfang von 1.153 Seiten, 46 verwendbare Fragebögen sowie 15 Hospitationen. Auch wenn die Inhalte konzeptioneller Dokumente darauf schließen lassen, dass die Teilnehmenden in der Lage sein sollen, verschiedene Textsorten zu produzieren, be‐ schränken sich die Anforderungen in den Lehrwerken zu 60 % auf das „Nennen“ bestimmter Punkte. Erklären (19 %), Beschreiben (14 %) oder Begründen (7 %) sind weitaus weniger gefordert. Ähnliches ließ sich in den Hospitationen beobachten. In sieben von 15 Fällen fanden keine schriftlichen Arbeitsphasen statt. Die durchgeführten schriftlichen Aktivi‐ täten beschränkten sich meist auf das Mit- und Abschreiben oder die Arbeit mit einzelnen Begriffen oder Stichpunkten. Die Produktion umfangreicherer Texte wird im Unterricht nicht behandelt, aber in Prüfungen abgefragt, was die Teilnehmenden vor große Heraus‐ forderungen stellt. Reich und Settelmeyer (2016) gehen der Frage nach, inwiefern von Migranten in Deutsch‐ land gesprochene Sprachen den Sprachenbedarf in Unternehmen abdecken können. Den Sprachenbedarf in Unternehmen skizzieren die Autoren unter Zuhilfenahme einer Unter‐ nehmensbefragung des Instituts der deutschen Wirtschaft (Schöpper-Grabe & Weiß 1998), einer Analyse von Anforderungen für Ausbildungsstellen (Settelmeyer et al. 2017) und 2006 und 2012 durchgeführten repräsentativen Erwerbstätigenbefragungen des Bundesinstituts für Berufsbildung und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hall 2007, 2013). Auf Grundlage dieser Studien stellen Reich und Settelmeyer fest, dass neben Englisch zahlreiche andere Sprachen mit bemerkenswerter Häufigkeit gebraucht werden, wobei der Bedarf von 2006 bis 2012 signifikant um 8,5 % angestiegen sei. Fremdsprachenkenntnisse werden vor allem in Dienstleistungs- und als anspruchsvoll betrachteten Berufen benötigt. 77 Die Perspektive der Berufs- und Wirtschaftspädagogik Das Angebot an Migrantensprachen, das der Nachfrage in Unternehmen gegenübersteht, lässt sich nur schwer umreißen, da die in Deutschland gesprochenen Sprachen nirgendwo zentral erfasst werden. Lokale Erhebungen bei Grundschulkindern in Hamburg (Fürstenau & Yagmur 2003) und Essen (Chlosta et al. 2004) und eine repräsentative Befragung der Bundesagentur für Arbeit ( BA , zit. nach Reich & Settelmeyer 2016: 128) erfassten etwa 150 verschiedene Sprachen, die teilweise von nur wenigen Sprechern gesprochen werden. Reich und Settelmeyer gehen davon aus, dass in Deutschland 33 andere Sprachen als Deutsch mit mehr als zehntausend Sprechern vertreten sind. Die individuellen Sprachkenntnisse können je nach Migrationsbiographie sehr unterschiedlich sein. Erste explorative Studien (Meyer 2008, Settelmeyer 2010) gehen davon aus, dass Migranten ihre Sprachkenntnisse besonders in sozialen und Verkaufsberufen einbringen können. Das Potenzial, Sprachbe‐ darfe in Unternehmen durch Migranten zu decken, wird vor allem bei den Sprachen Spa‐ nisch, Russisch, Italienisch, Türkisch, Portugiesisch und Polnisch gesehen. Jedoch kann nicht immer davon ausgegangen werden, dass die zu Hause erworbenen Sprachkenntnisse den Ansprüchen am Arbeitsplatz gerecht werden, wo auch Fachkenntnisse und schrift‐ sprachliche Fähigkeiten gefragt sind. Hier könnte herkunftssprachlicher Unterricht an Be‐ rufsschulen dazu beitragen, eine Lücke zu schließen. Dementsprechend wäre auch die Ver‐ mittlung der Didaktik von Herkunftssprachen als reguläres Fach in der Lehrerbildung gefragt. Zusätzlich zum herkunftssprachlichen Unterricht können Kenntnisse in Migran‐ tensprachen zum Beispiel durch die Einbeziehung in das KMK -Zertifikat „Fremdsprachen in der beruflichen Bildung“ oder Auslandsaufenthalte, etwa im Rahmen des Leonardo-Pro‐ gramms, sowie binationale Projekte an Berufsschulen gefördert und aufgewertet werden. Rexing et al. (2016) befragten 188 Auszubildende des Berufsfelds Bautechnik zu ihrer Lesemotivation. Es handelte sich um ausschließlich männliche Probanden im Alter von durchschnittlich 19 Jahren, mehrheitlich mit Hauptschulabschluss. Den Probanden wurde ein Fragebogen mit insgesamt 30 Items vorgelegt, der sich teilweise an einem innerhalb des bundesweiten Projektes ProLesen entwickelten Fragebogen (Philipps 2008) und an PISA -Items (Artelt et al. 2010: 75) orientierte. Die habituelle Lesemotivation der befragten Auszubildenden war sehr gering. Nicht elektronische Medien wie Bücher, Zeitschriften und Zeitungen werden nur selten gelesen. Digital beschränkt man sich hauptsächlich auf Social Media-Plattformen und Kommuni‐ kation. Das Lesen wird nicht als sinnvolle Freizeitbeschäftigung wahrgenommen, auch wenn die Bedeutung des Lesens für das Privatleben und die Informationsbeschaffung durchaus erkannt wird, was aber wohl eher mit Nützlichkeit als mit Lesefreude verbunden wird. Zwischen der habituellen und der schulspezifischen Lesemotivation zeigt sich ein sig‐ nifikanter Zusammenhang. Auch in der Schule wird ungern gelesen und wenn, dann vor‐ zugsweise Texte mit beruflicher Relevanz. Deutsch/ Kommunikation gehört zu den unbe‐ liebtesten Fächern. Je höher die Schüler jedoch die Relevanz des Lesens bzw. des Unterrichtsfaches Deutsch/ Kommunikation für ihren Beruf einschätzten, desto positiver war auch ihre Einstellung hierzu. Generell erkennen die Auszubildenden die Bedeutung des Lesens im Berufsleben, jedoch wird im Betrieb primär mündlich kommuniziert. Zur Bewältigung beruflicher Anforde‐ 78 Jens Siemon rungen muss nur selten gelesen werden. Bei der Frage nach relevantem Textmaterial werden in erster Linie Zeichnungen genannt. Die Lesemotivation wird nicht durch den Schulabschluss bestimmt, sondern ist davon abhängig, ob der Auszubildende die Bedeutung des Lesens für seine Arbeit und berufliche Entwicklung im Betrieb erkennt. Um Lesekompetenz zu stärken, sollte den Auszubildenden also zunächst vermittelt werden, welche Bedeutung das Lesen für ihre zukünftige berufliche Entwicklung haben kann. Im Betrieb können Auszubildende in Leseanlässe einbezogen werden, die sonst eher von Fach- und Führungskräften erledigt werden. In der Berufsschule sollten zur Förderung der Lesekompetenz fachlich relevant erscheinende Texte ausgewählt werden. Aufgrund der größeren Beliebtheit beruflicher Fächer könnte es von Vorteil sein, Leseaktivitäten verstärkt in diesen Fächern zu verorten. 5. Auf die Professionalisierung pädagogischen Personals für berufliche Schulen bezogene Arbeiten Wie von Seiten der Akteure der Lehrerbildung auf die beobachtbare Diskrepanz zwischen sprachlichen Anforderungen auf der einen Seite und den Kompetenzen der Ausbildungs‐ platzbewerberinnen und Ausbildungsplatzbewerber auf der anderen Seite reagiert werden könnte, untersuchen die in diesen Kapitel vorgestellten Studien. Happ et al. (2016) untersuchen die Entwicklung sprachlicher Kompetenzen im Verlauf des Studiums sowie den Einfluss des Faktors „Sprache“ auf die Entwicklung des Fachwis‐ sens im Studienverlauf bei angehenden Lehrkräften für den kaufmännisch-verwaltenden Bereich. Hierbei greifen sie auf durch das BMBF -Projekt ILLEV erhobene Daten zurück. Im Rahmen des Projektes wurde in einem längsschnittlichen Design an vier über drei Jahre verteilten Terminen die verbale Intelligenz von Lehramtsstudenten im kaufmännisch-ver‐ waltenden Bereich erfasst. Getestet wurde diese mithilfe der Analogien aus dem Intelli‐ genz-Struktur-Test (Liepmann et al. 2007). Das Fachwissen der Studierenden wurde mit Aufgaben aus dem Wirtschaftswissenschaftlichen Bildungstests ( WBT ) (Beck et al. 1998) sowie einer Kurzversion des Business Administration Knowledge Tests ( BAKT ) (Bothe et al. 2006) getestet. Außerdem wurde die Muttersprache der Probanden erfasst. Insgesamt wurden 3.571 Beobachtungen ausgewertet, wobei einschränkend erwähnt werden muss, dass die Stichprobe nicht nur aus Studierenden der Wirtschaftspädagogik, sondern zu einem Anteil auch aus Studenten der Wirtschaftswissenschaften ohne Lehr‐ amtsoption bestand. Happ et al. (2016) stellen fest, dass es sich bei der verbalen Intelligenz um ein konstantes Persönlichkeitsmerkmal handelt, das sich im Verlauf des Studiums nicht verändert. Sie sehen außerdem einen Zusammenhang zwischen sprachlichen Defiziten und Rückständen im Bereich Fachwissen. Probanden mit schlechteren sprachlichen Eingangsvorausset‐ zungen konnten ihre sprachlichen Defizite oder deren Einfluss auf die Wissensentwicklung im Laufe des Studiums nicht ausgleichen. Bethscheider et al. (2016) gehen der Frage nach, wie betriebliche Ausbilder und Ausbil‐ derinnen für den Umgang mit Auszubildenden mit sprachlich-kommunikativem Förder‐ bedarf sensibilisiert und qualifiziert werden können. 79 Die Perspektive der Berufs- und Wirtschaftspädagogik Um Situationen zu identifizieren, in denen sprachliche Schwierigkeiten von Auszubild‐ enden und ihr Umgang mit diesen die Vermittlung beruflicher Handlungskompetenzen beeinträchtigen, wurden zunächst 12 leitfadengestützte Interviews mit Ausbildern und Ausbilderinnen aus Betrieben unterschiedlicher Branchen und Größe sowie mit Personal aus Förderprojekten durchgeführt. Dabei wurden insbesondere Berufe ausgewählt, die einen deutlichen Anteil an mündlicher Kommunikation aufweisen. In den Interviews stellen die Ausbilder und Ausbilderinnen vor allem fest, dass das Sprachrepertoire der Auszubildenden dahingehend eingeschränkt ist, dass diese nicht in der Lage sind, zwischen unterschiedlichen sprachlichen Registern zu wählen, sich also wenig differenziert und umgangssprachlich ausdrücken. Dies erschwert vor allem den Kundenkontakt, kann aber auch betriebsintern Kommunikationsschwierigkeiten nach sich ziehen, wenn zum Beispiel der Gebrauch von Jugendsprache die Verständigung mit den älteren Ausbildern und Ausbilderinnen erschwert. Sprachlichen Schwierigkeiten selbst be‐ gegnet man unterstützend, solange sie nicht mit fehlendem Problembewusstsein und Ver‐ meidungsverhalten einhergehen. Es wird dabei wenig danach differenziert, ob die/ der je‐ weilige Auszubildende Deutsch als Erst- oder als Zweitsprache erlernt hat. 6. Reflexion der vorgestellten Studien hinsichtlich der Aufgaben der Berufs- und Wirtschaftspädagogik Die vorgestellten Studien geben einen Einblick in die Vielfalt der Fragestellungen, die von Berufs- und Wirtschaftspädagogen hinsichtlich der Sprache und Kommunikation in der beruflichen Bildung bearbeitet werden. Die Erkenntnisse und Ergebnisse können für die Professionalisierung des zukünftigen pädagogischen Personals nutzbar gemacht werden. Überlegungen dazu sollen den vorliegenden Text beenden. Studierende sollten während ihres Professionalisierungsprozesses umfassendes Wissen zu wissenschaftlichen Methoden aufbauen. Damit könnten fehlerhafte Aussagen, Inter‐ pretationen und Schlussfolgerungen identifiziert und hinsichtlich der eigenen Lehraktivi‐ täten korrigiert werden. Z. B. würde so die Idee der Mindestanforderung des Ausbildungs‐ reifekonzeptes bereits auf der Basis von Alltagsbeobachtungen kritisch hinterfragt werden können. Eine Verwechselung von Befragungen und empirisch beobachtbaren Fakten würde vermieden. Schülerinnen und Schüler würden bzgl. ihres beruflichen Werdegangs besser beraten werden können. Lehrerprofessionalisierung wird kaum in der Breite auf Migrantensprachen eingehen können. Dafür gibt es zu viele Sprachen und das Beherrschen auch nur einer weiteren Sprache stellt viele Lehramtsstudierende vor große Herausforderungen. Im Professionali‐ sierungsprozess könnte aber auf eine Sprachsensibilisierung mehr Wert gelegt werden. Dies würde schon für deutsche Schülerinnen und Schüler hilfreich sein, um fachliche Defizite ggf. auf sprachliche Defizite zurückführen zu können. Es könnte dann auch gezielter auf die sprachlichen Anforderungen von Abschlussprüfungen vorbereitet werden. Zudem würden sprachliche Barrieren ggf. gar nicht erst entstehen. Studierende sollten in deutlich stärkerem Maße die Chance erhalten, Diversität zu er‐ fahren. Dies gelingt vor allem durch längere Auslandsaufenthalte. So würden nicht nur 80 Jens Siemon zweit- und drittsprachliche Kompetenzen aufgebaut, sondern vor allem auch Offenheit und Akzeptanz gegenüber Diversität, auch sprachlicher Diversität, entstehen. Da kommunikative Kompetenz für die Dauer eines Ausbildungsabschnittes als kaum bis gar nicht veränderbar angesehen werden kann, gleichzeitig aber umfangreiche fachliche Entwicklungen angestrebt werden, muss die Professionalisierung von pädagogischem Per‐ sonal das Ziel haben, Kompetenzen zur Entwicklung sprachsensibler Lehr- Lernmaterialien und -arrangements aufzubauen. Literatur Artelt, Cordula/ Naumann, J./ Schneider, Wolfgang (2010). Lesemotivation und Lernstrategien. In: Klieme, Eckhard et al. (Hrsg.). PISA 2009. Bilanz nach einem Jahrzehnt. Münster: Waxmann, 73-112. Baumann, Katharina (2014). "Man muss schon ein bisschen mit dem Schreiben zurechtkommen! ". Eine Studie zu den Schreibfähigkeiten von Auszubildenden im unteren beruflichen Ausbildungssegment im Kontext von Ausbildungsreife. 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Einleitung Das Spektrum von Kommunikation im Unternehmenskontext ist breit: vom Gespräch des Vertriebsmitarbeiters mit einem Kunden bis zum Protokoll der Vorstandssitzung. Alle mündlichen und schriftlichen Kommunikationsformen werden mit dem Begriff der Orga‐ nisationskommunikation umschrieben, der die gesamte Kommunikation in und über die Organisation umfasst. Aus der Perspektive der soziologischen Organisationsforschung ist ein solch breites Kommunikationsfeld folgerichtig, da soziale Systeme aus systemtheore‐ tischer Perspektive aus Kommunikation bzw. Kommunikation in der Form von Entschei‐ dungen bestehen (Luhmann 1984). Nach der CCO -Perspektive (Communication Constitu‐ tion of Organizations) entstehen und überdauern Organisationen erst dadurch, dass Sprachhandlungen im Namen der Organisation vollzogen werden (Hoffjann 2015: 106). In der Unternehmenspraxis haben sich die Anforderungen an die Sprachkompetenz in vielen Bereichen differenziert und verbreitert. Das lässt sich anhand der manifesten Differenzie‐ rung der Textfunktion diverser Textsorten in der Wirtschaft ableiten: Waren beispielsweise in der externen Unternehmenskommunikation 7 ehemals hauptsächlich Informations- und Appellfunktionen zu identifizieren, kommen heute vielfältige Textsorten der Kontaktfunk‐ tion im Rahmen der Digitalisierung und Textsorten mit Obligationsfunktion wie Leitbilder und Compliance-Richtlinien vor (Schach 2015: 45). Die Veränderungen in der Organisati‐ onsumwelt, insbesondere im Journalismus, bewirken neben der Ausdifferenzierung ebenso eine Änderung des Kommunikationsmodus bzw. der Vertextungsstrategie. War die externe Organisationskommunikation, d. h. die Public Relations, vornehmlich durch deskriptive Textsorten geprägt, werden heute narrative Textstrukturen immer dominanter. Dem Ein‐ satz von Geschichten wird eine höhere Erfolgswahrscheinlichkeit bei der Erreichung der gewünschten Aufmerksamkeits- und Einstellungsziele von Organisationen zugeschrieben. 2. Organisationen als Systeme In der Organisationsforschung ist die systemtheoretische Perspektive auf Organisationen als geschlossene Systeme weit verbreitet. Durch ihre Schnittstelle zu einer systemtheore‐ tisch orientierten Textlinguistik lassen sich die Funktionen von Texten und Sprache in der Organisation und ihrer Umwelt besser beschreiben. (Gansel, 2011) Die textlinguistische Analyse liefert Ergebnisse, wie Textsorten in der System-Umwelt-Differenz zu struktu‐ rellen Kopplungen mit anderen Systemen führen können. Zudem lassen sich mittels text‐ linguistischer Kategorien Veränderungsprozesse in Bezug auf die Themenentfaltung von Textsorten der Wirtschaft bzw. der Organisationskommunikation identifizieren. Die funk‐ tional-strukturelle Systemtheorie ist in der Organisationsforschung in unterschiedlicher Prägung ausgearbeitet worden. Sie ist angelegt als komplexe Gesellschaftstheorie, die eine Grundlage bietet, die Entstehung von Systemen zu beschreiben. Ein entscheidender Vorteil der Systemtheorie liegt darin, dass sich mit ihr Phänomene der Mikroebene (Kommunika‐ tion), der Mesoebene (Organisationen) und der Makroebene (Gesellschaften und Funkti‐ onssysteme) gleichermaßen beschreiben und erklären lassen (Merten 2009: 68). So lassen sich auch Beziehungen zwischen diesen Systemen sowie zwischen Organisationssystemen erläutern. In der Systemtheorie Luhmann‘scher Prägung besteht die Gesellschaft aus funk‐ tional ausdifferenzierten Teilsystemen wie z. B. Wirtschaft, Recht und Wissenschaft, die operativ geschlossen und autopoietisch strukturiert sind. Das bedeutet, dass soziale Sys‐ teme von der Umwelt lediglich irritiert werden und diese Irritationen auf der Basis eigener Strukturen auflösen können. Die unterschiedlichen Funktionssysteme übernehmen ex‐ klusiv bestimmte Aufgaben für die Gesellschaft. So übernimmt das Wirtschaftssystem die Allokation knapper Güter (Luhmann 1998). In allen Funktionssystemen operieren Organi‐ sationen, die eine Komplexitätssteigerung der jeweiligen Funktionssysteme ermöglichen, wie beispielsweise Unternehmen im Wirtschaftssystem. So müssen die einzelnen Systeme bei der Erfüllung ihrer spezifischen Funktionen nur einen Teil der gesamtgesellschaftlichen Komplexität bewältigen, das Prinzip ist demnach eine „Steigerung durch Reduktion von Komplexität“ (Luhmann 1984: 507). Organisationen sind demnach Sinnsysteme, d. h. Sinn‐ produktion ist die spezifische Basis der Operationen ihrer Selbstreproduktion, um stabile Grenzen zur Umwelt aufrechtzuerhalten“ (Szyszka 2009: 136). Im Unterschied zu gesell‐ schaftlichen Funktionssystemen haben Organisationen eine besondere Operationsweise: Sie treffen Entscheidungen. Durch diese Fähigkeit sind Organisationen handlungs- und kommunikationsfähig. Sie sind damit die beobachtbaren und durch Kommunikation ad‐ ressierbaren Operatoren der Funktionssysteme. Ihre Entscheidungen sind dabei immer doppelt kodiert: Sie folgen einerseits der Leitunterscheidung des Funktionssystems, dem sie angehören, und andererseits dem organisationseigenen Code, der der Sicherung der eigenen Existenz dient. Unternehmen folgen dem allgemeinen Code des Wirtschaftssys‐ tems (Zahlung/ Nichtzahlung) und orientieren sich andererseits an der eigenen Effektivität und am eigenen Fortbestand (Krüger 2015: 32). Allerdings wird die Gesellschaft im Zuge der Differenzierung heterogener und vielfältiger, da durch die Emergenz zusätzlicher Teilsys‐ 86 Annika Schach teme die Anzahl gesellschaftlicher Beobachterperspektiven steigt (Hoffjann 2007: 92). Zudem steigt die Wahrscheinlichkeit von Konflikten zwischen Systemen. Durch die wachs‐ ende Differenzierung steigt der Bedarf für Abstimmungen sowohl zwischen den Funkti‐ onssystemen als auch den Organisationen. Die Folge ist eine kontinuierliche Zunahme gesellschaftlicher Kommunikation, die wiederum zu einem wachsenden Wettbewerb um öffentliche Aufmerksamkeit führt. Die direkte Kommunikation über Systemgrenzen hinweg ist aus systemtheoretischer Perspektive unmöglich, da jedes Funktionssystem ge‐ schlossen ist und ausschließlich nach dem eigenen, exklusiven Code als Leitdifferenz ope‐ riert. Allerdings greifen hier die Konzepte der strukturellen und operativen Kopplung sowie der gegenseitigen Irritation. 3. Textsorten und Kommunikationsbereich Auch in der textlinguistischen Perspektive wird ein systemtheoretisches Begriffs- und De‐ finitionsinstrumentarium zur Analyse von Textsorten herangezogen, um den Kommuni‐ kationsbereich von Textsorten zu untersuchen, die menschliches Handeln im Allgemeinen reflektieren und sich in verschiedensten Kommunikationsbereichen ausprägen (vgl. Gansel 2011: 12). Der Begriff des Kommunikationsbereichs weist Parallelen zu der Begrifflichkeit des so‐ zialen Systems der sozialwissenschaftlichen Systemtheorie auf. Nach Luhmann werden so‐ ziale Systeme als Systeme sinnhafter Kommunikation bezeichnet, Kommunikationen werden als „Elementarteilchen“ derselben definiert. Kommunikationen sind demnach sinn‐ hafte soziale Ereignisse, die durch ein bestimmtes Medium aufeinander bezogen werden müssen (Krause 2001: 26). Die Beschäftigung mit funktional ausdifferenzierten Teilsystemen kann so bei der Klassifizierung von Textsorten wichtige Impulse liefern. Dem System kommt in der systemtheoretisch orientierten Textlinguistik eine entscheidende Bedeutung zu, da sich die Textsorten nur in ihrem System und nach entsprechenden systeminternen Regeln und Funktionsweisen der Reflexivität entfalten und verändern können. Das System oder - textlinguistisch gesprochen - der Kommunikationsbereich determiniert und koor‐ diniert sprachliche Handlungsweisen und sollte somit immer der Bezugspunkt sein. Textklassen erfüllen ihre Aufgaben im Rahmen sozialer Systeme (Kommunikationsbereiche), die eine systemerhaltende Funktion haben und Leistungen für andere Systeme erbringen. Es geht dabei um die Leistungen in übergeordneten sozialen Handlungen für ein System und dessen In‐ teraktion mit anderen Systemen der Gesellschaft (Gansel 2011: 17). Die Textsortenanalyse eignet sich daher als Methode für die Beschäftigung mit Textsorten in Organisationen, um organisationstheoretische Veränderungsprozesse nachzuweisen und zu beschreiben. 4. Funktion von Textsorten in Organisationen und ihrer Umwelt Textsorten erfüllen ihre Aufgaben im Rahmen sozialer Systeme, da sie eine systemerhal‐ tende Funktion haben und Leistungen für andere Systeme erbringen. Es geht dabei um die Leistungen von Textsorten in übergeordneten sozialen Handlungen für ein System und 87 Die Perspektive der Organisationsforschung dessen Interaktion mit anderen Systemen der Gesellschaft. Aus systemtheoretischer Per‐ spektive handelt es sich bei Kommunikation auf der Mikroebene um einen wechselseitigen Konstruktionsprozess bestehend aus der Synthese von drei kontingenten Selektionen: In‐ formation, Mitteilung und Verstehen (Luhmann 1984: 203). Texte werden als Mitteilungen im Textproduktionsprozess erzeugt und stehen für Verstehensprozesse zur Verfügung. Sie provozieren weitere Vertextungen, fixieren Sinn und sichern die Anschlussfähigkeit der Kommunikation. Textsorten erzeugen strukturelle Kopplungen zwischen Systemen (Neu‐ mann 2011, Christoph 2009). Als strukturelle Kopplungen werden in der Systemtheorie medial vermittelte Beziehungen zwischen autopoietischen Systemen gesehen. Derartige Beziehungen liegen vor, „wenn ein System bestimmte Eigenschaften seiner Umwelt dau‐ erhaft voraussetzt und sich strukturell darauf verlässt“ (Luhmann 1993: 441). Diese festen, dauerhaften Kopplungen sind über standardisierte Textsortenexemplare beständig repro‐ duzierbar. Textsorten ermöglichen wie Programme Handlungen überindividuell, machen sie wiederholbar. In dieser Weise prägen Textsorten erwartbare Kommunikationsprozesse. Mit ihren Eigenschaften der Erlernbarkeit und Wiederholbarkeit erleichtern sie das Kom‐ munizieren, übernehmen für Systeme bestimmte Leistungen und stützen strukturelle Kop‐ plungen operativ (Holtfreter 2011: 342). Zu differenzieren sind dabei drei Varianten: 1. Kerntextsorten sind die für ein soziales System konstitutiven Textsorten. 2. Textsorten der konventionalisierten, institutionell geregelten Anschlusskommuni‐ kation sind Textsorten, die die Reaktion auf das Kommunikationsangebot des ei‐ genen Systems bedeuten und diese erfordern (Beziehungen zwischen Subsystemen) (Gansel 2011: 55). 3. Textsorten der strukturellen Kopplung dienen der Sicherung fester Beziehungen zwischen Systemen (Gansel & Jürgens 2007: 78). Eine Textsorte wie die Pressemitteilung zum Beispiel kann demnach als eine Textsorte der strukturellen Kopplung bezeichnet werden: Sie stützt die feste strukturelle Kopplung der Systeme Unternehmen und Massenmedien operativ und kann im Rahmen eines wechselsei‐ tigen Prozesses der Selbstirritation der Systeme beschrieben werden. Diese operieren nach ihrem eigenen Code und stellen somit systemintern die Distanz zwischen System und Um‐ welt sicher. Luhmann illustriert das am Beispiel der Werbung: „Im Bereich der Werbung ist also die Wirtschaft ebenso auf das System der Massenme‐ dien angewiesen wie dieses auf sie; und es läßt sich, wie typisch für Fälle struktureller Kopplungen, keine sachlogische Asymmetrie, keine Hierarchie feststellen.“ (Luhmann 2004: 122) Konkret wird das System Wirtschaft irritiert, weil finanzielle Ausgaben für Marketing nicht immer und automatisch zum Erfolg führen. Eine Strategie zur Bewältigung der Irri‐ tation liegt darin, die Werbebotschaften stärker den redaktionellen Inhalten der Medien anzupassen. Die Irritation auf Seiten der Massenmedien wiederum liegt in den untypisier‐ baren Reizen aus der Wirtschaft in Form von werblich durchsetzten Texten oder Angeboten. Die Massenmedien können sie nicht in der werbetypischen Form verarbeiten, sondern se‐ lektieren nach ihrem systemeigenen Code und überarbeiten im Fall einer Veröffentlichung (Neumann 2011: 351). 88 Annika Schach 5. Narration und Storytelling Die zunehmende Differenzierung und Komplexitätssteigerung in allen gesellschaftlichen Teilbereichen verändert die öffentliche Kommunikation und stellt auch die professionelle Organisationskommunikation vor neue Herausforderungen. Obwohl viele Organisationen aus der Wirtschaft ihre Umweltbeziehungen managen, scheinen sie immer häufiger daran zu scheitern, mit ihren Themen und Botschaften durchzudringen und ihre Sinnentwürfe gesellschaftlich anschlussfähig zu machen und durchzusetzen (Krüger 2015: 18). Dies liegt vermutlich auch an ihrer eigenen Ausdifferenziertheit und Komplexität: Gerade Wirtschaftsunternehmen, die unter permanentem Entscheidungsdruck stehen, haben zahlreiche Mechanismen zur Herbeiführung, Erklärung, Rationalisierung und Legitimierung ihrer Entscheidungen entwickelt. Hierzu zählen neben Organisationsstrukturen und Rollensystemen beispielsweise komplexe Kennzahlensysteme und ein in immer kürzeren Intervallen aktualisiertes Berichtswesen (Krüger 2015: 18). Obwohl diese Strukturen und Argumentationslogiken des Wirtschaftssystems im Zuge einer gesellschaftsweiten Ökonomisierung auch vor anderen Gesellschaftsbereichen nicht haltmachen, erweisen sie sich offenbar als nur begrenzt geeignet, um Unternehmenshan‐ deln dauerhaft gegenüber gesellschaftlichen Teilbereichen zu legitimieren. Geschichten sind in den vergangenen Jahrzehnten zu einem zentralen Gegenstand in der Organisati‐ onsforschung geworden und scheinen für eine Organisation zu jeder Zeit von Bedeutung zu sein (Czarniawska 2009: 63, Schach 2016: 15). Neue Organisationen brauchen Ge‐ schichten, um diversen gesellschaftlichen Anspruchsgruppen das noch unbekannte Unter‐ nehmen bzw. Produkt darzustellen (Lounsbury & Glynn 2001). Auch etablierte Organisa‐ tionen erzählen Geschichten, manche sogar Erfolgsgeschichten oder organisationale Mythen und Sagen, die die Identifikation der Mitglieder mit der Organisation stärken (Czarniawska 2009: 64). Grundsätzlich bezeichnet Storytelling alle Konstruktionsformen auf der narrativen Ebene öffentlicher Kommunikation (Szyszka 2015: 620). Es kann als Kom‐ munikationsoperation beschrieben werden, die prinzipiell geeignet ist, die Kommunikation von Organisationen, auch über Funktionssystemgrenzen hinweg, anschlussfähig zu ma‐ chen. Die Organisationskommunikation nutzt demnach an Stelle des Codes des Muttersys‐ tems den Code eines anderen Systems (z. B. den Code der Massenmedien) und simuliert diesen. Der Kommunikationsmodus unterscheidet sich von den im Wirtschaftssystem vor‐ herrschenden zweckrationalen Argumentationsmustern und der rein deskriptiven Infor‐ mationspolitik. Storytelling wird stattdessen als narrativer Kommunikationsmodus ver‐ standen, der Sinn vermittelt, indem er gesellschaftlich anschlussfähige Mitteilungen in narrativer Form hervorbringt (Krüger 2015: 16). Dieser Kommunikationsmodus unterstützt die Legitimation von und das Vertrauen in Organisationen über die Grenzen des eigenen Funktionssystems hinaus. Die Wiederentdeckung des Erzählens in Teilen der Kommuni‐ kationspraxis von Organisationen ist der Suche nach einem Kommunikationsmodus ge‐ schuldet, der es ermöglicht, Komplexität effektiv zu reduzieren, öffentliche Aufmerksam‐ keit sicherzustellen und Zustimmung zu bestimmten Sinnentwürfen zu erlangen. Die Anschlussfähigkeit spielt dabei eine große Rolle: 89 Die Perspektive der Organisationsforschung Geschichten und die in ihnen enthaltenen Erzählmuster bilden als Teil des kollektiven Gedächt‐ nisses der Gesellschaft den kommunikativen „Kitt“, der Verstehen in einer komplexen und funk‐ tional differenzierten Gesellschaft ermöglicht und gesamtgesellschaftlich anschlussfähigen Sinn vermittelt (Krüger 2015: 31). Geschichten von wirtschaftlichen Akteuren liefern zudem Hinweise, wie Beziehungsgefüge wahrgenommen werden und helfen Organisationen sich zu präsentieren bzw. die Konkur‐ renz zu beobachten (Mützel 2010: 40). Storytelling in den Public Relations bedeutet, „den internen und externen Bezugsgruppen Fakten über die Organisation gezielt, systematisch geplant und langfristig in Form von Geschichten zu erzählen“ (Frenzel et al. 2006: 3). Grund‐ sätzlich beziehen sich Narrationen auf Ereignisse, die von einem Konflikt zwischen unter‐ schiedlichen Wertvorstellungen handeln. Diese Komponenten werden dabei in einem kul‐ turell überlieferten Grundmuster (einem Basis-Narrativ) miteinander in eine fassbare Verbindung von Konflikt und Konfliktlösung gebracht (Brinker et al. 2014: 74). Die Kern‐ botschaft, die eine Geschichte in der Organisationskommunikation transportiert, wird in der Regel implizit vermittelt und nicht explizit erklärt. Sie kann mehrere Aussageebenen be‐ inhalten und unterschiedliche Bedeutungen bekommen - je nach Kontext (Huck-Sandhu 2014: 661). Narration umfasst textlinguistisch drei thematische Grundkategorien: Situie‐ rung, Repräsentation und Resümee. Situierende Elemente können kontinuierlich oder dis‐ kontinuierlich vorkommen oder auch gänzlich fehlen. Im Mittelpunkt der Erzählung steht die Repräsentation des Ereignisses, das sich aus einer oder mehreren Ereignisphasen kon‐ stituiert. Die Kategorie Resümee bezeichnet die zusammenfassende Einschätzung vom Er‐ zählzeitpunkt aus (Brinker 2014: 71). Ein zentraler Aspekt des Storytellings als Technik ist jedoch die strategische Ausrichtung (Hillmann 2011: 63). Der Schritt zur Strategie vollzieht sich meist anhand der Frage, welche Geschichten erzählt werden. Diese Einigung auf Kern‐ geschichten wirkt auf das Tun der Organisation, sobald Geschichten aufgenommen und weitergetragen werden (Ettl-Huber 2014: 19). In Organisationen lassen sich dabei verschie‐ dene Stufen identifizieren, unterschieden danach, inwiefern die Integration von Storytelling vorangeschritten ist - vom unbewussten bis zum strategischen Storytelling. 6. Anforderungen an die Aus- und Weiterbildung Strategisches Storytelling ist als Technik für die Außendarstellung von Organisationen ein omnipräsentes Thema. In der internen Kommunikation und der betrieblichen Weiterbil‐ dung lassen sich narrative Techniken ebenfalls nutzen, wenn es um die Unternehmens‐ kultur, die Vermittlung von Leitbildern und Werten der Organisation oder um Veränder‐ ungsprozesse geht. Will man die Unternehmenskultur beeinflussen, muss man sie erst kennen. Letztlich geht es um die Bewusstmachung und sukzessive Veränderung geheimer Spielregeln, die einer professionellen Kommunikations- und Kooperationskultur entge‐ genlaufen oder sie fördern, um sie mit den offiziell gewünschten Leitbildern in Deckung zu bringen. Hier spielen Narrationen eine entscheidende Rolle, können sie doch sowohl Ein‐ blick in die geltenden Normen und Werte geben als auch zu einem Wandel eben jener beitragen. Dazu gehören beispielsweise sogenannte Springboard Storys, die beim Zuhören einen „mentalen Sprung“ im Verständnis für einen Veränderungsprozess im Unternehmen ermöglichen (Erlach & Thier 2005: 153). Auch im Wissensmanagement und in Leaving Ex‐ 90 Annika Schach perts Debriefing-Prozessen, wenn erfahrene Mitarbeiter aus einem Unternehmen aus‐ scheiden, kann mittels narrativer Verfahren eine Know-how-Sicherung unterstützt werden. Narration eignet sich in der Organisationskommunikation im Besonderen für interne Lern- und Veränderungsprozesse. In der innerbetrieblichen Aus- und Weiterbildung eignen sich Storytelling-Techniken, wenn es z. B. um Geschäftsfelderweiterungen, Fusionen, Cultural Change-Prozesse oder die Markteinführung neuer Produkte geht (Thier 2006: 5). Ge‐ schichten in Unternehmen verstärken die Bindung zu einem Unternehmen, fungieren als soziale Landkarte und Orientierungshilfe für neue Mitarbeiter und zeigen den sozialen Stand von Personen bzw. erhöhen ihn. Sie dienen einer Interpretation von Vergangenem und der Beschreibung der Zukunft mittels sinnstiftender und bedeutsamer Ereignisse. In‐ sofern können sie bei allen Weiterbildungsprozessen, die in einem Zusammenhang mit Wissenserhalt und -weitergabe stehen, sowie bei Schnittstellen zu unternehmenskultu‐ rellen Themen strategisch nutzbar sein. Die Methode setzt auf die Einbeziehung der Mit‐ arbeiter, indem „Erfahrungswissen von Mitarbeitern über einschneidende Ereignisse im Unternehmen wie z. B. ein Pilotprojekt oder eine Fusion aus unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten erfasst, ausgewertet und in Form einer gemeinsamen Erfahrungsgeschichte aufbereitet wird“ (Thier 2006: 17). Mit ihrer Hilfe können Erfahrungen dokumentiert und für die gesamte Organisation übertragbar und nutzbar gemacht werden. In dem Aufgabenspektrum der externen Kommunikatorinnen und Kommunikatoren von Organisationen ist Storytelling ein wichtiger Kommunikationsmodus, insbesondere wenn es um die mediale Kommunikation geht. Welche Anforderungen müssen dementsprechend in der beruflichen Aus- und Weiterbildung erfüllt werden, um den Ansprüchen der Orga‐ nisationen gerecht zu werden? Zunächst ist festzuhalten, dass der Zugang zum Berufsfeld der Organisationskommunikation sehr heterogen ist. Das Kommunikationsmanagement ist geprägt durch die kontinuierliche Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung der Medien- und Informationsgesellschaft, wodurch auch das Berufsfeld stark expandiert ist. Kenn‐ zeichnend ist die unterschiedliche disziplinäre Herkunft und berufliche Identität vieler Kommunikatorinnen und Kommunikatoren (Zerfaß & Dühring 2014: 164). Nahezu 42 Pro‐ zent der Kommunikatorinnen und Kommunikatoren in Unternehmen und Organisationen haben ein geistes- und sozialwissenschaftliches Studium ohne publizistische Ausrichtung absolviert (Bentele et al. 2015: 45). Der Anteil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit publizistischem Hintergrund in der Hochschulausbildung ist jedoch in den vergangenen Jahren auf etwa 32 Prozent im Jahr 2015 gestiegen (Bentele et al. 2015: 45). Bis Anfang des 21. Jahrhunderts wurden Fragen der Organisationskommunikation im deutschsprachigen Raum nur in Vertiefungsfächern in kommunikationswissenschaftlichen Studiengängen (Public Relations) und in der Betriebswirtschaftslehre (Marketingkommunikation) vermit‐ telt. Üblich waren berufspraktische Zusatzqualifikationen für den Berufseinstieg von Ab‐ solventinnen und Absolventen oder für berufstätige Quereinsteiger. Die fortgeschrittene Professionalisierung von spezialisierten Studiengängen der Organisationskommunikation an Universitäten und Fachhochschulen trägt jedoch dazu bei, dass insbesondere auch die Textsorten-Kompetenz eine größere Relevanz innerhalb der akademischen Ausbildung für die Organisationskommunikation erhält. Wenn in der Praxis in Organisationen neben den deskriptiven und argumentativen Kommunikationsmodi zudem narrative Strategien ge‐ fordert werden, müssen die Curricula diesen Umstand stärker berücksichtigen, wenngleich 91 Die Perspektive der Organisationsforschung Public Relations überwiegend als strategische Managementfunktion verstanden werden, was sich in der beruflichen Qualifikation in Studium und Weiterbildung widerspiegelt. Eine sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit Kommunikation im Allgemeinen bzw. Text‐ sorten im Speziellen bieten das benötigte Rüstzeug für die unterschiedlichen Anforde‐ rungen in Organisationen in Bezug auf die sprachliche Kompetenz. Kommt sie in der aka‐ demischen Ausbildung nicht vor, sind betriebliche Weiterbildungen zu diesem Thema ein alternativer Weg, der in der Praxis zu einem breiten Angebot von Weiterbildungsmaß‐ nahmen führt. Da es bei der Technik des Storytellings jedoch nicht ausschließlich um die narrative Aufbereitung von Fakten geht, sondern um die strategische Vermittlung von Werten und Botschaften, spielt auch die konzeptionelle und strategische Kompetenz eine große Rolle für eine erfolgreiche Umsetzung in der Kommunikation der Organisation. In der internen und externen Organisationskommunikation gilt es bestimmte, festgelegte Kommunikationsbotschaften einem heterogenen Kreis von Anspruchsgruppen zu vermit‐ teln. Diese Kommunikationsbotschaften basieren auf der organisationalen Basisgeschichte, die es zu ermitteln gilt. Dies erfordert analytisches und strategisches Know-how, welches die textliche Kompetenz abrunden muss. 7. Fazit Die Kommunikation von Organisationen ändert sich in Folge von Anpassungs- und Kopp‐ lungsoperationen zu ihrer Umwelt. Die Digitalisierung und der Medienwandel bewirken eine Ausdifferenzierung der Textsorten in der Organisationskommunikation, die sich in Bezug auf die Themenentfaltung unterscheiden. Die ehemals deskriptiv geprägte Informa‐ tionspolitik von Unternehmen erweitert sich um narrative Kommunikationsmodi, denen eine höhere Aufmerksamkeit bei den entsprechenden Anspruchsgruppen zugeschrieben wird. In der externen als auch der internen Organisationskommunikation ist daher die Me‐ thode des Storytellings sehr gefragt. Dem strategischen Einsatz von Geschichten in der Kommunikation werden bestimmte kommunikative Wirkungen zugetraut, die deskriptive Textsorten nicht zu erreichen vermögen. Nicht nur in Unternehmen, sondern auch im Me‐ diensystem kommt Storytelling zum Einsatz, um Fakten in Form von Erzählungen zu ver‐ mitteln. Doch nicht nur im Bereich der Unternehmensdarstellung ist die Technik des Sto‐ rytellings hilfreich, auch für das betriebsinterne Wissensmanagement und die kommunikative Begleitung von Veränderungsprozessen können narrative Formen einge‐ setzt werden. Die akademische Ausbildung von Unternehmenskommunikatorinnen und -kommunikatoren ist jedoch im Vergleich zu anderen Berufsfeldern sehr heterogen. Die Herausforderung besteht darin, die gefragte Textsortenkompetenz zu vermitteln, um Texte unterschiedlicher Funktionalität produzieren zu können. Im Berufsfeld Public Relations ist aufgrund der vielfältigen Zugänge der Bereich der beruflichen Weiterbildung relativ aus‐ geprägt. Viele Agenturen und Unternehmen bieten Volontariate und Traineeprogramme als „Onbording“-Maßnahme in die Organisationen an. Anders jedoch als im Journalismus sind Volontariate in Kommunikationsberatungen wenig standardisiert. Wenn mit externen Schulungsmaßnahmen gearbeitet wird, sollten Agenturen besonders die sprachliche Kom‐ petenz der Volontärinnen und Volontäre im Blick haben, jedoch in dem Sinne einer Ver‐ mittlung von theoretischem und strategischem Know-how, weniger einem reinen Schreib‐ 92 Annika Schach training. Auch für die Neueinrichtung und Etablierung von berufsbegleitenden MBA -Studiengängen in Deutschland, die derzeit stattfindet, gilt es das sprachwissenschaft‐ liche Rüstzeug für die Textsortenvielfalt in der Organisationskommunikation zu vermitteln und zu verankern. Dazu gehören Kenntnisse aus den Bereichen der Situativität, Funktio‐ nalität, Thematizität und Formulierungsadäquatheit von Texten, die in einen anwendungs‐ orientierten Bezug zur Schreibpraxis in Organisationen gesetzt werden sollten. Literatur Bentele, Günter/ Seidenglanz, René/ Fechner, Ronny (2015). Profession Pressesprecher 2015. Vermessung eines Berufsstandes. Berlin: Helios Media. Brinker, Klaus et al. (2014). 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Wiesbaden: Springer Gabler. 163-189. 94 Annika Schach Die Perspektive der Wirtschaft Helmut E. Klein & Sigrid Schöpper-Grabe 1. Einleitung Wirtschaftliches Handeln bedingt immer auch zweckgerichtetes sprachliches Handeln. Ohne ausreichende Sprachbeherrschung gelingt keine erfolgreiche Kommunikation am Arbeitsplatz oder mit Kunden und Geschäftspartnern. Sprache ist die Basis für Vertrags‐ verhandlungen, für die Präsentation von Produkten und für die Werbung. Da Unternehmen Institutionen sind, gelten formelle institutionelle Regelungen für das Handeln - auch für das sprachliche Handeln. Neben einheitlichen fachsprachlichen Benennungen sowie stan‐ dardisierten Berichts- und Kommunikationsformen findet betriebliche Kommunikation zweifelsfrei auch auf informellem Wege statt (Brünner 2000: 10). Damit ist Sprache ein un‐ abdingbares Medium der Interaktion und Kommunikation in Unternehmen - und erklärt, weshalb die Fähigkeit verstehend zuzuhören, zu sprechen, zu schreiben und zu lesen nicht nur in der Schule, sondern auch in der Aus- und Weiterbildung unverzichtbar und Gegen‐ stand des Lernens ist. Allerdings wird der hohe Stellenwert von Sprache in Unternehmen als Voraussetzung rei‐ bungsloser Kommunikation häufig erst dann erkannt, wenn Störungen entstanden sind und es zu Reibungen, Konflikten oder Fehlern kommt. Es sind vor allem diese Formen von Betriebsstörungen aufgrund defizitärer Sprachkompetenzen, die den Blick der Wirtschaft auf notwendige sprachliche Fähigkeiten ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter als Prä‐ misse funktionierender betrieblicher Kommunikation gelenkt haben. Dabei steht außer Zweifel, dass Unternehmen sehr genau wissen, welche Mindestanforderungen sie an die sprachlichen Fähigkeiten ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stellen (Klein & Schöpper-Grabe 2012a, 2012b). Fördern Unternehmen unzureichende grundlegende sprachliche Kompetenzen in der Aus- und Weiterbildung, um die Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeterinnen und Mitarbeiter zu sichern, verweist dies auf eine nicht erfüllte „Bringschuld“ des Schulsystems. Denn die originäre Verantwortung für die Vermittlung grundlegender sprachlicher Fähigkeiten ist in dem kodifizierten Bildungsauftrag und dem Qualitätsversprechen schulischer Bildung gemäß der Qualifikationsfunktion von Schule (Fend 1980) verankert. Wenn Unternehmen die Sprach- und Kommunikationsfähigkeiten für Beschäftigte unterschiedlicher Hierar‐ chieebenen und Funktionen an (höhere) betriebliche Anforderungsniveaus anpassen, han‐ delt es sich um Maßnahmen im Rahmen der betrieblichen Weiterbildung. Der vorliegende Beitrag legt den Fokus auf die basalen sprachlichen und kommunikativen Kompetenzen aus Sicht der Wirtschaft. Die Ausführungen orientieren sich dabei an den Ergebnissen verschiedener Unternehmensbefragungen (Klein & Schöpper-Grabe 2012a) und empirischer Überprüfungen der vorhandenen Sprachkompetenzen (Grotlüschen & Riekmann 2011, Rammstedt 2013) von Schulabsolventen und Erwachsenen. Danach werden die sprachlichen Mindestanforderungen der Wirtschaft an Ausbildungsplatzbewerber (Klein & Schöpper-Grabe 2012a) und an Geringqualifizierte (Schöpper-Grabe 2012b) zur Diskussion gestellt (Klein & Schöpper-Grabe 2015). Diese nachschulische Vermittlung von Sprachkompetenzen ist nicht nur individuell und gesellschaftspolitisch, sondern auch (bil‐ dungs-)ökonomisch betrachtet zeitaufwendig und kostenintensiv und stellt ein Beschäfti‐ gungshemmnis für geringqualifizierte Erwachsene und Unternehmen dar. Abschließend beleuchtet der Beitrag mögliche Qualifikationsansätze sowie den bildungs- und arbeits‐ marktpolitischen Handlungsbedarf zur Sicherung basaler sprachlicher Kompetenzen. 2. Sprachliche Kompetenzen von Schulabgängern im Spiegel von Unternehmensbefragungen Dass die sprachlichen Kompetenzen sowohl von Auszubildenden als auch von erwerbstä‐ tigen Erwachsenen teilweise erhebliche Schwächen aufweisen, ist kein vereinzelter Befund (Ehrenthal et al. 2005, Klein & Schöpper-Grabe 2009, 2012a, 2012b). Bereits seit mehr als zwanzig Jahren sind diese Ergebnisse sowohl durch Unternehmensbefragungen als auch durch empirische Überprüfungen der vorhandenen Kompetenzen oder durch Einstellungs‐ tests von Unternehmen dokumentiert. Schon Mitte der 1990er Jahre unterstrich eine bun‐ desweite Unternehmensbefragung des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln ( IW Köln 1997), dass rund jede vierte Lehrstellenbewerberin und jeder vierte Lehrstellenbewerber für eine Ausbildung nicht oder nur bedingt geeignet ist. Etwa zehn Jahre später belegte der Expertenmonitor des Bundesinstituts für Berufsbildung (Ehrenthal et al. 2005), dass die Rechtschreibung (87 %) und schriftliche Ausdrucksfähigkeit (85 %) die Liste der festge‐ stellten Mängel von Schulabsolventen anführen. Auch in der Ende 2010 vom IW Köln (Klein & Schöpper-Grabe 2012a: 48) durchgeführten repräsentativen Online-Unternehmensbefragung werden bei der Frage nach den Grund‐ bildungsdefiziten von Ausbildungsbewerberinnen und Ausbildungsbewerbern am häu‐ figsten die Rechtschreibung und Zeichensetzung (93 %) sowie die schriftliche Ausdrucks‐ fähigkeit (91 %) genannt. Danach folgen zum Beispiel Defizite in der Dreisatz- und Prozentrechnung (78 %) oder in den Sozial- und Selbstkompetenzen (74 %). Nach wie vor sind Lesen und Schreiben - trotz und auch gerade wegen der neuen Technologien - in der Berufsausbildung unverzichtbar. Zwar sind die Anforderungen an das für die berufliche Ausbildung erforderliche Sprachniveau durchaus unterschiedlich, zum Beispiel im Ver‐ gleich von gewerblich-technischen Auszubildenden und kaufmännischen Auszubildenden, aber ohne ausreichende schriftsprachliche Kompetenzen ist eine Berufsausübung kaum möglich. In einer Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertages gaben etwas mehr als die Hälfte der Unternehmen an, dass sie Defizite in Deutsch bei den Auszubild‐ enden festgestellt haben - gefolgt von 44 % der Unternehmen, die Schwächen der Ausbil‐ 96 Helmut E. Klein & Sigrid Schöpper-Grabe dungsplatzbewerberinnen und Ausbildungsplatzbewerber in Mathematik konstatierten ( DIHK 2015: 20). Obwohl in Deutschland eine mindestens neunjährige Schulpflicht in einem hoch entwi‐ ckelten Schulsystem besteht, verlassen nach wie vor jährlich zu viele junge Menschen die Schule ohne ausreichende Kompetenzen im Lesen, Schreiben und Rechnen. Nach der in‐ ternationalen PISA -Studie traf dies 2012 auf jeden siebten Schüler und jede siebte Schülerin zu ( OECD 2014). Die Defizite, die beim Übergang von der Schule in den Beruf vorhanden sind, beheben sich im Laufe der Erwerbstätigkeit nicht von allein, sondern bleiben dauer‐ haft, wenn keine nachholenden unterstützenden Maßnahmen ergriffen werden. So bieten nach der DIHK -Umfrage 36 % der Unternehmen bereits Nachhilfe zur Kompensation von Defiziten für schwächere Auszubildende an ( DIHK 2015). Im Vergleich zum Vorjahr war dieser Anteil um fünf Prozentpunkte gestiegen. Allerdings ist es nicht die Aufgabe von Unternehmen, Literalitätsmängel der Auszubildenden zu beheben, sondern das Schul‐ system hätte dies verhindern müssen. 3. Sprachliche Kompetenzen: Befunde aus empirischen Kompetenzüberprüfungen Nicht nur aus Sicht von Unternehmen werden sprachliche Schwächen am Übergang Schule-Beruf bzw. bei erwerbstätigen Erwachsenen konstatiert, sondern auch nationale (Grotlüschen & Riekmann 2011) und internationale Studien (Rammstedt 2013) der Kom‐ petenzüberprüfung kommen zum Ergebnis, dass Erwachsene ohne ausreichende Lesekom‐ petenzen und alltagsmathematische Kompetenzen große Probleme haben, erfolgreich am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und sich spezielle berufliche Kompetenzen anzu‐ eignen. Nach der PIAAC -Studie (Rammstedt 2013) - das Akronym steht für Programme for the International Assessment of Adult Competencies - liegt der Anteil der Erwachsenen mit mangelnder Lesekompetenz in Deutschland im Durchschnitt bei 17,5 %. Zudem weist der Befund, dass es in Deutschland 7,5 Millionen funktionale Analphabeten - also Men‐ schen mit eingeschränkten Lese- und Schreibfähigkeiten (Grotlüschen & Riekmann 2011) - gibt, auf die langfristigen Folgen von schulischen Defiziten für die Erwerbstätigkeit und Beschäftigungsfähigkeit hin. Wie wichtig sprachliche Kompetenzen für Erwerbstätige sind, untermauert das Ergebnis der PIAAC -Studie, dass fast alle Arbeitsplätze in Deutschland Lesefertigkeiten erfordern. Nur 5 % der Befragten gaben an, nie an ihrem Arbeitsplatz lesen zu müssen. Bei der Mehrheit der Arbeitsplätze sind auch Schreib- und Rechenfertigkeiten gefragt (88 % bzw. 81 %). Diese Anforderungen sind in Deutschland ähnlich hoch wie im Durchschnitt der an PIAAC beteiligten OECD -Länder (Rammstedt 2013: 139). 4. Einstellungstests der Unternehmen Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass viele Unternehmen Einstellungs- und Eignungstests mit Ausbildungsbewerberinnen und Ausbildungsbewerbern durchführen, bei denen auch schriftsprachliche Kompetenzen überprüft werden. So zeigt eine Analyse 97 Die Perspektive der Wirtschaft des IW Köln von 51 Eignungs- und Einstellungstests, die zur Auswahl von Bewerberinnen und Bewerbern um einen Ausbildungsplatz eingesetzt werden, dass fast jedes Unternehmen mathematisches Basiswissen (vor allem die Grundrechenarten, Dreisatz- und Prozentrech‐ nung) sowie die sozialen und personalen Kompetenzen testet. Lese- und Schreibkompetenz, logisches Denken und Allgemeinwissen werden von zwei Dritteln der Unternehmen über‐ prüft (Klein & Schöpper-Grabe 2010a: 6). Mit solchen Auswahlverfahren reagieren die Un‐ ternehmen - soweit es die Ressourcen zulassen - auf die Tatsache, dass Zeugnisnoten von allgemeinbildenden Schulen keine verlässliche Einschätzung der Leistungen dokumen‐ tieren. Es geht den Unternehmen nicht darum, Ausbildungsplatzbewerberinnen und Aus‐ bildungsplatzbewerber zum Beispiel mit einem Hauptschulabschluss auszugrenzen, son‐ dern um die Notwendigkeit, Bewerberinnen und Bewerber, die für eine duale Berufsausbildung das notwendige literale und basale Rüstzeug mitbringen, überhaupt erst einmal zu identifizieren. Bei den Tests werden somit keine spezialisierten Fachinhalte über‐ prüft, sondern grundlegende Kompetenzen. Es handelt sich um eine Kompetenzfeststel‐ lung, die Aufschluss über die Anschlussfähigkeit der für eine Berufsausbildung erforderli‐ chen grundlegenden literalen Fähigkeiten gibt. In dieser Hinsicht verfügen viele Ausbildungsbetriebe über eine ausgewiesene Expertise bei der Kompetenzüberprüfung im Auswahlverfahren von Bewerberinnen und Bewerbern. 5. Sprachliche Mindestanforderungen aus Sicht der Wirtschaft Die Frage, welche Mindestanforderungen an sprachliche Kompetenzen bei Schulabsolven‐ tinnen und Schulabsolventen gestellt werden, beantwortet eine bundesweite repräsentative Online-Unternehmensbefragung des IW Köln (Klein & Schöpper-Grabe 2012a). In der Studie wurden die Unternehmen gebeten, die basalen Grundbildungskompetenzen zu be‐ nennen, die Schulabsolventen zwingend zur Aufnahme einer Ausbildung benötigen und die als unverzichtbarer Bestandteil von Grundbildung bezeichnet werden können. Ganz eindeutig hatte die ausreichende Sprachbeherrschung den größten Stellenwert als Voraus‐ setzung zur Aufnahme einer dualen Berufsausbildung neben mathematischen Grundlagen und sozialen und personalen Kompetenzen. Mehr als acht von zehn Unternehmen halten diese sprachlichen Kompetenzen für „unver‐ zichtbar“ oder „eher unverzichtbar“: Deutsch • Informationen einholen • Die eigene Meinung begründet vertreten • Informationen zusammenfassen • Sich konstruktiv und sachlich an Diskussionen beteiligen • Gespräche (zum Beispiel Bewerbungsgespräche) situationsangemessen führen • Sachverhalte (zum Beispiel einen Unfall) verständlich darstellen • Redebeiträge (zum Beispiel Kurzvorträge, Diskussionsbeiträge, Arbeitsanweisungen) ver‐ stehen und angemessen wiedergeben • Fernseh- und Nachrichteninformationen verstehen • Sach- und Gebrauchstexte verstehen und nutzen 98 Helmut E. Klein & Sigrid Schöpper-Grabe • Informationen aus Texten zusammenfassen • Wichtige Informationsträger kennen und nutzen • Informationen aus Texten bewerten • Grundlegende Lesetechniken kennen und anwenden (zum Beispiel sinnerfassendes Lesen, Überschriften formulieren) • Rechtschreibung beherrschen • Zeichensetzung beherrschen • Wissen, dass unterschiedliche Kommunikationssituationen eine unterschiedliche Sprach‐ verwendung erfordern • Schriftlich argumentieren und Stellung nehmen • Zwischen unterhaltenden, informierenden und wertenden Texten unterscheiden und die Textabsicht erkennen • Berichte und Beschreibungen erstellen • Grundregeln der Grammatik kennen und anwenden • Schreiben sachgerecht formulieren Tab. 1: Sprachliche Mindestkompetenzen von Schulabsolventen im Sinne der Ausbildungsreife (Klein & Schöpper-Grabe 2012a: 55 f.) (n = 911 ausbildungsaktive Unternehmen) Die von den Unternehmen erwarteten sprachlichen Kompetenzen waren dabei nahezu identisch mit den in sämtlichen von Klein & Schöpper-Grabe untersuchten Lehrplänen angegebenen elementaren schulischen Bildungsinhalten (2012a: 53). Das Ergebnis unter‐ streicht die hohe Deckungsgleichheit der in einer Berufsausbildung benötigten kommuni‐ kativen Kompetenzen „mit denen […], die ein Individuum im Alltag und für eine allgemeine gesellschaftliche Handlungsfähigkeit und Persönlichkeitsentfaltung benötigt“ (Efing 2013a: 14). Nach Efing weisen unterschiedliche Studien aus der angewandten Linguistik, Deutsch- und Fremdsprachendidaktik darauf hin, dass die Bedeutung von (fach- und berufsspezifischer) Fachsprache im Beruf bislang weit über‐ schätzt wurde und stattdessen die Beherrschung einer weitgehend fach- und berufsunabhängigen Berufssprache, die der Allgemeinsprache nahe steht, von Relevanz für eine berufliche Handlungs‐ fähigkeit ist (Efing 2013a: 14). Insofern widerlegen diese Befunde zu den mindestens erforderlichen sprachlichen Kom‐ petenzen auch die Behauptung (Winkler 2008: 71), von Auszubildenden würden zunehmend Kompetenzen erwartet, für deren Entwicklung erst die Ausbildungsinstanzen selbst zu‐ ständig seien. Solchen Vorhaltungen tritt auch der von den Partnern des Nationalen Ausbildungspakts veröffentlichte „Kriterienkatalog zur Ausbildungsreife“ ( BA 2006) entgegen. In diesem Ka‐ talog definieren Arbeitgeber- und Industrieverbände, Industrie- und Handelskammern, Handwerkskammern, das Bundesinstitut für Berufsbildung ( BIBB ), Bundesministerien sowie die Bundesagentur für Arbeit einen an Schulen und Schulabsolventen gerichteten Orientierungsrahmen, der die zu erfüllenden Anforderungen - unter anderem an schuli‐ sche Basiskenntnisse wie Schreiben und Lesen - für die Aufnahme einer Berufsausbildung beinhaltet. In einer jüngeren Publikation plädiert die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände dafür, „junge Menschen in der Schule mit einer ausbaufähigen und nachhaltigen Grundbildung auszustatten und ihre Ausbildungsreife zu sichern“ ( BDA 2015: 19) - ein impliziter Hinweis auf die für eine Berufsausbildung erforderliche Literalität. 99 Die Perspektive der Wirtschaft Dass mangelnde Sprachkenntnisse ein Ausbildungshemmnis sind und zur Kompensation zusätzliche Unterstützungsmaßnahmen der Ausbildungsbetriebe erfordern, bestätigt mit‐ telbar eine BIBB -Studie über Jugendliche mit Hauptschulabschluss in der betrieblichen Ausbildung: „Besonders förderlich für einen hohen Anteil Jugendlicher mit Hauptschulab‐ schluss scheint zu sein, wenn Betriebe sich in der Förderung deutscher Sprachkenntnisse engagieren“ (Gerhards et al. 2013: 13). Vor diesem Hintergrund wird erneut deutlich, dass die Schule ihrem Bildungsauftrag nur suboptimal gerecht wird und welche langfristigen Folgen die fehlenden Grundkompetenzen für die Teilhabe an Gesellschaft und Beruf für den Einzelnen haben. Denn künftig sind Jobs für Geringqualifizierte noch rarer, als sie es bereits heute sind. Fast die Hälfte aller Arbeitslosen ist aufgrund der unzureichenden Qualifikationen auf der Suche nach einem Helferjob (Bogai et al. 2014). Sprachliche Kompetenzen sind dabei neben dem fachlichen Qualifikationsniveau ein entscheidender Faktor für die Erwerbstätigkeit. Dass Geringqualifizierte überwiegend in einfachen Tätigkeiten unterhalb des Facharbeiterni‐ veaus tätig sind, bedeutet nicht, dass für die Ausübung der Tätigkeit keine Mindestkom‐ petenzen oder Qualifikation erforderlich sind (Klein & Schöpper-Grabe 2012b: 74-76). Ein‐ fache Tätigkeiten verlieren weniger ihre Relevanz, sondern es ändert sich vielmehr ihre Qualität, was zu erweiterten Kompetenzanforderungen an Geringqualifizierte führt (Weber & Kretschmer 2012: 40 f.), die zu einem großen Teil auch mit höheren Anforderungen an die Lese- und Schreibfähigkeit verknüpft sind. So gaben bei einer IW -Unternehmensbefragung zur Grundbildung und Weiterbildung von Geringqualifizierten 17 % der Unternehmen an, dass sie bei vielen ihrer Beschäftigten De‐ fizite im Lesen und Schreiben in Deutsch festgestellt hatten (Klein & Schöpper-Grabe 2015: 118). Etwas über die Hälfte der Unternehmen bestätigte dies in Bezug auf einzelne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Denn längst haben Unternehmen begonnen, auch bei der Suche nach An- und Ungelernten auf die vorhandenen Grundqualifikationen zu achten und überprüfen diese auf vielfältige Weise (Klein & Schöpper-Grabe 2015: 121). Tabelle 2 zeigt, welche sprachlichen Mindestkompetenzen Unternehmen von Geringqualifizierten er‐ warten. Wenn unzureichende sprachliche Kompetenzen von Geringqualifizierten zu Problemen führen, zum Beispiel zu Fehlern im Produktionsprozess oder Missverständnissen, können arbeitsplatzorientierte Grundbildungsangebote abgestimmt auf den jeweiligen Bedarf un‐ terstützen. Zwar hat die aktuelle Diskussion um die Sicherung des Fachkräftenachwuchses den Blick zunehmend auf die qualifikatorischen Potenziale an- und ungelernter Mitarbei‐ terinnen und Mitarbeiter gelenkt; allerdings erschweren nicht nur die kognitiven (Lern-)Vo‐ raussetzungen, das Bildungsniveau und die bisherigen Lernerfahrungen dieser Zielgruppe die Teilnahme an Weiterbildungen. Ebenso können auch knappe zeitliche Ressourcen sowie mangelnde passgenaue Angebote bei Bildungsträgern vor Ort die Durchführung von För‐ dermaßnahmen behindern. 100 Helmut E. Klein & Sigrid Schöpper-Grabe Mindestkompetenzen Ja, unverzichtbar Eher unverzichtbar Summe Situationsangemessen deutsch sprechen 77,1 19,2 96,3 Sachverhalte münd‐ lich verständlich dar‐ stellen 65,5 28,5 94,0 Tätigkeitsrelevante Texte verstehen 55,6 34,1 89,7 Redebeiträge ver‐ stehen und ange‐ messen wiedergeben (Arbeitsanweisungen, Kundenkontakte) 43,1 39,9 83,0 Einfache Sachverhalte schriftlich formulieren 46,8 35,7 82,5 Tab. 2: Sprachliche Mindestkompetenzen von Geringqualifizierten aus Sicht der Unternehmen (Klein & Schöpper-Grabe 2012a: 75) (Differenz zu 100 %: Antwortkategorien „Eher nein“ und „Nein, ver‐ zichtbar“, Rundungsdifferenzen möglich, n = 1.114 Unternehmen) So haben rund 80 % der Unternehmen, die Geringqualifizierte beschäftigen, in den letzten fünf Jahren mindestens eine Weiterbildungsmaßnahme für Geringqualifizierte angeboten. Bei knapp einem Drittel der Unternehmen handelte es sich um eine Maßnahme zur För‐ derung der arbeitsplatzorientierten Grundbildung, allerdings spielte die Förderung von sprachlichen Kompetenzen bislang eine marginale Rolle: Acht Prozent der Maßnahmen entfielen auf Kurse zur Förderung der Lese- und Schreibfähigkeiten für Beschäftigte mit nicht-deutschsprachigem Hintergrund und vier Prozent auf entsprechende Kurse für Be‐ schäftigte mit deutschsprachigem Hintergrund (Klein & Schöpper-Grabe 2015: 122-124). 6. Bildungs- und arbeitsmarktpolitischer Handlungsbedarf zur Sicherung sprachlicher Kompetenzen Grundlegende sprachliche Kompetenzen, die beim Verlassen der Schulen nicht vorliegen und nachgeholt werden müssen, sind nicht nur eine Hypothek für das Individuum, sondern für die Gesellschaft und Wirtschaft. Schließlich ist - bildungsökonomisch betrachtet - der nachträgliche Erwerb dieser Grundlagen etwa im Übergangssystem, in Ausbildungsbe‐ trieben oder bei der arbeitsplatzorientierten Grundbildung für Geringqualifizierte, sehr zeitaufwendig und kostenintensiv. Hinzu kommt, dass tendenziell gerade für die Ziel‐ gruppen mit den meisten Defiziten im Sinne des Matthäus-Effekts am wenigsten ausdiffe‐ renzierte übergreifende Förderansätze zur Verfügung stehen. So fehlt es beispielsweise in der beruflichen Bildung „an empirischer, evaluativer Begleit‐ forschung und einem Konsens, wie Sprachförderung […] aussehen sollte, damit sie wirksam ist“ (Efing 2013b: 2). Neben den Konzepten der Sprachförderung sind vor allem die zeitlich eingeschränkten Ressourcen in berufsbildenden Schulen zu berücksichtigen. So sind in den 101 Die Perspektive der Wirtschaft berufsvorbereitenden Bildungsgängen der beruflichen Schulen in der Regel nur ein bis drei Stunden Deutschunterricht vorgesehen. Selbst wenn auch der Fachunterricht sprachliche Kompetenzen im Blick hat, können vorhandene Defizite in Deutsch eher nicht ausgeglichen werden. Es stellt sich die Frage, inwieweit ein einbis zweijähriger Bildungsgang mit bis zu drei Unterrichtsstunden Deutsch basale Sprachkompetenzen im Sinne nachholender Grundbildung vermitteln kann, die offenbar schon von vielen Deutschlehrerinnen und Deutschlehrern in neun oder zehn Jahren des allgemeinbildenden Unterrichts nicht ver‐ mittelt werden konnten. Inzwischen haben besonders die berufsvorbereitenden Bildungsgänge eine kompensatori‐ sche bzw. kurative Funktion erhalten, der sie aufgrund der vorhandenen Rahmenbedin‐ gungen nicht oder nur bedingt gerecht werden können. Auf der einen Seite sollen sie Grundbildungsdefizite - und sprachliche Kompetenzen haben dabei eine entscheidende Rolle - ausgleichen und auf der anderen Seite einen allgemeinbildenden Schulabschluss nachholen, was ein fast unlösbares curriculares Dilemma darstellt. Wie gravierend die vorhandenen sprachlichen Mängel der Schülerinnen und Schüler in diesen Bildungsgängen sind, zeigt zum Beispiel eine Analyse der schriftsprachlichen Kor‐ rektheit in fast 100 Deutscharbeiten an nordrhein-westfälischen Berufskollegs (Klein & Schöpper-Grabe 2010b), in der ein durchschnittlicher Fehlerquotient von 13,5 % ermittelt wurde. Bereits ab einem Fehlerquotienten von mehr als 6,5 % im Bereich Rechtschreibung und Grammatik wird in Thüringen zum Beispiel die Note 6 gegeben oder in der Handels‐ schule der Freien Hansestadt Bremen ab einem Quotienten von 10,1 % (Brück et al. 2009). Ein so hoher durchschnittlicher Fehlerquotient - selbst in Bildungsgängen mit in der Regel eher leistungsschwachen Jugendlichen - ist bemerkenswert. Sprachliche und kommunikative Kompetenzen sind das Ergebnis eines langjährigen Lern‐ prozesses, dessen Basis - bezogen auf das Schulsystem - bereits in den Grundschulen gelegt wird. Eine empirische Studie belegt, dass die Rechtschreibfehler in Texten von Viertkläss‐ lern seit 1972 dramatisch zugenommen haben. Untersucht wurden Texte aus den Jahren 1972, 2002 und 2012. Im Vergleich zu 1972 hatte sich die Fehlerzahl in den neueren Texten beinahe verdoppelt (Steinig & Betzel 2014), während im Wortschatz und der Textgestaltung beachtliche Verbesserungen festgestellt wurden. Die Wahrscheinlichkeit einer Empfehlung von der Grundschule auf das Gymnasium hängt heutzutage sogar stärker vom Bildungs‐ stand des Elternhauses und dem Rechtschreibniveau ab als zuvor, was zeigt, wie früh sich die Bedeutung sprachlicher Kompetenzen im Hinblick auf die Eröffnung von Bildungs‐ wegen bemerkbar macht (Steinig & Betzel 2014: 353) und wie wichtig es ist, frühzeitig mit der gezielten Förderung zu beginnen und sie kontinuierlich zu begleiten - mit aufeinander aufbauenden Förderkonzepten auf allen Bildungsstufen. Aus Perspektive der Wirtschaft sind systematische und zeitintensive Sprachförderungen in der Aus- und Weiterbildung nicht möglich. Gleichwohl ist mit Blick auf die demografische Entwicklung davon auszugehen, dass die Bereitschaft der Betriebe künftig zunehmen wird, bei der Besetzung von Ausbildungsplätzen mehr als bisher auch auf leistungsschwache Jugendliche zurückzugreifen, um den eigenen Fachkräftebedarf zu decken. Damit rückt die nachholende Sprachförderung in den Fokus. Allerdings müssen dabei immer die Wettbe‐ 102 Helmut E. Klein & Sigrid Schöpper-Grabe werbsfähigkeit und Produktivität der Unternehmen gesichert bleiben und die nötigen Res‐ sourcen für das aufwendige, zeitintensive Nachschulen sowie für die Betreuung dieser Ju‐ gendlichen vorhanden sein. Um die Sprachförderung in diese Nachhilfeangebote stärker einbinden zu können, ist eine geeignete staatliche Unterstützung der Ausbildungsbetriebe und der Ausbilder erforderlich, beispielsweise im Rahmen der speziellen Einsteigerprogramme in Großunternehmen sowie der staatlich geförderten Einstiegsqualifizierungen. Ein ähnlicher Handlungsbedarf trifft auch auf die Geringqualifizierten mit unzureichenden Sprachkompetenzen in Unter‐ nehmen zu: Damit niedrigschwellige sprachbezogene Weiterbildungsangebote für die Ziel‐ gruppe in größerem Umfang implementiert werden können, ist es unverzichtbar, vorhan‐ dene arbeitsmarktpolitische Förderinstrumente entsprechend auszuweiten. So können bei modularen Teilqualifizierungen bislang Grundbildungsmaßnahmen nicht systematisch vorgeschaltet werden. Durch die Anerkennung von Grundbildungsinhalten - und damit auch der sprachlichen Kompetenzen - als Voraussetzung zur beruflichen (Nach-)Qualifi‐ zierung werden Unternehmen und Bildungsträger unterstützt, passgenaue Sprachförder‐ konzepte in Qualifizierungsmaßnahmen für An- und Ungelernte integrieren zu können. Literatur BA - Bundesagentur für Arbeit/ Nationaler Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland (Hrsg.) (2006). Kriterienkatalog zur Ausbildungsreife. Abrufbar unter: https: / / www.bibb.de/ dokumente/ pdf/ a21_PaktfAusb-Kriterienkatalog-AusbReife.pdf (Stand: 18/ 09/ 2018) BDA - Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (2015). Fachkräftemangel be‐ kämpfen - Wettbewerbsfähigkeit sichern. Handlungsempfehlungen zur Fachkräftesicherung in Deutschland. Berlin: BDA. Bogai, Dieter/ Buch, Tanja/ Seibert, Holger (2014). Arbeitsmarktchancen von Geringqualifizierten. Kaum eine Region bietet genügend einfache Jobs. IAB-Kurzbericht: 11. 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Weiterhin zeichnet sich die Berufsbildungspolitik aus durch (Büchter 2013: 3): • eine Orientierung an Zielen verschiedener Systeme, in erster Linie an denen des Bildungs- und Beschäftigungssystems, • eine korporatistische Steuerung durch eine Vielzahl von Akteuren: Interessenver‐ bände, Sozialpartner und staatliche Institutionen, die Aufgaben z. T. an Bündnisse, Arbeitsgruppen und Koordinierungsstellen delegieren. Es gibt ständige Gremien, z. B. den Hauptausschuss des Bundesinstituts für Berufsbildung ( BIBB ), und zeitlich begrenzte Arbeitsgruppen zur Bearbeitung spezieller Themen, z. B. die Allianz für Aus- und Weiterbildung. Die Gestaltung der Berufsbildungspolitik ist durch „viel‐ fältige gesellschaftliche Verflechtungen geprägt“ (Slopinski 2015: 189), • unterschiedliche Geltungsbereiche von Gesetzen und Verordnungen, z. B. Schul‐ recht, Berufsbildungsgesetz und Handwerksordnung, • unterschiedliche Finanzierungsquellen insb. durch Wirtschaft, Bund, Länder und Kommunen, • eine inhaltliche und z. T. institutionelle Ausdifferenzierung, z. B. von Berufsorien‐ tierung bis zu Fort- und Weiterbildung. Innerhalb der Berufsbildungspolitik besteht ein Konsens hinsichtlich der elementaren Be‐ deutung von Sprache für den Erwerb beruflicher Handlungskompetenz und für berufliches Handeln. Zudem gilt eine angemessene Sprachverwendung als Ausdruck beruflicher Ex‐ pertise (vgl. Kultusministerkonferenz 2015, Pätzold 2010). Gleichwohl unterscheiden sich berufsbildungspolitische Dokumente erheblich bzgl. der Konzeptualisierung sprachlicher Aspekte und ihrer Elaboriertheit. Im Folgenden wird untersucht, in welcher Weise Sprache in berufsbildungspolitischen Instrumenten thematisiert wird. Im Einzelnen werden vorge‐ stellt • der Europäische Referenzrahmen Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen, der die Kompetenzen benennt, die über Bildungs- und Lebensphasen hinweg als zentral in einer sich wandelnden Welt erachtet werden, • die Ausbildungsreife als zentrales Konzept im Übergang Schule - Ausbildung, • der Deutsche Qualifikationsrahmen ( DQR ), der die Gleichwertigkeit der Abschlüsse allgemeiner, hochschulischer und beruflicher Bildung hervorhebt, und der zugehö‐ rige Metarahmen - der Europäische Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen ( EQR ), der Lernleistungen und erworbene Qualifikationen über die Länder Europas transparent macht, • die Ordnungsmittel als Grundlage für die Gestaltung dualer Ausbildung. Diese Auswahl ermöglicht es, die Bedeutung der Sprache in unterschiedlichen Phasen der beruflichen Bildung auf nationaler und europäischer Ebene zu analysieren. 2. Sprache … 2.1 … im Europäischen Referenzrahmen Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen Der 2006 verabschiedete Referenzrahmen Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen ist Teil der Strategie der Europäischen Union, um auf Veränderungen des Arbeitsmarktes durch Globalisierung und die Zunahme wissensbasierter Beschäftigung zu reagieren. Um langfristig Wirtschaftswachstum und Konkurrenzfähigkeit zu sichern, muss die Beschäf‐ tigungsfähigkeit der Menschen erhalten werden, insb. ihre Anpassungsfähigkeit an neue Erfordernisse. Hierfür wird die Entwicklung bestimmter Schlüsselkompetenzen als vor‐ dringlich erachtet (Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates, 18. 12. 2006). Der Referenzrahmen stellt einen Bezugspunkt für die strategische und inhaltliche Ausrich‐ tung der nationalen Bildungspolitiken dar. Obwohl er lediglich als Empfehlung gilt, orien‐ tieren sich die EU -Staaten an ihm (Bohlinger 2013: 10 f., vgl. Kommission der europäischen Gemeinschaften, 25. 11. 2009). So fließen die Empfehlung z. B. in Programme des lebens‐ langen Lernens und der Kompetenzfeststellung ein. Die Bedeutung der Schlüsselkompetenzen wird nicht nur mit dem Erhalt der Beschäfti‐ gungsfähigkeit begründet, sondern auch mit der persönlichen Entfaltung, dem aktiven Bürgersinn und sozialem Zusammenhalt. Diese breite Verankerung untermauert die Rele‐ vanz der Schlüsselkompetenzen. Kompetenzen werden verstanden als Einheit von Wissen, Fähigkeiten und Einstellungen. Das dem Referenzrahmen zugrunde gelegte Konzept des lebenslangen Lernens impli‐ ziert, dass die Schlüsselkompetenzen auch nach Abschluss der allgemeinbildenden Grund‐ ausbildung von Jugendlichen und Erwachsenen stetig weiter zu entwickeln sind. Es werden acht gleichwertige Schlüsselkompetenzen genannt. Zwei davon, mutter- und fremdsprachliche Kompetenz, sind ausschließlich sprachlichen Themen gewidmet, bei den anderen, z. B. der mathematischen und unternehmerischen, bilden sprachlich-kommuni‐ kative Kompetenzen grundlegende Bestandteile. Muttersprachliche Kompetenz wird definiert als „die Fähigkeit, Konzepte, Gedanken, Gefühle, Tatsachen und Meinungen sowohl mündlich wie schriftlich ausdrücken und in‐ 106 Anke Settelmeyer & Christina Widera terpretieren zu können“ sowie sprachlich angemessen und kreativ in allen gesellschaftli‐ chen und kulturellen Kontexten handeln zu können. Dies umfasst im Einzelnen: • „Kenntnisse in Wortschatz, Grammatik und den Funktionen von Sprache“ und Be‐ wusstsein für z. B. Text- und Gesprächssorten, für Merkmale verschiedener Sprach‐ stile und -register sowie für die Kontextabhängigkeit von Sprache und Kommuni‐ kation, • die Fähigkeit, mündlich wie schriftlich eine Vielzahl von Kommunikationsanlässen situationsspezifisch zu bewältigen, das eigene Kommunikationsverhalten zu be‐ obachten und anzupassen wie auch Hilfsmittel zu nutzen, z. B. Nachschlagewerke; • die Bereitschaft und das Bestreben zum kritischen und konstruktiven Dialog und das Interesse an der Interaktion mit anderen sowie das Bestreben, Sprache nach ästhetischen Gesichtspunkten zu verwenden (siehe Empfehlung des Europäischen Parlamentes und des Rates 2006). Fremdsprachliche Kompetenz wird entsprechend operationalisiert, ergänzt um das Wissen über kulturelle Aspekte von Sprache und deren Verwendung sowie die Fähigkeit, diese Kenntnisse umzusetzen und Fremdsprachen auch informell lernen zu können. Darüber hi‐ naus soll - auf der Einstellungsebene - kulturelle Diversität geschätzt und Interesse an interkultureller Kommunikation und an Sprachen entwickelt werden. Mit der umfassenden und expliziten Konzeptualisierung von mutter- und fremdsprach‐ licher Kompetenz werden ambitionierte Ziele für die Entwicklung dieser Kompetenzen formuliert. 2.2 … im Konzept der Ausbildungsreife Ausbildungsreife ist ein zentrales Konzept beim Übergang von der allgemeinbildenden Schule in die berufliche Ausbildung. An der Diskussion sind Akteure aus der Wirtschaft, den Gewerkschaften, der Bundesagentur für Arbeit, der Bundesregierung und der Wissen‐ schaft beteiligt, deren Interessen sich z. T. erheblich unterscheiden (Dobischat et al. 2012: 23-44). Eine allgemeingültige Definition von Ausbildungsreife liegt bislang nicht vor. Überein‐ stimmend werden derzeit darunter die Voraussetzungen verstanden, die Jugendliche befä‐ higen, eine berufliche Ausbildung im Allgemeinen (nicht auf einen bestimmten Beruf be‐ zogen) aufzunehmen und erfolgreich zu beenden (Ebbinghaus 2000). Dem Nationalen Pakt für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland 2010-2014 zufolge ist „Ausbil‐ dungsreife … Voraussetzung für Ausbildung“ (2010: 5). Die Feststellung von Ausbildungsreife dient der Differenzierung von an Ausbildung in‐ teressierten Jugendlichen in ausbildungsreife und nicht ausbildungsreife, was als Etiket‐ tierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung verstanden werden kann (Rützel 1995: 111, nach Dobischat et al. 2012: 75). Nur ausbildungs- und berufsgeeignete Jugendliche werden von der Bundesagentur für Arbeit als Ausbildungsstellen-Bewerber geführt und vermittelt. Noch nicht ausbildungsreife Jugendliche können berufsvorbereitende Maßnahmen in An‐ spruch nehmen. Insb. große Betriebe ermitteln über eigene Auswahlverfahren die Ausbil‐ dungsreife von Jugendlichen. Verbindliche Angaben zur Anzahl der Jugendlichen, die als 107 Die Perspektive der Berufsbildungspolitik (nicht) ausbildungsreif eingestuft werden, liegen nicht vor (Müller-Kohlenberg et al. 2005: 20-23). Ausbildungsreife ist ein mehrdimensionales Konstrukt, zu dessen Operationalisierung häufig schulische Basiskompetenzen, psychologische Merkmale der Leistung und des Ar‐ beitsverhaltens sowie physische Merkmale herangezogen werden. Dabei werden auch sprachlich-kommunikative Kompetenzen ausdrücklich genannt (Eberhard 2006: 18-22). Dies ist auch in dem weit verbreiteten Konzept zur Ausbildungsreife der Bundesagentur für Arbeit (2009) der Fall, das bei der Berufsberatung der Bundesagentur eingesetzt wird. Die Beratenden sollen entsprechende Kompetenzen und Interessen der Bewerberinnen und der Bewerber auf der Grundlage vorliegender (berufsbezogener) Dokumente (Zeugnisse, Lebenslauf, schriftliche Informationen der Bundesagentur über Berufe) und des Beratungs‐ gesprächs einschätzen. Bei Bedarf wird der Psychologische Dienst zu einer differenzierten Sprachstandsfeststellung hinzugezogen (zu den Verfahren vgl. Fachstelle berufsbezogenes Deutsch 2014: 26 f). • Die schulischen Basiskenntnisse umfassen - (Recht)Schreiben: Einfache Texte sollen handschriftlich leserlich, verständlich und zusammenhängend unter Anwendung von Grundkenntnissen der Recht‐ schreibung und Zeichensetzung verfasst werden. - Lesen: Texten sollen unter Anwendung von Texterschließungsstrategien Infor‐ mationen entnommen werden; Interesse am Lesen soll vorhanden sein. - Sprechen/ Zuhören: Hierzu gehören sich verständlich und zusammenhängend sowie der Situation angemessen ausdrücken zu können. • Zu den psychologischen Leistungsmerkmalen zählen u. a. die Fähigkeit, mit anderen angemessen, situations- und kontextspezifisch zu kommunizieren wie auch weitere personale und soziale Kompetenzen, bei deren Einschätzung unter anderem die Art der Verwendung von Sprache berücksichtigt wird. Konfliktfähigkeit umfasst z. B. die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse deutlich ansprechen zu können. Auch dem Konzept der Ausbildungsreife liegt ein umfassender Begriff von Sprache zu‐ grunde. Dieser wird jedoch nicht explizit formuliert, sondern muss aus den Operationali‐ sierungen erschlossen werden. Die Attestierung der Ausbildungsreife erfolgt auf der Grundlage aller Merkmale, ohne dass der Stellenwert einzelner Aspekte eigens ausgewiesen wird. Welche Bedeutung sprachlichen Aspekten bei der Attestierung zukommt kann daher nicht präzise beziffert werden. Wie relevant die sprachlich-kommunikativen Aspekte, die bei der Einschätzung der Ausbildungsreife herangezogen werden, im Verlauf der beruflichen Ausbildung tatsächlich sind, ist nur teilweise erforscht (Baumann 2014, Ebbinghaus et al. 2016, Ehrenthal et al. 2005). 2.3 … im Europäischen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen - EQR und im Deutschen Qualifikationsrahmen - DQR Mit dem Europäischen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen ( EQR ) sollen Lern‐ leistungen und erworbene Qualifikationen über die Länder der EU hinweg transparent gemacht werden und so zu einer guten Beschäftigungsquote auf dem europäischen Ar‐ 108 Anke Settelmeyer & Christina Widera beitsmarkt sorgen sowie die Wettbewerbsfähigkeit steigern. Er dient als Metarahmen, um verschiedene nationale Qualifikationsrahmen zu verknüpfen. Im EQR werden Lernergebnisse durch Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen darge‐ stellt. Unter Kenntnissen wird das Theorie- und Faktenwissen zusammengefasst, das durch die Verarbeitung von Informationen erlernt wird. Fertigkeiten werden nach kognitiven und praktischen Fertigkeiten unterschieden. Kompetenz bezeichnet die Fähigkeit, Kenntnisse, Fertigkeiten sowie persönliche, soziale und methodische Fähigkeiten zu nutzen. Sie wird mit der Übernahme von Verantwortung und Selbstständigkeit umschrieben. Im EQR werden acht Niveaus unterschieden (Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates 2008). Entsprechend der Empfehlung der Europäischen Kommission von 2005 wurden Exper‐ tinnen und Experten aus Schule, Wirtschaft, Gewerkschaften, Wissenschaft, Bildungs‐ praxis und dem BIBB beauftragt, einen Deutschen Qualifikationsrahmen ( DQR ) zu entwi‐ ckeln, der die Lernergebnisse allgemeiner, hochschulischer und beruflicher Bildung in einzelnen Niveaus beschreibt. Hinsichtlich der Zuordnung allgemeinbildender Schulab‐ schlüsse konnte bisher kein Konsens erreicht werden. Zudem werden zurzeit nicht-formal und informell erworbene Kompetenzen ausgeschlossen. Wie der EQR setzt sich der DQR aus acht Niveaus zusammen; es werden aber unter‐ schiedliche Kompetenzbereiche differenziert. Grundlage der Zuordnung von Qualifikati‐ onen sind die Niveauindikatoren und Deskriptoren des DQR . Die Lernergebnisse werden dabei unabhängig vom Input (Ausbildungsdauer, Lernort oder -form) formuliert. Der Ni‐ veauindikator beschreibt die Anforderungsstruktur in einem Lern- oder Arbeitsbereich, in einem wissenschaftlichen Fach oder beruflichen Tätigkeitsfeld. Die Zuordnung zu den Ni‐ veaus gibt den Grad fachlicher und personaler Kompetenzen wieder, über den eine Person mindestens verfügen soll. Dabei können die Qualifikationen auf unterschiedlichen Bil‐ dungswegen erreicht werden. Hiermit wird die Gleichwertigkeit der Bildungswege betont. Der DQR ersetzt aber nicht bestehende Zugangsberechtigungen im formalen Bildungs‐ system. Die Fachkompetenz ist unterteilt in Wissen und Fertigkeiten. Wissen entsteht in Lern‐ prozessen und bezeichnet die Kenntnisse über Fakten, Grundsätze, Theorien und Praxis. Dabei wird zwischen der Tiefe und Breite des Wissens differenziert. Die Fähigkeit, Wissen anzuwenden, entspricht den Fertigkeiten. Sie können sowohl kognitiver als auch prakti‐ scher Art sein. Bei der Beschreibung der Niveaus wird auf die instrumentellen und syste‐ matischen Fertigkeiten sowie die Beurteilungsfähigkeit verwiesen (Bund-Länder-Koordi‐ nierungsstelle für den Deutschen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen 2013: 14). Die personale Kompetenz ist untergliedert in Sozialkompetenz und Selbständigkeit. Zur Sozialkompetenz werden die Team- und Führungsfähigkeit, die Fähigkeit zur Mitgestaltung und Kommunikation gezählt. Selbständigkeit beinhaltet eigenständiges und verantwor‐ tungsbewusstes Handeln, die Reflexion des eigenen Handelns und des Handelns anderer sowie die Weiterentwicklung der eigenen Handlungsfähigkeit (Bund-Länder-Koordinie‐ rungsstelle für den Deutschen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen 2013: 14). Ein ausdrücklicher Hinweis auf kommunikative Kompetenzen findet sich im Rahmen der Sozialkompetenz. Kommunikation wird hier im Sinne eines handlungstheoretischen Zugangs als soziales Handeln verstanden. Zweck der Kommunikation ist der Informations‐ 109 Die Perspektive der Berufsbildungspolitik austausch zwischen Personen, in Gruppen und Organisationen mit dem Ziel der Verständigung (Bund-Länder-Koordinierungsstelle für den Deutschen Qualifikationsrahmen für lebens‐ langes Lernen 2013: 16). Die duale Berufsausbildung ist im DQR bei den Niveaus 3 (zweijährige Ausbildungsbe‐ rufe) und 4 (drei- und dreieinhalbjährige Ausbildungsberufe) verortet. Entsprechend dem Inklusionsprinzip des DQR werden die Kompetenzen der vorangehenden Niveaus einge‐ schlossen. Im Hinblick auf die kommunikativen Kompetenzen von Absolventinnen und Absolventen von Ausbildungsberufen bedeutet das, dass sie • „sich mündlich und schriftlich informieren und austauschen“ können (Niveau 1); • „in mündlicher und schriftlicher Kommunikation situationsgerecht agieren und re‐ agieren“ können (Niveau 2); • „Ergebnisse adressatenbezogen darstellen“ können (Niveau 3) und • je nach Dauer der Berufsbildung „über Sachverhalte umfassend kommunizieren“ können (Niveau 4) (Bund-Länder-Koordinierungsstelle für den Deutschen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen 2013: 17 f.). Im Vergleich zum EQR wird im DQR auf verschiedene Niveaus kommunikativer Kompe‐ tenzen explizit hingewiesen; im EQR sind sie in den einzelnen Niveaus der Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen implizit vorhanden. Er ist abstrakter formuliert, um ver‐ schiedene nationale Bildungssysteme zu integrieren. 2.4 … in den Ordnungsmittel der dualen Berufsausbildung Aufgrund von technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen fallen Berufe weg oder müssen modernisiert oder neu geordnet werden. Die außerschulische Be‐ rufsausbildung wird dabei durch das Berufsbildungsgesetz einheitlich und bundesweit ge‐ regelt. Grundlage bilden die Ausbildungsordnungen. Die Ausbildungsrahmenpläne der Ausbildungsordnungen für die Betriebe werden mit den entsprechenden Rahmenlehr‐ plänen für die Berufsschulen abgestimmt, damit betriebliche Berufsausbildung und Berufs‐ schulunterricht einander ergänzen. Dies läuft über einen festgelegten Prozess ab, an dem der Bund (das Bundesministerium für Bildung und Forschung ( BMBF ), die für die Ausbil‐ dungsordnung zuständigen Fachministerien, das Bundesinstitut für Berufsbildung), die Länder, Arbeitgeber, Gewerkschaften und die Berufsbildungsforschung beteiligt sind. Zu‐ erst werden die „Eckwerte“ (z. B. Berufsbezeichnung, Ausbildungsdauer) festgelegt; dann werden Ausbildungsordnungen für die Betriebe und Rahmenlehrpläne für die berufsbild‐ enden Schulen erstellt und aufeinander abgestimmt. Erst wenn alle Beteiligten dem Entwurf zustimmen (Konsensprinzip), erfolgt die Verordnung durch das zuständige Ministerium im Einvernehmen mit dem BMBF (Bundesinstitut für Berufsbildung 2015). Die Ausbildungsordnung beinhaltet die Bezeichnung des Ausbildungsberufs, die Aus‐ bildungsdauer, das Ausbildungsberufsbild - eine Zusammenfassung der für einen Beruf benötigten Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten -, den Ausbildungsrahmenplan - einen sachlich und zeitlich gegliederten Plan zur Vermittlung der Fertigkeiten, Kenntnisse und Fähigkeiten - und die Prüfungsanforderungen (§ 5 Absatz 1 BB iG). Ziel der Ausbildung ist, eine umfassende berufliche Handlungsfähigkeit zu vermitteln. Der Hauptausschuss des 110 Anke Settelmeyer & Christina Widera BIBB betont in seiner Empfehlung (2016), dass die berufliche Handlungsfähigkeit dem Konzept der Handlungskompetenz des DQR entspricht. Im Berufsbild werden Aufgabenbündel (Berufsbildpositionen) beschrieben. Dem Modell der vollständigen Handlung folgend sind in den Berufsbildpositionen das selbständige In‐ formieren, Planen, Entscheiden, Vorbereiten und Ausführen, Kontrollieren und Bewerten implizit enthalten. Die Lernfelder des KMK -Rahmenlehrplans für die Berufsschule ergeben sich aus den Berufsbildpositionen (Arbeitsgruppe des Hauptausschusses zur Struktur und Gestaltung von kompetenzorientiert formulierten Ausbildungsordnungen 2016). Sowohl in den betrieblichen als auch in den berufsschulischen Ordnungsmitteln werden Mindestanforderungen beschrieben, die an eine qualifizierte Fachkraft gestellt werden. Die Lernergebnisse werden dabei möglichst unabhängig von der technischen Ausstattung und funktionsorientiert formuliert und enthalten keine methodischen Vorgaben für den Unter‐ richt. Sie bleiben somit für neue Entwicklungen offen. Dies ist eine Voraussetzung, damit Betriebe Nachwuchs ausbilden, der Unterricht an die Erfordernisse der Länder angepasst werden kann und Arbeitnehmerinnen und -nehmer auf berufliche Entwicklungen flexibel reagieren können (Bundesinstitut für Berufsbildung 2015, Kultusministerkonferenz 2016a). Wie im DQR werden in den Ordnungsmitteln sprachlich-kommunikative Kompetenzen im Rahmen der Sozialkompetenz thematisiert. Ausführliche Beschreibungen der sprach‐ lich-kommunikativen Kompetenzen finden sich nicht. Analysen der Ordnungsmittel ver‐ schiedener Ausbildungsberufe zeigen, dass einige sprachlich-kommunikative Anforde‐ rungen eindeutig einzelnen Dimensionen des sprachlichen Handels - Schreiben, Lesen, Sprechen, (Zu)Hören - zugeordnet werden können. Jedoch gibt es in den Ordnungsmitteln auch Positionen, die zwar auf sprachliches Handeln schließen lassen, ohne jedoch die sprachlich-kommunikativen Anforderungen eindeutig zu benennen (vgl. Kaiser 2012, Keimes et al. 2011, Settelmeyer & Widera 2015, Wengel 2013). In Ergänzung zu den Ord‐ nungsmitteln stehen dem ausbildenden Personal weitere methodisch-didaktische Hilfen für die betriebliche Ausbildungspraxis (z. B. in der Schriftreihe des BIBB Ausbildung ge‐ stalten und im Forum für Ausbilderinnen und Ausbilder foraus.de unter https: / / www.foraus.de/ html/ foraus_1331.php) sowie Vorgaben und Umsetzungshilfen für die be‐ rufsschulische Praxis (Kultusministerkonferenz 2016b) zur Verfügung. In diesen werden teilweise sprachlich-kommunikative Anforderungen mit Referenz auf die vier Dimensi‐ onen sprachlichen Handelns präzisiert. 3. Abschließende Betrachtungen Ziel des Beitrags ist es, anhand verschiedener Instrumente die Sicht der Berufsbildungspo‐ litik auf Sprache darzustellen. Es zeigen sich erhebliche Unterschiede in der Konzeptuali‐ sierung und expliziten Nennung sprachlicher Kompetenzen. Im Europäischen Referenzrahmen Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen werden mutter- und fremdsprachliche Kompetenzen als Schlüsselkompetenzen bezeichnet und umfassend und differenziert dargestellt. Bezüglich der Entwicklung dieser Kompetenzen, einem der Ziele des Referenzrahmens, werden damit klare und sehr ambitionierte Ziele formuliert. Auch im Konzept der Ausbildungsreife wird Sprache thematisiert und zur Fest‐ stellung der Ausbildungsreife operationalisiert. Es liegt die Annahme zugrunde, dass eine 111 Die Perspektive der Berufsbildungspolitik berufliche Ausbildung nur dann erfolgreich aufgenommen und abgeschlossen werden kann, wenn ein gewisses Maß an allgemeinen sprachlichen Kompetenzen vorliegt. Im EQR werden Lernergebnisse als Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen definiert. Sprach‐ liche Aspekte finden keine explizite Beachtung. Der DQR und die Ordnungsmittel zielen auf die berufliche Handlungskompetenz ab. Sprachliches Handeln wird hier als Teil der beruflichen Handlungskompetenz betrachtet und unter dem Begriff Kommunikation den Sozialkompetenzen zugerechnet. Eine eigenständige Konzeptualisierung von Sprache er‐ folgt nicht. Im DQR wird die kommunikative Kompetenz als Indikator zur Beschreibung der Niveaustufen verwendet und operationalisiert. Die hierbei verwendeten Aspekte, z. B. Situations- und Adressatenbezug, können als Hinweise auf ein handlungsbezogenes Kon‐ zept von Sprache verstanden werden. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Prominenz von Sprache und Kommunika‐ tion in der beruflichen Ausbildung sich nicht in allen berufsbildungspolitischen Instru‐ menten gleichermaßen widerspiegelt. Mit Ausnahme des Europäischen Referenzrahmens Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen, in dem mutter- und fremdsprachliche Kom‐ petenz selbst Schlüsselkompetenzen sind, werden sprachliche Kompetenzen als Bestandteil übergeordneter Kompetenzen gesehen und hinsichtlich ihrer Performanz teilweise sehr vage formuliert. Das zugrundeliegende Verständnis von Sprache muss aus den Darstel‐ lungen erschlossen werden. 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Im Mittelpunkt des Interesses steht dabei die Berufsschule, also eine Schulart, die es in allen Bundesländern gibt und die sich von beruflichen Vollzeitschulen dadurch unter‐ scheidet, dass sie neben der betrieblichen Ausbildung die zweite Säule des dualen Ausbil‐ dungskonzepts darstellt. Bei aller Heterogenität, die etwa auf die Verschiedenartigkeit der Ausbildungsberufe oder länder- oder betriebsspezifische Ausbildungsbedingungen zurück‐ zuführen sind, gibt es bei Berufsschülerinnen und Berufsschülern auch wichtige Gemein‐ samkeiten: Sie müssen sich erstmals in einem beruflichen Umfeld bewähren und sind mit Herausforderungen konfrontiert, die nicht mehr in erster Linie schulisch sind. Die kom‐ munikativen Aspekte dieser neuen Lebenssituation zu reflektieren und die Schülerinnen und Schüler bei deren Bewältigung zu unterstützen, sind naheliegende Ziele des Deutsch‐ unterrichts. Weitere wichtige Rahmenbedingungen für den Deutschunterricht in der Be‐ rufsschule sind die heterogenen schulischen Vorgeschichten der Lernenden, die aber alle bereits viele Jahre Deutschunterricht in der Sekundarstufe I hatten, und eine extreme Zeit‐ knappheit. Das Fach Deutsch wird z. B. an den Berufsschulen in Baden-Württemberg mit nur einer Wochenstunde unterrichtet. 8 Daraus ergibt sich, dass eine Beschränkung auf das Wesentliche, d. h. eine klare didaktische Fokussierung erforderlich ist. 9 Die Förderung sprachlich-kommunikativer Fähigkeiten im Deutschunterricht ist demnach abzu‐ grenzen von der Auseinandersetzung mit diesen Aspekten im Rahmen der Fachkunde und von An‐ sätzen wie dem sprachsensiblen Fachunterricht (dazu Leisen 2013 und F: Niederhaus, S. 485 in diesem Band) oder der Sprachförderung am Arbeitsplatz (Grünhage-Monetti 2013). Es fragt sich, wie der Deutschunterricht an der Berufsschule 9 , auf den sich die hier un‐ tersuchten Lehrwerke beziehen, auf die spezifische Situation seiner Zielgruppe reagiert, also in welcher Weise und in welchem Ausmaß die berufliche Situation der Auszubildenden im Deutschunterricht berücksichtigt wird. Schon diese Frage berührt das Selbstverständnis von Deutschlehrerinnen und -lehrern an der Berufsschule und die Auffassungen von der Aufgabe und den Zielen des Fachs Deutsch. Dasselbe lässt sich von den weiteren Leitfragen sagen, die dieser Untersuchung zugrunde liegen: Wie sieht es mit der inhaltlichen Orien‐ tierung aus? Entspricht das, was beim Einsatz des jeweiligen Lehrwerks gelehrt und gelernt werden soll, dem state of the art in Sprachdidaktik, Bildungsforschung und Fachwissen‐ schaft oder handelt es sich vielmehr um Inhalte und Verfahren, die ihre Legitimation vor allem aus einer schulischen Tradition und schulischen Praktiken beziehen? Dieser Frage wird am Beispiel des Themas Argumentation nachgegangen. Welche didaktischen Grund‐ überzeugungen werden erkennbar? Entspricht das Lernen dem, was wir heute über den Aufbau berufsweltbezogener kommunikativer Kompetenz (siehe Efing 2015a) wissen? An‐ ders gefragt: Wie sollen die Schülerinnen und Schüler das „richtige Kommunizieren“ lernen? Da viele Lehrwerke sich auf mehrere berufliche Schularten beziehen, die sich wie auch die Rahmenbedingungen wiederum von Bundesland zu Bundesland unterscheiden, ist die Situation auf dem Schulbuchmarkt ausgesprochen unübersichtlich. Bei den ausgewählten Lehrwerken handelt es sich um eine Stichprobe von ca. 20, bei der vor allem solche Bücher berücksichtigt wurden, die aktuell am Markt zu finden sind und eine gewisse Verbreitung haben. Darüber hinaus wurde darauf geachtet, dass die Produkte der großen Schulbuch‐ verlage in ausgewogener Weise berücksichtigt wurden. Für das Textkorpus gilt dabei das‐ selbe wie für die Analysekriterien: Die Untersuchung ist exemplarisch und bleibt notwen‐ digerweise lückenhaft. 2. Berufsorientierung oder Allgemeinbildung: Welches Verständnis vom Deutschunterricht liegt den Lehrwerken zugrunde? Wenn man berücksichtigt, dass die Situation der Berufsschülerinnen und Berufsschüler sich von der anderer Schülerinnen und Schüler grundlegend unterscheidet, ist es doch einiger‐ maßen überraschend, dass viele der untersuchten Lehrwerke den Deutschbüchern anderer Schularten sehr ähneln und ein breites Feld von traditionellen Inhalten des Deutschunter‐ richts vor allem aus der Sekundarstufe I abdecken. Viele der untersuchten Bücher bieten ein „Gemischtwarenangebot“ und beziehen sich nicht speziell auf die Berufsschule oder gar auf einzelne Berufe, sondern allgemeiner auf berufliche Schulen, ohne ein Bundesland zu nennen. Dahinter steckt offenbar das verlegerische Kalkül, dass die Werke möglichst uni‐ versell in verschiedenen Schularten und verschiedenen Bundesländern einsetzbar sein sollten, da sie durch ihr reichhaltiges inhaltliches Angebot verschiedene Lehrpläne abde‐ 116 Ulrich Nill cken. Alle Bücher räumen sowohl der Literatur als auch sprachsystematischen Aspekten (Grammatik, Rechtschreibung) viel Platz ein. Zumindest bei der Auswahl der Materialien, z. B. den Themen der literarischen Texte, die behandelt, und der Beispiele, die in den verschiedenen Lernbereichen verwendet werden, versuchen die Autorinnen und Autoren an berufliche Erfahrungen anzuknüpfen. Das gelingt vor allem bei den Büchern, die sich dezidiert an eine bestimmte Berufsgruppe wenden, z. B. den Bänden zu Körperpflege, Hotel und Gastronomie, zu Ausbildungsberufen im Gesundheitswesen, in der Altenpflege etc. Dort können dann z. B. Rechtschreibprobleme (z. B. die Schreibweise von Komposita mit dem Grundwort Salat) mit beruflichen Situati‐ onen aus der Gastronomie in Verbindung gebracht werden (Feurig et al. 2016: 120 f.), eine Argumentationsübung kann sich auf ein Kundengespräch zu Haarpflegeprodukten im Fri‐ seursalon beziehen (Tully et al. 2012: 54 f.), Gesprächsführung kann im Zusammenhang mit schwierigen Patienten in der Arztpraxis thematisiert werden (Neuhaus 2016: 64-69), Do‐ kumentation und Bericht können sich auf konkrete Situationen in der Altenpflege beziehen (Kirks et al. 2012: 100-106) usw. Ein extremes Beispiel fehlender Berufsorientierung liefert Der Deutschlotse, ein Buch das dezidiert (auch) für Berufsschulen gedacht ist. Von mehr als 300 Seiten entfallen nach dem Inhaltsverzeichnis gerade einmal 11 auf „Berufsorientierte Kommunikationsformen“ (Fre‐ ricks et al. 2011: 43-53). Im fraglichen Kapitel geht es dann um Präsentieren und freies Reden vor der Klasse (! ), um das Beschreiben von Gegenständen (z. B. der eigenen Armbanduhr) und Vorgängen (z. B. dem Binden eines Krawattenknotens! ), um den Unfallbericht, um eine Telefonnotiz zu einer Situation aus der Arbeitswelt und um den Aufbau eines Protokolls von einer Gemeinderatssitzung. Der angebliche Bezug zur Berufswelt ist hier nicht mehr als ein Feigenblatt. Wesentlich mehr Raum gibt man den traditionellen Inhalten des Deutschunterrichts, vor allem der Auseinandersetzung mit Literatur, etwa der Lyrikanalyse (einschließlich Metrik) oder der Inhaltsangabe literarischer Prosatexte. Deutschunterricht in der Berufsschule ist, wenn man von den Lehrwerken ausgeht, wohl in erster Linie Deutschunterricht, d. h. an die schulischen Traditionen des Fachs gebunden und dem pauschalen Anspruch auf Allgemeinbildung (dazu Efing 2013a) verpflichtet. Erst in zweiter Linie werden Antworten und Lösungen für die spezifische Situation der Berufs‐ schülerinnen und Berufsschüler gesucht. Dieser Befund passt zu dem Unbehagen, mit dem sich Berufsschülerinnen und Berufsschüler in Interviews darüber äußern, dass ihre Lehre‐ rinnen und Lehrer an der Berufsschule wenig über die berufliche Wirklichkeit in den Aus‐ bildungsbetrieben wüssten (Wengel 2013: 152). 3. Sprache und Kommunikation in den Lehrwerken - theoretischer Hintergrund Wenn in den Lehrwerken der (mündliche oder schriftliche) Sprachgebrauch analysiert, be‐ wertet, verbessert oder trainiert wird, verlangt dies implizite oder explizite theoretische Bezugspunkte, d. h. ein theoriegestütztes Verständnis vom fraglichen Gegenstand, von dessen Beschaffenheit und Funktion. Ein aufschlussreiches Beispiel für den Theoriebezug der Lehrwerke ist das Verständnis von Argumentation, das ihnen zugrunde liegt. Die wis‐ senschaftlichen Grundlagen der Argumentation sind dabei gar nicht leicht zu bestimmen. 117 Die Perspektive der Lehrwerkspraxis 10 Es gibt klassische Argumentationstheorien (dazu Kopperschmidt 2000), die von einer Dreierstruktur ausgehen (z. B. der Syllogismus mit Oberprämisse, Unterprämisse und Konklusion). Das einfluss‐ reiche Schema von Stephen Toulmin ist zwar deutlich komplexer, aber auch dieses Konzept geht von einer grundlegenden Dreigliedrigkeit der Argumentation aus. Entscheidend ist aber, dass die dritte Kategorie, die Brücke zwischen Strittigem (Konklusion) und Unstrittigem (Prämisse), nicht einfach ein illustrierendes Beispiel ist, sondern die Schlussregel bzw. in den Kategorien der Pragmatik die Schlusspräsupposition (Öhlschläger 1979). Schließlich gibt es dazu unterschiedliche Auffassungen verschiedener Disziplinen: Rhe‐ torik, Logik, Pragmatik, Textlinguistik etc. In jedem der untersuchten Lehrwerke taucht das Thema Argumentation auf, und das in einer sehr ähnlichen Weise. Die Struktur einer Argumentation besteht demnach immer aus drei Teilen: aus These, Argument und Beispiel (z. B. Maier 2013: 116-120, Hufnagl et al. 2013: 120-123, Frericks et al. 2011: 87-89, Ansel-Röhrleef et al. 2015: 166-167). Diese Einsicht findet sich in jedem der untersuchten Bücher, wobei sich die verwendete Terminologie geringfügig unterscheidet. Terminologisch unscharf ist z. B. Das Deutschbuch für Berufs‐ schulen, in dem der Begriff Argument einerseits auf die gesamte Argumentation verweist („Wie man ein Argument aufbaut“), andererseits aber einen Teil dieser Argumentation be‐ nennt (Ansel-Röhrleef et al. 2015: 166). Der Dreischritt wird in den Büchern zur Norm er‐ hoben, die offenbar für jede Argumentation gilt, egal ob mündlich oder schriftlich, und die den Anspruch erhebt, sowohl bei der Analyse von Argumentationen als auch bei deren Produktion eine Hilfe zu sein. Vereinzelt finden sich Differenzierungen. So wird in deutsch.kompetent darauf hingewiesen, dass nicht alle Teile einer Argumentation explizit genannt werden müssen, sondern auch impliziert werden können, und es wird ausgeführt, dass die Argumentation an die Zielgruppe angepasst werden sollte (Maier 2013: 116). Die große Einigkeit der Schulbücher im Hinblick auf die Struktur von Argumentationen überrascht nicht nur wegen der fehlenden wissenschaftlichen Fundierung, 10 sondern auch wegen der geringen Brauchbarkeit dieser Auffassung für die kommunikative Praxis. Dafür gibt es mehrere Gründe, die hier nur angerissen werden können: 1. Die Struktur des Ar‐ gumentationsschemas lässt sich in authentischen Beispielen von Argumentationen allen‐ falls im Ausnahmefall einmal auffinden (Becker-Mrotzek et al. 2010: 5). 2. Die in den Büchern verwendeten Kategorien sind oft nicht trennscharf. So ist es in der Praxis oft ausgesprochen schwierig zu entscheiden, ob es sich bei einer Äußerung um die These, das Argument oder das Beispiel handelt. 3. Es wird nicht berücksichtigt, dass nicht jede Sprachhandlung, bei der Begründungen vorkommen, eine Argumentation ist. Die Abgrenzung gegenüber ver‐ wandten Handlungsformen wie dem Informieren, dem Beschreiben oder dem Erklären (die für berufsbezogene Kommunikation ebenfalls sehr wichtig sind) gelingt nur über die Ka‐ tegorie des Strittigen, die in den Büchern kaum verwendet wird. Man kann von einem „pragmatischen Kontinuum“ sprechen, das die verschiedenen Handlungsformen verbindet (Feilke 2005: 49). 4. Die didaktisch vielversprechende pragmatische Fundierung von Argu‐ mentationen (Wohlrapp 2008, Hümmer 2014) ist nur möglich, wenn die Einbettung dieser Handlungen in einen situativen Kontext und damit ihre Funktion klar ist. Die Beispiele, die in den Lehrwerken verwendet werden, sind in vielen Fällen kontextfreie schulische Erör‐ terungsfragen (z. B. „Burka-Verbot in Deutschland? “, Frericks et al. 2011: 87). 5. Nur wenn der Handlungszusammenhang berücksichtigt wird, kann „die monologische Halbierung“ 118 Ulrich Nill der Argumentation (Steinseifer 2014: 200) vermieden werden und die Verbindung zwischen dem Referieren der fremden und der argumentativen Festigung der eigenen Position in einem „virtuellen Dialog“ (Steinseifer 2014: 203 f.) hergestellt werden. Das Beispiel der Argumentation zeigt, dass sich die Autorinnen und Autoren nicht in erster Linie an der Fachwissenschaft oder der Fachdidaktik orientieren, sondern an der schulischen Tradition und/ oder an den anderen Lehrwerken, und so das „didaktische Brauchtum“ (Efing 2013b: 252) pflegen. Die Herkunft des Dreischritts von These, Argument und Beispiel dürfte die traditionelle Aufsatzlehre zur Erörterung sein. Was ursprünglich die Anleitung für die Produktion einer schulisch normierten Schreibform war, wird so zur ubiquitären Argumentationstheorie. Der Eindruck, dass die Lehrwerke nicht immer den wissenschaftlichen state of the art widerspiegeln, entsteht immer wieder, auch an eher randständigen Themen. Da wird dann „die moderne Lernforschung“ für das längst überholte Konzept der Lerntypen verantwort‐ lich gemacht (Ansel-Röhrleef et al. 2015: 10), als Gegenbegriff zur „minderwertigen Trivi‐ alliteratur“ dient „Belletristik“ (Krohne et al. 2011: 282 f.), der für berufsbezogenen Sprach‐ gebrauch so wichtige Aspekt des Registers bzw. der Varietät wird meist unter dem Begriff „Sprachebenen“ (z. B. Hufnagl et al. 2013: 49) erfasst, die angestaubte „ AIDA -Formel“ gilt als Schlüssel zum Verständnis von Werbewirkung (Maier 2013: 24, Ansel-Röhrleef et al. 2015: 273, hier auch noch im Zusammenhang mit Anti- AIDS -Werbung! ), die jeder Alltags‐ erfahrung widersprechende Auffassung, „dass der weitaus größte Anteil der Interaktions‐ möglichkeiten in der menschlichen Kommunikation bei nonverbalen Ausdrucksmitteln liegt“ (Frericks et al. 2011: 32), wird mit dem Hinweis auf „verschiedene Untersuchungen“ kolportiert usw. Neuere linguistische Einflüsse oder überhaupt linguistische Einflüsse sucht man dagegen meist vergeblich. Während sprachwissenschaftliche Modelle in den Lehrwerken kaum eine Rolle spielen, sind einige psychologische Theorien gewissermaßen kanonisch, z. B. aktives Zuhören und der Gegensatz von Ich- und Du-Botschaften (Ansel-Röhrleef et al. 2015: 20 f., Maier 2013: 82 f., Hufnagl et al. 2013: 54 und 67, Frericks et al. 2011: 30 f. und 37 usw.). In der Regel wird die Quelle des dahinter stehenden Verständnisses von Kommunikation nicht benannt. Es han‐ delt sich um Auffassungen, die in den USA in der Mitte und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden sind und die zunächst vor allem im psychotherapeutischen Zusammenhang standen (klientenzentrierte Gesprächsführung von Carl Rogers). Rogers‘ Ideen wurden von seinen Schülerinnen und Schülern weiterentwickelt und popularisiert, vor allem von Thomas Gordon, der in seinem Bestseller „Familienkonferenz“ (Gordon 2012) Rezepte zur Lösung von Konflikten (z. B. Ich-Botschaften) lieferte. Marshall B. Rosen‐ berg, ein anderer Schüler von Rogers, ist ebenfalls sehr einflussreich, und zwar mit einem weiteren Bestseller, der den suggestiven Titel „Gewaltfreie Kommunikation“ trägt. Auch der charismatische Rosenberg, dessen rigorose Dichotomie von gewalttätiger und gewalt‐ freier Kommunikation eher an eine Heilslehre als an Wissenschaft denken lässt, taucht in mehreren Lehrwerken auf, vor allem in denen mit sozialpädagogischer Ausrichtung (Lan‐ genmayer & ter Haar 2013: 73-77, Seedorf 2015: 89 f.). Ein weiterer wichtiger theoretischer Bezugspunkt für die Lehrwerke ist Paul Watzlawick et al. (2011). Allerdings hat man auch bei diesen Autoren den Eindruck, dass lediglich wei‐ tergegeben wird, was schon in anderen Schulbüchern steht. Das kann im Einzelfall auch 119 Die Perspektive der Lehrwerkspraxis 11 Zum Spannungsverhältnis zwischen präskriptiver Linguistik und normativer Betrachtung, die sich etwa in Kommunikationsratgebern findet, siehe Antos (1996: 19-26). 12 Zu den dort zu findenden Handlungsformen siehe Efing (2013: 244 f.). falsch sein. Beispielsweise wird das bekannte nachrichtentechnische Sender-Emp‐ fänger-Kommunikationsmodell von Shannon/ Weaver Paul Watzlawick zugeschrieben (Maier 2013: 78, Maier 2016: 24). Sollte man aber auf der Grundlage der untersuchten Lehrwerke entscheiden, welche Theorie zur Kommunikation in der Geschichte der Menschheit die bedeutendste ist, so fiele die Entscheidung leicht: Friedemann Schulz von Thun taucht mit seinem Vier-Seiten-Modell (oft als Vier-Ohren-Modell bezeichnet) in jedem der Bücher auf. Nicht immer ist dabei er‐ sichtlich, welchen Nutzen das Modell den Lernenden bringt (dazu Antos 1996: 122-130). 4. Förderung der kommunikativen Fähigkeiten - Ziele und Mittel Während linguistische Theorien eigentlich immer deskriptiv sind, verlangt die Didaktik der Lehrwerke Präskription und Normen. 11 „Richtig“ und „falsch“ oder zumindest „weniger gut“ und „besser“ bezieht sich bei den Lehrwerken nicht nur auf Sprachrichtigkeit, sondern auch auf strategischen Sprachgebrauch in der mündlichen und der schriftlichen Kommu‐ nikation, einen Aspekt, der gegenüber den Lehrwerken der Sekundarstufe I (Efing 2013: 244 f.) neu ist. 12 So findet sich z. B. in komm.de der folgende Dialog. Alexa: Am besten ist, du gehst in eine andere Gruppe. Das letzte Mal hast du bei uns nur herum‐ gesessen, hast fast nichts gearbeitet und dann eine gute Note kassiert. Birthe: Du bist nur nachtragend. Du weißt doch gar nicht, wie ich heute arbeite. Und was du über die letzte Gruppenarbeit sagst, siehst du nur durch deine Brille. Alexa: Also, dann wirst du dieses Mal alles mitschreiben, unsere Ergebnisse in den PC eingeben und auch alleine vortragen. Birte: Ich soll also eigentlich alles machen! ? (Maier 2016: 11) Dieser Dialog gilt als fehlerhaft. Weshalb das so ist, kann man auf derselben Seite nachlesen. Verhalten bei Kritik • Beschränken Sie sich auf die aktuelle Situation, wenn Sie jemanden kritisieren. Vermeiden Sie Vorwürfe zu Vergangenem. • Formulieren Sie Ihre Kritik als Ich-Botschaft, damit der andere sein Gesicht wahren und sich leichter wehren kann. Beispiel: Ich habe den Eindruck, dass du zu viel in kurzer Zeit erledigen möchtest. • Suchen Sie bei strittigen Fragen nach Übereinstimmungen oder Möglichkeiten eines Kom‐ promisses. (Maier 2016: 11) Alexa hat gegen alle drei Regeln verstoßen, das ist klar. Weniger klar ist, was die Schüler‐ innen und Schüler bei einem solchen Vorgehen gelernt und verstanden haben, inwiefern sich dieser Einzelfall auf andere Situationen übertragen lässt, was die Grundlage für diese 120 Ulrich Nill Regeln ist. Darf ich generell keine Vorwürfe zu Vergangenem erheben, auch wenn mein Gesprächspartner gestern mein Fahrrad kaputt gemacht hat? Weshalb soll ich jede Kritik in jeder Situation als Ich-Botschaft formulieren? Muss ich wirklich immer nach den Mög‐ lichkeiten eines Kompromisses suchen, auch wenn ich daran gar kein Interesse habe? Sprachliche Verhaltensweisen, die ihren Ursprung in der Psychotherapie haben, werden zum Ausgangspunkt für Handlungspräferenzen, diese werden dann zu einer allgemein gültigen Norm erhoben und in ein Rezept für gutes Kommunizieren umgewandelt. Die Schülerinnen und Schüler können auf dieser Grundlage Kommunikationsfehler entdecken, diese korrigieren oder selbst Äußerungen nach einem solchen Muster erstellen. Die Ergeb‐ nisse erinnern manchmal an eine Parodie. So finden sich in Das Deutschbuch für Berufs‐ schulen (Cornelsen) zwei Dialoge. Bei Dialog 2 werden all die Ratschläge zum „aktiven Zuhören“ berücksichtigt, mit deren Hilfe man „dem Gesprächspartner Wertschätzung ver‐ mittelt“, nämlich Bestätigungslaute wie „aha, mhm“ zu verwenden, klärende Rückfragen zu stellen und Aussagen in eigenen Worten zusammenzufassen (Ansel-Röhrleef et al. 2015: 20). Dialog 1 Ömer: Ich komme in dem Betrieb einfach nicht klar! Tim: Ach, du übertreibst bestimmt. Ömer: Nein, wirklich, ich verstehe manches nicht. Tim: Mach dir nichts draus! Ich verstehe auch nicht immer alles, wird schon, immer locker bleiben! Ömer: Ich weiß nicht … Dialog 2 Ömer: Ich komme in dem Betrieb einfach nicht klar! Tim: Aha? Ömer: Es ist immer so hektisch da, der Meister hat nie Zeit für mich! Tim: Der Meister hat also nie Zeit für dich? Ömer: Na ja, ‚nie‘ ist vielleicht übertrieben. Vielleicht sollte ich mehr auf günstige Zeitfenster achten! Tim: Ja, das solltest du vielleicht tun. (Ansel-Röhrleef et al. 2015: 20) Der Kontext dieser Dialoge bleibt völlig offen, man weiß nicht, wie Ömer und Tim zuei‐ nander stehen, in welcher Situation sie sprechen, welche Interessen sie verfolgen. So muss man zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass jedes Gespräch in jeder Situation besser wird, wenn man in der hier demonstrierten Weise aktiv zuhört - ein mehr als fragwürdiges Lernergebnis. Die Vorliebe für Normierung lässt sich in den Büchern auch beim Umgang mit schrift‐ licher Kommunikation feststellen. Eigentlich liefert die neuere Schreibdidaktik (z. B. Be‐ cker-Mrotzek & Böttcher 2012) Konzepte, die sich gut für berufsbezogenes Schreiben eignen. Statt den Umgang mit einer schulischen Aufsatzform zu lernen, sollen die Schü‐ lerinnen und Schüler die Funktion des Schreibens in der jeweiligen Situation zum Aus‐ gangspunkt der Schreibplanung, der Formulierung und der Überarbeitung dieses Textes machen. Das Schreiben kann so als sinnvoll erlebt werden, weil es die Lösung eines kon‐ kreten Problems darstellt. Dieses Verständnis von Schreibdidaktik findet man in den Lehr‐ werken nur in Ansätzen. So werden etwa Methoden wie die Schreibkonferenz oder die 121 Die Perspektive der Lehrwerkspraxis 13 Natürlich ist die Orientierung an Mustern nicht generell zu kritisieren: Kommunikative Kompetenz „changiert zwischen den Polen ‚Routine‘ und ‚Flexibilität‘ bzw. ‚Musterbefolgung/ Konformität‘ und ‚Musterbruch/ Kreativität‘“ (Efing 2015: 20). Ein vielversprechender neuer Ansatz zur Schreibförde‐ rung ist die Didaktik der Textprozeduren (Bachmann & Feilke 2014). Dabei geht es aber nicht um starre Textmuster, sondern um Textbausteine, mit deren Hilfe sich sprachliche (Teil-)Handlungen realisieren lassen, die in konkreten Texten flexibel einsetzbar sind. Textlupe eingesetzt, in manchen Fällen wird das Schreiben durch eine konkrete Situation motiviert (z. B. Das Deutschbuch für Berufsschulen), teilweise sollen vorgegebenen Texte überarbeitet werden. Bei Schreibaufgaben, die realen, d. h. auch beruflichen Anforderungen entsprechen, werden Schreibplanung und Schreibprozess dadurch gesteuert, dass sich die Schreibenden mit der konkreten Situation auseinandersetzen und sich überlegen, welche Ziele sie ver‐ folgen, welche Interessen die Adressaten haben, welche Einwände und Widerstände even‐ tuell berücksichtigt werden müssen. Daraus ergibt sich dann alles Weitere, z. B. Auswahl und Nutzung von Material, Aufbau und Umfang des Textes, geeignete Formulierungen usw. Der Schreibauftrag muss dabei so aussehen, dass sich die relevanten Faktoren aus ihm ableiten lassen. Die untersuchten Lehrwerke gehen schreibdidaktisch allerdings meist einen anderen Weg. Geschrieben werden Texte, die entweder einen erkennbaren Bezug zur Lebens- und Berufsrealität haben können (z. B. Protokolle, Berichte, etwa von Unfällen, Geschäftsbriefe, etwa Reklamationen etc.), oder solche, die in dieser isolierten Form nur in der Schule vor‐ kommen (Inhaltsangaben von literarischen Texten, Beschreibung von Schaubildern, Visu‐ alisierungen, kreatives Schreiben usw.). Das Vorgehen ist in beiden Fällen identisch: Dem Text, der verfasst werden soll, werden Merkmale zugewiesen, diese werden dann teilweise noch durch Mustertexte illustriert (z. B. Maier 2013 und 2016). Die Qualität der Schülertexte wird danach bemessen, ob und in welchem Maße diese der Norm entsprechen. Man könnte diese Vorgehensweise als „Didaktik des goldenen Buchs“ bezeichnen, die von der Vorstel‐ lung ausgeht, dass es an einem geheimen Ort (Lehrerzimmer? Kultusministerium? ) besagtes Buch gibt, das allgemein gültig festlegt, wie genau gute Texte aussehen müssen. Das Lernen besteht dann darin, dass den Lernenden dieses verborgene Wissen durch das Schulbuch und den Unterricht zugänglich gemacht wird. Schülerinnen und Schüler müssen dann nicht nach der konkreten Situation oder der Funktion ihrer Texte fragen, es genügt, wenn sie die in jeder Situation gültigen Rezepte aus dem goldenen Buch verwenden - eine recht bequeme Vorstellung, aber leider auch eine, die den Aufbau echter Schreibkompetenz nicht fördert, sondern behindert. 13 Als kurzes Fazit lässt sich festhalten, dass nicht alle Lehrwerke die spezifische (vor allem berufliche) Situation der Berufsschülerinnen und Berufsschüler angemessen berücksich‐ tigen, dass die Bücher vor allem auf ein breites, für die knappe Unterrichtszeit viel zu um‐ fangreiches Angebot von „klassischen“ Inhalten des Deutschunterrichts aus der Sekundar‐ stufe I setzen, aus dem die Lehrkräfte eine relativ beliebige Auswahl treffen sollen. Dabei ist die inhaltliche Orientierung, die festlegt, was gelernt werden soll und worauf das frag‐ liche Wissen beruht, nicht in allen Fällen überzeugend, wie am Beispiel der Argumentation oder der Verwendung psychologischer Gesprächsstrategien gezeigt wurde. Ähnlich kritisch lassen sich auch die didaktischen Überzeugungen kommentieren, die in vielen Büchern 122 Ulrich Nill erkennbar werden. Die so wichtige und dringend notwendige Förderung der kommunika‐ tiven Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler beruhen oft auf einer „Didaktik des gol‐ denen Buchs“, also auf fragwürdigen Normierungen und dem Vermitteln von starren Mus‐ tern, die reproduziert werden sollen, ohne dass der jeweilige Funktionszusammenhang von Texten und Äußerungen angemessen berücksichtigt würde. Literatur Ansel-Röhrleef, Kerstin et al. (2015). Das Deutschbuch für Berufsschulen: Nordrhein-Westfalen. Berlin: Cornelsen. Antos, Gerd (1996). 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Einleitung: Evidenz und Rahmenbedingungen Hemmschwellen, Rollenasymmetrien, unterschiedliche Informationsinteressen, divergie‐ rende Krankheits- und Gesundheitsmodelle, interkulturelle Verständigungsschwierig‐ keiten u. v. m. wirken auf das Arzt-Patienten-Gespräch in besonderer Weise ein, sodass diese Form des Gesprächs gerade im Hinblick auf die universitäre Ausbildung eine besondere Würdigung aus medizinischer wie auch aus linguistischer Perspektive verdient. Seit den 1970er-Jahren werden die gesprächsinteraktiven Besonderheiten und andere kommunikative Aspekte der Patienten-Arzt-Kommunikation intensiv und interdisziplinär beleuchtet. Die Datenheterogenität aus gegenwärtig über 5.000 Studien zur Arzt-Pati‐ enten-Kommunikation erschwert die Umsetzung von Forschungsbefunden und deren cur‐ riculare Verankerung in der medizinischen Aus- und Fortbildung. Dennoch hat sich an den Hochschulen ein Bewusstsein für kommunikative Kompetenzen herausgebildet. Curricu‐ lare Festschreibungen sowie strukturierte longitudinale Ausbildungskonzepte liegen vor und werden in der Verantwortung der Fakultäten durch z. T. eigens eingerichtete Bereiche umgesetzt (Roch et al. 2010, Schultz et al. 2007, Jünger & Köllner 2003, Mortsiefer et al. 2012). Dabei orientieren sich die Fakultäten i. d. R. an dem Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog Medizin ( NKLM ), mit dem seit 2015 eine an einem breiten Referenzrahmen ausgerichtete Kompetenzbeschreibung (i. S. eines Kerncurriculums) auch für den Bereich Kommunikation gegeben ist. Die Überführung von Kompetenzfestschreibungen in kon‐ kretes Gesprächs- und Kommunikationshandeln findet jedoch (noch) nicht einheitlich statt. Vielmehr bemühen sich die Fakultäten, den Bereich Kommunikation in das enge Korsett des Lehrplans einzubinden, was nicht immer einfach ist und die Vergleichbarkeit zwischen den Universitäten erschwert. 2. Das ärztliche Gespräch Das Arzt-Patienten-Gespräch ist einer der wichtigsten Wirkungsfaktoren in der Medizin, denn ärztliches Kommunizieren ist immer zugleich auch ärztliches Handeln (Bechmann 2014). Es handelt sich um eine Form der Kommunikation, die in einem Spannungsfeld zwi‐ schen der Lebenswelt der Patienten und der professionell-wissenschaftlich und bis heute weitgehend an somatischen Fakten orientierten Welt der Medizin stattfindet. Trotz einer immer differenzierteren Medizintechnik stellt das Gespräch zwischen Patient und Arzt zusammen mit den körperlichen Untersuchungen das wichtigste diagnostische Instrument dar, mit dessen Hilfe bis zu 90 % aller Diagnosen richtig gestellt werden können (Martina 1997). Die Kosten, die volkswirtschaftlich durch mangelhafte Diagnosen und damit durch falsche Therapieoptionen entstehen, sind neben dem oftmals hohen Leidens‐ druck für die Patienten ein wichtiger Grund, die ärztliche Gesprächsführung auf den Prüf‐ stand zu stellen. Die Wirkung von Kommunikation im medizinischen Bereich ist gut vergleichbar mit einer Waagschale: Gute Kommunikation kann Krankheiten lindern, schlechte Kommuni‐ kation kann Krankheitsverläufe und das subjektive Krankheitsgefühl der Patienten negativ beeinflussen. Ein erfolgreiches Gespräch kann sich in vielen Fällen positiv auf die Gesund‐ heit der Patienten auswirken (Mead & Bower 2002, Stewart 2003, Kelley et al. 2014). Eine umfassende und vor allem verständliche Informationsvermittlung durch den be‐ handelnden Arzt wird auch von den meisten Patienten als sehr wichtig eingestuft - wobei gerade einmal ein Drittel der Ärzte diesem Anspruch in der Patientenwahrnehmung ge‐ recht wird (Dierks 2001). Gerade in der hausärztlichen Praxis möchte nur etwa jeder vierte Patient mit einem Rezept in der Hand die Praxis verlassen (Little et al. 2001). Verständi‐ gungsschwierigkeiten haben im medizinischen Bereich bisweilen Folgen, die sich auf die Gesundheit der Patienten auswirken können. Es ergibt sich eine Kausalitätenkette, die ärztliches Gesprächshandeln in einen konkreten Behandlungszusammenhang stellt - mit allen damit verbundenen Konsequenzen, wenn das Gespräch scheitert: 1. Ärztliches Kommunikationshandeln ist immer auch medizinisches Handeln. 2. Medizinisches Handeln ist Behandeln. 3. Ärztliche Handlungsfehler sind Behandlungsfehler. 4. Ärztliche Sprachhandlungsbzw. Kommunikationshandlungsfehler sind so ver‐ standen ebenfalls Behandlungsfehler. Dass insbesondere 3. und 4. von besonderer Bedeutung sind und zudem als Rechtfertigung für jegliche Bemühungen um eine professionalisierte akademische Lehre im Bereich Kom‐ munikation dienen dürfen (wenn nicht sogar müssen), zeigen u. a. die Forschungsergeb‐ nisse aus der Psychoonkologie von Herschbach & Heußner (2008): Ineffektive Arzt-Pati‐ enten-Kommunikation führt zu unrealistischen Behandlungserwartungen, psychischer Komorbidität, psychosozialer Belastung, Behandlungsunzufriedenheit, geringerer Lebens‐ qualität und zu einer ungünstigeren Krankheitsbewältigung. Zudem können Mängel in der Kommunikation zu einer emotionalen Belastung mit langfristig negativen Folgen (Burnout) auf Seiten der Ärzte führen (Graham et al. 2002). 3. Evidenzbasiertes Kompetenzmodell und Interdisziplinarität Entgegen der Ansicht, dass Empathie und wertschätzende Gesprächsführung nicht lernbar - und damit auch nicht transparent lehr- und prüfbar - sind, zeigen zahlreiche neuere Studien, dass kommunikative und psychosoziale Kompetenzen sowohl lernals auch lehrbar sind (Kurtz et al. 1998, Neumann et al. 2009, Langewitz 2012, Karger 2013, Frischenschlager et al. 2013). Dies gelingt nicht voraussetzungsfrei: Wenn man Kompetenz im Sinne ganzheitlichen Lernens als die Integration von Haltungen, Wissen und Fähig‐ keiten begreift, muss man sich die Frage stellen, was davon trainierbar ist. Kommunikative 128 Sascha Bechmann & André Karger Fähigkeiten i. S. v. funktionaler Sprachgebrauchskompetenz (vgl. Efing 2012: 7) lassen sich leicht in den Kontext medizinischen Handelns einbinden und damit professionalisieren. Für Haltungen gilt das nicht, weshalb subjektive Kriterien weder in der Ausbildung noch in der Prüfung eine Rolle spielen dürfen. Eine Fokussierung auf grundlegende Techniken, mög‐ lichst in Form von Algorithmen, ermöglicht es, Lehrkonzepte zu entwickeln und Prüfungs‐ modelle transparent zu machen. Es erfordert ein geschultes Bewusstsein auf Seiten der Ärzte, um alle Facetten des Pati‐ entengesprächs richtig deuten zu können und um das Gespräch effektiv zu steuern. Den kommunikativen Kompetenzen, zu denen neben rein sprachlichen Fähigkeiten vor allem die kommunikativen Fähigkeiten zählen, fällt dabei eine besondere Rolle zu. Es verfügt derjenige über kommunikative Fähigkeiten, der „fähig ist, seine sprachlichen Fähigkeiten [Sprachsystemkompetenz] in einem konkreten Handlungskontext situativ, sozial und funk‐ tional angemessen zu aktivieren“ (Efing 2012: 7). So verstandene kommunikative Kompe‐ tenzen, die über die Fähigkeit, Sprache grammatisch-syntaktisch angemessen zu ver‐ wenden, hinausgehen (was im Übrigen bei ausländischen Ärzten bereits ein Problem darstellt), fallen Ärztinnen und Ärzten nicht qua Approbation zu. In kommunikativen Fä‐ higkeiten kumulieren „Aspekte wie Sprachbewusstheit, Fähigkeit zur Sprachreflexion, Per‐ spektivübernahme und Strategiewissen“ (Efing 2012: 7). Solche Fähigkeiten müssen a) evi‐ denzbasiert entwickelt, b) mit praktischem Bezug vermittelt und c) nachhaltig evaluiert werden. Der Linguistik und insbesondere der Sprachdidaktik fällt bei diesen Aufgaben eine besondere Rolle zu: Die Spezifikation sprachlichen Wissens und Könnens in einem curri‐ cular verankerten Kompetenzmodell setzt eine Theorie darüber voraus, was jemand weiß und kann, der in einer asymmetrischen, institutionalisierten und professionalisierten, d. h. im Kern gesteuerten und zweckorientierten Kommunikationssituation erfolgreich sprach‐ lich tätig ist. Diese Theorie und die geeigneten Methoden zu erarbeiten, ist nicht (allein) Aufgabe der medizinischen Fächer, sondern genuine Aufgabe der Linguistik sowie der Sprachdidaktik im Schulterschluss mit den medizinischen Fakultäten. Die Entwicklung eines evidenzbasierten Kompetenzmodells muss, ebenso wie dessen Umsetzung in der uni‐ versitären Lehre, interdisziplinär verankert werden: „Sprachwissenschaftler können durch ihre Analysen kommunikative Aufgabenstellungen und typische Lösungen und deren je‐ weilige Folgen rekonstruieren und so Ärzten Hilfestellungen für ihre Gesprächsführung geben“ (Spranz-Fogasy 2007: 8). Dazu ist es erforderlich, die spezifischen Analysemethoden der Linguistik (Gesprächs- und Diskursanalyse, kognitionslinguistische Ansätze, Fach‐ sprachenforschung etc.) mit Blick auf die Anforderungen der Medizin zu überprüfen und dabei auf der Basis einer gründlichen Bedarfsanalyse sowohl das methodische Vorgehen (quantitative Studien statt qualitative Studien) als auch die Datenaufbereitung (z. B. in Form von Checklisten oder durch Publikation in medizinischen Periodika) anzupassen. Die me‐ dizinischen Fächer sind zugleich angehalten, in Fragen kommunikativer Kompetenzen bei den (so verstandenen) Hilfswissenschaften Rat einzuholen, wenn sie ein Kompetenzmodell entwickeln wollen, das sprachwissenschaftlich abgesichert sein will. Die meisten Kommu‐ nikationsmodelle (beispielsweise die Calgary-Cambridge-Guides) sind schließlich aus qua‐ litativen Untersuchungen empirisch gewonnen worden, etwa aus linguistischen gesprächs‐ analytischen Studien zu bestimmten Gesprächsphasen, bei denen reale Patienten-Arzt-Gespräche zunächst aufgezeichnet, später transkribiert und mit den Me‐ 129 Ärztliche Gesprächsführung in der Medizinerausbildung - Probleme, Chancen und Methoden thoden der Gesprächsanalyse ausgewertet werden. Die Ergebnisse solcher qualitativer Ein‐ zelstudien sollten auch künftig in Kommunikationsmodelle einfließen. Dass mit dem seit 2015 vorliegenden Nationalen Kompetenzbasierten Lernzielkatalog ( NKLM ) ein konsentierter Qualifikationsrahmen für das Medizinstudium in Deutschland vorliegt, der evidenzbasiert kommunikative Kompetenzen einfordert, ist deswegen erfreu‐ lich, weil Kompetenzen hier von theoretischem Wissen ohne Praxis- und Realitätsbezüge abgegrenzt werden: Kommunikative Kompetenzen sind erst vorhanden, wenn diese neben dem Wissen über Kommu‐ nikationsstrategien im Arbeitsalltag mit PatientInnen auch erfolgreich eingesetzt werden (Sator & Jünger 2015: 335). Ein im Kern integrativer Ansatz fördert und fordert Interdisziplinarität: Das Wissen über Kommunikationsstrategien der sprach- und kommunikationswissenschaftlichen Fächer wird pragmatisch verwoben mit fachpraktischen Fähigkeiten medizinischen Handelns. Die auf den Linguisten Austin zurückzuführende (programmatische) Frage How to do things with words? lässt sich in der Kompetenzzuweisung des NKLM umformulieren zu How to do medicine with words? . Die Beantwortung dieser Frage gelingt nur, wenn man a) weiß, was sprachliches und nichtsprachliches Handeln dem Wesen nach ist (linguistische Dimension des Wissens) und b) dieses Wissen z. B. aus der linguistischen Gesprächsanalyse in medi‐ zinisches Gesprächshandeln überführen kann (medizinische Dimension der fachprakti‐ schen (kommunikativen) Fähigkeiten). Sowohl methodisch als auch didaktisch ist damit ein Schulterschluss unumgänglich, was in beiden Disziplinen zu einer veränderten Lehr- und Forschungspraxis führen muss: Die Linguistik muss zunächst mit ihren spezifischen Ana‐ lysemethoden Wissen generieren und bereitstellen, welches von Seiten der Sprachdidaktik für die Fachdidaktik der Medizin in praxisnahes Handeln auf der Grundlage von Erpro‐ bungen (dann später evidenzbasiert) überführt werden kann. Die Auswertung von Maß‐ nahmen der kommunikativen Schulung, die im Wesentlichen den medizinischen Fächern selbst obliegen sollte, ist in diesem zirkulären Prozess eine wichtige Aufgabe der Linguistik, der Berufspädagogik, der Bildungsforschung im Schulterschluss mit der Sprachdidaktik. Zudem haben diese Disziplinen entscheidend dazu beizutragen, Desiderate mit Blick auf die Kompetenzfestlegungen des NKLM aufzulösen. Dazu gehören u. a.: 1. Spezifikation der normativen Empfehlungen aus sprachhandlungstheoretischer Sicht, 2. Überführung von Forschungswissen in interaktive Handlungsempfehlungen, 3. Modellierung von phasenspezifischen Kommunikationsstrategien und Gesprächs‐ routinen (z. B. Empfehlungen für die Prämedikationsphase zur Förderung der Com‐ pliance), 4. Interaktionsanalytische Überprüfung und Verbesserung bestehender Gesprächsmo‐ delle (z. B. WWSZ oder NURSE ) auf der Grundlage von Evidenzstudien, 5. Erforschung des verstehensrelevanten Wissens durch Frame-Analysen, 6. Quantitative Studien, im Idealfall auf den systematischen Befunden von Metastudien für eine wesentlich differenziertere und komplexere Erforschung verbaler Kommu‐ nikation durch z. B. ante/ post-Experimente und Anschluss der qualitativ orientier‐ 130 Sascha Bechmann & André Karger ten Diskursforschung an die v. a. quantitativ ausgerichteten Paradigmata des Medi‐ zindiskurses und der Medizinsoziologie zur Arzt-Patient-Kommunikation, 7. Entwicklung linguistischer Kategorien, 8. Ermöglichung einer Manualisierung durch Bündelung der qualitativen Befunde in einer Übersichtsarbeit und daraus Entwicklung praxisnaher Algorithmen für das Arzt-Patienten-Gespräch, 9. Gesprächsanalytische Aufbereitung/ Auswertung von authentischen Transkripten oder Videoaufzeichnungen auf der Basis von Bedarfen (einschließlich Bedarfsana‐ lyse für Textkorpora), 10. Mitwirkung an der Curriculumentwicklung für Train-the-trainer-Schulungen in Konzeption und Durchführung, 11. Entwicklung eines differenzierten, theoretisch und empirisch gesprächsanalytisch fundierten Analyse- und Bewertungsinstruments für die Arzt-Patienten-Interaktion zur quantitativen Analyse (Sator & Jünger 2015). 4. Stellenwert kommunikativer Kompetenzen im Medizinstudium Zahlreiche empirische Studien zeigen, dass grundlegende kommunikative und soziale Kompetenzen im Laufe des Medizinstudiums für die Studierenden an Bedeutung verlieren (Neumann et al. 2011). Dies ist unter anderem zurückzuführen auf die somatische Frag‐ mentierung der Patienten aufgrund der im Studienverlauf zunehmenden Bezogenheit auf biomedizinische Daten und Fakten in der Lehre sowie in der praktischen Ausbildung. Zum anderen verändern sich kognitive Wissensbestände der Studierenden: Mit zunehmendem Fachwortschatz und medizinischem Wissen verschlechtert sich die Übersetzungsfähigkeit medizinischer Fakten in laienverständliche Sprache. Man muss davon ausgehen, dass sich das sogenannte verstehensrelevante Wissen, also jenes Wissen, das man benötigt, um einen Begriff selbst zu verstehen (und anderen zu erklären), aufgrund der zunehmenden Fach‐ sprachlichkeit und der damit verbundenen Erweiterung des eigenen Wortschatzes verän‐ dert. Studierende in höheren Semestern können deutlich schwerer als Studierende zu Be‐ ginn des Studiums abschätzen, ob ein Wort fachsprachlich oder (noch) laienverständlich ist. Daher müssen angehende Ärztinnen und Ärzte vom ersten Semester an und studien‐ begleitend bis zum Staatsexamen in den grundlegenden Gesprächskompetenzen ausge‐ bildet und in ihrer patientenzentrierten Haltung gestärkt werden (Bachmann et al. 2009, Kiessling & Langewitz 2013). Das Ideal einer holistischen Kommunikationsausbildung besteht in der Verknüpfung kommunikativen Wissens (z. B. über die allgemeinen Konversationsmaximen nach Herbert Paul Grice) und kommunikativer Fähigkeiten (z. B. Fragetechniken) mit medizinischen Be‐ sonderheiten und Gesprächsanforderungen (z. B. unterschiedliche Gesprächsphasen wie Anamnese und Befundmitteilung) auf der Basis kommunikationspsychologischer Modelle. Es zeigt sich, dass sowohl in der Entwicklung eines Kompetenzmodells als auch in der Umsetzung in der akademischen Lehre ein enger und intensiver Austausch der unter‐ schiedlichen, für die Ganzheitlichkeit entscheidenden, Disziplinen notwendig ist. Bislang besteht hier noch die Notwendigkeit der Öffnung der medizinischen Fächer für den inter‐ disziplinären Dialog. 131 Ärztliche Gesprächsführung in der Medizinerausbildung - Probleme, Chancen und Methoden An den Bedürfnissen der Studierenden ausgerichtete Lehr- und Lernmethoden können und müssen das Bewusstsein der Studierenden für kommunikative Aspekte des Arztberufs schärfen und damit zugleich die Akzeptanz von Lehrveranstaltungen erhöhen. Das kon‐ gruente Erleben der (quasi-)realen Situation ist die Voraussetzung, das eigene Handeln ernsthaft auf den Prüfstand stellen zu können und zu wollen. Daher haben sich in der Lehre an vielen Hochschulstandorten der moderierte Einsatz von spezifisch trainierten Schau‐ spielern oder Laien als Patienten (Simulationspatienten) und von Video-Feedback-Me‐ thoden etabliert. Es hat sich dabei gezeigt, dass solche Formen der Intervention deutlich bewusster reflektiert werden, weil zum einen Praxisbezüge durch die Art der Fallsimulation hergestellt und zum anderen Möglichkeiten der nachträglichen Auswertung (Sicherung durch Aufzeichnungen) gegeben sind. Solche Formen des bewussten Erlebens von Kom‐ munikation in ihren vielfältigen Facetten tragen nachhaltig zu einer Kompetenzverbesse‐ rung bei. Hierbei kommt es zu einem positiven Zusammenspiel sprachlicher und visueller Kommunikation mit realitätsnahen interaktionalen Abfolge- und Beteiligungsstrukturen, was in der Folge zu einer Abkehr von der arztzentrierten Forschungseinstellung hin zu einer patientenorientierten Betrachtung führen kann. Kommunikative Kompetenzen werden - steuerbar mit Blick auf die unterschiedlichen Kompetenzlevel im Studienverlauf, also longitudinal - verwoben mit klinischen Kompetenzen, wobei sich auf diese Weise eine Kompetenzerweiterung um immer neue Aspekte ergeben sollte (Lernspirale). Von entscheidender Bedeutung für diesen Prozess der professionalisierten Kompetenz‐ erweiterung sind unserer Ansicht nach die folgenden Aspekte (in gleichwertiger Betrach‐ tung): 1. Integrierung/ Praxisbezug, 2. Longitudinalität, 3. Kontinuität, 4. Interdisziplinarität und 5. Transparenz (mit Blick auf Prüfungen). Hinzu kommt die didaktische und fachliche Qualifizierung der Lehrenden, die ebenfalls an den gerade genannten fünf Kriterien ausgerichtet sein muss und für die es gegenwärtig keine überörtlichen Curricula gibt. Die Schulung konkreter kommunikativer Fertigkeiten und Techniken sowie interaktionaler Strategien muss ebenso wie die Vermittlung didakti‐ scher Kompetenzen für Lehrende verpflichtend sein. Hier darf Erfahrungswissen allein nicht der Maßstab sein, nach dem Tutoren und Dozenten eingesetzt werden. Dies ist insbesondere deswegen wichtig, weil die Curricula für das Medizinstudium Prüfungen vorsehen, wobei kommunikative Kompetenzen entweder formativ (zur Ermög‐ lichung eines Feedbacks) oder summativ (zur Überprüfung von Standards mit Bestehens‐ relevanz) überprüft werden sollten. Möglich wird dies durch komplexe Prüfungsformate wie die OSCE -Prüfung (Objective Structured Clinical Examination), bei denen die Studier‐ enden auf der Basis ihres jeweiligen Fachwissens, ihres Handlungs- und Begründungswis‐ sens und ihrer, dem Studienverlauf angepassten, Handlungskompetenz ein Gespräch mit einem standardisierten Simulationspatienten führen sollen. Die Bewertung erfolgt mit dem Fokus auf nonverbale und verbale Kommunikation nach festgelegten (und zuvor bekannt gemachten und trainierten) Bewertungskriterien (Nikendei & Jünger 2006). 132 Sascha Bechmann & André Karger 5. Lehre und Prüfung kommunikativer Kompetenzen im Rahmen eines longitudinalen Kommunikationscurriculums am Beispiel von CoMeD (Universität Düsseldorf) Am Beispiel des Kommunikationscurriculums CoMeD an der medizinischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf soll im Folgenden dargestellt werden, wie die Arzt-Patienten-Kommunikation den zuvor skizzierten Anforderungen entsprechend in die universitäre Lehre integriert und wie das Prüfungsverfahren gestaltet werden kann. Vom ersten Studienjahr ( SJ ) an durchlaufen die Studierenden unterschiedliche Phasen kommunikativer Schulung mit studienbegleitenden Prüfungen in den Studienjahren 3 bis 5. Während in den ersten 3 Studienjahren Grundlagen der Kommunikation (im Fach Medi‐ zinische Psychologie im 1. SJ ) und Anamnese sowie Beratungsfertigkeiten (im Rahmen von Patientenpraktika im Fach Allgemeinmedizin im 1.-3. SJ sowie im 3. SJ in einem interpro‐ fessionellen Kurs (Diabetologie, Gastroenterologie, Psychosomatik)) geschult werden, finden im 4. und 5. SJ überwiegend Kurse in Kleingruppen als Blended Learning, bestehend aus E-Learning-Einheiten in Kombination mit Präsenzseminaren mit Schauspielpatienten, statt. Dabei werden kommunikative Lernziele zu folgenden Themen vermittelt: Mitteilen von Befunden, Überbringen von Diagnosen und schlechten Nachrichten, Partizipative Ent‐ scheidungsfindung, Aufklärungsgespräch vor einer Operation, Umgang mit herausfordernden Emotionen (Angst), Umgang mit unterschiedlichen Krankheitskonzepten, Gespräche mit An‐ gehörigen und mit Kindern, über Dolmetscher vermittelte Gespräche. Die kommunikativen Fertigkeiten sind mit fächerübergreifenden medizinischen Inhalten kontextspezifisch ver‐ bunden und werden von Dozenten verschiedener klinischer Fächer unterrichtet (Allge‐ meinmedizin, Psychosomatik, Pädiatrie, Frauenheilkunde, Chirurgie, Palliativmedizin). In den Präsenzseminaren werden kommunikative Techniken (z. B. NURSE ) praxisnah in stan‐ dardisierten Rollenspielen mit Schauspielpatienten trainiert. Die Studierenden nehmen in den 90-minütigen Seminaren die Rolle des Arztes ein und müssen - nach einer kurzen Einweisung und einer vorangegangenen theoretischen Reflexion geeigneter Gesprächs‐ techniken - durch den Einsatz dieser Gesprächstechniken im Gespräch bestimmte Ziele erreichen bzw. Aufgaben lösen. Das zentrale lernsteuernde Element der Rollenspiele mit dem Simulationspatienten ist das anschließende strukturierte Feedback. Der Studierende erhält dabei Rückmeldungen durch den Simulationspatienten, die Beobachter (Gruppe) sowie den Dozenten. Durch das Kleingruppensetting ist neben der Möglichkeit der realitätsnahen Einübung kommunika‐ tiver Techniken auch der Raum für Fehler und für eine begleitete Selbstreflexion in einem geschützten Rahmen gegeben. Die rückblickende Analyse der Gesprächssituation dient der Bewusstmachung positiver wie auch negativer Momente der Gesprächsführung und der damit verbundenen Beziehungsstrukturen zwischen Arzt und Patient. Die bis dahin unterrichteten Teilkompetenzen, die sich am NKLM orientieren, werden am Ende des 4. SJ in einem CoMeD- OSCE summativ und formativ überprüft. Der CoMeD- OSCE besteht aus zwei Prüfungsstationen (von je 8 Minuten Dauer). Die Prüfungskandi‐ daten erhalten zwei Gesprächsaufgaben, die sie in der Interaktion mit Schauspielpatienten lösen müssen. Direkt im Anschluss erhalten die Studierenden vom Prüfer ein dreiminütiges mündliches Feedback zu ihrer gezeigten Gesprächsleistung. Aus Gründen interner Quali‐ 133 Ärztliche Gesprächsführung in der Medizinerausbildung - Probleme, Chancen und Methoden tätssicherung und zur Nachbesprechung wird jede Prüfung auf Video aufgezeichnet. Um den geforderten Test-Gütekriterien zu entsprechen, werden die gezeigten Fertigkeiten durch Dozenten bewertet, die vorab an einer Raterschulung teilgenommen haben. Das Ra‐ ting selbst erfolgt anhand standardisierter und validierter globaler Ratinginstrumente. Um die Prüfung zu bestehen, ist es notwendig, in beiden Stationen insgesamt mindestens 60 % der möglichen Gesamtpunktzahl zu erhalten. Die Prüfung gilt als „bestanden“ oder „nicht bestanden“, es werden keine Noten vergeben. Die erfolgreiche Absolvierung des CoMeD- OSCE ist Voraussetzung für die Zulassung zum 2. Staatsexamen. Neben dem CoMeD- OSCE finden im 4. und 5. SJ klinisch-praktische Prüfungen als Mini- CEX (minimal clinical examination) statt, bei denen die Qualität der Kommunikation im direkten Kontakt der Studierenden mit Patienten/ Patientinnen auf der Station, in der Ambulanz oder Praxis durch den ausbildenden Arzt mit einer standardisierten Checkliste beurteilt wird. 6. Zusammenfassung Die Vermittlung kommunikativer Kompetenzen dient in vielfältiger Weise einer gelin‐ genden Arzt-Patienten-Beziehung, so dass ihr auf breiter Basis fachübergreifend Raum in der akademischen Ausbildung von Medizinstudenten ab dem ersten Semester gegeben werden muss. Dabei ergeben sich interdisziplinäre Bezüge sowohl im Bereich der Curri‐ culumentwicklung als auch in der sprach- und medizindidaktischen Umsetzung. Der Lin‐ guistik fällt hier eine besondere Aufgabe zu, denn sie muss geeignete Analysemethoden bereitstellen, mit denen die Entwicklung tragfähiger Strategien und Konzepte möglich ist. In enger Zusammenarbeit mit den medizinischen Fächern kann so eine gute und dem Wohl des Patienten dienende Kommunikation erreicht werden, deren Förderung empirisch ab‐ gesichert ist. Die konkrete Umsetzung in den medizinischen Fakultäten kann - wie gezeigt - durch ein longitudinales Kommunikationscurriculum auf der Grundlage sprach- und kom‐ munikationswissenschaftlicher Erkenntnisse erfolgen, wobei noch einige, in diesem Bei‐ trag skizzierte, Desiderate vorhanden sind. Literatur Bachmann, Cadja/ Simmenroth-Nayda, Anne/ Hölzer, Henrike/ Dieterich, Anja/ Fabry, Götz/ Lange‐ witz, Wolf/ Lauber, Heike/ Ortwein, Heiderose/ Pruskil, Susanne/ Schubert, Sebastian/ Sennekamp, Monika/ Silbernagel, Waltraud/ Scheffer, Simone/ Kiessling, Claudia (2009). Longitudinales Bo‐ logna-kompatibles Modell-Curriculum „Kommunikative und soziale Kompetenzen“: Ergebnisse eines interdisziplinären Workshops deutschsprachiger medizinischer Fakultäten. GMS Z Med Aus‐ bild 26: Doc 38, 1-17. Bechmann, Sascha (2014). Medizinische Kommunikation. Grundlagen der ärztlichen Gesprächsführung. Tübingen: Francke. Dierks, Marie-Luise (2001). Patientensouveränität - Der autonome Patient im Mittelpunkt. 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Der hier vorgestellte aufgaben- und inputorientierte Ansatz fasst diese Prinzipien zusammen und liefert ihre Vermittlungs‐ grundsätze. 1. Einleitung Der Tourismus verdient angesichts seines Wirtschafts- und Beschäftigungspotenzials und der Auswirkungen auf Gesellschaft und Umwelt besondere Aufmerksamkeit als Bildungs- und Entwicklungsfaktor. Nach einer Statistik von Eurostat war 2012 jedes zehnte Unter‐ nehmen des nichtfinanziellen Sektors der gewerblichen Wirtschaft der EU in der Touris‐ musbranche tätig. Innerhalb der EU ist Deutschland mit Abstand das Land mit den höchsten Ausgaben für Tourismus (70,3 Mrd. EUR ), gefolgt vom Vereinigten Königreich (47,8 Mrd. EUR ) und Frankreich (36,7 Mrd. EUR ). Im globalen Vergleich steht Deutschland nach einer Statistik der UNWTO (vgl. Panorama OMT 2015) aus dem Jahr 2014 mit 92 000 Mio. US Dollar an dritter Stelle nach China und den USA . Auf Grund der Zahlen und des großen Tourismuseinflusses auf die Wirtschaftsbereiche der einzelnen Länder wächst auch die Notwendigkeit einer stärkeren berufs- und touris‐ musspezifischen, handlungsorientierten, internationalisierenden und interkulturellen Fremdsprachenausbildung im akademischen Bildungsbereich. Deutsch ist zweifelsohne eine der wichtigsten Tourismussprachen der Welt, der auch heutzutage nur wenig Auf‐ merksamkeit seitens der Lehrbuchverlage gewidmet wird. Trotz seines Wirtschaftspoten‐ zials existieren unverständlicherweise bisher kaum spezifische Lernmaterialien für Deutsch als Fremdsprache für den Tourismus (Da FT ) auf dem Markt. In der Regel werden sehr allgemeine Tourismusinhalte wie Reisen oder Restaurantbesuche in die regulären Lehrbü‐ 1 Zu einer ausführlicheren Diskussion vgl. Efing 2014. cher für DaF aufgenommen oder als Zusatzmaterial in den Anfängerniveaus angeboten. Der Tourismus sollte aber in den Fokus der Fremdsprachendidaktik rücken, vor allem des Deutschen als Berufssprache. Im Folgenden werden wir versuchen, die Berufssprache Tourismus näher zu bestimmen und für die Notwendigkeit einer kommunikativen, input- und handlungsorientierten Sprach‐ vermittlung in der akademischen Touristikausbildung plädieren. 2. DaFT als Berufssprache Bevor wir uns mit dem Deutschen als Fremdsprache für den Tourismus aus didaktischer Sicht befassen, sollten wir uns mit dem Register der Berufssprache auseinandersetzen. Nicht selten wird in der Literatur von Deutsch als Fachsprache für den Tourismus gesprochen, ohne dass eine klärende Abgrenzung der Fach- und Berufssprache 1 vorgenommen wird. Die Ursache dafür liegt u. a. in einer seit langer Zeit praktizierten Verabsolutierung des Registers der Fachsprache mit der logischen Folge einer Vernachlässigung anderer Varie‐ täten (vgl. Efing 2014: 416). Erst Ende der 1990er Jahre findet man eine Thematisierung des Registers der Berufssprache in der Forschung (vgl. Buhlmann & Fearns 1999, Braunert 1999) und damit die Notwendigkeit einer Abgrenzung beider Varietäten. Hierbei werden das Register der Allgemeinsprache, Gemeinsprache, Alltagssprache oder Standardsprache und das Register der Bildungssprache als Vergleichs- und Abgrenzungsfolien herange‐ zogen. Nach Efing spannen Fachsprache und Allgemeinsprache als Pole das Kontinuum auf, zwischen denen alle weiteren diskutierten Register mit je unterschiedlicher Nähe zu einem der beiden Pole und einem je unterschiedlichen Fachsprachlichkeitsgrad angesiedelt werden (Efing 2014: 419). Fachsprachen stellen den äußersten Pol dar, da sie primär der Wissensvermittlung dienen und an den Experten gebunden sind. Sie benötigen keinen außersprachlichen Funktions- oder Semantisierungskontext und sind durch die Eindeutigkeit und Klarheit der Begriffe und Aussagen gekennzeichnet, die dem Ziel der Fachkommunikation in einem begrenz‐ baren Kommunikationsbereich zwischen Fachexperten dienen. Eine Berufssprache als separates Register wie die Alltags-, die Fachsprache oder die Bil‐ dungssprache existiert jedoch nicht. Wir können von der Berufssprache als Register spre‐ chen, insofern es Charakteristika der drei Register aufzeigt. Der Begriff der Berufssprache entsteht zunächst in einem unterrichtlichen Kontext und ergibt sich aus der Notwendigkeit einer beruflichen Qualifikation und/ oder Weiterbildung. Konsequenterweise dient eine Berufssprache dem Ziel der Ausbildung einer Handlungs‐ kompetenz für die zukünftige Funktionsübernahme und Verständigung in jeder beruflichen Kommunikationssituation, um die Anforderungen des realen beruflichen Lebens erfolg‐ reich zu bewältigen. Darüber hinaus leistet die Berufssprache einen wertvollen Beitrag zur kulturellen, sozialen und beruflichen Integration. Eine Berufssprache weist in höherem 138 Gloria Bosch Roig oder geringerem Grade Merkmale von Alltags-, Fach- und Bildungssprache auf. Letztere ist für die Bewältigung abstrakt-kognitiver Aufgaben sowie für den Wissenserwerb und die Wissensvermittlung im Bildungskontext besonders wichtig. Es handelt sich von einem Re‐ gister, das im Gegensatz zur Alltagssprache für dekontextualisierte Kommunikation verwendet werden muss und tendenziell konzeptionell schriftlich ausgerichtet ist auch in Situationen der medial mündli‐ chen Realisierung, die einen expliziten, präzisen, strukturierten und objektiven Gebrauch von Sprache verlangen (Efing 2014: 430-431). Die Bildungssprache, die sowohl im unterrichtlichen als auch im beruflichen Kontext re‐ levant ist, weist z. T. Merkmale von Fachsprachen auf, sind aber handlungsorientierter und nicht fachspezifisch. Sprachhandlungen wie das Benennen, Beschreiben, Erklären, Argu‐ mentieren, Informieren, Empfehlen u. a. sind abstrakte, komplexe sprachlich-kognitive Prozesse, die dem Register der Bildungsssprache zugewiesen werden können (ebd.). Kiefer (2011: 266) weist auch auf die Notwendigkeit einer Register-, Stil- und Variationskompetenz als Bestandteil der berufsbezogenen kommunikativen Handlungskompetenz in der Fremd‐ sprache hin. Zusammenfassend können wir also feststellen, dass die Vermittlung von beruflich rele‐ vanten, bildungssprachlichen Mitteln, in Verbindung mit berufsbezogenen Textsorten‐ kenntnissen und Sprachhandlungswissen, Aufgabe eines berufsbezogenen DaF-Unterrichts ist (vgl. Bethscheider 2011: 14 zit. nach Efing 2014: 433). Ausgehend von den genannten Merkmalen der Berufssprache können wir an diesem Punkt festhalten, dass Da FT keine Fachsprache ist, sondern als eine Berufssprache verstanden werden muss. Wir gehen davon aus, dass eine Berufssprache kein separates Register ist, sondern in höherem oder geringerem Grad Merkmale der drei Register aufweist. Die Spe‐ zifität der Berufssprache hängt jedoch von ihrer Postition auf dem Kontinuum zwischen Alltags- und Fachsprache ab. Je mehr sie sich dem äußersten Standpunkt der Fachsprache nähert, desto spezifischer ist sie. Da FT kann dementsprechend als Berufssprache angesehen werden, sofern der Bereich des Fachwortschatzes ein besonderes Teilsystem bei ihrer Ver‐ mittlung darstellt (vgl. Bosch 2013). Eine Berufssprache ist in erster Linie handlungsorientiert, wird in formellen bzw. aka‐ demischen berufsbildenden Kontexten vermittelt und dient somit primär der Bewältigung und Koordination beruflicher Abläufe und Handlungen seitens der Arbeitnehmer, je nach ihrer Funktion im Tourismusbetrieb. Das Ziel des Da FT -Unterrichts ist auch die Förderung einer beruflichen Handlungsfähigkeit und einer berufsbezogenen kommunikativen Kom‐ petenz in internationalen bzw. interkulturellen Zusammenhängen bzw. Kontexten. Da FT ist demzufolge eine Interaktionssprache, die Tourismusstudierende auf reale Interaktions‐ situationen im Berufsleben mit kulturunterschiedlichen Sprechern (des Deutschen) vorbe‐ reiten soll. Rezeptive Fähigkeiten sowie die mündliche und schriftliche Sprachproduktion stehen im Fokus des Da FT -Unterrichts. Vor diesem Hintergrund muss die Da FT -Didaktik sowohl auf die realen Sprachbedürfnisse der Studierenden als auch auf den Sprachbedarf der Tourismusindustrie reagieren und Ver‐ mittlungsmethoden anbieten, die lernerzentriert und bedarfsorientiert sind. Der aufgaben‐ 139 Ausbildung kommunikativ-fachspezifischer und interkultureller Handlungskompetenz orientierte Da FT -Unterricht vereint Sprachbedarfsanalysen mit einem stark kognitiv-in‐ teraktionistischen Lernansatz. 3. Der aufgaben- und inputorientierte DaFT-Unterricht als intergrierter Ansatz am Beispiel Spanien Spanien war 2014 der EU -Mitgliedstaat mit den höchsten Nettoeinnahmen aus Reisen (35,4 Mrd. EUR ). Nach Großbritannien (29 %) stellt Deutschland (20 %) den wichtigsten Entsendemarkt für Spanien dar (Panorama OMT 2015). Die Entwicklung des Sektors deutet auf weiterhin wachsende Touristenzahlen für Spanien hin. Es wundert deswegen nicht, dass über 100 Universitäten des öffentlichen und privaten Bereichs in Spanien eine Aus‐ bildung im Tourismus anbieten. Neben Englisch und Französisch steht traditionell Deutsch auf den offiziellen Studien‐ plänen. An einigen Fakultäten werden außerdem Fremdsprachen wie Portuguiesisch oder Russisch angeboten. Obgleich die deutsche Sprache eine der wichtigsten Berufsfremdspra‐ chen für den Tourismusbereich ist, wird sie in der Regel nur drei Semester in regulären Sprachkursen mittels allgemeinbildender Sprachlehrbücher und Lernmaterialien unter‐ richtet. Die Tourismusstudierenden erreichen unter diesen Bedingungen am Ende des Ba‐ chelor-Studiums selten ein ausreichendes Kompetenzniveau, das die Bewältigung komple‐ xerer Aufgaben in deutscher Sprache ermöglichen könnte. Das hier vertretene methodologische Konzept des Da FT -Unterrichts basiert auf dem Prinzip der Zielgruppenorientierung (Schlak 2000) und Regionalisierung, welches anhand einer detallierten, qualitativ-ethnographischen Untersuchung eine dichte Beschreibung (Geerzt 1987) des Lernkontextes anstrebt. Dadurch werden die relevantesten Tätigkeitsbzw. Handlungsbereiche ermittelt und kontextualisiert. Die Erforschung des beruflichen Umfelds hat eine Doppelfunktion: zum einen vermitteln Experten einen Einblick in die konkreten, realen Berufsaufgaben bzw. Tätigkeiten, die von den Studierenden zukünftig zu bewältigen sind. Zum anderen werden bedeutungsvolle In‐ halte für den Unterricht ermittelt. Damit sind sowohl fachspezifische als auch interkultu‐ relle Aspekte gemeint wie z. B. der Fachwortschatz, die Textsorten und die pragmatischen Normen. Wir verstehen unter Berufsaufgaben Handlungen, die zweckmäßig und zielgerichtet auf die Erfüllung bestimmter Verpflichtungen im Arbeitsprozess ausgerichtet sind. Tätigkeiten und Aktivitäten sind dagegen untergeordnete Handlungen, die zur Erfüllung der Aufgaben dienen. Aufgaben und Inhalte werden somit zu einem qualitativen und signifikanten Input ver‐ knüpft und als berufsrelevante pädagogische Lernszenarien für den Da FT -Unterricht auf‐ gearbeitet. Der integrierte aufgaben- und inhaltsorientierte Da FT -Ansatz basiert auf methodologi‐ schen Prinzipien, die Theorien und Ergebnisse in der Fremdsprachenerwerbsforschung und Fremdsprachendidaktik berücksichtigen (vgl. Bosch 2014). 140 Gloria Bosch Roig 2 “Languaging is the term we have been using to refer to the activity of mediating cognitively complex ideas using language.” (Swain & Lapkin 2011: 105). 4. Methodologische Prinzipien und didaktische Überlegungen 4.1 Methodologische Prinzipien Der Da FT -Unterricht als Berufssprachenunterricht ist an erster Stelle handlungsorien‐ tiert. Die Handlungskompetenz steht verstärkt im Mittelpunkt des Unterrichts und verfolgt die Förderung der Fähigkeit, aufgabengemäß, zielgerichtet, situationsbedingt und verant‐ wortungsbewusst berufliche Aufgaben sprachlich zu lösen. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es auch notwendig, die sekundären Kompetenzen zu integrieren, aus denen sich die Hand‐ lungskompetenz zusammensetzt. Unter den sekundären Kompetenzen gilt es, insbesondere folgende Kompetenzen zu diffe‐ renzieren: die sozial- und interkulturelle Kompetenz, die Team- und Kommunikationsfä‐ higkeit sowie bewusstes und respektvolles Umgehen mit kulturellen Unterschieden vo‐ raussetzt; die metakognitive Kompetenz, die zur Selbststeuerung des Lernprozesses dient und Entscheidungs- und Planungsfähigkeit sowie das problemlösende Denken einschließt, sowie die fachsprachliche Kompetenz, die bei der Aneignung von fachsprachlichen Kennt‐ nissen und Fertigkeiten von Bedeutung ist. Aus diesem Grund ist es wichtig, beim Entwurf einer Aufgabe diese drei Kompetenzen zu integrieren. Wir unterscheiden hierbei zwischen Produkt- und Prozessaufgaben (Bosch 2012): Die ersten sind die eigentlichen kommunikativen Aufgaben, Letztere dienen ihrer Realisierung und haben eine starke sprachbewusstseinsfördende Funktion. Prozessauf‐ gaben helfen den Lernern Form-Fokussierungsstrategien auf metakommunikativer, meta‐ sprachlicher und metakognitiver Ebene zu entwickeln, sie sind sehr nützlich und empfeh‐ lenswert für die Sprachverarbeitung, jedoch keine conditio sine qua non für die Durchführung kommunikativer Aufgaben. Das Languaging 2 (Swain & Lapkin 2011) ist also ein zentraler Moment des Unterrichts. Damit sind die mentalen Prozesse gemeint, die mittels der Sprache eine Problem-Lösungs‐ funktion haben. Languaging findet statt, wenn Lerner versuchen, Entscheidungen darüber zu fällen, wie sie treffend etwas äußern können. Es handelt sich um Form-Bedeutungs-Aus‐ handlungen, Hypothesentesten und Monitorstrategien, die der Ausführung einer kommu‐ nikativen Aufgabe dienen. Prozessaufgaben ermöglichen eine gezielte, sinnvolle Formfo‐ kussierung auf relevante Strukturen und grammatikalische Elemente, die für die Realisierung einer kommunikativen Aufgabe nützlich sind. Deswegen verdienen Prozess‐ aufgaben eine besondere Aufmerksamkeit und einen festen Platz im kommunikativen Un‐ terricht. Sie sind die Bau- und Puzzlesteine, die sich zum Gesamtwerk einer kommunika‐ tiven Aufgabe fügen und die Zusammenhänge zwischen Form-Bedeutung-Funktion erkennen lassen. An diesem Punkt stellt sich unweigerlich die Frage, wie Prozessaufgaben im Da FT -Unter‐ richt verstärkt die Formfokussierung und das Languaging fördern können, ohne das Haupt‐ ziel, d. h. die Handlungskompetenz, die schließlich mittels der erfolgreichen Durchführung einer kommunikativen Aufgabe erreicht wird, aus den Augen zu verlieren. 141 Ausbildung kommunikativ-fachspezifischer und interkultureller Handlungskompetenz 4.2 Didaktische Überlegungen Im Rahmen unseres Da FT -Unterrichts plädieren wir für kontextualisierende, inputorien‐ tierte und interaktiv-kollaborative Unterrichtsaktivitäten und Aufgaben. Es liegt auf der Hand, die Relevanz des Lernkontextes und des Berufsszenarios hervorzuheben, um au‐ thentische Kommunikationssituationen des Berufslebens zu ermitteln, wofür insbesondere Kontextrecherchen geeignet sind. Die Erforschung des beruflichen Umfelds hat eine mehr‐ fache Funktion: zum einen die Ermittlung des Sprachbedarfs in einer konkreten Region, auf lokaler Ebene, in einem Betrieb oder Tätigkeitsbereich, zum anderen die Erstellung eines Lernkorpus, das als relevanter Input für den Unterricht gilt. Es ist hier sinnvoll und motivierend, die Lernenden aktiv in die Kontextrecherche und in die Erstellung des Korpus zu engagieren. Die kollaborative Gruppenarbeit eignet sich dabei besonders gut, denn Lerner können somit die Arbeitsschritte unter sich verteilen und sie zielgerichteter durchführen. Sie können beispielsweise durch Firmenbesuche, Interviews mit Experten, Foren im Internet, anhand von Fragebögen oder mittels einer Dokumenten‐ sammlung und -analyse ein umfassendes Lernkorpus zusammenstellen. Hierbei ist es die Rolle der Dozenten, dafür Sorge zu tragen, dass den Lernern Schritt für Schritt die rele‐ vantesten Puzzlebzw. Bausteine zur Durchführung der kommunikativen Aufgabe zur Verfügung stehen und sie über ausreichend Feedback in jeder Phase der Aufgabenbearbei‐ tung verfügen. Aufgaben und Inhalte werden in diesem Ansatz enger verknüpft, denn nur so kann ein signifikanter Input entstehen, der später in Form von berufsrelevanten Lernszenarien im Unterricht aufgearbeitet werden kann. Die Lerner-Lerner-Interaktion wird durch das Languaging in kollaborativen Aktivitäten gefördert, die Prozessaufgaben wie die Aushand‐ lung der Zusammenhänge Form-Bedeutung-Funktion und die Formfokussierung in Gang setzen. 4.3 Design eines Lernszenarios als Beispiel für den DaFT-Unterricht Wir stellen im Folgenden ein praktisches Beispiel eines typischen Berufsszenarios im Da FT -Unterricht vor, mit der Absicht, die zentralen Elemente des aufgaben- und inputori‐ entierten Ansatzes in einem Berufsbzw. Lernszenario integriert zu veranschaulichen. Das Design des Berufsszenarios zielt darauf ab, eine kommunikative Aufgabe unter Berück‐ sichtigung der verschiedenen Dimensionen der geforderten Handlungskompetenz auszu‐ arbeiten. Die Aufgabe setzt Kenntnisse auf einem B1-Niveau voraus und besteht darin, in der Gruppe einen Stadtspaziergang mit Kurzvorträgen zu ausgewählten Themen zu organi‐ sieren und durchzuführen. Damit wir unseren Vorsatz realisieren können, werden die Tou‐ rismusstudierenden aktiv an jeder Phase des Designs und am eigenen Lernprozess beteiligt. Die Kontextrecherche und die Lernkorpuserstellung erfolgen anhand zweier Impulsfragen: „Was sind die wichtigsten Tätigkeiten eines Reiseleiters? “ sowie „Was sind die Vorausset‐ zungen für einen kompetenten Reiseleiter? “ In dieser ersten Vor-Phase der Aufgabe müssen die Studierenden Entscheidungen hinsichtlich der Informationsquellen (Interviews mit Ex‐ perten, Internetforen etc.) und der Auswahl bzw. Relevanz der Angaben für die Lernkor‐ 142 Gloria Bosch Roig puserstellung treffen. Dabei werden metakognitive Kompetenzen sowie fachspezifische, fachsprachliche und soziale Kompetenzen bei den Lernern gefördert. Die zweite Vor-Phase erfolgt anhand der Bearbeitung von fünf für den Beruf des Reise‐ leiters relevanten Kompetenzen: 1. Organisations- und Zeitmanagement, 2. Fachkenntnisse, 3. Präsentationstechniken, 4. Körpersprache und Stimme, 5. Umgang mit Gruppen, Miss‐ verständnissen, Konflikten und Reklamationen. Die Studierenden werden aufgefordert, über diese Themen zuerst innerhalb der eigenen Gruppe zu reflektieren und die Ergebnisse dann mit den anderen Gruppen im Plenum zu teilen. Der darauffolgende Schritt dieser Vor-Phase besteht darin, eine Tabelle zur Planung und Organisation des Stadtspaziergangs mit Angaben in Form von Überschriften (Sprach‐ handlung, Ausdrücke und Redemittel, Fachwortschatz, Strukturen und Grammatik) zu ver‐ vollständigen. In dieser Phase setzen sich die Studierenden konkret mit Sprachbzw. linguistischen Fragen auseinander. Hier findet Formfokussierung statt, da sie über die Zusammenhänge Form-Bedeutung-Funktion reflektieren müssen. Die verschiedenen Sprachhandlungen können in dieser Phase nach Bedarf isoliert in Form von Rollenspielen in kurzen Praxis-Mo‐ dulen geübt werden. Diese isolierten Übungen eignen sich besonders für den Einbau von kulturellen Missverständnissen, Konflikten und Reklamationen, die von den Lernern ef‐ fektiv und professionell gelöst werden müssen. Die komplette Durchführung der Aufgabe erfolgt nach dieser Planungs- und linguisti‐ schen Phase: Die Tabelle wird hier zum Drehbuch und reflektiert jeden Abschnitt der Stadtführung. Während der anschließenden Phase werden die aufgezeichneten Aufgaben bzw. Führungen im Plenum kommentiert. Zur Übung oder zum Training verschiedener Aspekte der durchgeführten Aufgabe kann ggf. vom Dozenten eine weiterführende Post-Aufgabe vorgeschlagen werden. Wir zeigen im Folgenden ein praktisches Beispiel und eine Musterlösung für den Da FT -Unterricht in 3 Phasen: 1. Kontextrecherche 2. Planung und 3. Durchführung der Aufgabe. 4.3.1 Beruf- und Lernszenario: Reiseleitung 1. Kontextrecherche und Lernkorpuserstellung (fördert die Handlungskompe‐ tenz der Lerner durch den Einsatz metakognitiver, fachspezifischer, fachsprachlicher und sozialer Kompetenzen) • Handlungstätigkeiten eines Reiseleiters: pflegt engen und direkten Kontakt mit den Kunden, erklärt Sachverhalte, hält Vorträge, informiert über lokale Besonderheiten, spricht Empfehlungen aus, weist auf Sehenswürdigkeiten hin, organisiert Ausflüge, hilft beim Check-In im Hotel oder am Flughafen, löst Probleme, schreibt Berichte usw. Ein Reiseleiter ist ein kompetenter Ansprechpartner in jeder Etappe einer Reise. • Reiseleiter müssen: selbstbewusst, kommunikativ, freundlich, aufgeschlossen, flexibel und belastbar sein; 143 Ausbildung kommunikativ-fachspezifischer und interkultureller Handlungskompetenz Anpassungsvermögen, Humor, Organisations-, Improvisationstalent und Ori‐ entierungssinn haben; über Fremdsprachenkenntnisse und Allgemeinbildung verfügen; aufgeschlossen fremden Sitten und Kulturen gegenüber sein. 2. Planung und Durchführung (fördert die Handlungskompetenz der Lerner durch metakognitive, fachsprachliche, kommunikative, soziale und interkulturelle Kom‐ petenzen) • Organisation und Zeitmanagement: Rundgang unter Berücksichtigung der Wegzeiten, Öffnungszeiten, Essens- und WC -Pausen. • Fachkenntnisse: Praktische Kenntnisse über das jeweilige Land und Grundlegendes zur Landes‐ kunde: Geschichte, Sprache, Geographie, Tradition, Kultur, Architektur, Kunst, Menschen, kulturelle Besonderheiten. • Themenauswahl und Präsentationstechniken: Themenauswahl und Schwerpunktsetzung: Grundinformationen, Zahlen und Fakten geben, Geschichten und Anekdoten erzählen. Fachwissen didaktisch vor Ort vermitteln. • Körpersprache und Stimme: Einsatz von Mimik und Gestik. Einsatz der Stimme: Atemtechnik, freundlicher Ton, guter Sprachstil, passende Wortwahl. Sprechen im öffentlichen Raum (auf der Straße, vor Sehenswürdigkeiten, in der Natur etc.). • Gruppendynamik, Konfliktmanagement, Reklamationen: Unterschiedliche Zielgruppen kennenlernen: Verhalten im Team und Team‐ typen, die Führungsrolle in einer Gruppe übernehmen. Auf Reklamationen und Beschwerden reagieren. Gruppenaufgabe: Organisation und Durchführung eines Stadtspaziergangs mit Kurzvorträgen zu ausgewählten Themen Planung Sprachhand‐ lung Ausdrücke u. Redemittel Fachwort‐ schatz Strukturen u. Grammatik Zeit 1 Vorstellung und Begrü‐ ßung der Gruppe Guten Morgen/ Tag und herzlich Willkommen zu dieser Füh‐ rung meine Damen und Herren. Mein Name ist … und ich werde heute Ihr/ e Reiseleiter/ in sein. -e Führung, -en -r Reise‐ führer, - -r Reiseleiter, --e -e Reiselei‐ terin, -nen -r Stadtrund‐ gang, ¨-e -e Stadtfüh‐ rung, -en Futur I (werden + In‐ finitiv) Ich werde … Wir warden … 3 Min. 2 Einführung und Erklä‐ Die Führung dauert circa … -s An‐ denken, - Infinitivsätze 10 Min. 144 Gloria Bosch Roig Planung Sprachhand‐ lung Ausdrücke u. Redemittel Fachwort‐ schatz Strukturen u. Grammatik Zeit rung des Pro‐ gramms Empfeh‐ lungen und Beantwor‐ tung von Klä‐ rungsfragen Zuerst werden wir … da‐ nach … später … zum Schluss … Sie können da … Ich empfehle Ihnen … Ich würde Ihnen vor‐ schlagen … Von … bis … Uhr werden wir eine Pause machen/ einlegen, um … zu … Bitte stellen Sie Ihre Handys auf lautlos. Bitte fragen Sie, wenn etwas unklar ist. Haben Sie noch Fragen? -s Bild, -er -s Gebäude, - -s Gemälde, - -s Denkmal, ¨-er -e Kathedrale, -n -s Mit‐ bringsel, - -s Museum, -e Museen -e Sehenswür‐ digkeit, -en -s Souvenir, -s -e Spezialität, -en -s Wahrzei‐ chen, - (an)sehen anschauen besichtigen bewundern betrachten sich etwas an‐ sehen sich etwas an‐ schauen Finalsätze mit um zu und damit Imperativ Konjunktiv II Modalverben Präpositi‐ onen mit Ak‐ kusativ (um, gegen, für) Präpositi‐ onen mit Dativ (aus, zu, von, bei, nach, seit, ge‐ genüber, ent‐ lang) Reflexive Verben Wechselprä‐ positionen ( an, auf, in, über, vor, nach, hinter, unter) Zeit- und Ortsangaben zum + Verb 3 Beginn der Führung Fachwissen vermitteln Beantwor‐ tung von Fragen Wir befinden uns hier in/ vor/ hinter/ neben … Hier sehen Sie … Wissen Sie vielleicht, wann/ wo/ wie/ wer … Das Gebäude/ Denkmal/ Gemälde/ die Statue im go‐ tischen/ romanischen Stil wurde/ wurden … -e Altstadt, ¨-e -s Bild, -er -e Burg, -en -s Gebäude, - -s Gemälde, - -s Herren‐ haus, -¨er -r Hof, - ¨e -s Denkmal, ¨-er r Dom, -e -e Kathedrale, -n -e Kirche, -n -s Kloster, - ¨ -r Künstler, - -e Künstlerin, -nen -s Jahrhun‐ dert, -e Adjektivde‐ klination Direkte und indirekte Fragen Maßangaben Passivform wurde + P.II Präteritum Relativpro‐ nomen Temporal‐ sätze mit als Zeit- und Ortsangaben Wechselprä‐ positionen 60 Min. 145 Ausbildung kommunikativ-fachspezifischer und interkultureller Handlungskompetenz Planung Sprachhand‐ lung Ausdrücke u. Redemittel Fachwort‐ schatz Strukturen u. Grammatik Zeit von … im Jahr/ Jahr‐ hundert … gebaut/ fertig‐ gestellt/ eröffnet. Er/ sie/ es ist … Meter/ Kilo‐ meter breit/ hoch/ lang. Damals war/ waren … In den 1990er/ 1980er/ 1970er Jahren … Als … Haben Sie weitere Fragen? Ich bean‐ tworte jetzt gern Ihre Fragen. r Jugendstil, -e -e Mauer, -n -e Statue, -n -r Stil, -e gotisch romanisch darstellen zeigen 4 Führungs‐ schließung Danksagung Meine Damen und Herren/ liebe Freunde, hier beenden wir unseren Stadtrund‐ gang. Vielen Dank für Ihr Inte‐ resse/ Ihre Aufmerksam‐ keit. Ich hoffe, es hat Ihnen gefallen und Spaß ge‐ macht. Ich wünsche Ihnen wei‐ terhin einen schönen Ur‐ laub. Auf Wiedersehen. -e Aufmerk‐ samkeit -s Interesse, -n danken für + Akk. sich bedanken für + Akk. Präsens 5 Min. Tab. 1: Planung und Organisation eines Stadtspaziergangs 146 Gloria Bosch Roig 5. Zusammenfassung und Ausblick Die deutsche Sprache gilt heutzutage als eine der wichtigsten Berufssprachen im interna‐ tionalen Tourismus. Besonders in Spanien hat sie in zahlreichen Ausbildungsplänen der Tourismus-Fakultäten und anderer Bildungsträger im Bereich Touristik einen Platz ge‐ funden. Das mangelnde Angebot an geeigneten Lehr- und Lernmaterialien für Deutsch als Fremdsprache für den Tourismus (Da FT ) beschränkt jedoch ihre Vermittlung auf ein all‐ gemeinsprachliches Niveau mit sporadisch eingeführten Tourismus-Themen, die wenig ausdifferenziert und tiefgreifend sind. Eine Zusammenfassung der relevanten Lehr- und Lernprinzipien für den Da FT -Unterricht war aus diesem Grund dringend notwendig. Der hier vorgestellte aufgaben- und inputorientierte Ansatz fasst diese Prinzipien zusammen und stellt ihre Vermittlungsgrundsätze vor: Kontextrecherchen und Kontextanalysen stellen den Ausgangspunkt für das Sprachenlernen für den Beruf dar. Die Erstellung des Lernkorpus bzw. Lernmaterials erfolgt primär bedarfs- und zielgruppenorientiert, kontext‐ abhängig und lernerzentriert. Sie liefert relevante Informationen zum Aufbau des Berufs‐ szenarios. Die kommunikative Aufgabe zielt auf die Ausbildung der Handlungskompetenz der Lerner im beruflichen Kontext und steht im Mittelpunkt des Lehr- und Lernprozesses; die Handlungskompetenz wird schrittweise parallel und anhand der sekundären Kompe‐ tenzen entwickelt. Der aufgaben- und inputorientierte Ansatz ermöglicht gleichzeitig eine intensive Auseinandersetzung mit linguistischen Formen und fördert den Focus on Form (Long 2000) bzw. die Formfokussierung im Unterricht. Wünschenswert für die Zukunft wäre es, anhand der zusammengestellten und gesam‐ melten Lernkorpora eine Datenbank für Da FT -Lehrmaterialien zu erstellen, die im Netz für alle Dozenten zugänglich gemacht werden könnte. Bedarfsanalysen im Bereich aufgaben- und inputorientiertes Deutschlernen für den Tourismus sind ebenso nötig wie erwünscht. Literatur Bethscheider, Monica/ Dimpl, Ulrike/ Ohm, Udo/ Vogt, Wolfgang (2011). Positionspapier : Weiterbil‐ dungsbegleitende Hilfen als zentraler Bestandteil adressatenorientierter beruflicher Weiterbildung. Zur Relevanz von Deutsch als Zweitsprache und Bildungssprache in der beruflichen Weiterbildung. 3. Auflage. Frankfurt a. M.: Amt für multikulturelle Angelegenheiten. Bosch, Gloria/ Roca, Francisca (2005). Deutsch für den Tourismus im Spannungsfeld zwischen Ge‐ mein-, Berufs-, und Fachsprache. Encuentro 15, 79-85. Bosch, Gloria (2012). Aufgabenorientierung mit proaktiver Formfokussierung als didaktisches Kon‐ zept für den Deutschunterricht im Tourismus. Ibérica 23, 157-172. Bosch, Gloria (2013). Wortschatzvermittlung durch Concept Mappings zur Förderung kommunika‐ tiver Kompetenz im DaFT-Unterricht. Zielsprache Deutsch 40, pp. 3-18. Regensburg: Stauffenburg. Bosch, Gloria (2014). Aufgaben und Inhaltsorientierung als methodologisches Konzept für ein integ‐ riertes Lernen im DaFT-Unterricht auf Mallorca. In: Kiefer, Karl-Huber/ Efing, Christian et al. (Hrsg.). Berufsfeld-Kommunikation: Deutsch. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 105-137. Braunert, Jörg (1999). Allgemeinsprache, Berufssprache und Fachsprache: ein Beitrag zur begriffli‐ chen Entwirrung. Zielsprache Deutsch 30, 98-105. 147 Ausbildung kommunikativ-fachspezifischer und interkultureller Handlungskompetenz Buhlmann, Rosemarie/ Fearns, Anneliese (1999). Handbuch des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr. Efing, Christian (2014). Berufssprache & Co.: Berufsrelevante Register in der Fremdsprache. Ein va‐ rietätenlinguistischer Zugang zum berufsbezogenen DaF-Unterricht. Info DaF 4, 415-441. Eurostat Statistics Explained. Abrufbar unter: http: / / ec.europa.eu/ eurostat/ statistics-explained/ index.php/ Tourism_statistics/ de (Stand: 18/ 09/ 2018) Kiefer, Karl-Hubert (2011). Kommunikative Kompetenz im Berufsfeld der internationalen Steuerbe‐ ratung. Möglichkeiten ihrer Vermittlung im fach- und berufsbezogenen Fremdsprachenunterricht unter Einsatz von Fallsimulationen. Berlin. Abrufbar unter: http: / / opus.kov.de/ tu-berlin/ volltexte/ 2011/ 3139/ pdf/ kiefer_karlhubert.pdf (Stand: 28/ 11/ 2016) Long, Michael H. (2000). Focus on form in task-based language teaching. In: Lambert, Richard D./ Shohamy, Elana (Hrsg.): Language Policy and pedagogy. Philadelphia: John Benjamins, 179-192. Panorama OMT del Turismo Internacional. Edición 2015. Abrufbar unter: http: / / www.mkt.unwto.org (Stand: 11/ 11/ 2016) Schlak, Torsten (2000): Adressatenspezifische Grammatik im Fremdsprachenunterricht. Eine quali‐ tativ-ethnographische Studie. Hohengehren: Schneider Verlag. Swain, Merril/ Lapkin, Sharon (2011). Languaging as Agent and Constituent of Cognitive Change in an Older Adult: An Exemple. Canadian Journal of Applied Linguistics 14,1, 104-117. 148 Gloria Bosch Roig Bedeutung und Förderung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen im Friseurhandwerk Dietmar Heisler & Jeanette König-Wendel Seit Jahren wird über den Wandel und über die Zunahme beruflicher Anforderungen im Dienstleistungssektor diskutiert. Davon sind auch die sprachlich-kommunikativen Fähig‐ keiten betroffen, welche die Grundlage von Interaktionsprozessen zwischen Dienstleis‐ tungserbringer und -empfänger darstellen. Dies wird im vorliegenden Beitrag am Beispiel des Berufs Friseur/ Friseurin untersucht. Dabei geht es insbesondere um den Wandel dieses Berufs vom Handwerkszum Dienstleistungsberuf. Einerseits sind die Kundenberatung und -betreuung, genauso der Verkauf von Körperpfle‐ geprodukten, schon immer zentrale Aufgaben im Berufsbild des Friseurs. Andererseits haben diese Tätigkeiten und damit einhergehend der Imagewandel des Friseurs vom Hand‐ werkszum Dienstleistungsberuf in den letzten Jahren dazu geführt, dass die Ausbildung sprachlich-kommunikativer Fähigkeiten hier deutlich an Bedeutung gewonnen hat. Dem liegt u. a. die Erkenntnis zu Grunde, dass Friseurarbeit nicht nur handwerkliche Arbeit an einer Sache, an einem Gegenstand - dem Haar - ist, sondern dass dieser Gegenstand mit dem Kunden verbunden ist, mit dem der Friseur kommuniziert. Er leistet mit seiner Arbeit einen Beitrag zur Herstellung der weiblichen - oder männlichen - Identität und Selbst‐ darstellung des Kunden. Der Kundenwunsch wird in einem kommunikativen, dialo‐ gisch-explorativen Prozess herausgearbeitet. Dazu gehöre auch das Erzählen von Ge‐ schichten, privaten Ereignissen und Anekdoten. Die Arbeit des Friseurs setze deshalb nicht nur handwerkliche Fertigkeiten voraus, sondern erfordere auch die Fähigkeit zum kom‐ munikativen Umgang mit dem Kunden (Dunkel 2006: 222). Es stellt sich die Frage, inwieweit der Wandel des Berufsbildes die Berufsausbildung beeinflusst bzw. verändert hat. 1. Kommunikation und Interaktion als Grundlage beruflichen Handelns und beruflicher Identitätsbildung Die Körperpflegeberufe, insbesondere das Friseurhandwerk, zählen zu den ältesten Hand‐ werken. In der Antike waren es die Tonsoren, später im Mittelalter die Bader, Balbiere, Barbiere, Trockenscherer, Feldscherer, die Perückenmacher, Coiffeure und Friseure, die die Aufgabe der Körperpflege ausübten (Stolz 1992, Heisler 2015). Zu dieser Zeit lag der Be‐ rufsausübung ein ganzheitliches Verständnis von Körperpflege zu Grunde, bei dem es in erster Linie um die körperliche Gesundheit ging. Daraus leiteten sich die Aufgaben der Bader ab. Sie beinhalteten das Haareschneiden, genauso die Praktiken der Gesundheits‐ pflege, die Versorgung von Wunden, den Aderlass, Schröpfen usw. Dies entsprach einer diätetischen Lebensführung und folgte vor allem religiösen Regeln. Das warme Bad im öffentlichen Badehaus war Teil des kulturellen, gemeinschaftlichen Stadtlebens. Deshalb galten die Bade- und Barbierstuben nicht nur als Orte der Körperpflege, sondern auch als Einrichtungen, in denen Informationen ausgetauscht und verbreitet wurden. Infolge dessen wurde den Friseuren immer auch eine gewisse Geschwätzigkeit nachgesagt, was bspw. in den Interpretationen des Zunftwappens der Prager Barbierzunft zum Ausdruck kommt (Abb. 1). Das Zunftwappen zeigt eine Aderlassbinde, in deren Schlaufe ein Vogel zu sehen ist. Der Vogel soll darauf hinweisen, dass man sich nach dem Aderlass beschwingt wie ein Vogel fühle. Spöttische Stimmen meinten jedoch, dass es sich dabei um eine Elster oder einen Papagei handle und deuteten dies als Hinweis auf die Geschwätzigkeit der Barbiere. Darin kommt schließlich auch die soziale Geringschätzung und Unehrlichkeit zum Aus‐ druck, die dem Beruf lange Zeit anhaftete (Knöss 1959: 7). Abb. 1: Zunftwappen der Prager Barbierzunft (Knöss 1959: 7). Sprachlich-kommunikative Fähigkeiten besaßen für die Berufe in der Körperpflege bzw. im Friseurhandwerk schon immer einen besonderen Stellenwert (Dunkel 2006). Offenbar wurden sie auch als ein Wesensmerkmal der Berufsangehörigen oder als Teil ihres beruf‐ lichen Habitus‘ betrachtet. Allerdings war diese Eigenschaft meist eher negativ konnotiert, was möglicherweise auch aus dem geringen sozialen Ansehen der Körperpflegeberufe resultierte. Aktuell erfährt diese Eigenschaft nun eine zunehmend höhere professionelle Bedeutung und eine höhere soziale Wertschätzung. Sie wird sogar als zentrale berufliche Anforderung betrachtet. Dies resultiert schließlich daraus, dass sich der Beruf Friseur im Laufe der Zeit zunehmend als Dienstleistungsberuf mit einem starken Fokus auf Beratung und Verkauf verstand und etablierte. Folglich nahm auch die Bedeutung sprachlich-kom‐ munikativer Fähigkeiten im Friseurberuf zu. 2. Berufshistorischer Exkurs: Vom Handwerkszum Dienstleistungsberuf Die zunehmende Bedeutung sprachlich-kommunikativer Fähigkeiten lässt sich anhand der Berufsgeschichte des Friseurs zeigen. Im Mittelalter wurde Körperpflege immer in der 150 Dietmar Heisler & Jeanette König-Wendel Ganzheit von Schönheit und Gesunderhaltung des Körpers verstanden. Folglich waren die Bader, ein Vorläuferberuf des heutigen Friseurs, nicht nur für die Haut-, Haar- und Bart‐ pflege oder für die Reinlichkeit des Körpers zuständig, sondern auch für die Gesundheits‐ pflege, für die Versorgung von Wunden, Knochenbrüchen usw. Körperpflege wurde nicht - wie heute - mit Wellness, Mode, Attraktivität und Schönheitspflege verbunden, sondern war auf den Erhalt der körperlichen Leistungsfähigkeit ausgerichtet. Die gesellschaftliche Hygienisierung im späten 18. und 19. Jh. meinte nun die Aufklärung der Bevölkerung über Körperpflegepraktiken, für welche die Körperpflegeberufe auch zuständig waren. Das Ziel war die Entwicklung eines neuen Bewusstseins dafür, dass der Mensch seine eigene Rein‐ lichkeit als Verpflichtung gegenüber seinen Mitmenschen betrachtet (Frey 1998). Dies hatte jedoch auch zur Folge, dass die Friseure ihre Zuständigkeit für die medizinischen Tätig‐ keiten zunehmend verloren und diese den akademisch ausgebildeten Ärzten zugewiesen wurden. Andere Körperpflegepraktiken, wie das regelmäßige Baden, die tägliche Rasur oder die Haarpflege verlagerten sich nicht zuletzt aufgrund technischer Entwicklungen am Ende des 19., Anfang des 20. Jh. stärker in den privaten Raum. An dieser Entwicklung waren Pädagogen, Apotheker, Mediziner, Biologen, Chemiker und genauso Friseure beteiligt (Heisler 2015: 138-152). Dies führte dazu, dass bestimmte Leistungen des Baders oder des Friseurs nicht mehr nachgefragt wurden. Schließlich wurde der Beruf des Baders gar nicht mehr ausgebildet. Das Berufsbild des Friseurs wurde - inzwischen mehrfach - neu geordnet und veränderte sich zunehmend. Solche Entwicklungen hat das Friseurhandwerk mehrfach erlebt. Einzelne Friseurleis‐ tungen werden nicht mehr zu den Kernaufgaben des Friseurs gezählt, z. B. die Anfertigung von Haarersatzteilen oder die Rasur des Mannes - obwohl Letzteres gerade aktuell wieder an Bedeutung gewinnt, z. B. in Barber-Shops. Die Verlagerung der Körperpflege in den privaten Raum führte schließlich dazu, dass die Menschen seltener zum Friseur gingen. Zunächst waren das insbesondere Männer, später auch Frauen. Vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg galt die Schönheitspflege in Ost- und Westdeutschland als Aus‐ druck des steigenden wirtschaftlichen Wohlstandes. Die Kosmetikindustrie und auch das Friseurhandwerk erlebten zu dieser Zeit einen wirtschaftlichen Aufschwung. In den 1960er und 1970er Jahren führten in Westdeutschland steigende Löhne zu steigendem Konsum. Allerdings konnte das Friseurhandwerk davon nicht profitieren, im Gegenteil. Die Nach‐ frage nach Friseurleistungen ging zurück. Diese Entwicklung verschärfte sich aufgrund von Preiserhöhungen, die z. B. mit der Einführung der Mehrwertsteuer einhergingen. Wirt‐ schaftliche Krisenzeiten und Rezessionen verschärften den Nachfragerückgang und die Verlagerung der Körperpflege in den privaten Raum zusätzlich. Dadurch sank die Frequen‐ tierung der Friseure, demgegenüber stiegen aber die Absatzzahlen für Körperpflegepro‐ dukte, die exklusiv in den Salons verkauft wurden (Heisler 2015: 112-116). Der Verkauf dieser Produkte erforderte ein Mindestmaß an kommunikativen Fähigkeiten, die nun als berufliche Anforderungen formuliert werden. Das Friseurhandwerk stand nun vor der Herausforderung, auf diese Entwicklungen zu re‐ agieren. PR -Kampagnen, wie „Der Friseur zum Mitnehmen“ oder „Der Friseur für den Ur‐ laub“ ( ZV 1992, ZV 1995), beförderten diese Entwicklung. Der Verkauf exklusiver Pflege‐ produkte wurde zum zentralen Aufgabengebiet des Friseurs, genauso wie die 151 Bedeutung und Förderung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen im Friseurhandwerk fachmännische Stil- und Typberatung. Die Kompetenz des Friseurs liegt nun u. a. in der Beratung für die tägliche Haut- und Haarpflege. Der Friseur versteht sich immer stärker als trendsetzender, kreativer Mode- und Beratungsberuf. Der Verkauf von Pflegepräparaten wird im Zuge der Neuordnung der Berufsausbildung zum Friseur/ zur Friseurin im Jahr 1973 zum festen Bestandteil der Berufsausbildung. Damit steigt die Bedeutung sprachlich-kommunikativer Fähigkeiten und wird zur zentralen Anforderung des Berufs. Die stärkere Betonung von Verkauf und Beratung, das damit ein‐ hergehende, zunehmende Verständnis des Friseurs als Dienstleistungsberuf, sollte schließ‐ lich auch zu einem Imagegewinn beitragen. In den 1980er Jahren sollten dadurch leis‐ tungsfähigere Jugendliche für eine Ausbildung gewonnen werden. Im Zuge der Ausbildungsneuordnung im Jahr 2008 wurde demgegenüber vielmehr davon ausgegangen, dass die Auszubildenden, z. B. aufgrund ihrer Leistungsdefizite, eine stärkere Förderung ihrer sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten benötigen. 3. Zunehmende Bedeutung sprachlich-kommunikativer Fähigkeiten in der Berufsausbildung zum Friseur/ zur Friseurin Im Zuge der oben skizzierten Entwicklungen hat sich das Berufsbild des Friseurs in den letzten 30 Jahren gravierend verändert. Es versteht sich längst nicht mehr als Handwerks‐ beruf, sondern als kreativer, trendsetzender Modeberuf, mit Schwerpunkten im Bereich Beratung, Dienstleistung und Verkauf. Dies bleibt für die Ausbildung und insbesondere für die Ausbildungsinhalte nicht ohne Konsequenzen. Dies wird im Folgenden auf der Grund‐ lage einer Analyse von Fachkundebüchern für die Friseurausbildung genauer untersucht. 3.1 Methodische und didaktische Vorüberlegungen Der Wandel beruflicher Qualifikationen und Anforderungen lässt sich u. a. in Fachkunde‐ büchern deutlich zeigen. Darin werden das relevante Berufswissen und die Berufstheorie zusammengetragen. Fachkundebücher repräsentieren aber nicht nur das jeweils relevante berufstheoretische Wissen, ihr Vergleich verdeutlicht vor allem die Veränderung der als notwendig erachteten Berufstheorie, die Erweiterung des Berufswissens und welches Wissen für die Lösung beruflicher Probleme als notwendig erachtet wird. Genauso zeigen sich hier die Veränderungen im didaktischen Denken, ihrer Theorien und ein damit ein‐ hergehender Wandel der didaktischen Inhaltsbegründung (Eckert 1994, Heisler 2015: 259-267). Bei Friseurdienstleistungen handelt es sich um die Herstellung von immateriellen Gütern. Als ein typisches Merkmal von Dienstleistung wird die Gleichzeitigkeit von Produktion und Verbrauch angesehen, z. B. die Anwendung einer Haarpflege im Friseursalon. Die un‐ mittelbare und überwiegend personengebundene Arbeitsleistung des Friseurs macht hier einen wesentlichen Inhalt der Dienstleistungen aus. Mit dieser Dienstleistung ist meist eine individuelle Beratung verbunden. Es erfolgt also eine Darlegung und Erörterung von Hand‐ lungsempfehlungen durch das sachverständige Friseurpersonal, wobei hier die Wünsche des zu Beratenden und relevantes berufstheoretisches Wissen unter Einbeziehung der in‐ dividuellen Entscheidungssituation des Friseurs einfließen (vgl. Brich et.al 2014: 391, 739). 152 Dietmar Heisler & Jeanette König-Wendel Das bedeutet, dass im Vorfeld eine auf die zu planende Arbeitsleistung bezogene Kommu‐ nikation stattfindet. Kommunikation wird im Dienstleistungsprozess als Teil der Interaktionsarbeit zwischen Friseur und Kunde betrachtet. Dabei geht es nicht nur um das Explorieren des Kunden‐ wunsches, z. B. im Hinblick auf das gewünschte in beiderseitigem Einverständnis verein‐ barte Handlungsprodukt, sondern auch um die Herstellung einer vertrauensvollen Bezie‐ hung zwischen Friseur und Kunde. Da sich das Arbeitsergebnis des Friseurs nur schwer voraussagen lässt, ist der vertrauensvolle Umgang eine Grundvoraussetzung der Interak‐ tion zwischen Friseur und Kunde. Diese stützt sich zum einen auf das berufliche Fachwissen des Friseurs, zum anderen auch auf eine menschliche, soziale Zugewandtheit des Friseurs zu seinem Kunden. Deshalb zielen Kommunikationsprozesse nicht nur auf die Exploration des Kundenwunsches, sondern auch auf Vertrauensbildung. Dazu gehört auch das Erzählen privater Anekdoten und Geschichten. Dunkel (2006: 222) bezeichnet Letzteres sogar als so‐ ziale Norm im Friseursalon. Dienstleistungsarbeit meint also nicht nur handwerklich gute Arbeit, sie beinhaltet auch die Herstellung einer guten Kooperationsbeziehung zum Kunden und zur Sache (ebd.). Was bislang als Geschwätzigkeit negativ konnotiert war, wird zur Grundlage professionellen Handelns, welches auch umfassendes metakommunikatives Fachwissen voraussetzt. Fraglich ist, welche soziale Anerkennung dieses Fachwissen er‐ fährt (ebd.: 227). Inwieweit eine Veränderung konkreter berufstheoretischer Inhalte eine verständigungso‐ rientierte Beratung und Friseurdienstleistung ermöglicht, soll durch die Sichtung von Fach‐ kundebüchern für Friseure untersucht werden. Die Auswahl der verwendeten Exemplare erstreckt sich über einen Veröffentlichungszeitraum zwischen 1930 und 2010. Anhand einer Inhaltsanalyse wird versucht die Relevanz der Themen Sprache und Kommunikation auf‐ zuzeigen. 3.2 Beratung und Verkauf als eigenständige Ausbildungsinhalte Bei Knöss und Ross (1936) werden alle zu diesem Zeitpunkt im Salon durchgeführten Fri‐ seurarbeiten berufstheoretisch erklärt. Die Autoren verweisen darauf, dass der Friseurberuf „eine gewisse Anpassungsfähigkeit, gute Umgangsformen, ein klares, richtiges Deutsch und unter Umständen Sprachkenntnisse“ erfordert. Dies setzt eine sprachlich-kommuni‐ kative Kompetenz voraus. Es lassen sich erste Ansätze dafür finden, dass der Aspekt des Verkaufs und der Beratung bereits eine gewisse berufliche Relevanz besitzen. Allerdings ist anzumerken, dass zu dieser Zeit der Fähigkeit, kosmetische Erzeugnisse im Salon selbst herzustellen, größere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. In einem später von Knöss (1972) veröffentlichten Fachbuch, widmet er den Themen „Be‐ ratung und Verkauf“ und der „Verkaufs- und Warenkunde“ größeres Augenmerk. Offen‐ sichtlich werden beide Themen nun zunehmend Teil des Berufsbildes und wirken sich auf alle Lerngebiete des Berufes aus. „Wir wollen nicht nur unsere handwerkliche Leistung, sondern auch die mit unserem Beruf verbundene Kosmetika verkaufen“ (ebd.: 20). Knöss führt weiter aus, dass eine längere Anwesenheit am Bedienplatz gute Möglichkeiten für ein erfolgreiches Verkaufsgespräch, eine zusätzliche Behandlung oder den Verkauf von Kos‐ metika bieten. Von Wirtschaftsinstituten durchgeführte Kundenbefragungen oder Tests 153 Bedeutung und Förderung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen im Friseurhandwerk sollen dafür die Ergebnisse von Kundenwünschen oder zum Wesen der Kunden bereit‐ stellen (ebd.). Schon zu dieser Zeit wird auch der Förderbedarf einiger Auszubildender angesprochen. Knöss weist darauf hin, dass es viele Berufsangehörige gibt, deren Wortschatz zu wünschen übrig lasse, wenn es darum geht, fachlich zu beraten und richtig zu empfehlen. Er kritisiert, dass die Behandlungszeit zu oft mit nichtigen Gesprächen ausgefüllt werde. Durch bewie‐ senes fachliches Wissen und Können könne das Vertrauen der Kundschaft erworben werden. Der Friseur solle den ehrlichen Eindruck hinterlassen, um ein gepflegtes Aussehen seines Kunden bemüht zu sein (ebd.). Bei Rosenberger, Riedel und Clasen (1987) werden keine Inhalte zur Beratung oder zur Förderung kommunikativer Fähigkeiten aufgeführt. Eine gute Umgangssprache und fixes Begriffsvermögen werden von den Autoren jedoch als Voraussetzung zur Ausübung des Friseurberufes genannt (ebd.: 14). Mit Blick auf das Gelingen von Verständigungsprozessen zwischen dem Friseur und seinem Kunden scheinen die Verständlichkeit von fachlichen Äußerungen, der Aufbau einer Vertrauensbasis und die Angemessenheit einer Sprach‐ handlung für die Autoren keine Relevanz zu besitzen. Ihr Fokus liegt vor allem auf dem handwerklich notwendigen Wissen. Greß und Lehmberg (1984) erörtern hingegen, was Friseure und Kosmetiker im Salon, für den Verkauf benötigen. Das sind wirtschaftswissenschaftliche Grundlagen, wie die Begriffe Bedürfnis und Motiv. Dies wird in ein (Kauf-)Motiv übersetzt, das auch eine (Kauf-)Hand‐ lung nach sich ziehen kann. Dabei stehe das Bedürfnis nach Schönheit im Vordergrund. Dazu benötige der Friseur Eigenschaften wie Einfühlungsvermögen, Menschenkenntnis und Verantwortungsbewusstsein. Wichtig sei, dass Verkaufen nicht als geheime Verfüh‐ rung bzw. handfestes Überreden stattfindet (bereits Knöss 1972). Kundentypisierungen sollen als Orientierungshilfen für Entscheidungsprozesse im Rahmen von Beratung und Dienstleistung dienen. Eine hohe visuelle Wahrnehmungsgabe könne der Ausgang für eine Beratung sein (ebd.: 2-4). Auch Mimik, Gestik und Körperhaltungen messen die Autoren eine große Bedeutung bei, genauso der Sprache: „Sprache bestimmt das Denken und Han‐ deln des Menschen“. Tonfall, Sprechtempo und Wortmelodie gelten als wesentliche Aus‐ drucksmittel (ebd.: 7). Eine ebenso hohe Relevanz erhalten die Phasen eines erfolgreichen Beratungsgespräches. Dabei wird auch auf Fragetechniken verwiesen und der „Verkäufer“ erhält den Impuls, sich auch selbst zu hinterfragen und Selbstkritik zu üben, wenn es z. B. zu Konfliktsituationen im Umgang mit dem Kunden gekommen ist (ebd.: 11 f.). So versuchen Greß und Lehmberg den Grundstein für das Gelingen von Verständigungsprozessen zwi‐ schen Friseur und Kunden zu legen. Weitere Voraussetzungen sind dafür die Verständlich‐ keit der Äußerungen, die Wahrheit von Aussagen, Ehrlichkeit und Vertrauen sowie die Angemessenheit der jeweiligen Sprechhandlung. Auch bei Lück und Lipp-Thoben (1995) besitzen Beratung und Verkauf einen besonders großen Stellenwert. Möglicherweise lässt sich dies als Hinweis bzw. Folge des oben bereits für die 1980er Jahre postulierten Imagewandels des Friseurberufs interpretieren. Infolge dessen lässt sich in den Fachkundebüchern ab Mitte der 1990er Jahre erkennen, wie die Themen Kommunikation und Beratung die Friseurausbildung und vor allem auch andere 154 Dietmar Heisler & Jeanette König-Wendel Themen der Berufsausbildung zum Friseur nun zunehmend durchdringen. Schließlich findet sich dieses Thema nun auch in einem eigenen Lernfeld wieder. Als Anforderung an den Friseur wird bei Lück und Lipp-Thoben formuliert, dass er „mit seiner Arbeit die Vorstellungen der Kunden verwirklicht und damit einen Beitrag zu deren persönlichem Wohlbefinden leistet“ (ebd.: 9). Zum einen weisen sie darauf hin, dass für manche Kunden der Friseurbesuch eine Möglichkeit darstellt, um mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Deshalb müsse der gute Friseur nicht nur Fachmann sein, sondern auch ein ausgeprägtes Kommunikationsverhalten besitzen (ebd.: 13). Zum anderen müsse der Friseur die Vorstellungen und Wünsche seines Kunden erfragen. Deshalb widmen sich die Autoren in Kapitel 5.6 dem Thema der Frisurenberatung - dem Beratungsgespräch. Dabei geht es um die Kontaktaufnahme zum Kunden, die Erfragung des Kundenwunsches, des Kundenmotives sowie um Fragetechniken und Fragearten. Lück und Lipp-Thoben empfehlen das Frisurenbild als ein Hilfsmittel der Beratung oder auch den Einsatz eines Frisurencomputers, um den Kundenwunsch so genau wie möglich zu erfassen. Es folgt ein tabellarisch aufgebautes, sehr ausführliches Beispiel mit Erläuterungen zur Gesprächsfüh‐ rung und fachlichen Aspekten. Im Kapitel 11.3 Verkaufskunde erfolgt dann eine Erläuterung der Leistungsfunktionen von Handel und Handwerk. Hier unterscheiden die Autoren zwischen Salons, die nur Dienst‐ leistung und Beratung durchführen, und solchen, die fachkundige Vermittler zwischen In‐ dustrie und Kunden sind, also verkaufen und beraten. Hierbei werden der Verkauf und die Beratung in der Kabine und an der Kasse unterschieden. Kaufmotive und die AIDA -Formel spielen im Rahmen von Werbung wieder eine Rolle und es kommt zu einer Unterscheidung von Beratungs- und Verkaufsgespräch. Letzteres wird dann exemplarisch dargestellt, u. a. am Beispiel des richtigen Verhaltens bei Reklamationen. Auch Schmidt et al. (1999) widmen sich ausführlich der Kundenberatung. Inhaltlich lassen sich zunächst kaum Unterschiede zu früheren Fachkundebüchern feststellen. Motive und Erwartungen von Kunden werden thematisiert. Kundentypen werden ebenfalls erläutert. Die Kundenbetreuung und Beratung im Salon besitzt einen großen Stellenwert, der nicht zuletzt am Seitenumfang des Themas (20 Seiten) deutlich wird. Darüber hinaus wird nun die Kommunikationssituation mit dem Kunden am Telefon thematisiert. Diese Kommuni‐ kationssituation ist bis dahin in den vorliegenden Lehrbüchern so nicht zu finden. Das Kommunikationsmodell nach Schultz von Thun soll dabei helfen, gelingende Kommuni‐ kationsprozesse zu gestalten. Bei Schoeneberg (2003) werden jeweils zu Beginn der einzelnen Lernfelder Haar- und Kopfhautpflege, Haare schneiden, Farbverändernde Haarbehandlungen, Formverändernde Haarbehandlungen und Kosmetik auf ca. ein bis zwei Seiten unter der Überschrift Er‐ kennen - Beraten - Empfehlen zunächst kurze fachlich relevante Inhalte oder Fragen auf‐ geführt, die beim Erkennen, Beurteilen oder Ausführen von Haarbehandlungen und dem vorgelagerten Kundengespräch dienlich sein können. Dabei reicht die Themenbreite von der Beratung und Gesprächsführung bis zur Wahrnehmung von Äußerlichkeiten und zur Farbtypologie. Ähnlich auch bei Schmidt (2008). Er widmet sich dem Thema Beratung in‐ tensiv im Lernfeld 2. Thematisiert und vertieft werden hier die Selbst- und Fremdwahr‐ 155 Bedeutung und Förderung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen im Friseurhandwerk nehmung, die Kundenbegrüßung und -betreuung, die Umgangsformen, die Körpersprache und der Kommunikationsprozess. Asmus et al. (2009) behandeln im Lernfeld 2 „Kunden empfangen und betreuen“ die Themen nonverbale und verbale Kommunikation und aktives Zuhören, genauso die Kundenpsy‐ chologie, Kaufmotive und Kundentypisierungen. Hier werden nun auch die telefonische Betreuung der Kunden und der Umgang mit Beschwerden oder Reklamationen themati‐ siert. Interessant ist das Kapitel 2.4 Serviceleistungen, welches Dienstleistungen aufführt, die der Friseur dem Kunden zusätzlich zum Leistungs- oder Warenangebot macht, um eine Kundenbindung zu erzielen. Auffallend sind hier die aufgeführten Englischexkurse bzw. die Grundlagen der friseurspezifischen elektronischen Datenverarbeitung, was in den bisher untersuchten Fachbüchern so noch nicht zu finden war. Unberücksichtigt blieben in der Analyse bislang die Fachkundebücher der ehemaligen DDR . Sie verdeutlichen nämlich, dass die Themen der Beratung und des Verkaufs, im Ver‐ gleich zu Westdeutschland, hier einen eher untergeordneten Stellenwert einnehmen. In den in der DDR verwendeten Fachkundebüchern von Franke et al. (1988) und von Franke und Tölke (1988), wird deutlich, dass dem Friseur vor allem präventive und prophylaktische Tätigkeiten zugeschrieben werden. D. h. er soll einen Beitrag zur Vermeidung von Haut- und Haarkrankheiten leisten. Bei deren Erkennen sollte er den Kunden an einen Facharzt verweisen. Der Friseur besitzt eine Aufklärungsfunktion, wenn es um Fragen der Körper‐ pflege geht. Beratend bzw. verkaufsfördernd wird der Friseur offensichtlich nur bei der Anfertigung von Haarersatzteilen tätig (vgl. Franke et al. 1988: 11). Zweifelsohne resultieren auch daraus hohe Anforderungen an sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten der Friseure. 4. Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag sollte zeigen, dass sprachlich-kommunikative Fähigkeiten als An‐ forderungen des Berufs Friseur/ Friseurin und als Gegenstand der Ausbildung dieses Berufs in den letzten Jahrzehnten deutlich an Bedeutung gewonnen haben. Zwar wurden dem Friseur schon immer besondere kommunikative Fähigkeiten und Eigenschaften zuge‐ schrieben, allerdings wurden diese lange Zeit auch als wenig zweckdienlich und im Sinne von Geschwätzigkeit als eher negative Eigenschaft betrachtet. Mit zunehmendem Ver‐ ständnis als Dienstleistungsberuf werden diese Fähigkeiten nun immer mehr für die Be‐ rufsausübung relevant und erfahren in der Erstausbildung einen zunehmend höheren Stel‐ lenwert. Die zentrale Erkenntnis des vorliegenden Beitrages sollte sein, dass den Aspekten Kom‐ munikation und Sprache im Kontext von Beratung, Verkauf und Kundebetreuung ein zu‐ nehmend größerer Stellenwert in der Berufsausbildung zum Friseur/ zur Friseurin einge‐ räumt wurde. Der Aspekt der Interaktion und der kommunikativen Gestaltung einer kooperativen Kundenbeziehung rückt in den Fokus der Berufsausbildung. Zum einen hat der Friseurberuf damit seit den 1980er Jahren einen Imagewandel vollzogen, vom Hand‐ werkszum Dienstleistungsberuf. Dies hatte auch wirtschaftliche Gründe und zielte auf die Attraktivitätssteigerung des Berufs. Zum anderen wurde seit dieser Zeit immer wieder der hohe Anteil an Hauptschulabsolventen in der Berufsausbildung thematisiert, deren sprach‐ 156 Dietmar Heisler & Jeanette König-Wendel lich-kommunikative Fähigkeiten als eher defizitär eingeschätzt wurden. Der Imagewandel des Berufs sollte nun auch dazu führen, den Anteil der Hauptschulabsolventen unter den Auszubildenden zu reduzieren. Es wurde aber auch von einer höheren Förderbedürftigkeit sprachlich-kommunikativer Fähigkeiten bei den Auszubildenden ausgegangen. Unab‐ hängig von diesem Widerspruch rücken zunehmend Kenntnisse in Marketing, Gesprächs‐ führung usw. in den Fokus der Berufsausbildung. Damit erfährt Kommunikation im Aus‐ bildungsprozess eine zunehmende Rationalisierung. Was in der Vergangenheit als „Geschwätzigkeit“ bezeichnet wurde, wird zum Ausgangspunkt professionellen Friseur‐ handelns, was sich nun auf umfassendes metakommunikatives Fachwissen stützt. Literatur Asmus, Arno/ Bartels, Holger/ Brill, Holger et al. (2009). Hair & Beauty Lernfelder 1 bis 13. Berlin: Cornelsen Verlag. Brich, Stefanie/ Hasenbalg, Claudia/ Winter, Eggert (Hrsg.) (2014). Gabler Wirtschaftslexikon. 18. Aufl. Wiesbaden: Schäffer-Pöschel Verlag. Dunkel, Wolfgang (2006). Interaktionsarbeit im Friseurhandwerk - Arbeit am Menschen und Arbeit am Gegenstand. In: Böhle, Fritz/ Glaser Jürgen (Hrsg.). Arbeit in der Interaktion - Interaktion als Arbeit. Arbeitsorganisation und Interaktionsarbeit in der Dienstleistung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 219-234. Eckert, Manfred (1994): Die Struktur des „Berufswissens“ im Spannungsfeld von lebenswelttypischer Vertrautheit mit der Berufspraxis und expliziter Berufstheorie. 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Ausgehend von einem kurzen Überblick über die fachinternen, -externen und interfachlichen kommunikativen Anforderungen im Ingenieurberuf fokussiert dieser Bei‐ trag vor allem die schriftliche Kommunikation. Deren Relevanz zeigt sich in einer über‐ raschenden Vielfalt ingenieurrelevanter Textsorten und deren Gestaltungsmöglichkeiten. Die Auswertung von Prüfungsordnungen ausgewählter Ingenieurstudiengänge zeigt, dass die Ingenieurausbildung auf die kommunikativen Anforderungen im Ingenieurberuf bis‐ lang noch nicht ausreichend vorbereitet. Die aus dieser Lücke resultierenden didaktischen Herausforderungen werden am Ende des Beitrages skizziert. 1. Einleitung Ingenieurinnen und Ingenieure verbringen bis zu neun Stunden pro Arbeitstag mit Ge‐ sprächen, Lesen und Schreiben (vgl. Göldi 2001). Das mag zunächst erstaunen, da der In‐ genieurberuf im Allgemeinverständnis nicht mit Kommunikation verbunden wird. Der Grund für diese Fehleinschätzung liegt möglicherweise in dem hohen Anteil der vermutet spracharmen MINT -Fächer in der Ingenieurausbildung. Darüber hinaus sind die verschie‐ denen Ingenieurstudiengänge jedoch sehr heterogen und führen über weitere fachliche und überfachliche Qualifikationen „zu sehr unterschiedlichen Tätigkeitsmerkmalen in der be‐ ruflichen Praxis“ und damit zu einem „ausgesprochen breite[n] Spektrum an Berufsfeldern“ (Henning & Staufenbiel 1996: 80). In diesem breiten Berufsfeld haben in den letzten Jahrzehnten fachinterne, -externe und interfachliche Kommunikationsprozesse an Bedeutung gewonnen. Laut einer Befragung von Hochschulangehörigen der Fakultäten Maschinenwesen und Elektro- und Informati‐ onstechnik der RWTH Aachen sind kommunikative Prozesse einerseits konstitutiver Bestandteil der technischen Entwicklerarbeit. Sie richten sich andererseits auch auf die Koordination und erfolgreiche Unterweisung von am Arbeitsprozess beteiligten Per‐ sonen, die unterschiedlichen Zielgruppen angehören (Lehnen & Schindler 2008: 230). Die Ingenieurarbeit beschränkt sich jedoch nicht allein auf Entwicklungsprozesse: Ingeni‐ eurinnen und Ingenieure arbeiten heute in nahezu allen Wirtschaftsbereichen, von der Forschung und Entwicklung über die Konstruktion und Produktion bis zur Nutzung und Entsorgung technischer Produkte und Systeme (vgl. Czichos & Hennecke 2004: 12). In diesem Produktzyklus übernehmen sie Teilbereiche einer Gesamtaufgabe und lösen diese arbeitsteilig, interdisziplinär und kooperativ. Expertenteams, zum Teil aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen kommend, erarbeiten kooperativ Problemlösungen, die somit zum Resultat verschiedener fachinterner und interfachlicher Abstimmungs- und Koordi‐ nationsprozesse werden. Weiterhin verlagert sich der Ingenieurberuf zunehmend in den Dienstleistungssektor. 2003 waren bereits ca. 43 % aller Ingenieurinnen und Ingenieure im Dienstleistungssektor beschäftigt (vgl. Glauner & Korte 2003: 50). Dadurch werden „[t]ech‐ nische Tätigkeiten […] mit kundenorientierten Tätigkeiten kombiniert und umgekehrt“ (ebd.: 50). Mit dem zunehmenden Kundenkontakt gewinnt daher auch die Ex‐ perten-Laien-Kommunikation an Bedeutung. Außerdem sind viele Ingenieurbranchen heute über Zulieferketten und Tochterfirmen weltweit verbreitet. Durch die Globalisierung und Internationalisierung werden daher auch „der Umgang mit fremden Kulturen […] und Sprachkompetenz immer wichtiger“ (Verein Deutscher Ingenieure 2002: 19). Ingenieurinnen und Ingenieure kommunizieren demnach nicht nur in einer für sie fremden Sprache, sondern auch mit Adressaten anderer Kultur‐ räume. 2. Kommunikative Anforderungen in Ingenieurberufen Ingenieurarbeit ist häufig Projektarbeit; der Projektbezug ist somit kennzeichnend für die kommunikativen Prozesse in der Ingenieurarbeit (vgl. Gemert & Woudstra 1997: 106). Mündliche und schriftliche Sprachhandlungen werden in Projekten zu einem unabding‐ baren Teil der gesamten fachlichen Handlung (vgl. Verhein-Jarren 2006). Die enge Bezie‐ hung zwischen der ¸eigentlichen’ Ingenieuraufgabe und kommunikativen Prozessen ver‐ deutlicht das folgende Beispiel: Pogner (1999) beschreibt die Entstehung eines Energiekonzeptes in einem dänischen Ingenieurbüro für einen deutschen Auftraggeber als intensives mündliches und schriftliches „Aushandeln der Aufgabe und des Textes“ (ebd.: 271) zwischen den dänischen Experten und ihren Auftraggebern. Dabei fanden die von Pogner beobachteten Interaktionen sowohl intern, also innerhalb der Arbeitsgruppe, als auch extern mit den Auftraggebern statt. In dem skizzierten kommunikativ-fachlichen Handlungsfeld ist insbesondere die schrift‐ liche Kommunikation bedeutsam. Denn auch mündliche Prozesse sind weitgehend durch Schriftlichkeit geprägt, sei es in Form von Gesprächsnotizen (vgl. Göldi 2001: 13) oder in Form von PowerPoint-Folien und Redemanuskripten zur Vorbereitung von Präsentationen. Texte haben in diesem Handlungsfeld nicht nur eine Darstellungs- oder Informationsfunk‐ tion, sondern „die gesamte Interaktion [wird] letzten Endes durch die Texte gesteuert“ (Pogner 1999: 110), auch wenn es oftmals vordergründig in den Interaktionen um technische Problemlösungen geht (vgl. ebd.). Ein Beispiel hierfür ist der Produktentwicklungsprozess, in dem die Dokumentation eine Schlüsselfunktion im gesamten Projektverlauf einnimmt (vgl. VDI 4500, Blatt 4 2011: 8). In den einzelnen Teilprozessen der Produktentwicklung werden Dokumente nicht nur als Ergebnisse hervorgebracht, sondern die Dokumente wirken auch wieder auf die Produktentwicklung zurück. Die Dokumentation unterstützt 160 Judith Theuerkauf damit sowohl den Projektverlauf als auch die Lösung des inhaltlichen Problems (vgl. Jakoby 2013: 117). 3. Berufliche Texte und ihre Gestaltungsmöglichkeiten Der Blick in die einschlägige Literatur zeigt, dass die beschriebenen fachlichen Interakti‐ onsprozesse eine erstaunliche Vielfalt von Texten hervorbringen (Abb. 1). Die in der Über‐ sicht genannten Texte bilden dabei nur einen kleinen Ausschnitt ab. Weitere Texte finden sich in verschiedenen ingenieurrelevanten Normen und Gesetzen. Beispielsweise nennt die Normenreihe DIN 69901 als im Projektmanagement relevante Texte Abnahmeprotokoll, Lastenheft, Leistungsnachweis, Pflichtenheft, Projektabschlussbericht, Projektauftrag bzw. -antrag, Leistungsnachweis, Projektbewertung, -bericht und -statusbericht sowie Projekt‐ dokumentation, -handbuch und -managementhandbuch (vgl. DIN 69901 2009). Abb. 1: Textsorten und deren Varianten im Ingenieurberuf 161 Kommunikative Anforderungen im Ingenieurberuf und deren Vermittlung im Ingenieurstudium Aus der dargestellten Textvielfalt darf jedoch nicht geschlossen werden, dass es sich jeweils um grundsätzlich verschiedene Textsorten mit unterschiedlichen Merkmalen und kommu‐ nikativen Anforderungen handelt. Vielmehr liegt die Vermutung nahe, dass „Texte als Werkzeuge jederzeit für einen be‐ stimmten Anlass passend neu hergestellt werden“ (Fritz 2013: 14) und da Ingenieurinnen und Ingenieure keine Linguisten sind, werden möglicherweise die Benennungen für Texte situativ „ad-hoc […] geschaffen“ (Zima 2002: 44). Gleichzeitig fassen sie unter verschiedenen Sammelbegriffen verschiedene Textsorten ungeachtet ihrer textuellen Merkmale zu‐ sammen: So stellte Göldi (2001) fest, dass die von ihr befragten Ingenieurinnen und Inge‐ nieure unter dem Begriff Dokumentation alle möglichen Texte subsumieren, beispielsweise in der „Informatik […] auch Programm-Kommentare, in der Produktionstechnik auch An‐ leitungen“ (ebd.: 16). Die Vieldeutigkeit des Begriffes Konzept illustriert das bereits be‐ schriebene Beispiel von Pogner (1999): Die Erstellung des Energiekonzeptes scheiterte u. a. an unterschiedlichen Vorstellungen der beteiligten Akteure zu dem Begriff Konzept (vgl. ebd.: 158). Die einerseits kreativen Textbenennungen und andererseits vereinfachenden Zusam‐ menfassungen erschweren deren Lehrbarkeit (vgl. Göldi 2001: 18). Göldi hält daher eine „Klassifizierung beruflicher Texte […] für Lehre und Praxis [für] sehr wertvoll“ (ebd.). Ar‐ beiten aus der Fachsprachenforschung zeigen jedoch, dass die verschiedenen Fachtext‐ sorten, besonders vor dem Hintergrund der heterogenen fachinternen, interfachlichen und fachexternen Adressaten, nicht trennscharf unterscheidbar sind. So analysierten Möhn & Pelka (1984) Fachtextsorten in einem feinwerktechnischen Großbetrieb mit dem Ziel, „sie nach situativ-funktionalen und sprachlichen Gesichtspunkten zu gliedern und zu unter‐ scheiden“ (ebd.: 72), und stellten dabei fest, dass eine Zuordnung von Textsorten und Merk‐ malen nicht eindeutig möglich war: Nicht alle untersuchten Texte wiesen die von ihnen beschriebenen Merkmale auf bzw. deuteten die beschriebenen Merkmale nicht immer ein‐ deutig auf diese untersuchten Textsorten hin (vgl. ebd.: 56). Göpferich (1995) stellt fest, dass einzelne Fachtexte zudem ein „Spektrum unterschiedlicher Fachlichkeitsgrade und […] un‐ terschiedlicher Fachsprachlichkeitsgrade“ (ebd.: 24) aufweisen können. Daraus resultiert zwischen den Textsorten hinsichtlich der fachsprachlichen Merkmale ein gleitender Über‐ gang (vgl. ebd.: 26), der die Klassifizierung erschwert. Fachtexte, ihre Bezeichnungen und Merkmale erscheinen somit im ¸Feld’ als flexible, jedoch keinesfalls beliebige Gebilde, denn die „grundsätzliche Variabilität bei der Textge‐ staltung“ (Heinemann & Viehweger 1991: 213) und die damit verbundene Wahl der sprach‐ lichen Mittel wird durch die situative Einbindung beschränkt (vgl. Möhn & Pelka 1984: 56). Die situative Einbettung führe dazu, dass [g]leiche Sachverhalte, gleiche fachliche Ereignisse […] entsprechend unterschiedlichen fachli‐ chen Teilaufgaben durchaus in unterschiedlicher Weise dargestellt werden [können]. So kann z. B. je nach dem fachlichen Erfordernis der gleiche Gegenstand, Zustand, Vorgang usw. umfassend-de‐ tailliert […], mehr oder weniger anwendungsorientiert […], mehr oder weniger deutlich adressa‐ tenorientiert […], mit oder ohne werbende Elemente oder ganz allgemein informierend knapp […] beschrieben werden (ebd.: 57). 162 Judith Theuerkauf Den Gedanken der situativen Einbindung greift auch Jakobs (2005) in dem so genannten Aachener Inklusionsmodell auf, dem zufolge kommunikative Prozesse in Unternehmen und Institutionen von miteinander in Wechselwirkung tretenden Umgebungsfaktoren ab‐ hängen (vgl. ebd.: 16). Diese Wechselwirkungen sind in dem Modell als ineinandergreifende Ebenen dargestellt. Die Ebenen umfassen den Arbeitsplatz, die Organisation bzw. Institu‐ tion, die Domäne und den Kulturraum (vgl. ebd.). Im Zentrum des Modells steht das schrei‐ bende Individuum. Aus den Ebenen werden Anforderungen an die schreibende Person he‐ rangetragen. So versuchen Organisationen z. B. mit Hilfe so genannter Kontrollierter Sprachen dafür zu sorgen, dass die in Projekten arbeitsteilig entstehenden Texte hinsicht‐ lich Stil, Syntax und Lexik schon von Anfang an einheitlich gestaltet werden, „da die einmal definierten Schreibregeln für alle Autoren verbindlich sind und große, konsistente Text‐ mengen erstellt werden können“ (Ley 2005: 31). Das Inklusionsmodell verdeutlicht somit das Spannungsfeld zwischen Beschränkungen und Variationsmöglichkeiten, in dem sich das schreibende Individuum befindet. Innerhalb dieses Spannungsfeldes stehen schreibende Ingenieurinnen und Ingenieure vor der He‐ rausforderung, ihre komplexen technischen Informationen verständlich in einer logischen Reihenfolge darzustellen, miteinander zu verknüpfen und in Beziehung zueinander zu setzen. Dafür nutzen sie neben sprachlichen auch außersprachliche und spracharme Ge‐ staltungsmittel (vgl. Buhlmann & Fearns 1987/ 2000: 52), wie z. B. standardisierte Textbau‐ pläne, spracharme Referenzmittel oder diverse typographische Mittel (vgl. Monteiro 1990: 94). Standardisierte Textbaupläne im Sinne wiedererkennbarer Strukturen sind tatsächlich ein Kennzeichen diverser fachlicher Textsorten. So folgen z. B. zahlreiche ingenieur- und auch naturwissenschaftliche Fachartikel dem so genannten IMRAD -Schema (vgl. Sollaci & Pereira 2004) wobei IMRAD für Introduction (Einführung), Material and Methods (verwen‐ dete Materialien und Methoden), Results (Ergebnisse) And Discussion (Diskussion der Er‐ gebnisse) steht (vgl. ebd.). Einen Textbauplan für ingenieurwissenschaftliche Abschlussarbeiten stellen Theuerkauf & Steinmetz (2009) vor (Abb. 2). Dieser Textbauplan entstand durch Vergleich verschiedener Textbaupläne, die in Leitfäden zum ingenieurwissenschaftlichen Arbeiten empfohlen werden (vgl. ebd.: 90). Diese standardisierten Textbaupläne bilden jedoch nur grobe Strukturen ab, müssen also individuell noch weiter differenziert werden. Zudem können die Textbaupläne noch Lücken enthalten. So wird aus der Darstellung in Abbildung 2 deutlich, dass der Textbauplan kei‐ nesfalls die gesamte Arbeit umfasst: Während Einleitung und Schlussteil bereits weitge‐ hend differenziert sind, gibt es hinsichtlich des Aufbaus des ‚Mittelteils‘ in Abhängigkeit von dem Untersuchungsgegenstand und der Untersuchungsmethode diverse Gliederungs‐ prinzipien und -varianten, die zudem miteinander kombiniert werden können (vgl. Theu‐ erkauf & Steinmetz 2009: 91 f.,96-98). Standardisierte Textbaupläne helfen demnach den Schreibenden zunächst lediglich dabei, einzelne Informationen im Text in eine lineare Abfolge zu bringen. Mit Hilfe „be‐ zugsstiftende[r] Elemente“ (vgl. Monteiro 1990: 85), zu denen „deiktische Elemente“ (ebd.) zählen, können zwischen den einzelnen Informationen Zusammenhänge, Abhängigkeiten oder auch Interdependenzen hergestellt werden. 163 Kommunikative Anforderungen im Ingenieurberuf und deren Vermittlung im Ingenieurstudium Abb. 2: Textbauplan ingenieurwissenschaftlicher Abschlussarbeiten (vgl. Theuerkauf & Steinmetz 2009: 90) Als ein Beispiel für ein deiktisches Element in ingenieurwissenschaftlichen Texten sei die Verknüpfung von Visualisierungen und Text genannt. Diese Verknüpfung wird zum einen über die räumliche Nähe und zum anderen über Verweise im Text auf die jeweilige Visua‐ lisierung realisiert. Räumliche Nähe bedeutet, dass die Visualisierung im Text innerhalb des Informations‐ flusses an entsprechender Stelle erscheint (vgl. Buhlmann & Fearns 1987/ 2000: 53). Zusätz‐ lich wird jedoch auf jede Visualisierung durch einen so genannten Querverweis verwiesen (vgl. hierzu auch Sauer 1997: 100). Die in Abbildung 3 enthaltenen Beispiele zeigen, wie Querverweise im Text sprachlich ausgeführt werden können. Die Beispiele verdeutlichen gleichzeitig, dass die sprachlichen Querverweise im Text eine Nummerierung der Visualisierungen erfordern, sodass im Text sprachökonomisch auf die Nummer verwiesen werden kann. Nummerierungen gehören zu den zahlreichen sprach‐ armen Referenzmitteln, die für ingenieurwissenschaftliche Texte kennzeichnend sind und Schreibenden und Lesenden dieser Texte gleichermaßen dabei helfen sollen, in der Be‐ schreibung komplexer Inhalte den Überblick zu behalten. Dem gleichen Ziel dient die stark strukturierte Gestaltung der Texte mit Hilfe typographischer Mittel (vgl. Buhlmann & Fearns 1987/ 2000: 64). Zu den typischen typographischen Gestaltungsmitteln zählen die bereits beschriebene Text-/ Bild-Verteilung sowie die Benummerung von Textteilen und Vi‐ sualisierungen, aber auch Absatzformatierungen oder die Auszeichnung von Überschriften durch Schriftgröße und Schriftart (vgl. hierzu auch Göpferich 1998: 62, 77 f.). Alle hier le‐ diglich angedeuteten typographischen Gestaltungsmittel bieten vielfältige Variationsmög‐ lichkeiten: Schriften können z. B. serifenreich oder -arm, fett, kursiv oder unterstrichen gestaltet werden. Weitere Gestaltungsmöglichkeiten haben die Schreibenden z. B. bei den grundsätzlichen verwendeten Kommunikationsverfahren und den mit ihnen einhergehenden sprachlichen Mitteln (vgl. hierzu Buhlmann & Fearns 1987/ 2000: 52), bei der Auswahl und Verdichtung der fachlichen Informationen, der sprachlichen Leserführung oder der fachlichen Visuali‐ sierung (vgl. Theuerkauf 2012). 164 Judith Theuerkauf Abb. 3: Beispiele für Bezugnahmen auf Bilder (vgl. Göpferich 1995: 239 f.,249) 4. Stand der Förderung schriftsprachlicher Kompetenzen in der Ingenieurausbildung Bislang bereitet das Ingenieurstudium die Studierenden kaum und wenig systematisch auf die vielfältigen Textgestaltungsmöglichkeiten im Ingenieurberuf vor. Stattdessen findet die Vermittlung schriftsprachlicher und auch der mündlichen Kompetenzen vorwiegend in‐ tegriert in die Fachveranstaltungen statt. Typische integrative Lehrveranstaltungsformen sind Labore und Projektarbeiten, Industriepraktika sowie Studien-, Bachelor- und Master‐ arbeiten (vgl. Mitschke-Collande & Krey 2005). Dadurch werden schriftsprachliche Kompetenzen vorwiegend nach dem Prinzip Lear‐ ning by Doing erworben, vorausgesetzt, dass genügend Schreibanlässe im Studium gegeben sind. Jakobs & Schindler (2006) stellten bei einer Untersuchung der Schreibanforderungen in den Studiengängen Maschinenbau und Elektrotechnik an der RWTH Aachen jedoch fest, dass hier „nur wenig geschrieben [werde]“ (ebd.: 140). Dem gegenüber zeigt die Auswertung der Prüfungsordnungen und Modulkataloge von neun Bachelorstudiengängen der TU Berlin hinsichtlich der in den Pflichtveranstaltungen geforderten Texte ein differenzierteres Bild (Abb. 4). 165 Kommunikative Anforderungen im Ingenieurberuf und deren Vermittlung im Ingenieurstudium Abb. 4: Textsorten in ausgewählten Bachelorstudiengängen der TU Berlin (Stand: März 2013) Die Übersicht verdeutlicht, dass die Bachelorstudiengänge hinsichtlich der Schreibanfor‐ derungen erheblich differieren. Es gibt ¸schreiblastige’ Studiengänge und solche, in denen tatsächlich wenig geschrieben wird. Die Auswertung der Studiendokumente zeigt weiterhin, dass die Schreibsituationen in diesen Studiengängen grundsätzlich ähnliche Merkmale wie die beschriebenen beruflichen Schreibsituationen tragen. Abschlussarbeiten sind häufig in übergeordnete Forschungs‐ projekte eingebettet (vgl. Jakobs & Schindler 2006: 140). In als ¸Projekte’ bezeichneten Lehrveranstaltungsformen wird Projektarbeit zum expliziten Unterrichtsgegenstand. Neben der Bewältigung einer Ingenieuraufgabe werden in diesen Veranstaltungen häufig auch Projektmanagement-Methoden vermittelt sowie die eigenen Arbeiten dokumentiert und präsentiert (vgl. Hampe 2002). Weiterhin sind die Schreibsituationen im Studium, ebenso wie die beruflichen Schreibsituationen, durch Interaktionen gekennzeichnet. Be‐ fragungen zum Betreuungskonzept bei Abschlussarbeiten im Ingenieurstudium weisen auf einen engen, interaktiven Kontakt zwischen Betreuenden und Studierenden hin (vgl. Jakobs & Schindler 2006: 141). Auch hier entstehen Texte durch ‚Aushandeln‘. Bei so genannten Praxisarbeiten finden zudem parallel verlaufende Interaktionen zwischen den schreibenden 166 Judith Theuerkauf Studierenden, ihren universitären Betreuenden und der Ansprechperson in der Firma statt (vgl. Theuerkauf & Steinmetz 2009: 33). Der kurze Überblick zeigt, dass die Ingenieurausbildung - wenn auch abhängig vom Stu‐ dienfach - durchaus zahlreiche Schreibanlässe bieten kann, die zudem in Hinblick auf die Textsorten und Schreibsituationen Ähnlichkeiten mit den beruflichen Schreibanforde‐ rungen aufweisen. Hieraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass das Ingenieurstudium insgesamt ausreichend auf die Schreibanforderungen im Beruf vorbereite. Vor allem zu kritisieren ist bei der skizzierten integrativen Förderung die - aus schreibdidaktischer Perspektive - feh‐ lende inhaltliche und methodische Systematik. Die integrative Förderung kommunikativer Kompetenzen stößt zudem an die Grenzen der didaktischen Kompetenzen der in der Fachlehre Beschäftigten. In Bezug auf die Förde‐ rung von z. B. Präsentationstechniken stellen Mitschke-Collande & Krey (2005) fest, dass sich „bei der praktischen Umsetzung […] die teilweise eher eingeschränkte Kompetenz der Betreuer als problematisch erwiesen [hat]“ (ebd.: 15). Laut Lehnen & Schindler (2008) sind Fachlehrende im Ingenieurstudium bei der Betreuung von Abschlussarbeiten unter Um‐ ständen selbst noch unsicher, da sie besonders zu Beginn ihrer Laufbahn oft nur über wenige Schreiberfahrungen verfügen. Entsprechend geben sie Qualitätskriterien nach dem „Ver‐ erbungsprinzip“ (ebd.: 239) weiter, d. h. sie geben Anforderungen an die Textgestaltung so weiter, wie sie sie ihrerseits von ihren Betreuenden gelernt haben. Das kann jedoch dazu führen, dass sich „ineffektive Strategien und ¸Stile’ [tradieren]“ (ebd.) oder die Anforde‐ rungen lückenhaft vermittelt werden. Nur selten verfügen Betreuende über die notwen‐ digen linguistischen und schreibdidaktischen Kompetenzen, um die in diesem Beitrag an‐ gedeutete Textgestaltungsmöglichkeiten adäquat zu vermitteln. Es bleibt außerdem vorwiegend den Studiengangs- oder Modulverantwortlichen über‐ lassen, inwiefern sie Schreibaufgaben in die Fachlehre integrieren. Häufig liegt es daher in der Verantwortung der Studierenden, sich ihre Lernanlässe selbst zu schaffen. Vielfache Wahlmöglichkeiten führen zudem dazu, dass Studierende ¸schreiblastige’ Module ggf. auch umgehen können. 5. Didaktische Herausforderungen In die skizzierte didaktische Lücke drängen zunehmend ergänzende schreibdidaktische An‐ gebote zur Förderung der schriftsprachlichen Kompetenzen in den Ingenieurwissen‐ schaften (vgl. z. B. Brandl et al. 2010, Knorr 2016, Graßmann & Lichtlein 2016). Ein vielver‐ sprechender Ansatz besteht darin, dass Schreibdidaktiker bzw. -didaktikerinnen eng mit Lehrenden der Ingenieurwissenschaften in einem gemeinsamen Lehrangebot zusammen‐ arbeiten (vgl. z. B. Weisberg 2016). Bislang handelt es sich bei diesen Angeboten noch um ¸Insellösungen’ für einzelne Ingenieurstudiengänge, die zudem von Projektförderungen abhängig und dadurch zeitlich befristet sind. Die zunehmende Zahl der Studierenden mit heterogenen Bildungsbiografien und der internationalen Studierenden macht schreibdidaktische Angebote jedoch dringend erfor‐ derlich. Um den Studienerfolg dieser heterogenen Studierendengruppe zu sichern, bedarf es insbesondere in ¸schreiblastigen’ Ingenieurstudiengängen einer systematischen, konti‐ 167 Kommunikative Anforderungen im Ingenieurberuf und deren Vermittlung im Ingenieurstudium nuierlichen und zusätzlichen Begleitung in Form von aufeinander abgestimmten, ineinan‐ dergreifenden Schreib-, Sprachlern- und Beratungsangeboten entlang des Fachcurriculums. Als beispielhaft sei hier das auf die Bedürfnisse ausländischer Ingenieurstudierenden ab‐ gestimmte Konzept des Fachsprachenzentrums der Leibniz Universität Hannover genannt (vgl. Schroth-Wiechert 2010). Zur Vorbereitung auf die Schreibanforderungen in den Ingenieurberufen gibt es bislang noch wenige didaktische Ansätze (z. B. von Theuerkauf 2014, Weisberg 2016). Hier besteht die schreibdidaktische Herausforderung in der Gestaltung von Schreibaufgaben, die die Merkmale beruflicher Schreibsituationen tragen, der Textsortenvielfalt gerecht werden und die vielfältigen Textgestaltungsmöglichkeiten vermitteln und trainieren, mit dem Ziel, In‐ genieurstudierende auf die diversen interaktiven Prozesse so vorzubereiten, dass sie diese kompetent gestalten und die an sie gestellten inhaltlichen und gestalterischen Anforde‐ rungen situativ angemessen im Text umsetzen können. Literatur Brandl, Heike/ Duxa, Susanne/ Leder, Gabriela/ Riemer, Claudia (Hrsg.) (2010). Ansätze zur Förderung akademischer Schreibkompetenz an der Hochschule. Fachtagung 02.-03. 03. 2009 an der Univer‐ sität Bielefeld. Göttingen: Universitätsverlag. Buhlmann, Rosemarie/ Fearns, Anneliese (1987/ 2000). Handbuch des Fachsprachenunterrichts: unter besonderer Berücksichtigung naturwissenschaftlich-technischer Fachsprachen. Tübingen: Narr. Czichos, Horst/ Hennecke, Manfred (Hrsg.) 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Jahrhundert die schriftliche Formulierung von Wahrnehmungen und die Pflegedokumentation im multidisziplinären Team immer wichtiger. 130 Jahre nach Nightingale betont Benner 1994 (2012: 47-54) die Bedeutung des Informationsaustausches unter den unterschiedlichen Berufsgruppen zur Sicherung von Pflegequalität und Behandlung. Zu Beginn des dritten Jahrtausends nimmt der Stellenwert von Kommunikation weiter zu. Führende deutschsprachige Pflegewissenschaftlerinnen wie Bartholomeyczik (2005: 23) fordern präzises Vokabular für die immer wichtigere Infor‐ mationsgewinnung und -weitergabe und vor allem eine einheitliche Ausdrucksweise als Abbild pflegerischer Arbeit. Die zunehmende Professionalisierung von Pflege und Be‐ treuung bringt zudem neue Aufgabenfelder wie die Beratung, Anleitung und Schulung von Betroffenen und Angehörigen. Als besonders fehleranfällig und damit risikoreich für die Sicherheit von Patienten und Patientinnen gelten nach wie vor (mündliche) Übergaben im Pflegeteam, aber auch dessen Kommunikation mit Ärzten und Ärztinnen (Institute of Medicine 2005: 1, Meyer-Kühling et al. 2015: 277). Das Berufsfeld der Pflege- und Betreuungsberufe umfasst eine Vielzahl an Betätigungs‐ feldern unterschiedlichster Ausbildungsdauer: vom unterstützenden Sozialdienst wie der Heimhilfe mit dreimonatiger Ausbildungszeit und stark eingeschränktem Handlungsspiel‐ raum über einbzw. zweijährig ausgebildete Pflege(fach)assistenzen in Österreich, Fach‐ sozialbetreuer und Fachsozialbetreuerinnen (zweibzw. bei Diplomerwerb drei Jahre Aus‐ bildung) über diplomiertes Gesundheits- und Krankenpflegepersonal, auch bereits mit Bachelor-Abschluss auf Fachhochschulniveau im deutschen Sprachraum, bis zu Pflegeper‐ sonen mit Zusatzausbildung. Schließlich steigt auch die Zahl der Pflegefachpersonen mit Masterabschluss in Pflegewissenschaft, -forschung oder -pädagogik. Parallel dazu ist auch die Anspruchsgruppe der Pflege keineswegs einheitlich: vom un‐ reifen Frühgeborenen bis zum Hochbetagten sind Menschen unterschiedlicher kognitiver Reife und verschiedenster Orientierungsgrade zu begleiten und zu pflegen (Gu KG 2016: § 12). Es gilt Personen mit noch unreifen Sinnesempfindungen ebenso zu erreichen wie Menschen mit zeitweilig, dauerhaft oder auch nicht eingeschränkter Wahrnehmung. Im Sinne familienorientierter Pflege gehören dazu immer auch Gespräche mit besorgten Angehörigen inklusive Krisengesprächen und Konfliktbewältigung. Zunehmend kooperative Versorgungsformen erfordern zudem den interprofessionellen Austausch mit Nicht-Gesundheitsberufen (Erlhoff et al. 2016: 387 f.). 2. Problemstellungen Kommunikation in der Pflege ist vor allem zweckgebundenes Sprachhandeln oder dient vorrangig dem Informationsaustausch. Unterschiedliche Anforderungen und zahlreiche Kommunikationsanlässe können dabei zu Problemen führen. Arbeitsfelder: Nicht nur die Berufs- und Patientengruppen sind breit gefächert, ebenso unterschiedlich sind die Settings von Pflege und Betreuung. Das familiäre Umfeld der Be‐ troffenen, Reha- und Kurkliniken oder Tagesbetreuungszentren für Menschen mit Behin‐ derung oder Demenzerkrankung sind ebenso möglich wie Notaufnahme und klinische Ambulanz. Der Großteil der Pflegetätigkeit erfolgt in Deutschland immer noch stationär auf Akut- oder Langzeitpflegestationen ( GBE 2006: Abb. 4. 2. 18 und Tabelle). Abhängig vom Setting variieren Ziele und das begleitende Sprachhandeln bei einzelnen Pflegehandlungen aus unterschiedlicher Perspektive erheblich. In der Notfallambulanz präsentiert sich die Sprache in Wortschatz, Grammatik und Stil situationsangemessen völlig anders als auf der Palliativstation. Auch die Absichten der verschiedenen eingebundenen Professionen weichen manchmal deutlich voneinander ab. Nicht immer ist ein interdiszi‐ plinärer Konsens im Team einfach zu erreichen, eigene Erfahrungen als Erkenntnisquelle und unterschiedliche Kontext-Sensibilität können zu erheblich differierenden Formulie‐ rungen führen. So kann das Pflegepersonal beim Esstraining von Personen mit neurogener Schluckstörung vor allem die Aspirationsgefahr und hygienische Bedenken negativ ver‐ balisieren, pädagogische Fachkräfte dagegen die Förderung von Autonomie und Wahrneh‐ mung für die Betroffenen positiv formulieren. Hier liegt die Basis für Konflikte, deren Lö‐ sung sprachliche Sensibilität erfordert. Zudem müssen die Vorgaben der Krankenkassen nicht mit den Pflegeerwartungen der Betroffenen übereinstimmen. Unterschiedlicher Sprachschatz: Das Vokabular der einzelnen Beteiligten unterscheidet sich deutlich, im deutschsprachigen übrigens weit mehr als im angelsächsischen Sprach‐ raum. Griechisch-lateinisch geprägtes Fachvokabular medizinischer Berufe (vgl. „Basis‐ wortschatz für die Pflege“, Matolycz 2015: jede beliebige Seite beruht zu 99 % auf dem Grie‐ chisch-Lateinischen; pflegerische Fachbegriffe oder Anglizismen finden sich nahezu nicht) trifft auf die Alltagssprache der Kranken; hier wird von der Pflege oftmals eine Form der Übersetzungsarbeit, eine sprachliche Mediation also, oder auch eine „therapeutische Kom‐ munikation“ erbracht, um ärztliche Empfehlungen und Vorgaben verständlich zu machen (Hoekstra & Margolis 2016: 401 f.). Andererseits unterscheidet sich die von anglo-amerika‐ nischen Entlehnungen geprägte junge Sprache der Pflege nicht nur von der medizinischen, 172 Andrea Schlögl & Wassilios Klein sondern auch von der pädagogisch-therapeutischen Lexik angrenzender Berufe. Die sich noch entwickelnde Pflege-Fachsprache darf als offenes Wortfeld betrachtet werden mit Tendenz zur Vereinheitlichung bei deutlicher Erweiterung (Schrems 2003: 295 f., Bartholo‐ meyczik 2005: 23). Damit steigt auch der Lernaufwand für alle Beteiligten im interdiszipli‐ nären Arbeitsfeld. Patientenrolle: Für Erkrankte ist nicht nur das Fachvokabular nicht zwingend verständ‐ lich. Zunehmend komplexe Krankheitssituationen durch Multimorbidität und Chronifizie‐ rung erfordern mehr Patienteninformation. Die steigende, nicht zuletzt auch von Versi‐ cherungsorganisationen geforderte Selbstbestimmung und -verantwortung Betroffener und die Änderung der patriarchalischen Beziehung zwischen Gesundheitsberufen und Er‐ krankten zugunsten einer aktiveren Patientenrolle fordern von Betroffenen und Angehö‐ rigen neben der Bewältigung der Gesundheitssituation an sich auch die sprachliche Aus‐ einandersetzung mit der Thematik (Schaeffer & Moers 2008: 6-29). Unterschiedliche Anspruchsgruppen: Einem Kleinkind notwendige unangenehme Maß‐ nahmen sprachlich zu übermitteln ist nicht nur aufwändiger als bei Erwachsenen, es braucht neben verbaler Sprache auch vermehrt nonverbales empathisches Verhalten. Das rasche Abhandeln notwendiger Injektionen ist ebenso wenig empfehlenswert wie über‐ trieben emotionales Mitleid (vgl. Wächter 2010: 90 am Beispiel kindlichen Diabetes mel‐ litus). Hohe kommunikative Vorleistungen müssen auch Betreuungspersonen bei Men‐ schen mit mentaler oder schwerer Mehrfachbehinderung erbringen. Auch hier ist nicht nur eine einfache adäquate Sprache für unangenehme Handlungen zu finden, sondern die Sprachhandlungen sind auch unterstützend nonverbal zu begleiten. Unklar oder ungünstig formuliert kann die handlungsbegleitende Aussage kontraproduktiv sein (Beispiel zur Nah‐ rungsaufnahme bei Menschen mit Schwermehrfachbehinderung, Praschak 2011: 226 f.). An‐ dererseits darf es auch nicht zu zielgruppenspezifischer Sprachausprägung kommen, die weder Alter noch Situation der Betroffenen wirklich angemessen ist (vgl. für die Alten‐ pflege Sachweh 2005 in „Noch ein Löffelchen? “). Transkulturalität: Sprachliche Grenzen können bei verschiedenen pflegerischen An‐ spruchsgruppen schon bei gemeinsamer Muttersprache deutlich werden. Fehlermeldesys‐ teme im Krankenhausbetrieb zeigen, dass Therapie- oder Pflegefehler häufig genau auf diese Verständigungsgrenzen zurückzuführen sind, selbst wenn alle handelnden Personen muttersprachlich deutsch sind (vgl. Berichtssystem über sicherheitsrelevante Ereignisse im Krankenhaus: Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin 2017). Ein vielsprachiger steht oft auch für einen multi-ethnischen Kontext, nicht nur zwischen den Gepflegten und dem Team, sondern auch im multikulturellen Team selbst. Dass Transkulturalität im Team und in der Anspruchsnehmergruppe nicht zwingend zu Konflikten führen muss, sondern po‐ sitives Potenzial bietet, zeigen zwar Initiativen wie der Transkulturelle Pflegedienst Han‐ nover, der seit mittlerweile 20 Jahren unterschiedliche Sprachen und pflegerische und in‐ terkulturelle Ressourcen erfolgreich nutzt (Transkultureller Pflegedienst GmbH 2017). Dennoch fordert Transkulturalität in der Pflege eine erhebliche sprachliche Mehrleistung von allen Beteiligten. Geschriebene versus gesprochene Sprache: Im Moment der Verschriftlichung ist sprach‐ liche Verknappung gefragt. Dokumentationsunterlagen bieten selten Platz für umfang‐ reiche Berichterstattung, zudem fehlt dem Personal in der Regel die Zeit, sehr umfangreiche 173 Ausgewählte Berufsgruppen: Fachgruppe der Pflege- und Betreuungsberufe Berichte zu lesen. Knappe, präzise und eindeutige Sprache ist hier ein Muss, weicht zwangs‐ läufig von gesprochener Alltagssprache ab und ist gesondert zu trainieren. Dokumenta‐ tions-Formulierungshilfen in Buchform oder als Fortbildung legen vor allem Wert auf sachliche, objektive Sprachausprägung, die auch Überprüfungen der Qualität von Pflege‐ planung und Dokumentation standhält. Von Vorteil sind bei schriftlicher Dokumentation zumeist vorgegebene Sprachstandards, z. B. Fachterminologie, während sie bei mündlicher Sprachausprägung fast immer fehlen und zu sicherheitsrelevanten Zwischenfällen führen können (Curtis et al. 2011: 13). Neue Kommunikationsmittel bringen eine weitere Ebene notwendiger Sprachanpassungen mit sich, z. B. Sprachverknappung bei Diabetes-Apps wie „mySugr Diabetes-Tagebuch“ oder „SiDiary“. Insgesamt müssen Pflege- und Betreuungspersonen neben guter Kenntnis der eigenen Fachsprache die Begrifflichkeiten der medizinischen Bezugswissenschaft und angrenz‐ ender Professionen im multiprofessionellen Alltag verstehen und anwenden können. Situ‐ ations- und settingbezogen wird von ihnen eine patientenzentrierte, effektive Kommuni‐ kation vor allem deshalb erwartet, weil sie nach wie vor mehr Zeit mit der Anspruchsgruppe verbringen als andere Professionen und häufig eine Vermittlerrolle übernehmen (As‐ cano-Martin 2008: 190 f., Hoekstra & Margolis 2015: 401). Jüngeren Studien zufolge steht das Outcome von Patienten und Patientinnen als Ergebnis von Therapie- oder Präventions‐ maßahmen in direktem Zusammenhang mit funktionierender pflegerischer Teamkommu‐ nikation (vgl. Effken et al. 2010: 197-200). 3. Kommunikation lehren und lernen Entsprechend den hohen sprachlichen Anforderungen im Berufsalltag räumen die Curri‐ cula aller Pflege- und Betreuungsausbildungen dem Fach Kommunikation im Allgemeinen und dem Teilbereich Kommunizieren können (bezogen auf die individuellen Möglichkeiten von Patient oder Patientin) eine hohe Stundenzahl ein. Österreichs Bachelorstudierende im sechssemestrigen Gesundheits- und Krankenpflegestudium absolvieren in Summe 120 Stunden in allgemeiner Kommunikation allgemein und weitere zehn im patientenbe‐ zogenen Lernfeld ( ÖBIG 2003: 91 bzw. 161-163), wobei die Befähigung zur handlungsbe‐ gleitenden Kommunikation vor allem in praxisbezogenen Themenfeldern parallel er‐ worben werden muss. Nicht-akademische Pflegeassistenzberufe erhalten in ihrer Ausbildung in Österreich ähnlich viele Stunden Kommunikation, Reflexion und Konflikt‐ bewältigung ( ÖBIG 2017: 13f14.). Auch in der Schweiz hat Kommunikation auf den Lehr‐ plänen der Pflegefachberufe einen zentralen Stellenwert (vgl. OdA Santé 2011: 8 und 10). Curriculare Anpassungen ergaben sich im deutschsprachigen Raum zuletzt vor allem durch die Professionalisierung der Gesundheits- und Krankenpflegeberufe mit einer Er‐ weiterung pflegerischer Aufgabengebiete, darunter vor allem Beratung und Anleitung chronisch kranker oder multimorbider Personen zur Unterstützung der Selbstfürsorge durch fachspezifisches Vokabular (Büker 2013, Rathwallner 2013: 34-37). Auch steigende transkulturelle Anforderungen ( ÖKSA 2015) und das veränderte Selbstbild der Klientel fordern immer wieder geänderte Kommunikationsformen und erweitertes Wissen (Scheffer & Moers 2008: 6-29) und machen Anpassungen der Curricula erforderlich. 174 Andrea Schlögl & Wassilios Klein Aktuelle Curricula fordern insbesondere das Erlernen von Grundregeln der Kommuni‐ kation und Metakommunikation, den Erwerb der Fähigkeit zur Gesprächsführung mit aus‐ gewählten Patientengruppen (z. B. bei erschwerter sprachlicher Kommunikation durch Sinnesbeeinträchtigung oder Behinderung ), das Erkennen und Hinterfragen eigener Ste‐ reotype und Werturteile sowie die Kenntnis, wie Patienten und Patientinnen zu optimaler Compliance zu führen sind. Selbstverständlich gehört situationsgerechte intra- und inter‐ disziplinäre Kommunikation ebenso dazu wie Gespräche mit Führungskräften, Besuchs‐ personen, Ehrenamtlichen oder Unterstützungspersonal - und vor allem die Informations‐ erhebung und -weitergabe (vgl. z. B. für Deutschland Curriculum Kranken- und Kinderkrankenpflege/ NRW 2004: 37-40 oder die Bayerischen Lehrplanrichtlinien für Be‐ rufsfachschulen in der Pflege, siehe Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung (Hrsg.) (2005): 21, 34 oder 46). Kommunikatives Lernen findet in der pflegerischen Ausbildung in Theorie und Praxis permanent statt Erfahrungslernen im Pflegealltag auch noch weit über den Ausbildungs‐ abschluss hinaus. Dadurch werden die professionellen Kompetenzen vor allem in den ersten Berufsjahren wesentlich erweitert (Benner 2012: 48 f. bzw. 207-212). Während sich die In‐ formationsweitergabe im interdisziplinären Alltag mit Kollegen- oder Ärzteteam in Rol‐ lenspiel und Gruppendiskussion gut nach speziellen Konzepten trainieren lässt (vgl. z. B. Muti TANDEM plus-Konzept, Meyer-Kühling et al. 2015 bzw. SBAR -Tool, Wang et al. 2015: 881-887), gibt es keine standardisierte Pflegesituation, an der die richtige Kommuni‐ kation mit einem Individuum erlernt werden könnte. Hier ist exemplarische „Fallarbeit“ und situativ angepasste Kommunikation im sozialen Kontext nötig (Büscher & Grone‐ meyer-Bosse 2009: 30-36). Ganzheitliches Lernen ist zwar in der Praxis am Bett auf jeder Ausbildungsstufe gegeben, aber nie ganz risikolos für die Erkrankten. „Trial and error“ im Umgang mit Menschen ist ethisch nicht vertretbar (Staudinger 2015: 40). Neben einem Intimitätsverlust durch die teil‐ nehmende Beobachtung von Lernenden bei Pflegehandlungen kann vor allem die Kom‐ munikation unerfahrener Auszubildender oder von Berufsneulingen mit Gefahren ver‐ bunden sein: Falsche oder nicht akkurat kommunizierte Anweisungen bei der Einschulung zur Diabetestherapie können zur schlechteren Blutzuckereinstellung durch inkorrekte Handlungen der Betroffenen führen. Oder ein wenig sensibles Krisengespräch führt bei psychisch Erkrankten zur Situationsverschärfung (Beispiel Suizidprävention). Die europäische Vereinigung EACH hat sich daher die Förderung patientenzentrierter, effektiver und evidenzbasierter Kommunikation im Gesundheitswesen zum Ziel gesetzt (vgl. International Association for Communication in Healthcare 2017). Um zumindest für die akademischen Gesundheitsberufe einheitliche inhaltliche Vor‐ gaben bei der Ausbildung der Kommunikationsfähigkeiten zu schaffen, wurde ein europä‐ isches Konsens-Kerncurriculum entwickelt (Bachmann et al. 2013) mit 61 Zielvorgaben zur Gesprächsführung mit Erkrankten, zur Kommunikation im Team oder in der Gesundheits‐ fürsorge wurden formuliert und mittels Delphi-Prozess - einem Befragungsverfahen mit Rückkopplung - validiert. Wenngleich Pflege- und Betreuungsberufe im Entwicklungsteam unterrepräsentiert waren und der Beleg für die Wirksamkeit dieses Curriculums noch aus‐ steht, scheint es ein Ansatz zur Förderung von Lehre und Lernen im Lernfeld Kommuni‐ 175 Ausgewählte Berufsgruppen: Fachgruppe der Pflege- und Betreuungsberufe kation zu sein (Kapsch 2015: 276 f.), allerdings nicht für nicht-akademische Gesundheitsbe‐ rufe. Pflegeausbildungen mit kurzer bis mittlerer Ausbildungsdauer wie die Pflegeassistenz setzen nach wie vor Wortschatz-Training ein. Fachvokabular bestimmter Themenbereiche wird gedruckt in Buchform (Matolycz 2009) oder als Formulierungshilfe (Dokumentati‐ onsvordrucke und Arbeitshilfen) (vgl. Henke 2015) und in Fortbildungsworkshops ange‐ boten. Zum Thema Pflegeprozess, -planung und -dokumentation liefern auch In‐ ternet-Suchmaschinen mittlerweile viele (unterschiedlich gute) Adressen, bilden jedoch meist nur die Dokumentation im stationären Setting ab. Die Diskussion beispielhaft beschriebener Kommunikationssituationen ist im Rahmen nicht-akademischer Ausbildungen eine gängige Lernmöglichkeit. An typischen Fällen werden Bedürfnisse kranker oder älterer Menschen im Kontext des (wieder meist statio‐ nären) Alltags dargestellt und Lösungsmöglichkeiten gesucht. In der Regel gibt es dabei klare Empfehlungen zu sprachlichen Strategien in der jeweiligen Situation (vgl. z. B. Ma‐ tolycz 2009). Ähnlich ist es bei einer Nostrifikation im Ausland erworbener Ausbildungen durch nicht-muttersprachlich deutsche Pflege- und Betreuungskräfte (Schrimpf et al. 2011) oder deren Vorbereitung auf neue Ausbildungen in diesem Bereich. Hier wurde bisher besonderer Wert auf das Erlernen typischer Redemittel und Wendungen gelegt (Plöchl & Zelger 2007: 30 f.). Nicht immer reichen die erworbenen Sprachkenntnisse dann jedoch im pflegerischen Alltag aus (Haider 2008: 27 f.). Aktuelles Trainingsmaterial (z. B. telc 2017) sensibilisiert daher aus dem Ausland kommende Pflegekräfte darüber hinaus sowohl für die Organisation der Pflege im deutschsprachigen Raum als auch für interkulturell mögli‐ cherweise unerwartete Situationen. Ein Fortschritt ist sicher auch in der 2013 vorgestellten fachsprachlichen Prüfung für ausländische Pflegekräfte „telc Deutsch B1-B2 Pflege“ (telc 2013) zu sehen, wobei aber das von den Gesundheitsbehörden geforderte Sprachniveau B1 oder B2 nach dem Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen (Europarat (Hrsg.) (2001)) immer noch zu niedrig angesetzt scheint, um die Bandbreite vom dialektalen Sprecher bis zum fachsprachlich kommunizierenden Arzt abdecken zu können. Berufsbeg‐ leitender Spracherwerb bleibt daher unerlässlich (Klein 2016). Als Ersatz für das praktische Lernen in der „Echtsituation Patientenbett“ werden auch bei Muttersprachlern verschiedene Trainingsmöglichkeiten (Skillslab-Trainings) genutzt. Versuch und Irrtum im Rollenspiel oder an Modellpuppen ist möglich, ohne tatsächlich kranke Menschen zu gefährden (Staudinger 2015: 40). Die einfachste Variante ist das Rol‐ lenspiel mit Mitstudierenden, denen aber in der Regel reale Patientenerfahrung nur be‐ grenzt zur Verfügung stehen. Zudem reagieren sie als selbst Lernende oft doppelt befangen. Setzt man stattdessen Schauspielprofis als Simulationspatienten ein, brauchen diese spie‐ lerisches Talent, analytisches Denken, Menschenkenntnis und die Fähigkeit zu wertschätz‐ enden Rückmeldungen an die Auszubildenden (Bachmann 2015: 173). Pflege in speziellen Settings (z. B. Psychiatrie) erfordert nochmals erhöhte Aufmerksamkeit und spezielle Skills der therapeutischen Kommunikation. Jacobs & Van Jaarsveldt (2016: 4-9) berichten über Schauspielstudierende als standardisierte psychiatrische Patienten bzw. Patientinnen. Diese Trainingsmethode wies offensichtlich besondere Risiken auf: Während Auszubil‐ dende vom Verfahren profitierten, äußerten die Schauspielstudierenden eine deutliche Be‐ lastung durch Übernahme ihrer komplexen Rolle über die Dauer der Trainings hinaus. 176 Andrea Schlögl & Wassilios Klein Zunehmend wird daher mit modernen Multifunktionspuppen trainiert (vgl. Meta-Analyse Shin et al. 2014). 4. Fazit Sprache im Allgemeinen, aber auch das Berufsfeld Pflege und Betreuung wandeln sich, vor allem bedingt durch demographische und wirtschaftliche Prozesse. Wenn auch das nahezu geschlossene Wortfeld „Anatomie und Physiologie“ aus der medizinischen Bezugswissen‐ schaft derzeit noch dominiert, wird es in Zukunft parallel zur weiteren Professionalisierung in Pflege und Betreuung zur Zunahme genuin pflegerischer Fachbegriffe im Sinne einer Fachsprache als Informationsinstrument kommen. Pflege und Medizin werden zunehmend bestimmt von Interprofessionalität. Zeitgleich bleibt Sprache der Träger von Macht, Empathie und Emotion; sie kann Hoff‐ nung, Orientierung und Verständnis vermitteln oder das genaue Gegenteil. Ganzheitliche Pflege und Betreuung von Menschen ist als sozialer Prozess ohne wertschätzende Kom‐ munikation undenkbar. Und das bleibt eine Aufgabe für das ganze Berufsleben. Aus- und Fortbildungsangebote für Muttersprachler wie für Pflegekräfte anderer Herkunftssprachen müssen daher die Aktualisierung und Vervollkommnung der kommunikativen Skills für unterschiedlichste - und im menschlichen Miteinander besonders anspruchsvolle - Situa‐ tionen immer stärker berücksichtigen. Literatur Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (2017): Krankenhaus-CIRS-Netz Deutschland. Ab‐ rufbar unter: www.kh-cirs.de/ index.html (Stand: 18/ 09/ 2018) Abt-Zegelin, Angelika/ Schnell, Martin W. (2005): Sprache und Pflege. 2. überarb. und aktual. Aufl. Bern: Huber. Ascano-Martin, F. 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Neben der weitgehend ausbleibenden Lesekompetenzentwicklung zeigt sich insbesondere, dass die Motivation der Berufsschülerinnen und Berufsschüler stagniert oder sich sogar negativ entwickelt (Ziegler & Gschwendtner 2010). In diesem Zusammenhang kann die unzureichende Wahrnehmung der Relevanz des Lesens für die betriebliche (Ausbil‐ dungs-)Realität seitens der Auszubildenden eine mögliche Ursache sein (z. B. Knöll et al. 2007). Auch die epistemologischen Überzeugungen von Ausbildern zur Relevanz von Lern‐ gegenständen beeinflussen die Motivation von Auszubildenden (Urhahne 2006, Zinn 2012). Im Zusammenhang mit weiteren Befunden zur Lesekompetenzförderung (Ziegler & Gschwendtner 2010) verdichten sich Hinweise, dass eine Adaption von entsprechenden Förderkonzepten aus der allgemeinen Bildung nicht ohne weiteres auf den berufsbildenden Kontext möglich ist (hierzu auch Norwig et al. 2013). Vielmehr bedarf es einer adressaten- und domänenspezifischen Förderung von Lese‐ kompetenz (Keimes et al. 2011). Hier wäre die Frage zu klären, ob entsprechende Förder‐ bemühungen, „die die beruflichen Handlungskontexte systematischer berücksichtigen, zu messbaren Effekten führen“ (Nickolaus 2013; hierzu auch Ziegler & Gschwendtner 2010). Der vorliegende Beitrag berichtet zentrale Ergebnisse aus einer Studie, die ebendieses Desiderat aufgreift und die Bedeutung des Lesens für ausgewählte gewerblich-technische Ausbildungsberufe im Berufsfeld Bautechnik multiperspektivisch zu erfassen sucht. Dazu werden zunächst der Forschungsstand und das Untersuchungsdesign skizziert. Im Zentrum des Beitrags stehen sodann eine Zusammenfassung wesentlicher Ergebnisse sowie deren Interpretation im Hinblick auf Konsequenzen für die Förderung von Lesekompetenz. 2. Forschungsstand Vorliegende Studien im Kontext sprachlich-kommunikativer Anforderungen nehmen z. B. erwachsene Erwerbstätige im Betrieb in den Blick und fokussieren dabei insbesondere zweit- und fremdsprachliches Handeln (z. B. DIE 2010; Efing 2013, S. 123-145). Weitere Untersuchungen zielen auf die Analyse sprachlich-kommunikativer Anforderungen in Fachbüchern/ Fachtexten (Niederhaus 2010; für Auszubildende mit besonderem Förderbe‐ darf Eckardt-Hinz et al. 2013) bzw. erfassen diese inhaltsanalytisch in beruflichen Ord‐ nungsmitteln (Efing 2013, S. 123-145, Grundmann 2007, Kaiser 2012). Speziell für den Anforderungsbereich Sprechen liegen gesprächslinguistische Arbeiten zu berufsspezifischen Gesprächsformen für einzelne Berufsfelder vor (z. B. Brünner 2005, Dorfmüller 2006). Empirische Untersuchungen zu den mündlichen Anforderungen zu Be‐ ginn der Berufsausbildung gibt es bisher jedoch nur vereinzelt (Efing 2011, Efing & Häußler 2011). Ähnlich verhält es sich für die Anforderungen im Bereich Schreiben. Jakobs (2006) hat sich beispielsweise mit der Relevanz und dem Umfang von Schreibtätigkeiten in ver‐ schiedenen (Ausbildungs-)Berufen befasst. Auch liegen im Bereich Schreiben verschiedene Untersuchungen zu ausbildungsrelevanten typischen schriftlichen Aufgaben, Textsorten und Darstellungsformen von Efing (Efing 2011), Efing & Häußler (2011) sowie Knapp, Pfaff & Werner (2008) vor. Für den hier fokussierten Bereich Lesen ist die Befundlage ähnlich. Derselbe Autorenkreis untersuchte hier ausbildungsrelevante Texte für verschiedene Be‐ rufe. Dennoch ist insgesamt bislang wenig bekannt über sprachlich-kommunikative Anfor‐ derungen in Ausbildungsberufen ( Janich 2007, Pätzold 2009). Dies gilt insbesondere für den Bereich Lesen. Für gewerblich-technische Bildungsgänge fehlt es hier bis dato noch an differenzierten Untersuchungen. Dabei erscheint eine berufs(feld)spezifische Explizierung als notwendige Voraussetzung für ein adressaten- und domänenspezifisches Konzept zur Förderung von Lesekompetenz. Angesichts des Forschungsstandes können folgende Forschungsfragen formuliert werden: • Welche Relevanz hat Lesekompetenz in der (Ausbildungs-)Realität gewerblich-tech‐ nischer Bildungsgänge? • Welche motivationalen Voraussetzungen zeigen sich bei Auszubildenden gewerb‐ lich-technischer Bildungsgänge im Hinblick auf Leseaktivitäten? • Welche kognitiven Anforderungen stellen die identifizierten Leseanlässe/ Texte an Auszubildende (und Facharbeiter)? • Welche Konsequenzen können für eine adressaten- und domänenspezifische För‐ derung von Lesekompetenz daraus insgesamt abgeleitet werden? 182 Volker Rexing & Christina Keimes 3. Untersuchungsdesign Die Untersuchungen wurden zunächst exemplarisch in ausgewählten Berufen des Berufs‐ felds Bautechnik (Maurer und Maurerin, Straßenbauer und Straßenbauerin) durchgeführt. Gerade hier zeigen sich bei vielen Auszubildenden erhebliche Schwächen im Leseverstehen (Grotlüschen & Riekmann 2012, Eckhardt-Hinz et al. 2013, Norwig et al. 2010). Methodologisch ist das Untersuchungsdesign (Tab. 1) explorativ und triangulativ ausge‐ richtet, um das im Fokus des Erkenntnisinteresses bisher weitgehend unerschlossene Feld möglichst differenziert und mehrperspektivisch zu erfassen. Bei der Analyse der (Ausbil‐ dungs-)Realität werden verschiedene, primär arbeitsanalytische Zugänge genutzt (z. B. Spöttl 2008). Forschungsfrage methodischer Zugang Relevanz von Lesekompetenz Dokumentenanalyse (von Ordnungsmitteln) ExpertInneninterviews (Ausbilder und Ausbilder‐ innen, Lehrer und Lehrerinnen) motivationale Voraussetzunngen schriftliche Befragungen (Auszubildende) kognitive Anforderungen sprachwissenschaftliche Analyse beruflich rele‐ vanter Texte (in Anlehnung an Niederhaus 2010, Efing 2010, Efing 2012); kognitionstheoretische Analyse beruflich rele‐ vanter Texte/ Handlungssituationen in Anleh‐ nung an das Modell funktionaler Lesekompe‐ tenz (Ziegler et al. 2012) Konsequenzen für Förderung Interpretation/ systematische Ableitung Tab. 1: Forschungsfragen und methodische Zugänge Aus diesem Konglomerat an Untersuchungen fließen in die Darstellung der Ergebnisse (Kap. 4) bzw. die Formulierung von Konsequenzen (Kap. 5) ausschließlich die leitfadenge‐ stützten Experteninterviews mit den betrieblichen Ausbildern (N=14) ein. Diese Aus‐ schnittbildung und Fokussierung resultiert aus dem Umfang dieses Beitrags, der hier nur einen kursorischen Überblick erlaubt. Ausführliche Darstellungen zentraler Ergebnisse finden sich z. B. in Keimes (2014) und Rexing, Keimes und Ziegler (2016). 4. Ergebnisse Die Darstellung der Ergebnisse orientiert sich in ihrer Struktur an den eingangs benannten Forschungsfragen. Betrachtet werden hier aufgrund der Fokussierung auf die Interview‐ studie die Fragen 1 und 3. Forschungsfrage 4 wird im abschließenden Kapitel des Beitrags aufgegriffen. 183 Subjekt- und kontextspezifische Lesekompetenzförderung am Beispiel des Berufsfeldes Bautechnik 4.1 Zur Relevanz von Lesekompetenz in der (Ausbildungs-)Realität ausgewählter Berufe im Berufsfeld Bautechnik Die inhaltsanalytische Auswertung der leitfadengestützten Experteninterviews mit betrieb‐ lichen Ausbildern (N=14) zeigt, dass die befragten Experten betriebliche Lehr-Lernprozesse im Hinblick auf textrezeptive Anforderungen als reizarm wahrnehmen (Keimes 2014; hierzu auch Keimes & Rexing 2011b). Demnach ist Lesen nicht relevant für die Bewältigung beruflicher Anforderungssituationen im Ausbildungsbetrieb. Lediglich eine differenzierte Analyse offenbart, dass mit zunehmender Verantwortung und Hierarchieebene im Betrieb Lesekompetenz an Bedeutung gewinnt. So obliegen Leseaufgaben in der Regel den Fach‐ arbeiter und Facharbeiterinnen und Personen mit Führungsverantwortung aufgrund ihrer planerischen, administrativen und organisatorischen Tätigkeiten. Für Auszubildende sind demgegenüber schriftliche Dokumente kaum relevant. Gleichwohl wird auf globaler Ebene die Bedeutung des Lesens für Auszubildende von den Ausbildern unbestritten als wichtige Fähigkeit herausgestellt, die sich jedoch nicht in realen betrieblichen Ausbildungsprozessen widerspiegelt. Hierin dokumentiert sich gewis‐ sermaßen ein Spannungsfeld: einerseits wird Lesekompetenz als wichtige Fähigkeit he‐ rausgestellt, andererseits wird deutlich, dass betriebliche Ausbildungsprozesse kaum die Auseinandersetzung mit schriftlichen Dokumenten erfordern (hierzu ausführlich Keimes 2014). 4.2 Welche kognitiven Anforderungen stellen die identifizierten Leseanlässe/ Texte an Auszubildende (und Facharbeiter sowie Facharbeiterinnen)? Ausgehend von der inhaltsanalytischen Auswertung der Experteninterviews wurden elf Handlungsfelder (in Anlehnung an DIE 2010) abgeleitet, die berufstypische Leseanforde‐ rungen der betrieblichen (Ausbildungs-)Praxis abbilden (Keimes 2014). In Anlehnung an das Lernfeldkonzept bezeichnen Handlungsfelder hier „zusammengehörige Aufgabenkom‐ plexe mit beruflichen […] Handlungssituationen, zu deren Bewältigung befähigt werden soll“ (Bader & Schäfer 1998: 229). Insoweit dokumentieren sie arbeitsplatzunabhängig die textrezeptiven Anforderungen an Personen im Baugewerbe, die sich an den Strukturen betrieblicher Arbeitsprozesse orientieren. Handlungsfeld 1 (Arbeitsplanung und -organisation) umfasst beispielsweise planende und organisatorische Tätigkeiten, die sich auf Aufgaben sowohl im Vorfeld als auch während der Bauausführung beziehen. Zu den relevanten Textmaterialien gehören hier beispiels‐ weise zeichnerische Darstellungen (z. B. Ausführungs-, Detail- und Konstruktionszeich‐ nungen), die Basis für die Bauausführung sind, Personaleinsatzpläne mit Hinweisen zu Arbeitsort und Arbeitszeit sowie Bauzeitenpläne (Keimes 2014). Neben einer Systematisierung der textrezeptiven Anforderungen erscheint es aus der Perspektive zielgerichteter Förderung notwendig, die den Lesesituationen jeweils inhä‐ renten Anforderungen an die Lesekompetenz zu ermitteln. Die Analyse der berufsspezifi‐ schen Leseanforderungen stellt den Ausgangspunkt dar, um anforderungsorientiert und adressatengerecht die Lesekompetenz der Auszubildenden fördern zu können. Die Analyse der domänenspezifischen Leseanforderungen erfolgt mithilfe des Modells funktionaler Lese‐ kompetenz (Ziegler et al. 2012). Dieses fokussiert ausschließlich berufliche Lesesituationen, die mit einer unmittelbaren Handlungsintention verbunden sind. 184 Volker Rexing & Christina Keimes Das Modell klassifiziert zum einen Texte hinsichtlich ihres Repräsentationsmodus. Un‐ terschieden werden hier deskriptionale (z. B. Zeitschriftenartikel), gemischte (z. B. Formu‐ lare) und depiktionale (z. B. bildliche Darstellungen) Textformate. Zum anderen erfolgt im Modell funktionaler Lesekompetenz eine Zuordnung der Leseanforderungen zu einer von insgesamt drei Anforderungsklassen. Differenziert werden hier in Anlehnung an Kirsch (1999) die Anforderungsbereiche (1) Identifizieren bzw. Lokalisieren, (2) Integrieren und (3) Generieren (ebd.: 11), die im Hinblick auf die jeweils notwendigen kognitiven Informati‐ onsverarbeitungsprozesse zunehmend anspruchsvoll werden. Der Anforderungsbereich Identifizieren erfordert vom Lesenden das Auffinden einer singulären Text- oder Bildinformation. Zur Bewältigung einer Leseaufgabe dieses Anfor‐ derungsniveaus ist es i. d. R. ausreichend, eine Oberflächenrepräsentation des gelesenen Textes oder Bildes zu konstruieren. Die Anforderungsklasse Integrieren erfordert demgegenüber mindestens die Bildung einer propositionalen Repräsentation kontinuierlicher Texte, d. h. die integrative Verarbei‐ tung mehrerer Textinformationen bzw. die Entwicklung eines mentalen Modells bei dis‐ kontinuierlichen Texten. Integrieren kann aber auch die Verknüpfung von Bild- und Tex‐ tinformationen, also eine Kombination beider Repräsentationsformate, betreffen. Leseaufgaben des Anforderungsbereichs Generieren erfordern die Konstruktion eines mentalen Modells, mit dem stets ein Moduswechsel einhergeht. Dabei müssen deskriptio‐ nale Repräsentationen in externe Visualisierungen überführt und depiktionale Repräsen‐ tationen verbalisiert werden (ebd.: 11-12). deskriptional depiktional gemischt Identifizieren Sicherheits-hinweise Personaleinsatz-pläne Integrieren Unfallverhütungs-vor‐ schriften Lieferscheine Generieren Zeichnungen Bauzeitenpläne Tab. 2: Berufliches Textmaterial/ Leseanforderungen im Modell funktionaler Lesekompetenz (in An‐ lehnung an Ziegler et al. 2012) Die Analyse der für die untersuchten Berufe ermittelten Leseanforderungen zeigt, dass es sich bei den berufsrelevanten Texten (Tab. 2 zeigt eine exemplarische Auswahl) insbeson‐ dere um Dokumente mit depiktionalen und gemischten Repräsentationsformaten handelt, die im Hinblick auf die Lesekompetenz vor allem integrierende und generierende Leis‐ tungen seitens der Lesenden erfordern (hierzu ausführlich Keimes 2014). Insoweit ist viel‐ fach die Modellierung eines mentalen Modells notwendig, die im Bezug auf kognitions‐ theoretische Verarbeitungsprozesse als besonders anforderungsreich anzunehmen (Ziegler et al. 2012: 11-12). So setzt das Lesen von Bauzeichnungen beispielsweise voraus, dass Le‐ sende unter Berücksichtigung ihres Weltwissens ein mentales Modell entwickeln. Dazu sind Lesende gefordert, einen Moduswechsel zu vollziehen, d. h. den in der ikonischen Re‐ präsentation abgebildeten Sachverhalt zu verbalisieren. 185 Subjekt- und kontextspezifische Lesekompetenzförderung am Beispiel des Berufsfeldes Bautechnik 5. Konsequenzen für eine adressaten- und domänenspezifische Förderung von Lesekompetenz Auf Basis dieser Befunde kann eine Reihe von Konsequenzen abgeleitet werden, die sys‐ tematisch Rahmenbedingungen für die adressaten- und domänenspezifische Förderung von Lesekompetenz (hier exemplarisch für ausgewählte Bauberufe) berücksichtigen. In Hinblick auf die Adressatenspezifität dürften die motivationalen Vorbehalte der Aus‐ zubildenden, die sich in der hier nicht näher dargestellten Untersuchung (ausführlich Re‐ xing et al. 2016) zeigten, eine zentrale didaktisch-methodische Herausforderung bezüglich Bedeutung und Förderbedarf von Lesekompetenz darstellen. So erscheint es zunächst einmal wichtig, dass alle ausbildenden Akteure für die Bedeutung von Lesekompetenz und deren individuelle Förderung sensibilisiert werden. Alle Beteiligten können hierzu einen Beitrag leisten, insoweit sie die Möglichkeit haben, die Relevanz des Lesens an jedem Lernort zu vermitteln. Im Rahmen der betrieblichen Ausbildung erscheint es notwendig, dass Ausbilder eine positive Lesekultur fördern und den Wert des Lesens insbesondere im Hinblick auf eine Berufs- und Bildungskarriere anhand authentischer Anforderungssituationen verdeutli‐ chen (Keimes 2014). Diese Verantwortung resultiert insbesondere aus der großen Bedeu‐ tung, die gerade Auszubildende in gewerblich-technischen Berufen dem Lernort Betrieb und seinen „Wissensautoritäten“ (Zinn 2012) zuschreiben. Entsprechende Leseanlässe scheinen zweifelsohne auch in vermeintlich theoriegeminderten Berufen zu bestehen (Keimes 2014). Dazu kann Auszubildenden auch im betrieblichen Kontext eine stärkere Partizipation an bisher wohl fast ausschließlich von Facharbeitern und Facharbeiterinnen sowie Führungskräften bewältigten Leseanlässen ermöglicht oder diese könnten idealer‐ weise sogar systematisch in entsprechende, auf die Lesekompetenzentwicklung gerichtete Lehr-Lernprozesse integriert werden. In diesem Kontext scheint eine konzeptionell-orga‐ nisatorische Verzahnung der Lernorte von besonderer Bedeutung, weil Ausbildungserfah‐ rungen in diesem Spannungfeld des (über-)betrieblichen und schulischen Lernorts bedeut‐ same Effekte im Hinblick auf die Entwicklung epistemologischer Überzeugungen der Auszubildenden intendieren (Zinn 2012). Die strukturell eingegrenzten Handlungsfelder (Keimes 2014) können als konzeptionelle Basis für die in berufsfachliches Lernen bzw. allgemein in einen berufsbezogenen Hand‐ ungskontext integrierte Förderung von Lesekompetenz (ggf. mit einer Kombination aus direkter und indirekter Förderung) fungieren (Artelt & Moschner 2005, Norwig et al. 2010, Ziegler & Gschwendtner 2010). Über diese wird eine enge Verknüpfung mit den tat‐ sächlichen Strukturen konkreter Arbeitsplätze realisiert, die zumindest aus motivationaler Perspektive ebenso wichtig erscheint wie die Einbindung berufsspezifischen Textmaterials. Um nicht nur die Relevanz von Lesefähigkeit herauszustellen, sondern auch grundsätz‐ lich die Akzeptanz entsprechender Förderbemühungen bei den Berufschülern und Berufs‐ chülerinnen zu stärken, ist eine unterrichtsorganisatorische Verortung von Lesekompe‐ tenzförderung in berufsbezogenen Fächern (ggf. in Kooperation mit dem Fach D/ K) anzustreben (hierzu auch Ziegler & Gschwendtner 2010). Adressatenspezifität zeigt sich weiter in der besonderen Berücksichtigung der hetero‐ genen kognitiven Voraussetzungen (z. B. Norwig et. al. 2013, Grotlüschen & Riekmann 186 Volker Rexing & Christina Keimes 2012). Hier muss dem Zusammenhang von Lesestrategieauswahl, berufsspezifischen Lese‐ anforderungen sowie kognitiven Dispositionen der Lernenden eine besondere Bedeutung beigemessen werden. So scheinen z. B. bestimmte analoge Lesestrategien (wie das Visuali‐ sieren) gerade für die relevante Klientel geeigneter als die im allgemeinbildenden Rahmen häufig gefördeten verbal-symbolischen Strategien (z. B. das Zusammenfassen) (hierzu auch Leopold 2009, Ziegler & Gschwendtner 2010). Allerdings könnte dazu ggf. ein erweitertes Verständnis von Lesestrategien erforderlich werden, weil dieses bisher primär auf Lesen im Lernkontext ausgerichtet ist (z. B. Artelt et al. 2010). Für die gerade im untersuchten Berufsfeld charakteristischen sog. „gemischten Formate“ (Diagramme, Tabellen, Formulare) (Ziegler et al. 2012) muss hier allerdings aus kognitionstheoretischer Perspektive von einem Desiderat gesprochen werden. So sind Möglichkeiten von Strategietrainings für ein integriertes Bild- und Diagrammverstehen (depiktionale und gemischte Repräsentationsformate) bisher weitgehend ungeklärt (Schnotz & Dutke 2004). Im Hinblick auf eine domänenspezifische Förderung zeigt die Reflexion der Leseanforde‐ rungen deren berufsspezifische Charakteristik, sowohl bezüglich des Textmaterials als auch der Einbindung in betriebliche Anforderungssituationen. Allerdings soll über die besondere Akzentuierung der Domänenspezifität und der Orientierung an authentischen beruflichen Anforderungen, insbesondere der funktionalen Lesekompetenz (Ziegler et al. 2012), kei‐ neswegs die berufsbildungstheoretische Perspektive marginalisiert werden. Vielmehr ist dieser Zugang eher als Schlüssel zu verstehen, die Bereitschaft der Lernenden zu erhöhen, die Bedeutung von Lesekompetenz nicht nur für berufliche Lehr-Lernprozesse zu erfahren, sondern als zentrale Basis- und reflexive Handlungskompetenz zu erleben. Es bedarf inso‐ weit immer wieder einer Reintegration der funktionalen Perspektive in das Leitziel der umfassenden Handlungskompetenz (z. B. Heid 1999). Literatur Artelt, Cordula/ Moschner, Barbara (Hrsg.) (2005). Lernstrategien und Metakognition. Implikationen für Forschung und Praxis. Münster: Waxmann. Artelt, Cordula/ Naumann, Johannes/ Schneider, Wolfgang (2010). Lesemotivation und Lernstrategien. 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Dieser möchte vielmehr einen ausgesuchten Einblick in aktuelle Fragestellungen und Methoden geben, die zudem alles andere als spezifisch für den thematischen Bereich der beruflichen Bildung, sondern auch in anderen disziplinären und thematischen Kontexten anzutreffen sind und dem Methodenfundus der empirischen Sozialforschung entstammen (grundlegend zu sprachwissenschaftlichen und sprachdidaktischen Kontextualisierungen der sozialwis‐ senschaftlichen Methoden vgl. Albert & Marx 2014, Boelmann 2016, Neumann & Mahler 2014, Settinieri et al. 2014). In den Fokus gerückt werden im Folgenden Methoden der Er‐ hebung, Analyse und Beschreibung kommunikativer Anforderungen, Bedarfe und Prak‐ tiken sowie Methoden der Umsetzung bzw. Anwendung der Forschungsergebnisse in di‐ daktischen Settings. Dabei beanspruchen die beschriebenen Methoden Gültigkeit sowohl für den Bereich des Deutschen als Erstwie als Zweit- und Fremdsprache in der beruflichen Bildung. Nicht fokussiert werden im Folgenden hingegen • Methoden der Diagnose sprachlicher Kompetenzen im berufsbildenden Kontext (vgl. hierzu, in diesem Band, D1: Krelle, S. 267; D2: Neunmann & Giera, S. 331; D3: Ziegler & Balkenhol, S. 387); • (insbesondere bildungswissenschaftliche) Methoden, die sich, im Rahmen von In‐ terventionsstudien, der Erforschung der Wirksamkeit von Unterrichtsmethoden widmen. Hier sei exemplarisch verwiesen auf vorliegende Interventionsstudien zur Vermittlung von Lesekompetenz an beruflichen Schulen mittels des Ansatzes des Reciprocal Teaching (Petsch 2009, Gschwendtner 2012) sowie auf eine videographi‐ sche Studie zur ausbildungsvorbereitenden Förderung von Erklärkompetenz und zur Messung von deren Wirksamkeit (Maxin i. V.); • Methoden der Förderung sprachlicher Kompetenzen (vgl. hierzu, in diesem Band, D1: Weber, S. 277; D2: Hoefele & Konstantinidou, S. 341; D2: Philipp, S. 351; D3: Keimes & Rexing, S. 397). 2. Überblick Da der Blick dieses Handbuchs sich vor allem auf Zusammenhänge der beruflichen Aus- und Weiterbildung richtet und damit deutlich didaktisch geprägt ist, bleiben bestimmte Fragestellungen und damit auch Methoden weitgehend außen vor und werden im Fol‐ genden nur kurz summarisch und überblicksartig genannt, um zu verdeutlichen, wie und wo sich die später detaillierter beschriebenen Methoden in der Forschungslandschaft ver‐ orten lassen bzw. auf welchen Ansätzen sie fußen. Die unterschiedlichen Forschungsrich‐ tungen unterschieden sich v. a. „in ihrem Umgang mit dem außersprachlichen, situativen, sozialen bzw. kulturellen Kontext“ (Thörle 2005: 34). Thörle führt als zentrale, interdiszip‐ linär ausgerichtete und anwendungsorientierte Subdisziplinen mit ihren jeweiligen Me‐ thoden die folgenden auf (vgl. für das Folgende v. a. Thörle 2005: 29-43): • Ethnomethodologie und Konversationsanalyse: Die Ethnomethodologie ist ein ursprünglich soziologischer Untersuchungsansatz, „der sich mit den Prinzipien und Mechanismen beschäftigt, mittels derer sich die Handelnden die sinnhafte Ordnung dessen, was um sie vorgeht und was sie selbst tun, gegenseitig anzeigen“ (Thörle 2005: 29). Auf die Ethnomethodologie gehen sowohl die Workplace Studies (Knob‐ lauch & Heath 1999) als auch die Studies of Work (Bergmann 2006) zurück. Insb. Letztere nehmen explorativ, fallbezogen die reale (sprachliche) Interaktion der Ar‐ beitenden und den technischen Umgang mit Instrumenten, die Handhabung und zeit-räumliche Organisation von Objekten sowie Schrift- und Bilddokumenten in den Blick: „Ziel der Untersuchungen ist es, anhand der genauen Beschreibung eines Arbeitsvollzugs die für die erfolgreiche Ausführung einer Arbeit konstitutiven Kenntnisse und Fertigkeiten zu bestimmen. Es geht dabei jedoch nicht um modell‐ hafte oder theoretische Darstellungen […], sondern um das ‚verkörperte Wissen, das sich in der selbstverständlichen Beherrschung kunstfertiger Praktiken material‐ isiert‘ (Bergmann 1991: 270)“. (Thörle 2005: 30) Solch eine Deskription bildet in ge‐ wissem Sinn die Basis für eine weiter unten beschriebene Anforderungsanalyse. Die Studies of Work nehmen damit ethnomethodologisch in den Blick, was in der her‐ kömmlichen Berufs- und Arbeitssoziologie als unhinterfragte Ressource und selbst‐ verständliche Voraussetzung hingenommen wird, und bemühen sich um die genaue Erfassung, Beschreibung und Analyse der realen Arbeitsvollzüge, in denen sich spe‐ zifische Kenntnisse und Fertigkeiten zeigen. (Bergmann 2006: 639, 643) Diese fokus‐ sierten Details des Arbeitsvollzugs als Kontext der sprachlichen Aktivitäten können dann in ihren Auswirkungen auf das sprachliche Handeln beleuchtet werden. Da das zu Beobachtende nicht vorhersehbar ist, gibt es sinnvollerweise kein festes, standardisiertes Methodenrepertoire für die Erhebung und Auswertung der Daten und es sind auch keine Hypothesen oder Kriterienkataloge vorab formulierbar (vgl. Grounded Theory). Typisch sind aber Tonband- und Videoaufzeichnungen von so‐ zialen Interaktionen in natürlichen Kontexten, die tendenziell konversationsanaly‐ tisch ausgewertet werden. „Die Konversationsanalyse geht davon aus, dass soziale Fakten am Arbeitsplatz, wie etwa Entscheidungen, institutionelle Rollen, asymmetrische Verhältnisse oder Stan‐ dards, nicht als externe Variablen einfach gegeben sind, sondern in der Interaktion 194 Christian Efing & Karl-Hubert Kiefer hergestellt werden“ (Thörle 2005: 32 f.) Ihr Schwerpunkt liegt in der Beschreibung und Abgrenzung von Diskurstypen (v. a. Besprechungen), von turn taking-Mecha‐ nismen, der gemeinsamen Herstellung von Wissen usw. • Ethnographie (des Sprechens/ der Kommunikation): Diese nimmt situative, kulturelle und soziale Kontextfaktoren stärker mit in die Analyse herein und führt breit angelegte Datenerhebungen durch, in der Regel im Rahmen teilnehmender Beobachtung inkl. Audio-/ Videoaufzeichnungen und der Sammlung schriftlicher Dokumente. Ziel ist die Dokumentation des Lebens und Sprechens/ Kommunizierens in einer spezifischen, hier: beruflichen Gemeinschaft mit ihrer jeweiligen Kultur‐ spezifik. Es geht um die soziale Bedeutung von Sprache vor dem kontextuellen Hin‐ tergrund ihrer Verwendung (vgl. Szwed 1981). • Interpretative und interaktionale Soziolinguistik: Sie verbindet konversati‐ onsanalytische und ethnographische Perspektiven, „indem sie das Konzept des Kon‐ texts durch das der Kontextualisierung ersetzt […]. Kontextualisierung bezieht sich auf all diejenigen Aktivitäten, mit denen Interaktanten anzeigen, welche Aspekte des Kontexts für die Interpretation ihrer Äußerung relevant sind“ (Thörle 2005: 34). • Soziostilistik: Sie „geht davon aus, dass Gruppen in Auseinandersetzung mit den spezifischen Anforderungen ihrer sozialen Welt Kommunikationsstile entwickeln, an denen sich die Mitglieder einer Gemeinschaft gegenseitig erkennen und sich gleichzeitig gegenüber anderen Gruppen abgrenzen.“ (Thörle 2005: 36) Dabei werden Kommunikationsstile von Arbeitsgruppen, gesellschaftlichen Führungskräften, or‐ ganisationaler (Sub-)Kulturen usw. beschrieben, wobei angenommen wird, dass diese kommunikativen Stile in einem engen Zusammenhang mit dem jeweiligen Aufgaben- und Anforderungsprofil der Gruppe stehen. Dies macht den Ansatz gut kompatibel mit den unten zu beschreibenden Anforderungsermittlungen und inte‐ ressant für die Sprachdidaktik, die Sprecher auf kommunikative Aufgaben und An‐ forderungen vorbereiten will. Stile werden dabei als funktionale Sprechweisen an‐ gesehen und können als Indikator für Hierarchie, Identität usw. gelten. Insbesondere die so genannte Organisationslinguistik als soziolinguistische Unternehmensfor‐ schung, die mit ihrer gesprächs- und diskursanalytisch bzw. ethnographisch-kon‐ versationsanalytisch vorgehenden Arbeitsweise Gruppen(verhalten) gut be‐ obachten und analysieren kann, hat hier einige Arbeiten zum (hierarchischen, höflichen …) Kommunikationsverhalten verschiedener Statusgruppen vorgelegt (vgl. etwa Müller 2006, Menz & Müller 2008 sowie verschiedene Aufsätze in Keim & Schütte 2002 sowie in Becker-Mrotzek & Fiehler 2002). • Funktionale Pragmatik und Diskursanalyse: Ihr Ziel ist es in streng hand‐ lungstheoretischer Perspektive, sprachliche Handlungsmuster aufzudecken bzw. zu rekonstruieren und zu beschreiben, welche sprachlichen Mittel und kommunika‐ tiven Formen - sozusagen als gesellschaftliche Handlungsprozesse - sich für welche spezifischen, gesellschaftlichen Zwecke entwickelt haben. Diese außersprachlichen Zwecke sind es demnach, die Diskursarten und sprachliche Handlungsmuster struk‐ turieren und selbst die Morphologie und Syntax beeinflussen. Die sprachlichen Handlungsmuster werden dabei nicht in Isolation, sondern immer in Zusammen‐ hang mit den sie begleitenden außersprachlichen Handlungen und mentalen Tätig‐ 195 Methoden zur Erhebung, Analyse und Beschreibung kommunikativer Anforderungen keiten betrachtet. Als typische Beispiele dieser Forschungsrichtung sind die Ar‐ beiten von Gisela Brünner zu spezifischen Gesprächstypen und Handlungsmustern und insb. zu dem Muster „Antwort-Lösung-Sequenz“ im Rahmen der betrieblichen Ausbildung in einem Übungsbergwerk zu nennen (vgl. etwa Brünner 1987), ebenso die jüngere Arbeit von Peter Weber (2014) zu Verkaufsgesprächen und ihrer Di‐ daktik, die die Handlungsmuster des Verkaufsgesprächs beschriebt, wie etwa: An‐ liegen klären, Ware anbieten/ empfehlen, Einwand behandeln Preis absprechen usw. Auch jenseits des Handlungsfeldes Schule und der Ausbildung bilden diskursana‐ lytische Arbeiten die Basis von Anwendungskontexten, etwa wenn Gesprächsana‐ lysen und -transkripte aus dem Feld der Angewandten Gesprächsforschung gezielt zum Gegenstand von Weiterbildungen gemacht werden. • Fachsprachenforschung: Sie widmet sich längst nicht mehr nur terminologischen, sondern auch text- und pragmalinguistischen Fragestellungen und nimmt einen stärkeren Fokus auf sprachstrukturelle Aspekte ein als die anderen Ansätze. 3. Kommunikations-Anforderungsbzw. Sprachbedarfsermittlungen Im Folgenden soll exemplarisch der methodische Ansatz der Kommunikations-Anforde‐ rungsbzw. Sprachbedarfsermittlung vorgestellt werden (vgl. ausführlich Efing 2014), der nicht als eigener Ansatz neben den oben genannten zu sehen ist, sondern sich - je nach Ziel - der Methoden und Vorgehensweisen der bereits genannten Ansätze bedient. Die Erhebung und Analyse kommunikativer Anforderungen im Beruf ist „im Bildungs‐ bereich […] seit dem Beginn der Rezeption des Robinsohn‘schen Situations-Qualifikati‐ onsansatzes (Robinsohn 1969) Ende der sechziger Jahre häufig geübte Praxis“ (Weber et al. 2000: 9). Sprachbedarfsermittlungen zielen vor allem auf die Erhebung und Analyse von sowie die didaktische Vorbereitung auf fach-, berufs- und bildungssprachliche(n) Bedarfe(n) und Anforderungen. 3.1 Was meint Sprachbedarf? Sprachbedarfsermittlungen richten sich nicht auf das Sprachsystem (Grammatik, Ortho‐ graphie), sondern auf das Sprachhandeln (v. a. in beruflichen Situationen), also eigentlich den Kommunikationsbedarf und die kommunikativen Anforderungen in einer Erst-, Zweit- oder Fremdsprache und innerhalb dieser jeweils mit unterschiedlichem Fokus auf die schriftlichen wie mündlichen Anforderungen in den Varietäten der Fach-, Berufs-, Stan‐ dardund/ oder Umgangssprache sowie den Dialekten - je nachdem, ob die arbeitsplatz‐ bezogene, die berufsfachliche, die qualifizierungsbezogene oder/ und die beziehungsbezo‐ gene Kommunikation im Zentrum steht. Um objektive von subjektiven Bedarfen zu differenzieren, wird bezüglich der subjektiven, lerner- und oft lernprozessorientierten Be‐ darfe aus Sprechersicht zumeist von Bedürfnissen gesprochen; objektive Bedarfe sind hin‐ gegen die beobachtbaren, oft produktorientierten Anforderungen in Form etwa bestimmter benötigter kommunikativer Handlungsformen in einem Beruf oder an einem Arbeitsplatz. Diese Differenzierung objektiv/ subjektiv soll hier mit Blick auf die Erhebungsmethoden wie folgt verwendet werden: Objektive Bedarfe sind die vom Forscher a) inhaltsanalytisch 196 Christian Efing & Karl-Hubert Kiefer aus Ordnungsmitteln (Berufs-/ Arbeitsplatzbeschreibungen, Rahmenlehrpläne usw.) sowie b) empirisch etwa durch (teilnehmende) Beobachtung zu gewinnenden Bedarfe; subjektive Bedarfe sind die in Interviews a) von Vorgesetzten/ Personalchefs (Unternehmenssicht) sowie b) von den betroffenen Arbeiternehmern subjektiv empfundenen und artikulierten Anforderungen. Bezüglich der Definition von berufsbezogenen Anforderungen bietet sich ein Rekurs auf den Bereich der Arbeitsgestaltung, Betriebsorganisation und Unterneh‐ mensentwicklung an, in dem für die Entstehung von Arbeits(platz)anforderungen an den Arbeitenden v. a. vier Einflussfaktoren verantwortlich gemacht werden: die Arbeitsaufgabe, die Arbeitsumwelt (z. B. Lärm, Örtlichkeiten, Kollegen etc.), die Arbeitsmittel (z. B. Werk‐ zeuge) und die Arbeitsorganisation (vgl. etwa REFA 1991). Alle vier Faktoren können dabei sprachlich-kommunikative Anforderungen implizieren. 3.2 Warum und wozu wird ermittelt? Der didaktische Hauptgrund für die Durchführung einer Sprachbedarfsermittlung ist es, einen Einblick in die tatsächliche Arbeits- und Kommunikationsrealität bestimmter Be‐ reiche zu erhalten, um alle, auch versteckte, sprachlich-kommunikativen Bedarfe, Anfor‐ derungen und Bedürfnisse zu identifizieren. Hierbei kann ein Korpus authentischer Sprach‐ handlungen gewonnen werden, das zu verschiedensten Zwecken ausgewertet und aufbereitet werden kann. Hiermit eng verknüpft sind die Ziele von Sprachbedarfsermittlungen, zu denen insbe‐ sondere folgende zählen: • die Formulierung realitätsbezogener Kompetenzen und Lernziele sowie die Verbes‐ serung der Unterrichts- und Förderplanung; • die empirische Fundierung beruflicher oder bildungsinstitutioneller ggf. auch kurs‐ spezifischer (vgl. Weissenberg 2012) Anforderungskataloge, Curricula und (reali‐ tätsnaher) Unterrichts- und Testmaterialien (etwa für berufsorientierte Sprachtes‐ tung); • die realistische Beurteilung sprachlich-kommunikativer Kompetenzen von Schülern und Schülerinnen, Auszubildenden und Berufstätigen vor der Folie der Anforde‐ rungen (als defizitär oder ausreichend). Existierende Ermittlungen zielen demnach sowohl auf die Konzeption von Curricula, För‐ derkursen und Materialien für allgemeinbildende Schulen als auch für Ausbildung und Studium oder die Fort-/ Weiterbildung von bereits im Beruf Stehenden. Dabei muss ge‐ währleistet sein, dass unterrichtliche Inhalte und Normen nicht einfach aus der Empirie abgeleitet werden, sondern sich aus dem sie betreffenden didaktischen Diskurs ergeben, der die Ergebnisse der empirischen Erhebung hinterfragt. Auf Sprachbedarfsermittlungen zurückgehende Curricula sind also lediglich als empiriegestützt, nicht als empirielegitimiert zu konzipieren. Die solchermaßen auch empirisch gestützten Unterrichtsmaterialien, die auf die Vermittlung kommunikativer Kompetenz insbesondere im Bereich der berufsori‐ entierten Kommunikation, auf die Kenntnis und Beherrschung der Typik kommunikativer Situationen/ Aufgaben und Handlungsmuster abzielen, werden in Hinblick auf die Aufga‐ benformate heutzutage oft in Form von Szenarien, Fallstudien, Simulationen, exemplari‐ schen Geschäftsfällen o. ä. aufbereitet, in deren Rahmen empirisch erhobene authentische 197 Methoden zur Erhebung, Analyse und Beschreibung kommunikativer Anforderungen Texte Verwendung finden können. Solch eine realitätsnahe Materialauswahl und domä‐ nenspezifische Aufgabengestaltung, die die Relevanz von Sprachunterricht für die Ausbil‐ dung beruflicher Handlungskompetenz verdeutlicht, erweist sich nachweisbar als förder‐ lich für die Lernmotivation und damit den Lernerfolg. 3.3 Wie wird erhoben? Methodisch gibt es ein ganzes Spektrum an Möglichkeiten, die sprachlich-kommunikativen Anforderungen zu erheben, wobei der Einsatz qualitativ-empirischer Methoden heute als sinnvoller und aussagekräftiger gilt als der von quantitativen, statistischen Methoden. Je‐ doch hängt die Methodenwahl stark vom Ziel der Ermittlung ab, und jede Methode hat ihre Vor- und Nachteile. So sind z. B. qualitative Methoden für eine konkrete Kursplanung in Hinblick auf ein bekanntes Teilnehmerfeld ertragreich, in Hinblick auf z. B. die Erhebung des gesamtwirtschaftlichen Fremdsprachenbedarfs aber sind sie sicherlich quantitativen Methoden unterlegen, da kaum repräsentativ und schwer verallgemeinerbar. Einzig ein bewusst mit Blick auf das Ermittlungsziel gewählter Methodenmix aus den im Folgenden vorgestellten Methoden scheint sinnvoll, wobei in der Regel und Realität die finanziellen und zeitlichen Ressourcen der Forschenden eine Einschränkung eines sich aus der Sache ergebenden umfassenden idealen Methodenmixes nötig machen. Fragebogen-Aktionen Fragebogen-Umfragen bieten sich an, wenn man mit großen Stichproben arbeiten und eine hohe Verallgemeinerbarkeit erreichen möchte, so etwa Erhebungen zum Fremdsprachen‐ bedarf in der deutschen Wirtschaft oder zur Komplexität und Relevanz von (den Befragten vorzugebenden) berufsrelevanten Text- und Diskursarten. Nachteile von Fragebogen-Er‐ hebungen sind jedoch etwa eine tendenzielle Realitätsentkopplung; ein lediglich recht grober, undifferenzierter, durch eigene Vorerwartungen gesteuerter Einblick, der (uner‐ wartete) Details nicht mit berücksichtigen kann; die Unmöglichkeit, präzisierende (Ver‐ ständnis-)Nachfragen zu stellen, die die Antworten bei einem fachund/ oder betriebs‐ fremden Forscher zwangsläufig hervorrufen werden usw. (= unpräzise Ergebnisse, die nur Tendenzen angeben); dass der Zufallsrücklauf eine repräsentative Auswahl der Befragten verhindern kann; dass das Ausfüllen der Fragebögen durch lediglich eine - und eventuell nicht die gewünschte - Personengruppe geschieht, was eine eingeschränkte Perspektive und damit mangelnde Objektivität bedingt; dass objektiv fassbare Anforderungen und sub‐ jektive Einschätzungen und individuelle Bedürfnissen der Befragten untrennbar vermischt werden; dass die fehlende Kenntnis z. B. linguistischer Termini im Fragebogen auf Seite der Befragten zu Unsicherheiten und Missverständnissen führen kann usw. Befragung/ Interview Persönliche Befragungen oder Interviews können etwa telefonisch oder face-to-face, frei oder (Leitfaden-)gesteuert, d. h. (halb-) standardisiert durchgeführt werden. Im Gegensatz zu Fragebogen-Aktionen sind sie erheblich zeitintensiver und verringern dadurch die An‐ zahl der zu Befragenden, erlauben jedoch durch die Möglichkeit zu Nachfragen und zur Klärung von Unklarheiten und Missverständnissen erheblich aufschlussreichere und prä‐ zisere Antworten. 198 Christian Efing & Karl-Hubert Kiefer Teilnehmende Beobachtung/ Ethnographie der Kommunikation Die höchste Ergebnis- und Detailfülle bietet die teilnehmende Beobachtung bzw. die Eth‐ nographie der Kommunikation. Sie sollte durch zuvor sorgfältig aufgestellte Check-/ Frage‐ listen strukturiert und durch Mitschriften begleitet sein. Im Idealfall, d. h. wenn das Unter‐ nehmen das zulässt, sollte mit der teilnehmenden Beobachtung eine Sammlung und Dokumentation von Exemplaren aller authentischen Textsorten sowie die Audioaufnahme oder Videographie prototypischer Diskursarten einhergehen. Die Vorteile dieser Methode (der detaillierte Einblick in zusammenhängende reale Kommunikationsprozesse, die Er‐ gebnisfülle, das umfassende Bild) bilden zugleich einen enormen Nachteil: Die erhobene Datenfülle, das parallel zur teilnehmenden Beobachtung zusammengestellte große Korpus, ist durch den Umfang bedingt kaum in Gänze zu bewältigen, d. h. auszuwerten - und die ausführliche Auswertung einer ohnehin schon zeitintensiven Einzelerhebung ist nur schwer in ihrer Repräsentativität einzuschätzen, d. h., die Ergebnisse sind nur schwer ver‐ allgemeinerbar, was problematisch für Fragen des Transfers ist. Ein großer Nachteil der teilnehmenden Beobachtung ist weiterhin der schwere Feldzu‐ gang, da viele Unternehmen eine solche längere Begleitung und einen solch detaillierten Einblick nicht gerne zulassen. Inhaltsanalyse und Literaturrecherchen Die qualitative Inhaltsanalyse von Ordnungsmitteln (z. B. Bildungsstandards, Ausbildungs‐ ordnungen, Rahmenlehrpläne, Berufsprofile) und von (in)offiziellen Anforderungskata‐ logen und Stellenanzeigen sowie die systematische Auswertung von einschlägiger Literatur (bspw. der Angewandten Linguistik und der Diskursanalyse) zu verbreiteten Text- und Diskursarten der beruflichen Kommunikation sowie von Sekundärforschung und -publi‐ kationen (Presseberichte, branchenspezifische wissenschaftliche Untersuchungen, Publi‐ kationen von Unternehmen und Verbänden) sind eine wertvolle Ergänzung zu eigenen empirischen Erhebungen, indem sie deren Ergebnisse besser in ihrer Aussagekraft und Repräsentativität sowie in ihrer Verallgemeinerbarkeit einschätzen helfen. Sprachstandstests Einblicke in individuelle Sprachbzw. Lernbedarfe gewinnt man zudem durch (möglichst an Anforderungsermittlungen orientierten) Sprachstandstests. Wie bereits erwähnt, bietet sich angesichts der jeweiligen methodischen Vor- und Nachteile bei den meisten Erhebungen wohl ein Methodenmix mit einer je unterschiedlichen Ge‐ wichtung der einzelnen Methoden an, um durch die hierdurch gegebene Multiperspekti‐ vität möglichst objektive und valide Ergebnisse zu gewährleisten. Mit Becker & Weber (1998: 151 f.) kann man die Anforderungen an Erhebungsinstrumente wie folgt zusammenfassen: Sie müssen die kommunikative Realität abbilden; in ihren Er‐ gebnissen didaktisierbar sein; offen sein, d. h. Adaptionsmöglichkeiten an den Untersu‐ chungsgegenstand bieten, statt „mit geschlossenen Listen“ zu arbeiten; spezifisch an die jeweiligen Besonderheiten der zu ermittelnden Sprachvarietät angepasst sein. 199 Methoden zur Erhebung, Analyse und Beschreibung kommunikativer Anforderungen 3.4 Was wird erhoben? Je nach Ansatz werden verschiedene sprachliche Ebenen und kommunikative Einheiten fokussiert. Zudem gibt es Ansätze, die nicht von der sprachlich-kommunikativen Ebene ausgehen, sondern an außersprachlich relevanten Handlungszusammenhängen bzw. wie‐ derkehrenden kommunikativen Situationen/ Aufgaben ansetzen. Im Zentrum der Ermitt‐ lungen sprachlich-kommunikativer Einheiten stehen gängigerweise Text- und Diskurs‐ arten (in ihrer Vernetzung) in ihrem Vorkommen als reale Textsortenexemplare, fach-, berufs- und umgangssprachliche Register mit ihren spezifischen (grammatischen) Kon‐ struktionen und Stilen, prototypische Sprechakte und kommunikative Muster, das not‐ wendige soziokulturelle Wissen in seiner Verbindung zu sprachlichem und fachlichem Wissen sowie die objektiven sprachlich-kommunikativen Anforderungen und die subjek‐ tiven Haltungen, Erwartungen und Bedürfnisse aller Beteiligten. 3.5 Wie wird analysiert, aufbereitet und umgesetzt? Die Aufbereitung der (Analyse der) Erhebungsergebnisse geschieht je nach Untersuchungs‐ ziel auf unterschiedliche Art und Weise. So werden etwa die anlässlich der Inhaltsanalyse von Befragungen und Ordnungsmittel gewonnenen Ergebnisse vor dem Hintergrund der Konzeption von Förderkursen und -materialien nach berufsübergreifenden Handlungs- oder Sprachanwendungsfeldern kategorisiert (Weissenberg 2010), die die zu verwendenden Textsorten und Sprachhandlungen steuern und denen typische kommunikative Anforde‐ rungen zugeordnet werden können. Der Ansatz der Kategorisierung nach Handlungsfel‐ dern wird allerdings gerade in Hinblick auf diese letzte Annahme kritisiert: Generalisie‐ rungs- und Systematisierungsversuche erwiesen sich als schwierig, die Zahl denkbarer Situationen sei nicht absehbar, jede Situation variiere aufgrund ihrer Komplexität und Kontingenz der Anforderungen an den Handelnden und es sei bei „situativen Beschrei‐ bungskategorien intersubjektive Eindeutigkeit kaum herstellbar“ (Weber et al. 2000: 16). Unterhalb dieser Ebene finden sich Textsorten-Spektren und Listen kommunikativer Handlungsmuster, die als eine mittlere Abstraktionsebene aufgefasst werden können, die zwischen den sehr abstrakten Handlungsfeldern und sehr feingliedrigen, hauptsächlich additiven Kompetenz-/ Fähigkeitslisten vermitteln, in die Sprachbedarfsermittlungen oft münden. Solche Listen von Textsorten und kommunikativen Handlungsmustern müssen zwecks einer didaktischen Weiterverarbeitung und der Ableitung von Förder-/ Lernzielen ergänzt werden einerseits um die Analyse der Vernetzung, also der kommunikativen Ver‐ flechtung dieser Text- und Diskursarten im Handlungszusammenhang; andererseits um eine auf die einzelnen Sprachhandlungen abzielende (funktional-)pragmatische (textlingu‐ istische, diskursanalytische), grammatische und lexikalisch-semantische (Frequenz-)Ana‐ lyse, um darstellen zu können, was es wirklich bedeutet, eine Text- oder Diskursart X re‐ zeptiv oder produktiv zu beherrschen. 3.6 Fazit Anforderungsbzw. Sprachbedarfsermittlungen haben im Fremdsprachenbereich, in dem sie zunächst auf die Bedarfe der Wirtschaft abzielten und v. a. mit dem Erhebungsinstrument der Befragung arbeiteten, eine lange Tradition. Für die Sicht des Individuums und seines Bedarfs, also in einer Förderperspektive, wurden sie erst später eingesetzt. In dieser För‐ 200 Christian Efing & Karl-Hubert Kiefer derperspektive und mit Blick auf die Beschäftigten fanden sie mittlerweile auch Eingang in den Bereich der Zweit- und Muttersprachendidaktik, wobei das methodische Instru‐ mentarium von quantitativen zu qualitativen Erhebungsinstrumenten verschoben wurde. Ko-existent sind heute Forschungsansätze, die verallgemeinerbare, querschnittliche ge‐ genüber spezifischen, maßgeschneiderten Anforderungsprofilen erheben wollen - je nachdem, auf welche Bildungsinstitution und Fördergruppe die Untersuchungen abzielen. Bei aller ziel(-gruppen-)abhängigen Unterschiedlichkeit der aktuellen Ansätze haben die bisherigen Ausführungen aber gezeigt, dass Anforderungsermittlungen • multiperspektivisch (bzgl. der beteiligten Personen[gruppen]) und multimethodisch (Haider 2008: 14) vorgehen sollten, • nicht nur die sprach-funktionale, sondern auch die kulturelle und kritische/ soziale Dimension von Kommunikation in den Blick nehmen sollten (Haider 2008: 14 f.), • nicht nur deskriptiv, sondern kritisch-reflektiert sein (Haider 2008: 17 f.), also die ermittelten Anforderungen hinterfragen und die im Anschluss zu formulierenden Normen nicht aus der Empirie, sondern aus der didaktischen Reflexion begründen sollten. Unter diesen Bedingungen ermöglichen Anforderungsermittlungen einen empirisch ge‐ stützten, realitätsnahen, anwendungs-/ handlungs-, anforderungs-/ problem- und teilneh‐ merorientierten Unterricht mit (semi-)authentischen (Video-, Audio-, Text-)Materialien und Aufgabenarrangements (z. B. Szenarien), der auf die konkreten beruflichen Hand‐ lungsanforderungen vorbereitet und dadurch an Relevanz für die Lernenden gewinnt und diese motiviert. 4. Beispiele In Kap. 3.1 haben wir ausgeführt, dass Sprachbedarfsermittlungen insbesondere der Erhe‐ bung und Analyse von sowie der didaktischen Vorbereitung auf fach-, berufs- und bil‐ dungssprachliche(n) Kommunikationsbedarfe(n) und Anforderungen in einer Erst-, Zweit- oder Fremdsprache an einem Arbeitsplatz bzw. innerhalb eines Berufsstands dienen. Zwei Beispiele aus der Forschungspraxis sollen veranschaulichen, wie solche Bedarfe und An‐ forderungen empirisch erhoben und wie diese Analysen didaktisch reflektiert bzw. in Lern‐ räumen umgesetzt werden können. Es handelt sich dabei 1) um das im Rahmen des von der EU -Kommission im Life Long Learning-Programm geförderte Projekt „Jasne - Alles klar. Mehrsprachig handeln mit Erfolg“ und 2) um eine Feldforschungsstudie zum Berufsfeld der internationalen Steuerberatung. 4.1 JASNE - Alles klar Ein Forscher- und Autoren-Team aus Deutschland, Österreich, Polen, Slowakei und Tsche‐ chien, koordiniert durch das multimediale Sprachlernzentrum der Technischen Universität Dresden, hat im Rahmen des Projektes „ JASNE - Alles klar! Mehrsprachig handeln mit Erfolg“ unter deutschen, österreichischen, polnischen, tschechischen und slowakischen Unternehmen Sprachbedarfserhebungen durchgeführt und auf dieser Grundlage Sprach‐ kompetenzprofile für zunächst vier Berufsgruppen erstellt: 201 Methoden zur Erhebung, Analyse und Beschreibung kommunikativer Anforderungen • Mitarbeiter(innen) und Leiter(innen) der Finanzabteilung • Leitende Konstrukteur(innen) und Mitarbeiter(innen)/ Leiter(innen) der Produkti‐ onsabteilung • Triebfahrzeugführer(innen) • Fernkraftfahrer(innen) Ausgangspunkt des Projekts war die Überzeugung, dass ein mehrsprachiges Konzept ins‐ besondere kleinen und mittelständischen Unternehmen deutliche Wettbewerbsvorteile bringt und entscheidend dazu beitragen kann, sich erfolgreich an die Erfordernisse des Marktes anzupassen, wie es u. a. der Report on Language Management Strategies and Best Practice in European SME s, veröffentlicht im Rahmen des PIMLICO Projekts, in seinem Fazit suggeriert: English is used as the default language of international business everywhere in the world. But while all the companies recognise it as a ‘given’, an essential requirement in international trade, they also recognise that there are many countries, situations and places where it is not enough. The more successful companies in the case studies tend to adopt a multilingual approach to trade, expanding their linguistic capability to suit the specifics of market place. Knowledge of a number of languages, rather than one or two, can make all the difference between an average performance and an exceptional one, and can provide that vital competitive edge (Pimlico 2017: 57). Ziel der Erhebungen von Jasne war es laut begleitender Projektpublikation ( Jasne 2015: 8), Lehrkräften, Kurs- und Curriculumsplanern sowie Lehrwerkautoren Orientierungshilfe für die Gestaltung berufsspezifischer Fremdsprachenkurse und Materialien zu geben, um die Effizienz von Sprachkursen für Firmen und deren Mitarbeiter sowie die Anwendbarkeit von Fremdsprachenkenntnissen im Betriebsalltag von Unternehmen zu verbessern ( Jasne 2015: 11). Mit Blick auf den methodischen Ansatz wird konkretisiert, dass die Sprachver‐ wendungsprofile dazu dienen, besser einzuschätzen, auf welche Situationen Kursteil‐ nehmer sprachlich vorbereitet werden sollten, sowie berufsspezifische Kann-Beschrei‐ bungen, globale und Teillehrziele zu formulieren und somit Curricula für berufsorientierte Kurse zu strukturieren - seien sie funktional, fertigkeitsorientiert, situativ oder aufgaben‐ orientiert ausgerichtet ( Jasne 2015: 8). Grundlage für die Erstellung der Sprachverwendungsprofile und der beispielhaften Kann-Beschreibungen bildeten, wie bereits erwähnt, die Ergebnisse einer Sprachbedarfs‐ erhebung. Im Rahmen einer breit angelegten Umfrage (334 Unternehmen beteiligten sich an der Fragebogenaktion) wurden zunächst diejenigen Berufsgruppen und Positionen in Firmen unterschiedlicher Branchen identifiziert, die besonders häufig Fremdsprachen‐ kenntnisse am Arbeitsplatz benötigen: 202 Christian Efing & Karl-Hubert Kiefer Abb. 1 und 2: Ausgewählte Ergebnisgrafiken aus der Sprachbedarfserhebung im Rahmen des Jasne-Projekts ( Jasne 2013: 7) Um einen Überblick über berufliche Handlungsfelder und objektive sprachlich-kommuni‐ kative Anforderungen in den eruierten Bereichen mit erhöhtem Fremdsprachenbedarf zu erhalten, analysierte das Projektteam in einem weiteren Schritt (qualitative Inhaltsanalyse) ausgewählte Berufsprofile in Kompetenzdatenbanken der nationalen Arbeitsagenturen und 203 Methoden zur Erhebung, Analyse und Beschreibung kommunikativer Anforderungen Ministerien für Arbeit sowie Rahmencurricula der Berufsausbildung. Hieraus entstanden Listen konkreter Handlungsfelder bzw. Sprachhandlungsanlässe allgemeiner lehr-/ lernzie‐ lorientierter berufsspezifischer Kann-Beschreibungen - beispielsweise für das Berufsfeld des/ der Leitenden Konstrukteurs/ -in ( Jasne 2015: 14): Abb. 3 und 4: Kommunikative Handlungsfelder und allgemeine Kann-Beschreibungen für das Be‐ rufsfeld des Leitenden Konstrukteurs/ der leitenden Konstrukteurin - Ausschnitte ( Jasne 2015: 14 f.) An diesen Handlungsfeldern und Kann-Beschreibungen orientierten sich wiederum die leitfadengestützten Interviews (insgesamt 36). Im Rahmen dieser Interviews wurden Mit‐ arbeiter der teilnehmenden Unternehmen - Bereichsleiter(innen) in den kaufmännischen Abteilungen, Leiter(innen) der Produktions- und Konstruktionsabteilungen, Assis‐ tent(inn)en der Geschäftsleitung, Fernfahrer(innen) und Dispatcher(innen) - zu Aspekten des Fremdsprachengebrauchs am Arbeitsplatz befragt, die Erhebung also um eine subjek‐ 204 Christian Efing & Karl-Hubert Kiefer tive Perspektive ergänzt: etwa durch Fragen nach routinemäßigen Sprachhandlungen am Arbeitsplatz, deren Häufigkeit und Relevanz, anspruchsvollen Situationen und Bedin‐ gungen, die die Kommunikation erschweren, die Arbeit mit Texten (Textsorten, Rezeption und Produktion), den Umgang mit Verständigungsschwierigkeiten und schließlich die Re‐ levanz weiterer sozialer und interkultureller Kompetenzen etc. Die Triangulation von Inhaltsanalyse, Befragung der Unternehmen und Mitarbeiter-In‐ terviews resultierte schließlich in Fallbeispielen, konkreten Sprachverwendungsprofilen und detaillierten Beispieldeskriptoren, die die berufsspezifischen Anforderungen an kon‐ krete kommunikative Aktivitäten und Textsorten transparent machen sollen - etwa für die Position eines Leitenden Konstrukteurs/ Leitung der Produktionsabteilung wie folgt: 205 Methoden zur Erhebung, Analyse und Beschreibung kommunikativer Anforderungen Abb. 5 und 6: Fallbeispiel und kommunikative Aufgaben Leitende(r) Konstrukteur(in) ( Jasne 2015: 31 f.) Abb. 7: Detaillierte Lehr-und Lernziel-Beschreibungen Leitende(r) Konstrukteur(in) für den Bereich schriftliche Produktion, Niveaustufe A2 ( Jasne 2015: 36) 206 Christian Efing & Karl-Hubert Kiefer Der letzte Projektschritt erfolgte mit dem Betrieb einer Webseite, auf der interaktive Selbst‐ lernmaterialien in DaF bearbeitet bzw. maßgeschneidert Übungsmaterialien für Präsenz‐ kurse oder Blended-learning-Szenarien zu den untersuchten Berufsfeldern bzw. beruflichen Situationen zusammengestellt werden können und deren Einsatz im Rahmen des Projekts erprobt und pilotiert wurde: Abb. 8: Einstiegsseite in das Modul „deutsch für Konstrukteure“ (http: / / red.lodb.log-in-projekt.eu/ sites/ www/ scripts/ getlo.php? mode=objPool&name=mod_lo_courses&key=id&method =self&val=6976/ abgerufen am 25. 08. 2017) 207 Methoden zur Erhebung, Analyse und Beschreibung kommunikativer Anforderungen Abb. 9: Modul für Konstrukteure, Übung 6, Themenschwerpunkt Problembehandlung/ interne Beratung (http: / / red.lodb.log-in-projekt.eu/ sites/ www/ scripts/ getlo.php? mode=objPool&name=mod_ lo_courses&key=id&method=self&val=6973/ abgerufen am 25. 08. 2017) 4.2 Internationale Steuerberatung Als Beispiel für einen umfassenderen Methodenmix zur Erhebung sprachlich-kommuni‐ kativer Anforderungen im Beruf, wie in Kapitel 3.3 ausgeführt, aber auch als Beispiel für die Verzahnung von sprachlich-kommunikativen Anforderungserhebungen in der beruf‐ lichen Praxis mit Ausbildungszusammenhängen, in denen Kompetenzen vermittelt werden sollen, um diesen Anforderungen gerecht zu werden, kann eine Feldforschungsstudie zum Berufsfeld der internationalen Steuerberatung von Kiefer (2011, 2013) herangezogen werden. Der Autor der Studie war über einen Zeitraum von rund zwei Jahren in der Kom‐ munikationsabteilung einer polnischen Wirtschaftskanzlei deutschen Ursprungs tätig und (1) erhebt und beschreibt in seiner Arbeit kommunikative Kompetenzen, die im Berufsfeld benötigt werden, mit (2) dem Ziel der Entwicklung, Erprobung und Evaluierung einer Übungseinheit zur Vermittlung dieser kommunikativen Kompetenzen im Rahmen des fachbezogenen Fremdsprachenunterrichts an einer Wirtschaftshochschule (Warsaw School of Economics) und unter Berücksichtigung der handlungsorientierten Methode der „Fall‐ simulation“: 1. Feldforschung im Kommunikationsraum „internationale Steuerberatung“ Da die Interaktionen zwischen Mandanten - überwiegend Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Finanzabteilungen bzw. Führungskräfte von mittleren und Groß‐ unternehmen - und Beratern nur eingeschränkt „in actu“ beobachtet werden konnten, wurde versucht, das Bild der kommunikativen Abläufe in der Abteilung unter Zuhilfenahme unterschiedlicher qualitativer und quantitativer Methoden zu vervollständigen. Die Auswahl dieser Forschungsmethoden hing jeweils von der zu beantwortenden Frage ab, die an das Feld herangetragen wurde: solche die Quanti‐ 208 Christian Efing & Karl-Hubert Kiefer täten (Mengen, Häufigkeiten) erhoben und solche, die nach Qualitäten, also nach der Bedeutsamkeit von Einstellungen oder Verhaltensweisen bzw. nach ihren Be‐ deutungen fragten. Zum Einsatz kam folgendes Methodenbündel: - Standardisierte Befragungen - in Form von Fragebögen unter den Mitarbeiter‐ innen und Mitarbeitern, dem Leiter der Steuerberatungsabteilung und den Man‐ danten, Daten zum Ablauf, den Einstellungen, der Zufriedenheit im Hinblick auf die Kommunikation zwischen Beratern und Mandanten und umgekehrt zu erheben. Abb. 10: Ausschnitt aus einem Fragebogen an die Mandanten (Kiefer 2011: 377) - Gezielte mündliche und schriftliche Befragungen der Beraterinnen und Berater - per E-Mail, Telefon oder Face-to-face zu laufenden Vorgängen, zur Abfrage von Er‐ fahrungen und Einstellungen in bestimmten Kommunikationssituationen. - Retrospektion - über einen Zeitraum von einer Woche wurden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gebeten, unmittelbar nach Telefonaten mit deutschen Mandanten, die sie entgegennahmen oder aus eigener Initiative führten, retrospektive Berichte/ Gedächtnisprotokolle in ihrer Muttersprache anzufertigen. Diese Berichte wurden täglich eingesammelt und analysiert, um Zweifelsfälle (z. B. Schwierigkeiten beim 209 Methoden zur Erhebung, Analyse und Beschreibung kommunikativer Anforderungen Entziffern der Schrift, beim inhaltlichen Verständnis, mangelnder Präzision in der Beschreibung etc.) unmittelbar klären zu können. Abb. 11: Muster eines Gedächtnisprotokolls/ Telefongespräch - Auszug (Kiefer 2011: 389) - Frequenzanalysen - in Form von Strichlisten, die die Mitarbeiterinnen und Mitar‐ beiter der Abteilung für über einen Zeitraum von vier Wochen führten, wurde die Häufigkeit der Nutzung unterschiedlicher Kommunikationskanäle erhoben. Eine weitere Frequenzanalyse betraf die Häufigkeit fachlicher Themen und Textsorten, die Gegenstand von Dienstleistungen für die Mandanten waren und erfolgte durch Erstellung eines Textkorpus von rund 400 Texten. Kommunikative Tätigkeit (in deutscher Sprache) Häufigkeit/ Woche/ Mitarbeiter Telefonate führen 4 E-Mails verfassen 17 Face-to-face-Gespräche führen < 1 Abb. 12: Durchschnittliche Häufigkeitsverteilung kommunikativer Aktivitäten eines Steuerberaters/ einer Steuerberaterin in der untersuchten Kanzlei (Kiefer 2013: 175) - Quantitative und qualitative Inhaltsanalysen - in Korrespondenz/ Auftragsarbeiten (Stellungnahmen, Gutachten etc.) sowie einem Telefonmitschnitt wurden Vorkom‐ 210 Christian Efing & Karl-Hubert Kiefer menshäufigkeiten und Ausprägungen bestimmter Strukturen/ Phasen auf der Mak‐ roebene sowie Sprachhandlungen/ sprachliche Strukturen/ Ausdrucksformen auf der Mikroebene von Texten bzw. Gesprächen ermittelt und analysiert. 2. Entwicklung, Erprobung und Evaluierung berufsfeldbezogener Fallsimulationen Der zweite Teil der Studie wendet sich der Erstellung und unterrichtlichen Umset‐ zung von Fallsimulationen zum Training kommunikativer Kompetenzen im Berufs‐ feld der internationalen Steuerberatung zu. Aufgrund der Analysen zum Kommu‐ nikationsraum und der hier erhobenen kommunikativen (Teil-)Kompetenzen (im Einzelnen: Dienstleistungskompetenz, Prozesskompetenz, sozial-kooperative Kom‐ petenz, Fach-, Methoden-, Feldkompetenz, Informationserschließungs- und -verar‐ beitungskompetenz, Medienkompetenz, Argumentationskompetenz, Entschei‐ dungs- und Durchsetzungskompetenz, Sprachkompetenz, Register-, Stil-, Variationskompetenz, sprachstrategische Kompetenz, Textkompetenz, Gesprächs‐ kompetenz) hat Kiefer eine Unterrichtseinheit auf der Basis von Fallsimulationen für eine fest umrissene Lernergruppe konzipiert. Den Fallsimulationen liegen Pra‐ xisfälle zugrunde, die in Kooperation mit den Steuerberatern der untersuchten Wirt‐ schaftskanzlei entwickelt sowie auf ihre Praxisnähe, Relevanz und fachliche Rich‐ tigkeit begutachtet wurden. Hierzu wurde in der Entwicklungsphase der Lernmaterialien eine entsprechende Checkliste erstellt: Abb. 13: Auszug aus der Checkliste zur Bewertung des Falls durch den Berater (Kiefer 2013: 301) 211 Methoden zur Erhebung, Analyse und Beschreibung kommunikativer Anforderungen Das Material wurde anschließend im fachbezogenen Deutschunterricht erprobt. Diese Érprobung wurde dreistufig evaluiert, und zwar mittels - Beobachtung und Dokumentation des Bearbeitungsprozesses Abb. 14: Auszug aus dem Beobachtungsbogen zum Bearbeitungsprozess der Fallsimulationen (Kiefer 2013, 340) - Analyse der Arbeitsprodukte, die auch in Teilen an die Studierenden zurückgespie‐ gelt wurde: Abb. 15: Auszug aus einer Analyse des Textprodukts einer Gruppenarbeit (Kiefer 2013: 343) - Bewertung der Lerneinheit in Form einer schriftlichen Befragung zur Messung des Akzeptanzgrads der Methode innerhalb der Zielgruppe: 212 Christian Efing & Karl-Hubert Kiefer Abb. 16: Auszug aus den Ergebnissen zur Befragung zu den Erfahrungen bei der Fallsimulationsarbeit (Kiefer 2013: 361 f.) Durch die oben beschriebenen Methoden war es also möglich die real beobachtbaren, sprachlich-kommunikativen Anforderungen des Berufsfelds, als auch die Erwartungen der Berufsträgerinnen und -träger wie auch der Lernenden an einen berufsnahen, motivier‐ enden Sprachunterricht miteinander in Einklang zu bringen. Literatur Albert, Ruth/ Marx, Nicole (2014). Empirisches Arbeiten in Linguistik und Sprachlehrforschung: Anlei‐ tung zu quantitativen Studien von der Planungsphase bis zum Forschungsbericht. Tübingen: Narr. Becker, Monika/ Weber, Hartmut (1998). Bedarfsanalysen für den berufsorientierten Fremdsprachen‐ unterricht: Ein text- und diskursbezogener Ansatz. In: Eggers, Dietrich/ Zehnder, Erich/ Piedmont, René (Hrsg.). Jahrbuch Sprachandragogik 1996. Mainz: Johannes Gutenberg Universität, 141-172. Becker-Mrotzek, Michael/ Fiehler, Reinhard (Hrsg.) (2002). Unternehmenskommunikation. Tübingen: Narr. Bergmann, Jörg (2006). Studies of Work. In: Felix Rauner (Hrsg.). 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Menschen von funktionalem Analphabetismus betroffen sind (Grotlüschen et al. 2012a). Damit sind Menschen gemeint, die nur schlecht oder auf sehr geringem Niveau lesen und schreiben können (Döbert & Hubertus 2000, Egloff et al. 2011). Die UNESCO formuliert, dass als funktional literalisiert eine Person gilt, die an allen Ak‐ tivitäten einer Gemeinschaft teilhaben kann, bei denen Literalität notwendig ist. Sie ist außerdem in der Lage, sich selbst weiterzuentwickeln und zur Weiterentwicklung ihrer Gemeinschaft beizutragen ( UNESCO 2006: 7). Lesen, Schreiben und Verstehen eines kurzen Textes sind Mindestanforderungen, um als alphabetisiert zu gelten (Gläss 1988: 14). Als funktionale Analphabeten werden demnach Menschen bezeichnet, die nicht in der Lage sind, die gesellschaftlichen Mindestanforderungen im Hinblick auf die Beherrschung der Schriftsprache zu erfüllen. Dadurch fällt es ihnen u. a. schwer, in einen Beruf, in Ausbildung oder Beschäftigung einzumünden. Oft wird diesbezüglich auch von sekundärem Analphabetismus gesprochen. Damit sind Menschen gemeint, die eine Schulbildung erfahren und Lesen und Schreiben gelernt haben. Allerdings haben die Betroffenen diese Fähigkeiten im Laufe der Zeit wieder verloren. Es wird vermutet, dass ihre schriftsprachlichen Fähigkeiten bereits beim Verlassen der Schule eher gering waren. Die seltene Anwendung der Schriftsprache in privaten und beruflichen Kontexten führt dazu, dass die Betroffenen ihre schriftsprachlichen Fähigkeiten verlieren. In der leo.-Studie zeigen sich diese Effekte vor allem im Anteil funktionaler Analphabeten in den unterschiedlichen Altersgruppen. Ältere Menschen sind tendenziell häufiger von Analphabetismus betroffen als jüngere (Buddeberg 2012). Nicht nur die leo.-Studie, bereits das International Adult Literacy Survey ( IALS ) ( OECD 2000) und auch das Programme for the International Assessment of Adult Comptencies ( PIAAC ) deuteten auf die Schwierigkeiten eines Teils der erwachsenen Bevölkerung beim Lesen und Schreiben in Deutschland hin. IALS machte deutlich, dass Deutschland zu den Ländern gehört, in denen fast 15 % der Erwachsenen über sehr geringe schriftsprachliche Kompetenzen verfügen ( OECD 2000: XIII ). PIAAC zeigte, dass rund 17,5 % der Erwachsenen zwischen 16 und 65 Jahren über Lesekenntnisse auf Grundschulniveau verfügen. Mit einem Basiswortschatz können sie nur einzelne Sätze und einfache, kurze Texte zu vertrauten Themen lesen und verstehen (Rammstedt 2013). Für viele ist schwer nachvollziehbar, dass es in unserer modernen Gesellschaft Menschen gibt, die trotz Schulbesuchs von funktionalem Analphabetismus betroffen sind (Döbert & Hubertus 2000: 42). Erst recht die Tatsache, dass einige von ihnen eine Berufsausbildung absolviert haben, überrascht. Schließlich werden Auszubildende, genauso wie Arbeit‐ nehmer, erst nach Durchlaufen eines Bewerbungsverfahrens eingestellt. Zeugnisse und Beurteilungen sollen über die Leistungsfähigkeit der Bewerber Auskunft geben. Oft werden zudem Eignungs- oder Kompetenzfeststellungsverfahren durchgeführt, in denen auch Lese- und Schreibfähigkeiten untersucht werden. Jugendliche mit Defiziten im Bereich schriftsprachlicher Fähigkeiten gelten in der Regel als nicht ausbildungsreif und münden oft in Angebote des beruflichen Übergangssystems ein (Baumann 2014). Offensichtlich werden hier die Grenzen beruflicher bzw. betrieblicher Auswahl- und Zuweisungsmecha‐ nismen deutlich. Der vorliegende Beitrag wird sich mit dem Phänomen funktionaler Analphabetismus in der Berufsausbildung befassen. Welche Relevanz hat funktionaler Analphabetismus in der beruflichen Bildung? Wie wird mit diesem Problem in der beruflichen Bildung umge‐ gangen? Wie präsent ist funktionaler Analphabetismus an den Lernorten Berufsschule und Betrieb? 2. Funktionaler Analphabetismus in Deutschland: Ein Phänomen der Arbeitswelt Oft wird Analphabetismus als ein Problem von Entwicklungsländern wahrgenommen. In Deutschland wurde diesem Problem deshalb bis in die 1970er Jahre hinein kaum Beachtung geschenkt. Das Ausmaß von Analphabetismus war lange Zeit unbekannt. Schätzungen gingen von 600 000, 2 Mio., 5 Mio. oder 11 Mio. betroffenen Menschen aus (Döbert & Hu‐ bertus 2000: 26). Erst mit den Ergebnissen der leo.-Studie im Jahr 2012 wurden belastbare Zahlen zum Ausmaß von funktionalem Analphabetismus in Deutschland vorgelegt. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass in Deutschland ca. 7,5 Mio. Menschen von funktionalem Analphabetismus betroffen sind (Grotlüschen & Riekmann 2012). Die Be‐ troffenen unterschreiten das unterste Kompetenzlevel, das Level One der Lese- und Schreib‐ fähigkeiten. D. h. sie unterschreiten PISA -Level 1 ( OECD 2010: 52) und sind demnach nicht in der Lage, kurze, syntaktisch einfache Texte aus einem gewohnten Kontext und in ver‐ trauter Form verstehend zu lesen. Laut PISA wird von rund einem Prozent der untersuchten OECD -Schüler dieses Level nicht erreicht ( OECD 2010: 52). Unterhalb dieses Levels erfolgte keine differenzierte Untersuchung der Lesefähigkeiten. Die leo.-Studie differenziert unter‐ halb dieses Level-One in insgesamt sechs sogenannte „Alpha-Levels“ (Grotlüschen et al.2012b: 56). Von funktionalem Analphabetismus wird bis α-Level 3 gesprochen. Die Studie machte deutlich, dass funktionaler Analphabetismus auch in Deutschland ein Problem der Arbeitswelt ist. Rund 57 % der Betroffenen gab an, erwerbstätig zu sein. Die Studie geht davon aus, dass etwa 12,5 % der erwerbstätigen Bevölkerung von funktionalem Analphabetismus betroffen ist. Die Öffentlichkeit überraschte dieses Ergebnis, weil die leo.-Studie damit ein ganz anderes Bild von den Betroffenen vermittelte, als die bis dahin 220 Dietmar Heisler & Jens Reißland durchgeführte Teilnehmendenforschung der VHS (vgl. Grotlüschen 2012: 137). Bis dahin wurde angenommen, dass die Mehrzahl der Betroffenen arbeitslos ist. Die Studie belegt, dass ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung trotz erheblicher Defizite im Lesen und Schreiben in der Lage ist, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Dies soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Anteil funktionaler Analpha‐ beten unter den Erwerbslosen mit rund 30 % doppelt so hoch ist, wie unter der Gesamtbe‐ völkerung (14,5 %). Oft arbeiten die Betroffenen in problematischen bzw. prekären Be‐ schäftigungsverhältnissen. Sie erreichen nur einen niedrigen beruflichen Status und sind von den Risiken des Arbeitsmarktes in besonderem Maße bedroht bzw. betroffen. Oft üben sie schwere körperliche Arbeiten aus. Rund 70 % von ihnen gehören zur Gruppe der unge‐ lernten und angelernten Beschäftigten. Ein beruflicher Aufstieg ist ihnen kaum möglich bzw. wird er von ihnen abgelehnt, weil sie so in die Lage kämen, häufiger schreiben zu müssen. Meist arbeiten sie im Schichtbetrieb, als Teilzeitbeschäftigte oder in befristeten Beschäftigungsverhältnissen. Die Prekarität dieser Beschäftigungsverhältnisse zeichne sich in erster Linie durch ihre geringe Entlohnung und ihre Einfachheit aus, wodurch sie ein hohes Risiko zur Automatisierung bergen, was möglicherweise den Wegfall der damit ver‐ bundenen Arbeitsplätze bedeuten würde (ebd.: 163). Außerdem nennt die Studie Berufe, deren Berufsangehörige besonders häufig von funktionalem Analphabetismus betroffen sind. Dazu gehören in erster Linie die Bauhilfsberufe, die Hilfskräfte im Reinigungsgewerbe, in der Gastronomie, in Hotels und in der industriellen Fertigung. Die dargestellten Beschäftigungsbedingungen funktionaler Analphabeten tragen schließlich auch wesentlich dazu bei, dass die Betroffenen Angebote der Grundbildung und Alphabetisierung häufig nicht wahrnehmen können. Als Gründe werden ihre Arbeits‐ zeiten, ihre hohe körperliche Beanspruchung und ihr geringes Einkommen benannt, die sie davon abhalten, entsprechende Angebote wahrzunehmen (Ehmig et al. 2015: 49). 3. Funktionaler Analphabetismus in der Berufsausbildung 3.1 Relevanz und Präsenz des Themas im berufspädagogischen Diskurs Die leo.-Studie geht davon aus, dass sich 6,5 % der funktionalen Analphabeten in einer Ausbildung befinden. Fraglich ist, wo die betroffenen Jugendlichen im Berufsbildungs‐ system zu finden sind. Es ist vorstellbar, dass sie vor allem in die schulischen und außer‐ betrieblichen Angeboten des Übergangssystems und der Berufsausbildung einmünden. Ge‐ rade auf diese Angebote greifen insbesondere lernschwache Jugendliche mit niedrigen oder fehlenden Schulabschlüssen, sozial Benachteiligte usw. zurück. Diese werden zu den be‐ sonderen Risikogruppen für Analphabetismus gezählt. Ähnlich wie bei den ungelernt Beschäftigten (s. o.) gibt es auch im Ausbildungssystem Be‐ rufe, in denen der Anteil funktionaler Analphabeten besonders hoch ist. Dazu gehören das Hotel- und Gaststättengewerbe, insbesondere Köche, genauso die Bauberufe, Klempner, Garten- und Landschaftsbauer sowie Maler und Lackierer und die Berufe im Lager- und Logistikbereich (Grotlüschen 2012: 147). Eine eindeutige Erklärung für diese Konzentration der Betroffenen in diesen Branchen und Berufen stellt die Studie nicht bereit. Ein möglicher Grund ist, dass diese Berufe zu den schriftarmen Berufen gezählt werden ( PT DLR 2011: 6). 221 Funktionaler Analphabetismus in der beruflichen Bildung und Arbeitswelt Schließlich kann nur vermutet werden, dass der Anteil der Betroffenen in diesen Berufen so hoch ist, weil sie oft auch in außerbetrieblichen Ausbildungsmaßnahmen der Benach‐ teiligtenförderung, in der beruflichen Rehabilitation und in den Werkstätten für behinderte Menschen ausgebildet werden. D. h. es handelt sich um Berufe, die im Rahmen der Ausbil‐ dungs- und Arbeitsmarktförderung oft auch für lernschwache und lernbeeinträchtigte Ju‐ gendliche vorgehalten werden. Trotz des offensichtlich hohen Anteils Betroffener in der Berufsausbildung fällt auf, dass das Thema funktionaler Analphabetismus im berufspädagogischen Diskurs bislang kaum relevant war. Offenbar wird Analphabetismus zuerst als Problem der Erwachsenenwelt wahrgenommen und die Alphabetisierungsarbeit damit den Institutionen der Erwachse‐ nenbildung, insbesondere den VHS , zugeordnet. Außerdem ist das Problem in der Berufs‐ ausbildung bislang kaum sichtbar geworden. Freiling und Krings (2014) gehen davon aus, dass die betroffenen Jugendlichen Strategien entwickelt haben, ihre Defizite zu verbergen. Dadurch werden sie auch im Übergangssystem und in der Berufsausbildung nicht sichtbar (ebd.). Christe (2014) formuliert, dass das Thema funktionaler Analphabetismus in der berufli‐ chen Bildung bislang nur marginal von Bedeutung war. Selbst in dem seit den 1980er Jahren geführten Diskurs zur Benachteiligtenförderung seien funktionale Analphabeten als Ziel‐ gruppe und Adressatenkreis nicht zu finden. Dennoch muss davon ausgegangen werden, dass vor allem in der Benachteiligtenförderung durchaus ein Bewusstsein für die unter‐ schiedlichen Fähigkeiten und die Defizite benachteiligter Jugendlicher, also auch für ihre schriftsprachlichen Probleme bestand. Sie wurden jedoch kaum als Folgen von funktio‐ nalem Analphabetismus wahrgenommen und beschrieben. Sie gelten als Ausdruck der He‐ terogenität von Lerngruppen - so auch in der aktuellen Inklusionsdebatte. Häufig wird von Lese-Rechtschreibschwächen, Legasthenie oder Dyslexie gesprochen, deren Ursachen auf Krankheiten oder physiologische Störungen zurückgeführt werden. Diese Probleme werden oft als Lernstörungen oder Lernbehinderungen wahrgenommen. Folglich können die Betroffenen in Abschlussprüfungen bspw. einen Nachteilsausgleich in Anspruch nehmen (Keune & Frohnenberg 2004). Eine genaue Differenzierung von Lernbehinderung und funktionalem Analphabetismus ist bislang nicht zu finden. Es ist unklar und wird dis‐ kutiert, ob funktionaler Analphabetismus als Lernstörung oder Lernbehinderung zu be‐ trachten ist. Oft werden die schriftsprachlichen Probleme Jugendlicher auch unter dem Begriff der „fehlenden Ausbildungsreife“ diskutiert (z. B. bei Baumann 2014, Freiling & Krings 2014). Damit ist die Fähigkeit zur Erfüllung allgemeiner, d. h. berufs- und betriebsübergreifender Anforderungen der Berufs- und Arbeitswelt gemeint. Der Kriterienkatalog Ausbildungsreife ( BA 2006) orientiert sich dafür in erster Linie an schulischen Leistungsmerkmalen. Die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, wird als eine Voraussetzung für Ausbildungsreife genannt. Allerdings ist der Begriff der Ausbildungsreife nicht unumstritten (z. B. Dobischat et al. 2012). 222 Dietmar Heisler & Jens Reißland 3.2 Zunehmende Sensibilität für funktionalen Analphabetismus und Handlungsansätze zur Förderung literaler Kompetenzen in der Berufsausbildung Aktuell lassen sich Hinweise dafür finden, dass funktionaler Analphabetismus als Thema in der beruflichen Bildung an Bedeutung gewinnt. Dies kann nicht zuletzt als Ergebnis der beiden BMBF -Förderschwerpunkte (2007-2012 und 2012-2015) zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener bzw. zur Alphabetisierung Erwachsener in der Arbeitswelt konstatiert werden (Korfkamp & Löffler 2016, PT DLR 2012). Auch die Diskussionen zur Inklusion in der beruflichen Bildung haben nicht nur zu einer größeren Sensibilität hin‐ sichtlich unterschiedlicher, individueller Lernvoraussetzung geführt, sondern sie haben auch die Sensibilität im Hinblick auf die geringen literalen Kompetenzen junger Menschen erhöht. Auch im Zuge der Flüchtlingsdebatte sind die Themen Sprachförderung, Förderung von Kommunikationsfähigkeit und der Schriftspracherwerb von Deutsch als Fremdsprache oder Deutsch als Zweitsprache stärker in den Vordergrund gerückt. Zudem wird davon ausgegangen, dass die sprachlichen und kommunikativen Anforderungen der Berufe ge‐ stiegen sind. Deshalb wird der Vermittlung von notwendigen literalen und sprachlichen Kompetenzen auch in der Berufsausbildung eine höhere Aufmerksamkeit gewidmet ( PT DLR 2011). Genauso wird die Aneignung der beruflichen Fachsprache zunehmend als didaktische Herausforderung für die Berufsausbildung betrachtet. Dabei geht es nicht nur um den Er‐ werb der Fachsprache und mögliche Unterstützungsformen, Arbeitsmaterialien etc. So stehen Ausbilder und Lehrkräfte hier vor einem didaktischen Dilemma. Einerseits wird die berufliche Fachsprache als notwendiges Kommunikationsmittel im beruflichen Alltag be‐ trachtet. Sie wird damit zum zentralen Gegenstand beruflicher Lernprozesse. Andererseits stellt sich die Frage, ob gerade in Anbetracht der (schrift-)sprachlichen Defizite junger Menschen die Verwendung der Fachsprache berufliche Lernprozesse erleichtert oder viel‐ mehr erschwert (Heisler 2016, Ruschel 2013). Insgesamt wird deutlich, dass funktionaler Analphabetismus kaum als Problem und als genuine Förderaufgabe der Berufsausbildung betrachtet wird. Vielmehr werden die schrift‐ sprachlichen Defizite Jugendlicher am Übergang zur Berufsausbildung zum Selektionskri‐ terium (Anslinger & Quante-Brandt 2013). Erst in den letzten Jahren, vor allem im Kontext der o. g. BMBF -Förderschwerpunkte, sind verschiedene Materialien zur Förderung der Le‐ sefähigkeiten von Auszubildenden und von funktionalen Analphabeten in der beruflichen Bildung entstanden (z. B. Biermann & Piasecki 2011, Quante-Brandt & Jäger 2013). 3.3 Entwicklung schriftsprachlicher Fähigkeiten und das Risiko für die Entstehung von sekundärem Analphabetismus während der Berufsausbildung Aktuell stellt sich auch die Frage nach dem Beitrag der Ausbildung zum Erwerb literaler und kommunikativer Kompetenzen. Der Einfluss der Berufs- und Arbeitswelt, insbeson‐ dere der Berufsausbildung, auf die Entwicklung und auch auf den Verlust schriftsprachli‐ cher Fähigkeiten bzw. auf die Entstehung von sekundärem Analphabetismus ist unklar. Dennoch lassen sich Hinweise dafür finden, dass der Vergessensprozess, der letztlich zu sekundärem bzw. funktionalem Analphabetismus führen kann, bereits in der Ausbildung beginnt: ULME III untersuchte beispielsweise die Leistungen von Auszubildenden in ins‐ gesamt 17 Ausbildungsberufen zu Beginn und zum Ende der Berufsausbildung. Darin 223 Funktionaler Analphabetismus in der beruflichen Bildung und Arbeitswelt wurde u. a. festgestellt, dass die Auszubildenden einiger Berufe ihre Leistungen und Stra‐ tegien bei der Bearbeitung von Texten am Ende der Ausbildung als schlechter und ineffek‐ tiver beurteilten als zu Beginn ihrer Ausbildung (Seeber 2013a: 85). Außerdem sei die Mehr‐ zahl der Auszubildenden trotz Schule und Ausbildung nur begrenzt in der Lage gewesen, „sachverständig und souverän mit den schrift- und symbolgebundenen Informationssys‐ temen der umgebenden modernen Industriegesellschaft umzugehen“ (Seeber 2013b: 127). Ziegler et al. (2012) verdeutlichen, dass die Schriftsprache nach Schulaustritt, auch in der Berufsausbildung, zunehmend funktional verkürzt und instrumentalisiert wird. Dies kommt beispielsweise auch in der Bezeichnung des berufsübergreifenden Deutschunter‐ richts als Deutsch/ Kommunikation oder nur Kommunikation, wie es in einigen Bundeslän‐ dern zu finden ist, zum Ausdruck. Kritiker sehen darin eine unzulässige Fokussierung des Deutschunterrichts auf den Aspekt der beruflichen Kommunikation (Grundmann 2000, Hebel 2002). Korrespondierend zu den bereits referierten Ergebnissen der SAP fA-Studie, auch von Ziegler, Seeber usw., deuten eigene Untersuchungen (Hanisch & Heisler 2016) darauf hin, dass die schriftsprachlichen Anforderungen der Berufsausbildung oft geringer sind, als vermutet wird. Dies war Gegenstand der wissenschaftlichen Begleitforschung des Projekts AlphaQuali. Die Frage der Untersuchung war, ob die Rahmenbedingungen der Berufsaus‐ bildung bereits zu sekundärem Analphabetismus, d. h. zum Verlust schriftsprachlicher Kompetenzen führen. Dafür wurde zunächst untersucht, wie Auszubildende die Häufigkeit von Lese- und Schreibanlässen als Anforderung ihrer Ausbildung einschätzen. In Anleh‐ nung an die Befragung des PIAAC (Rammstedt 2013) sollten Auszubildende zur Einschät‐ zung schriftsprachlicher Anforderungen die Häufigkeit angeben, mit der sie mit Lese- und Schreibanlässen in der Ausbildung konfrontiert werden. Befragt wurden insgesamt 217 Auszubildende der Berufe Dachdecker, Estrichleger, Maurer, Rohrleitungsbauer, Holz‐ baumechaniker, Tischler, Straßenbauer, Fachverkäufer im Nahrungsmittelhandwerk, Bä‐ cker, Fleischer und Friseur. Die Ergebnisse der Befragung deuten insgesamt nicht darauf hin, dass während der Ausbildung prinzipiell weniger gelesen wird, vielmehr zeigen sie, dass sich die Spezifik und die Art der Texte, die gelesen werden, verändern. Die Ergebnisse zeigen, dass die Häufigkeit, mit der Auszubildende komplexe Fachtexte lesen, eher gering ist. Funktionale Texte, Di‐ agramme und Anleitungen werden hingegen häufiger gelesen. Demzufolge stellt die Fä‐ higkeit, abstrakte, bildhafte Darstellungen zu verstehen, eine spezifische berufliche Anfor‐ derung der untersuchten Berufe dar. Darüber hinaus wird deutlich, dass nur spezifische Schreibaufgaben wahrgenommen werden und dass die Häufigkeit wahrgenommener Schreibanlässe, insbesondere das Verfassen längerer, komplexer Texte im Verlauf der Aus‐ bildung abnimmt. Hier werden vor allem kurze Kommunikationstexte verfasst (vgl. Ha‐ nisch & Heisler 2016). 4. Fazit Der Beitrag verdeutlicht, dass funktionaler Analphabetismus in der beruflichen Bildung kaum relevant ist. Stattdessen werden vor allem die schriftsprachlichen Probleme Jugend‐ licher thematisiert, die ihnen den Zugang zur Ausbildung oder berufliche Lernprozesse 224 Dietmar Heisler & Jens Reißland erschweren. Dies wird vor allem im Kontext der Diskussionen zur Ausbildungsreife, im Rahmen der Inklusionsdebatte und der Flüchtlingskrise diskutiert. Damit wird z. B. die Notwendigkeit von DaZ/ DaF-Angeboten für Flüchtlinge und Menschen mit Migrations‐ hintergrund begründet. Dafür werden Fördermöglichkeiten und notwendige Förderansätze in der Berufsausbildung entwickelt. Gerade im Kontext der Flüchtlingsdebatte werden zwar einerseits die wirtschaftlichen Vorteile gesehen, die jedoch erst in den nächsten 20 Jahren und bei gelingender Integration von Flüchtlingen zum Tragen kommen, andererseits zeigen sich hier möglicherweise auch zunehmend die Gefahren der Überforderung des Berufsbil‐ dungssystems und seiner Akteure. Schriftsprachliche Defizite werden bislang vielmehr als Ergebnis fehlender Ausbildungs‐ reife diskutiert. Es ist fraglich, ob das Kriterium der schriftsprachlichen Fähigkeiten und seine Relevanz für die Berufsausbildung darin überbewertet werden. Es wird erwartet, dass alle Schulabsolventen ein konkretes Maß an literalen Fähigkeiten erworben haben. Die Fähigkeit zu lesen und vor allem zu schreiben wird als unbedingte Zugangsvoraussetzung zur Berufsausbildung und zu Beschäftigung betrachtet. Die dargestellten Befunde deuten aber darauf hin, dass insbesondere die Anforderungen an die Schreibfähigkeiten zu relati‐ vieren sind. Offensichtlich werden diese Fähigkeiten vielmehr als Bildungswert an sich gesehen. Berufliche Anforderungen werden generalisiert und es ist unklar, auf welchem Niveau die literalen Fähigkeiten zur Bewältigung beruflicher Anforderungen tatsächlich notwendig sind. Zwar stellt Analphabetismus ein Problem der Berufs- und Arbeitswelt dar. Für die Be‐ triebe ist das Thema funktionaler Analphabetismus dennoch kaum relevant, erst recht nicht im Kontext von Ausbildung. Zwar ist eine gewisse Sensibilität für dieses Problem und seine möglichen Folgen für betriebliche Leistungs- und Produktionsprozesse zu finden, dennoch wird die Verantwortung dafür, die Fähigkeiten zu verbessern und notwendige Förderan‐ gebote in Anspruch zu nehmen, den Betroffenen selbst oder anderen Lernorten, z. B. der Berufsschule, zugewiesen. Darüber hinaus zeigen sich hier die gut funktionierenden Se‐ lektionsmechanismen bei der Auswahl von Mitarbeitern und Auszubildenden. Dadurch werden Menschen beruflichen bzw. arbeitsweltlichen Positionen zugewiesen, an denen ihre schriftsprachlichen Defizite nicht von Bedeutung sind. Letztlich hat dies auch die Segmen‐ tierung der Berufs- und Arbeitswelt zur Folge. Literatur Anslinger, Eva/ Quante-Brandt, Eva (2013). Blockierte Zukunft? Eine qualitative Studie zur Selbstein‐ schätzung von Literalitätskompetenzen und Motivationslagen am Übergang Schule-Beruf. Münster: Waxmann. 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Einleitung Nachdem die Deutschdidaktik wie die Berufs- und Wirtschaftspädagogik im Kontext von Sprachförderung im Bereich der beruflichen Bildung spätestens seit der ersten PISA -Studie 2000 vornehmlich die Diagnose und Förderung von Lesekompetenz fokussiert haben, rü‐ cken in den letzten Jahren auch andere sprachliche Teilfertigkeiten in den Fokus der For‐ schung und Förderung, so etwa die Gesprächs- und die Schreibkompetenz (vgl. Efing 2015a: 8). Weniger im Blick liegen bislang quer zu den Teilfertigkeiten Lesen, Schreiben, Sprechen und Zuhören liegende Anforderungen und Kompetenzen wie die Förderung der Register‐ kompetenz (aber Efing 2014a) oder die Förderung des (Fach- und allgemeinen) Wort‐ schatzes, die partiell zusammenhängen, indem zum Beispiel bestimmter Wortschatz für bestimmte Register wie etwa die Fachsprache oder die Bildungssprache kennzeichnend ist (neben [morpho-]syntaktischen, textuellen und diskurspragmatischen Besonderheiten). Berufliches Sprachhandeln vollzieht sich in rekurrenten Kommunikationssituationen und -konstellationen. Zu deren erfolgreicher Bewältigung haben sich sprachliche Register herausgebildet, die von kompetenten Kommunikationspartnern erwartet werden und deren Beherrschung den Sprechern/ Schreibern die Integration in das Fach, den Beruf, das Unternehmen usw. gewährleistet (Efing 2014a, 2015b). So gilt als Fachmann/ -frau etwa nur der-/ diejenige, der/ die auch souverän die jeweilige(n) Fachsprache(n) beherrscht. Während die Fachsprache also Voraussetzung für die Integration in die Fachgemeinschaft ist, gibt es ein weiteres Register, das als entscheidend gilt für die Integration in das alltägliche beruf‐ liche Umfeld und den Betrieb: die Berufssprache. Für das Lernen im Unterricht und aus Texten gilt zudem die Kompetenz im Register der Bildungssprache als elementar. Der be‐ rufsschulische Deutsch- und generell Sprachunterricht (auch an den Vorgängerschulen im Sinne eines ausbildungsvorbereitenden Deutschunterrichts) muss es daher als eine primäre Aufgabe ansehen, die entsprechende Registerkompetenz bei den Auszubildenden zu för‐ dern, da sie aufs Engste mit ihrer beruflichen Identität und Integration verbunden ist - und da aktuelle Klagen (Grundmann 2007: 3) und Studien darauf hinweisen, dass die Register‐ kompetenz der Auszubildenden nicht in ausreichendem Maße gegeben ist: Bethscheider et al. (2016) wiesen zum Beispiel in einer Interviewstudie mit Ausbilde‐ rinnen und Ausbildern nach, dass das sprachliche Repertoire von Auszubildenden insofern ungenügend ausgeprägt ist, als diese nicht zwischen verschiedenen Registern wählen und sich demnach nur wenig differenziert und vor allem umgangssprachlich ausdrücken. Dies 1 Vgl. zum Folgenden Efing 2014a, 2015b. erschwere nicht nur Kundenkontakt, sondern potentiell auch die betriebsinterne Kommu‐ nikation, wenn etwa ältere Kollegen jugendsprachlich angesprochen würden. Es steht dabei noch aus detailliert zu untersuchen, ob die Auszubildenden in den be‐ treffenden Fällen tatsächlich nicht über das angemessene Register verfügen (können), ihnen also die sprachlichen Ressourcen fehlen, oder ob es vielmehr die Sprach(differenz)bewusst‐ heit ist, die den Auszubildenden fehlt - dass sie also nur nicht merken, dass bzw. wann und wem gegenüber es angemessen wäre, das Register zu wechseln, dass sie aber prinzipiell durchaus in der Lage wären, das Register zu wechseln (vgl. Efing 2016). Die Modellierung und Rolle solcher Register für die berufliche Kommunikation und damit für die Sprachförderung (Efing 2014a) geriet in den letzten Jahren im Rahmen von Sprachbedarfs- und Anforderungsermittlungen sowie im Rahmen der Modellierung von berufsweltbezogener kommunikativer Kompetenz (Efing 2015b) in den Blickpunkt, steckt aber noch in den Kinderschuhen: Dies bedeutet, dass zwar empirisch nachweisbar ist, welche sprachlichen Register in der beruflichen Kommunikation benötigt werden, dass die Diskussion, wie man diese Register fördern kann, aber noch ganz am Anfang steht (vgl. exemplarisch Pucciarelli i. D.). Es fehlt nicht nur an registerbezogenen Förderkonzepten für die berufliche Bildung, sondern auch an empirischen Daten zur Wirksamkeit der verein‐ zelten Förderansätze, die es zumindest für Fach- und Bildungssprache durchaus schon gibt, wenn auch selten in Bezug auf die berufliche Bildung. Immerhin gibt es mittlerweile Ver‐ suche, die Registerkompetenz bzw. Registersensibilität von Lerner in der beruflichen Bil‐ dung empirisch zu diagnostizieren (vgl. Bryant/ Pucciarelli i. D., die zeigen, dass es generell erst wenige Studien zur Registersensibilität von Kindern und Jugendlichen gibt und dass diese, sofern vorhanden, v. a. konzeptionelle Schriftlichkeit und Bildungssprache fokus‐ sieren). In diesem Beitrag wird eine theoretische Begründung sowie Legitimation dafür gegeben, warum Sprachförderung in der beruflichen Bildung auf die relevanten Register bezogen sein sollte. Im Anschluss wird kurz auf die Auswahl der zu fördernden Register sowie auf Möglichkeiten zu deren Förderung eingegangen. Im Mittelpunkt steht dabei das Register der Berufssprache. 2. Berufsweltbezogene kommunikative Kompetenz und die Rolle der Register hierfür 1 Die Ursache für die weitgehende Vernachlässigung der Kategorie „Register“ dürfte vor allem an zwei Gründen liegen: Einerseits wurde lange Zeit das Register der Fachsprache verabsolutiert, dessen Erlernen - so neuere Forschungserkenntnisse - offenbar für die Lerner gar kein so großes Problem darstellt; andererseits sind alle anderen in den letzten Jahren aufgekommenen Registerbezeichnungen (wie Bildungssprache, Berufssprache) noch wenig bis gar nicht theoretisch fundiert und terminologisiert. Selbst Arbeiten, die ausführ‐ lich eine theoretisch und didaktisch fundierte Auseinandersetzung mit verschiedenen be‐ rufsrelevanten Registerbegriffen angehen, kommen zu dem Ergebnis, dass „die Versuche einer Differenzierung nach Fach-, Berufs- und Alltagsprache als obsolet gelten können“ 230 Christian Efing (Kuhn 2007: 125), dass also die Registerkategorie und -frage für den berufsbezogenen (hier: Deutsch-als-Fremdsprach-Unterricht, aber verallgemeinerbar auf muttersprachlichen) Un‐ terricht irrelevant ist. Dabei scheinen Register(wahl)fragen zentral u. a. für Aspekte der Experten-Laien-Kommunikation und der Mehrfachadressierung in Diskursen und Texten, und auch muss die Registerkompetenz als essentieller Bestandteil der allgemeinen wie be‐ rufs(welt)bezogenen kommunikativen Kompetenz eines Individuums gelten (Efing 2014b). 2.1 Berufsweltbezogene kommunikative Kompetenz Unter arbeits- oder berufsweltbezogener kommunikativer Kompetenz kann in einer ersten Definition das Verfügen über die Fähigkeiten und Fertigkeiten verstanden werden, um den generellen, verallgemeinerbaren, fachunabhängigen kommunikativen Anforderungen (schriftlich wie mündlich, produktiv wie rezeptiv) in der Berufswelt gerecht werden zu können - den Anforderungen also, die als eine Art Schnittmenge aller/ vieler Berufe auf‐ gefasst werden können. Eine fachkommunikative, berufsspezifische kommunikative Kom‐ petenz ist dann also eine Spezifizierung der berufsweltbezogenen kommunikativen Kom‐ petenz in dem Bereich eines konkreten Faches/ Berufes, die einhergeht mit einer sprachlich-kommunikativen Spezifizierung, die nicht übertragbar ist auf andere Fächer/ Berufe. Berufsweltbezogene kommunikative Kompetenz basiert dabei selber auf allgem‐ einer kommunikativer Kompetenz und ist daher in Anlehnung an deren Modellierung (Efing 2014b) zu konzipieren und zu spezifizieren. D. h., es gelten die allgemeinen Beschrei‐ bungsebenen (Routine/ Flexibilität, Angemessenheit, Effizienz) und Teilkompetenzen (Sprachsystemkompetenz, soziolinguistische Kompetenz [Repertoire, Varietäten-, Regis‐ terbeherrschung und -bewusstheit, Fähigkeit zum flexiblen Code-Switching], pragmatische Kompetenz, Text-/ Diskurskompetenz sowie eine strategische und eine soziale/ soziokultu‐ relle Kompetenz) des Konzepts der kommunikativen Kompetenz auch im Rahmen der Be‐ rufswelt, die hier nur natürlich tendenziell anders parametrisiert werden (d. h., die Ange‐ messenheit bzgl. der Situation, Funktion und des Adressaten bezieht sich hier jeweils auf die berufliche(n) Domäne(n) und Handlungszusammenhänge). Zentral in unserem Zusammenhang hier ist die soziolinguistische Teilkompetenz, zu der u. a. die Registerkompetenz zählt. Registerkompetenz kann dabei definiert werden als die Befähigung zur flexiblen, bewussten oder bewusstseinsfähigen situationsadäquaten Ver‐ wendung verschiedener funktionaler Sprachvarianten auf Basis eines differenzierten Re‐ gisterrepertoires. Sie richtet sich auf den Teil des Repertoires eines Sprechers, der die situ‐ ations-, domänen- und textsortenabhängige funktionale Sprachvariation (variation according to use; z. B. intimes/ familiales, informell-öffentliches, formelles Register, Bil‐ dungssprache usw.) betrifft und sie ist als das produktive wie rezeptive Beherrschen und angemessene Verwenden sowie reflexive Hinterfragen und Bewerten verschiedener Re‐ gister zu beschreiben. Sprachliche Kompetenzerweiterung (etwa durch Sprachförderung) ist auf Registerdifferenzierung und damit auf den Ausbau der Registerkompetenz ausge‐ richtet. Die soziolinguistische bzw. Register-Kompetenz ist im Rahmen des Modells einer be‐ rufsweltbezogenen kommunikativen Kompetenz insofern zu spezifizieren, als in der Be‐ rufswelt ein ganz spezifisches, neues Registerrepertoire vonnöten ist, das im Alltag weit‐ 231 Registerbezogene Förderung der Sprachkompetenz in der beruflichen Bildung gehend irrelevant ist. Als die zentralen berufsrelevanten Register können dabei die Umgangs-, Bildungs-, Berufs- und Fachsprache gelten (Efing 2014b). Das Register der Fachsprache ist im Rahmen der Modellierung einer generell berufs‐ weltbezogenen kommunikativen Kompetenz weniger relevant, da spezifische Fachspra‐ chen kein Bestandteil dieses Modells sein können. Allerdings ist ein generelles Wissen um fachübergreifende fachsprachliche Spezifika (wie z. B. morphologische, syntaktische, tex‐ tuelle Spezifika wie für das Deutsche Mehrfachkomposita, Nominalisierungen, Nominalstil, unpersönlicher Passivstil, hohe Textkomprimierung …) sinnvollerweise bereits Teil einer fach- und berufsunspezifischen berufsweltbezogenen kommunikativen Kompetenz. Insbesondere das Register der Berufssprache jedoch scheint fach- und berufsübergreifend zentral und damit der Kern einer berufsweltbezogenen kommunikativen Kompetenz zu sein. Daher wird im Folgenden nach einer kurzen generellen Definition des Registerbegriffs erläutert, was unter Berufssprache zu verstehen ist. 2.2 Der Registerbegriff Register sind funktional gebunden an rekurrente Kommunikationssituationen, deren Rah‐ menbedingungen (Ort, Zeit, Umstände, Kommunikationspartner, institutionelle Zwecke, Medium) - spezifische (eigene) oder nur typische/ präferentiell (hochfrequente) - erwart‐ bare, konventionalisierte Formen des Sprachhandelns bedingen. Geht man davon aus, dass berufssprachliches Handeln immer unter institutionellen Bedingungen und zu institutio‐ nellen Zwecken in immer wiederkehrenden typischen Kommunikationssituationen und -Konstellationen (der Interaktionspartner und -rollen) stattfindet, dann ist davon auszu‐ gehen, dass sich für die funktionale Bewältigung dieser berufssprachlichen Aufgaben feste, ebenfalls wiederkehrende kommunikative Muster herausgebildet haben, die man der hier vorgenommenen Charakterisierung nach als Register bezeichnen kann und die ihren Nie‐ derschlag in Grammatik und Wortschatz ebenso wie in der pragmatischen Interaktionsor‐ ganisation finden. Register sind demnach zu beschreiben als „durch Rollen, Situation und Redegegenstand festgelegte konventionelle Gebrauchsmuster“ (Dittmar 2004: 217, 223). Es gibt einen weiteren Ansatz der Registereinteilung, der nicht aus dem anglo-amerika‐ nischen Raum stammt, sondern eher in der romanistischen Sprachwissenschaft verbreitet ist. Demnach werden als Register auch unterschiedliche, überindividuelle Stillagen wie beispielsweise ein intimes/ familiales, ein informell-öffentliches oder ein formelles Register unterschieden, wobei Fachsprachen dann oft als abstraktestes, komplexestes Register an‐ gesehen werden. 2.3 Das Register der Berufssprache Die sprachlichen Erscheinungsformen, die man in der beruflichen Kommunikation beo‐ bachtet hat und die zwar der Domäne Beruf zugeordnet, aber nicht als fachsprachlich in einem engeren Sinne klassifiziert werden, sondern eine gewisse Nähe zur alltäglichen Um‐ gangssprache/ gesprochenen Standardsprache aufweisen, werden mittlerweile seit einigen Jahren unter dem Begriff der Berufssprache subsummiert, auch wenn die Existenz eines eigenen Registers Berufssprache bisweilen abgestritten wird (vgl. etwa Braunert 2014). Dort, wo der Begriff dennoch Akzeptanz und Verwendung findet, suggeriert er bisweilen eine Einheitlichkeit, die in seiner Anwendung und Auslegung bislang nicht gegeben ist. Da das 232 Christian Efing Ansetzen eines Registers Berufssprache aber sinnvoll ist, soll im Folgenden der Vorschlag für eine heuristische Definition von Berufssprache gemacht werden. Eine empirisch fun‐ dierte Modellierung von Berufssprache steht hingegen weiterhin aus. Die Bandbreite der Definitionen und der Auslegung des Begriffs Berufssprache ist groß: Einerseits gibt es die Gruppe derjenigen, die von einer großen Nähe der Register Berufs- und Fachsprache ausgehen, auf eine terminologische Differenzierung verzichten und durch‐ gehend die summarische Paarformel „Berufs- und Fachsprache“ verwenden. Diejenigen, die eine große Nähe zwischen Fach- und Berufssprache postulieren, weisen beiden Regis‐ tern vergleichbare Funktionen zu (etwa Präzision, Eindeutigkeit, Explizitheit, Ökonomie) und sehen Berufssprache(n) als sehr spezialisiert und (berufs-, fachbzw. sogar be‐ triebs-)spezifisch an (daher auch die Verwendung der Pluralform). Demnach wäre(n) Be‐ rufssprache(n) im Prinzip nichts Anderes als (eine) Fachsprache(n) auf einem vertikal ge‐ sehen relativ niedrigen Abstraktionsniveau, vermutlich vergleichbar der/ den so genannten Werkstattsprache(n) im Sinne einer mündlich realisierten fachlichen Umgangssprache (im Vergleich etwa zu wissenschaftlichen Fachsprachen). Die fachlichen bzw. fachterminolo‐ gischen Aspekte rücken dabei auf diesem Registerniveau und aufgrund der Betriebsspezifik in die Nähe eines (betriebsspezifischen) bildhaften und deutlich mit Sozialfunktionen ver‐ sehenen Berufsjargons. Die „Gegenposition“ bezüglich der Modellierung der Berufssprache - dann tendenziell im Singular - vertritt eine breite, recht unspezifische Auffassung, sieht Berufssprache aber gleichzeitig als ein recht formelles, prestigeträchtiges Register (Braunert 2000: 156, 2014). Berufssprache wird hier als berufs(feld)übergreifendes Register in großer Nähe nicht nur zur schriftlichen Standardsprache (in beruflichen Kontexten), sondern auch zur Bildungs‐ sprache gesehen. Andere Autoren (Braunert 2014) verbinden mit Berufssprache tendenziell aber auch eher die mündliche Kommunikation am Arbeitsplatz. Braunert (2014: 49) definiert exemplarisch: „Als Sprache am Arbeitsplatz (‚Berufssprache‘) versteht man […] die Ge‐ samtheit aller sprachlichen Mittel zur persönlichen und sachlichen Integration in den Betrieb und ins betriebliche Umfeld, zur sprachlichen Sicherung der betrieblichen Funktionsüber‐ nahme.“ Hier und im Folgenden werden unter Berufssprache • die fach- und berufsübergreifenden, (überbetrieblich) konventionalisierten und funktional motivierten sprachlichen Parallelen in Lexik, Wortbildung (bspw. Ab‐ kürzungen, Kurzwörter, Kompositionen) und Syntax (Passivkonstruktionen …), • vergleichbare formelle Wendungen mit hoher Produktivität (Braunert 2000: 156) sowie vor allem • die gemeinsamen/ vergleichbaren sprachlichen Handlungsmuster und Mitteilungs‐ absichten ( ERKLÄREN , ANLEITEN , DEFINIEREN / BENENNEN , KLASSIFI‐ ZIEREN , UNTERSCHEIDEN , BEGRÜNDEN/ ARGUMENTIEREN, BE‐ SCHREIBEN, VERGLEICHEN, VERALLGEMEINERN, BILANZ ZIEHEN, TEXT E ZUSAMMENFASSEN/ BEWERTEN …, u. a. Braunert 2014) sowie • vergleichbare Textsorten sowie Darstellungs- und Kommunikationsformen (Bericht, Dokumentation, Tabellen, Formulare …) 233 Registerbezogene Förderung der Sprachkompetenz in der beruflichen Bildung subsumiert, die in vielen Berufen relevant und hochfrequent sind und damit berufswelt‐ bezogene, aber fachunspezifische Anforderungen darstellen und damit auch fachunspezi‐ fisch vermittelt werden können. Solche fach- und berufsfeldübergreifenden sprachlichen Parallelstrukturen jenseits des reinen Fachwortschatzes werden bisweilen auch heute noch unter dem Begriff der Fach‐ sprachen abgehandelt (Kuhn 2007: 112). Es wird hier jedoch dafür plädiert, sie sinnvoller dem Register der Berufssprache zuzuordnen, da sie in jedem Beruf vorkommen und Sprach‐ handlungen wie ERKLÄREN , ANWEISEN , BEGRÜNDEN und BESCHREIBEN alles an‐ dere als genuin fachlich sind, sondern generell relevant im Beruf. Diese „un-fach(sprach)liche“ Perspektive wird gestützt durch empirisch basierte Versuche, gene‐ rell berufliche Kommunikation am Arbeitsplatz einem begrenzten Set von berufs- und branchenübergreifend gültigen Sprachhandlungsfeldern als „Standard-Inventar der Kom‐ munikation am Arbeitsplatz“ in allen Berufen und Tätigkeitsfeldern zuzuweisen (etwa Braunert 2000: 158-160), die als wiederkehrende Mitteilungssituationen/ Sprachhandlungen wiederum die kommunikativen Anforderungen und damit die Auswahl an (vergleichbaren, wiederkehrenden) sprachlichen Mitteln steuern. Fassen wir zusammen: Berufssprache kommt medial mündlich wie schriftlich vor. Sie kann als eigenständiges, berufs(feld)übergreifendes Register auf einem Kontinuum zwi‐ schen Standard- und Fachsprache konzipiert werden, das im Bereich der Sprachhandlungs‐ muster große Schnittmengen mit der Bildungssprache hat; sie ist arbeitsbzw. be‐ rufs(welt)bezogener als die Standardsprache und konkreter praxisbzw. handlungsbezogen als Fachsprachen. Weder fachnoch berufs- oder betriebsspezifische Ausdrücke (im Sinne von Fachwortschatz und Berufsjargonismen) sind Bestandteil des Registers Berufssprache. Stattdessen ist es gekennzeichnet durch ein Set typischer berufsbezogener Sprachhand‐ lungen, Textsorten sowie Darstellungs- und Kommunikationsformen, die für zahlreiche Berufstätigkeiten als charakteristisch gelten können. Selbst fachunspezifisch und auf den Redemitteln der Allgemeinsprache basierend, kann Berufssprache dabei als eine Art Platt‐ form oder Ummantelung bzw. sprachliches Umfeld für die Verwendung verschiedener an‐ derer Register oder Varietäten gesehen werden, etwa für fachsprachliche und berufsspezi‐ fische Anteile, insbesondere Fachterminologie, oder Berufsjargonismen - so, wie in der Schule die Bildungssprache die sprachliche Ummantelung/ Hintergrundfolie bzw. die Platt‐ form für die Verwendung der Fachsprachen in den Sachfächern bildet. Das Ziel der Verwendung von Berufssprache ist die effektive, angemessene Kommuni‐ kation in beruflichen Kontexten, die nicht nur das berufliche (Sprach-)Handeln, sondern auch die soziale Integration des Sprechers in den Betrieb und das Arbeitsumfeld gewähr‐ leisten soll. Die Berufssprache, nicht die Fachsprache, ist das Register, in dem sich die be‐ rufliche Sprachhandlungskompetenz eines Individuums als „Bewältigung unterschiedli‐ cher sprachlicher und kultureller Anforderungen des Arbeitsalltags“ (Kuhn 2007: 118) zeigt; das Register der Berufssprache ermöglicht es demnach, im Beruf sprachlich zweckrational erfolgreich und angemessen handeln zu können - auch ohne zwangsläufig auf Fachsprache zurückzugreifen. Während (wechselnde, tendenziell aber sicherlich mehrere verschiedene) Fachsprachen in ganz bestimmten beruflichen Situationen sicherlich unerlässlich sind für eine präzise Verständigung und Wissensvermittlung, ist die Berufssprache das Register für generelle wiederkehrende berufliche Abläufe und Handlungen; während Fachsprache eng 234 Christian Efing an Fachleute gebunden ist und nur in deren Verwendung untereinander ihre volle Funktion und Semantik entfaltet, müssen Berufssprache alle Arbeitnehmer sprechen, die gemeinsam arbeiten, auch wenn sie - etwa bei Schnittstellenarbeiten zwischen Kollegen unterschied‐ licher Abteilungen und Fachgebiete, also außerhalb eines Faches bzw. über Fächergrenzen hinweg - nicht einem gemeinsamem Fach angehören. Während Fachsprache der Kommu‐ nikation über Fachinhalte, der Wissensaneignung und dem Wissensaustausch dient, hat Berufssprache eine stärker personen- und handlungsbezogene Ausrichtung (Braunert 2000: 162) und dient der Koordination von Arbeitsabläufen sowie generell „der betrieblichen Funktionsübernahme und der sozialen Integration ins Unternehmen (sprachliches Handeln, Interaktion in Situationen)“ (Braunert 2014: 66). Berufssprache umfasst damit die fachüber‐ greifenden Sprachhandlungen (und die damit verbundenen sprachlichen Mittel) im Sinne einer Schnittmenge allen beruflichen Handelns, die bereits in Form berufswelttypischer Handlungsfelder (bspw. Unterweisung, Sicherheit, [Störungen der] Arbeitsabläufe, Quali‐ tätskontrolle, Produktübergabe und Ausführung …; Braunert 2000: 158-160) gefasst wurden. 3. Zur Förderung berufsrelevanter Register 3.1 Welches Register im berufsbezogenen Deutschunterricht? Die Berufssprache ist das in doppelter Hinsicht zentrale berufsrelevante Register: einerseits aufgrund ihrer sprachlichen Mittelstellung (hinsichtlich der sprachlichen Besonderheiten) zwischen den drei Registern der Allgemein-, Berufs- und Bildungssprache, mit denen sie jeweils eine Schnittmenge bildet; andererseits aufgrund ihrer zentralen Relevanz und Funk‐ tion(-sbreite), weil eben mit der Berufssprache die meisten sprachlichen Anforderungssi‐ tuationen bewältigt werden können/ müssen. Die Schnittmenge von Berufs- und Allgemeinsprache besteht vor allem darin, dass die Allgemeinsprache - insbesondere in der mündlichen Kommunikation - die lexikalische und grammatische Basis für die Berufssprache bildet. Braunert (2000: 61) sieht die Schnitt‐ menge von Allgemein- und Berufssprache vor allem im „Bereich der zwischenmenschlichen [= sozialen] Kommunikation“; die Berufssprache diene aber gegenüber der Allgemein‐ sprache darüber hinaus vor allem der sachlich-funktionalen Kommunikation. Die Schnitt‐ menge von Berufs- und Fachsprache besteht v. a. in der Einbettung von Fachwortschatz in die berufssprachliche Kommunikation. Die Schnittmenge von Berufs- und Bildungssprache besteht einerseits in morphologischen und syntaktischen Gemeinsamkeiten im Bereich der konzeptionellen Schriftlichkeit, andererseits aber in deutlichen Parallelen in den Bereichen fachübergreifender Textmuster/ -sorten und Sprachhandlungen sowie sprachlich-kogni‐ tiver Operationen. Aufgrund des zentralen funktionalen Stellenwertes wie vor allem auch aufgrund dieser Vereinigung zentraler sprachlich-kommunikativer Merkmale auch anderer berufsrele‐ vanter Register - und nicht zuletzt aus unterrichtsökonomischen Erwägungen heraus - sollte die Berufssprache im Kern das zentrale im berufsbezogenen Deutschunterricht zu fördernde Register sein (vgl. schon Fluck (1992) und Becker/ Weber (1998)). Wenn das Ziel eines berufsbezogenen Deutschunterrichts die berufliche Handlungsfähigkeit ist, dann ist die Berufssprache als eine Art Interaktionssprache bzw. interaktionsorientiertes Register 235 Registerbezogene Förderung der Sprachkompetenz in der beruflichen Bildung in einem handlungsbezogenen Deutschunterricht deutlich wichtiger als die Fachsprache als ein stärker auf Wissensvermittlung/ -austausch und -erwerb ausgerichtetes Register. Und zudem unterstützt die Berufssprachen-bezogene Sprachförderung angesichts der Schnittmenge mit der Fachsprache gleichzeitig bereits „fachsprachlich geprägte Verste‐ hens- und Lernprozesse“ (Müller 1996: 15). Inwieweit die Bildungssprache ein eigenständiger Gegenstand eines berufsbezogenen Deutschunterrichts sein sollte, hängt stark von der (bildungs-)sprachlichen Vorbildung der Lernenden ab. Denn Bildungssprache ist bereits ein zentrales Register innerhalb der allge‐ meinbildenden Schulen. 3.2 Welche Ansätze, Themen und Methoden für den berufsbezogenen Deutschunterricht? In einem berufsbezogenen Deutschunterricht, der auf die Vermittlung der Berufssprache abzielt, sollte eine Form der berufsfeldübergreifenden Spracharbeit im Vordergrund stehen, während eine stärker fachsprachlich ausgerichtete Spracharbeit für Fortgeschrittene sinn‐ voller in Form eines Individualcoachings durchgeführt werden kann, das auch die Frage erübrigt, an welcher Fachsprache und an welcher Fachterminologie fachsprachliches Sprachhandeln eingeübt werden soll. Fragen der Registerwahl können und sollten jedoch mit dem Ziel der Sensibilisierung für Registerunterschiede und Fragen der Adressierungs‐ strategie sowie mit dem Ziel des Ausbaus des Registerrepertoires bereits im berufsbezo‐ genen Deutschunterricht angesprochen werden. Ein sinnvolles Aufgabenformat scheinen hierfür die von Roelcke (2010: 161) vorgeschlagenen „Vertikalisierungsübungen“ zu sein, „bei denen gegebene fachsprachliche Äußerungen [im Rahmen der vertikalen Gliederung von Fachsprachen] auf eine andere fachsprachliche Ebene übersetzt werden“. Analog hierzu ließen sich „Registerübertragungsübungen“ konzipieren, bei denen Lernende beispiels‐ weise Allgemein- oder Bildungsin Berufssprache übersetzen müssten und damit gleich‐ zeitig auf Formen der Experten-Laien-Kommunikation vorbereitet werden. Dabei muss be‐ achtet werden, dass Registerunterschiede aus mehr als nur Wortschatzunterschieden (bspw. Differenzierung von intra-, inter-, extra- und nichtfachlichem Wortschatz, Roelcke 2010: 60) bestehen und dass auch andere sprachliche Ebenen als die der Lexik verändert werden müssen. Vor dem Hintergrund der Konstruktion realer, arbeitsweltnaher/ -bezogener Hand‐ lungskontexte (etwa in Form von Szenarien) ließen sich so problemlos unterschiedliche alltägliche Kommunikationssituationen in berufliche Kommunikationssituationen trans‐ ferieren (z. B. eine Urlaubsreise planen => eine Geschäftsreise planen) und damit parallel die allgemeinsprachliche und berufsbezogene kommunikative Kompetenz fördern (vgl. Kuhn 2007: 132). Generell gilt hierbei, dass ein kontrastiver Ansatz (vgl. etwa Roelcke 2010: 170) hilfreich ist, der explizit die Registerunterschiede thematisiert. Vorhandene An‐ sätze zur Förderung einer allgemeinen Fachsprachenkompetenz (etwa Kniffka & Roelcke 2016; vgl. auch Efing/ Kiefer i. D.) können gleichfalls auf die Berufssprache übertragen werden. 236 Christian Efing Literatur Becker, Monika/ Weber, Hartmut (1998). Bedarfsanalysen für den berufsorientierten Fremdsprachen‐ unterricht: Ein text- und diskursbezogener Ansatz. 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Das hat in der Geschichte des Faches Deutsch an berufsbildenden Schulen, v. a. aber an Teilzeitberufs‐ schulen, zu einer steten Diskussion und wechselhaften Priorisierung von allgemeinbil‐ denden und berufsbezogenen Inhalten geführt. Zusätzliche Aufgaben, wie sie seit einiger Zeit vermehrt auf Teilzeitberufsschulen zukommen, führen zu einer (partiellen) Verdrän‐ gung des Literaturunterrichts in Teilzeitberufsschulen. So gibt es einerseits die Tendenz, im Basisbereich das Fach Deutsch in die Berufs-/ Lernfelder zu „integrieren“, was gleichbedeu‐ tend ist mit der Abschaffung des Literaturunterrichts, andererseits finden sich in neueren Lehrplänen Wahl(pflicht)module, die allgemeinbildend angelegt sind, der „Weiterentwick‐ lung der Persönlichkeit“ dienen und zum Mittleren Bildungsabschluss führen (für den li‐ terarische Kompetenzen in den deutschlandweit gültigen Bildungsstandards festge‐ schrieben sind). 1. Einführung/ Begriffsbestimmung Einen Beitrag zum Thema Literaturunterricht in der beruflichen Bildung mit dem Anspruch zu verbinden, universell oder zumindest regional Gültiges zu verfassen, muss scheitern, da institutionelle und kulturföderalistisch bedingte Unterschiede im Längswie auch im Quer‐ schnitt ein derartiges Unterfangen unmöglich machen. 1.1 Berufliche Schulen Der Titel des Lexikoneintrags könnte leicht zu der Annahme veranlassen, es sei ein Fach bzw. ein Teilbereich des Faches Deutsch, nämlich der Literaturunterricht, im Rahmen einer Schulform, zu charakterisieren. Im Hinblick auf die verschiedenen Arten des Deutschun‐ terrichts, und auch unter Berücksichtigung der Lehrerbildung im Bereich der beruflichen Schulen, muss aber zumindest gleich zu Beginn eine Einschränkung vorgenommen werden: 1.1.1 Die (Teilzeit-)Berufsschule im dualen System Wenn von „beruflichen Schulen“ die Rede ist, so sind hauptsächlich Teilzeit-Berufsschulen im Rahmen des dualen Systems gemeint, die von Auszubildenden meist nur einen oder al‐ lenfalls zwei Tage in der Woche besucht werden. Die Rahmenvereinbarung der KMK über die Berufsschule aus dem Jahr 2015 legt den Umfang des Unterrichts der Berufsschule in der dualen Berufsausbildung auf 12 Wochenstunden fest, wobei der berufsbezogene Un‐ terricht „in der Regel“ acht Wochenstunden umfasst ( KMK 2015: 4). Das bedeutet, dass für die allgemeinbildenden Fächer höchstens vier Stunden verbleiben und somit für den Lite‐ raturunterricht weniger als eine Stunde pro Woche zur Verfügung steht, es sei denn, es handelt sich um ein Berufsfeld, wo dieser zu den berufsbildenden Inhalten zählt (z. B. pub‐ lizistische Berufe, Bibliotheks-, Übersetzungs-, verwandte Wissenschaftsberufe usw.). In den Teilzeitberufsschulen unterrichten vielfach Lehrkräfte ohne Fakultas, also ohne das Fach Deutsch studiert zu haben, was eine einheitliche Aussage über d e n Literaturunterricht besonders schwer macht. Zudem steht der Deutschunterricht derzeit zusätzlichen Heraus‐ forderungen gegenüber. Jan Hendrik Boland (2005) unterteilt diese Schwierigkeiten für den Deutschunterricht an Berufsschulen in „institutionelle Schwierigkeiten“ (mangelnde per‐ sonelle Ausstattung; knappe zeitliche Ressourcen; dysfunktionale Unterrichtsorganisation; Legitimationsdruck gegenüber dualem Partner) und „pädagogische Schwierigkeiten“ (he‐ terogene Altersstruktur; unterschiedliche Sprachkenntnisse/ Mehrsprachigkeit; heterogene Vorbildung/ Eingangsvoraussetzungen) (vgl. auch Hummelsberger 2002: 52 f.). Erweisen diese sich als problematisch für den Deutschunterricht generell, so potenzieren sie sich für den Literaturunterricht, da u. a. nicht nur die Sprache selbst, sondern der unterschiedliche kulturelle Hintergrund und die heterogene Mediensozialisation dazu kommen. 1.1.2 Andere Formen beruflicher Schulen Die anderen beruflichen Schulen sind großenteils Vollzeitschulen, deren Fach Deutsch, und somit auch der Literaturunterricht, oft vergleichbar ist mit dem allgemeinbildender Schulen, z. B. in Bayern u. a. die Wirtschaftsschule, die sich an den allgemeinen Bildungs‐ standards im Fach Deutsch für den Mittleren Schulabschluss ( KMK 2003), und die FOS / BOS 13, die sich an den Bildungsstandards im Fach Deutsch für die Allgemeine Hochschulreife ( KMK 2012) orientieren. So kann die folgende Zusammenfassung nur einen Grobüberblick über ein für den einzelnen kaum überschaubares Feld darstellen, und Aussagen über den Literaturunterricht an be‐ ruflichen Schulen müssen stark vereinfacht werden, da das Berufsbildungssystem zu den komplexesten Themen unserer Bildungslandschaft zählt. 1.2 Deutschunterricht zwischen Berufsbildung und Allgemeinbildung Werner Wintersteiner schreibt zu Beginn des Jahrtausends im Zusammenhang mit dem Begriff der Berufsbildung: Der Begriff Bildung umfasst immer mehr als Ausbildung, er meint nicht bloß Qualifizierung für das Berufsleben, sondern Qualifizierung für das Leben. Damit ist sowohl die Meisterung des pri‐ vaten Lebens, der beruflichen Tätigkeit wie auch des Lebens in der gesellschaftlichen Öffentlich‐ keit gemeint - und vor allem: die Integration dieser drei Bereiche in der eigenen Persönlichkeit (Wintersteiner 2006). 240 Margit Riedel Aus diesen Worten ist eine Fokussierung auf die Schülerinnen und Schüler ablesbar, wie sie im beruflichen Bereich schon längere Zeit existiert, da - mehr als in anderen Schul‐ arten - pädagogische Überlegungen gegenüber ökonomischen verteidigt werden müssen. 2. Versuche zur Begründung einer eigenständigen Deutschdidaktik für berufsbildende Schulen 2.1 Historische Entwicklung Horst Ludwigsen verweist in seinem Standardwerk „Zur Geschichte des Deutschunter‐ richts im beruflichen Schulwesen“ darauf, dass es sich bei der Geschichte dieser Schulform um einen „relativ jungen Zweig der deutschen Schulgeschichte“ (Ludwigsen 1981: 10) han‐ delt. Von großer Bedeutung für die Gleichstellung der beruflichen Bildung mit der Allge‐ meinbildung ist Georg Kerschensteiner, der auch Vater der Berufsschule genannt wird. Lud‐ wigsen konstatiert allerdings, Kerschensteiner habe keinesfalls beabsichtigt, Literaturunterricht aus dem Berufsbildungsprogramm zu verbannen, vielmehr trete er mehrfach der rein fachlichen Berufsausbildung sogar entgegen, so beispielsweise, wenn er schreibt: Der Unterricht im Lesen hat in Verbindung mit der Bürgerkunde das Ziel, die sittliche und allge‐ meine Bildung des Schülers zu unterstützen und in ihm Freude und Geschmack an guten Erzeug‐ nissen der Literatur zu wecken. Auch dient er durch Behandlung geeigneter Lesestoffe der För‐ derung des allgemeinen Gewerbeunterrichts (Kerschensteiner zit. nach Ludwigsen 1981: 70). 2.2 Die spezifische Standortbestimmung des Literaturunterrichts an beruflichen Schulen Die Diskussion um den Literaturunterricht an berufsbildenden Schulen wird ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts von den Hauptprotagonisten Franz Hebel und Hilmar Grund‐ mann bestimmt, jedoch weist auch der Münchner Fachdidaktiker Karl Stocker in dem Auf‐ satz „Literarische Erziehung in beruflichen Schulen - weiterhin ein Stiefkind der Litera‐ turdidaktik? “ (Stocker 1981) in einem Lexikon zur Deutschdidaktik auf die stiefmütterliche Behandlung des Literaturunterrichts an beruflichen Schulen hin und der Appell "Kafka für Maurer? - Jawoll! “ (Drescher et al. 1979: 659) steht stellvertretend für den Diskurs vor der Jahrtausendwende. 2.2.1 Karl Stocker - Hinführung von Berufsschülerinnen und Berufsschülern zu kultureller Kompetenz Eine Erziehung „durch und für Literatur“ sei problematisch, wenn sie „lediglich der 'Affir‐ mation', der Sublimation, der Kompensation, der Tröstung“ (Stocker 1981: 233) dienen soll. Seiner Auffassung nach hätten die Berufsschülerinnen und Berufsschüler genauso wie an‐ dere Gleichaltrige einen Anspruch auf sprachliche Sensibilisierung durch aktuelle Literatur. Hier setzt sich Stocker schon sehr früh für einen erweiterten Literaturbegriff ein, der andere mediale Formen (zu Beginn der 1980er Jahre v. a. Hörfunk und Fernsehen) umfasst (Stocker 1981: 231). 241 Literaturunterricht an beruflichen Schulen 2.2.2 Hilmar Grundmann - Literaturunterricht zur Förderung multiperspektivischer Sicht auf die individuelle, berufliche und gesellschaftliche Lebenswelt Hilmar Grundmann geht davon aus, dass berufsspezifisches Wissen zu schnell veraltet und deshalb der Erwerb von Schlüsselqualifikationen wie Kommunikations-, Personal- und So‐ zialkompetenz maßgeblich mit dem Literaturunterricht gefördert werden könne und müsse. Die Berufsschülerinnen und Berufsschüler erführen in der Auseinandersetzung mit literarischen Texten eine multiperspektivische Sicht auf die individuelle, berufliche und gesellschaftliche Lebenswelt. Ästhetische Kompetenzen seien mit Blick auf die berufliche Handlungsfähigkeit notwendig (vgl. u. a. Grundmann 2001: 168 f.). 2.2.3 Franz Hebel - Themenorientierter Literaturunterricht als sanktionsfreier Raum möglichen Probehandelns Besonders Franz Hebel betont immer wieder den Wert des Literaturunterrichts für beruf‐ liche Schulen. Er vertritt die Auffassung, dass in einem berufsschulspezifischen Literatur‐ unterricht moralische und ästhetisch-kulturelle Lernerfahrungen ermöglicht werden müssen: Literatur als sanktionsfreier Raum möglichen Probehandelns bietet hier die Chance, im Wechsel von Identifikation und Reflexion, von Genuß und Anstrengung angstfrei zu lernen (Hebel o. J. zit. nach Ludwigsen 1981: 423). Die Beschäftigung mit Literatur im Deutschunterricht der Berufsschule ist sinnlos, wenn diese Literatur für Berufszwecke pragmatisiert wird, wofür es in der Tradition des Deutschunterrichts der Berufsschule sowohl mit Literatur der Arbeitswelt als auch mit der berühmten Kaufmannsli‐ teratur ärgerliche Beispiele gibt (Hebel 1983: 203). Stets setzt er sich für den Anspruch aller, besonders aber für den von Lernenden an be‐ rufsbildenden Schulen, ein, sich mit Literatur zu den wichtigsten gesellschaftlichen Themen befassen zu dürfen. Laut Hebel (1993: 54) sind das in den 90er Jahren die folgenden Themen: Der Widerspruch zwischen Wissen um die Benachteiligung von Frauen und Zweifel an der Be‐ rechtigung ihres Emanzipationsanspruchs; zwischen Politikverdrossenheit und Verweigerung tä‐ tigen Engagements; zwischen Wissen um die ökologische Krise und weiterer Umweltverschmut‐ zung, auch im persönlichen Bereich; zwischen Wissen um die Gefährdung durch Atomtechnik, Chemie und Gentechnik und dem Festhalten an Wachstumsförderung; zwischen Wissen um die Zerstörungspotentiale moderner Waffen und weiterer Rüstung, gerechtfertigt mit dem Arbeits‐ platzargument; zwischen Wissen um die Bezahlung unseres Wohlstands durch Menschen in der Dritten Welt und Abwehr von Wirtschaftsflüchtlingen; zwischen Wissen um die sozialökonomi‐ sche Gerechtigkeitslücke und dem Festhalten an eigenen Privilegien (Hebel 1993: 54). (Anm.: Heute würden vermutlich noch ein oder zwei Widersprüche hinzukommen, die mit der rasanten Entwicklung der digitalen Medien und den Herausforderungen der Integration bzw. In‐ klusion zu tun haben - ansonsten klingt seine Aufzählung ausgesprochen aktuell (außer vielleicht, dass der Begriff Dritte Welt nicht mehr akzeptiert würde).) 242 Margit Riedel 3. Gegenwärtige Strömungen der Literaturdidaktik Derzeit gibt es nur sehr wenige Überlegungen, die sich speziell mit dem Literaturunterricht an beruflichen Schulen befassen, deshalb muss auf allgemeinere Aussagen bzw. Ergebnisse aus früheren Forschungen mit ihren Auswirkungen auf heute zurückgegriffen werden. 3.1 Empirische Untersuchungen und Konsequenzen für den Literaturunterricht Schon lange vor den empirischen Datenerhebungen im Umfeld von PISA hat Horst Mitt‐ mann mit seinem fast 700 Seiten umfassenden Werk zu „Leseinteressen der Schüler an berufsbildenden Schulen - Ergebnisse einer Befragung und literaturdidaktische Folge‐ rungen“ (Mittmann 1981) eine großangelegte Untersuchung mit über 3.300 Probanden und Steilvorlage für Katz (1994) und Hummelsberger (2002) vorgelegt, die die Lesepräferenzen bei Berufsschülerinnen und Berufsschülern erforscht. Insgesamt lässt sich, so konstatiert auch Hummelsberger, eine „starke Abhängigkeit des Leseverhaltens von Geschlechtszu‐ gehörigkeit, Alter und Vorbildung sowie der beiden großen Berufsfelder kaufmännisch vs. gewerblich“ (Hummelsberger 2002: 96) feststellen - und daran hat sich bis heute wenig geändert. Hummelsberger schlägt nach Auswertung seiner Daten folgende Maßnahmen vor: 1. Die Textauswahl müsse sich an den kognitiven Fähigkeiten und dem Vorwissen der Schüler orientieren. 2. Bei sprachlich schwachen Schülern sei ein (kompensatorischer) Sprachunterricht vorzuschalten, der evtl. auf orale Traditionen zurückgreifen müsse. 3. Eine Verengung des Kanons sei zu vermeiden. 4. Wichtig seien unterschiedliche methodische Zugänge. 5. Die Leselust sei ausdrücklich zu betonen. 6. Der Unterschied von Fiktion und Realität sei bewusst zu machen. 7. Der Arbeit mit Filmen sei ein höherer Stellenwert beizumessen. (vgl. ebd. 2002: 352 f.). 3.2 Lesekompetenz vs. Literarische Kompetenz Auch die Diskussionen um Bildungsstandards und Kompetenzen sind ein weiterer Versuch, die Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung zu überwinden. „Damit ist das Be‐ mühen gemeint, nicht mehr von Bildung als höchstem Ziel aller schulischen Anstren‐ gungen zu sprechen, sondern von Kompetenzen“ (Grundmann 2010: 83). Um einer reinen Output-Orientierung entgegenzuwirken, werden dann aber von vielen Didaktikern diejenigen Fachkompetenzen betont, die über die Förderung der reinen Lese‐ kompetenz im Sinne einer reading literacy hinausgehen und die sich mit unterschiedlicher Gewichtung in allen literaturdidaktischen Modellen finden lassen, wie beispielsweise die ästhetische Wahrnehmung, die Imagination, die Kreativität und die Empathiefähigkeit (vgl. u. a. Leubner 2010: 33). Auch Hummelsberger unterscheidet in „Literaturunterricht und literarisches Verstehen bei Berufsschülern“ zwischen Lesefertigkeit, Lesekompetenz und literarischer Rezeptionskom‐ petenz (vgl. Hummelsberger 2002: 27-30) und zieht folgende didaktische Folgerungen aus 243 Literaturunterricht an beruflichen Schulen seiner empirischen Untersuchung. Zum einen müsse das Bewusstsein für Literarizität bzw. Poetizität erzeugt und vertieft werden. Zweitens sei es sinnvoll, an Berufsschulen Literatur außerhalb eines „klassischen“ Kanons zu thematisieren. Vielfältige Zugangswege, wie sie über die Vorschläge zu handlungs- und produktionsorientierten Verfahren immer wieder gefordert werden, seien die dritte wichtige Komponente, und zudem müssten Verständnis‐ schwierigkeiten angesprochen, literarische Texte als Möglichkeit der Identitätsentwicklung und der reflexiven Welterkenntnis genutzt und damit Leselust geweckt werden (vgl. Hum‐ melsberger 2002: 326-328). 3.3 Deutschdidaktik/ Literaturdidaktik als „Eingreifende Kulturwissenschaft“ - Erschließung neuer Inhalte Matthis Kepser misst der Literaturdidaktik eine wichtige Rolle bei, sie wirke in die Gesell‐ schaft hinein, indem sie Lehr- und Lernprozesse als kulturelle Handlungen kritisch reflek‐ tiere und kommentiere (Kepser 2013). Zu den weiteren Aufgaben gehöre das Generieren von Verbesserungs- und Veränderungsvorschlägen, z. B. das Generieren neuer Unterrichts‐ ideen oder das Erschließen neuer Gegenstandsbereiche, was z. B. im Bereich der Medien‐ berufe eine besondere Rolle im beruflichen Bereich spielt. 3.4 Interkultureller bzw. transkultureller Literaturunterricht (Wrobel/ Wintersteiner) In diesem Zusammenhang entsteht eine Diskussion darüber, ob es eines anderen Gegen‐ standes bedürfe oder ob Literaturunterricht an und für sich verschiedene Perspektiven er‐ öffne und dem kulturellen Austausch diene. Dieter Wrobel nennt (literarische) Texte per se „Mittler zwischen Kulturen“ (Wrobel 2006: 40). Diese Überlegungen unterstützt auch eine Konzeption von Literaturunterricht, die eng mit dem Namen Wintersteiner verbunden ist und sich mit seinem Begriff des transkulturellen Literaturunterrichts fassen lässt, der auf eine Betonung einer deutschen Leitkultur verzichtet und literarische Werke in geschicht‐ liche, gesellschaftliche, politische und soziale Zusammenhänge einbettet (vgl. Winter‐ steiner 2006). Hier sind auch für Berufsschulen besonders genderbedingte kulturelle Un‐ terschiede zu nennen, da beispielsweise in Erzieher- und Pflegeberufen seit jeher besonders häufig Frauen - und in letzter Zeit immer mehr ausländische Frauen - im Deutschunterricht mit entsprechender Literatur konfrontiert werden (vgl. Riedel 1996: 7 f., 159-166, 265 f.). 3.5 Literaturunterricht im Kontext einer medialen Erweiterung Seit den Veröffentlichungen von Karl Stocker steht es außer Frage, dass der Literaturun‐ terricht durch mediale Literaturformen erweitert werden muss, soll er an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler anknüpfen, an eine Lebenswelt, die oft nicht zuletzt eine Medienwelt ist. Das Konzept des medienintegrativen Deutschunterrichts ist eng mit dem Namen Jutta Wermke verbunden. Sie geht schon in den 90er Jahren davon aus, dass Bücher ihren Status als Leitmedien verloren haben. In Anknüpfung an ihr Konzept sind Einzel‐ vorschläge zum medienintegrativen Literaturunterricht an beruflichen Schulen immer wieder gemacht worden (vgl. u. a. Riedel 2015). Volker Frederking favorisiert den Begriff symmedialer Literaturunterricht, weil damit der Akzent auf dem Zusammenwachsen aller Medien in Computer, Tablets und Smartphones gelegt wird. 244 Margit Riedel 3.6 Verengung des Literaturunterrichts auf Methodik? In einem Interview des Fachdidaktikers Gerhard Rupp mit Franz Hebel im Jahr 2011 beklagt Hebel für das neue Jahrtausend eine „Verengung auf Methode anstatt die Möglichkeit der reflexiven Befreiung aus den Zwangsverhältnissen der Anpassung an die gesellschaftliche Wirklichkeit“ (Hebel 2011: 2). Dementsprechend sind die Konzeptionen, die in einführenden Werken zur Deutschdi‐ daktik (vgl. bspw. Hochstadt et al. 2013: 121-183) vorgestellt werden, stark methodenlastig und üben auf unterschiedliche Art und Weise Einfluss auf den Literaturunterricht an be‐ ruflichen Schulen aus. Neben der seit langer Zeit v. a. in der beruflichen Oberstufe ange‐ wandten Textanalyse stellen Hochstadt et al. den Handlungs- und Produktionsorientierten Literaturunterricht (ebd. 2013: 134-144) vor, der schon 1994 als methodische Alternative von den Herausgebern der Zeitschrift Praxis Deutsch systematisiert und in vier Kategorien unterteilt wurde: textproduktive Verfahren sowie szenische, visuelle und akustische Ge‐ staltungen. Diese sind v. a. populär, um auch Berufsschülerinnen und Berufsschülern aus literaturfernen Berufsfeldern einen Zugang zu literarischen Texten zu ermöglichen. Das Konzept der Handlungsorientierung knüpft ferner an die Vorstellungen Kerschensteiners und die der modernen Berufspädagogik an (vgl. Schelten 2010). Das Literarische Unter‐ richtsgespräch (ebd. 2013: 151-158) ist auf den ersten Blick nicht neu, versteht sich aber bei genauerem Hinsehen als Gegenentwurf zu dem traditionellen fragend-entwickelnden Un‐ terrichtsgespräch. Hierbei sieht man sich an Franz Hebel erinnert, der schon zu Beginn der 1980er Jahre fordert: Die Schüler sollen an ihren eigenen ersten Äußerungen sehen lernen, von welchen selbstver‐ ständlich gewordenen Voraussetzungen, von welchen Einstellungen und Vorurteilen sie ausge‐ gangen sind und wie diese durch den Text kritisiert werden. Sie erfahren auf diese Weise etwas über sich selbst und lernen, ihre Einstellungen und Denkweisen zu überprüfen […] (Hebel 1983: 181). 4. Der aktuelle Stellenwert des Literaturunterrichts, dargestellt anhand der „Rahmenvereinbarung über die Berufsschule“ (2015) und anhand von Auszügen aus Lehrplänen 4.1 Rahmenvereinbarungen über die Berufsschule - Beschluss der Kultusministerkonferenz von 2015 Im Sinne der Länderhoheit in bildungspolitischen Fragen wird der Anteil an allgemein‐ bildenden Inhalten in den deutschlandweit gültigen Richtlinien nicht festgelegt, sondern den Regelungen der Länder überlassen. Jedoch wird auf eine „berufsbezogene Erweiterung der vorher erworbenen allgemeinen Bildung“ der Berufsschülerinnen und Berufsschüler Wert gelegt ( KMK 2015: 4). Die Anforderungen der „Berufspraxis und Lebenswelt“ und eine „handlungsorientierte Didaktik und Methodik“ seien zu berücksichtigen ( KMK 2015: 3). 4.2 „Bildungsplan für die Berufsschule“ aus Baden Württemberg (LP BW 2016) In Baden-Württemberg wird dem Literaturunterricht an Berufsschulen noch ein relativ hoher Stellenwert eingeräumt. Es gibt an der Berufsschule noch eine Deutschprüfung mit 245 Literaturunterricht an beruflichen Schulen Anteilen von literarischen Texten und im Vorspann des Lehrplans zu Kompetenzbereich 5 „Literarische Texte und Medienprodukte“ ist zu lesen: Die Schülerinnen und Schüler erschließen und nutzen literarische Texte und Medienprodukte zu verschiedenen thematischen Schwerpunkten. Sie lernen die Bedeutung von fiktionalen Lebens‐ entwürfen kennen und reflektieren diese bezogen auf ihre private und berufliche Lebensgestal‐ tung; dabei wird das Leseinteresse geweckt, Kreativität angeregt und die interkulturelle Kompe‐ tenz gestärkt (LP BW 2016: 11). 4.3 „Lehrplan für die Berufsschule und Berufsfachschule“ aus Bayern (LP BY 2016) Der neue Berufsschul-Lehrplan in Bayern versucht einen Spagat zwischen der Integration der Basiskompetenzen des Faches Deutsch in den Fachunterricht (Stichworte: Berufs‐ sprache Deutsch/ Sprachsensibler Fachunterricht/ lernfeldstrukturierter Fachunterricht) und der Berücksichtigung von Allgemeinbildung und Literatur in verschiedenen medialen Formen im Wahlpflichtlehrplan (6 Module), aus dem pro Jahr ein Modul verpflichtend aus‐ gewählt werden muss. ( LP BY 2016: 3) Aus folgenden Wahlpflichtmodulen kann gewählt werden ( LP BY 2016: 56): • Umgang mit literarischen Texten (Epik, Lyrik, Dramatik) • Analyse, Nutzung, Produktion und Präsentation von Filmen • Kreatives Schreiben und Nutzung sprachlicher Gestaltungsmittel • Teilhabe am kulturellen Leben (Bildende Kunst, Musik und Theater) • Umgang und Kommunikation mit digitalen Medien • Interkulturelle Kommunikation und kulturelle Bildung 4.4 Lehrplan aus Brandenburg (LP Brandenburg 2014) In Brandenburg ist das Fach Deutsch bzw. Deutsch/ Kommunikation zwar noch ein eigen‐ ständiges Fach an der Berufsschule, die dreigliedrige Aufteilung bzw. Benennung der Kom‐ petenzbereiche (Kommunikation aufnehmen, gestalten und reflektieren, Texte verstehen, bewerten und nutzen, Texte schreiben, gestalten und überarbeiten) und die genauere Struktur zeigen allerdings, dass es hier um Texte der Gebrauchs- und Alltagssprache oder/ und mit engem beruflichen Bezug geht ( LP Brandenburg BS 2014: 11). Der Literatur wird hier kein Platz eingeräumt. 4.5 Lehrpläne anderer Bundesländer In anderen Bundesländern gibt es kein eigenes Fach Deutsch und somit auch keinen Lite‐ raturunterricht mehr. Deutsch besitzt hier ausschließlich dienende Funktion und ist in den Fachunterricht integriert. 5. Der Stellenwert der Literatur in Deutschlehrwerken Ein eigenes literarisches Lesebuch für Berufsschulen (vgl. Riedel 1993) war der Versuch, den Literaturunterricht aus seinem Schattendasein und vom (heimlichen) literarischen Kanon allgemeinbildender Schulen zu befreien. Es versuchte, mit aktuellen Texten an der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler anzuknüpfen. Doch die ausschließlich literale 246 Margit Riedel Ausrichtung konnte sich nicht durchsetzen. Vielmehr entstanden ab Mitte der 1990er Jahre Lehrwerke für Berufsschulen mit starkem Berufsbezug und vielen Bildern, in die literari‐ sche Texte mit thematischen Schwerpunkten integriert waren. Dabei schlagen die Auto‐ rinnen und Autoren nicht nur traditionelle kanonische Texte vor, sondern weisen zuneh‐ mend auf das Potential anderer medialer Texte und die geringere Komplexität von Jugendbüchern hin, von denen Auszüge - zum jeweiligen Kontext passend - einbezogen werden. Häufig sind die Aufgaben handlungs- und produktionsorientiert oder in Lernsi‐ tuationen eingebettet (vgl. Halbritter & Weidinger 1992, Fuchs et al. 2010) oder mit Pro‐ jektvorschlägen angereichert (vgl. Jahn et al. 2002). 6. Fazit Die Diskussionen um die sog. „Output“bzw. Kompetenz-Orientierung und zunehmende berufliche und mediale Anforderungen lassen befürchten, dass der Stellenwert des Litera‐ turunterrichts zehn Jahre nach Einführung des Lernfeldkonzepts durch die KMK weiter reduziert werden wird. Jedoch haben sich in einigen Lehrwerken und Lehrplänen für Be‐ rufsschulen diese Bedenken nicht bewahrheitet. So sollen zwar die sprachlich-kommuni‐ kativen und ästhetisch-kulturellen Inhalte integrativ in Verbindung mit berufsspezifischen Lernfeldern und anderen Fächern unterrichtet werden, der Anspruch beruflicher Schüle‐ rinnen und Schüler auf Literaturunterricht zur Ausbildung der Persönlichkeit und zur Ent‐ wicklung kultureller Kompetenz bleibt aber zumindest auf dem Papier erhalten. Literatur Boland, Jan Hendrik (2005). Spezifische Schwierigkeiten des Deutschunterrichts an der Berufsschule bei der Vermittlung von Schreibkompetenz. Abrufbar unter: http: / / www.linse.uni-due.de/ eselseminararbeiten/ articles/ spezifische-schwierigkeiten-des-deutschunterrichts-an-derberufsschule-bei-der-vermittlung-von-schreibkompetenz.html (Stand: 18/ 09/ 2018) Drescher, Klaus- Jürgen/ Fell, Günter/ Funnekötter, Franz (1979): Kafka für Maurer? Diskussion Deutsch 50, 647-659. Fuchs, Franz/ Gäng, Evi/ Hiebl, Walther/ Lehnert-Branz, Alexandra/ Nußbaumer, Klaus (Hrsg.) (2010). 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Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 37-52. 249 Literaturunterricht an beruflichen Schulen Poetry Slam im Deutschunterricht an Berufsschulen Alex Deppert 1. Poetry Slam: eine Veranstaltungsform Poetry Slam ist eine Veranstaltungsform, eine Bühne des gesprochenen Wortes, die 1986 von dem Bauarbeiter Marc Kelly Smith in Chicago ins Leben gerufen wurde (Smith & Kraynak 2004) und sich seitdem über die ganze Welt verbreitet hat. Bei einem Poetry Slam werden vor Publikum eigene Texte vorgetragen. Das können Gedichte, Kurzgeschichten sowie kurze Comedy- oder Kabarettstücke sein. Es gibt eine Zeitbegrenzung für die etwa acht bis zehn Vortragenden, szeneintern auch „Slammerin“ und „Slammer“ genannt, die unterschiedlich ausfällt: meistens zwischen 5 und 10 Minuten. Anschließend wählt das Publikum den „Champion“. Der Wettbewerb ist spielerisch. Entsprechend sind die Preise in der Regel eher Spaßpreise: ein Lorbeerkranz, ein Strauß Plastikblumen oder eine eher geringe Geldsumme. Verkleidungen oder Requisiten sind meistens nicht erlaubt. Zudem ist die Bewegungs‐ freiheit des Publikums ein Kennzeichen der Veranstaltungen: derweil ein Getränk zu be‐ stellen ist normal. Niemand zieht wegen einzelner Zwischenrufe aus dem Publikum die Augenbrauen hoch. Die ganze Atmosphäre ähnelt weit mehr derjenigen eines Popkonzerts als der einer klassischen Lesung. Poetry Slam ist aus dem kulturellen Angebot nicht mehr wegzudenken, vor allem in den USA , Deutschland und der Schweiz, aber auch andernorts, und das seit Jahrzehnten. Auch seine Anpassungsfähigkeit spricht dagegen, dass es sich um ein kurzlebiges Phänomen handelt: hier ist Raum für das, was Slammerinnen und Slammer aktuell präsentieren wollen; belohnt wird, was das Publikum aktuell hören will. Damit wäre die Veranstaltungsform eher mit Musikcharts vergleichbar als mit einem bestimmten Popmusik-Stil. Auch der spie‐ lerische Wettbewerbscharakter, die mit der Performance verbundene Show und die durch die Zeitbegrenzung bedingte Taktung auf die - ungefähre - Länge eines Popsongs sind Merkmale der Zugehörigkeit des Poetry Slam zur Alltagskultur der Gegenwart. Poetry Slam ist kein Qualitätssiegel, sondern ein lebendiges Forum. Ob Poetry Slam ins‐ gesamt dem Bereich der Literatur zuzuordnen ist, es sich um eine „literarische Bewegung“ handelt, ist umstritten (vgl. Wirag 2012). 1.1 Slam Poetry: ein literarischer Stil? Tonfall und Aktualität vieler der im Poetry Slam vorgetragenen Texte, auch „Slam Poetry“ genannt, sorgen dafür, dass sich viele Schülerinnen und Schüler davon angesprochen fühlen. Slam Poetry spiegelt oft Sichtweisen und Alltagssprache Jugendlicher wider. Das führt gelegentlich zu einer etwas vereinfachenden Zuordnung zur „Jugendkultur“ (vgl. Wirag 2012). Die mündliche Präsentation der Slam Poetry ohne unmittelbare Möglichkeit zum „Nach‐ lesen“ bringt oft eine direkte, unmittelbare Zugänglichkeit für ein „breiteres Publikum“ mit sich. Das unterscheidet sie tendenziell beispielsweise von einem Großteil zeitgenössischer Lyrik. Damit erfüllt Slam Poetry von den vielfältigen Funktionen der Literatur unter an‐ derem die, Gemeinsamkeit zu stiften - und sei es als Treffpunkt und Diskussionsplattform - sowie diejenigen zu Literatur (und Kleinkunst) hinzuführen, die auf anderen Wegen wenig Zugang zu ihr fänden. Slam Poetry sucht die Nähe zum Publikum und wird durch dessen Rückmeldung mit geformt. Manchmal führt der Namensbestandteil „Poetry“ zu falschen Erwartungen: Tatsächlich ist Lyrik im engeren Sinn im deutschsprachigen Raum auf Slambühnen eher in der Min‐ derheit. Und zur Poetik gehören auch Epik und Dramatik. Wegen der Zeitbegrenzung ist Slam Poetry bei aller Unterschiedlichkeit jedenfalls den kürzeren literarischen Formen zu‐ zuordnen. Für Slam Poetry als schulisches Thema bedeutet das, dass der Zeitaufwand den Notwendigkeiten des Unterrichts sehr flexibel angepasst werden kann. Der Formen‐ reichtum macht es zudem möglich, verschiedene literarische Textformen durch Slamtexte darzustellen. Hier sind Verbindungen und Vergleiche mit anderen Inhalten des Deutsch‐ unterrichts möglich, orientiert z. B. an den Grundbegriffen Lyrik, Epik - und Dramatik (Dialoge spielen in vielen Slamtexten eine große Rolle, außerdem gibt es Team-Perfor‐ mances). Dass Mischformen im Poetry Slam keine Seltenheit sind, ist dabei kein Hindernis. Anders (2016) führt als Charakteristika von Slam Poetry u. a. auf: Aktualität, Klanglich‐ keit (auch durch den Vortragsstil), Interaktion mit dem Publikum (u. a. gelegentlich durch animiertes Mitsprechen von Textteilen), Intertextualität (gegenseitige Einflüsse der Vor‐ tragenden werden u. a. sichtbar), Kürze. Diese Charakteristika lassen sich gehäuft be‐ obachten, es handelt sich jedoch nicht um Gesetzmäßigkeiten. Es ist im Gegenteil möglich, gerade für das Setzen eines anderen Akzents vom Publikum belohnt zu werden. Eine Ergänzung der Charakteristika von Anders, die eher an inhaltlichen Kriterien ori‐ entiert ist, ist die im Folgenden besprochene Unterscheidung der Texte anhand ihrer Ernst‐ haftigkeit bzw. des Einsatzes von Humor. Auch diesbezüglich steht eine große Bandbreite an Slam Poetry zur Verfügung. 1.2 Humor und Ernsthaftigkeit: inhaltliche Unterschiede Für den Einsatz komischer Texte im Unterricht lassen sich aus der Forschung zahlreiche Argumente ableiten, beispielsweise die Förderung der Aufmerksamkeit (vgl. Kassner 2002: 50) oder die Überwindung von Vermeidungsverhalten oder Müdigkeit (vgl. Klein 2004: 124). Bei der Betrachtung von komischen Texten sollte die Art des zutage tretenden Humors analysiert werden. Das Lachen über sich selbst wird in der Pädagogik über andere Formen der Komik gestellt. Es wird als Ausgangspunkt eines angemessenen Umgangs mit mensch‐ lichen Schwächen betrachtet. Auch die Frage, ob aus einer Position der Stärke oder der Schwäche heraus gespottet wird, spielt z. B. eine entscheidende Rolle. Spott über Personen, von denen man sich ernsthaft bedroht oder unterdrückt fühlt, hat einen anderen Charakter als solcher über Personen, die bereits am Boden liegen oder die in keinerlei real bedroh‐ 252 Alex Deppert lichem Verhältnis zu dem stehen, der spottet. Die Verdeutlichung solcher Unterschiede im Unterricht kann vorbereiten auf aktivierende Unterrichtsanteile und kreatives Schreiben - spätestens dann sollte die Lehrkraft mit Zensur und Zensuren möglichst zurückhaltend sein. Auch eine Anbindung an die große, bis in die Gegenwart reichende Tradition komischer, deutschsprachiger Literatur bietet sich an (vgl. Gernhardt & Zehrer 2006), verdeutlicht durch Namen wie Heine, Ringelnatz, Morgenstern, Kästner, Tucholsky, Gernhardt, aber auch Jandl und zahlreiche andere (vgl. Bal & Dreppec 2008). Die „ernsthaft-alltagsphilosophischen“ Texte handeln häufig von Themen, mit denen sich auch Jugendliche beschäftigen. Der Erfolg von Julia Engelmann und ihrer „Carpe Diem“-Thematik (vgl. etwa Riedel 2015), eher ein Internet-Phänomen als ein Slamphä‐ nomen im engeren Sinn, hat viele zum Slammen angeregt. Von universitären Philosophen ist wenig Verständnis zu erwarten, wenn einige dieser Texte „philosophisch“ genannt werden. Die Unbefangenheit, mit der dieses Thema, so wie auch andere ernsthafte Themen, etwa Liebe, Tod, Identität, oft in Kurztexten abgehandelt wird, kann jedoch auch eine Stärke sein, jedenfalls solange sich die Metaphorik von der eines Schlagertextes unterscheidet. Der Umgang mit ernsthaften Texten im Deutschunterricht ist alltäglicher als der mit komischen, weshalb dies hier nicht vertieft werden muss. Ein guter Poetry Slam zeichnet sich durch eine Vielfalt aus, die sich auch im Deutschunterricht widerspiegeln sollte. 1.3 Kriterien zur Auswahl Poetry Slam hat literarisch von der enormen Steigerung des Bekanntheitsgrades und der Verstärkung durch junge Kabarettisten nicht nur profitiert: Auch neue Slammer verzichten manchmal auf eigenständige Lösungen und bedienen sich bewährter Muster aus dem Be‐ reich Kabarett/ Comedy, mit denen ein breites Publikum angesprochen werden kann. Aber auch die Metaphorik der ernsteren Texte ist nicht immer originell (zur Unterscheidung konventioneller und weniger konventioneller Metaphern vgl. z. B. Deppert 2003). Die Qua‐ lität der Beiträge schwankt wie in jedem anderen Bereich der Kunst. Besonderer Erfolg ist dabei genau wie in anderen Bereichen populärer Kunst kein sicheres Indiz für künstlerische Qualität. Wie lässt sich diese finden? Lehrkräfte, die Slam Poetry im Unterricht präsentieren wollen, stehen z. B. auf den gängigen Internet-Videoplattformen einem sehr unübersicht‐ lichen Angebot gegenüber. Eine Auswahl von Texten findet sich in einigen Lehrwerken und z. B. bei Anders (2004, 2008, 2016). Aber auch ergänzende Tipps bleiben subjektiv (zu nennen wären hier etwa Michael Schönen, Timo Brunke, Theresa Hahl, Dalibor). Mittler‐ weile ist es in vielen Klassen möglich, Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Favoriten aus dem Bereich des Poetry Slam vorführen zu lassen. Mit Blick auf die anstehende Ermutigung zum Selbst-Schreiben sollte die Lehrkraft nicht allzu kritisch mit den so zutage tretenden Vorschlägen umgehen. Bei der Präsentation von Slam Poetry ist zudem das Medium zu beachten: es würde vielen Texten nicht gerecht werden, sie nur schriftlich zu präsentieren. Poetry Slam lebt stark durch die Live-Präsentation auf der Bühne. Für einige Slammerinnen und Slammer ist die Schriftform nachrangig, was man den Texten in Schriftform gelegentlich auch anmerkt. Am nächsten kommt dem Geist des Poetry Slam die Darbietung als Audio- oder Filmauf‐ nahme. Die zusätzliche Darbietung in Schriftform hilft freilich bei der Textbesprechung. 253 Poetry Slam im Deutschunterricht an Berufsschulen 2. Die Poetry-Slam-Schreibwerkstatt Slam Poetry hat in zwei Formen Einzug in die Schule genommen: in der oben beschriebenen, eher rezeptiven oder analytischen Form und als Workshop oder Schreibwerkstatt, bei der kreatives Schreiben und die Bühnendarbietung geübt werden. Im Folgenden wird das Kon‐ zept einer Poetry Slam-Schreibwerkstatt erläutert. 2.1 Ziele Einen lebendigen Zugang zur Literatur herzustellen, ist bei einer solchen Schreibwerkstatt das wesentliche Ziel. Schließlich wird nur ein Teil der Schülerinnen und Schüler, die Po‐ etry-Slam-Workshops absolvieren, selbst dauerhaft auf der Bühne aktiv bleiben. Das „Er‐ proben“ verschiedener Gattungen verspricht ein vertieftes Lernen: So stehen in der Unterrichtspraxis häufig das Reden über Texte und kreative Schreibübungen unverbunden nebeneinander. Dabei liegt jedoch in der Zusammenführung dieser beiden Teilbe‐ reiche ein Potenzial, das im Hinblick auf die Förderung des literarischen Verständnisses äußerst gewinnbringend sein kann (Stemmer-Rathenberg 2006: 44). Dahinter steht ein Konzept, dem zufolge die „literarische Differenzerfahrung“ neben der Eigenaktivität eine wesentliche Grundlage für vertieftes Lernen ist (vgl. Waldmann 2006). Das Gefühl für verschiedene Textformen sorgt beim kreativen Schreiben für eine differen‐ zierte Entwicklung der eigenen Ausdrucksmöglichkeiten. Weitere didaktische Ziele: Beim Diskutieren der Texte kann die Fähigkeit geschult werden, konstruktive Kritik zu äußern und mit dieser umzugehen. Das fällt bei frisch ge‐ schriebenen Texten leichter, weil die Schreibenden selbst noch offener mit diesen umgehen als mit bereits in den Workshop mitgebrachten Texten (was freilich trotzdem möglich bleiben sollte). Hinzu treten die Stärkung des Ausdrucksvermögens und die Möglichkeit, Erfahrenes kreativ aufzuarbeiten, außerdem Sicherheit und Selbstbewusstsein im öffentlichen Auf‐ treten. Letzteres kann erfahrungsgemäß die Hemmschwelle herabsetzen, sich im Unterricht vor einer Klasse zu äußern - im Vergleich zum Poetry Slam stellt diese dann offenbar ein „kleines Publikum“ dar. Das mit der „Schocktherapie“ eines Auftritts verbundene Risiko für introvertierte Schülerinnen und Schüler muss jedoch in einem längeren Prozess minimiert werden, in dem ein sicheres Umfeld positive Vorerfahrungen möglich macht. Erwähnt werden sollte aber auch die Gefahr, dass einzelne junge Künstlerinnen und Künstler im Rausch des schnell erreichbaren Applauses eines großen Publikums u. a. die Überzeugung erwerben, sich damit u. U. ohne weitere Bildung und Ausbildung einen Le‐ bensunterhalt verdienen zu können (was sich selten bewahrheitet). Darunter befinden sich auch einzelne, die in Schreibwerkstätten „Feuer gefangen haben“. 2.2 Wer führt eine solche Schreibwerkstatt durch und (wie) wird sie bewertet? Häufig werden aktive Slammerinnen und Slammer in Schulen eingeladen, um Workshops zu leiten, die zu einem Schul-Poetry Slam führen. Das ist eine sehr bewährte Herange‐ hensweise, beschränkt den Zugang aber oft auf Projektwochen und/ oder Zeiten, in denen „die Noten bereits gemacht sind“ und zeitliche Freiräume in den Schulen entstehen. 254 Alex Deppert So wie ein erfolgreicher Fußball-Trainer nicht (mehr) selbst Fußball spielen können muss, ist es nicht notwendig, dass eine Poetry-Slam-Schreibwerkstatt von Aktiven geleitet wird. Entscheidender ist die Frage, ob ein Wechsel vom gegebenenfalls „strengen Richter“ zum ermutigenden Trainer gelingt. Denn letzteres ist hier aus mehreren Gründen gefragt: Gerade Schülerinnen und Schüler, die durch LRS im regulären Deutschunterricht über einen langen Zeitraum Hemmungen erworben haben (und/ oder die umgekehrt durch diese Hemmungen LRS erworben haben), überraschen hier überzufällig häufig durch unerwar‐ tete Produktivität. Das mag damit zu tun haben, dass die Präsentation primär mündlich ist. Dies spricht dafür, im Rahmen von Poetry Slam-Schreibwerkstätten von Rechtschreibung und Zeichensetzung entweder vollkommen abzusehen oder sie deutlich herabzugewichten. Poetry Slam eignet sich zur Entwicklung einer intrinsischen Motivation, Schülerinnen und Schüler können „mit dem Virus des Schreibens“ infiziert werden. Was an Versprechen oder Drohung mit Noten verbunden ist, steht dem generell eher entgegen. Waldmann meint zur Benotung im Unterricht geschriebener Lyrik, dass „eigentlich überhaupt keine Noten gegeben und dass vor allem die einzelnen, mehr oder weniger eigenständigen lyrischen Produktionen der Schüler nicht benotet werden sollten“ (Waldmann 2006: 275). Zudem sei an Werders Definition des kreativen Schreibens erinnert: Kreatives Schreiben soll also das Schreiben genannt werden, das […] für den einzelnen eine Ent‐ faltung neuer Ausdrucksmöglichkeiten, Kommunikationsformen und neue Formen der Selbster‐ kenntnis mit sich bringt (von Werder 2001: 23). Das beinhaltet keine Qualitätsmaßstäbe im Sinne einer an Verlagspublikationen orientie‐ rten Literaturkritik. Wenn es notwendig ist, Noten zu machen, so gibt es hierfür jedoch andere Möglichkeiten: das Gesamt-Engagement kann bewertet werden, die Unterstützung anderer im Rahmen des Schreibprozesses, die Unterstützung eines Schul-Poetry-Slams. Slam Poetry eignet sich selbstverständlich auch als Grundlage für Klausuren. Wenn zuletzt, am Ende einer Schreib‐ werkstatt, eine kreative Schreibaufgabe den Katalog der Klausuraufgaben ergänzt, schadet das der intrinsischen Motivation vermutlich bedeutend weniger, als wenn von Anfang an die Bewertung durch die Lehrkraft Triebfeder oder Hemmung für das Schreiben ist. Aber nicht nur die Bewertung durch die Lehrkraft ist hier von Interesse. Die Abstimmung ist zwar sicherlich ein wichtiges Element des Einbezugs des Publikums beim Poetry Slam. Auf den Wettbewerbsaspekt des Poetry Slam kann trotzdem verzichtet werden. Man kann dies von der konkreten Lerngruppe und deren Wünschen abhängig machen und einzelne Vortragende auf Wunsch außerhalb des Wettbewerbs auftreten lassen. Standard sollte sein, dass die Moderation neutral ist und alle Vortragenden würdigt. Außerdem kann man mit Stimmzetteln abstimmen und nicht alle Ergebnisse bekannt geben (siehe 2.5.). 2.3 Ein Beispiel-Ablaufschema und Schreibübungen Die ersten beiden Punkte des folgenden, möglichen Ablaufschemas einer Schreibwerkstatt sind oben bereits erläutert: 1. Präsentation von Beispieltexten aus dem Bereich der Slam Poetry. 2. Diskussion/ Analyse der Beispieltexte, Vergleich mit anderen Texten. 3. An Merkmalen der Beispieltexte orientierte Schreibübungen. 255 Poetry Slam im Deutschunterricht an Berufsschulen 4. Beispiele für Schreibübungen finden sich unten. 5. Vortragen der Ergebnisse der Schreibübungen innerhalb der Schreibwerkstatt. 6. Konstruktive Kritik und gegebenenfalls Überarbeitung der Texte. 7. Übungen zur Performance mit den eigenen oder fremden Texten. Letzteres ist bereits an früherer Stelle möglich, was Vorteile haben kann, da solche Übungen Bewegung beinhalten und ein wenig Adrenalin freisetzen. 8. Schrittweise Verbesserung von Text und Performance in weiteren (Teil-) Präsenta‐ tionen bis hin zur öffentlichen Aufführung. Ein Beispiel-Arbeitsauftrag für einen kompletten Poetry Slam findet sich unten. Schreibübungen sollten als Anregungen dienen, eigenes Schreiben der Schülerinnen und Schüler in Gang bringen, und kein Pflichtprogramm darstellen. Wer den Übungen bei seinem kreativen Schreiben nicht folgen will, also beispielsweise eine Kurzgeschichte ver‐ fassen will, wenn die aktuelle Übung zum Reimen anregt, sollte das immer explizit dürfen. Wenn „alles“ möglich ist, scheinen jedoch manche Schülerinnen und Schüler nicht mehr recht zu wissen, welche Richtung sie einschlagen sollen. Deshalb ist der Verzicht auf Schreibübungen z. B. zum Reimen zugunsten völliger Freiheit nicht zu empfehlen. Diese Übungen haben auch den Zweck, sich bestimmte poetische Mittel anzueignen, über die man anschließend freier und eigenständiger verfügen kann und die innerhalb eines überschau‐ baren Zeitrahmens erste Erfolgserlebnisse ermöglichen. Anschließend empfiehlt sich bei längeren Schreibwerkstätten ein schrittweiser Übergang zu einem freieren Arbeiten. Die verfügbare Literatur bietet zahlreiche Schreibübungen, von denen nur wenige, etwa Elfchen oder Haikus, überhaupt nicht für eine Slam-Schreibwerkstatt geeignet sind. Aus Raumgründen finden sich hier nur einzelne Übungen, die in der gängigen Literatur (vgl. z. B. Leis 2006) so nicht vorkommen. 2.3.1 Schreibübung zur Lyrik: schnelles Reimen! Zur Unterstützung lassen sich hierbei „Reimzettel“ verwenden, die man aus elektronischen Reimlexika zusammenstellt und austeilt. Diese können beispielsweise alle Reime auf asse/ esse/ isse/ osse/ össe/ usse/ üsse enthalten, aber auch „benachbarte“ (as/ ass usw.). Die Lehrkraft sollte hier mit Material nicht sparen, da sich sonst die Resultate zunehmend ähneln. Grundsätzlich bzw. ergänzend ist auch die Nutzung von Online-Reimlexika wie z. B. http: / / www.2rhyme.ch/ möglich. Nonsens sollte hier explizit erlaubt sein. Der Reim hat mit anderen Merkmalen der lyri‐ schen Sprachoberfläche den Effekt der „Ideenmaschine“ (vgl. Thalmayr 2004) gemeinsam: die Klangassoziationen liefern inhaltliche Ideen, die ins Komisch-Surreale führen können. Leitner und Dreppec stellen fest, dass Klangassoziationen, zu denen der Reim zu zählen ist, inhaltliche Ideen liefern, die „quasi einen direkten Weg ‚von Kiel zum Nil’ bahnen“ (Leitner & Dreppec 2009: 27). Die Resultate sind entsprechend häufig der komischen Lyrik oder Un‐ sinnspoesie zuzuordnen, wofür sich auch Gernhardts Erklärung heranziehen lässt, der zu‐ folge das Reimen schon deshalb nicht frei von Komik sei, da es mit Sprache spiele und den Sinn einem sinnfreien „Selektionsprinzip unterwirft, dem, Worte mit gleichklingenden Be‐ standteilen zusammenzustellen“ (Gernhardt & Zehrer 2006: 11). Die Ergebnisse dieser Schreibübung können wahlweise auch gerappt werden. 256 Alex Deppert 2 Bei einem konkreten Ergebnis durchkreuzte der zweite Autor die Pläne des ersten zunächst dadurch, dass er dessen Ich-Erzähler an der falschen Haltestelle aussteigen ließ, dann Gott die Welt und sich selbst vernichten ließ sowie schließlich den Teufel den Himmel und sich selbst durch einen neuen Urknall vernichten ließ. Lakonische Antwort des Erstautors im letzten Durchgang war: „Ein paar Milliarden Jahre später wiederholte sich alles. Diesmal stieg Peter an der richtigen Bushaltestelle aus […]“. 2.3.1.1 Beispielergebnis Schüler Jan, stark von LRS betroffen, bringt erst nach mehreren Anläufen etwas zu Papier: „Ich sahse hier und Trank ein Bier/ boch das Bier war nicht mir/ es war dem Vampier […]/ boch es Schmeckte nicht, deswegen/ befleckte ich mich im Abendlicht/ Nach dem Zweiten Bier schmeckte es nach Altpapier“. Jan ist über den Applaus beim Vorlesen erstaunt. Hoch motiviert schreibt er mit Hilfe mehrerer Reimzettel weiter und erprobt in mehreren Zwei‐ zeilern seinen neu entdeckten Hang zum Surrealen („Der leichengestank kommt aus dem Klleiderschrank in der Samenbank“, „Ist das Rührei nicht rostfrei gerate ich in Raserei“, „In Dänemark gibt es einen Park da kauf ich meinen Gemüsequark“). 2.3.2 Prosa-Schreibübung: Pläne durchkreuzen! I. Jede/ r sucht sich einen Schreibpartner. Dann beginnt jede/ r zunächst alleine eine Geschichte, in der die Hauptfigur sich auf den Weg macht, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, bis zu dem ein gewisser Weg zurückzulegen ist. Dieses kann ganz alltäglich sein (Einkaufen, Schulbesuch). Der Beginn dieses Weges und das Ziel sollen beschrieben werden, das Ziel darf jedoch noch nicht erreicht werden. II. Auf Signal tauschen die beiden Schreibenden nach drei Minuten die Texte. Jeder soll nun den Text der/ des anderen weiterschreiben und die Pläne der Hauptfigur dabei mit allen Mitteln durchkreuzen. Die vom ursprünglichen Schreibenden gewählte Erzählperspektive sowie die Zeitform sollen möglichst bewahrt werden. III. Nach wiederum drei Minuten wird zurückgetauscht. Der/ die ursprüngliche Autor/ Autorin bringt seine/ ihre Hauptfigur nun wieder mit allen Mitteln dazu, das Ziel doch noch erreichen zu können. Es wird aber immer noch nicht erreicht. IV. Nach drei Minuten wird wieder getauscht. Jetzt soll der Hauptfigur des Schreib‐ partners das Erreichen des Ziels endgültig unmöglich gemacht werden. V. Nach dem folgenden, letzten Rücktausch schließt jede/ r nun die von ihr/ ihm selbst begonnene Geschichte mit einem „Happy End“ ab (Zeit je nach Bedarf). Die Ergebnisse der Übung entfalten vor allem dann ihr volles komisches Potenzial, wenn explizit alles erlaubt ist (Auferstehung, Fortsetzung im Himmel, Superhelden, Ufos, Zeit‐ maschinen) 2 . Aber auch ernste Aspekte wie innere Zerrissenheit, Desorientierung und das Durchhalten gegen scheinbar übermächtige Widerstände klingen an. Eine einfache Performance-Gestaltung ist hier, die Texte von beiden Schreibenden laut vorlesen zu lassen, wobei sie sich jeweils den Text an den passenden Stellen „entwinden“. Es empfiehlt sich, vorher eine Kopie zu machen. Nach meiner Erfahrung ist den Schreibenden bewusst, dass nicht ihre eigenen Pläne durchkreuzt werden, sondern diejenigen ihrer Hauptfigur. Häufig „trauen“ sich die Schreib‐ enden mehr, wenn sie sich gut kennen und mögen. 257 Poetry Slam im Deutschunterricht an Berufsschulen 2.3.3 Herstellen eines beruflichen Bezugs Berufliche Erfahrungen und Erwartungen zu Beruf und Ausbildung können leicht zum Gegenstand des kreativen Schreibens gemacht werden. Das lässt sich gegebenenfalls in fachübergreifenden Absprachen konkretisieren - z. B. kann in komischen Gedichten die Arbeitssicherheit thematisiert werden bzw. drastisch vor möglichen Unfällen gewarnt werden. Zudem können Schreibübungen thematisch ausgerichtet werden, das Ziel der obigen Prosa-Schreibübung kann aus dem beruflichen Bereich stammen, Reimzettel können aus Listen von Wörtern bestehen, die sich auf Wörter aus dem beruflichen Bereich reimen. Hier ein Auszug aus der „Hymne auf die Pizza“ der in anderen Fächern mit der Thematik konfrontierten Hauswirtschaftsschülerin Bushra: Pizza ist mein Leckerbissen, ohne Pizza fühl ich mich beschissen. / …/ Weil ich sie mit Champignons als Belag vertrag schlag ich den ganzen Tag durch./ Am besten gehe ich zum Schnellimbiss,/ denn dort bekomme ich ein Pizzagebiss./ Dieser Genuss erinnert mich an mein Schulabschluss der di‐ reckt das perfekte Projekt war. 2.4 Der Auftritt, die „Performance“ Bei der Performance wird am ehesten der Rahmen dessen überschritten, was im Deutsch‐ unterricht üblicherweise stattfindet. Das legt nahe, sich speziell an dieser Stelle professio‐ nelle Verstärkung zu holen. Ist das nicht möglich oder erwünscht, führt auch die gezielte Betrachtung z. B. von Poetry Slam-Videoaufnahmen mit Blick auf Mimik, Gestik und stimmliche Gestaltung weiter. Die Einteilung stimmlicher Variationen in Kategorien hilft, präzisere Aussagen zu machen als die, dass jemand „gut betont“. Mögliche Kategorien sind z. B.: Lautstärke, Tempo (auch: Pausen), Rhythmus, Sprachmelodie, Stimmlage, Stimmfarbe (krächzen, pressen, flüstern, schreien, letztere auch unabhängig von der damit verbundenen Lautstärke), zudem Akzent und Dialekt. Nach Einführung solcher Kategorien können Video- und Audiobeispiele besser analysiert werden. Fast alle Mittel wendet z. B. Grohacke in „Ballonfahrer Jean und Flieger-Horst“ an (Grohacke 2013) - bei ernsthaften Texten emp‐ fiehlt sich freilich ein dezenterer, zur vortragenden Person passender Einsatz. Auch die eigene stimmliche Gestaltung gelingt im Anschluss an die skizzierte Vorge‐ hensweise besser. Wie diese Mittel den Höreindruck beeinflussen, kann man erfahrbar machen, indem man einfache Sätze unterschiedlich betonen lässt (z. B. „Schön, dass Du endlich kommst“). Für Mimik, Gestik und Körpersprache lassen sich Übungen aus dem Bereich des Theaters einsetzen (siehe auch Molcho 1983). Zuletzt sollte der Einsatz eines Mikrofons geübt werden - wegen des Abstandes zum Mund, aber auch z. B., weil beide Hände für das Ges‐ tikulieren nur dann frei sind, wenn Mikrofonständer und Pult/ Notenständer eingesetzt werden (Neulinge sollten ihre Texte unmittelbar greifbar haben, auch wenn sie sie aus‐ wendig gelernt haben). 2.5 Arbeitsauftrag: Führen Sie einen Poetry Slam durch! Was braucht man für einen Poetry Slam? 1. Eigene Texte. Wählen Sie aus, was Ihnen am besten gefällt und üben Sie den Vortrag! 258 Alex Deppert 2. Man braucht genug Mitstreiter, also Leute, die mit eigenen Texten auftreten wollen. Messen Sie probeweise die Zeit, die Ihr Slam insgesamt ungefähr dauert. 10 Minuten sind bei einem Schulfest vielleicht schon genug für einen kleinen Slam. Wenn das Publikum aber an einem Abend extra kommt, braucht man mehr Slammerinnen und Slammer, mehr Texte und vielleicht noch etwas Anderes, das auf der Bühne ge‐ schehen kann. 3. Einen Moderator oder eine Moderatorin, der/ die die Vortragenden positiv ansagt und für gute Stimmung sorgt (und selbst nicht am Wettbewerb teilnimmt). 4. Eine Zeitbegrenzung und eine Person, die die Zeit misst (das ist nicht unbedingt nötig, wenn man vorher weiß, was gelesen wird). 5. Man kann auf verschiedene Art abstimmen, z. B.: - mit Stimmzetteln. Sie auszuzählen dauert bei mehr als 100 Personen mehrere Minuten und man braucht dafür Helferinnen oder Helfer. Dafür wird aber auch niemand „blamiert“, denn es muss bekannt gegeben werden, wer gewonnen hat und nicht, wer genau wie viele Stimmen bekommen hat. Es gibt einen ersten Platz, alle anderen sind Zweite! - mit Applaus-Lautstärke (Achtung! Fragen Sie mehrere neutrale Personen im Raum nach deren Eindruck: Welcher Applaus war lauter? ), - mit Wertungstafeln wie beim Eiskunstlauf, die an einzelne, neutrale Personen im Publikum oder Grüppchen verteilt werden. 6. Ein Publikum. Für einen kleinen Slam langt die eigene Klasse, mehr Spaß macht es aber, wenn mindestens noch 1-2 weitere Klassen dazu kommen. Plakate und Flyer (kleine Reklame-Zettel) können helfen, vielleicht hat sogar eine regionale Zeitung Interesse? Es kommt drauf an, wie groß Sie Ihren Slam machen wollen. Wer entwirft die Flyer, die Plakate, wie werden sie vervielfältigt, wie verteilt, wer kontaktiert die Presse? Verteilen Sie die Aufgaben! Natürlich kann man die Texte auch kopieren und einen Reader daraus machen. Weitere Ideen zu „Medien rund um den Poetry Slam“, z. B. das Drehen von Poetry Clips, stellt z. B. Anders (2016) dar. 3. Ausblick: Science Slam Die Grundidee des Slam, in ähnlicher Form vielleicht so alt wie die Menschheit selbst, wurde auf zahlreiche Bereiche übertragen. So gibt es Song-Slams, Kurzfilm-Slams usw. Weniger erwartungsgemäß ist da vielleicht der Erfolg der Kombination zweier divergent erschein‐ ender Elemente, die sich seit 2006 ausgehend von Darmstadt weltweit ausbreitet und bis zu 2000 Zuschauer und mehr anlockt: der Science Slam, bei dem wissenschaftliche Themen in Slam-Atmosphäre mit Zeitbegrenzung auf die Bühne gebracht werden, außerhalb des schulischen Bereichs idealerweise eigene Forschung. Hilfsmittel wie Power Point sind er‐ laubt. Die Themen werden nicht literarisch aufbereitet; wie sich beobachten lässt, sind aber auch im Science Slam originelle Metaphern ein Mittel zum Erfolg. Verwendet werden sie hier jedoch zur Überbrückung der Lücke zwischen dem, was dem interessierten Laienpub‐ likum an fachspezifischem Vorwissen fehlt, und dem, was erklärt werden soll. Dabei ver‐ wenden manche Science Slammer durchgängig eine Metapher (Lampe 2010), andere reihen 259 Poetry Slam im Deutschunterricht an Berufsschulen zahlreiche bildhafte Vergleiche aneinander (Lemmer 2011). Schon jetzt können Science Slams an Schulen veranstaltet werden und vorhandene Vorträge u. a. zur Vorbereitung da‐ rauf genutzt werden. Eine systematische Analyse des möglichen Nutzens des Science Slams für Schulen steht aber noch aus. Literatur Anders, Petra (2004). Poetry Slam. Live-Poeten in Dichterschlachten. Mülheim an der Ruhr: Verlag an der Ruhr. Anders, Petra (Hrsg.) (2008). Slam Poetry. Texte und Materialien für den Unterricht. Stuttgart: Reclam. Anders, Petra (2016). Poetry Slam. Unterricht, Workshops, Texte und Medien. Deutschdidaktik aktuell. Baltmansweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Bal, Patrick/ Dreppec, Alex (2008): Schreib mit der Tinte, in der Du sitzt. Praxis Deutsch 208, 29-35. Deppert, Alex (2003). Die Wahl der Metaphern. metaphorik.de 05/ 2003. Abrufbar unter: http: / / www.metaphorik.de/ sites/ www.metaphorik.de/ files/ journal-pdf/ 05_2003_deppert.pdf (Stand: 18/ 09/ 2018) Gernhardt, Robert/ Zehrer, Klaus Cäsar (Hrsg.) (2006). 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Begründet wird dieses Desiderat - erstens - damit, dass man über Aspekte von Mündlichkeit insgesamt zu wenig weiß bzw. dass Gesprächskompetenz zu‐ nächst kein Gegenstand der Gesprächslinguistik gewesen ist (vgl. Deppermann 2004: 17). Ein zweites Problem hat etwas mit dem Gegenstand zu tun: Gespräche sind personenüber‐ greifende Prozesse, Kompetenz ist hingegen ein personenbezogenes Konzept (vgl. Quast‐ hoff 2009: 85). Um dieses Problem zu lösen, bezieht man sich mit dem Begriff auf solche Aspekte von Sprachkompetenz, die die Interaktanten anteilig in der jeweiligen Gesprächs‐ situation vollbringen. Es wird also ein Ableitungszusammenhang unterstellt, wonach sich die Anforderungen aus der jeweiligen Situation herleiten, die wiederum nur bewältigt werden können, wenn Kompetenz vorhanden ist (Becker-Mrotzek 2009: 66). Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden zunächst Konzeptionen zu Strukturen und Dimensionen von Gesprächskompetenzen und typische Anforderungssituationen be‐ ruflicher Bildung benannt, in denen Diagnosen bedeutsam sind. Vor diesem Hintergrund werden dann Verfahren und Instrumente der Diagnose diskutiert und kritisch beleuchtet. 1. Gesprächskompetenz 1.1 Aspekte von Gesprächskompetenz Gesprächskompetenz wird in der Regel als ein komplexes Konstrukt angesehen. Im Allge‐ meinen geht es um die Fähigkeit, Gespräche als übergeordnete Klasse medial-mündlicher Handlungskomplexe gemeinsam oder in Konkurrenz zu anderen bewältigen zu können (Krelle 2013: 311). Eine prominente Definition stammt von Hartung (2004: 50). Gesprächs‐ kompetenz sei, „zu einem beliebigen Zeitpunkt in einem Gespräch • zu einer angemessenen Einschätzung der aktuellen Situation und der lokalen Er‐ wartungen der Gesprächspartner zu kommen, • vor dem Hintergrund dieser Einschätzung eine den eigenen Interessen und den ei‐ genen Ausdrucksmöglichkeiten angemessene Reaktion mit hoher Erfolgswahr‐ scheinlichkeit zu finden und • diese Reaktion der eigenen Absicht entsprechend körperlich, stimmlich und sprach‐ lich adäquat zum Ausdruck zu bringen.“ (Ebd.) Mitunter wird in diesem Kontext auch von „mündlicher Kommunikationskompetenz“ ge‐ sprochen (z. B. Becker-Mrotzek 2009, Quasthoff 2009). Kritisch an Hartungs Position ist, dass es schwierig sein dürfte, eine den „eigenen Ausdrucksmöglichkeiten angemessene Reaktion mit hoher Erfolgswahrscheinlichkeit zu finden“, wenn „Erfolg“ - um in Hartungs Terminologie zu bleiben - zumindest in Gesprächsformen mit zwei und mehr Interaktanten kaum einer einzelnen Sprecherin bzw. einem einzelnen Sprecher zuzuschreiben ist (Krelle 2014: 43). Vor diesem Hintergrund sind mehrere Arbeiten erschienen (u. a. von Grundler 2008, Quasthoff 2009, Becker-Mrotzek 2009), in denen Teilkompetenzen bzw. Aspekte von Ge‐ sprächskompetenz beschrieben sind. Grundler (2008) schreibt in diesem Kontext: Momentan entstehen unterschiedlich offene Listen, in denen Aspekte mündlicher Kompetenzen aufgeführt sind. Die Listen sind stets durch weitere Teilkompetenzen erweiterbar. Dies erscheint einerseits sympathisch, pragmatisch und im Sinne einer konstruktivistischen Suchbewegung sinn‐ voll. Andererseits fehlt eine sprachtheoretisch fundierte Konstruktion, die ausdifferenzierte Ein‐ zelformulierungen einfach ordnen kann. (ebd.: 49) Ein Vergleich der Ansätze zeigt allerdings, dass die meisten Autorinnen und Autoren - je nach theoretischem Hintergrund - folgende Aspekte bzw. Dimensionen von Gesprächs‐ kompetenz aufführen, die sich auch als Fragen formulieren und in Kriterien überführen lassen (vgl. Krelle 2014: 44): Können die jeweiligen Aktanten • ein Thema bzw. einen Inhalt verarbeiten und verstehen? • die Gesprächs- und Handlungsmuster produzieren und verstehen? • die sprachlichen Formulierungsverfahren angemessen einsetzen und verstehen? • eine entsprechende Identität bzw. ein Image und die Beziehung gestalten und in‐ terpretieren? • durch para- und nonverbale Mittel unterstützen und ebensolche Mittel anderer Ge‐ sprächsteilnehmer deuten? Es ist offensichtlich, dass je nach Anforderungssituation die einzelnen Dimensionen un‐ terschiedlich bedeutsam sind. Sie werden von gesellschaftlich tradierten Normalformen bestimmt, die mehr oder weniger stark ritualisiert sind: Man erwartet etwa im Kassenbe‐ reich des Einzelhandels zwischen Mitarbeitern und Kunden andere sprachliche Formulie‐ rungsverfahren als in einem Beratungsgespräch oder einem Verkaufsgespräch, was natür‐ lich eng mit den jeweiligen Rollenerwartungen zu tun hat. 1.2 Anforderungssituationen Mit Blick auf die Anforderungssituation kann zunächst - erstens - nach der Anzahl der Personen und dem Planungsgrad unterschieden werden: In Zwei- oder Mehrpersonenge‐ sprächen verfolgen mehrere Sprecherinnen und Sprecher kommunikative Ziele durch wechselseitige Beiträge, z. B. in Teamsitzungen, Kundengesprächen etc. Solche Gespräche verlaufen ein Stück weit ungeplant, wobei es je nach Gesprächstyp auch erwartbare Ge‐ 266 Michael Krelle sprächsprozesse gibt, die mehr oder weniger zu antizipieren sind. Mit Blick auf das Argu‐ mentieren und Beraten in Gartencenter-Verkaufsgesprächen hat das z. B. Weber (2009b) herausgearbeitet. Davon zu unterscheiden sind Situationen, in denen man eine exponierte Gelegenheit zum Sprechen hat (z. B. im Rahmen von Kundenpräsentationen). Das Rederecht verbleibt (geplant) für einen gewissen Zeitraum bei der Sprecherin bzw. beim Sprecher. Die Beiträge sind häufig vorbereitet, geplant und für die Zuhörerinnen und Zuhörer vorstruk‐ turiert: Selbstverständlich sind auch solche Kommunikationssituationen in gewisser Weise interaktiv, wenn nämlich Anwesende ihr Verstehen, Interesse etc. signalisieren oder eben auch nicht. Die Anforderungssituationen sind darüber hinaus auch - zweitens - nach firmenex‐ terner und -interner Kommunikation zu unterscheiden. Zu den externen Kommunikati‐ onspartnern zählen etwa Kunden, Vertragspartner und Dienstleister, Kooperationspartner etc. Die Kommunikationsstrukturen sind stark abhängig von der jeweiligen Unterneh‐ mensbranche, der konkreten Struktur im Unternehmen und den jeweiligen Beziehungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es macht etwa einen Unterschied, ob es sich um einen eher größeren Betrieb mit verschiedenen Abteilungen oder eher einen Kleinbetrieb mit wenigen Angestellten handelt. Hier spielt dann auch eine Rolle, ob die Kommunikation im Unternehmen eher hierarchisch angesiedelt ist oder nicht. In jedem Fall hängt die Funktion des jeweiligen Gesprächsprozesses an der Frage, ob firmenextern (Verkauf, Beratung etc.) oder -intern (Produktentwicklung, Prozessoptimierung, Mitarbeiterentwicklung etc.) kom‐ muniziert wird. In der Folge unterscheiden sich die Kriterien, nach denen man die Qualität der jeweiligen Gespräche diagnostizieren kann bzw. nach denen man das kompetente Ver‐ halten der Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmer beurteilen kann. 2. Gesprächskompetenz diagnostizieren Diagnosen von Gesprächskompetenz sind vor allem in zwei Bereichen zentral: Diagnosen im Arbeitsprozess sind zu unterscheiden von solchen, die in Auswahlverfahren eine Rolle spielen. Häufig wird mit Blick auf Auswahlverfahren von „Assessment-Centern“ gespro‐ chen. Mitunter fallen aber auch jegliche Diagnosen im Bereich der beruflichen Bildung unter den Begriff „Assessment“. Obermann (2009), aber auch Eck et al. (2016) unterscheiden zwischen „Development Center“ ( DC ) und „Assessment Center“ ( AC ), auch wenn es um Diagnosen im Arbeitsprozess geht: Beim Development Center (DC) steht nicht das Assessment, die Beurteilung, im Vordergrund, sondern die Entwicklung der Teilnehmer durch das Absolvieren der typischen AC-Übungen und einem intensiven Feedback dazu. […] Beim AC sind die Rückmeldung an die Teilnehmer und der Lerncharakter häufig lediglich ein Nebenprodukt. Das Verfahren ist so ausgelegt, dass die Teil‐ nehmer am Ende ein Feedback erhalten, und dann wird gehofft, dass die Teilnehmer nach dem AC mit Unterstützung der Organisation geeignete Entwicklungsmaßnahmen aufgreifen. Im DC da‐ gegen wird die Entwicklung der Teilnehmer bereits innerhalb des Verfahrens angestrebt. (Ober‐ mann 2009: 364) Insgesamt ließe sich ein starker Trend zur organisationsspezifischen Bezeichnung diag‐ nostischer Verfahren feststellen (ebd.: 366). Die jeweiligen Situationen, in denen Diagnosen 267 Diagnose von Gesprächskompetenz im Bereich der beruflichen Bildung vorgenommen werden, unterscheiden sich in Auswahl- und Arbeitsprozess allerdings nicht wesentlich. In manchen Unternehmen, in denen Telefongespräche eine prominente Rolle spielen, wird die externe Kommunikation mit den Kunden (nach Rücksprache) aufgezeichnet und für Diagnosen herangezogen. Das ist z. B. überall dort der Fall, wo sog. „Kundenhotlines“ eingerichtet sind oder sie zum Kerngeschäft gehören. In solchen Fällen dienen dann die Aufzeichnungen als Benchmarks für Schulungszwecke. An ihnen wird das Sprechen und Zuhören der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zielgerichtet trainiert. Hier gibt es dann auch Leitfäden mit teils vorgefertigten Gesprächsplänen bzw. Formulierungshilfen, auf die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zurückgreifen. Diese dienen gleichsam als Beurteilungs‐ kriterium für die Güte der Kommunikation. Darüber hinaus ist festzustellen, dass die Art der Assessments, die jeweiligen Aufgaben und Anforderungen (im Prozess und zur Auswahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern) auf die jeweiligen Unternehmensziele und Aufgabenbereiche bezogen sind. Damit die je‐ weiligen Verfahren vergleichbaren Qualitätsstandards entsprechen, hat der Arbeitskreis Assessment Center e. V. ( AAC ) Richtlinien entwickelt. In diesen ist u. a. geregelt, dass in den Assessments neben schriftlichen Tests mindestens eine Verhaltenssimulation einge‐ setzt werden sollte, in der Aspekte des Sprechens und Zuhörens diagnostiziert werden. Zu den Verhaltenssimulationen zählen vor allem Rollenspiele, die durch (schriftliche) Instruk‐ tionen mit verpflichtenden Verhaltensbeschreibungen angeleitet werden. Solche Verhal‐ tenserwartungen sind dann die Grundlage für die Beurteilungskriterien. Häufig geht es bei den Verhaltenssimulationen um für das Unternehmen oder die jeweilige Aufgabe typische Situationen, die im Rahmen fingierter Gespräche mit den jeweiligen Rollen bewältigt werden müssen. In der Literatur lassen sich weiter typische Formen finden, in denen Diagnosen von Gesprächskompetenzen eine Rolle spielen. Sie lassen sich allesamt den Gruppen- und Ein‐ zelmethoden zuordnen (vgl. u. a. Schumacher 2014, Eck et al. 2016). Einige zentrale Formen sind im Folgenden aufgeführt: In so genannten Gruppenaufgaben (bis zu etwa 5 Interaktanten) sind vorher gestellte Anforderungen zumeist kooperativ zu bewältigen. Erschwerend ist hier, dass zum einen ein Zeitlimit gesetzt ist und zum anderen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer unter per‐ manenter Beobachtung stehen. Und schließlich kommt noch die besondere Situation als Erschwernis hinzu: Es wird Kooperationswillen erwartet, der zum Teil den eigenen Inte‐ ressen in der Konkurrenzsituation widersprechen kann. Bewertet wird allerdings, wie ge‐ meinsam unterstützend gearbeitet wird. In Gruppendiskussionen wird hingegen zu einem vorgegebenen Thema diskutiert. Häufig geht es um Pro-Kontra-Diskussionen, die von einem Moderator geleitet werden. Hier bieten Vorbereitungsmaterialien die Basis für die Bewertung. Insbesondere, wenn zu Themen mit Unternehmensbezug diskutiert werden soll, können Aspekte des Fachwissens, aber auch der relevanten Fachsprache beurteilt werden. Mit Blick auf Beurteilungskriterien ist zu erwarten, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine Position konsistent ver‐ treten und - wenn erforderlich - im Gesprächsprozess revidieren, Argumente in Ausei‐ nandersetzung mit anderen gemeinsam entwickeln, etwa, indem Argumente anderer er‐ gänzt, ausgebaut und wieder aufgenommen sowie vertieft werden. Zudem sollten 268 Michael Krelle Argumente der Gegenposition entkräftet und denkbare Gegenargumente vorwegge‐ nommen werden. Dabei kann es eine erfolgreiche Strategie sein, Diskutanten mit der glei‐ chen Meinung (kooperativ) zu unterstützen, um so trotz der Konkurrenzsituation die eigene Position relativ zu verbessern (vgl. dazu Krelle 2014). Wer bei der Auswahl der Themen für Diskussion auf aktuelles Zeit‐ geschehen setzt, das nicht im Zusammenhang mit dem Unternehmen steht, sollte bedenken, dass sich das Thema auch für eine Diskussion eignet und dass das Vorwissen der Disku‐ tanten ausreichend vorhanden ist. Zu den wesentlichen Einzelübungen zählen Präsentationen, Vorträge und Interviews: Mit Blick auf Interviews hat Schumacher (2014: 174 f.) herausgestellt, dass diese auf zwei Weisen durchgeführt werden, und zwar strukturiert (nach einem Schema oder definierten Ge‐ sprächsfeldern) oder unstrukturiert (ohne Vorgabe). Bei standardisierten Interviewformen sind die Leistungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer leichter vergleichbar als bei freien Interviews. Allerdings wirken strukturierte Interviews mitunter eher mechanisch und starr. Zudem geht es auch hier um Rollenspiele. Als Situationen kommen beispielsweise Stel‐ lungnahmen zu einem Betriebsunfall, ein Mobbing-Vorwurf oder ein Kommentar zu einer Tarifverhandlung in Frage (ebd.). Die fingierten Interviewsituationen betragen in der Regel nicht länger als drei Minuten. Ein Beispiel ist im Folgenden abgedruckt: Teilnehmerinstruktionen Sie vertreten Ihr Unternehmen auf der Industriemesse in Hannover. Dort stellen Sie gerade die neue Generation Ihrer Produktreihe XXX aus. Sie wissen, dass es noch einige Mängel bei der Konfigu‐ ration des Produktes gibt. Das Ausstellungsstück ist nicht in allen Funktionalitäten betriebsbereit. Ihre Entwicklungsabteilung hat Ihnen aber versichert, dass bis zum geplanten Verkaufsstart in 30 Tagen alle Mängel beseitigt sind. Sie wissen aus vertraulicher Quelle, dass auch Ihr Wettbewerber die gleichen Probleme bei seinem Produkt hat. Ein Reporterteam kommt auf Sie zu. Interviewfragen Ihre Produktneuheit bietet ja erstaunliche neue Funktionalitäten. Sind diese denn alle ausgereift? Können Sie uns die neuen Funktionen des Produktes an Ort und Stelle vorführen? Ihr Wettbewerb hat ja ein vergleichbares Produkt auf den Markt gebracht und behauptet, damit die Technologieführerschaft zu übernehmen. Was sagen Sie dazu? Abb. 1: Beispielaufgabe Interview (Schumacher 2014: 175) Auch die Präsentationen und Vorträge beziehen sich häufig auf Themen, die das Unter‐ nehmen betreffen. Mitunter wird hier versucht, den oder die Vortragende in eine Stresssi‐ tuation zu bringen, um etwa den Umgang mit solchen außergewöhnlichen Situationen zu testen. Das wird u. a. dadurch erreicht, dass die Vortragenden zu wenig Zeit zur Vorberei‐ tung erhalten oder dass während des Vortrags oder der Präsentation kritische Nachbzw. Fachfragen gestellt werden. Zu Präsentationen liegt eine der wenigen Studien zur Reliabilität von Auswertungskri‐ terien vor: Behrens et al. (2014) haben Bewertungs- und Beurteilungsraster für software‐ gestützte Präsentationen in der Literatur gesichtet, um daraus ein eigenes Raster zu ent‐ wickeln. Dieses wurde in Seminaren des Lehramtsstudiums erprobt und an einer kleinen 269 Diagnose von Gesprächskompetenz im Bereich der beruflichen Bildung Stichprobe pilotiert: Es wurden in acht verschiedenen Seminaren studentische Präsentati‐ onen und Vorträge mithilfe des Beobachtungsbogens von jeweils drei Personen bewertet. Die Ergebnisse waren mit Blick auf die Reliabilität ernüchternd: Es wurden kaum zufrie‐ denstellende Übereinstimmungen erreicht. Ein Beispielkriterium (mit Abstufungen) ist im Folgenden abgedruckt. 1 - sehr gut 3 - befriedigend 5 - mangelhaft Präsenz - Gestik - Mimik Vortrag durchgängig frei gesprochen; Posi‐ tion mittig und frei ste‐ hend bzw. flexibel; ent‐ spannte, stabile und animierte/ zugewandte Haltung. Gestik und Mimik wirken natür‐ lich, lebendig und offen. Vortrag teilweise vor‐ gelesen; Position ten‐ denziell versteckt (z. B. sitzend, seitlich); Hal‐ tung statisch und/ oder unsicher. Gestik und Mimik wirken ge‐ bremst, unterstützen aber zumindest stel‐ lenweise das Gesagte. Vortrag hauptsächlich abgelesen; „Fluchtpo‐ sition“ (z. B. abge‐ wandt, für Teile des Plenums nur schwer sichtbar); Haltung wirkt sehr unsicher oder uninteressiert/ unbeteiligt. Gestik und Mimik wirken blo‐ ckiert. Abb. 2: Beispielkriterium mit Abstufungen beim Präsentieren (Behrens et al. 2014: 191) Ein letzter Punkt, der alle Diagnosen von Gesprächskompetenz betrifft: Was man als „kom‐ petent“ wertet, hängt auch von den jeweiligen Bezugsnormen ab (vgl. Bremerich-Vos 2009). Sachliche („kriteriale“) Bezugsnormen haben den Vorteil, dass man auf eine nach‐ vollziehbare und plausible Bezugsgröße referieren kann. Das können z. B. aufgabenspezi‐ fische Ziele und Anforderungen sein. Der alleinige Bezug auf sachliche (kriteriale) Normen führt aber in die Irre. Dass jemand Gesprächsregeln in einer Gruppendiskussion einhalten kann, mag für eine Schülerin bzw. einen Schüler in der Sekundarstufe angemessen sein; mit Blick auf den Einstieg in den Beruf kann man das aber mindestens erwarten. Ohne einen Vergleich mit anderen, ist Kompetenz kaum zu beurteilen. Und auch die individuelle Bezugsnorm spielt eine Rolle: Wer zum wiederholten Mal in einem Assessment keinen Erfolg gehabt hat, weiß zwar, dass es wieder nicht gereicht hat. Er wüsste aber auch gern, ob es jetzt nicht doch ein bisschen besser gelaufen ist als beim letzten Mal (vgl. Breme‐ rich-Vos 2009: 31). 3. Diagnostische Verfahren Es gibt in der Gesprächslinguistik eine längere Tradition der Diagnose von Gesprächen und Gesprächsphasen anhand von Transkripten; seit geraumer Zeit auch von Aspekten von Gesprächskompetenz (vgl. u. a. Hartung 2004, Becker-Mrotzek & Brünner 2004, Brünner 2007). Die Gesprächsforschung kann im Bereich Diagnostik dreierlei bieten (vgl. Hartung 2004): Erstens bietet sie eine vergleichsweise genaue (u. a. videobzw. audiosowie trans‐ kriptbasierte) Diagnose, die sie zu Erkenntnissen im Bereich der Personalentwicklung führen können. Das betrifft dann u. a. das Zusammenspiel von Fachkompetenz, Sozialkompetenz und Gesprächskompetenz in den Dimensionen, wie sie oben benannt sind. Nicht selten dient die Diagnose von Gesprächen aber auch der Organisationsentwicklung: Es ist nämlich 270 Michael Krelle aus der Arbeit am Video und am Transkript ersichtlich, wie die konkrete Arbeitspraxis aussieht, und nicht nur, wie sie sein sollte. Recht häufig ist es Ergebnis einer Gesprächsanalyse, dass Probleme nicht durch die Qualifikation der Mitarbeiter, sondern durch die Rahmenbedingungen verursacht werden, so dass sie nur durch eine Strukturveränderung, nicht aber durch eine Schulungsmaßnahme abzustellen sind. (Hartung 2004: 316) Und schließlich können Diagnosen anhand von Transkripten im Rahmen von Auswahl‐ prozessen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dienlich sein, insbesondere dort, wo ein genauer Blick auf das Gesprächsverhalten z. B. in Assessments gefragt ist (ebd.). Ein Problem gesprächslinguistischer Verfahren ist die umfangreiche Zeit, die mit der Datenaufbereitung und -analyse einhergeht. Vor diesem Hintergrund wird seit geraumer Zeit auch versucht, Aspekte von Mündlichkeit anhand von Ratingskalen (global und lokal) einzuschätzen (vgl. Becker-Mrotzek 2008). Bereits seit Mitte des 20. Jahrhunderts wurden in der Arbeits- und Organisationspsychologie sogenannte prozessorientierte Instrumente zur Teamdiagnose entwickelt (vgl. Kauffeld 2001), die mit solchen Skalen arbeiten. Diese be‐ ziehen sich allerdings stärker auf Verhalten in Gesprächen als auf Kompetenz. Prominent ist insbesondere die Interaktionsprozessanalyse ( IPA , vgl. u. a. Bales 1975). Hier wird ana‐ lysiert, ob Interaktionspartner eher angespannt bis feindselig („sozio-emotional negatives Verhalten“) oder kooperativ bzw. solidarisch operieren („sozio-emotional positives Ver‐ halten“). Zudem wird diagnostiziert, ob die Beiträge eher vermittelnden Charakter haben bzw. ob Lösungsversuche (u. a. in Form von Fragen) unterbreitet werden („instrumentale/ aufgabenorientierte Interaktionen“). Prominent ist auch die „Konferenzkodierung“ ( KONFKOD ) von Fisch (u. a. 1994), bei der einzelne Redebeiträge von Raterinnen und Ratern in ihrer kommunikativen Funktion eingeschätzt werden sollen. Die Beobachtungskatego‐ rien beziehen sich u. a. auf die Dimensionen „inhaltliche Lenkung“ (u. a. „Frage mit Fest‐ stellung“, „Informationsfrage“), „prozedurale Lenkung“ (z. B. „Vorschlag zum Vorgehen“), „aufgabenbezogene Aktivitäten“ (z. B. Einbringen von Lösungsvorschlägen), aber auch auf „sozio-emotionale Beiträge“, das „Rollenverhalten“ etc. Zuletzt ist in diesem Kontext ein Instrument zur Kodierung von Diskussionen ( IKD ) von Schermuly & Scholl (2011) er‐ schienen. Mit Hilfe des Tests sollen neben der Funktion einzelner Aussagen auch die in‐ terpersonale Bedeutung von Aussagen kodiert werden können. Damit sind hier Aspekte der Dominanz (Submissivität-Dominanz) und Affiliation (Feindlichkeit-Freundlichkeit) ge‐ meint. Neben solchen - mehr oder weniger - psychometrischen Verfahren haben in vielen Unternehmen Kompetenzraster Konjunktur. Im Arbeitsprozess sind formative Raster an‐ gesagt, die über die Zeit angewendet werden. Mit ihnen soll ein Weiterlernen durch be‐ gleitendes (und hoffentlich wertschätzendes) Feedback ermöglicht werden. Diese Verfahren werden zumeist im laufenden (authentischen) Arbeitsprozess angewendet. Ihnen stehen „summative“ Einschätzungen gegenüber, die z. B. in Auswahlprozessen angewendet werden. Letztere haben notwendigerweise eine Selektionsfunktion: Es gilt in der Regel, eine möglichst passende Bewerberin bzw. einen passenden Bewerber zu finden. Hier haben dann mitunter auch Fragen der Reliabilität bzw. Auswertungsobjektivität ein höheres Gewicht. Solche Raster sind stets in Abhängigkeit zu den jeweiligen Aufgabenstellungen und -an‐ forderungen konstruiert. Als Gütekriterien werden vom Arbeitskreis Assessment Center 271 Diagnose von Gesprächskompetenz im Bereich der beruflichen Bildung e. V. ( AAC ) diverse Aspekte genannt ( AAC : 10): Vor allem ist vorab ein kriteriales System für die Beobachter festzulegen. Es muss klar sein, was im Detail (mit welchen Abstufungen bzw. Merkmalsausprägungen) begutachtet werden soll. Dabei werden immer mehrere Be‐ obachter bzw. Raterinnen und Rater eingesetzt, die vorab geschult wurden und in der Si‐ tuation unabhängig voneinander bewerten. Es sollten nicht zu viele Interaktanten und nur ausgewählte Anforderungsmerkmale gleichzeitig beobachtet werden; die Bewertung er‐ folgt direkt im Anschluss an die Beobachtungssituation. Was die Diagnose von Gesprächskompetenzen generell angeht, sollte es perspektivisch möglich sein, mit qualitativ hochwertigen (reliablen und validen) „holistischen“ (also über‐ greifenden) Beobachtungs- und Beurteilungsrastern zu operieren. Diese liegen bisher aber - wenn überhaupt - erst in Ansätzen vor. Es kann erwartet werden, dass hier vermehrt in die Forschung und die Diagnose investiert wird. (Eriksson 2009: 456) Literatur Arbeitskreis Assessment Center e. V. (AAC) (2016). AC Standards. Standards der Assessment Center Methode. 3. Vollständig überarbeitete Fassung. Abrufbar unter: http: / / www.arbeitskreis-ac.de/ images/ attachments/ AkAC-Standards-2016.pdf (Stand: 18/ 09/ 2018) Bales, Robert F. (1975). Die Interaktionsprozessanalyse: Ein Beobachtungsverfahren zur Untersu‐ chung kleiner Gruppen. In: König, R. (Hrsg.). Beobachtung und Experiment in der Sozialforschung. 8. Aufl. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 148-167. Becker-Mrotzek, Michael (2008). 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In unterschiedlichen Gesprächssituationen können dialogische, aber auch sogenannte monologische Gesprächsformen wie z. B. Prä‐ sentationen realisiert werden. Die vorliegende Darstellung behandelt die Förderung von Gesprächskompetenz im weiterführenden Deutschunterricht am Berufskolleg im Rahmen der Vollzeitbildungsgänge und der Aus- und Fortbildung, die neu zugewanderte Schüler‐ innen und Schüler erst im Anfangsunterricht Deutsch als Zweitsprache in den Internatio‐ nalen Förderklassen (auf den Sprachniveaus A1-B1 GER ) erwerben. Dieser Anfangsunter‐ richt wird hier ebenso wenig in den Blick genommen wie der Bereich der außerschulischen beruflichen Weiterbildung. Um die Frage zu beantworten, wie Gesprächsfähigkeiten von Schülerinnen und Schülern gefördert werden können, wird zunächst der Begriff Gesprächs‐ kompetenz als Teil einer berufsweltbezogenen kommunikativen Kompetenz bestimmt (1). Daraufhin werden die Ziele und Inhalte der Förderung von Gesprächskompetenz im schu‐ lischen Kontext der Bildungsgänge, die zu einem unteren, mittleren oder oberen Schulab‐ schluss führen, spezifiziert (2). Es werden Methoden der Förderung analytisch-reflexiver und praktisch-handlungsbezogener Kompetenzen dargestellt (3) und abschließend weiter‐ führende, hier nicht thematisierte Aufgaben von Deutsch-Lehrkräften an berufsbildenden Schulen genannt (4). 1. Berufsweltbezogene Gesprächskompetenz In beruflichen Situationen sind Interaktionspartner mit besonderen kommunikativen An‐ forderungen konfrontiert, auf die sich Schülerinnen und Schüler durch den Aufbau sowohl allgemeiner berufsweltbezogener als auch spezieller berufsbezogener (also fachbezie‐ hungsweise berufsspezifischer) kommunikativer Kompetenz vorbereiten müssen. Im Rahmen der Förderung kommunikativer Kompetenz kommt vor allem dem Deutsch‐ unterricht die Aufgabe zu, den Schülerinnen und Schülern die Besonderheiten der berufs‐ weltbezogenen Sprache zu vermitteln. Gesprächskompetenz ist, wie Lese- und Schreibkompetenz, Teil der sprachbezogenen Kommunikationskompetenz. Unter den Bedingungen mündlicher Kommunikation (Multi‐ modalität, Flüchtigkeit, Sequentialität und Musterhaftigkeit, Interaktivität und Kooperati‐ vität, Themengebundenheit und pragmatische Ausrichtung) ergeben sich für Gesprächs‐ beteiligte immer bestimmte Aufgaben, die in einem Gespräch so zu bearbeiten sind, dass der Gesprächszweck erreicht werden kann. Diese Aufgaben sind generell: Handlungs‐ muster realisieren, Themen bearbeiten, Beziehung gestalten und Verständnis sichern. Dis‐ kurstypspezifische Gesprächskompetenz lässt sich durch die linguistische Analyse der Aufgabenstruktur unterschiedlicher Gesprächstypen bestimmen. Als die wichtigsten Ge‐ sprächstypen im Bereich Wirtschaft nennt Brünner: Gespräche mit Kunden, innerbetrieb‐ liche Gespräche, Geschäftsverhandlungen und Unterweisungen in der beruflichen Ausbil‐ dung (Brünner 2001). 2. Ziele und Inhalte des Deutschunterrichts Die Unterrichtsziele in den Lehrplänen für die Bildungsgänge, die zu unterschiedlichen Schulabschlüssen des Berufskollegs führen, sind in NRW in der Regel kompetenzorientiert, wenn auch nicht als Standards formuliert. Sie berücksichtigen zum einen das Niveau der Bildungsstufen und zum anderen die Umstände der Beschulung der Schülerinnen und Schüler, die in sehr unterschiedlichem Maß auf berufliche Erfahrung zurückgreifen können, je nachdem ob sie sich in der Berufsvorbereitung (einschließlich Anfangsunterricht Deutsch als Zweitsprache), in der betrieblichen Ausbildung (Berufsschule), in der vollzeitschuli‐ schen Berufsbildung (Fachoberschule und Berufliches Gymnasium) oder in der Weiterbil‐ dung (Fachschule) befinden. Am Beispiel der Lehrpläne für das Fach Deutsch in den unterschiedlichen Bildungs‐ gängen des kaufmännischen Berufskollegs - Ausbildungsvorbereitung ( MSW AV 2015), Berufsschule ( MSW BS 2015), Berufsfachschule ( MSW BFS 2015), Höhere Berufsfachschule ( MSW HBFS 2013), Berufliches Gymnasium ( MSW GYM 2007), Fachschule ( MSW FS 2014) - lassen sich die Ziele der schulischen Förderung berufsweltbezogener Gesprächs‐ kompetenz illustrieren. Die in den Plänen für die Ausbildungsvorbereitung, die Berufs‐ fachschule und die Höhere Berufsfachschule verwendeten Operatoren für die Zielformu‐ lierungen (die Pläne für die Fachschule und das Berufliche Gymnasium geben bislang lediglich Inhalte an) lassen sich zwei Gruppen zuordnen, je nachdem ob die Schülerinnen und Schüler explizite Kenntnisse erwerben (Operatoren: beschreiben, untersuchen, analy‐ sieren, begründen) oder praktisch-prozedurale Fähigkeiten entwickeln sollen (Operatoren: vorbereiten, anwenden, gestalten). Gespräche untersuchen. Unterrichtsziele im Bereich der Förderung analytischer Fä‐ higkeiten lauten z. B. wie folgt (Deutsch-Lehrplan für die kaufmännische Berufsschule): Die Schülerinnen und Schüler untersuchen zunehmend selbständig grundlegende Inhalte, Formen, Funktionen und Wirkungen monologischer und dialogischer Kommunikation in unterschiedlichen Handlungszusammenhängen […] dabei wenden sie Grundlagen linguistischer und kommunikati‐ onstheoretischer Modelle an […] (MSW BS 2015: 23; Hervorhebungen im Original) Durch die Erwähnung „linguistischer und kommunikationstheoretischer Modelle“ wird der theoretische Charakter der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand betont, durch die Formulierung „zunehmend selbständig“ der erwartete Lernzuwachs angesprochen. Die in den Lehrplänen genannten Formen berufsweltbezogener mündlicher Kommunikation „in 276 Peter Weber unterschiedlichen Handlungszusammenhängen“ lassen sich nach Brünners Gliederung (in eckigen Klammern) wie folgt zusammenstellen: • [Gespräche mit Kunden: ] Beratungs-, Verkaufs-, Reklamationsgespräch; Interview • [innerbetriebliche Gespräche: ] dialogisch: Besprechung; Diskussion, Konferenz (Moderation); Vorstellungsgespräch - monologisch: Vortrag, Präsentation, Referat, Rede, Stellungnahme • [Geschäftsverhandlungen: ] Verhandlung • [Unterweisungen in der beruflichen Ausbildung: ] Anleitung, Feedback Neben den Besonderheiten der unterschiedlichen Diskurstypen der Wirtschaft - Ergebnisse der gesprächslinguistischen Forschung dazu finden sich in (Brünner 2000) - sind auch die allgemeinen Merkmale der Berufssprache Lerngegenstand des Deutschunterrichts und dort zu erläutern. Sie können mit Brünner wie folgt bestimmt werden: Berufliche Kommunikation ist typischer Weise […] auf berufliche Zwecke bezogen […] in Ar‐ beitskontexte eingebunden […] institutionell geprägt […] fachlich geprägt […] output- und ziel‐ orientiert […] nicht freiwillig (Brünner 2007: 41) Gesprächsverhalten erproben. Im Deutschunterricht sollen die Schülerinnen und Schüler die berufsweltbezogenen Diskurstypen nicht nur untersuchen, sondern auch si‐ mulieren und evaluieren, um kommunikative Schlüsselqualifikationen zu entwickeln. Im Deutsch-Lehrplan für die kaufmännische Höhere Berufsfachschule heißt es: Die Absolventinnen und Absolventen bewältigen berufliche, gesellschaftliche und persönliche Kommunikationssituationen angemessen und adressatengerecht. […] Die Schülerinnen und Schüler handeln in der Verständigung mit Gesprächspartnern zielorientiert, respektvoll und kon‐ struktiv […], gestalten die Beziehung zu den Gesprächspartnern angemessen […] und berücksich‐ tigen die Einstellungen und Erwartungen der Zuhörer bzw. Gesprächspartner (MSW HBFS 2013: 24) Hier werden Normen des Gesprächsverhaltens genannt („angemessen und adressatenge‐ recht“, „zielorientiert, respektvoll und konstruktiv“), die Einfluss darauf haben, ob Ge‐ spräche gelingen oder nicht. Sie sollen Anwendung finden bei der Ausführung der kom‐ plexen sprachlichen Handlungen, die in vielen beruflichen Domänen relevant sind und in fast allen Lehrplänen genannt werden: das Präsentieren, das Diskutieren und das Mode‐ rieren. Bei der Darstellung des erwarteten Gesprächsverhaltens fällt auf, dass zwar Spre‐ cher-, nicht aber Zuhörerkompetenzen angesprochen werden. Im Unterschied zu den Bil‐ dungsstandards und den Lehrplänen für die allgemeinbildenden Schulen wird damit in den Bildungsplänen für das Berufskolleg ein wichtiger Lernbereich nicht berücksichtigt. 3. Methoden der Förderung der Gesprächskompetenz Werden Übungen zur Förderung der Gesprächskompetenz geplant, ist zu berücksichtigen, dass schon die Bedingungen der Unterrichtskommunikation einen großen Einfluss auf das Äußerungsverhalten und die Lernmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler im Bereich der mündlichen Kommunikation haben. Unterrichtsmethoden sollten so ausgewählt 277 Förderung von Gesprächskompetenz im Bereich der beruflichen Bildung werden, dass Schülerinnen und Schüler sich häufig und ausführlich und nicht nur in Re‐ aktion auf Lehrerimpulse äußern können. Eine lehrerzentrierte kommunikative Ordnung erschwert nicht nur Binnendifferenzierung in heterogenen Lerngruppen und die interak‐ tive Bearbeitung individueller Verständnisschwierigkeiten, sie bietet vor allem wenig Raum für eine handlungsorientierte Beteiligung der Schülerinnen und Schüler am Unterrichts‐ gespräch. Eine schülerzentrierte Ordnung fördert hingegen kooperatives Lernen in Klein‐ gruppen, hier finden Schülerinnen und Schüler günstige Voraussetzungen, um ihre sprach‐ lichen Fertigkeiten zu erproben und zu erweitern. Sind Schülerinnen und Schüler selbst z. B. im Klassenrat für eine verfahrensgeregelte Ordnung zuständig, müssen sie über Turn-Zuteilung entscheiden, passende sprachliche Mittel anwenden und basale Gesprächs‐ regeln einüben. 3.1 Förderung der Gesprächskompetenz im weiterführenden Deutschunterricht Es hat sich bewährt, den Aufbau von Gesprächskompetenz dadurch zu fördern, dass die Lernenden angehalten werden, Aufgaben und Übungen sowohl zur analytischen als auch zur produktiven Auseinandersetzung mit Gesprächen zu bearbeiten. Die Lernenden sollen ihr theoretisch-begriffliches Wissen über mündliche Kommunikation erweitern, grundle‐ gende Kenntnisse über Analysemethoden erwerben, Anwendungs- und Übungsmöglich‐ keiten nutzen und ihre Fähigkeiten zu Reflexion und Metakommunikation ausbauen. Dies ist Voraussetzung dafür, das eigene Gesprächsverhalten reflektieren und kontrollieren zu können. Dazu gehört auch, Kommunikationsprobleme rechtzeitig zu erkennen und ange‐ messen auf sie zu reagieren, also gleichzeitig soziale Sensibilität und Perspektivenüber‐ nahme wie auch Zielstrebigkeit und Durchsetzungsvermögen zu zeigen. 3.2 Gesprächsaufzeichnungen analysieren Angesichts der Komplexität menschlicher Kommunikation ist es sinnvoll, wenn Schüler‐ innen und Schüler im weiterführenden Deutschunterricht nicht mit Lernmaterialien ar‐ beiten müssen, in denen erfundene, vereinfachte und modellhaft schematisierte Gespräche und allgemeine Aussagen über Gesprächsmerkmale ohne weitergehende Erklärungen prä‐ sentiert werden. Auch die häufig zu findenden normativ-instruktiven Anleitungen zum sprachlichen Handeln sind nur auf den ersten Blick hilfreich, wenn sie das mitunter be‐ währte, aber nicht wissenschaftlich belegte Rezeptwissen der Ratgeberliteratur unreflek‐ tiert weitergeben. Um kommunikative Phänomene genau wahrnehmen und interpretieren zu können, sollten sich Lernende mit authentischen Gesprächen auseinandersetzen können, die - da gesprochene Sprache flüchtig ist - in aufgezeichneter und verschrifteter Form vorliegen müssen. So können Schülerinnen und Schüler am besten Phänomene ge‐ sprochener Sprache erkennen, beschreiben und erklären und Wissen über grundlegende Gesprächsstrukturen und -merkmale aufbauen (Grundregeln des Sprecherwechsels, Ko‐ operationsprinzip der Kommunikation, Ursachen von Konflikten, unterschiedliche Kon‐ flikttypen sowie Strategien zur Konfliktvermeidung und -bearbeitung). Besonders lehrreich ist es, wenn Schülerinnen und Schüler selber Gespräche in privaten oder öffentlichen Kon‐ texten aufnehmen, transkribieren und analysieren (vgl. Brünner & Weber 2012: 300). 278 Peter Weber 3.3 Gesprächsverhalten erproben und reflektieren Bei der Förderung des Gesprächsverhaltens sollten sowohl Teilkompetenzen trainiert als auch sprachliches Verhalten und zentrale Gesprächsformen in komplexeren Handlungs‐ zusammenhängen simuliert werden. Sprechübungen. Übungen, die dem Training mündlicher Grundfertigkeiten dienen und das Äußerungsverhalten in kommunikativen Situationen verbessern sollen, sind zahlreich vorhanden. Es gibt Übungen zur Stimmbildung, zur Atmung und Körperhaltung, zur Gestik, Mimik und Körpersprache (Pabst-Weinschenk 2000), zur Aussprache und Betonung (Wagner 2006). Rhetorische Übungen unterstützen die Planung, Strukturierung und Reali‐ sierung von Gesprächsbeiträgen, hierzu zählen: Sprechen nach Manuskript, Fünfsatzü‐ bungen, Reden nach vorgegebenem Stichwortzettel u. a. (Berthold 1997). Rollenspiele. Um die Anforderungen an Sprecher- und Hörerrollen in unterschiedli‐ chen dialogischen Gesprächsformen praktisch zu erproben, sind Rollenspiele gut geeignet. Hier haben Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, Handlungsalternativen in simu‐ lierten Alltagssituationen auszuprobieren und dadurch produktive Sprechhandlungskom‐ petenz aufzubauen, ohne negative Folgen ihrer Aktionen befürchten zu müssen. Beim Rol‐ lenspiel werden die Lernziele Empathie, kommunikative Kompetenz, Rollendistanz und Ambiguitätstoleranz (als die Fähigkeit, Widersprüchlichkeiten ertragen zu können) ver‐ folgt. Aus gesprächslinguistischer Sicht wird am sprachdidaktischen Rollenspiel kritisiert, dass Spielteilnehmende unter den Bedingungen der Unterrichtskommunikation Hand‐ lungsmuster realer Gespräche nur bruchstückhaft realisieren können, gleichzeitig aber ihr Gesprächsverhalten in der Ausnahmesituation als vermeintliches Alltagshandeln beurteilt wird. Das Verfahren der ‚Simulation authentischer Fälle‘(Becker-Mrotzek & Brünner 1999) versucht deshalb störende Spieleffekte dadurch zu minimieren, dass die Handlungsbedin‐ gungen der Simulation (Problemkonstellation und Rollenverteilung) weitgehend denen des Alltags der Spieler angepasst werden. Zu diesem Zweck werden echte Fälle aus der Le‐ benswelt der Interaktanten dokumentiert und mit gesprächsanalytischen Mitteln analy‐ siert, die rekonstruierte Problemstruktur bildet dann den Kern der Vorgaben für die an‐ schließende Simulation. Im berufsorientierten Deutschunterricht lassen sich besonders gut Beratungs-, Verkaufs- und Reklamationsgespräche, Vorstellungsgespräche und Unterwei‐ sungen üben. Präsentationen. Präsentieren bedeutet, einen Sachverhalt in einem längeren, geplanten Beitrag, ggf. unter Verwendung einer Sprechvorlage sowie von Visualisierungen in Form von (digitalen) Folien, Handouts, Plakaten etc., einer Zuhörerschaft vorzustellen. Die Vi‐ sualisierung hat dabei eine wichtige Funktion sowohl für den Präsentierenden als auch für die Zuhörer, weil sie den Gegenstand strukturiert und verdichtet. Nach Berkemeier/ Pfennig (Berkemeier & Pfennig 2009) umfasst die Arbeit an einer Präsentation eine Entwicklungs-, eine Umsetzungs- und eine Rezeptionsphase. Aktivitäten entwickeln müssen Präsentie‐ rende und Zuhörer dabei sowohl im schriftlichen Bereich (Informationen beschaffen, ziel‐ führend auswählen und strukturierend verarbeiten, Anschauungsmaterial auswählen bzw. erstellen), als auch im mündlichen (Präsentation umsetzen, einer Präsentation zuhören, Präsentation beurteilen). In der Erarbeitungsphase wird die Fähigkeit zum inhaltlichen Durchdringen und Gliedern von Sachzusammenhängen bei der Textrezeption durch die Vermittlung von Lesestrategien gefördert; dazu gehören das Unterstreichen von Schlüs‐ 279 Förderung von Gesprächskompetenz im Bereich der beruflichen Bildung selwörtern und Kernaussagen im Primärtext ebenso wie das Anfertigen von Stichwortlisten und das Entwickeln von Visualisierungen, die das Leseverstehen verbessern. Die Vorbe‐ reitungsphase schließt ab mit der Erarbeitung der Sprechvorlage mit den Hauptaussagen des Vortrags, gegebenenfalls mit der Ausformulierung des Vortragstextes und Übungen zum freien Sprechen (Berkemeier & Grundwürmer 2012). Diskussionen. In einer Diskussion vollziehen die Beteiligten eine Gesprächsform, bei der durch argumentative Auseinandersetzung im Rahmen einer Problembearbeitung ein Konsens oder Kompromiss oder bei bleibendem Dissens ein Verständnis der Ansichten Andersdenkender erreicht werden kann. Mit Grundler und Vogt lassen sich beim Disku‐ tieren eine kognitive, expressive, soziale und kontextuelle Dimension unterscheiden, das heißt, die Diskutierenden setzen sich auf der inhaltlichen Ebene mit dem Gesprächsgegen‐ stand auseinander, sie bringen ihre Meinung zum Ausdruck, sie reagieren auf ihre Ge‐ sprächspartner und berücksichtigen bei all dem die Rahmenbedingungen der Gesprächs‐ situation (Grundler & Vogt 2009). Zwecks Förderung argumentativer Fähigkeiten können in der Schule Übungsdiskussionen angesetzt, aber auch Erörterungen über Lerngegen‐ stände in den Sachfächern und Entscheidungsfindungsdiskurse zu Belangen der Klassen‐ gemeinschaft genutzt werden. Das mündliche Argumentieren ist eine kognitiv anspruchs‐ volle sprachliche Handlung und stellt hohe Anforderungen an die Lernenden. Das Diskussionsverhalten der Schülerinnen und Schüler kann dadurch gefördert werden, dass bei der Themenwahl die Schülerinteressen berücksichtigt, Gesprächsregeln festgelegt, Ar‐ gumente gemeinsam gesammelt und die Diskussionen (zunächst) in Kleingruppen durch‐ geführt werden. Beim Debattieren - einer stark reglementierten Sonderform des Diskutierens - werden Pro- und Kontra-Argumente zu einer Streitfrage geäußert. Debatten spielen vor allem im politischen Bereich eine wichtige Rolle, wo die Debattanten versuchen, ihre Gegner und das Publikum von der eigenen Position zu überzeugen, um Abstimmungen zu beeinflussen. Zur Übung rhetorischer Fähigkeiten werden im schulischen Bereich Debattierwettbewerbe veranstaltet, bei denen die Redner zugeloste Positionen vertreten und im Rahmen festge‐ legter Redezeiten zu einer Soll-Frage befürwortend oder ablehnend Stellung nehmen müssen. Bewertungskriterien bei ‚Jugend debattiert‘ sind Sachkenntnis, Ausdrucksver‐ mögen, Gesprächsfähigkeit und Überzeugungskraft (Hielscher et al. 2010). Moderationen. Moderieren heißt, Gespräche in kleineren oder größeren Gruppen leiten und dabei die für die Erreichung des Gesprächszwecks notwendigen Handlungsmuster re‐ alisieren. Die Muster variieren je nach Gesprächstyp und Gesprächsverlauf und können in unterschiedlicher Kombination zu Aufgabenbündeln zusammengefasst werden (Berke‐ meier & Pfennig 2012). Besteht beispielsweise der Zweck einer Besprechung in der interak‐ tiven Lösung eines Problems, so sind folgende Aufgabenkomplexe durch die Gesprächslei‐ tung zu bearbeiten: Gesprächsstrukturierung, inhaltliche Strukturierung, Abstimmungs‐ durchführung und unterstützende Visualisierung. Die Aufgabe der Gesprächsleitung ist je nach Gesprächsform mehr oder weniger anspruchsvoll: Ein Brainstorming-Gespräch ist vergleichsweise einfach aufgebaut (Berkemeier 2011), komplex ist dagegen die Durchfüh‐ rung einer Klassenratssitzung, weil hier der Austausch divergierender Argumente zu orga‐ nisieren und die Lösung von Problemen zu entwickeln ist. Die Moderationskompetenz der Schülerinnen und Schüler sollte schrittweise aufgebaut werden: Nachdem die Grundstruk‐ 280 Peter Weber turen unterschiedlicher Gesprächstypen und die jeweils angemessenen sprachlichen Hand‐ lungsformen thematisiert wurden, können zunächst einfache, später komplexe Moderati‐ onsaufgaben praktisch - möglichst im Rahmen authentischer Gespräche - erprobt werden. Zuhörübungen. Die Zuhörfähigkeit ist Voraussetzung für die Aufnahme komplexer akustisch transportierter Informationen und damit eine wichtige Bedingung für gelingende Kommunikation. Im weiterführenden Deutschunterricht werden häufig die Schwierig‐ keiten unterschätzt, die viele Schülerinnen und Schülern haben, wenn sie mit der Aufgabe konfrontiert werden, Hörtexte angemessen zu verarbeiten. Beim verstehenden Zuhören müssen mündliche Äußerungen bewusst wahrgenommen und ihre Bedeutung erschlossen werden. Der Zuhörprozess ist komplex und umfasst mehrere Schritte, die Imhoff im S-O-I-Modell (intentionale Selektion, Organisation, Integration) zusammengefasst hat (Imhof 2003). Zunächst fokussiert der Zuhörer seine Aufmerksamkeit auf die sprachlichen Äußerungen, mit denen er sich intensiver auseinandersetzen will. Im zweiten Schritt ver‐ arbeitet er den Input, indem er ihn sortiert, interpretiert und organisiert. Schließlich bildet er ein mentales Modell des Gehörten, das sich zu seinem Vorwissen in Verbindung bringen lässt. Aufgaben, die sich zur Förderung der Zuhörkompetenz eignen, ähneln häufig Übungen zum Leseverstehen. So können beispielsweise Schülerinnen und Schülern Hörtexte vorge‐ führt werden mit der Aufforderung, im Anschluss mehr oder weniger komplexe Fragen zum Gehörten zu beantworten. Durch solche Aufgaben werden Teilprozesse des Hörvers‐ tehens aktiviert und geschult. Besonders nachhaltig wirkt die Förderung der Zuhörfähig‐ keit, wenn sie selbstregulativ erfolgt, das heißt, wenn die Lernenden ihr eigenes Zuhör‐ verhalten beobachten, konkrete Lernziele formulieren, Strategien thematisieren und einüben und die neu erworbenen Verhaltensweisen evaluieren (Imhof 2010). Mündliche Kommunikation reflektieren. Da gesprochensprachliche Äußerungen flüchtig und Gespräche interaktiv produziert werden, ist es schwierig, Schülerleistungen im Bereich mündlicher Produktionen angemessen zu würdigen. Zum einen sind Ton- oder Videoaufzeichnungen mit anschließender Transkription im Unterricht normalerweise zu aufwendig, so dass keine Dokumentation des Gesprächsverlaufs vorliegt, auf die sich de‐ taillierte Analysen stützen könnten; zum andern ist oft nur schwer zu entscheiden, worin die Leistung eines einzelnen Sprechers besteht, da Gespräche immer das Resultat der In‐ teraktion und Kooperation aller Beteiligten sind. Wenn Mitschülerinnen und -schüler (und die Lehrkraft) Schülerleistungen reflektieren und kommentieren, sollten sie dies mithilfe eines kriteriengestützten Beobachtungsbogens tun. Dabei ist es sinnvoll, den Hör- und Be‐ wertungsauftrag auf bestimmte Aspekte hin zu orientieren. Evaluation und Rückmeldung sollten - besonders bei der Beurteilung des Gesamteindrucks - konstruktiv und konkret auf die Förderung sprachlicher Teilfertigkeiten ausgerichtet sein (Mönnich & Spiegel 2012). Ein individuelles Feedback erlaubt den Sprecherinnen und Sprechern eine angemes‐ sene Selbsteinschätzung und fördert gleichzeitig die Fähigkeit zur Beobachtung und Be‐ wertung bei allen Gesprächsteilnehmern. Eine entspannte Unterrichtsatmosphäre und ein kooperatives Klima sind wichtige Voraussetzungen, damit sich Schülerinnen und Schüler vor der Klasse und der Lehrkraft äußern können, ohne Sprechangst zu entwickeln. Kom‐ mentare sollten deshalb immer gesichtswahrend, nie während eines Gesprächsbeitrags und insgesamt sparsam erfolgen. Im Lernprozess Fehler zu machen, ist normal; Fehler zeigen 281 Förderung von Gesprächskompetenz im Bereich der beruflichen Bildung den Sprachstand des Lerners an, sie zu thematisieren und produktiv und kompetenzorien‐ tiert (nicht defizitorientiert) zu bearbeiten, ist Voraussetzung für Lernzuwachs. 4. Ausblick Zwar besteht die Hauptaufgabe des Deutschunterrichts an berufsbildenden Schulen im Lernbereich Mündlichkeit darin, den Schülerinnen und Schülern Gelegenheit zu bieten, auf berufsweltbezogener Ebene Gespräche zu untersuchen und eigenes Gesprächsverhalten zu erproben und zu evaluieren. Zur Gestaltung des Unterrichts eignen sich hier die darge‐ stellten Methoden zur Förderung monologischer und dialogischer Gesprächskompetenz, die vor allem durch fachdidaktische Forschung in allgemeinbildenden Schulen gut unter‐ sucht sind. Diese Methoden dienen der Entwicklung basaler, vielfältig nutzbarer Kompe‐ tenzen; sie werden häufig Schlüsselkompetenzen genannt. Darüber hinaus müssen die Schülerinnen und Schülern aber auch berufsspezifische kommunikative Kompetenzen erwerben, die eng mit den im Fachunterricht bearbeiteten Lerninhalten verzahnt sind. Im Rahmen der Kooperation von Deutschunterricht und Fach‐ unterricht, die durch die Lernfelddidaktik vorgegeben ist, kann die Deutsch-Lehrkraft bei der Identifikation berufsspezifischer sprachlicher Anforderungen am Arbeitsplatz helfen, Ergebnisse der linguistischen gesprächsanalytischen Forschung zu Diskursformen in un‐ terschiedlichen Berufsfeldern nutzbar machen und den Einsatz von anspruchsvollen Übungsformen wie zum Beispiel der Szenario-Methode unterstützen, bei der in einer Kom‐ bination von mündlich und schriftlich zu bearbeitenden kommunikativen Aufgaben kom‐ plexe betriebliche Abläufe simuliert werden. Literatur Becker-Mrotzek, Michael Mörs, Michaela/ Breyer, Wendelin/ Kuschel, Ralf (2015). Sprechen und Zu‐ hören. In: Becker-Mrotzek, Michael/ Kämper-van den Boogaart, Michael/ Köster, Juliane/ Stanat, Petra/ Gippner, Gabriele (Hrsg.). Bildungsstandards aktuell: Deutsch in der Sekundarstufe II. Braun‐ schweig: Diesterweg, 20-48. Becker-Mrotzek, Michael/ Brünner, Gisela (1999). 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Fachklassen des dualen Systems der Berufsausbildung, die zum Berufs‐ schulabschluss und zur Fachoberschulreife führen. Fachbereich: Wirtschaft und Verwaltung. Deutsch/ Kommunikation. MSW FS (2014). Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen. Richt‐ linien und Lehrpläne für das Berufskolleg in Nordrhein-Westfalen. Fachschule - Fachübergreif‐ ender Lernbereich. MSW GYM (2007). Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen. Bil‐ dungspläne zur Erprobung für die Bildungsgänge, die zu einem Berufsabschluss nach Landesrecht und zur allgemeinen Hochschulreife oder zu beruflichen Kenntnissen und zur allgemeinen Hoch‐ 283 Förderung von Gesprächskompetenz im Bereich der beruflichen Bildung schulreife führen. Teil III: Fachlehrplan Deutsch. Fachbereich Wirtschaft und Verwaltung. 1. Leis‐ tungskurs. MSW HBFS (2013). Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen. Bildungsplan zur Erprobung für die Bildungsgänge der Höheren Berufsfachschule, die zu beruf‐ lichen Kenntnissen und zur Fachhochschulreife führen. Bereich: Wirtschaft und Verwaltung. Deutsch/ Kommunikation. Pabst-Weinschenk, Marita (2000). Die Sprechwerkstatt. Braunschweig: Westermann. (= Sprech- und Stimmbildung in der Schule). Wagner, Roland W. (2006). Methoden des Unterrichts in mündlicher Kommunikation. In: Bredel, Ur‐ sula (Hrsg.). Didaktik der deutschen Sprache. Ein Handbuch. 2. Aufl. Paderborn: Schöningh, 747-759. 284 Peter Weber Ausbildungsvorbereitende Gesprächsförderung in der Sekundarstufe I Jan Henning Maxin 1. Einleitung Gesprächskompetenz nimmt im Kontext von Schule eine zentrale Rolle ein, da sie für alle Beteiligten in der Institution die fächerübergreifende Grundlage für das Gelingen des Un‐ terrichtsalltags darstellt (Becker-Mrotzek 2012a: 104, Becker-Mrotzek 2012b: XIII ). Ebenso gilt sie als elementarer Kompetenzbaustein für die Partizipation am gesellschaftlich-kul‐ turellen Leben. Diese Kompetenz ermöglicht dem Individuum, verschiedene an die Person gestellte medial-mündliche Anforderungen mittels unterschiedlicher Handlungsmuster in vielfältigen Situationen zu bewältigen ( KMK -R 2004: 6 f., Becker-Mrotzek 2012c: 69). Vor dem Hintergrund der geschilderten Wertigkeit kann davon ausgegangen werden, dass die Gesprächskompetenzförderung auch in der Sekundarstufe I der allgemeinbildenden Schule einen besonderen Stellenwert genießen sollte, um möglichen Anforderungen in der Ge‐ sellschaft und der späteren Berufswelt angemessen begegnen zu können. Demgegenüber stehen wiederkehrende Aussagen in Artikeln großer deutscher Zeitungen zu den Themen „unbesetzte Ausbildungsstellen“ und „Ausbildungsabbruch“. Diese suggerieren dem Leser, dass ein Mangel an geeigneten Bewerbern (mangelnde Ausbildungsreife) vorherrscht bzw. dass unzureichende Kompetenzen die Auszubildenden daran hindern, eine Ausbildung er‐ folgreich abzuschließen. Flankiert werden die Artikel häufig von Befragungen der Arbeit‐ geberseite und deren Äußerungen zu einer wachsenden Diskrepanz zwischen den benö‐ tigten und vorhandenen elementaren Kompetenzen potenzieller Auszubildender (Eberhard 2006: 5-14, Klein & Schöpper-Grabe 2013: 4). Genannt werden dabei verschiedene Kompe‐ tenzdefizite, so auch in der mündlichen Sprachbeherrschung/ Kommunikation (Klein & Schöpper-Grabe 2012: 48). Die emotional geführte Diskussion mit ihrer teilweise defizitären Perspektive auf die Auszubildenden scheint dabei eher Schuldige zu suchen als Lösungs‐ vorschläge zu präsentieren (Eberhard 2006: 12-15). Differenziert zu betrachten sind jedoch die Erkenntnisse zu verfügbaren Kompetenzen der Auszubildenden, welche häufig als un‐ zureichend deklariert werden. Efing weist darauf hin, dass nicht mehr nur Arbeitgeber(ver‐ bände) über eine mangelnde Ausbildungsfähigkeit der Jugendlichen klagen (2013a: 17). Stu‐ dienergebnisse aus den Disziplinen der empirischen Bildungsforschung, Wirtschafts- und Sozialforschung, der Pädagogik und der Fachdidaktiken würden belegen, dass heutige Haupt- und Realschüler gerade in ausbildungsrelevanten sprachlich-kommunikativen Kompetenzen Defizite aufweisen. Dabei sei eine konträre Entwicklung deutlich geworden: Die Anforderungen in der Ausbildung im Mündlichen und Schriftlichen seien in den letzten Jahren sukzessive gestiegen (2013b: 139) und befänden sich bereits am Anfang der Ausbil‐ dung auf einem hohen Anspruchsniveau, wohingegen der Kompetenzstand der neuen Auszubildenden stagnieren bzw. sich tatsächlich verschlechtern würde. Ebenfalls könnten Defizite während der Ausbildung kaum kompensiert werden (2013a: 18). Für die Gesprächs‐ kompetenz kann jedoch konstatiert werden, dass es keine Abschlussprüfungen oder large-scale-assessments (u. a. PISA & TIMSS ) an den allgemeinbildenden Schulen gibt, die diesen Bereich überprüfen. Genauso wenig gibt es für dieses Feld umfangreiche Kompe‐ tenzstandserfassungen am Anfang oder am Ende der Ausbildung. Grundler bemängelt folglich den gegenwärtigen Forschungsstand und hebt aufgrund der unzureichenden Da‐ tenlage hervor, dass es wenig hilfreich sei, von Defiziten oder angemessenen Gesprächs‐ kompetenzen zu sprechen, wenn Ergebnisse nicht umfassend und in belastbarer Form vor‐ liegen würden (2013: 107, Eberhard 2006: 13, Klein & Schöpper-Grabe 2013: 4 f.). Deutlich wird jedoch, dass an mehreren Stellen Veränderungen vor allem in struktureller Form er‐ folgen müssen, um Ausbildungsabbrüche zu vermeiden bzw. eine verbesserte, passgenaue Anbahnung zu erzielen und Defiziten entgegenzuwirken. Dies gilt insbesondere, da das vorhandene Übergangssystem mit seinen Nachqualifizierungsmaßnahmen nicht dazu führt, dass Kompetenzen erweitert und Defizite behoben werden oder dass diese zu einer Erhöhung der Ausbildungschancen führen (Efing 2013a: 18). Neben weiteren Ansatz‐ punkten könnte eine Fokussierung bestimmter ausbildungsrelevanter Unterrichtsinhalte in der allgemeinbildenden Schule womöglich dazu führen, dass Ressourcen besser und zielführender verwendet werden. Zum schulischen Aspekt führt Efing an, „durch eine frühe Prävention in der allgemeinbildenden Schule eine spätere Intervention überflüssig zu ma‐ chen“ (2013a: 19). Vor dem skizzierten Hintergrund und möglichen Ansatzpunkten für Ver‐ besserungen der Übergangsgestaltung soll in diesem Artikel die Sekundarstufe I der allge‐ meinbildenden Schule in den Blick genommen werden, genauer - die Rahmenbedingungen für die Umsetzung einer ausbildungsvorbereitenden Gesprächsförderung im Deutschun‐ terricht. Dazu werden im zweiten Kapitel der Terminus Gesprächskompetenz und damit korrelierende Probleme bei einer Gesprächsförderung erörtert (2). Das dritte Kapitel be‐ schreibt relevante Gesprächsanforderungssituationen der Ausbildung, die für eine unter‐ richtliche Thematisierung sinnvoll erscheinen (3). Dem schließt sich ein Einblick in curri‐ culare Vorgaben und Unterrichtsmaterialien an, um zu erfassen, welche Vorgaben bzw. Hilfen bereits existieren (4). Der Artikel schließt mit methodisch-didaktischen Hinweisen und Konzeptideen, unter welchen Bedingungen eine ausbildungsvorbereitende Gesprächs‐ förderung gelingen kann (5). 2. Gesprächskompetenz & Gesprächsförderung: Eine Einordnung Eine unterrichtliche Gesprächsförderung setzt auf personaler Ebene bei der Gesprächs‐ kompetenz des Einzelnen an. Der Begriff Gesprächskompetenz bzw. mündliche Kommu‐ nikationskompetenz subsumiert unter sich verschiedenste Bedeutungen und Dimensionen, die ein einheitliches Verständnis erschweren (Krelle 2013: 423). Bei der Verwendung des Begriffes Gesprächskompetenz im Kontext von Schule scheint es sinnvoll zu sein, von einem weiten Verständnis auszugehen, welches verschiedene miteinander verbundene Teilkompetenzen beinhaltet, sich individuell ausgeprägt in entsprechenden Anforderungs‐ situation zeigt (Interaktionssituationen) und durch Maßnahmen gefördert werden kann 286 Jan Henning Maxin (Krelle 2011: 15). Um Gesprächskompetenz ganzheitlich abzubilden und Teilkompetenzen transparent und damit sichtbar für eine Förderung zu machen, kann auf vorhandene Kom‐ petenzmodelle zurückgegriffen werden, wobei sich für den schulischen Kontext fachdi‐ daktische Modelle anbieten. Einheitliche, empirisch belegte und damit belastbare Kompe‐ tenzmodelle bzw. Testaufgaben, wie sie u. a. für das Zuhören (2014) oder das Lesen (2014) von Seiten des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen ( IQB ) zentral entwi‐ ckelt wurden, gibt es für den Bereich Gesprächskompetenz noch nicht, sodass gegenwärtig diverse Modell nebeneinander bestehen, die forschungsdisziplinär geprägt sind, aber den‐ noch Schnittmengen aufweisen. (Spiegel 2013a: 300, Krelle 2011: 16-19, Krelle 2014: 23 ff., Grundler 2013: 101). Nach Krelle besteht weitestgehende Einigkeit darüber, dass folgende Kategorien als Aspekte der Gesprächskompetenz angesehen werden können, wenn „sprachliche Organisationsverfahren“ von Gesprächsteilnehmern erfasst werden sollen. Anforderungen Erläuterung Themenmanagement ein Thema bzw. einen Inhalt verarbeiten und verstehen können Gesprächs- und Handlungsmanagement die Gesprächs- und Handlungsmuster produ‐ zieren und verstehen können Sprachmanagement die sprachlichen (z. B. grammatischen) Mittel anderer verstehen und selbst angemessen ein‐ setzen können Identität- und Beziehungsmanagement eine Identität bzw. ein Image in die Beziehung interpretieren und gestalten können Management von Non- und Paraverbalen die eigenen Beiträge durch para- und nonverbale Mittel unterstützen und ebensolche Mittel an‐ derer deuten können Tab. 1: Aspekte von Gesprächskompetenz nach Krelle (2011: 19, in Rückgriff auf Spiegel (Gesprächs‐ management-Modell) 2013b: 440-440, Spiegel 2007: 9, Krelle 2014: 44-48). Gründe für die genannten Forschungsdefizite können möglicherweise mit dem noch relativ jungen Forschungsfeld zusammenhängen, welches sich wissenschaftlich mit Gesprächen und damit verbundenen Kompetenzen beschäftigt, insbesondere im Vergleich zur Schreib‐ forschung (Spiegel 2013a: 300). Des Weiteren müssen die aufwändigen Erhebungsverfahren, die durch die genuinen Eigenschaften von Mündlichkeit und Gesprächen bedingt sind (Flüchtigkeit, Prozesshaftigkeit und Interaktivität) sowie die Problematik einer gemeinsam gestalteten Gesprächswirklichkeit berücksichtigt werden, sodass es schwierig ist, aus einer kollektiven Leistung eine individuelle Kompetenz abzuleiten (Krelle & Neumann 2014: 23-24, Grundler 2013: 101, Eriksson 2012: 123 f.). Zusammenfassend beschreibt Eriksson die vorliegende Forschungssituation folgendermaßen: „Der Bereich der Münd‐ lichkeit ist in der Schulsprachendidaktik ein Entwicklungsland.“ (2012: 126). Auf unter‐ richtspraktischer Ebene zeigt sich ein ähnliches Bild. Durch Vergleichs- und Abschlussar‐ beiten nehmen Unterrichtsinhalte, die Schriftlichkeit als Kernbereich aufweisen, (gezwungenermaßen) einen größeren Bereich ein als Themen, die Mündlichkeit explizit 287 Ausbildungsvorbereitende Gesprächsförderung in der Sekundarstufe I fokussieren. Ebenfalls ist der reale Redeanteil des einzelnen Schülers im Unterricht im Ver‐ gleich zu Lehrkräften immer noch sehr gering (Becker-Mrotzek 2012a: 104). Dadurch wird dem Schüler die Möglichkeit genommen, diese Kompetenz überhaupt erweitern zu können. Spiegel unterstreicht die Wertigkeit einer Förderung in der Sekundarstufe I, wenn sie darauf hinweist, dass die Selbstwahrnehmung als vermeintlich kompetenter Sprecher über die Komplexität des Sprechens und Zuhörens hinwegtäuschen kann und Routinebildung eine Bewusstwerdung verhindere. In der Folge würden die komplexen gesellschaftlichen/ beruf‐ lichen Anforderungen, die mit der Gesprächsfähigkeit verbunden sind, gar nicht wahrge‐ nommen (2013a: 300). Inwieweit Dimensionen des Kompetenzbereiches Sprechen & Zu‐ hören mit Ausbildungsvorbereitung kombiniert werden können und welche Potenziale damit verbunden sind, ist gegenwärtig ebenfalls unklar. Forschungsergebnisse oder Un‐ terrichtsmaterialien zu dieser Verbindung sind kaum zu finden. Auch empirische Überprü‐ fungen didaktischer Konzepte fehlen, da diese Themenverknüpfung gerade erst in den Fokus bestimmter Forschungszweige gerückt ist (Spiegel 2013a: 300). 3. Gesprächs-Anforderungssituationen in Ausbildung und Beruf Schule kann und soll nicht auf spezifische Berufskompetenzen vorbereiten, sondern es müssen für das Ziel einer ausbildungsvorbereitenden Gesprächsförderung benötigte be‐ rufs(feld)übergreifende Kompetenzen in entsprechenden Anforderungssituationen identi‐ fiziert werden. Diese Erkenntnisse könnten dann didaktisch aufbereitet in den Unterricht der allgemeinbildenden Schule implementiert bzw. in expliziter(er) Form realisiert werden. Dazu wurde von verschiedenen Disziplinen damit begonnen, reale Anforderungen an Aus‐ zubildende empirisch zu erfassen (Knapp et al. 2008, Efing 2010, Efing & Häußler 2011). Efing 2010, Efing & Häußler 2011 Knapp et al. 2008 • Organisatorische Ge‐ spräche (Disziplinar-, Krankenrückkehrge‐ spräch, Entwicklungsge‐ spräch) • Instruktionsgespräch (bspw. Einweisung in die Bedienung einer Ma‐ schine) • Projekt-/ Teambespre‐ chung • Diagnose-/ Problemlö‐ sungsgespräch • Schulungsvorträge (zu Fachinhalten oder zur Ar‐ beitsorganisation und zum Unternehmen) • Sicherheitsunterwei‐ sungen • Anleiten, instruieren • Erklären • Moderieren • Beiträge formulieren • Diskutieren • Berichten • Präsentieren, vortragen • Darstellen • Benennen • Aushandeln • Kundengespräche • Telefongespräche Tab. 2: Ausbildungsrelevante Diskursarten und Interaktionsmuster, nach Efing (2013b: 134) 288 Jan Henning Maxin Mündliche Kommunikation: • kommt in der Ausbildung quantitativ ein größerer Stellenwert zu als dem Schriftli‐ chen. • findet meist „in empraktischen dialogischen Face-to-Face Situationen mit einem Vorgesetzten oder Kollegen statt.“ • „ist selten unidirektionale verbale Interaktion zwischen dem Ausbilder und seinen Auszubildenden, sondern multidirektionale Interaktion“ zwischen Auszubildenden auf der gleichen Hierarchieebene (Efing 2013b: 134 f.). Besonders aktives Erklären, Darstellen und Präsentieren kristallisieren sich als zentrale Interaktionsmuster der Ausbildung heraus, wobei die Wertigkeit von Fachsprache weniger relevant zu sein scheint als häufig angenommen (Efing 2013b: 134, 136). Verlangt werden eine effektive zielführende Kommunikation und weniger sprachsystematische Fähigkeiten (Efing 2013b: 140). Nachfolgend sind Anforderungen aufgelistet, die häufig in Kombination und situationsbedingt schnell abgerufen werden müssen (Spiegel 2013a: 301): • Beherrschen von Gesprächsregeln, Eröffnen und Durchführen von Gesprächen • Umgang mit sprachlichen Handlungen: Erklären, Argumentieren, Fragen, Instru‐ ieren • Einhalten der korrekten Modalität und des Gesprächsstils • Adressatenbezug • Verstehenskompetenz Spiegel plädiert für die schulische Vermittlung von soliden Grundlagen, um auf berufsspe‐ zifische Anforderungen reagieren zu können. Dazu gehören (2013a: 301): • „der Aufbau von kommunikativen Basiskompetenzen“ • „die Schulung von Kommunikationsbewusstheit und -sensibilität“ • „die Fähigkeit, kommunikative Erfordernisse zu erkennen“ und den Aneignungs‐ prozesse zu unterstützen Je nach Beruf treten spezifische Anforderungen hinzu, die neue Kompetenzen erfordern oder vorhandene Kompetenzen stärker fokussieren (Spiegel 2013a: 301). Somit kann eine entwickelte Gesprächskompetenz mit ihren vielfältigen Teilkompetenzen als „Eintritts‐ karte“ in den Ausbildungsberuf bzw. als Voraussetzung für das Gelingen der Ausbildung gesehen werden, da (berufsspezifische) mündliche Kommunikationsanforderungen ange‐ messen gelöst werden können (Grundler 2013: 93). Efing schreibt dazu: Wer Gesprächsfähigkeiten wie Informieren, (ein Problem, einen Sachverhalt) Darstellen, Erklären, Anleiten, Diskutieren, Begründen, Moderieren etc. fördert, fördert komplementär die Ausbil‐ dungsvorbereitung und die individuelle Persönlichkeitsentfaltung. (2011: 96) 4. Gesprächsförderung im Unterrichtsfach Deutsch: Ein Blick auf curriculare Vorgaben und Unterrichtsmaterial Der Blick auf die gesetzlichen Vorgaben auf Bundes- und Landesebene zu den Bereichen Gesprächskompetenz und Ausbildungsbezug zeigt folgendes Bild: Die KMK -Vorgaben für 289 Ausbildungsvorbereitende Gesprächsförderung in der Sekundarstufe I den Hauptschulabschluss und den mittleren Schulabschluss unterstreichen beide die be‐ sondere Bedeutung des Faches Deutsch für die Berufsausbildung ( KMK -H 2005: 6, KMK -R 2004: 6). Auch im Kompetenzbereich Sprechen und Zuhören, in dem Gesprächskompetenz verortet werden kann, wird die Verbindung zum Berufsleben hergestellt ( KMK -H 2005: 9 f.). Grundler merkt bei ihrer Analyse der KMK Standards an, dass diese sehr offen gestaltet sind und viele Fragen bei bestimmten Kompetenzformulierungen unbeantwortet lassen würden (2013: 99). Den von ihr betrachteten Lehrplänen auf Landesebene bescheinigt sie jedoch differenzierte und umfassende Kompetenzerwartungen, in denen sich die gefor‐ derten KMK -Kompetenzen am Ende der 9. Klasse wiederfinden lassen und die auf ihr Kompetenzmodell übertragbar sind. Ebenfalls wird angemerkt, dass beim Vergleich der Bildungsstandards mit den Kompetenzerwartungen der Wirtschaft große Überschnei‐ dungen vorhanden sind und die schulischen Vorgaben deutlich über die Erwartungen der Ausbildungsseite hinausgehen würden (Grundler 2013: 106 f., Efing 2013b: 141). Dabei sei die Vergleichbarkeit der Kompetenzerwartung aufgrund sehr allgemein formulierter Erwar‐ tungen der Betriebe und mangelnder Ausdifferenzierung nicht eindeutig übertragbar (Grundler 2013: 107). Kommunikative Praktiken des Kompetenzbereiches Sprechen und Zuhören der Bildungsstandards wie das Präsentieren oder Argumentieren haben im Deutschunterricht einen eigenen Platz als curricular verankerte Lerngegenstände, nicht nur als Lernmedium. Im Gegensatz zu anderen Fächern haben die Lehrkräfte im Fach Deutsch somit theoretisch zeitliche Ressourcen zur Verfügung, um Inhalte zu üben und auf der Metaebene zu reflektieren (Sprache und Sprachgebrauch untersuchen, KMK -R 2004: 9). Von Spiegel wird mit Blick auf die Institution Schule hervorgehoben, dass Erkenntnisse aus der Gesprächsforschung und -didaktiken den Lehrkräften und Schulbuchautoren kaum bekannt seien (2013a: 300). Materialien seien geprägt von idealisierten Dialogen und künst‐ lichen Redesituationen, die unrealistische und stereotype Vorstellungen vermitteln würden. Diese Aussage wird von Brünner geteilt, wenn sie schreibt: „Schließlich mangelt es an ausgearbeiteten Konzepten sowie an Unterrichtsmaterialien zur Vermittlung beruflicher mündlicher Fähigkeiten.“ (Brünner 2007: 39). Die Ergebnisse einer Schulbuchanalyse von Efing zeigen, dass die untersuchten Schulbücher zwar viele ausbildungsrelevante Themen, Methoden (Projektarbeit) und sprachliche Handlungsformen fokussieren und spiralcurri‐ cular wiederholen, bestimmte relevante Kompetenzen wie das Erklären/ Instruieren, das gezielte Fragen und Moderieren aber fast vollkommen ignorieren (2013c: 248, 251). Trotz des Vorkommens wichtiger Themen sei jedoch unklar, welche Wertigkeit die Schulbuch‐ vorgaben überhaupt für den Unterrichtsalltag besitzt. 5. Methodisch-Didaktische Perspektiven für eine ausbildungsvorbereitende Gesprächsförderung in der Sekundarstufe I Die bisherigen Ausführungen zum Bereich ausbildungsvorbereitende Gesprächsförderung haben gezeigt, dass in vielen Punkten Forschungsbedarf besteht und es auf unterrichts‐ praktischer Ebene für Lehrkräfte aus mehreren Gründen schwierig ist, sich diesem Thema zu nähern (Spiegel 2013a: 300). Es kann vermutet werden, dass eine explizite und reflexive Gesprächskompetenzförde‐ rung im Unterricht und in logischer Konsequenz auch die Verknüpfung mit Kompetenz‐ 290 Jan Henning Maxin anforderungen der Ausbildung zu kurz kommen. Als Orientierungsrahmen für eine prak‐ tische Umsetzung im Deutschunterricht können die Hinweise von Spiegel (2013a) und Efing und Häußler (2011) gelten, die sich sowohl auf eine allgemeine Gesprächsförderung als auch auf eine Förderung mit Ausbildungskontext anwenden lassen und mit Ergebnissen der Anforderungsanalyse in der Ausbildung zu großen Teilen korrelieren. Bei der Ausei‐ nandersetzung mit Gesprächsfähigkeitsförderung sind die Kernpunkte folgenden Satzes zu berücksichtigen: „Das mündlich Kommunizierte ist flüchtig, sequenziell und multimodal, ein Zugleich von Darbietung und Wahrnehmung, aber ein Nacheinander bzgl. der inhalt‐ lichen Anreicherung und Entfaltung.“ (Spiegel 2013a: 305). Spiegel plädiert in einem ersten Schritt für eine bewusste Wahrnehmungsschulung aller drei Kommunikationsebenen, da Mündlichkeit mehr ist (multimodal) als nur Sprechen (sprachlich, parasprachlich und non‐ verbal) (2013a: 303 f.). Dazu empfiehlt sie die Arbeit mit Videos, die mit entsprechenden Beobachtungsaufträgen analysiert werden können. Geeignet scheinen auch Verfahren wie die fragegeleitete Transkriptanalyse sowie das Verfahren der Simulation authentischer Fälle ( SAF ) zur Erprobung praktischer Handlungsmöglichkeiten und zum Aufbau prozeduralen Wissens (Becker-Mrotzek & Brünner 2002, Brünner & Weber 2012). Das Ziel ist der Aufbau kommunikativen Wissens (explizites Wissen) durch die gezielte Analyse und Reflexion eigener und fremder kommunikativer Prozesse und somit die Verknüpfung der KMK Kom‐ petenzbereiche „Sprechen und Zuhören“ - „Sprache und Sprachgebrauch zu untersuchen“. Als weiteren Schritt merkt Spiegel an, dass für die kooperative Teilhabe an Gesprächen sensibilisiert werden müsse, da mündliche Kommunikation fast immer interaktiv abläuft und man als Sprecher und Hörer wechselseitig aufeinander Einfluss nimmt (2013a: 304). Dazu gehört: • das Sensibilisieren für Gesprächsregeln • „die Bezugnahme auf Inhalte der Vorgängerbeiträge“ • „die Durchführung komplementärer sprachlicher Handlungen“ (Antworten auf Fragen, Durchführung von Erklärungen bei Wissenslücken) • „das Signalisieren von Verstehensproblemen in der Zuhörerrolle“ (Liste nach Spiegel 2013a: 304) Weitere zu berücksichtigende Punkte können sein: • Die gezielte Schulung adressatenorientierten Zuhörens (hörerseitige Strategien) • Bewusstwerdung, dass eine Orientierung am Schriftlichen nicht zielführend ist • Intensive Kommunikationspraxis „durch einen Mix an Erarbeitung von Inhalts-, Sprach- und Handlungswissen, an Einübung in Trainings- und realen Situationen und durch Reflexion und Beobachtung.“ (Liste nach Spiegel 2013a: 305-307) Die Unterrichtsplanung sollte bewusst gesprächsfördernd ausgerichtet sein, die Verknüp‐ fung von Sprache und Berufswelt verdeutlichen und förderliche Sozialformen berücksich‐ tigen, da dieses Thema Zeit, Aufmerksamkeit und entsprechende Kommunikationsanlässe benötigt (Spiegel 2013a: 308, Becker-Mrotzek 2012a: 103). Eine Berücksichtigung von kom‐ munikativen Praktiken, die ansonsten nicht im Fokus stehen, sich aber durch empirische Erhebung als in der Ausbildung relevant erwiesen haben (Erklären/ Instruieren/ Mode‐ 291 Ausbildungsvorbereitende Gesprächsförderung in der Sekundarstufe I rieren), ist ebenfalls zu empfehlen, um so eine passgenaue(re) Anbahnung zu erzielen. Ebenfalls sei die sprachliche Vorbildfunktion der Lehrkräfte nicht zu unterschätzen. Hilf‐ reich können bei der Erfassung kriterienorientierte Analyseraster sein, die in vereinfachter Form auch von den Schülern bei der Beobachtung von Kommunikationsprozessen einge‐ setzt werden können und die sich an reduzierten Kompetenzmodellen orientieren (Spiegel 2013a: 315). Abschließend merkt Spiegel an, dass die Gesprächsförderung dann erfolgreich sei, wenn sie in alle kommunikativen Situationen des Unterrichts eingebunden sei und so als selbstverständlicher Bestandteil von Interaktionen alle Schüler erreiche. Diese Aussage unterstreicht auch Becker-Mrotzek, wenn er empfiehlt, bei der Planung anderer Unter‐ richtsthemen vorhandene Gesprächsanlässe zu identifizieren, systematisch zu nutzen und miteinander zu verknüpfen, da auch dort Möglichkeiten bestehen, für das Thema zu sen‐ sibilisieren und eine Förderung zu erzielen (Becker-Mrotzek 2012a: 111-114). Efing & Häußler (2011: 14) haben folgende Punkte als zentrale Gesprächsbausteine eines ausbil‐ dungsvorbereitenden Deutschunterrichts formuliert. Es geht ihnen um: • „das Vermitteln einer muttersprachlichen Mehrsprachigkeit im Sinne eines breiten sprachlich-kommunikativen Repertoires, das flexibel ziel-, situationssowie adres‐ satengerecht eingesetzt werden kann; “ • „das Vermitteln von alltäglich wie beruflich relevanten kommunikativen Fähig‐ keiten wie Präsentieren, Beschreiben, Erklären, Dokumentieren, (Nach-)Fragen; “ • „das verstärkte Arbeiten in Kleingruppen, um die kommunikativen Fähigkeiten, die Projekt- und Teamarbeit und -koordination verlangen, anzubahnen; “ • „die verstärkte Kooperation mit anderen Sachfächern, in denen explizit Kommuni‐ kation zum (Reflexions-) Gegenstand gemacht werden muss und in denen Kommu‐ nikation an echten, relevanten Sachverhalten und mit Ergebnissen, mit denen wei‐ tergearbeitet wird, thematisiert werden kann.“ (Liste nach Efing & Häußler 2011: 14) Weitere Unterrichtsaufgabenbeispiele, Methoden und Sozialformen zur Gesprächskompe‐ tenzförderung finden sich bei Krelle (2013), Krelle & Neumann (2014), Polz (2012) und Be‐ cker-Mrotzek & Brünner (2006), Hinweise zur mündlichen Kommunikation im Beruf bei Brünner (2007). Erste Ergebnisse aus einer Interventionsstudie zum Thema ausbildungs‐ vorbereitende Gesprächsförderung am Beispiel der kommunikativen Praktik des Erklärens konnten zeigen, dass der Aufbau von reflexiven Wissens zum Thema Gesprächskompetenz allgemein und mit Ausbildungsbezug unter Berücksichtigung der aufgelisteten Hinweise im Unterricht gelingen kann. Des Weiteren wurde nachgewiesen, dass die Verknüpfung von Sprache und Ausbildungsbezug einen hohen motivatorischen Wert besitzt. Insbeson‐ dere die Arbeit mit einem schülerseitigen Videoportfolio als Entwicklungsprozessbegleiter und gleichzeitigem Reflexions-Lerngegenstand hat sich als sinnvoll erwiesen (Maxin, in Vorbereitung). Die geschilderten Konzeptbzw. Projektideen zeigen einen Rahmen auf, deren Punkte bei der unterrichtlichen Planung einer Gesprächsförderung mit Ausbildungs‐ bezug berücksichtigt werden müssten und veranschaulichen, unter welchen Bedingungen diese erfolgreich sein kann. 292 Jan Henning Maxin Literatur Becker-Mrotzek, Michael (Hrsg.) (2012). Mündliche Kommunikation und Gesprächsdidaktik. 2. korrig. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren (Deutschunterricht in Theorie und Praxis, Bd. 3). Becker-Mrotzek, Michael (2012a). Unterrichtskommunikation als Mittel der Kompetenzentwicklung. In: Becker-Mrotzek, Michael (Hrsg.), 103-115. Becker-Mrotzek, Michael (2012b). Vorwort. In: Becker-Mrotzek, Michael (Hrsg.), IX-XIV. Becker-Mrotzek, Michael (2012c). Mündliche Kommunikationskompetenz. In: Becker-Mrotzek, Mi‐ chael (Hrsg.), 66-83. Becker-Mrotzek, Michael/ Brünner, Gisela (2002). Simulation authentischer Fälle (SAF). In: Brünner, Gisela/ Fiehler, Reinhard/ Kindt, Walther (Hrsg.). Angewandte Diskursforschung. 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Kommunikative Praktiken und für sie geltende Regeln werden, so Fiehler, in den verschiedensten Zusammenhängen gelernt. Ein großer Teil der kommunikativen Praktiken (mit einem Schwerpunkt auf den schriftlichen) erfolgt in der Schule, aber auch bereits vor der Schule sowie außerhalb (z. B. in peer-groups) werden kommunikative Praktiken er‐ worben. Darüber hinaus werden Praktiken auch nach Durchlaufen der Ausbildungsinsti‐ tutionen erlernt (im beruflichen Kontext etwa Praktiken, wie ‚eine Dienstbesprechung durchführen‘ oder ‚ein Arbeitszeugnis schreiben‘ (Fiehler 2004: 103). Unter dem Begriff „Beratung“ verstehe ich eine kommunikative Praktik, die durch Inter‐ aktionen gekennzeichnet ist, im Rahmen derer 1. ein Ratsuchender auf der einen und ein Ratgeber auf der anderen Seite zum Zwecke der Beantwortung einer Frage/ von Fragen bzw. der Lösung eines Problems/ von Problemen aus einem mehr oder wenig fest umrissenen fachlichen Bereich (z. B. Psychologie, Steuerrecht etc.) bestimmte Ressourcen (Informationen, Wissen, Geld) miteinander austauschen (Kiefer 2013: 37) = Beratung im Sinne einer eigenständigen Dienstleistung. Nach Rehbein (1985: 350) geben Sachverständige in Beratungen „Handlungsempfehlungen an Personen, die das sachverständige Wissen brauchen für eine Problemlösung. Beratungen haben also den Zweck, Expertenwissen an Ak‐ tanten weiterzugeben“. 2. ein Kaufmann/ kaufmännischer Angestellter einen Kaufinteressierten zum Zwecke des Kaufs einer (erklärungsbedürftigen) Ware/ einer (erklärungsbedürftigen) Dienst‐ leistung auf Wunsch des Kunden oder eigenständig Wissen bzw. Informationen zur Verfügung stellt, die Einfluss auf die Kaufentscheidung nehmen (können) = Beratung als Bestandteil eines Verkaufsgesprächs. Mit Weber (2014: 34) bildet das Beraten einen Teil der Kernphase (eingerahmt durch die Eröffnungs- und Beendigungsphase) eines Verkaufsgesprächs, wenn es sich um einen Be‐ ratungs- und nicht nur um einen kurzen Aushändigungsverkauf handelt. Neben den kon‐ stitutiven Elementen des Anliegen-Klärens und Waren-Anbietens kann sich fakultativ ein Beratungsgespräch ergeben. Diese Phase ist, so Weber (ebd.) fakultativ, in ihr kann der Verkäufer eher objekt-orientiert Wareneigenschaften beschreiben, Fachinformationen er‐ klären, Kunden über die Warenverwendung instruieren oder auch eher subjektorientiert Warenqualität einschätzen, Ratgeben, Ware empfehlen. Formuliert der Käufer Einwände gegen die angebotene Ware wird die Höhe des Preises thematisiert oder unternimmt der Verkäufer Aktionen, um die Angebotsannahme zu fördern, dann können diese Gesprächs‐ aufgaben in eigenen Handlungsmustern bearbeitet werden. Diese Elemente des Ver‐ kauf-Förderns sind nach Weber ebenfalls fakultativ. Für den Verkauf in einem Gartenbau‐ center sieht er etwa folgendes prototypisches Ablaufschema sprachlich-kommunikativer Aufgaben, in die die Beratung eingebettet ist: Abb. 1: Prototypisches Ablaufschema eines Verkaufsgesprächs im Gartenbaucenter nach Weber 2014: 34 298 Karl-Hubert Kiefer 2. Kommunikative Herausforderung beratender Dienstleistungen: Sprachliche „Flexibilität“ Der Rahmenlehrplan für den Ausbildungsberuf des Kaufmanns im Einzelhandel/ der Kauf‐ frau im Einzelhandel (nach Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 17. 06. 2004) gibt als Bildungsziel vor, die Schülerinnen und Schüler zu kunden- und unternehmensphiloso‐ phieorientierten, fachgerechten, kundenverhaltensangemessenen, situationsadäquaten und zielgerichteten (sprachlichen) Handeln im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit anzu‐ leiten. Die hier lose, lernfeldübergreifend aus dem Lehrplan zusammengefügten Attribute spiegeln zentrale, häufig vielschichtig miteinander verschränkte Einflussfaktoren auf die Kommunikation in Verkaufsräumen wider: • Verkaufsgegenstand und mit ihm verbundene Eigenschaften (z. B. Varianten, Be‐ schaffenheit, Funktionen/ Anwendungen von Produkten & Zubehör etc.) mit unter‐ schiedlichem Grad an Fachlichkeit • Kundenbedürfnisse, -einstellungen und Kundenverhalten • Unternehmensanforderungen, Unternehmensimage, spezifische Arbeitsplatzbzw. Kommunikationsbedingungen Diese Faktoren prägen entscheidend den Kommunikationsverlauf, sie bilden die variablen Elemente innerhalb des Diskurstyps „Verkaufsgespräch“ und den mit ihm verbundenen all‐ gemeinen Kommunikationszielen (Kaufabschluss vollziehen/ zum Kaufabschluss bewegen), übergeordneten kommunikativen Aufgaben (Verkauf, Beratung, Service) und gängigen kommunikativen Praktiken/ Handlungsmustern (z. B. Fragen zum Bedarf stellen, Nutzen-Vor- und Nachteile abwägen, Kaufempfehlung geben etc.) und gehen im (deklara‐ tiven und prozeduralen) Wissen, in (Rollen-)Einstellungen, Wahrnehmungen und deren aktuelle kognitive Verarbeitung und schließlich in Äußerungsakten und Handlungen des Personals auf. Die Faktoren Verkaufsgegenstand, Kundenanforderungen, Unternehmens‐ umfeld konstituieren Verkaufsgespräche aus Produktperspektive als singuläre Kommuni‐ kationsereignisse, aus Prozessperspektive generieren sie kommunikative „Dekohärenzef‐ fekte“, d. h. sie sorgen für ein unterschiedliches Maß an Gesprächskomplexität: dafür, dass in die Kommunikation (neue) Themen, Informationen, Probleme, Fragestellungen etc. Ein‐ gang finden, die (neue) Kommunikations- und Interaktionsaktivitäten eröffnen bzw. erfor‐ dern. Insofern lassen sich die oben genannten Faktoren auch als eine Art Diskurs-Komple‐ xitätstreiber betrachten, die die Verkäuferinnen und Verkäufer mehr oder weniger spontan kognitiv/ sprachlich zu verarbeiten haben, auf die sie flexibel reagieren können sollten. Die Entwicklung des übergeordneten Ziels der Handlungskompetenz, im Sinne der KMK (2007: 10) verstanden als „die Bereitschaft und Fähigkeit des einzelnen, sich in … berufli‐ chen … Situationen sachgerecht, durchdacht sowie individuell und sozial verantwortlich zu verhalten“ setzt somit, und das zeigt sich auch in vielen Lehrplankonkretisierungen einzelner kaufmännischer Berufsfelder, „Flexibilität“ im Umgang mit Sprache voraus: Fle‐ xibilität beim Einsatz sprachlicher Mittel bzw. Strukturen auf der Ebene der Phonologie, des Wortschatzes (semantisch-lexikalische Ebene), der Grammatik (morphologisch-syn‐ taktische Ebene) und der Interaktion (pragmatisch-kommunikative Ebene), um die bewusst steuerbaren kognitiv-sprachlich-kommunikativen Aktivitäten (z. B. Wissensaneignung, In‐ 299 Kommunikative Kompetenzen für beratende Dienstleistungen formationsverarbeitung, Zieldefinition etc.) für die am Verkaufsvorgang beteiligten Ak‐ teure (Kunden - Unternehmen - Verkaufspersonal) zufriedenstellend gestalten zu können. Sprachliche Flexibilität als Antwort auf die mitunter sehr komplexen fachlichen sowie sprachlich-kommunikativen Herausforderungen im Rahmen beratender Sequenzen in Ver‐ kaufsgesprächen möchte ich hier in Anlehnung an die begrifflichen Annäherungen von Lehmann/ Knapp (nach König 2012: 30-31) sowie Neuland (2009: 50-53) und in Anbetracht der Tatsache, dass er auf einer höheren Abstraktionsebene wie etwa „System- und Regis‐ terkompetenz“ (nach Schmidt & Hergen 2011: 38 „die individuelle Verfügung über Varie‐ täten und Sprechlagen … und … Regeln der situationsadäquaten Verwendung“) angesiedelt ist, als „Sprachvariationskompetenz“ bezeichnen. Unter „Sprachvariationskompetenz“ ver‐ stehe ich den Willen, die Bewusstheit und die praktische Fähigkeit zur eigenständigen Wahrnehmung/ Rezeption, Reflexion und zur individuellen, differenzierten, regelgeleiteten, flexiblen, routinierten Auswahl und Verwendung unterschiedlicher sprachlicher Ausdrucksformen auf phonologischer, semantisch-lexikalischer, morphologisch-syntaktischer und pragmatisch-kommunikativer Ebene, bezogen auf sämtliche Fertigkeitsbereiche, auf die Parameter nationale Varietäten, Dialekte, Register und Stile, auf unterschiedliche Gattungen, Genres und Medien, zum Zwecke einer fachbzw. sachgerechten, zielgerichteten, strategischen, rollen-, bedarfs-, funktions- und situationsangemessenen Erfüllung beruflicher Aufgaben bzw. Ausgestaltung beruflicher Hand‐ lungsoptionen. Die Definition ist mit Absicht breit angelegt. Sprachvariationskompetenz bewegt sich zwi‐ schen den Polen des Sprachbewusstseins auf der einen und dem automatisierten Zugriff unterschiedlicher Text- und Ausdrucksroutinen auf der anderen Seite, umfasst die Beherr‐ schung von Registervarianten der Allgemein-, Bildungs-, Berufs- und Fachsprache genauso wie die Fähigkeit zur Unterscheidung von bzw. den Wechsel zwischen verschiedenen Sti‐ lebenen und den Gestaltungselementen mündlicher und schriftlicher Gattungen, Genres und Medien. Dreh- und Angelpunkt der Variation ist die jeweilige Situation, in dem sich der Kommunizierende bzw. die Kommunikationspartner befindet/ befinden, d. h. eine Lage, ein Zustand, in dem sowohl individuell-erfahrungsgeprägte als auch real-aktuelle Faktoren Einfluss auf die Sprachformwahl nehmen. 3. Kommunikative Teilkompetenzen des Beratens Neben dieser allumgreifenden Fähigkeit zu sprachlich-kommunikativer Flexibilität im Ver‐ kaufsbzw. Beratungsprozess gibt es eine Reihe weiterer relevanter Teilkompetenzen be‐ rufsbezogener kommunikativer Kompetenz, die beim Beraten eine Rolle spielen. Vorneweg sei auch der Begriff der „berufsbezogenen kommunikativen Kompetenz“ hier näher be‐ stimmt, dessen einzelnen Variablen, wie wir bei der Kompetenzabgrenzung später sehen werden, eine Rolle spielen: Ich verstehe hierunter das Verfügen über und die das der Sache/ dem Arbeitsgegenstand/ dem zugrundeliegenden Fachgebiet angemessene, bewusste, wil‐ lentliche, zielgerichtete Anwenden fachlichen, berufspraktischen und sozialen Wissens sowie die Beherrschung jener sprachlichen Mittel und Fertigkeiten einschließlich der Re‐ geln und Normen ihrer Anwendung, mit Hilfe derer ein Sprachanwender den spezifischen 300 Karl-Hubert Kiefer Anforderungen gerecht werden kann, die an ihn, seine Position, sein Aufgabengebiet bzw. seinen Arbeitsplatz in Institutionen oder Unternehmen vor dem Hintergrund ihres Tätig‐ keitsschwerpunktes, ihrer strategischen Ziele, der hier vorgegebenen Organisationsstruk‐ turen, der internen Arbeits- und Informationsabläufe, der jeweiligen soziokulturellen Be‐ sonderheiten bzw. des soziokulturellen Umfelds, in die sie eingebunden sind, im Kontakt mit anderen Akteuren (im Innern) bzw. Beteiligten an Arbeits- und Geschäftsbeziehungen (von außen) gestellt werden (Kiefer 2013: 37). An dieser Stelle soll es darum gehen, Teilkompetenzen berufsbezogener kommunikativer Kompetenz zu bestimmen, mit denen einer der zentralen Aufgabenkomplexe der Kern‐ phase von Verkaufsgesprächen: das Beraten typischerweise realisiert wird. Als Folie dienen exemplarisch zwei umfassendere Feldstudien zu Verkaufsgesprächen bzw. zur Verkaufsbe‐ ratung - u. a. die bereits erwähnte gesprächslinguistische Untersuchung zu Verkaufsgesprä‐ chen in einem Gartenbaucenter von Weber (2014: 37-43) sowie die diskursanalytische Un‐ tersuchung zum Computerdiscounthandel von Dorfmüller (2006: 177-267). Als einschlägige kommunikative Kompetenzen zur Realisierung der kommunikativen Praktik des „Bera‐ tens“, die es im Ausbzw. Weiterbildungskontext zu trainieren gibt, sind demnach zu zählen: 1. Fachkompetenz/ Fachmethoden-Kompetenz: Kenntnisse über Produkte (Hersteller), ihre Eigenschaften, Verwendungsweisen, Varianten, Vor- und Nachteile gegenüber anderen Produkten etc. 2. Prozess- und Prozedurenkompetenz: Kenntnis organisatorischer Prozesse bzw. Pro‐ zeduren z. B. (interne Vorgaben über Liefer-, Bestell-, Service-, Reklamationsvor‐ gänge, Preislisten etc.) 3. Sprachkompetenz: insbesondere aktive Beherrschung des jeweiligen Produkt-Fach‐ wortschatzes; sach- und kundengerechte Beschreibungs- und Erklärfähigkeit 4. Hörverstehens-Kompetenz: Fähigkeit detaillierten Hörens insbesondere in der Phase der (erweiterten) Bedarfsermittlung einschließlich der Fähigkeit zu Informa‐ tionsspeicherung bzw. -abruf 5. Leseverstehens-Kompetenz: insbesondere Fähigkeit zur schnellen Erfassung wich‐ tiger Produkt-Spezifikationen, Trennung wichtiger von unwichtigen Informationen in Produktspezifizierungen zur Beratungsunterstützung 6. Gesprächsführungskompetenz: insbesondere Fragekompetenz; Fähigkeit zur Präzi‐ sion und Zielgerichtetheit bei der Formulierung sachklärender Äußerungsakte; schneller, anwendungsorientierter, auf das spezielle Anliegen der Kunden bezogener Wissenstransfer 7. Argumentationskompetenz, Entscheidungskompetenz: kundenbedarfsorientiertes Abwägen von Vor- und Nachteilen, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit, Plau‐ sibilisierung, klare Formulierung von Alternativen, Empfehlungen 8. Soziale Kompetenz; Kundenaber auch verkaufsorientierte Rollenausrichtung; Be‐ herrschung von Höflichkeitsformen; Empathie; Fähigkeit zum Nachvollzug der Kundenziele und -erwartungen 9. Dienstleistungskompetenz: Kenntnis und Umsetzung der Kommunikationsstan‐ dards; positive Beziehungsgestaltung 301 Kommunikative Kompetenzen für beratende Dienstleistungen 4. Die Vermittlung von Beratungs-Kompetenzen in der berufsbezogenen Deutschausbildung Das Thema Verkaufsberatung ist in den Lehrplänen in der Regel Gegenstand des berufs‐ spezifisch ausgerichteten Unterrichts „Deutsch/ Kommunikation“ im 2. Ausbildungsjahr. Die IHK -Abschlussprüfung für den Ausbildungsberuf Verkäuferin/ Verkäufer findet nach zwei Ausbildungsjahren statt und sieht im praktischen Teil so aus, dass die Prüflinge Ware aus dem Ausbildungsbetrieb in einem simulierten Verkaufsgespräch einem Mitglied des Prüfungsausschusses verkaufen müssen, der in der Regel einen besonders wissbegierigen Kunden repräsentiert. Auch im praktischen Teil der IHK -Abschlussprüfung zum Kauf‐ mann/ zur Kauffrau im Einzelhandel nach drei Ausbildungsjahren sind praktische Situati‐ onsaufgaben mit beratenden Elementen im Kundenkontakt vorgesehen, die sich eng auf reale Handlungssituationen aus dem Ausbildungskontext beziehen. Die praktischen Lehrmaterialien zu Beratungsdiskursen in berufsbezogenen Deutsch-Lehr‐ werken tragen den oben aufgeführten, in Beratungsdiskursen nachweisbaren Kompetenz‐ anforderungen bei genauerer Betrachtung hingegen nur unzureichend Rechnung. So wird dem Erfordernis einer berufsbezogenen Sprachvariationskompetenz kaum Aufmerksam‐ keit geschenkt. Dass es in Verkaufsberufen mit Kundenkontakt sehr wesentlich darauf an‐ kommt, sich auf unterschiedliche Kaufmotive und Kundentypen einzustellen, wird zwar thematisiert, jedoch weitgehend auf inhaltlicher und weniger auf sprachlicher Ebene er‐ örtert (Kiefer 2017: 201 f.). Offen bleibt weitgehend, wie die abhängigen Variablen des Kom‐ munikationsverhaltens von Kundengruppen bzw. -typen (z. B. Alter, Geschlecht, Kaufver‐ halten/ Geschäftstreue-, Nörgler, Misstrauende, Besserwissende, Unentschlossene etc.) sprachlich zum Ausdruck kommen. Dies muss meist ohne gesprächsanalytisches Anschau‐ ungsmaterial von den Lernenden selbstständig aus erinnerter Erfahrung heraus oder hy‐ pothetisch erschlossen und in Rollenspielen oder Szenarien produktiv umgesetzt werden. Aufgabe der Bildungsträger wäre also hier, • das Ziel des Erwerbs konkreter Fähigkeiten und Fertigkeiten zum Ausbau sprach‐ lich-kommunikativer Variationskompetenz insbesondere im Bereich der Schulung von Verkaufs-, Beratungs- und Serviceaktivitäten curricular stärker zu verankern, • Auszubildenden mit einem möglichst flexiblen Methoden-Repertoire gezielt Prak‐ tiken, Konventionen, Regeln und Formvarianten sprachlicher Kommunikation in beratenden Kontexten und damit auch individuelle Handlungsspielräume beim Be‐ raten bewusst zu machen, • Lernangebote zu unterbreiten, sich sprachkritisch mit unterschiedlichen sprachli‐ chen Ausdrucks- und Umgangsformen im Rahmen von Verkaufskommunikation auseinanderzusetzen, • ein Verständnis der eigenen sprachlichen Fähigkeiten, etwa im Bereich des Erklä‐ rens, Argumentierens sowie • Kenntnisse und Strategien zu entwickeln, flexibel auf unterschiedliche sprach‐ lich-kommunikative Variationstreiber in Verkaufsgesprächen zu reagieren. Auch mit Blick auf die weiteren oben genannten, in der kommunikativen Praktik des Be‐ ratens abgebundenen Teilkompetenzen werden Defizite in Schulbüchern deutlich. So fehlt 302 Karl-Hubert Kiefer es an Übungsformen zu sprachlich passgenauem, auf das Anliegen der Kunden bezogenen Wissenstransfer, an der vor allem sprachlichen Ausgestaltung von Erklärungshandlungen aber auch an Strategien zur (sprachlichen) Kopplung von Argumenten und internen Dienst‐ leistungsstandards. Die von Weber (2014) durchgeführte Analyse von Verkaufskunde-Lehrbüchern ergab, „dass in den Lehrwerken seit vielen Jahren immer wieder ähnlich Informationen vermittelt werden, die dem Bereich der Ratgeberliteratur zuzuordnen sind. Die Überprüfung der Re‐ alisierung von Schulbuchratschlägen ergab des Weiteren, dass es zwar viele Ratschläge gibt, die in authentischen Verkaufsgesprächen realisiert werden; es werden aber auch Ratschläge erteilt, die in der Praxis selten oder nie befolgt werden“ (Weber 2014: 418 f.). Weber kommt daher zu dem Schluss, dass die Darstellung der sprachlichen Kompetenzen, über die er‐ folgreiche Verkäufer verfügen müssen, in den Schulbüchern revisionsbedürftig ist und for‐ dert als Konsequenz für die Didaktik der Verkaufskunde die Notwendigkeit, die Unter‐ richtsinhalte stärker an den Erfordernissen der beruflichen Praxis zu orientieren. Hier biete sich, so Weber, als Methode etwa die Analyse von Transkripten authentischer Gespräche an, die im Idealfall von den Schülerinnen und Schülern selbst in ihren Ausbildungsbetrieben aufgenommen werden könnten. Diese Vorgehensweise ermögliche selbsttätiges Lernen, die Entwicklung von Reflexivität sowie die Sensibilisierung für kommunikative Prozesse und die Anbahnung von Handlungsoptionen, womit sie sich von den gegenwärtig in den Schul‐ büchern dominierenden Konzept der weniger kompetenzfördernden, normorientierten In‐ struktion abhebe (2014: 419). Beratungshandeln im Verkaufsgeschehen ist komplexes fachliches aber auch soziales und sprachlich-kommunikatives Handeln. Zur Abbildung der kommunikativen Praktik bzw. zum Training der mit ihr verbundenen kommunikativen Teilkompetenzen werden Lehr-/ Lernarrangements benötigt, mit denen diese komplexen Beratungsaufgaben reali‐ tätsnah, möglichst in Handlungsketten trainiert werden können. Simulationsformen, wie etwa Szenarien (s. D1: Kiefer, S. 299; in diesem Band), eignen sich als didaktisches Instru‐ ment besonders dazu, die Vernetzung fachlicher Inhalte, Kommunikationsformen, Fertig‐ keiten und Strategien von Beratungshandlungen im Verkauf zu nachzuahmen, wobei, mit Weber (2014: 420), auch im Rollenspiel an die Arbeit mit Transkripten von Gesprächsauf‐ nahmen aus den Berufsfeldern der Schülerinnen und Schüler angeknüpft werden sollte. 5. Fazit und Ausblick Beratungselemente sind konstitutiv für Verkaufsgespräche, in denen es nicht um den bloßen Austausch von Leistung (vertrauter Produkte) gegen Geld sondern um das Erfor‐ dernis einer expertenseitigen Charakterisierung und Erklärung von Eigenschaften und -Verwendungsformen erklärungsbedürftiger Produkte bzw. Dienstleistungen und eine Ent‐ scheidung um ihren Kauf geht. In der Praxis als wichtiges Qualitätsmerkmal von Verkaufs‐ gesprächen erwartet und als Prüfungsstoff relevant, bleibt die didaktische Entwicklung von Lehrmaterialien zu den sprachlich-kommunikativen Realisierungsformen des Beratungs‐ handelns diesen Erfordernissen gegenüber noch weit hinterher. Zu wünschen sind daher insbesondere von Seiten der Gesprächslinguistik generell weitere Forschungsanstren‐ gungen zu Beratungsformen beim Verkauf unterschiedlicher Produkte (und Dienstleis‐ 303 Kommunikative Kompetenzen für beratende Dienstleistungen tungen) sowie vonseiten der berufsbegleitenden Deutschdidaktik eine verstärkte Berück‐ sichtigung von Übungsformen spezifischer Beratungskompetenzen, etwa zum Ausbau der sprachlichen Variationskompetenz im Umgang mit unterschiedlichen Kundentypen und gesprächsstörenden Ereignissen (z. B. Frageeinschübe durch Kunden, Verständnisschwie‐ rigkeiten etc.), zur Entwicklung weiterer wichtiger Teilkompetenzen, wie der des aktiven Zuhörens, des variablen Beschreibens oder Erklärens von Produkteigenschaften bzw. -be‐ dienungsformen unter Zuhilfenahme grafischer u. a. Hilfsmittel etc. und dies möglichst unter Einbezug gesprächsanalytischer Verfahren. Literatur Dorfmüller, Ulrike (2006): Verkaufsgespräche im Computer-Discounthandel. Eine diskursanalytische Untersuchung. Tübingen: Narr. Fiehler, Reinhard (2004): Charakterisierung der Spezifik mündlicher Kommunikation (Kapitel I.1). In: Fiehler, Reinhard e al. (Hrsg.): Eigenschaften gesprochener Sprache. Tübingen, 11-28. Kiefer, Karl-Hubert (2013): Kommunikative Kompetenzen im Berufsfeld der internationalen Steuerbe‐ ratung. Möglichkeiten ihrer Vermittlung im fach- und berufsbezogenen Fremdsprachenunterricht unter Einsatz von Fallsimulationen. Frankfurt a. M., Brüssel, New York u.a.: Lang. Kiefer, Karl-Hubert (2017): Sprachliche Variationskompetenz in verkaufsorientierten Berufen. In: Har‐ tung, Nicole; Zimmermann, Kerstin (Hrsg.): Facetten des Deutschen - didaktisch, linguistisch, in‐ terkulturell. Festschrift für Ulrich Steinmüller zum 75. Geburtstag. Berlin: TU-Universitätsverlag, 193-212. KMK (Hrsg.) (2007): Handreichung für die Erarbeitung von Rahmenlehrplänen der Kultusministerkon‐ ferenz für den berufsbezogenen Unterricht in der Berufsschule und ihre Abstimmung mit Ausbil‐ dungsordnungen des Bundes für anerkannte Ausbildungsberufe. Bonn. http: / / www.kmk.org/ fileadmin/ Dateien/ veroeffentlichungen_beschluesse/ 2007/ 2007_09_01-Handreich- Rlpl-Berufsschule.pdf/ abgerufen am 05. 11. 2017 König, Tina M. (2012): Variationskompetenz als Bestandteil erfolgreicher Sprachverwendung. Ein Beitrag zur Erschließung einer bislang vernachlässigten Komponente von Sprachkompetenz auf sprachspezi‐ fischer Ebene (= Arbeitspapiere des Seminars für Sprachwissenschaft der Universität Erfurt). Neuland, Eva (2009): Jugendsprachen als Brücken interkulturellen Lernens. In: Reeg, Ulrike; Gallo, Pas‐ quale (Hrsg.): Schnittstelle Interkulturalität. Beiträge zur Didaktik Deutsch als Fremdsprache. Münster u. a: Waxmann (Interkulturelle Perspektiven in der Sprachwissenschaft und ihrer Di‐ daktik, Bd. 1), S. 47-63. Rahmenlehrplan für den Ausbildungsberuf des Kaufmanns im Einzelhandel/ der Kauffrau im Einzel‐ handel Verkäufer/ Verkäuferin (nach Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 17. 06. 2004). Rehbein, Jochen (1985): Medizinische Beratung türkischer Eltern. In: Jochen Rehbein (Hrsg.): Interkul‐ turelle Kommunikation. Tübingen, 349-419. Schmidt, Jürgen Erich; Herrgen, Joachim (2011): Sprachdynamik. Eine Einführung in die moderne Re‐ gionalsprachenforschung. Berlin: Erich Schmidt Stein, Stephan (2011): Kommunikative Praktiken, kommunikative Gattungen und Textsorten. Konzepte und Methoden für die Untersuchung mündlicher und schriftlicher Kommunikation im Vergleich. In: K. Birkner, D. Meer (Hrsg): Institutionalisierter Alltag: Mündlichkeit und Schriftlichkeit in unter‐ schiedlichen Praxisfeldern. Mannheim, 8-27. 304 Karl-Hubert Kiefer Weber, Peter (2014): Verkaufsgespräche führen lernen in der Schule. Eine linguistische Untersuchung. Mannheim: Verlag für Gesprächsforschung. 305 Kommunikative Kompetenzen für beratende Dienstleistungen Erklären/ Instruieren Jan Henning Maxin 1. Einleitung Im Kontext von Schule und beruflicher Ausbildung gelten die sprachlich-kommunikativen Praktiken Erklären und Instruieren (können) als selbstverständliche Kompetenzen von Lehrkräften und Ausbildern (Appel 2009: 33, Pauli 2015: 46). Es kann davon ausgegangen werden, dass Lehrkäfte gerade in diesem Bereich Experten sind und über ein umfangreiches Repertoire an Erklär-Strategien verfügen (sollten), da sie durch ihre Profession die Aufgabe haben, Individuen mit individuellen Voraussetzungen „etwas“ zu vermitteln. Folglich wird aus Sicht von Schülerinnen und Schülern „gut erklären können“ als Kennzeichen einer kompetenten Lehrkaft gesehen (Pauli 2015: 44, Alber & Neumeister 2009: 139, Spreckels 2009a: 118, Neumeister & Vogt 2012: 562). Beide Bereiche - Schule und berufliche Ausbil‐ dung - können somit auch als prototypische Erklärbzw. Instruktions-Institutionen be‐ zeichnet werden, in denen zahlreiche Lehr-Lern-Prozesse stattfinden (Klein 2001: 1327). Gleichzeitig wird die Wertigkeit einer individuellen Erklärkompetenz im schulischen, be‐ ruflichen und gesellschaftlichen Zusammenhang als besonders wichtig angesehen, sodass nicht nur Experten wie Lehrkäfte über diese Fähigkeit verfügen sollten, sondern jedes In‐ dividuum (Kiel 1999: 5 f., Spreckels 2009b: 1-3). Nach Morek (2013a) stellt das Erklären-Können eine fächerwie modalitätsübergreifende sprachlich-kommunikative Schlüssel‐ kompetenz dar, die nicht nur in schulischen, sondern auch später in beruflichen Kontexten sehr zentral ist (ebd.: 71 f.) Gerade der Institution Schule als Vorstufe zur beruflichen Ausbildung sollte somit die Auf‐ gabe zukommen, Schülerinnen und Schülern als Erklärungs-Rezipienten auch das Hand‐ werkszeug zu vermitteln, in unterschiedlichen Situationen selbst erklären zu können und dadurch in dieser Praktik handlungsfähig zu sein (Neumeister & Vogt 2012: 562). Im Alltag kommen beide Begriffe in verschiedenen Kontexten und Verwendungsformen vor: Jemand fragt nach einer Wegerklärung bzw. Begriffserklärung, fragt, warum ein Zusammenhang so ist, wie er ist, oder bekommt die Funktion eines Gegenstandes vermittelt (Kotthoff 2009a: 120, Alber & Neumeister 2009: 140). Alltagssprachlich scheint eindeutig zu sein, was mit beiden Termini gemeint ist: Jemand soll am Ende des Erklärens mehr „wissen“ bzw. am Ende der Instruktion etwas Neues „können“. Die vermeintliche Klarheit der alltäglichen Begriffszuschreibung zeigt sich bei genauerer Betrachtung unter anderen Voraussetzungen, wenn man den Bedeutungsumfang von Erklären und Instruieren im wissenschaftlichen Diskurs hinzuzieht. Von Ossner (2007) wird die Fähigkeit einer „guten Erklärkompetenz“ den höchsten Anforderungsniveaus zugeordnet (ebd.: 223), sodass damit bereits angedeutet wird, dass „erklären können“ etwas sehr Komplexes ist und bestimmte Kompetenzen auf einem entsprechenden Niveau voraussetzt. Diese (Teil-)Kompetenzen sind jedoch nicht einfach zu identifizieren, sodass eine klare Grenzziehung in Bezug auf die Dimensionen, die mit den Begriffen verbunden sind, und eine Darlegung, worin sich eine gute Erklärung/ Instruktion von einer weniger guten Erklärung/ Instruktion unterscheidet, mit Schwierig‐ keiten einhergeht. Vor diesem Hintergrund setzt sich das nachfolgende Kapitel in einem ersten Schritt mit der Modellierung der Begriffe mündliches Erklären und mündliches In‐ struieren auseinander. Dem schließt sich eine Betrachtung beider Begriffe im Kontext von Schule und Ausbildung an (3). Anschließend wird eine schülerseitige Perspektive einge‐ nommen und aufgezeigt, anhand welcher Kriterien eine Diagnose und Förderung der Er‐ klärfähigkeit in der Schule und in der beruflichen Ausbildung erfolgen kann (4). 2. Mündliches Erklären & Instruieren: Einordung und Modellierung Wörterbücher beschreiben die Bedeutung des Verbes „erklären“ u. a. als: deutlich machen; [in allen Einzelheiten] auseinandersetzen; so erläutern, dass der bzw. die andere die Zu‐ sammenhänge versteht bzw. stellen eine enge Verbindung zu den Mustern des „Begrün‐ dens“ und „Deutens“ her (Duden 2001: 484). Die verschiedenen Bedeutungszuschreibungen unterstreichen bereits die definitorischen Schwierigkeiten bei der Auseinandersetzung mit dem Terminus „erklären“, sodass aus sprachwissenschaftlicher und diskurslinguistischer Forschungsperspektive konstatiert werden kann, dass bisher kein einheitliches Verständnis dessen vorliegt, was der Begriff Erklären inhaltlich umschließt und dass Modelle des Er‐ klärens (immer noch) ein eher idealisiertes Erklären theoretisieren, bei denen der Kontext außen vor gelassen wird und die dadurch auf die Praxis kaum anwendbar sind (Morek 2012: 28, Morek 2013b: 73, Stukenbrock 2009: 160, Josefy 2009: 80, Spreckels 2009b: 2, Kiel 1999: 16). Mögliche terminologische Unterscheidungsversuche, um Erklären von ähnlichen kommunikativen Praktiken (u. a. Beschreiben, Erläutern, Instruieren) eindeutig abzu‐ grenzen bzw. mit Merkmalen zu füllen, sind wissenschaftsdisziplinär geprägt und unter‐ liegen häufig einem engen bzw. weitem Verständnis ( Josefy 2009: 79). Kotthoff spricht z. B. von einem Erklären 1 (Oberbegriff, „Großformen des Sprechens“, wie auch Beschreiben und Erzählen) und Erklären 2 (Erklären im engeren Sinne, wie Funktions- und Ablaufserklä‐ rungen; der Instruktion nahestehend) (ebd. 2009a: 121, ebd. 2009b: 53). Als weitere Variante wird eine semantische Perspektive (Typisierung) vorgeschlagen, mit der der Erklärgegen‐ stand (Explanandum) bzw. die Wissensbestände anhand spezifischer Erklär-Fragen syste‐ matisiert und durch die Erklärung (Explanans) beantwortetet werden (Klein 2001: 1327, Neumeister 2009: 17, Neumeister & Vogt 2012: 564). Besonders verbreitet ist folgende ter‐ minologische Einteilung: • WIE -Erklärung: Handlungs-, Spiel-, Funktions- oder Zusammenhangserklärung • WAS -Erklärung: Begriffs-, Worterklärung • WARUM -Erklärung: Ereignis-, Sachverhaltserklärung In der angelsächsischen Literatur wird das Erklären im schulischen Kontext mit der Ver‐ mittlung von Wissen und Inhalten gleichgesetzt. Eine Abgrenzung zu anderen Handlungs‐ mustern existiert kaum, da Erklären in einem weiten Sinne verstanden wird und Hand‐ 308 Jan Henning Maxin lungsmuster wie Beschreiben und Instruieren einschließt ( Josefy 2009: 80). In logischer Konsequenz unterscheidet sich auch der Fokus in verschiedenen Forschungsprojekten, ob das Erklären eher als Produkt von Sprechern in den Blick genommen wird, wie stark es um Abgrenzungsfragen zu anderen Handlungsmustern geht oder ob der interaktive Prozess im Zentrum steht (Morek 2012: 28). Untersuchungen reichen somit von eher neueren Projekten des mündlichen Erklärens als „interaktiv situierte sprachliche Praktik in bestimmten Kon‐ texten“ (z. B. Erklären im Vergleich von Familie und Unterricht (Morek 2012); medizinische Kommunikation bzw. generelle Untersuchungen von Erklärungen im Kontext von Schule, (häufig mit dem Fokus auf die Lehrpersonen) bis zu eher experimentell wirkenden Unter‐ suchungen eines isolierten (prototypischen) Erklär-Typs, z. B. Wortbedeutungserklärungen oder Gerätefunktionserklärungen (Instruktionen), die einem vergleichsweise engen Er‐ klär-Verständnis unterliegen (Morek 2012: 27 f.). Als Begründung für die bestehende For‐ schungssituation wird das lange vernachlässigte Forschungsinteresse für das mündliche Erklären angeführt (insbesondere im Vergleich zur Erzähl- und Argumentationsforschung) sowie die Vermutung, dass das Erklären eine noch komplexere Tätigkeit darstellt als andere Praktiken und dieses deshalb lange Zeit ausgeklammert wurde, da die spezifischen Merk‐ male des Erklärens forschungsmethodisch schwer zu erheben sind (Spreckels 2009b: 2, Spreckels 2009a: 117). Beim Instruieren geht es aus funktional-pragmatischer Perspektive nach Morek (2012) darum (wird teilweise auch als „Anleiten“ beschrieben), „jemanden zu vermitteln, wie man etwas macht“ bzw. auf welche Weise etwas zu tun ist (ebd.: 32). Somit liegt das Hauptau‐ genmerk auf der Vermittlung von Handlungswissen bzw. praktischen Fertigkeiten, sodass eine Person in der Lage ist, eine Tätigkeit (unmittelbar oder zukünftig) auszuführen. Dabei befinden sich die Beteiligten häufig in einem gemeinsamen Handlungsraum, in dem münd‐ liche Kommunikation verknüpft wird mit „praktischer, aktionaler Tätigkeit“ (Morek 2012: 32, Becker-Mrotzek 2004: 131 f.). Als eine weitere „Form“ der Instruktion wird die Ver‐ mittlung von Wissen über den Prozess einer Tätigkeit bezeichnet, ohne dass die Person unmittelbar in der Lage ist, eine Handlung auszuführen (abstraktes Wissen über die allge‐ meine Struktur eines Prozesses) (Becker-Mrotzek 2004: 165). Die Übergänge zur kommuni‐ kativen Praktik Erklären sind fließend, in Bezug auf den Erklärtyp Erklären- WIE sogar zu großen Teilen überschneidend, sodass Becker-Mrotzek (2004) anmerkt, dass zu jeder guten Instruktion auch erklärende Anteile gehören (ebd.: 194 f.). Es kann festgehalten werden, dass, je weiter der situative Kontext im beruflichen (Ausbildungs-) Umfeld bzw. Kontexten mit praktischem Handlungsbezug verortet wird, in der Literatur eher von Instruktion ge‐ sprochen wird, der dann das Erklären und weitere Praktiken der Instruktion untergeordnet sind (Efing in Vorb.: 17). Auch Brünner (2005) verortet Instruktionen als Schwerpunkt in den Kontext der betrieblichen Ausbildung, wenn sie schreibt: Die Lehr-Lern-Prozesse, in denen in der betrieblichen Ausbildung Handlungen bzw. Tätigkeiten sowie Kenntnisse vom Ausbilder vermittelt bzw. von den Auszubildenden erworben werden, sollen mit dem Begriff der Instruktion gefaßt werden. Instruktionen umfassen dabei den gesamten In‐ teraktionsprozeß, d. h. sowohl die sprachlich kommunikativen Elemente als auch die praktischen Tätigkeiten (ebd.: 28). 309 Erklären/ Instruieren Die bisherigen Ausführungen verdeutlichen, dass eine klare Grenzziehung zwischen Er‐ klären und Instruieren (sowie weiteren kommunikativen Praktiken) schwierig zu sein scheint und es in Abhängigkeit von den zugrunde liegenden Forschungsdisziplinen und Untersuchungskontexten zu Überschneidungen, Überlagerungen und Einbettungsverhält‐ nissen verschiedener kommunikativer Praktiken kommen kann (Morek 2012: 33, Hohen‐ stein 2006: 133, Josefy 2009: 79 f., Pauli 2015: 44). Aus funktional-pragmatischer Sicht besteht der zentrale Unterschied zwischen Erklären und Instruieren in der Art des zu vermittelnden Wissens sowie im situativen Kontext. Nachfolgend soll daher keine umfassende Definition beider Praktiken erfolgen, sondern es sollen Merkmale herausgearbeitet werden, die bei einer Diagnose und Förderung in Schule und beruflicher Ausbildung relevant erscheinen, wobei der Schwerpunkt auf dem Erklären liegt (nach Morek 2012: 28,31,40, Morek 2013a: 70, Morek 2013b: 73 f., Neumeister 2009: 16, Efing in Vorb.: 15,17, Stukenbrock 2009: 162, Kotthoff 2009b: 52, Spreckels 2009b: 1, Pauli 2015: 44, Hohenstein 2006: 76 f., D1: Maxin, S. 309 in diesem Band, Schwab 2009: 50). • Es wird von einer Öffnung bzw. einem weiten Verständnis des Erklär- und Instruk‐ tionsbegriffes ausgegangen, welches ein Spektrum kommunikativer Praktiken mit einschließt (Verbund), die je nach der Situation und des vermittelten Wissens einem mehr oder weniger erklärenden bzw. instruierenden Typs entsprechen. • Erklärungen/ Instruktionen können das eigentliche Hauptanliegen der Beteiligten sein oder als Nebensequenz für das Gelingen einer übergeordneten Aktivität fun‐ gieren. • Instruktionen stehen einem Erklären- WIE nahe, haben einen (praktischen) Hand‐ lungsbezug und befinden sich daher häufig im Kontext von Ausbildung und Beruf. Erklärungen des WARUM -Typs finden sich eher weniger in der betrieblichen Aus‐ bildung (funktionale Perspektive: Effektivität und eine schnelle Handlungsrealisie‐ rung stehen im Fokus), jedoch verstärkt im berufsschulischen Unterricht (Aufbau deklarativen Wissens über Prozesse). • Beim Erklären in der Schule geht es hauptsächlich um einen strukturierten Wis‐ sensaufbau (kognitive Wirkung) bzw. die Behebung eines Verstehensdefizits, (sodass jemand etwas weiß, versteht oder kann), wobei das Explanandum vom Erklärer ver‐ standen werden muss (analytisch durchdrungen, Sachkompetenz). Auch in der Schule kommen WIE -Erklärungen in bestimmten Fächern verstärkt vor, z. B. im Sport- und Kunstunterricht. • Es ist zu unterscheiden zwischen Erklärungen im Alltag (häufig eingebunden in übergeordnete Kommunikationsmuster, selbstinitiiert, spontan, das Defizit kann an Ort und Stelle ausgeglichen werden) und Erklärungen in spezifischen Erklär-Insti‐ tutionen (hauptsächlich geplant, strukturiert, fremdinitiiert, systematischer Aufbau von „Begriffen, Operationen oder Verfahren“, wobei auch hier, z. B. bei individueller Lernunterstützung im Gespräch oder bei entsprechenden Sozialformen spontane Erklärungen von Seiten der Lehrkraft/ des Ausbilders auftreten können). • Erklären erfordert satzübergreifende Diskurseinheiten, deren Komplexität mit dem Vorwissen und Erkenntnisinteresse des Adressaten korreliert. Diese Diskursein‐ heiten weisen dabei kein einheitliches oder erkennbares Aufbauprinzip auf, sodass sich anhand der sprachlich-formalen Oberfläche nur schwer sagen lässt, ob es sich 310 Jan Henning Maxin bei einer Äußerung eindeutig um Erklären handelt. Sprachliche Formen, die beson‐ ders typisch für Erklärungen sind, sind jedoch analysierbar. • Erklärungen im Gespräch werden prozessual, sequenziell und interaktiv aufgebaut, wobei die Rezipientenaktivität für den Erfolg der Erklärung zentral ist. • Die Komplexität, Detailliertheit und Vollständigkeit von Erklärungen ist das Resultat interaktiver Verständnissicherung bzw. eines Aushandlungsprozesses (Konstituie‐ rung) zwischen Erklärer und Erklärrezipient. • Die Beteiligten absolvieren im Erklär-Prozess bestimme Aufgaben ( Jobs), die ab‐ hängig vom spezifischen situativen Kontext und Explanandum sind und nicht nur eine spezifische Erklärkompetenz erfordern, sondern darüber hinaus allgemeine Gesprächs(teil)kompetenzen bei den Beteiligten voraussetzen. • In Abhängigkeit des Kontextes sind die Rollen von Erklärer und Rezipient nicht klar zu trennen (gemeinsame Wissensgenerierung), dennoch besteht häufig eine Wis‐ sensasymmetrie (Wissender- Nicht-Wisssender) gerade in Erklär-Institutionen. 3. Erklären und Instruieren in Schule und Ausbildung: Ein Blick in die Praxis Von verschiedenen Autoren wird darauf hingewiesen, dass die kommunikative Praktik des Erklärens im Kontext von Schule lange Zeit kaum Beachtung fand, sodass sich der Begriff Erklären nicht bzw. nur als Umschreibung in den Kompetenzbereichen „Sprechen und Zu‐ hören“ schulischer Deutschcurricula sowie in entsprechenden Handbüchern der Deutsch‐ didaktik wiederfindet ( KMK -R 2004, Didaktik der Deutschen Sprache 2006, Spreckels 2009a: 117). In naturwissenschaftlichen Curricula findet sich der Begriff dagegen häufiger und wird als Basiskompetenz des naturwissenschaftlichen Unterrichts bezeichnet, die es zu fördern gilt. Dennoch ist auch in diesen Fächern die Forschungslage zur mündlichen Er‐ klärfähigkeit sowie ihre unterrichtliche Einbindung „erstaunlich dünn“ (Harren 2009: 82). Abraham (2012) konstatiert folglich: dass das Erklären als sprachliche Handlung eigenen Rechts in der Fachliteratur zum mündlichen Sprachgebrauch bisher kaum Aufmerksamkeit gefunden hat, geschweige denn zum Kompe‐ tenz-Kandidaten für den Bereich Mündlichkeit ernannt worden ist. (ebd.: 75) Forschungsvorhaben zu diesem Thema fokussier(t)en häufig die Perspektive der Lehrper‐ sonen als klassische Erklär-Experten des Unterrichts, die schülerseitige Perspektive und mögliche didaktische Konsequenzen sowie entsprechende Unterrichtmaterialien blieben dabei aufgrund des mangelnden Forschungsinteresses außen vor bzw. sind erst neuerdings in den Forschungsfokus gerückt (Morek 2013a: 71, Neumeister & Vogt 2012: 574). Morek schreibt dazu: In Bildungsstandards, Lehrplänen und diskursdidaktischen Handreichung für den Deutschunter‐ richt spielt der schülerseitige Erwerb von Erklärfähigkeit […] trotz der fächerübergreifenden Re‐ levanz und Häufigkeit des Erklärens eine eher untergeordnete Rolle. (ebd.: 71) Auf die besondere Rolle des Deutschunterrichts als Raum für eine explizite und meta‐ sprachliche Betrachtung sprachlich-kommunikativer Praktiken mit dem Ziel einer erwei‐ terten „Sprachbewusstheit“ wird dabei von mehreren Autoren hingewiesen (Kotthoff 311 Erklären/ Instruieren 2009b: 42,59; D1 Maxin in diesem Band). In Schule und Ausbildung zeigt sich somit ein ähnliches institutspezifisches Bild: Schüler und Auszubildende wissen noch nicht, was sie nicht wissen, sodass das „Erklärbedürfnis“ von seiten des Lehreres oder Ausbilders initiert wird (Neumeister 2009: 17, Alber & Neumeister 2009: 140 f.). Der Erklärprozess unterliegt dabei einer starken Steuerung durch den Wissenden mit einer möglichen Mehrfachadres‐ sierung auf die Rezipienten (Schulklasse, mehrere Auszubildende), wobei die Erarbeitung des Erklärgegenstandes jedoch interaktiv mit der gesamten Gruppe erfolgen kann (Unter‐ richtgespräch) und häufig auch in dieser Form geschieht. Neumeister (2009) beschreibt die Phasen des klassischen schulischen Erklärprozesses aus Lehrersicht als einen Dreischritt mit einem sich anschließenden Transfer (ebd.: 18). In der betrieblichen Ausbildung verlief der Instruktionsprozess lange nach dem Schema: Erklären, Vormachen, Nachmachen, Kon‐ trollieren (4-Stufen-Methode), das aber zunehmend kooperativen Formen wie der Team‐ arbeit und Projektorientierung weicht (Efing in Vorb.: 5, Brünner 2005: 27). Harren (2009) weist bei einem von Lehrkräften geplanten Unterricht auf die Kontrollfunktion seitens der Lehrkraft hin, die überprüfen möchte, ob Inhalte/ Zusammenhänge verstanden worden sind, da die Lehrkraft den Erklärgegenstand bereits kennt (Präsentation für die Lehrkraft) (ebd.: 81). Eine ähnliche Situation findet in der Ausbildung statt, wenn der Ausbilder den Auszubildenden auffordert, das vorher Vermittelte selbst einmal vorzumachen; grundsätz‐ lich ist der Ausbildungskontext jedoch weitaus kommunikationsärmer, sodass eher auftre‐ tende Probleme als Kommunikationsauslöser fungieren (Efing in Vorb.: 14). Wiederho‐ lungs- oder Festigungsgespräche finden dagegen kaum statt, in gleicher Weise ist die Ausbildung weniger „Impuls-/ Fragen-gelenkt/ -initiiert“ (Efing in Vorb.: 14). Die schüler‐ seitigen Erklärungen würden jedoch im schulischen Kontext das Potenzial bieten, interaktiv im Klassenverbund am Thema weiterzuarbeiten, ergänzende Erklärungen anzufügen oder metasprachlich Erklärprozesse zu thematisieren (Harren 2009: 82). Dieses Bestreben einer metasprachlichen Thematisierung einer durchgeführten Instruktion zeigt sich in der be‐ trieblichen Ausbildung vermutlich eher weniger, da der Fokus auf einer effektiven und zielführenden Realisierung liegt (schnelle Handlungsfähigkeit). Untersuchungen von Un‐ terrichtskommunikation unterstreichen die Forderung nach einer Fokussierung und Ein‐ bindung der Erklär-Thematik in den Unterricht, wenn sie hervorheben, dass inbesondere bei bestimmten Sozialformen und Methoden einzelne Schüler als Experten fungieren können und ihren Mitschülern etwas erklären sollen (Gruppenarbeit/ Gruppenpuzzle) (Morek 2013a: 71, Spreckels 2009b: 4, Schwab 2009: 62. Des Weiteren dient schülerseitiges Erklären einer grundsätzlichen Festigung von Wissensbeständen und -strukturen bzw. ver‐ knüpft die „Interaktion mit Kognition“, sodass beim eigenen Erklären Verstehensprozesse aktiviert werden, die beim „bloßen Zuhören“ kaum vorhanden sind (Neumeister & Vogt 2012: 562). Im Ausbildungskontext konnten Erhebungen zeigen, dass das Erklären als vor‐ herschendes Interaktionsmuster gesehen werden kann und dass Auszubildende in arbeits‐ teiligen Prozessen als Experten für einen Teilbereich eingesetzt werden, währenddessen sie Wissen an andere Auszubildende oder Praktikanten weitergeben müssen (Morek 2013: 72, Efing 2013: 135). Daher entsteht die Situation, dass ein angelernter Auszubildender eine Handlung oder einen Teilschritt einer hierarchisch gleichrangigen Gruppe bzw. Einzel‐ person vermitteln muss (multidirektionale Interaktion) (Efing 2013: 135). Er befindet sich dadurch in einer ungewohnten Expertensituation, in der eine hochkomplexe kommunika‐ 312 Jan Henning Maxin tive Praktik beherrscht werden muss und möglicherweise noch eine Mehrfachadressierung vorliegt. Folglich ist es auch nachvollziehbar, dass bei dieser Erklärsituation eine Fokus‐ sierung auf das prozedurale Wissen vorliegt, um dem hierarchisch gleichrangigen Rezip‐ ienten schnell in die Lage zu versetzen, handlungsfähig zu sein, da dem Auszubildenden möglicherweise das Hintergrundwissen (Begründungs- und Transferwissen) fehlt, um überhaupt einen „kognitiven Nachvollzug“ zu gewährleisten (Efing in Vorb.: 17 f.). Mängel in der individuellen Erklärkompetenz können daher hinderlich für den Ausbildungs- und Arbeitsprozess sein. Somit unterscheidet sich dieser Rahmen deutlich von einer außerins‐ titutionellen Erklärsituation und offenbart ein konträres Bild, bei dem Kompetenz-Anfor‐ derungserhebungen zu Ausbildungsberufen die Wertigkeit des Erklärens verdeutlichen und zeigen, dass es fächerübergreifend in der Schule relevant ist und als Schlüsselkompetenz für den Alltag und den Beruf gilt - wenngleich eine Beachtung im Unterricht bzw. eine gezielte Förderung in der Schule oder in der Ausbildung jedoch (häufig) zu kurz kommt. 4. Diagnose und Förderung der Erklärkompetenz in Schule und Ausbildung Bei einer Diagnose und Förderung der Erklärkompetenz in Schule und Ausbildung gilt es mehrere Aspekte zu berücksichtigen. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich die individuelle Erklärkompetenz aus einem Bündel an verfügbaren bzw. erlernbaren Fähig‐ keiten und Fertigkeiten zusammensetzt, die sich in entsprechenden (erklärspezifischen) Anforderungssituationen zeigen und dazu dienen, Probleme in variablen Situationen be‐ wältigen zu können. Die erläuterten Schwierigkeiten einer begrifflichen Definition bzw. mangelnde didaktische Kompetenzmodelle erschweren es, den Begriff Erklären in einer Form abzubilden, dass Lehrkräfte/ Ausbilder wissen, welche Teilkompetenzen zur Erklär‐ kompetenz gehören (Diagnose) und überhaupt gefördert werden können. Von verschie‐ denen Autoren werden Hinweise und Teilfertigkeiten genannt, die aus ihrer Sicht relevant sind, wenn von (guter) Erklärkompetenz gesprochen wird: (nach Spreckels 2009b: 3 f., Harren 2009: 90, Stukenbrock 2009: 162, Pauli 2015: 45, Spreckels 2009a: 135). • Wissen darüber, dass eine Person, die ein Explanandum verstanden hat, nicht auto‐ matisch ein „guter Erklärer“ ist, dass aber eine entsprechende Sachkompetenz un‐ umgänglich ist (Experte sein). • Sensibilität/ Empathie für den Rezipienten hinsichtlich seines Vorwissens (Anknüp‐ fung an das bestehende Wissensrepertoire des Rezipienten; keine Unter-, aber auch keine Überforderung), wobei Vorphasen vor der Erklärung sinnvoll sein können, um den Kenntnisstand zu erfahren und das Ziel der Erklärung zu nennen (Orientierung, eindeutiger Beginn der Erklärung). • Sensibilität für die Komplexität des Erklärgegenstandes (Reduktion) und benötigte Fachbegriffe sowie die Fähigkeit, komplexe Erklärgegenstände zu „zerlegen“ und klar, knapp, zielführend und kohärent zu strukturieren. • Sensibilität/ Empathie für multimodale Rezipienten- und eigene Erklärersignale, die eigene/ fremde Motivation sowie die generelle Bewusstwerdung für die Wichtigkeit des Rezipienten im Prozess der Erklärung und dessen aktive Rolle durch Rückfragen (Berücksichtigung beider Rollen: Erklärer und Rezipient). 313 Erklären/ Instruieren • Flexibilität in der Art der Erklärung (Varianz durch z. B. verschiedene Beispiele, Analogien, Anknüpfen an Erfahrungen aus der Lebenswelt), wenn festgestellt wird, dass eine Erklärung nicht verstanden wurde. • Sensibilität/ Empathie für Unterstützungsverfahren und ihr angemessener Einsatz (keine Über- oder Unterforderung, sondern der passende Einsatz von Zeichnungen, Modellen, Gegenständen, Zeigen und Demonstrieren). • Wissen über die Möglichkeit der Verwendung von Kontroll- oder Zwischenfragen (Demonstration), um den Erfolg der Erklärung zu beurteilen sowie Sprechpausen, um den Rezipienten nicht zu überfordern. • Wissen darüber, dass bei Gruppenerklärungen der allgemeine Erklärprozess deutlich schwieriger ist, da jeder individuelle Voraussetzungen mit sich bringt und die Auf‐ merksamkeit auf verschiedene Rezipienten ausgerichtet sein muss. • Sensibilität/ Empathie für den Umgebungskontext (z. B. Alltag oder Institution), die individuelle, möglicherweise neue Rolle (z. B. Auszubildender als Experte für seinen Teilbereich), den Adressaten (z. B. dem Alter, Beruf und der Hierarchie entsprechend) und damit zusammenhängend eine angemessene sprachliche Realisierung. • Wissen über die Nachhaltigkeit von Erklärungen, dass Erklärungen, die vom Rezip‐ ienten selbst ausgehen bzw. realisiert werden können, Verständnis/ Nachhaltigkeit besonders unterstützen bzw. die Wertigkeit der Erklärung verdeutlichen. Vor dem Hintergrund der interaktiven Gesprächssituation einer Erklärung zwischen min‐ destens zwei Beteiligten besteht nun bei der Betrachtung der genannten Punkte die Mög‐ lichkeit, die teilweise spezifischen Kennzeichen der Erklärkompetenz auf die Kategorien allgemeiner Gesprächskompetenz zu beziehen, um ein Gerüst zu bilden, das es erlaubt, einen Erklärprozess zu erfassen bzw. Teilbereiche transparent und somit für eine Förderung im Unterricht möglich zu machen (Maxin in diesem Band). Für den Gebrauch im Unterricht und in der Ausbildung können dann daraus entwickelte Beobachtungsbögen oder Check‐ listen entstehen, die lehrerseitig in komplexer Form und schülerseitig in einfacher Form eingesetzt werden (Diagnose, Sensibilisierung und Selbstreflexion). Als Orientierung können dazu die Vorschläge von Spiegel (2007) dienen, die entsprechende Listen für den Grundschulbereich entwickelt hat (ebd.: 11 f.). Dabei müssen, wie bei allen anderen Themen auch, der individuelle Kenntnisstand bzw. Kompetenzstand berücksichtigt werden, wenn mit Planungshilfen („metakognitiv orientierenden Hilfestellungen“) gearbeitet wird. Dies gilt gerade dann, wenn im Unterricht geeignete Formulierungen entwickelt werden, die einen Erklärprozess unterstützen. Es wird darauf hingewiesen, dass bei einer mangelnden Einsicht in bestimmte Strukturen bzw. das Thema diese Hilfestellungen als normative Checklisten verstanden und nur entsprechend abgearbeitet würden, sodass diese der ent‐ sprechenden Situation bzw. dem Erklärgegenstand nicht gerecht werden (Morek 2013b: 74 f.). Somit bieten sich als Übungs-Erklärgegenstände Themen an, in denen die Be‐ teiligten tatsächlich Experten sind, z. B. das Erklären von Hobbys oder Gegenständen oder das Erklären von Orten. Vor diesem Hintergrund scheint es unumgänglich zu sein, wie bei anderen sprachlich-kommunikativen Praktiken auch, der Wertigkeit bzw. Komplexität der Praktik des Erklärens in Form einer eigenen unterrichtlichen Auseinandersetzung zu ent‐ sprechen, die Zeit, praktische Übungsphasen, Reflexion und die metasprachliche Thema‐ tisierung erfordert. Bei der Umsetzung in der allgemeinbildenden Schule könnte dadurch 314 Jan Henning Maxin bereits eine bessere Anbahnung an relevante Kompetenzen der Ausbildung erreicht werden (ausbildungsvorbereitender Unterricht mit dem Schwerpunkt auf berufsunspezifische sprachlich-kommunikative Praktiken), während eine Realisierung im berufsschulischen Deutschunterricht für das Thema überhaupt erst einmal sensibilisieren würde. Eine enge Verzahnung mit Inhalten oder Handlungen der beruflichen Praxis scheint dabei sinnvoll zu sein. Mit Blick auf die betriebliche Ausbildung ist es wünschenswert, dass diese mehr ist als die Vermittlung von technischen Handlungsschritten, sondern dass auch die Refle‐ xionsebene erreicht wird, um das Gelernte zu durchdenken, zu verbalisieren und auf andere Kontexte beziehen zu können (zu einfachen Erklär-Übungen, die im Unterricht Verwen‐ dung finden können, Neumeister & Vogt 2012: 574-582; pädagogische Hinweise für be‐ triebliche Instruktionsprozesse, Brünner 2005: 314-351). Literatur Abraham, Ulf (2012). Sprechen als reflexive Praxis. Mündlicher Sprachgebrauch in einem kompetenz‐ orientierten Deutschunterricht. 1. Aufl. Stuttgart: Fillibach bei Klett. Alber, Kerstin/ Neumeister, Nicole (2009). Wortbedeutungserklärungen unter empirischer und didak‐ tischer Perspektive. In: Krelle, Michael/ Spiegel, Carmen (Hrsg.). Sprechen und Kommunizieren. Entwicklungsperspektiven, Diagnosemöglichkeiten und Lernszenarien in Deutschunterricht und Deutschdidaktik. 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Be‐ werbungsschreiben)“ (Kernlehrplan NRW SEK I Hauptschule 2011: 28) oder innerhalb des Kompetenzbereichs Produktion: Die SuS können „Beiträge innerhalb verschiedener Ge‐ sprächsformen angemessen formulieren (z. B. Bewerbungsgespräche …)“ (ebd.: 30). Wäh‐ rend Bewerbungsgespräche im schulischen Kontext nur ein kleines (eher unwichtiges? ) Thema neben vielen anderen ausmachen, zeigt sich im außerschulischen Kontext ein an‐ deres Bild. Netz und Buchhandlungsregale sind üppig gefüllt mit Angeboten, sowohl für die Einstellerseite als auch für Bewerberinnen und Bewerber (im Weiteren: BuB) (z. B. Püttjer & Schnierda 2014). Weder in der sprachdidaktischen noch in der anwendungsorientierten Literatur (z. B. Zeitschriften wie Praxis Deutsch o. ä.) finden sich linguistisch-rhetorisch fundierte didak‐ tische Konzepte, aus denen sich handlungspraktische Konsequenzen für die Vermittlung und Erarbeitung der notwendigen Kompetenzen ableiten lassen, die für eine gelingende Teilnahme von BuB notwendig sind (vgl. auch Schmidt 2000). Es existieren lediglich einige linguistische Studien zum Thema (z. B. Grießhaber 1987, 1994, Lepschy 1995, Birkner 2001, Kern 2000, Truschkat 2008, Rohlfs 2005). Im Folgenden wird zunächst geklärt, welche Charakteristika den Gesprächstyp „Bewer‐ bungsgespräch“ auszeichnen und welche kommunikativen Anforderungen sich für BuB daraus ergeben, um gelingend an einem Bewerbungsgespräch teilnehmen zu können. Auf dieser Basis werden Grundzüge eines didaktischen Konzepts vorgestellt. 1. Charakteristika des Gesprächstyps Bewerbungsgespräch Im Bewerbungsgespräch überprüfen im Optimalfall sowohl Einstellende als auch BuB die Passung zwischen Eignung und Qualifikation und einem zu besetzenden Arbeitsbzw. Ausbildungsplatz. (Lepschy 1995: 75, vgl. auch Schuler 2015: 4) Von dieser Funktion her kann man Bewerbungsgespräche grundsätzlich als symmetrische Gespräche betrachten. Aller‐ dings kommt es häufig zu Verschiebungen zu Gunsten der einstellenden Institution, da ein Ungleichgewicht entsteht hinsichtlich der Verteilung des Fragerechts. Auf Bewerberseite kann es ebenfalls zu Anpassungstendenzen kommen, wenn die Sicherung der materiellen Lebensgrundlage ausschlaggebendes und handlungsleitendes Motiv im Bewerbungsge‐ spräch wird. Die Ursache dafür ist unter anderem im jeweiligen Verhältnis von Personal‐ nachfrage und Arbeitskräfteangebot (Arbeitgebermarkt oder Arbeitnehmermarkt) zu finden, aber auch in einer bestehenden Unsicherheit und unzureichenden Kenntnis über das Handlungsmuster eines Bewerbungsgesprächs. Für die Rollenkonstellation des Bewer‐ bungsgesprächs ist charakteristisch, dass sich BuB um die Rolle zukünftiger Stelleninhaber bewerben. Einstellende setzen BuB quasi probehalber in die Funktion des Stelleninhabers, um in dem so entstehenden Fiktionsraum deren Rolleninterpretationen so konkret wie möglich auf Passung hinsichtlich ihrer Rollenerwartungen zu überprüfen (Lepschy 1995: 86). Besonders deutlich wird dies, wenn BuB mit konkreten Problemen aus dem be‐ ruflichen Alltag der Rolle, um die sie sich bewerben, konfrontiert werden („Wie würden Sie als zukünftiger Abteilungsleiter/ Verkäufer/ Sachbearbeiter reagieren, wenn …? “). Bewerbungsgespräche sind themafixierte Gespräche, da BuB und Einstellende aus‐ schließlich zur Behandlung des Themas „Überprüfung des Passungsverhältnisses“ zusam‐ menkommen. Damit unterliegen sämtliche Äußerungen dem Anspruch einer thematischen Relevanz. Weiterhin lassen sich Bewerbungsgespräche als personthematische Gespräche charakterisieren, weil sämtliche Teilinhalte wie z. B. der persönliche und berufliche Wer‐ degang, Fachkenntnisse, Berufserfahrungen oder Selbsteinschätzungen fokussiert werden, um zu ermitteln, ob sie zu den Vorstellungen der einstellenden Institution passen. BuB müssen keinen Nachweis darüber erbringen, dass sie über bestimmte Kenntnisse oder Cha‐ raktereigenschaften verfügen, sondern darlegen, dass sie mit diesen den Anforderungen der Stelle entsprechen (ebd.: 173). 2. Kommunikatives Wissen und prozedurales Können als globale Gesprächskompetenz für das Bewerbungsgespräch 2.1 Kommunikatives Wissen Um gelingend an einem Bewerbungsgespräch teilnehmen zu können, benötigen BuB kom‐ munikatives Wissen in Form von pragmatischem und institutionellem Wissen. Über prag‐ matisches Wissen zu verfügen bedeutet, grundsätzliche Kenntnisse über die Ziele, Inhalte und Abläufe eines Bewerbungsgesprächs zur Verfügung zu haben (z. B. Kenntnisse über Erwartungsnormen von Fragen, Abläufe von standardisierten, halbstandardisierten oder spontanen Formen von Bewerbungsgesprächen). Institutionelles Wissen meint, über eine gewisse Feldkompetenz zu verfügen, indem man sich soweit wie möglich mit den Besonderheiten und (Kommunikations-)Kulturen der ver‐ schiedenen gesellschaftlichen Felder (Industrie, Mittelstand, Dienstleistung, Medien, Ver‐ waltung usw.), in denen man sich bewerben möchte, auseinandersetzt. Dazu gehört auch die intensive Auseinandersetzung mit der Stelle bzw. dem Ausbildungs- oder Praktikums‐ platz. Pragmatisches und institutionelles Wissen erlangt man durch Exploration, Recherche und Perspektivübernahme. Da es sich um ein personthematisches Gespräch handelt, ergibt sich die Notwendigkeit, ein individuelles Passungsprofil zu erstellen. Hier handelt es sich um Wissen über die eigene Person als Pendant zum Wissen über die potentiell einstellende Institution. Das Passungs‐ 318 Annette Lepschy profil hat sowohl die Funktion einer faktischen Bestandsaufnahme als auch einer Identi‐ tätsklärung in Form eines Abgleichs von persönlicher zu sozialer Identität und stellt die zentrale Grundlage dafür dar, dass BuB genau diese passungsrelevante Informationsdar‐ stellung und Identitätspräsentation im Gespräch auch kommunizieren können. Das Pas‐ sungsprofil beantwortet folgende Fragen: • Wer bin ich? (Selbsteinschätzung bezüglich Stärken und Schwächen, persönliche Einstellungen und Werte) • Was will ich? (intrinsische und extrinsische Motivation, Wünsche, Interessen hin‐ sichtlich der Stelle, der Vergütung, der Entscheidungskompetenzen, der Weiterbil‐ dungs- und Aufstiegsmöglichkeiten, der Organisationskultur der einstellenden In‐ stitution) • Was kann ich? (Bestandsaufnahme der fachlichen, formalen und sozialen Qualifika‐ tionen und Kompetenzen, bisherige Berufs- und Praxiserfahrungen und spezielle Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse, z. B. aus Ehrenämtern, Vereinsaktivitäten) 2.2 Kommunikatives Können Kommunikatives oder auch prozedurales Können im Bewerbungsgespräch umfasst: • Basale Rezeptions- und Formulierungsfähigkeiten (Becker-Mrotzek 2009: 78): BuB sind in der Lage, sich phonologisch, lexikalisch und grammatisch angemessen zu ver‐ ständigen. • Individuelle Sprech-, Stimm- und Körperausdrucksfähigkeit: BuB sind in der Lage, sich stimmlich, sprecherisch, mimisch, gestisch und proxemisch angemessen auf die Be‐ werbungssituation einzustellen. • Pragmatisch-diskursive Verständnis- und Produktionsfähigkeit: Diese Fähigkeiten beziehen sich auf verschiedene Steuerungsebenen des Gesprächs, die Ebene der Themabearbeitung und Handlungsmusterrealisierung, der Identitäts- und Bezie‐ hungsgestaltung, der Gesprächsorganisation und der verständnissichernden Unter‐ stützungsverfahren (vgl. Lepschy 2008: 317, Becker-Mrotzek 2009: 78-80). Da beson‐ ders in diesem Bereich didaktisch-methodische Desiderate bestehen, wird der Schwerpunkt im Folgenden auf diesem Bereich liegen. 2.2.1 Themabearbeitung und Handlungsmusterrealisierung Prozedurales Können liegt dann bei einem Bewerber vor, wenn er in der Lage ist, die Themen des Gesprächs angemessen zu bearbeiten und handlungsmusterangemessen zu agieren und damit das beidseitige Ziel der Passungsprüfung zu realisieren. Dazu gehört im Wesentlichen die rezeptive Fähigkeit, Erwartungsnormen von Fragen der Einstellenden zu identifizieren und die produktive Fähigkeit, kommunikative Absichten bezogen auf die Er‐ wartungsnorm einer Frage sprechsprachlich angemessen und zielgerichtet umzusetzen. Steuerung durch den jeweiligen Antwortgrad des respondierenden Zugs (Antwortqualität): Die Angemessenheit einer Bewerberantwort richtet sich nach der Umsetzung erkannter Erwartungsnormen von Fragen in eine diesen Erwartungsnormen entsprechende Antwort. Steuerung durch den Responsivitätsgrad einer Antwort (vgl. Schwitalla 1976: 91 f.): Einstel‐ lende haben die Erwartung, dass sie auf eine Frage eine passungsrelevante Antwort be‐ 319 Mündliche Bewerbungskompetenz beschreiben und entwickeln kommen. Deshalb gilt für BuB die Verpflichtung, responsiv zu sein. Mit Responsivität de‐ monstrieren BuB, dass sie in der Lage sind, Erwartungsnormen von Fragen zu identifizieren und sie auf dem Hintergrund des situativen Erwartungshorizontes zu beantworten (Hör‐ verstehens- und Sprechdenkkompetenz). Unangemessene Äußerungen wären solche, durch die die Passungsüberprüfung erschwert beziehungsweise verhindert wird (z. B. vo‐ rausgreifende Bewertungen und Aufwertungen der eigenen Person, permanente Minimal‐ antworten, irrelevante Zusatzinformationen/ „Überresponsivität“). Durch teilresponsive Steuerungen haben BuB die Möglichkeit, sich vor übergriffigen Fragen zu schützen und differenziert zu antworten. Beispiel hierfür ist ein „Antwortangebot unter bestimmten Bedingungen“: Damit können BuB z. B. auf eine Frage wie: „Könnten Sie sich vorstellen, auch im Außendienst zu arbeiten? “ mit Einschränkungen antworten (z. B.: „Auf der Grundlage der bisherigen Informationen könnte ich mir das vorstellen, voraus‐ gesetzt dass …“). Sie signalisieren Antwortbereitschaft, zeigen damit aber auch deutlich Grenzen auf (vgl. Schwitalla 1979: 135). Steuerung durch Teilkonsens und Dissens (vgl. ebd.: 141-143): Für BuB stellen Antworten mit Teilkonsens oder Dissens ein wichtiges Steuerungsmittel gegen Vereinnahmungen oder Unterstellungen dar. Durch Teilkonsens können sich BuB abgrenzend positionieren (z. B.: „Ich stimme Ihnen in zwei Punkten zu, bin allerdings mit … nicht einverstanden …“), sich gegen unberechtigte Forderungen schützen und Missverständnisse durch Korrekturen be‐ seitigen. BuB müssen allerdings zum Ausdruck bringen, was sie stattdessen für richtig halten und diese Position begründen. Nur dadurch wird gewährleistet, dass die Äußerung nicht als grobe Zurückweisung oder Ablehnung der vorausgegangenen Äußerung ver‐ standen wird, sondern dass der Meinung oder Auffassung ein berechtigter und nachvoll‐ ziehbarer Teilkonsens beziehungsweise Dissens zugrunde liegt. Dabei steht die Notwen‐ digkeit, durch Konsensäußerungen Gemeinsamkeiten herauszustellen, gleichrangig neben der Notwendigkeit, durch Teilkonsens oder Dissens divergierende Meinungen zu kontras‐ tieren. Hier entfaltet auch der komplementäre Charakter des Passungsgedankens nochmals explizit seine Bedeutung. Sequentielle Symmetrie: Sequentielle Symmetrie können BuB vor allem durch reaktivie‐ rende Züge bzw. kombinierte Sprecheroperationen, z. B. eine Information mit einer an‐ schließenden Frage, herstellen (vgl. Bartsch & Pabst-Weinschenk 2004: 127). Reaktivierende Züge ermöglichen es BuB, an das Vorausgegangene anzuknüpfen, z. B. durch eine Refe‐ renzerweiterung (vgl. Schwitalla 1979: 167), durch Nachfragen oder Verständigungsfragen (vgl. ebd.: 146 f.). Dabei muss sich der initiierende Anteil in reaktivierenden Zügen nicht auf Fragen beschränken, sondern kann allgemein aus einem „Widerspruchselement“ (Schwi‐ talla 1976: 88), z. B. einer Bewertung oder einem Element, das für Einstellende einen ge‐ wissen Neuigkeitswert besitzt, bestehen. Personales Sprechen durch passungsrelevante Auswahl und individualisierte Interpretation von Topoi: Personales Sprechen wird vor allem über die Auswahl und Interpretation von Topoi vollzogen, die BuB heranziehen, um von ihrer Passung zu überzeugen. Topoi als Denk-, Gefühls- und Handlungsmuster werden in Form von Prädikationen in den jewei‐ ligen Gegenstandssichtweisen der Gesprächsteilnehmer aktiviert und zum Ausdruck ge‐ bracht. Das zentrale Problem der Verwendung von Topoi liegt darin, dass häufig mit einem von BuB verwendeten Schlagwort keine Erfahrung, kein persönlicher Bezug und keine 320 Annette Lepschy Identifizierung vorhanden sind. Häufig verbirgt sich hinter dem Schlagwort nur eine sehr diffuse Vorstellung. So bleiben beispielsweise Topoi zur Selbsteinschätzung wie „zuver‐ lässig“, „belastbar“, „kontaktfreudig“, „tolerant“, „teamfähig“, „konfliktfähig“ etc. oder Rol‐ lencharakterisierungen („dynamische Führungskraft“, „kreativer Denker“, „radikale Selbst‐ verwirklichung“ etc.), die BuB für passungsrelevant halten, häufig Allgemeinplätze und semantische Leerformeln, wenn sie nicht mit Erfahrung und einer erlebten Wirklichkeit ausgefüllt werden. Die Gründe dafür können zum einen darin liegen, dass es BuB schwer‐ fällt, eigenständige Gegenstandssichtweisen zu entwickeln und sie stattdessen auf gängige Schlagworte, Klischees und stereotype Formulierungen zurückgreifen, die sie beispiels‐ weise in Bewerbungsratgebern gelesen haben und davon ausgehen, dass „mit dem Schlag‐ wort gleichzeitig seine Bedeutung und seine Wertgestalt appellhaft im Hörer“ (Bartsch1970: 147) aufgerufen wird. Damit Topoi im Gespräch eine Wirkung entfalten, müssen sie die folgenden Struktur‐ merkmale aufweisen, aus denen sich handlungspraktische Konsequenzen für die Antwort‐ qualität gewinnen lassen (vgl. Bornscheuer 1998: 91). Sie müssen relevant sein und inten‐ tional auf die Stelle zielen, individuell interpretiert werden und sich symbolisch vermitteln bzw. veranschaulichen lassen. Eine passungsrelevante Auswahl und Interpretation von Topoi gelingt dann, wenn diese relevant für die Stelle sind. So hat der Topos „Durchsetzungsfähigkeit“ bei einer Sozialar‐ beiterin in sozialen Brennpunkten eine wesentlich höhere Relevanz als bei einem Bundes‐ bahnangestellten oder einer Verkäuferin. Da Topoi generell unbestimmt und allgemein sind und sich für unterschiedliche Argu‐ mentationsziele verwenden lassen (ebd.: 98), bedürfen sie unbedingt der Interpretation durch die BuB auf der Basis von Erfahrungswissen und einer gelebten Wirklichkeit (vgl. auch Pawlowski 1990: 257). Dieses Strukturmerkmal eines Topos ist für BuB von elemen‐ tarer Bedeutung, da erst durch die Interpretation des Topos ein individuelles Passungsprofil entsteht. Gelingt es z. B. nicht, Topoi wie „Teamfähigkeit“ oder „Belastbarkeit“ auf dem eigenen Erfahrungshintergrund zu interpretieren, dann bleiben die Topoi als semantische Leerformeln unwirksam. Es bedarf der sprachlichen Auflösung von Topoi durch Substitu‐ tion, das heißt, der konzentrierte allgemeine Bedeutungsgehalt, der in einem Topos wie „Teamfähigkeit“ kulminiert, muss durch eine persönliche Interpretation der BuB konkre‐ tisiert werden. Möglichkeiten zur sprachlichen Dechiffrierung, Substitution und Vermitt‐ lung von Topoi sind Erfahrungsberichte, Beispiele oder Analogiebildungen. Die Interpre‐ tation eines Topos kommt auch in der jeweiligen Art und Weise der symbolischen Vermittlung zum Ausdruck (Bornscheuer 1998: 103). Bei BuB existiert in Bezug auf die sym‐ bolische Vermittlung von Topoi besonders die Schwierigkeit, einen bestimmten Bedeu‐ tungsgehalt, ein Beispiel oder eine bestimmte Situation auf eine prägnante Formel zurück‐ zuführen. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn sie sich bei der Antwort auf die Frage: „Was verstehen Sie denn unter kameradschaftlichem Umgang …? “ nur auf das Explizieren von Beispielen, Episoden aus ihrer beruflichen Tätigkeit beschränken, ohne sie mittels eines induktiven Verfahrens in einer allgemeinen Aussage auch wieder zusammenzuführen. 321 Mündliche Bewerbungskompetenz beschreiben und entwickeln 2.2.2 Identitäts- und Beziehungsgestaltung Prozedurales Können liegt dann vor, wenn BuB in der Lage sind, die Beziehung zu gestalten, d. h. Sprecher- und Partnerbezug angemessen herzustellen und identitätsbalanciert (soziale Identität - persönliche Identität) zu agieren (vgl. Goffman 1982: 255 f.). Sprecher- und Partnerbezug: Wenn BuB über sich sprechen, dann sollten sie dies auch durch expliziten Sprecherbezug markieren. Dies kann beispielsweise realisiert werden durch ‚Ich-Aussagen‘ wie „ich bin der Meinung“, „meiner Meinung nach“ etc. Dadurch wird eine verallgemeinernde, neutralisierende Gegenstandsbehandlung vermieden, die zudem oft die Wirkung der Vereinnahmung des Gesprächspartners hat („man müsste“, „man ist …“). Eine weitere Notwendigkeit besteht in der adäquaten Herstellung von Partnerbezug in Form von Nähe oder Distanz markierenden Äußerungen. Damit können BuB einerseits Unterwürfigkeit zum Ausdruck bringen, z. B. durch Syntagmen wie „Wenn Sie erwägen, mich einzustellen …“, „Darf ich …“, „Wenn es Ihnen nichts ausmacht …“ etc., die in diesen Fällen als „Detraktoren = Positionserniedriger“ (Bartsch 1990: 45) wirken. Zum anderen können sie Überlegenheit demonstrieren, z. B. durch verbale Machtsignale wie „Das ist ganz klar …“, „Da müssen Sie …“, „Ja ich kann dann …/ … kann ich nur auf den Herrn Prof. Meier verweisen“. In diesem Fall wirken sprachliche „Elevatoren = Positionserhöher“ (ebd.). Diese Formen der Gegenstandsbehandlung können die „Machtbalance“ (Bartsch 1991: 8) im Be‐ werbungsgespräch gefährden, da durch sie im ersten Fall eine Abwertung der BuB, im zweiten Fall eine Überbewertung erfolgt. Um Machtbalance zu gewährleisten, sollten BuB einen Gesprächsgegenstand so behandeln, dass seine Gegenstandssicht ohne Anspruch auf allgemeine Gültigkeit zum Ausdruck kommt. In solchen Fällen kann es sinnvoll sein, den Geltungsbereich einer Aussage z. B. durch Modalpartikel („schon“, „doch“, „mal“, „ja“ etc.), abzutönen, oder Modaladverbien aber auch den Konjunktiv zu verwenden. Mit Modalad‐ verbien wie „sicher“, „bestimmt“, „gewiss“, „wahrscheinlich“, „vermutlich“ können BuB markieren, wie ihre Äußerungen graduell aufzufassen sind. Präsentation von Ich-Identität in der Rolle als zukünftiger Stelleninhaber: Die Herstellung, Bewahrung und Präsentation von Ich-Identität kann für BuB insofern problematisch sein, als sowohl persönliche als auch gesellschaftliche Strukturen und Voraussetzungen eine Identitätsbalance beeinträchtigen können. Gerade in Bewerbungsgesprächen wird von ein‐ stellender Seite, besonders in sogenannten Stressinterviews, aber auch in ‚normalen‘ Be‐ werbungsgesprächen, eine Konfrontation der BuB mit divergierenden Rollenerwartungen geradezu inszeniert, um zu überprüfen, wie diese mit auftretenden Differenzen und Rol‐ lenkonflikten umgehen. In diesen Fällen kann es zu nicht-identitätsbalancierten Rollenin‐ terpretationen kommen, d. h., die BuB interpretieren die Rolle, in der sie sich bewerben, überwiegend im Sinne der antizipierten Erwartungen und Vorstellungen der einstellenden Institution. Als Erfolgsrezept wird dies In vielen praxisorientierten Bewerbungsratgebern sogar explizt gefordert. (z. B. Yate 2004: 9). Nicht-identitätsbalancierte Rolleninterpreta‐ tionen liegen auch dann vor, wenn BuB bei mangelnder Berücksichtigung sozialer Identität ihre persönliche Identität als Maßstab für die Interpretation von Rollen in den Mittelpunkt stellen und dadurch die Bedürfnis-, und Interessenlage der einstellenden Institution igno‐ rieren. 322 Annette Lepschy Die Präsentation von Ich-Identität wird im Bewerbungsgespräch gewährleistet durch die interaktive Fähigkeit der Rollendistanz, Empathie und Ambiguitätstoleranz (vgl. Krapp‐ mann 2016: 133-172). Rollendistanz: Die Fähigkeit zur Rollendistanz meint, soziale Identität in Form sozialer Erwartungen, Ansprüche und Vorstellungen nicht unreflektiert zu übernehmen oder sie mit der persönlichen Identität zu vermischen, sondern sie mit persönlichen Bedürfnissen, Vorstellungen und Erwartungen zu konfrontieren, um so Übereinstimmungen oder Diffe‐ renzen zu ermitteln (vgl. ebd.: 141 f.). Rollendistanz ist bespielspielsweise dort notwendig, wo BuB aufgefordert werden, ein Problem aus der Sichtweise einer anderen Rolle zu be‐ trachten (z. B. Fragen wie: „Welche Erfahrungen haben Sie als Praktikant gemacht? “, „Ver‐ setzen Sie sich einmal in die Situation eines Altenpflegers. Welche Erwartungen hätten Sie an ihre zukünftigen Vorgesetzten“ o. ä.). Rollendistanz ermöglicht den BuB, ihr Handeln im Bewerbungsgespräch als Probehandeln auszuweisen. Das bedeutet, zwar in der Rolle des Stelleninhabers zu agieren, diese Rolle allerdings auch immer wieder als Rolle auf Probe zu kennzeichnen. Diese Proberolle kann sprachlich z. B. durch den Konjunktiv markiert werden. Das wird besonders dort erwartet, wo Pläne, Wünsche, Vorstellungen und Kon‐ zepte über die zukünftige Tätigkeit erläutert werden sollen oder wo BuB aufgefordert werden, fiktive Problemsituationen aus dem Tätigkeitsbereich zu lösen (z. B. „Ich würde das Problem mit dem Kunden folgendermaßen lösen …“). Empathie: Empathie bedeutet die Fähigkeit zur Perspektivübernahme, also das Hinein‐ versetzen in die Situationssicht, die Bedürfnisse und Interessen der anderen Seite (vgl. ebd.: 142). Das kann sprechsprachlich darin zum Ausdruck kommen, dass BuB durch aktives Zuhören und Verständnissignale (z. B.: „Ich kann Ihre Position verstehen“, „Wenn ich Ihre Erfahrungen mit meinen vergleiche …“ o. ä.) die Perspektive des Einstellenden explizit ver‐ balisieren oder aber Übereinstimmungsfeststellungen treffen; andererseits kann Empathie auch durch eine erhöhte Informationsbereitschaft, z. B. durch explizite Informationsange‐ bote der BuB zum Ausdruck kommen. Ambiguitätstoleranz: Für BuB bedeutet diese Fähigkeit, auftretenden Differenzen und Unvereinbarkeiten in Bezug auf aufeinandertreffende Wert-, Norm,- und Bedürfnissysteme standzuhalten (vgl. ebd.: 150). Ambiguitätstoleranz kommt dann zum Ausdruck, wenn ein Bewerber erkannte oder vermutete Widersprüche und Unvereinbarkeiten aufdeckt und benennt, die persönliche damit verbundene emotionale Lage zulässt und verbalisiert. In letzter Konsequenz bedeutet Ambiguitätstoleranz für BuB, sich dem Risiko zu stellen, dass die im Bewerbungsgespräch angestrebte Passungsüberprüfung keine Passungsüberein‐ stimmung ergeben könnte. 2.2.3 Verständnissichernde Unterstützungsverfahren Prozedurales Können liegt dann vor, wenn der Bewerber in der Lage ist, Verständigungs‐ probleme, Missverständnisse zu erkennen und darauf zu reagieren (Becker-Mrotzek 2009: 76). Metakommunikation, aber auch Gegeninitiierungen durch Fragen können als Gegensteuerung zu Unterstellungen, Provokationen oder unzulässigen Fragen fungieren. Häufig werden provozierende Fragen von einstellender Seite aus auch gestellt, um BuB auf die Probe zu stellen. In solchen Fällen wird von den BuB sogar erwartet, auf die Frage nicht zu antworten bzw. diese zurückzuweisen. 323 Mündliche Bewerbungskompetenz beschreiben und entwickeln 3. Grundzüge eines didaktisch-methodischen Konzepts Die dargestellten Anforderungen machen im Lehr-Lernkontext eine Arbeit auf vier Ebenen notwendig, um mündliche Bewerbungskompetenz zu entwickeln: 1. Recherche baut vor allem institutionelles Wissen auf, z. B. durch Berufsfelderkun‐ dung, Internetrecherche, Analyse von Stellenanzeigen usw., Besuche und Gespräche in Unternehmen usw. 2. Exploration und Analyse erweitert das pragmatische Wissen um den Ge‐ sprächstyp „Bewerbungsgespräch“. Durch Exploration und Analyse wird der kom‐ munikativ-pragmatische Ist-Zustand einer Sprechsituation und eines Gesprächs‐ prozesses erhoben und problematisiert und seine strukturellen und sprechsprachlichen Anforderungen (z. B. Antwortqualitäten) ermittelt (vgl. Lepschy & Lepschy 2011: 10-16). Dies kann methodisch mit Transkripten (z. B. Grießhaber 1994, auch Rohlfs 2005), mit Gesprächssimulationen oder Filmszenen (z. B. www.bewerbung.net) realisiert werden. 3. Biografiearbeit entwickelt und stabilisiert die biografische Kompetenz. Die Aus‐ einandersetzung mit der persönlichen Identität dient dem Reflektieren der Vergan‐ genheit und der Gegenwart, aus der sich Gestaltungs- und Handlungspotenziale für die (berufliche) Zukunft entwickeln lassen (vgl. Hölzle & Jansen 2011: 21). Dazu ge‐ hört die Auswahl, Auflösung und Substitution von Topoi (z. B. „Was ist mir wichtig? “, „Was verstehe ich unter Teamarbeit? “, „Welche Erfahrungen habe ich mit Kon‐ flikten? “) und die Auseinandersetzung mit eigenen Wünschen, Vorstellungen, Inte‐ ressen, Stärken und Schwächen, beispielsweise in Form von biografischem Schreiben oder Erzählen oder mit Hilfe strukturierter Fragebögen für die Einzel- oder Gruppenarbeit (vgl. u. a. Ryan & Walker 2007). 4. Sprechsprachliche und gesprächsrhetorische Fähigkeiten ermöglichen dem Bewerber, die aus der Recherche, Exploration, Analyse und Biografiearbeit gewon‐ nenen Erkenntnisse und Reflexionsergebnisse im Gesprächsprozess passungsrele‐ vant zu kommunizieren. Diese Fähigkeiten können zum einen durch gesprächs- und rederhetorische strukturierte Übungen zum informierenden und argumentierenden Sprechen, z. B. in Form des Fünfsatzes (vgl. Geißner 1982: 125-127), Konfrontations‐ übungen zur Stärkung der Ambiguitätstoleranz („Heißer Stuhl“), und zum anderen mittels Übungen zur Erlangung des Rederechts, zum Trainieren reaktivierender Ge‐ sprächszüge und des aktiven Zuhörens, z. B. mittels des Kontrollierten Dialogs, ein‐ geübt werden (Lepschy 2008: 321 f.). Ebenfalls berücksichtigt werden sollten Übungen zur Sensibilisierung für Körperausdrucksphänomene, z. B. Blickkontakt- und Körperhaltungsübungen. Hier bieten sich Mikro-Übungen aus dem Konzept des Komfu-Gesprächstrainings (vgl. z. B. Filipski 2007) oder aus dem Bereich des Atem-Stimm- und Sprechausdruckstrainings (z. B. Eberhart & Hinderer 2014) an. Auf der Basis dieser vier Arbeitsfelder steht nun aus, zielgruppenspezifische Lehr-Lern-Konzepte zu entwickeln. Auch besteht noch ein erhebliches Entwicklungspo‐ tenzial in Bezug auf qualifizierte Lehr-Lernmaterialien. 324 Annette Lepschy Literatur Bartsch, Elmar (1970). Verkündigung als sakrale Leerformel oder als Deutung der Wirklichkeit. In: Bartsch, Hartmut. (Hrsg.). Probleme der Entsakralisierung. Mainz: VERLAG, 146-167. Bartsch, Elmar (1990). Grundlagen einer „Kooperativen Rhetorik“. In: Geißner, Hellmut. (Hrsg.). Er‐ munterung zur Freiheit. Rhetorik und Erwachsenenbildung. Frankfurt a. M.: Cornelsen, 37-50. Bartsch, Elmar (1991). Managementaufgabe: Kommunikation: Das Machtspiel im Gespräch. Vortrag anlässlich des Personalforums 1991 der Süddeutschen Zeitung in Frankfurt u. a. Bartsch, Elmar/ Pabst-Weinschenk, Marita (2004). Gesprächsführung. 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Diese Er‐ kenntnisse werden zum Schluss zusammengefasst und mit einem Blick in die Zukunft der Schreibkompetenzmessung abgeschlossen. 1. Einordnung Das Schreiben in der Berufsschule unterscheidet sich von dem der Sekundarstufe I. Aufga‐ benstellungen sind handlungsorientiert und müssen nah an der beruflichen, oft rechtsre‐ levanten Praxis bearbeitet werden (vgl. Czycholl & Ebner 1995). Schreiben ist hier von institutionellen Rahmenbedingungen geprägt, die von Seiten der Wirtschaft über die Kam‐ mern in die Berufsschule getragen werden. Bemerkbar wird dies durch die zunehmende Behandlung von berufstypischen Textsorten, wie z. B. Angebot oder Vertrag, die rechtliche Konsequenzen haben und stark normiert sind. Die Schreibprodukte entstehen dabei in be‐ stimmten Handlungssituationen, sind also kontextuell eingebettet. Schreiben ist somit im Spannungsfeld von 1. Alltagswissen, 2. schulischem Wissen und 3. beruflicher Praxis in erster Linie als kommunikative Anforderung zu verstehen, für deren Bewältigung in Schule, Berufsschule und Ausbildungsbetrieb gleichermaßen qualifiziert wird. Gemessen wird die Schreibkompetenz der Berufsschülerinnen und Berufsschüler häufig durch das Schreiben von Texten, die hinsichtlich ihrer linguistischen, pragmatischen, ggf. diskursiven Teilkom‐ ponenten erfasst werden. In den folgenden Studien wird die Rechtschreibung oft zur Mes‐ sung der Schreibkompetenz herangezogen, sie wird hier deshalb als Teilkompetenz der Textproduktion und nicht als separiert zu messende Fähigkeit betrachtet. Neben dem Repertoire an beruflichen Textsorten werden auch die Schreibenden an Be‐ rufsschulen, die in verschiedenen beruflichen Domänen und Ausbildungsstufen zu finden sind und über verschiedene schulische Eingangsvoraussetzungen, Alter, Migrationserfah‐ rungen und Ausbildungsverläufe verfügen, berücksichtigt. Des Weiteren ist zu beachten, dass sich die Berufsschülerin und der Berufsschüler während der beruflichen Bildung in‐ nerhalb von zwei bis drei Jahren entwickelt und die Schreibkompetenz in dieser Zeit meist noch vor einer „Literalen Orientierung“ (Becker-Mrotzek & Böttcher 2012: 61) steht. Dieser Einblick soll verdeutlichen, dass die Heterogenität an berufsbildenden Schulen einerseits als Chance, aber für eine Diagnose der Schreibkompetenz testtheoretisch als Herausforde‐ rung gesehen werden muss, wenn die sozialwissenschaftlichen Gütekriterien für jede Tes‐ tung berücksichtigt werden. 2. Gütekriterien zur Erfassung der Schreibkompetenz Testaufgaben zur Diagnose orientieren sich anders als Lernaufgaben für das berufliche Schreiben nicht an vollständigen Handlungen, wie sie sich in der Lernfelddidaktik seit 1996 widerspiegeln ( KMK 1996/ 2011). Die Handlungsorientierung führt zu situativen, aber keinen handlungsorientierten Prüfungsaufgaben. Valide, also gültig, müssen diese Auf‐ gaben messen, was im Berufsschulkontext, respektive Beruf, als Schreibkompetenz ange‐ sehen wird. Sie werden dabei von den verschiedenen o. g. Akteuren durchaus unterschied‐ lich in ihrer Relevanz bewertet. Daher müssen bei den Messungen deutlich mehr (Einzel-)Aspekte objektiv, also unabhängig vom Tester und Auswerter, und reliabel, also reproduzierbar, erfasst werden, um ein differenzielles Weiterarbeiten mit den Ergebnissen i. S. des Feedbackgebens und/ oder Förderns zu ermöglichen (vgl. Neumann 2012). Dies soll an den nachfolgenden Studien gezeigt werden. 3. Studien zur Schreibkompetenz in der beruflichen Bildung in den letzten beiden Dekaden Wyss-Kolb (1995) geht in ihrer Dissertation Was und wie Lehrlinge schreiben? Eine Analyse von Schreibgewohnheiten und von ausgewählten formalen Merkmalen in Aufsätzen u. a. der Frage nach, welche schriftsprachlichen Leistungen im sprachsystematisch-orthographi‐ schen Bereich zu finden sind. 88 Aufsätze von 11. und 12. Klassen deutsch-schweizer Lehr‐ linge im Alter von 18-21 Jahren aus dem Jahr 1991 wurden inhaltsanalytisch untersucht. Ergänzt wurden diese durch die Untersuchung von 15 Doppellektions-Aufsätzen, 13 vier‐ stündigen Maturaaufsätzen aus dem Jahr 1989 und einstündigen Aufsätzen (n = 30), die 1990 an einer Berufsschule mechanisch-technischer Berufe in Zürich erhoben wurden. Im Durchschnitt sind die Texte 285 Wörter lang und im Vergleich zu den Gymnasiastinnen und Gymnasiasten die der Berufsschülerinnen und Berufsschüler signifikant kürzer. Letz‐ tere weisen eine doppelte grammatische Fehlerdichte auf, im Bereich der Orthographie, Interpunktion und Syntax unterschied sich diese signifikant von denen der Gymnasial‐ schülerinnen und Gymnasialschülern. Dennoch waren 93 % der Texte formal korrekt und wiesen geringe Probleme im Bereich der Semantik auf (vgl. Wyss-Kolb 1995: 107, 142, 272). Wyss-Kolb kann durch eine ergänzende Befragung der Lehrlinge (n = 128) zeigen, dass 60 % täglich oder oft u. a. Einträge, Notizen, Korrespondenzen sowie Formulare schreiben, was jedoch eher unter Druck als auf freiwilliger Basis geschieht. Das Schreiben von län‐ geren Texten nimmt einen geringen Stellenwert von durchschnittlich zweibis viermal pro Halbjahr ein (vgl. ebd.: 57). Interviews zu Schreibgewohnheiten ergaben zudem, dass sich die Lehrlinge mehr „Alltagsdeutsch“, z. B. in Bewerbungen und Beschwerden, wünschen. Daher schlussfolgert die Autorin, dass „[…] (vermehrt) pragmatische Schreibaufgaben ge‐ stellt werden sollten“ (ebd.: 41, 276). 330 Astrid Neumann & Winnie-Karen Giera Diese Studie ist aus heutiger Sicht testtheoretisch durch die Heterogenität aller Bereiche (Probanden verschiedener Berufszweige und Alter; Testzeitpunkte; Darstellung der statis‐ tischen Ergebnisse) kritisch zu hinterfragen (vgl. Rost 2007: 276). Die Problemdarstellung leistet mit den variantenreichen Ergebnissen aber immer noch einen wichtigen Diskussi‐ onsbeitrag. Die Dissertation Kommunikative Kompetenzen von Auszubildenden in der beruflichen Aus‐ bildung. Ausprägungen, Förderung und Relevanz im Urteil von Ausbildern, Lehrern und Aus‐ zubildenden von Fleuchhaus (2004) stellt die kommunikativen Kompetenzen von Auszu‐ bildenden in der dualen Ausbildung in Lernfeldern aller Fächer und Aufgaben in Baden-Württemberg heraus. Sie befragte Lehrende (n = 60) und Ausbildende (n = 60) sowie Auszubildende in 17 Klassen im ersten und dritten Ausbildungsjahr (n = 1.360) und spiegelt die berufsschulischen und betrieblichen kommunikativen Anforderungen, vor allem in ge‐ werblich-technischen Berufen, wider. Untersuchungsschwerpunkte waren u. a. „sprach‐ liche Grundlagentexte, Texte schreiben, Informationen bildhaft darstellen, Informationen für und mit modernen Medien erstellen“ (Fleuchaus 2004: 23). Sie wurden mit einer fünf‐ stufigen Likertskala in einem Fragebogen erfragt. Die Selbsteinschätzung der Auszubild‐ enden zeigte, dass diese häufig mit Textverarbeitungsprogrammen arbeiten (3,76 Mittel‐ wert), eher selten Rechtschreib- und Kommafehler machen (3,27) und weniger Geschäftsbriefe (2,45) und Arbeitsberichte (2,24) formrichtig schreiben können. Beim Aus‐ füllen von Formularen machten sie kaum Fehler (3,60) (vgl. Fleuchaus 2004: 198). Das Lesen und Schreiben von E-Mails wird dagegen sehr selten durchgeführt (1,41). Der schulische Förderort wird fast durchweg höher eingeschätzt als der Betrieb. Die Lernbereitschaft im Bereich „Präsentation und korrekte Erstellung von Texten“ (ebd.: 262), wie z. B. Geschäftsbriefe schreiben und das Beherrschen der Rechtschreibung und Kommasetzung, ist signifikant höher bei Auszubildenden in Berufen, die in ihrer Zu‐ kunft diesen Kompetenzbereich als Anforderung sehen (z. B. Kaufleute) als bei anderen (z. B. Mechatroniker). Die Lehrenden- und Ausbildendenbefragung zeigte, dass die „Selbständige Produktion von Informationen“ (ebd.: 409), sprachliche Grundlagenkenntnisse im Bereich der Gram‐ matik, Rechtschreibung und Zeichensetzung zu Beginn der Ausbildung sehr gering vor‐ handen (durchschnittlich 1) sind, sich bis zum Ende der Ausbildung um einen Skalenpunkt erhöhen und für die Zukunft als sehr wichtig erachtet werden. Weitere Ergebnisse der Interviews sind, dass im gewerblich-technischen Ausbildungszweig eher sprachformale Fähigkeiten wie Grammatik, Rechtschreibung und Zeichensetzung als wichtig angesehen werden, da weniger komplexe Anforderungen gestellt werden. Die Auszubildenden müssten sich in ihren Berichten und in Vorgangsbeschreibungen schriftlich ausdrücken, aber sich auch im Intranet Informationen beschaffen, selektieren und firmenintern durch E-Mails korrespondieren. Für die Schulung mit dem Computer sei wenig Ausbildungszeit vorhanden und solle daher eher in der Schule durchgeführt werden (vgl. ebd.: 262). Fleuchaus greift u. a. die Studie von Wyss-Kolb (1995) auf und forscht an einer reprä‐ sentativen Stichprobe von über 1.000 Auszubildenden in 21 Berufsgruppen weiter. Auch diese Studie ist sehr heterogen hinsichtlich Bildungsgrad und Altersstruktur. Es werden Fragebogendaten der Selbsteinschätzungen von Auszubildenden und Fremdeinschät‐ zungen der Lehrenden und Ausbilder nicht nur deskriptiv dargestellt, sondern auch tiefer 331 Diagnose von Schreibkompetenzen in der beruflichen Bildung nach Signifikanzen überprüft. Die Ergebnisse zeigen, dass die Anforderungen der berufs‐ nahen Textsorten sowohl von den in Berufsschulen Lernenden als auch von den Ausbild‐ enden und Lehrenden als zu gering eingeschätzt werden, obwohl diese für die Zukunft des Arbeitsplatzes überwiegend bedeutsam sind. Die im Schuljahr 2002/ 03 durchgeführte Untersuchung Aspekte der Lernausgangslage und der Lernentwicklung - Klassenstufe 11 ( LAU 11) war Teil einer Längsschnittuntersuchung an 100 Hamburger Schulen (vgl. Lehmann et al. 2004: 5). Schülergruppen an beruflichen und an allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe II wurden vergleichend untersucht. Für die Berufsschülerinnen und Berufsschüler wurde parallel die Untersuchung der Leistung, Motivation und Einstellung zu Beginn der beruflichen Ausbildung ( ULME I) (Lehmann et al. 2005: 5) durchgeführt. Für die Erhebung der Textproduktion wurde das zweiteilige Aufga‐ benset Jugendclub genutzt, das auch später für DESI verwendet wurde. Bei der ersten Schreibaufgabe (n = 3.517) handelt es sich um einen Beschwerdebrief an den Gemeinderat, um der Schließung eines Jugendclubs entgegenzuwirken. Nur dieser wurde auch in ULME I eingesetzt. Die zweite Schreibaufgabe (n = 1.539) war ein fiktiver persönlicher Antwort‐ brief zur ersten Schreibaufgabe. Es wurden sowohl formale Textelemente als auch Inhalts‐ elemente dichotom sowie sprachlich-textuelle Merkmale auf fünfstufigen Ratingskalen doppelt blind kodiert und um Ratereffekte korrigiert (vgl. Neumann 2006: 24 f.). Für den Beschwerdebrief kann festgehalten werden, dass zwei Drittel der Elftklässler‐ innen und Elftklässler bzw. Berufsschülerinnen und Berufsschüler einen hinreichend funk‐ tionalen Brief schreiben können, der inhaltlich, sprachlich und formell ausgereift ist. 34 % benötigen eine Schreibförderung, da sie auf einem sehr geringen Niveau Briefe verfassen und den „[…] Empfänger weder ausreichend über ihren Schreibanlass noch über ihr Schreibziel informieren“ (ebd.: 28). Sprachsystematisch schrieben 21,4 % der Schülerinnen und Schüler nahezu fehlerfreie Briefe und bei zwei Dritteln der Schreibenden waren es verständliche Texte. Die Gesamtqualität der Beschwerdebriefe zeigte, dass 17,3 % der Schreibenden nichtfunktionale Texte, 65,3 % einen guten und weitere 1,2 % einen ausge‐ zeichneten Text schrieben (ebd.: 38 f.). 16,2 % der Texte wiesen als Mischformen entweder Stärken im Inhalt oder in der Sprache auf. Es zeigte sich insgesamt auch, dass die Berufs‐ schülerinnen und Berufsschüler etwas bessere Beschwerdebriefe verfassten als die Schreib‐ enden der allgemeinbildenden Schulen. Der durchschnittliche Mittelwert lag auf der DESI -Metrik ( MEAN 500/ STDD 100) für beide Bereiche um ca. elf Punkte höher (vgl. Neu‐ mann 2007: 194). Diese Studie präsentierte durch eine große Stichprobe und die statistischen Berech‐ nungen reliable Messungen. Es wurden zwar keine berufsspezifischen, sondern eher all‐ gemeine Fähigkeiten diagnostiziert, jedoch waren die zwei Schreibaufgaben durch ihre Ar‐ gumentationsanforderungen hoch relevant und valide für Alltag und Beruf. Die Studie Vocational Literacy ( VOLI ) untersuchte von 2003-2006 als Modellversuch des Hessischen Kultusministeriums, der Bund-Länderkommission, der TU Darmstadt und des IQ in Wiesbaden 624 Schülerinnen und Schüler im Alter von 15 bis 51 Jahren. Verschiedene Ausbildungsberufe und überwiegend Hauptschulen (n = 375), aber auch Realschulen (n = 158) und Gymnasien als Bildungsinstanzen vor der Berufsschule waren an dieser Studie beteiligt (vgl. Efing & Janich 2006: 7). Ein Hauptziel war die Reduzierung der zu hohen 332 Astrid Neumann & Winnie-Karen Giera Durchfallquoten bei den Abschlussprüfungen. Der Blick auf fachsprachliche Probleme der Vocational Literacy, also „[…] die Summe der sprachlichen Fertigkeiten, die in spezifischen beruflichen Zusammenhängen benötigt werden“ (Biedebach 2006: 16), von nicht deutschen Muttersprachlerinnen und Muttersprachlern sowie Risikogruppen unter Berufsschüler‐ innen und Berufsschülern sollte geschärft werden. Efing und Janich führten einen Problemtypen-Test bei 415 Schülerinnen und Schülern (55 % männlich, 31,8 % nichtdeutscher Herkunft, 10 Berufsfelder) sowie eine Fragebogen‐ erhebung bei Lehrenden (n = 48) und qualitative Interviews mit Schülerinnen und Schülern (n = 97) durch. Der Problemtypentest erforderte Inhalte eines aufbereiteten Textes mit Ta‐ bellen zum Thema Alkoholkontrolle in Form einer Inhaltsangabe mit 5-7 Sätzen wieder‐ zugeben. 28 % der Berufsschülerinnen und Berufsschüler bearbeiteten die Schreibaufgabe gar nicht oder brachen den Schreibvorgang ab. Erstellte Textprodukte waren kaum struk‐ turiert und kohärent, der Textinhalt des Primärtextes wurde kaum wiedergeben und oft mit der eigenen Meinung vermischt. Die Textsorte Inhaltsangabe wird nicht sicher beherrscht. Textquantität als Prädiktor für hohe Schreibleistungen deckte sich in dieser Studie nicht mit Textqualität: „Sprachlich-stilistisch mangelhafte Texte brachten teilweise die bessere Leistung im Bereich der Abstraktion und Zusammenfassung“ (Efing 2006: 42). Zusammen‐ fassend zeigt sich fehlendes Textmusterwissen, das z. T. durch fehlende mentale Modelle der Ausgangstexte begründet ist. Ziel und Funktion von Texten als Einheiten wurden (noch) nicht ausreichend verstanden (vgl. ebd.: 39-44.). Die Heterogenität der Berufe als Subgruppe zeigte keinen Ausbildungsberuf, der sich besonders positiv oder negativ von der Gesamtstichprobe abhob. Die schulische Vorbildung scheint sich nicht auf die Textqualität auszuwirken, da die Hauptschülerinnen sowie Hauptschüler teilweise bessere Texte als die Realschülerinnen und Realschüler schrieben. Auch das Geschlecht wirkte sich nicht auf die Schreibleistungen aus. Die Autoren dieser Studie forderten die „innere Mehrsprachigkeit“, die Verbesserung des Strategiewissens, ein routiniertes und selbstständiges Lesen und Schreiben sowie konzentriertes Arbeiten. Auch müsse an der Motivation und Einstellung zum Schreiben und Lesen gearbeitet werden (vgl. ebd.: 61 f.). Insgesamt präsentierte VOLI sehr differenzierte Ergebnisse im Hauptbereich Lesen. Eine Stärke ist der Versuch, die Testaufgaben in zehn Berufsgruppen durchzuführen, um sich einem IST -Stand und einem Vergleich der Auszubildenden anzunähern. Diese Studie ist mit einem qualitativ geprägten Blick sehr spannend und ein tieferer statistischer Einblick könnte die Beurteilung der Erhebung aus testtheoretischer Sicht sehr interessant machen (vgl. Rost 2007: 276 f.). Baumann (2014) bearbeitet in ihrer Dissertation ,Man muss schon ein bisschen mit dem Schreiben zurechtkommen! ‘ Eine Studie zu den Schreibfähigkeiten von Auszubildenden im unteren Ausbildungssegment im Kontext der Ausbildungsreife den Zusammenhang von Aus‐ bildungsreife und dem Merkmal (Recht-)Schreiben. Ausbildungsreife sei weder im Berufs‐ bildungsgesetz noch in der Handwerksordnung als berufliche Eingangsvoraussetzung fest‐ gelegt und dennoch gebe die Bundesagentur für Arbeit diese als Mindestanforderung an (vgl. Baumann 2014: 6,58). Sie zeigt, dass geringe Schreibkompetenzen gemäß Kriterienka‐ talog der Bundesagentur für Arbeit weder den Beginn einer Ausbildung noch das Bestehen einer Prüfung oder den Übergang in einer Festanstellung nach der Ausbildung wegen an‐ 333 Diagnose von Schreibkompetenzen in der beruflichen Bildung derer Kompensationsmöglichkeiten im Wege stünden. Die Probanden wurden im unteren Segment der Ausbildungsberufe und nach Gender ausgeglichen gewählt. Es sind überwie‐ gend Jugendliche (n = 175) mit Hauptschulabschluss aus 49 Ausbildungsbetrieben. Die Er‐ hebung zwischen Juni 2011 und Februar 2012 an Hamburger Berufsschulen forderte nach dem FÖMIG -Modell das Verfassen eines formalen Bewerbungsanschreibens und einer Bauanleitung und testete die LAU 9-Aufgabe zum passiven Rechtschreibwissen. Die Schü‐ lertexte wurden nach dem Zürcher Textanalyseraster und die Textqualität global auf einer Likertskala eingeschätzt. Dafür lag ein Textbeschreibungsmodell in Anlehnung an Sieber mit einer Grobkategorisierung und Aussagen über Normnähe zugrunde. Ziel war eine Pro‐ filanalyse der einzelnen Teilnehmenden. Des Weiteren wurden die Leserlichkeit nach Mahrhofer eingeschätzt und eine qualitative Rechtschreibanalyse nach der Dortmunder Rechtschreibfehler-Analyse durchgeführt. Insgesamt waren nur 11 (8,3 %) von 133 Texten normnah, 31,6 % normfern (n = 42). Be‐ werbungsanschreiben konnten 67 Azubis (47,5 %), inhaltliche und formale Merkmale 48 Azubis (34 %) (weitestgehend) verfassen (vgl. ebd.: 270). Baumann schlussfolgert, dass Jugendlichen auch mit Defiziten im Bereich der Schreibkompetenz der Zugang zur beruf‐ lichen Bildung gelänge und es keinen Zusammenhang zwischen Ausbilderbeurteilung und der Schreibkompetenz gäbe. Daher ist der Kriterienkatalog der Bundesagentur für Arbeit eher als Orientierungsnorm zu betrachten, wenn der „[…] Übergang in ein Erwerbsver‐ hältnis im gelernten Ausbildungsberuf zu bewältigen [ist, AN ], obwohl die Fähigkeiten der ‚Ausbildungsreife‘ nicht vorliegen“ (ebd.: 268). Die Arbeit von Baumann greift im Theorieteil inhaltlich die o. g. Voruntersuchungen auf. Auch in der Erhebung achtet sie auf Messinstrumente und Auswertungsmethoden, die praktisch etabliert sind. Es ist jedoch kritisch zu überlegen, ob der Teilbereich Rechtschrei‐ bung in vollem Umfang den in der Arbeit unscharf umrissenen Begriff der Schreibkompe‐ tenz misst. Die Ergebnisse zeigen für das Forschungsfeld wichtige Erkenntnisse zum Schreiben in der beruflichen Bildung, die sich vom politischen Echo der Unternehmen ab‐ heben. Hintergrund der Studie PROSAB - Förderung der allgemeinen Schreibkompetenz an Berufs‐ schulen. Prozessorientierte Schreibdidaktik zwischen DaM und DaZ von Hoefele, Konstanti‐ nidou, Kruse und Dieterich (2015) ist die zunehmende Mehrsprachigkeit der Berufsschü‐ lerinnen und Berufsschüler sowie die Notwendigkeit einer Förderung der Schreibkompetenz, um einem Ausbildungsabbruch entgegenzuwirken (vgl. Hoefele et al. 2015: 1). Diese kontrollierte Interventionsstudie mit Pre- (n = 287), Post- (n = 278) und Follow-up-Test (n = 275), beginnend im August 2013 im ersten Berufsschuljahr, zielte auf eine Schreibförderung mit Handlungs- und Prozessorientierung sowie die Verbindung der Mutter- und Zweitsprachendidaktik (vgl. Hoefele & Konstantinidou 2016). Sie evaluierte die inhaltliche Qualität der Texte wie Textsortenkonventionen, Struktur/ Roten Faden und kommunikative Wirkung sowie Sprachstil und sprachliche Richtigkeit. Darüber hinaus wurden die Fähigkeiten, den Schreibprozess zu organisieren und psychologische Faktoren, wie z. B. die Einstellung zum Schreiben oder die schreib- und schulbezogene Selbstwirk‐ samkeit, kontrolliert. Im Pretest schrieben die Schülerinnen und Schüler (n = 317) aus neun Lehrberufen (aus technisch-handwerklichem sowie Industrie- und Dienstleistungsbereich) einen Brief an die Schulleitung und im Posttest an die Bildungsdirektion sowie im 334 Astrid Neumann & Winnie-Karen Giera Follow-up-Test einen formalen Brief an den Lehrmeister bzw. die Lehrmeisterin mit der Bitte um Freistellung. Das Follow-up erfolgte vier Monate nach der Intervention. Die Messung der Textqualität erfolgte in Anlehnung an DESI - und VERA -Skalen und das Zürcher Textanalyseraster (vgl. ebd.). Die berechneten Gruppenvergleiche zwischen Interventions- und Kontrollgruppen zeigen signifikante Unterschiede im Pretest, nach der Intervention und im Follow-up-Test zugunsten der Interventionsgruppe. Diese ist vor allem in den pragmatischen Kompetenzen und in den formalen Textsortenkonventionen besser geworden. Signifikante Leistungsunterschiede gab es zudem zu allen drei Messzeitpunkten in der kommunikativen Wirkung und Adressatengerechtigkeit. Bei der Kontrollgruppe waren zwar positive Schreibentwicklungen, aber keine signifikanten Verbesserungen zu beobachten. Die Merkmale sprachliche Richtigkeit und Sprachstil sowie die Textstruktur ergaben keine signifikanten Verbesserungen durch die Intervention. Schülerinnen und Schüler der Experimentalgruppe baten signifikant öfter um Feedback zu ihren Texten von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern als die der Kontrollgruppe. Während bei den psy‐ chologischen Faktoren keine Veränderungen der schreib- und schulbezogenen Selbstwirk‐ samkeit und der Selbstregulation nachweisbar sind, sind negative Veränderungen der Ein‐ stellung zum Schreiben zu verzeichnen. Die Auswertung der demografischen und sprachbiografischen Merkmale der Probanden ergab, dass Schülerinnen und Schüler mit höherem schulischem Ausbildungsniveau bessere Texte schrieben als jene mit niedrigerem Ausbildungsniveau und sich die Probanden der Experimentalgruppe mit Deutsch als Muttersprache stärker im Laufe der Intervention ent‐ wickelten als jene mit Deutsch als Zweitsprache (vgl. Hoefele et al. 2015: 8 f., Konstantinidou et al. 2016). Insgesamt zeigte die Studie „[…] eine grosse Diskrepanz zwischen den beste‐ henden Lernzielen in den Lehrplänen der jeweiligen Berufsfachschulen und der tatsächli‐ chen Schreibkompetenz der Lernenden […]“ (Hoefele et al. 2015: 10). Die Forscher fordern einen optimierten Schreibunterricht, der auch den Schreibprozess fokussiert. Bei dieser Studie ist zu sehen, wie nicht nur die Schreibprodukte der Lernenden, sondern auch der Schreibprozess in die Intervention integriert und analysiert wurde. Damit wird man dem Schreiben als Prozess gerecht. Das Forscherteam hat zwar durch das quasi-ex‐ perimentelle Untersuchungsdesign ein Forschungsdesign gewählt, das durch die Testung ganzer Klassen eine fehlende Randomisierung sowie eine geringe Stichprobe einzelner Be‐ rufe begründet, aber die umfangreichen Auswertungen führen zu aussagekräftigen Ergeb‐ nissen (vgl. Rost 2007: 127-129). Die Berücksichtigung von bewährten großangelegten Stu‐ dien wie DESI und VERA oder Auswertungshilfen wie dem Zürcher Textanalyseraster wurden für die Auswertung der Schülertexte aufgegriffen und genutzt. 4. Fazit mit Ausblick Zusammenfassend zeigt sich, dass die Studien im Laufe der Zeit stärker Schreibkompetenz als Ganzes mit sowohl sprachsystematischen als auch sprachpragmatischen Merkmalen erfassen und damit ein handlungsorientierter Textbegriff genutzt wird. Wurde in den ersten Studien noch stärker Orthografie als Teilbereich des Schreibens oder das passive Schreib‐ wissen hervorgehoben, werden u. a. durch Nutzung funktionaler Text- und Sprachskalen und/ oder des Zürcher Textanalyserasters weitere Teilbereiche herangezogen. Bei den Un‐ 335 Diagnose von Schreibkompetenzen in der beruflichen Bildung tersuchungen zeigte sich zudem, dass von der Beurteilung der Schülertexte aus der Pro‐ duktperspektive nunmehr auch die Prozessperspektive auf Grundlage aktueller schreibdi‐ daktischer- und psychologischer Studien integriert wird. Das Forschungsdesign orientiert sich immer mehr an testtheoretischen Gütekriterien, die auch aufgrund immer größerer Stichproben und statistischer Berechnungen aussagekräftigere Ergebnisse für die Genera‐ lisierung und Übertragbarkeit herbeiführen (s. Gütekriterien). Die Testformate wurden den Berufsschülerinnen und Berufsschülern vom Aufsatz hin zu situierten, lebensnahen und handlungsorientierten Schreibaufgaben gerechter. Um die Aussagekraft vom Ist-Stand der Schreibkompetenz der Berufsschülerinnen und Berufsschüler zu erhöhen, sind Studien mit einer größeren Anzahl an Probanden wie bei der Studie DESI (s. den Beitrag Philipp in diesem Band) erforderlich. Dies kann nur gelingen, wenn interdisziplinäre Forschungs‐ teams, bestenfalls mehrerer Institutionen und auch Länder gebildet werden. Ferner sind Interventionsstudien mit Pre-Post-Follow-up-Design und einer Randomisierung der Pro‐ banden wünschenswert. Stärkere statistische Untersuchungen von Profilen, der Weg von Beschreibungen zu Modellierungen in Kompetenzstrukturmodellen sollten anvisiert werden. Abschließend wären stärkere statistische Untersuchungen für die Reliabilität und damit für die Verallgemeinerung der Ergebnisse wichtig für die Zukunft der Schreibdiag‐ nostik im Berufsschulbereich. Literatur Baumann, Katharina (2014). „Man muss schon ein bisschen mit dem Schreiben zurechtkommen! “. Eine Studie zu den Schreibfähigkeiten von Auszubildenden im unteren beruflichen Ausbildungssegment im Kontext von Ausbildungsreife. Paderborn: Eusl. Becker-Mrotzek, Michael/ Böttcher, Ingrid (2012). Schreibkompetenz entwickeln und beurteilen. 4., überarb. Aufl. Berlin: Cornelsen. Biedebach, Wyrola (2006). Der Modellversuch „Vocational Literacy (VOLI) - Methodische und sprachliche Kompetenzen in der beruflichen Bildung“. Konzeption - Erfahrungen - bisherige Er‐ gebnisse. In: Efing, Christian/ Janich, Nina (Hrsg.). Förderung der berufsbezogenen Sprachkompetenz. Befunde und Perspektiven. Paderborn: Eusl, 15-31. Czycholl, Reinhard/ Ebner, Hermann G. (1995). 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Die institutionellen Voraussetzungen wie auch die Rahmenlehrpläne in der beruflichen Bildung sind so unterschiedlich wie die Sprachbiographien der Lernenden (mit und ohne Migrati‐ onshintergrund) und ihre sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten (Schneider et al. 2013: 75-79). Ihre Schreibkompetenzen weisen in allen Ausbildungsberufen und über sie hinweg eine hohe Varianz auf (vgl. Hoefele & Konstantinidou 2016: 151, Honegger 2001, Fleuchaus 2004: 262); sie reichen von basalen Schreibfähigkeiten (vgl. Sturm 2014: 9-11) bis zu routinierten, elaborierten. Eine wirksame Förderung der Schreibkompetenz bedarf daher einer gezielten Förderdi‐ agnostik (vgl. Neumann & Giera i. d. B.) und differenzierter Bedürfnisanalysen (vgl. Schneider et al. 2013: 78). Dazu gehört das Erfassen psychologischer Variablen wie die Ein‐ stellung der Auszubildenden zum Schreiben, die Motivation, die Selbstwirksamkeit, die Fähigkeit zur Selbstregulation u. a. (ebd.: 33, Glaser et al. 2009, Hidi & Boscolo 2006, Pajares & Valiante 2006). 2. Das Konstrukt Schreibkompetenz Schreibkompetenz ist in Anlehnung an Weinerts Kompetenz-Konzept (2001: 27-28) ein komplexes Konstrukt, das - handlungs- und problemlösungsorientiert - motivationale, sozial-kognitive und sprachlich-kommunikative Fähigkeiten und Fertigkeiten umfasst (vgl. Becker-Mrotzek 2014: 485-486, Grabowski et al. 2014: 149-150). Zunächst gliedert sich Schreibkompetenz in drei Teilaspekte: die „Schreibfertigkeit“, die „orthographische Kom‐ petenz“ und die „Textkompetenz“. Da es sich beim Orthographieerwerb in Teilen um eine eigenständige Entwicklung handelt (Becker-Mrotzek 2014: 486-489), zielt Schreibförderung im Wesentlichen auf zwei Teilkompetenzen, nämlich die Fähigkeit, den Schreibprozess selbstständig zu planen und zu gestalten (Prozessorientierung) sowie die Teilkompetenz, verständliche bzw. adressatengerechte Texte (Produktorientierung) zu verfassen (ebd., Baurmann & Pohl 2011: 97). Allerdings ist wissenschaftlich nur schwer nachzuweisen, ob a) und wie sich die Organisation des Schreibprozesses auf die Qualität der Schreibprodukte auswirkt (vgl. Neumann 2014: 516). In Anlehnung an das „Zürcher Textanalyseraster“ (Nussbaumer & Sieber 1994) präsen‐ tieren Becker-Mrotzek & Böttcher (2015: 129-131) einen für den schulischen Kontext prak‐ tikablen Katalog von fünf Dimensionen, anhand derer die Schreibkompetenz prozess- und produktbezogen erfasst wird: Sprachrichtigkeit (Orthographie, Grammatik), Sprachange‐ messenheit (Wortwahl, Satzbau), Inhalt (Gesamtidee, Umfang/ Relevanz), Aufbau (thema‐ tische Entfaltung, Textaufbau, Textmuster) und Prozess (Planungs- und Überarbeitungs‐ spuren, Kreativität und Wagnis). Darüber hinaus beziehen Becker-Mrotzek & Schindler (2007: 24) die pragmatische Dimension der Leserbzw. Adressatenorientierung ein (vgl. Be‐ cker-Mrotzek et al. 2014: 23, Feilke 2014: 39). Im Anschluss daran definieren Hoefele & Konstantinidou (2016) in ihrer Studie an Be‐ rufsschulen Schreibkompetenz als die Fähigkeit, das Schreiben zu organisieren sowie einen Text inhaltlich, strukturell und sprachlich so zu bearbeiten, dass er seine Funktion und seine sozial-kommunikative Wirkung erfüllt (ebd.: 148-149). Die prozessbezogene Schreibkom‐ petenz wird anhand von Notizen und Entwürfen sowie durch Befragung nachgewiesen, während die produktbezogene Schreibkompetenz an Textmerkmalen wie sprachlicher Richtigkeit (Orthographie, Satzbau und Grammatik), Sprachstil (Wortwahl, Register), Struktur und roter Faden (Logik, Kohärenz) erfasst wird; schließlich pragmatisch nach In‐ halt (Relevanz, Funktionalität) und kommunikativer Wirkung (Zielerreichung) (ebd.: 149). Verschiedene Textsorten stellen unterschiedliche Anforderungen an die Schreibkompe‐ tenz der Lernenden; sie weisen gemäß Darstellungen zur (schulischen) Schreibentwicklung unterschiedliche Schwierigkeitsgrade auf. Die Berücksichtigung textsortenspezifischer An‐ forderungen und Schwierigkeitsgrade spielt mit Blick auf eine adäquate Progression im schreibdidaktischen Curriculum eine Rolle (Becker-Mrotzek & Böttcher 2015: 53-63, Hei‐ nemann & Viehweger 1991: 23, Bereiter 1980: 74-76). Demzufolge wird Schreibkompetenz nach Textsorten (narrative, informative/ instruktive, persuasive) erfasst, um Aussagen über den Entwicklungsstand der Schreibenden zu machen, zugleich global als Durchschnittsmaß über verschiedene Textsorten (vgl. Neumann 2014: 517). Dieser Ansatz zur globalen und textsortenspezifischen Bestimmung der Schreibkompetenz, gemessen (produktbezogen) an Textmerkmalen und (pragmatisch) am Grad der Textwirkung, hat sich durch die US -ame‐ rikanische NAEP (1998, 2002, 2007, 2011), die deutsche DESI (2007), VERA -8 (2006, 2010) sowie durch die KMK -Bildungsstandards (Deutschland) weitgehend etabliert (vgl. Neu‐ mann 2014: 516-517). 3. Didaktische Prinzipien der Schreibförderung Im kompetenzorientierten Unterricht (s. o.) an Berufsschulen baut die Schreibförderung auf drei grundlegenden didaktischen Prinzipien auf: Handlungsorientierung (vgl. Trim et al. 2001: 21-95, Searle 1969, Austin 1962) Ausgangspunkt für handlungsorientiertes Schreiben sind lebensweltlich relevante Szenarien (vgl. Anderson & Reder 1996, Lave & Wenger 1991), durch die Schreiben als problemlösendes, sprachlich-kommunikatives Handeln erfahren wird (vgl. Be‐ cker-Mrotzek & Böttcher 2015: 19-20). Es richtet sich an einen Adressaten, dessen Per‐ 340 Joachim Hoefele & Liana Konstantinidou b) c) spektive eingenommen wird (Becker-Mrotzek et al. 2014: 23), damit der Text die beab‐ sichtigte Wirkung erzielt. Schreiben kann so als sozial-kommunikativer Akt von Sinn- und Bedeutungskonstruktion verstanden werden, in dem sprachliche, soziale und kulturelle Normen berücksichtigt werden. Prozessorientierung (vgl. Becker-Mrotzek & Böttcher 2015: 52, Bereiter & Scardamalia 1987, Hayes & Flower 1980, Emig 1971) Gemäß dem kognitiven Prozessmodell von Hayes & Flower wird der Vorgang des Schreibens „entzerrt“ und die Lösung inhaltlicher, struktureller, sprachlicher und prag‐ matischer Anforderungen einzelnen Phasen des Schreibprozesses zugeordnet (vgl. Be‐ cker-Mrotzek & Böttcher 2015: 19-20). Dies entlastet die Schreibenden (vgl. Kruse & Ruhmann 2006: 14) und ermöglicht ihnen, metakognitive Schreibstrategien zu entwi‐ ckeln, die das Planen, Formulieren und Revidieren von Texten steuern (vgl. Philipp 2013: 85-163). Als wesentliches Element der prozessorientierten Schreibdidaktik gilt das (Peer-)Feedback (Rijlaarsdam & Braaksma 2008, Harris & Graham 1996). Sprach- und Textorientierung (vgl. Feilke 2014, Locke 2010, Hyland 2011) Zunehmend zielt die Schreibförderung auch auf das Erarbeiten und Bereitstellen sprachlich-textueller Mittel, die für die Textproduktion gebraucht werden. So haben vermehrt zweitsprachendidaktische Ansätze Eingang in die Förderung der Schreib‐ kompetenz im allgemeinbildenden Unterricht an Berufsschulen gefunden (vgl. Hoefele & Konstantinidou 2016: 135-137, Müller 2003, Krekeler 2002: 71). Dieses Vorgehen, den Schreibakt durch das Einbringen sprachlich-textueller Mittel zu stützen, wird unter dem Begriff des „Scaffolding“ (vgl. Gibbons 2015: 15-19) zusammengefasst. Dazu ge‐ hören (schreib)didaktische Settings wie das der „Vorentlastung“‚ „Von der Rezeption zur Produktion“, „Vom Mündlichen zum Schriftlichen“ (vgl. Bereiter & Scardamalia 1987: 60-62), z. B. durch Diskussion und/ oder Bearbeitung von Lesetexten vor dem Schreiben, um inhaltliches und sprachlich-textuelles (Vor-)Wissen zu aktivieren oder zu erarbeiten (vgl. Hoefele & Konstantinidou 2016: 139). Die integrative Förderung der Lese- und Schreibkompetenz (vgl. Philipp 2012: 58) wird für den allgemeinbildenden Unterricht in der beruflichen Bildung als sinnvoll erachtet (vgl. Schneider et al. 2013: 77). So wird das „Reading to Write“ (vgl. Philipp 2012: 58, Graham & Perin 2007: 18) zur Erarbeitung von Inhalten, Wortschatz, Textstruktur, Textsortenmerkmalen usw. für das Schreiben von Texten genutzt, wie umgekehrt das „Writing to Read“ (vgl. Graham & Hebert 2010: 5-6) zur Vertiefung des Textverständ‐ nisses eingesetzt wird. Gemäß Metastudien von Graham & Perin (2007) und Graham & Hebert (2010) sind Ansätze zur expliziten Förderung von Schreibstrategien, Unterstützung durch Peers, Schreiben von Zusammenfassungen, Verarbeiten von Gelesenem (u. a. durch das Nie‐ derschreiben persönlicher Reaktionen, durch Notizen und Zusammenfassungen) am wirksamsten. Wie das äußerst effektive Zusammenfassen von Texten zeigt, sind Lese- und Schreibförderung kaum voneinander zu trennen (vgl. Philipp 2012: 57). Ein Über‐ blick über Metanalysen zur Wirksamkeit schreibdidaktischer Fördermaßnahmen findet sich bei Philipp (2013: 186-198); sie beziehen sich jedoch nur am Rand auf Lern‐ ende in der dualen Berufsbildung. 341 Förderung der allgemeinen Schreibkompetenz im Bereich der beruflichen Bildung 4. Studien zur Förderung der allgemeinen Schreibkompetenz im Bereich der beruflichen Bildung Die sprachlich-kommunikativen Kompetenzen von Berufsschülern bzw. Berufsschüler‐ innen sind bislang wenig erforscht und Konzepte der Sprachförderung in der beruflichen Bildung werden selten wissenschaftlich evaluiert (vgl. Efing 2013). Was die Erforschung der Schreibkompetenzen und der Schreibförderung in der beruflichen Bildung betrifft, so kann man zwischen Studien unterscheiden, die den Ist-Zustand bzw. die Schreibfähigkeiten der Lernenden erfassen (vgl. Neumann & Giera i. d. B.) und daraus Konzepte der Schreib‐ förderung ableiten, und solchen, die Konzepte entwickeln bzw. implementieren und deren Wirkung evaluieren. In einer ersten Untersuchung stellt Wyss Kolb (1995) fest, dass die Texte von Berufs‐ lernenden in kommunikativ-pragmatischer Hinsicht zwar angemessen sind, jedoch gra‐ vierendere Mängel im Bereich der Orthographie, Interpunktion und Syntax aufweisen (ebd.: 200). Dennoch gehe es vor allem darum, Schreibanlässe zu schaffen, die das Bewusst‐ sein für die pragmatische Dimension des Schreibens fördern, insbesondere hinsichtlich Sprachregister und Adressatenorientierung (vgl. Wyss Kolb 2002: 90-91). Darüber hinaus sollen die Planung und Revision eigener Texte in den Schreibunterricht integriert und eine lernförderliche Feedbackkultur etabliert werden (vgl. Wyss Kolb 1995: 276-278). Müller (2003) setzt unterschiedliche Methoden (Befragungen, Sprachlernbiographien, sprachliche Bedarfsanalysen) ein, um das komplexe Phänomen der Mehrsprachigkeit und die Schwierigkeiten Lernender nichtdeutscher Muttersprache in der beruflichen Bildung zu erfassen. In ihrem Buch „Deutsch als Zweitsprache in der Berufsausbildung“ präsentiert sie drei Bausteine der Sprachförderung - Baustein I: Schreibförderung, Baustein II : Gram‐ matik (Reflexion über Sprache); Baustein III : Fehler und Fehlerbearbeitung. Die Bausteine haben zum Ziel, sowohl thematisch-inhaltliche als auch textuell-sprachliche Aspekte zum Gegenstand der Schreibförderung zu machen und so den Schreibprozess zu zerlegen, me‐ talinguistische Kompetenzen zu fördern sowie Fehler im Sinne einer Förderdiagnostik zu systematisieren (ebd.: 11-12). Auch wenn die Erhebungen von Müller nicht repräsentativ sind und die Wirkung der Methoden der Schreibförderung wissenschaftlich nicht evaluiert wurde, leistet ihre Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Diskussion der Mehrsprachigkeit Auszubildender und zur Integration von zweitsprachendidaktischen Ansätzen in die Schreibförderung in der beruflichen Bildung. In der Untersuchung von Fleuchaus (2004) berichten Lehrpersonen an Berufsschulen von Schwierigkeiten der Lernenden in der selbstständigen Produktion von Informationstexten sowie von geringen sprachlichen Grundlagenkenntnissen (Orthographie, Interpunktion, Grammatik), welche den Anforderungen am Arbeitsplatz nicht entsprächen (ebd.: 419). Die Schreibförderung in Schule und Betrieb solle daher auf berufsnahe Textsorten ausgerichtet sein und mit diesen auch formale Schreibfähigkeiten trainieren. Fleuchaus legt damit den Schwerpunkt der Schreibförderung auf das Sprachhandeln im und für den Beruf. Efings didaktische Empfehlungen zur Schreibförderung in der beruflichen Bildung (2006, 2008) basieren auf den Ergebnissen der hessischen Studie Vocational Literacy ( VOLI ); diese zeigen, dass die eigenständige Textproduktion für viele Lernende eine zu große Heraus‐ forderung ist. Im Zentrum der Schreibförderung sollen nicht Orthographie und Zeichen‐ 342 Joachim Hoefele & Liana Konstantinidou setzung, sondern die Förderung der kommunikativen Kompetenzen und des Textsorten‐ wissens stehen (Efing 2008). Die Motivation der Lernenden sei durch berufsbezogene, praxisnahe Schreibanlässe zu fördern. Textmuster könnten als Vorentlastung dienen und die Textproduktion erleichtern. Eine Routinisierung durch häufigeres Schreiben innerhalb und außerhalb der Schule sei anzustreben. Efing unterstreicht auch die Wichtigkeit der Förderung der Sprachreflexion über (Register-)Varietäten und deren Adressatengerecht‐ heit, ebenso des Bewusstseins, dass Schreiben ein Prozess mit Planungs- und Überarbei‐ tungsphasen ist. Das Feedback durch die Lehrperson, das eine positive Wirkung auf die Motivation und das Selbstbild der Lernenden haben sollte, nimmt nach Efing eine wesent‐ liche Rolle ein (ebd.: 31-32). Eine der wenigen Studien zur Förderung der Schreibkompetenz im Berufsbildungsbe‐ reich stellt das Projekt PROSAB (Prozessorientiertes Schreiben an Berufsschulen) dar (Hoefele & Konstantinidou 2016). Die heterogenen Sprachbiographien und Schreibfertig‐ keiten der Lernenden berücksichtigend, wurde ein Konzept der prozessorientierten Schreibdidaktik entwickelt, das DaM- und DaZ-didaktische Ansätze verbindet. Die Schreib‐ förderung findet in realitätsnahen, didaktischen Szenarien statt, durch die Schreiben als Mittel der Problemlösung verstanden wird. Schreiben wird als Prozess von Vorbereitungs-, Schreib- und Revisionsphasen mit Peer-Feedback erfahrbar gemacht. Das Peer-Feedback wird instruiert, und zwar dahingehend, dass die Wirkung der Texte aus der Perspektive des Adressaten beurteilt wird. Durch kurze Focus-on-Language-Übungen werden linguistische Ressourcen aktiviert und aufgebaut, die für die Bewältigung der Aufgabe notwendig sind. Diese Kurz-Übungen (Schütteltexte, die geordnet werden müssen; Schreibübungen zur Konkretisierung von Aussagen; Synonymübungen usw.) sind in die Schreibszenarien ein‐ gebettet, so dass sie in ihrer kommunikativen, pragmatisch-funktionalen Bedeutung erfasst, reflektiert und genutzt werden (ebd.: 137-147, Hoefele et al. 2017: 133-141). Das Konzept wurde in ein Schreibcurriculum umgesetzt und durch eine kontrollierte Interventionsstudie mit Pre-und Posttests und einer Follow-up-Erhebung (N: 300) evaluiert (vgl. Neumann & Giera i. d. B.). Die Ergebnisse zeigen mittlere Effekte der Intervention auf die Schreibkompetenz. Die Lernenden der Experimentalgruppe verglichen mit denen der Kontrollgruppe haben sich in ihrer allgemeinen Schreibkompetenz unmittelbar nach der Intervention verbessert. In Hinblick auf die Nachhaltigkeit der Interventionseffekte lässt sich zwar eine positive, aber keine signifikante Entwicklung der Schreibkompetenz zwi‐ schen dem Post- und Follow-up-Test in der Experimentalgruppe feststellen; dennoch un‐ terscheidet sich die Leistung der Experimentalgruppe weiterhin signifikant von der Leis‐ tung der Kontrollgruppe im Follow-up-Test. Lernende in Ausbildungsberufen mit höherem schulischem Anforderungsniveau schneiden durchschnittlich besser ab, während Lernende in Ausbildungsberufen mit tieferem schulischem Anforderungsniveau sich deutlich stärker entwickeln (vgl. Hoefele & Konstantinidou 2016: 150-155, Konstantinidou et al. 2016: 93-95). So scheint das didaktische Konzept der sprachsensiblen Schreibförderung eine Wirkung auf die Qualität der Lernendentexte zu haben, vor allem hinsichtlich der prag‐ matischen Dimension (Inhalt und kommunikative Wirkung) sowie der formalen Textsor‐ tenkonventionen. Herausforderungen in Bezug auf die Erhebung der Sprachbiographien der Lernenden erlauben keine zuverlässigen Aussagen über die Wirksamkeit des Konzepts 343 Förderung der allgemeinen Schreibkompetenz im Bereich der beruflichen Bildung auf die Textqualität der Berufsschülerinnen und Berufsschüler mit Migrationshintergrund (vgl. Hoefele et al. in Vorbereitung). Von den psychologischen Variablen, die im Rahmen des Projekts PROSAB erfasst wurden, weisen nur die Einstellung zum Schreiben (vgl. Glaser 2004, Cronbach’s Alpha: .78) und die schreibbezogene Selbstwirksamkeit (vgl. Graham et al. 2005, Cronbach’s Alpha: .78) schwache, aber signifikante Korrelationen mit der Schreibkompetenz der Lernenden auf. Beide Variablen haben zwar einen mittleren signifikanten Einfluss auf die Schreibleis‐ tungen, aber keinen Einfluss auf den Interventionseffekt. Auffallend ist, dass die Einstellung der Lernenden zum Schreiben in der Experimental- und in der Kontrollgruppe über die Zeit signifikant negativer werden. Dies mag damit zusammenhängen, dass das Schreiben in allgemeinbildenden Fächern für die Lernenden in der Berufsbildung an Relevanz verliert, und zwar in quantitativer (Häufigkeit des Schreibens im Unterricht) wie in qualitativer (Bedeutung des unterrichtlichen Schreibens) Hinsicht (Hoefele et al. 2015). Im Erasmus-Plus-Projekt „Integrierte Lese- und Schreibförderung im Fachunterricht der beruflichen Bildung“ werden Interaktionen von Lesen und Schreiben zur Förderung sprach‐ lich-kommunikativer Kompetenzen genutzt, die in der beruflichen Bildung bisher wenig erforscht sind. Das Projekt fokussiert auf den Fachunterricht wie auf den allgemeinbild‐ enden Unterricht mit dem Ziel, die allgemeine und berufliche Lese- und Schreibkompetenz der Auszubildenden zu fördern. Die Implementierung des Konzepts berücksichtigt den Kontext und die unterschiedlichen Berufsbildungssysteme der beteiligten Länder (Deutsch‐ land, Estland, Polen, Rumänien, Schweiz); dessen Evaluation erlaubt daher nur Aussagen über die Wirksamkeit des Konzepts im länderspezifischen Umfeld (vgl. Sigges 2015). 5. Zusammenfassung und Ausblick Die Forschungslage zur Förderung der allgemeinen Schreibkompetenz im Bereich der be‐ ruflichen Bildung erlaubt folgende Schlussfolgerungen: Schreibförderung geht von lebens‐ weltlich und/ oder beruflich relevanten Situationen oder Szenarien aus, die handlungsbzw. problemlösungsorientiertes Schreiben ermöglichen (Kompetenzorientierung). Sie berück‐ sichtigt die heterogenen sprachlich-kommunikativen Fähigkeiten der Auszubildenden, indem sie (bedürfnisorientiert) die sprachlich-textuellen Mittel zur Bewältigung von Schreibaufgaben erarbeitet und/ oder bereitstellt (Scaffolding), was sich als wirksam er‐ wiesen hat. Dabei tritt die normative Dimension (Orthographie, Interpunktion, Grammatik) hinter die pragmatische der Adressatenorientierung bzw. der Textwirkung zurück. Eine wirksame Schreibförderung ist nicht nur sprach- und text-, d. h. produktorientiert, sondern ebenso prozessorientiert, indem sie den Lernenden Schreibstrategien (explizit) vermittelt, die sie befähigen, den Schreibprozess selbstständig zu planen und durchzuführen. Dazu gehört die Fähigkeit, einen Textentwurf auf der Grundlage von Expertenund/ oder (ange‐ leitetem) Peer-Feedback zu revidieren. Bis heute gibt es im Bereich der beruflichen Bildung nur Wirkungsstudien, welche die Effekte schreibdidaktischer Gesamtkonzepte beschreiben; daher bedarf es weiterführender Studien, die auf einer differenzierten Diagnose sprachlich-kommunikativer Merkmale von Lernendentexten basieren und die Wirkung von Fördermaßnahmen im Einzelnen fest‐ stellen. Es ist z. B. zu erforschen, inwieweit szenariobasiertes Schreiben oder kürzere 344 Joachim Hoefele & Liana Konstantinidou Schreibaufgaben/ -übungen zur Routinisierung des Schreibens, sprachsensible, integrierte Lese-Schreibförderung inklusive Transfereffekte, die Vermittlung von Schreibstrategien, die Fähigkeit zur Textstrukturierung und Adressatenorientierung, Formen des Peer-Feed‐ back usw. wirksame Fördermaßnahmen darstellen, die den spezifischen Bedürfnissen der Auszubildenden entsprechen und im Kontext des dualen Berufsbildungssystems der deutschsprachigen Länder verortet sind. 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In einer Studie mit Lehrpersonen der Sekundarstufe (I und II ) stimmten bei‐ spielsweise mit 98 % praktisch alle Befragten der Aussage zu, Schreiben sei eine essenzielle Fähigkeit für die Schülerinnen und Schüler nach der Schulzeit (vgl. Kiuhara et al. 2009: 149). Die Bedeutung des Schreibens zeigte sich zudem im deutschen Sample des „Programme for the International Assessment of Adult Competencies“ ( PIAAC ). Bei PIAAC wurde zwar nicht das Schreiben direkt erfasst. Dafür gerieten die schreibbezogenen Anforderungen des Berufs in den Blick. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden nämlich gebeten, die Häufigkeit des beruflichen Schreibens von a) Briefen, kurzen Mitteilungen oder E-Mails, b) Artikeln für Zeitungen, Zeitschriften oder Newsletter und c) Berichten sowie d) des Aus‐ füllens von Formularen bei ihrer letzten beruflichen Anstellung einzuschätzen. Diese Ant‐ worten wurden zusammengefasst. Das Ergebnis: 88 % der Erwachsenen gaben an, dass sie das Schreiben für ihre beruflichen Anforderungen benötigen, also mindestens selten schreiben zu müssen. Rund ein Sechstel der Befragten muss sogar sehr häufig schreiben (vgl. Klaukien et al. 2013: 139 f.). In den USA , wo gemäß PIAAC die schreibbezogenen Anforderungen etwas höher sind (vgl. Klaukien et al. 2013: 140), hat man zudem eine Tagebuchstudie mit (überwiegend be‐ rufstätigen) Erwachsenen durchgeführt (vgl. Cohen et al. 2011). Hier zeigten sich deutliche Zusammenhänge zwischen Berufstätigkeit und dem Schreiben von (vor allem diskontinu‐ ierlichen, kurzen) Texten an zwei Stellen: 1. Durchschnittlich summierten sich die Schreibaktivitäten von Berufstätigen auf 149 Minuten, Nicht-Berufstätige kamen hingegen nur auf 98 Minuten - also auf ein Drittel weniger als Berufstätige. 2. Das Schreiben ist zudem primär digital und erfolgte am Computer. Berufstätige schrieben 97 Minuten am Computer, Nicht-Berufstätige nur 41 Minuten. Dabei divergieren - so das Ergebnis einer schwedischen Studie mit teilnehmender Be‐ obachtung (Karlsson 2009) - die schreibbezogenen Anforderungen erheblich nach Berufs‐ feld. Angesichts der hohen Bedeutung des Schreibens im Beruf stellt sich die Frage, wie Ju‐ gendliche auf die Belange in puncto Schreiben systematisch vorbereitet werden. Efing (2013a: 22) schlägt den Begriff „ausbildungsvorbereitender Deutschunterricht“ vor und meint damit, dass der Sekundarschul-Deutschunterricht die für die Berufsausbildung „be‐ nötigten Fähigkeiten anbahnt [anbahnen] und auf sie vorbereiten soll, indem er auch die Ausbildungsanforderungen berücksichtigt“. Das ist eine Herausforderung, weil es die An‐ forderungen angesichts der Breite von Ausbildungsberufen und den damit nötigen (schrift-)sprachlichen Kompetenzen nicht gibt und sie auch noch nicht ausreichend er‐ forscht worden sind (vgl. Efing 2013c). Außerdem ist - z. T. anders als bei der allgemein‐ bildenden Schule - die Schreibkompetenz von Berufsschülerinnen und Berufsschülern bis‐ lang nur wenig beforscht, was insbesondere im Vergleich mit dem besser beforschten Lesen auffällt (vgl. Philipp 2017). Es ist Ziel dieses Buchbeitrags, die empirischen schreibbezogenen Anforderungen in der Berufsausbildung mit den empirischen Leistungen von Sekundarschuljugendlichen bzw. Berufsschülerinnen und Berufsschülern zu verknüpfen. Es geht mithin um den Blick auf Realanforderungen im Schreiben und Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler in der Domäne (Recht-)Schreiben. Was mangels Daten nicht berücksichtigt werden kann, ist die Praxis des (deutschen) Schreibunterrichts in der Sekundarstufe I - denn hier gibt es nur wenige und unsystematische empirische Befunde, die es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erlauben, ein konsistentes Bild des Schreibunterrichts zu zeichnen. Das Kapitel hat folgenden Aufbau: Im Abschnitt 2 werden die Anforderungen des Schreibens in der Berufsausbildung verdeutlicht. Hier wird deutlich, dass die kurzen, stan‐ dardisierten Texte, die Berufsschülerinnen und Berufsschüler schreiben, ihrerseits hohe Anforderungen aufweisen. Im Abschnitt 3 werden aus fünf größeren Studien die Schreib‐ leistungen referiert und studienübergreifende Muster abstrahiert. Der letzte Abschnitt 4, das Fazit, geht auf die Notwendigkeit eines ausbildungsvorbereitenden Deutschunterrichts ein. 2. Schreibbezogene Anforderungen der Berufsausbildung In einem Forschungsüberblick über drei Studien, die sich dem Schreiben in der Berufsaus‐ bildung gewidmet haben, systematisiert Efing (2013c: 130) 30 verschiedene Aufgaben, Text‐ sorten und Darstellungsformen im Schreiben. In der alphabetischen Reihenfolge waren dies: Adressen, Arbeitsplan, Arbeitstagebuch, Berichte, Berichtsheft, Beschreibungen, Be‐ schriften von Plänen, Bestellungen, Briefe, Dokumentation (von Arbeitsvorgängen, Pro‐ dukten und Prozessen), Entschuldigungen, Erfassen von Waren und Kundendaten, fach‐ liche Präsentationen für Experten und Laien, Formulare (Lieferschein etc.), Formulare, Tabellen und Listen (Bestellschein etc.), Kurznotizen, Laborjournal, Lernzielkontrollen, Mitteilungen, Notizen, Protokolle, Rapporte, Rechnungen, Reklamationen, selbstreflexive Texte (Entwicklungsbögen, …), technische Zeichnungen, Übersetzungen von Datenblättern aus dem Englischen, Verträge, Zeichnungen und Skizzen sowie Zusammenfassungen. Wenn man diese unterschiedlichen Aufgaben, Textsorten und Darstellungsformen be‐ trachtet, fällt auf: Die meisten Texte sind in der Regel kurz sowie stark normiert und weisen zum Teil verschiedene Darstellungskodes auf. Nun ließen sich gerade die Aspekte Kürze und Normierung als erleichternde Unterstützung für Schreiberinnen und Schreiber be‐ greifen. Tatsächlich aber zeigt Efing (2015) am Beispiel der Formulare, dass das Schreiben von kurzen und standardisierten Texten wie Formulareinträgen eigene und hohe Schwie‐ 350 Maik Philipp rigkeitsanforderungen an die schreibende Person mit sich bringt. Zwar sind in aller Regel nur wenige Informationen zu verschriften. Gleichwohl liegt darin aber die hohe Schwie‐ rigkeit in einer ganzen Reihe zu erbringender Leistungen: • Bezogen auf das Lesen muss man beispielsweise erkennen, welche Information ge‐ wünscht wird, was durch die Verwendung von Abkürzungen und Fachsprache in den Formularen erschwert wird. Außerdem muss man mitunter noch andere Infor‐ mationsquellen wie Kataloge konsultieren, in denen man die erforderlichen Infor‐ mationen heraussuchen muss. • Bezogen auf das Schreiben ist man zwar nicht gefordert, umfassend zu planen und zu revidieren, da die Formulare hier deutliche Vorgaben machen. Anforderungsreich ist das Schreiben aber insofern, als die Verknappung von sprachlichen Informationen in Stichwörter, Ellipsen und Wortgruppen ihrerseits umfassende Kenntnisse in puncto Grammatik, (Fach-)Wortschatz und Syntax erfordert. Außerdem muss man als schreibende Person beim Formulieren auf die Verständlichkeit der kompri‐ mierten schriftlichen Äußerung achten, weil Formulare einen kommunikativen Zweck haben, da sie wie eine Art stark standardisiertes Interview funktionieren (vgl. Efing 2015). Unter dem Stichwort der Verständlichkeit kommt noch die Orthografie hinzu, die im schlimmsten Fall die kommunikative Funktion der Formulareinträge gefährdet. Damit zeigt sich im (leider nur fragmentarischen) Gesamtbild, dass ein ausführliches Schreiben in der Berufsausbildung zwar selten ist; dennoch sind die Berufsschülerinnen und Berufsschüler in den kurzen, standardisierten Texten, die im Gesamten eine relativ große Bandbreite hinsichtlich der kommunikativen Funktionen aufweisen, gefordert, In‐ halte sprachlich reduziert und gleichwohl immer noch verständlich und pointiert zu for‐ mulieren. Damit sind die schreibbezogenen Anforderungen relativ hoch (s. Efing i. d. B. zu Formularen). 3. Zur (Recht-)Schreibkompetenz von (Berufs-)Schülerinnen und Schülern Die fragmentarisch erforschten Schreibanlässe in Beruf (s. Abschnitt 1) und Berufsausbil‐ dung (s. Abschnitt 2) werfen in Zeiten der Kompetenzorientierung im Bildungsbereich die Frage danach auf, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler haben (sollen), was na‐ türlich noch an die berufsbezogenen Anforderungen angebunden werden kann. In diesem Abschnitt sollen einige der leider nur sehr spärlich vorhandenen empirischen Befunde primär aus der späten Sekundarstufe I dargestellt werden (vgl. Schäfer 2013 für einen wei‐ teren Überblick). Dabei stehen Studien, die die umfassendere Schreibkompetenz erfassen, vor jenen, in denen lediglich orthografische bzw. weitere sprachsystematische Fähigkeiten in den Blick gerieten. Wurden beide Dimensionen der Schreibkompetenz in einer Studie erfasst, werden sie zusammen berichtet. Außerdem werden die Studien nach dem Alter der Testpersonen chronologisch geordnet. Folgende Studien finden Berücksichtigung: LAU / ULME (3.1), KESS (3.2), DESI (3.3), IQB -Normierungsstudie (3.4) sowie VOLI (3.5) (vgl. Tab. 1 für einen vorgängigen Überblick). 351 Ausbildungsvorbereitende Schreibförderung in der Sekundarstufe I Studie Sample/ Klassenstufe Erfasste schreibbezogene Leis‐ tung LAU/ ULME* Ende Kl. 8, Beginn Kl. 11 (Gym‐ nasium) bzw. Beginn der Be‐ rufsschule passives Rechtschreibwissen (beide MZP); aktives Rechtschreibwissen (Kl. 8); Textproduktion (Kl. 8, Kl. 11 bzw. Beginn Berufsschule) KESS* Ende Kl. 8 und Ende Kl. 10 aktives Rechtschreibwissen (beide MZP) DESI* Anfang und Ende Kl. 9 Semantik/ Pragmatik und Sprachsystematik (beide MZP) IQB-Normierung Kl. 9 und 10 Schreibkompetenz in meh‐ reren Textsorten VOLI Berufsschülerinnen und -schüler (nicht spezifiziert) Schreibkompetenz (nicht spe‐ zifiziert) Tab. 1: Überblick über die schreibbezogenen Studien im Übergang von Sekundarstufe zur Berufsaus‐ bildung (Legende: * Längsschnittstudie mit zwei Messzeitpunkten [MZP]) 3.1 LAU/ ULME In der Studie „Aspekte der Lernausgangslage und der Lernentwicklung“ ( LAU ; Behörde für Schule und Berufsbildung [ BSBB ] 2011) absolvierten am Ende der Klasse 8 Jugendliche drei schreibbezogene Tests: zwei Rechtschreibtests (passives und aktives Rechtschreibwissen) und eine kommunikative Schreibaufgabe (argumentativer Beschwerdebrief). Beim pas‐ siven Rechtschreibwissen sollten die Jugendlichen Rechtschreibfehler in einem kurzen Text markieren. Der Test zum aktiven Wissen erforderte die eigene orthografisch korrekte Pro‐ duktion von Wörtern. Beim passiven Orthografiewissen war das Ergebnis, dass die Schü‐ lerinnen und Schüler im Durchschnitt 36 % der Fehler erkannten. Die höchste Quote bestand beim Gymnasium (50 %), die geringste bei der Hauptschule (19 %). Beim aktiven Recht‐ schreibwissen, das substanziell mit dem passiven korrelierte (r = 0,63), wurden im Durch‐ schnitt 84 % der Wörter richtig geschrieben, wobei es eine beachtliche Spannbreite von 68 % an Hauptschulen bis 90 % am Gymnasium gab. Bei der kommunikativen Textaufgabe, bei der formale Vollständigkeit und Korrektheit des Schreibens (ohne Grammatik und In‐ terpunktion), die inhaltliche Vollständigkeit und Korrektheit des Schreibens und die An‐ gemessenheit des Aufbaus, des Ausdrucks und des Stils analysiert wurden, ließen sich diese Schulformdifferenzen als Muster ebenfalls finden. Die LAU -9-Studie wurde in zwei Strängen fortgesetzt. Die Gymnasialjugendlichen wurden in Klasse 11 erneut getestet (Behörde für Schule und Berufsbildung 2012, Neumann 2006). Diejenigen Jugendlichen, die sich für eine Berufsausbildung entschieden hatten, wurden in der Studie „Untersuchung der Leistungen, Motivation und Einstellungen zu Be‐ ginn der beruflichen Ausbildung“ beforscht (Behörde für Schule und Berufsbildung 2013, Neumann 2006). In beiden Teiluntersuchungen wurden das passive Rechtschreibwissen 352 Maik Philipp sowie die Textproduktion erfasst, wobei die Aufgaben und die Auswertungsverfahren zu beiden Messzeitpunkten variierten. Zunächst zur Orthografie: In LAU 11 fanden die Sekundarstufen- II -Schülerinnen und Sekundarstufen- II -Schüler 56 % der Fehler; im echten Längsschnittsample waren es 58 %. Insgesamt verbesserten sich die Jugendlichen in den Testleistungen von 45 Prozentpunkten in Klasse 8 auf die eben angeführten 58 % (Zuwachs: 13 Prozentpunkte, d = 0,74). Je nach Bildungsgang ergaben sich unterschiedliche Zuwächse: Die ehemaligen Schülerinnen und Schüler der Integrierten Haupt- und Realschule sowie der Realschule, die auf das Gymna‐ sium wechselten, fanden in Klasse 9 32 % der Fehler und in Klasse 11 46 % (Zuwachs: 14 Prozentpunkte, d = 1,00). Bei den ehemaligen Gesamtschulangehörigen kam es zu einer Verbesserung von 35 auf 49 % (Zuwachs: 14 Prozentpunkte, d = 0,81), und am Gymnasium von 49 auf 62 % (Zuwachs: 13 Prozentpunkte, d = 0,78). Das Muster ist also, dass die Bil‐ dungsaufsteiger stärkere Zuwächse demonstrierten (gemäß den d-Effektstärken), aber trotzdem das Ausgangsniveau von den ursprünglichen Gymnasialschülerinnen und Gym‐ nasialschülern allenfalls erreichten, aber nicht überschritten. Hinzu kommen noch leichte Effekte des Migrationsstatus: Deutsche ohne Migrationshintergrund zeigten bessere Leis‐ tungen in LAU 11 (58 % der Fehler richtig erkannt) als jene mit Migrationshintergrund (55 %), gefolgt von ausländischen Schülerinnen und Schülern (50 %). Bei ULME waren im Gesamtsample durchschnittlich zwei von fünf Lösungen korrekt identifiziert worden. Dabei gab es systematische Unterschiede zwischen den einzelnen Bil‐ dungsgängen der beruflichen Ausbildung: In der (die berufliche Grundbildung adressie‐ renden) teilqualifizierenden Berufsfachschule ( BFS ) waren durchschnittlich 25 % der Lö‐ sungen richtig, in der vollqualifizierenden BFS waren es 41 %. In den Berufsschulen lagen die Werte mit 46 % am höchsten. Bezogen auf die Textproduktionsaufgabe muss zunächst angemerkt werden, dass für LAU 11 und ULME aufgrund der eingesetzten Verfahren (Auswertungsverfahren, Metriken, zwei Aufgaben) und der gemeinsamen Analyse von LAU - und ULME -Daten keine spezifischen Aussagen über differentielle Entwicklungen möglich sind. Besonders interessierte man sich sowohl für inhaltliche als auch für sprachsystematische Aspekte, die analog zu DESI separat für die beiden Aufgaben ausgewiesen wurden (vgl. Neumann 2006). Aus den vielen Teil‐ skalen wurde ein Gesamtscore für den jeweiligen Text berechnet, und sodann wurden mehrere Gruppen unterschieden, von denen drei hier in den Blick geraten. Die Anteile der „nicht-funktionalen Texte“ - erkennbare Briefe, aber mit inhaltlicher Irrelevanz/ fehlender Kohärenz und problematischer Sprachsystematik - machten bei Aufgabe 1 17 und bei Auf‐ gabe 2 7 % aller Texte aus. 65 bzw. 81 % der Testpersonen verfassten „gute Texte“ mit Ad‐ ressatenorientierung, Kohärenz und wenig verständniserschwerenden Fehlern. Daneben gab es noch eine Hybrid-Form: inhaltlich gute, aber sprachsystematisch problematische Texte, die mit 15 (Aufgabe 1) bzw. 11 % (Aufgabe 2) noch recht häufig waren. Zählt man diese Hybride mit den nicht-funktionalen Texten zusammen, so sind bei Aufgabe 1 32 % - also ein Drittel - und bei Aufgabe 2 18 % - mehr als ein Sechstel - aller Schülertexte prob‐ lematisch. 353 Ausbildungsvorbereitende Schreibförderung in der Sekundarstufe I 3.2 KESS In der Hamburger Studie „Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern“ ( KESS ), der Nachfolgestudie von LAU , wurde im Längsschnitt die Entwicklung von ortho‐ grafischen Fertigkeiten vom Ende der 8. bis zum Ende der 10. Klasse mit einem produktiven Lückenwörterdiktat erfasst (vgl. May & Ivanov 2012). Die Testpersonen sollten dabei nicht nur die jeweiligen Zielwörter aufschreiben, sondern auch noch Satzzeichen setzen. Bei den Wortschreibungen waren 72 % richtige Lösungen das Ergebnis, bei den Satzzeichen waren es nur 49 %. Die Analysen zeigen für die Klassenstufe 10 große Schulformdifferenzen (zu‐ gunsten des Gymnasiums), der Familiensprache (zugunsten der Jugendlichen mit Deutsch als Familiensprache) sowie mittlere Effekte der Bildungsabschlüsse der Eltern und des Bü‐ cherbesitzes als Indikatoren des kulturellen Kapitals und schließlich der beruflichen Stel‐ lung der Eltern. Bei der Entwicklung von Klasse 8 zu Klasse 10 waren die größten Zuwächse unter Gymnasialjugendlichen zu verzeichnen (d = 1,26; Gesamtschule: d = 1,01; Integrierte Haupt- und Realschule/ Realschule: d = 0,93; Hauptschule: d = 1,03), und die Schülerinnen und Schüler anderer Schulformen erreichten innerhalb des Intervalls nicht jenen Aus‐ gangswert, den die gymnasialen Peers in Klasse 8 aufwiesen. Dieser Matthäuseffekt ließ sich bei der Familiensprache und weiteren familialen Merkmalen nicht beobachten. 3.3 DESI Die Studie „Deutsch-Englisch-Schülerleistungen International“ ( DESI ) erfasste sehr breit im Längsschnitt innerhalb der Klassenstufe 9 sprachliche Kompetenzen - darunter im Schreiben via Verfassen eines argumentativen Briefes (vgl. Neumann & Lehmann 2008). Dabei wurden zwei, ihrerseits substanziell miteinander zusammenhängende Dimensionen des Schreibens (r = 0,56 bzw. 0,62) erfasst: zum einen die Semantik/ Pragmatik und zum anderen die Sprachsystematik. Bezogen auf die Semantik/ Pragmatik als inhaltliche Dimen‐ sion der Schreibkompetenz wurde als Mindestniveau das Niveau A gesetzt. Wer dieses Ni‐ veau erreicht, hat einen kurzen Text verfasst, der jedoch inhaltliche Mängel aufweist, die kommunikationserschwerend sind. 23 % der Neuntklässler erreichten nur Niveau A, 6 % waren dazu nicht in der Lage. Hinzu kamen Schulformdifferenzen: 42 % der Hauptschüler‐ innen und Hauptschüler, 32 % ihrer Peers aus der Integrierten Gesamtschule sowie 22 % der Realschuljugendlichen (aber nur 7 % der Jugendlichen am Gymnasium) erbrachten Leis‐ tungen auf Niveau A. Unter den Jugendlichen aus Hauptschul- und IG -Schulen lagen 12 bzw. 14 % unter Niveau A. Durch den Längsschnittcharakter der Studie konnten auch Ent‐ wicklungen beobachtet werden. Diese fielen im Falle der Semantik/ Pragmatik allerdings marginal positiv aus und betrafen im Wesentlichen die Jugendlichen aus der Realschule. Bei der Sprachsystematik gab es ebenfalls Niveaustufen. Das Niveau A beschreibt Leis‐ tungen, in denen der Text bis auf kleine Passagen verständlich ist, die sprachsystematischen Fehler aber kommunikationsbelastend sind. Der Anteil im Gesamtsample auf Niveau A ist mit 35 % erheblich größer als bei der Semantik/ Pragmatik, der Anteil von Jugendlichen unter Niveau A ist mit 3 % hingegen kleiner. Bildungsgangspezifische Effekte waren auch hier feststellbar. Unter den Gymnasialjugendlichen erreichten 8 % nur Leistungen des Ni‐ veaus A, unter ihren Peers aus Realschulen waren es 31 %, aus Integrierten Gesamtschulen 54 % und aus Hauptschulen 62 %. In den beiden letztgenannten Schulformen lagen 6 bzw. 7 % sogar noch unter Niveau A. Anders als bei der Semantik/ Pragmatik gab es keine Ver‐ 354 Maik Philipp änderungen im Schuljahresverlauf. In beiden Skalen gab es hohe Effekte der Erstsprache: Wer nicht Deutsch als Erstsprache angab, hatte erheblich schlechtere Testleistungen erzielt. 3.4 IQB-Normierungsstudie In der Normierungsuntersuchung des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen ( IQB 2014) ließ man Schülerinnen und Schüler der 9. bzw. 10. Jahrgangsstufen verschiedene Texte schreiben. Mit Blick auf die berufsbildungsrelevanten Textsorten aus Abschnitt 2 sind die informierenden Texte besonders relevant, weil sie einen Großteil der Schreibanlässe in der Berufsausbildung adressieren. Das Ergebnis: Mehr als ein Viertel der deutschen Zehnt‐ klässler (27 %) und ein knappes Drittel der Neuntklässler (32 %) mit angestrebtem Mittel‐ schulabschluss erreichten nicht die Regelstandards beim schriftlichen Berichten und Be‐ schreiben. Diese Regelstandards geben vor, dass man relevante Informationen überwiegend textsortenkonform und sprachformal korrekt im Text integriert. 3.5 VOLI In der hessischen Studie „Vocational Literacy“ ( VOLI ) wurde ein Schreibtest mit mehr als 400 hessischen Berufsschuljugendlichen (mehrheitlich aus Handwerksberufen) durchge‐ führt (vgl. Efing 2008). Die Berufsschülerinnen und Berufsschüler sollten a) einen Text zum Thema Alkohol im Straßenverkehr in fünf bis sieben Sätzen zusammenfassen und b) einen Kommentar zum Thema schreiben. Das Ergebnis bei der Zusammenfassung war, dass 18 % der Testpersonen höchstens zwei Sätze schrieben und damit das Ziel laut Aufgabenstellung verfehlten. Ein Viertel der Schülerinnen und Schüler verfassten sogar überhaupt keine Zu‐ sammenfassung, unter jenen mit Migrationshintergrundwaren es 37 %. Bei den Kommen‐ taren lagen die Werte sogar noch einige Prozentpunkte darüber. Sowohl in den Zusam‐ menfassungen als auch in den Kommentaren zeigten sich in zwei Bereichen Probleme. Bei der Orthografie ergab sich als Muster, dass sinnentstellende und das Verständnis erschwe‐ rende Fehler häufig auftraten. Daneben zeigten sich auch Probleme in der Kohärenz, Ar‐ gumentationsstruktur, Textmuster und einem mündlichen Stil („Parlando“). Welche Anteile der jungen Erwachsenen davon wie betroffen waren, ist nicht ausgewiesen worden. 3.6 Studienübergreifende Muster Auch wenn es inzwischen einige größere Studien zu den Schreibfähigkeiten von Sekun‐ darschuljugendlichen und zum Teil auch von Berufsschülerinnen und Berufsschülern gibt, bleibt das Gesamtbild eher fragmentarisch. Das gilt insbesondere für die Personen in der Berufsausbildung und hier ganz besonders für die Leistungen jenseits der Orthografie. Die umfassendere Schreibkompetenz - verstanden als Fähigkeit, Texte herzustellen, die ihren kommunikativen Zweck bei der lesenden Person erfüllen - wurde nur bei VOLI und in LAU / ULME 1 erfasst, allerdings in beiden Studien anders ausgewiesen und selbst bei LAU / ULME als Large-Scale-Studien lassen die Wechsel von Instrumenten und Analysen keine ausreichenden Aussagen zu Entwicklungen zu. Gleichwohl lassen sich einige Muster be‐ nennen: • Längsschnittbefunde sind spärlich und haben zum Teil divergierende Befunde zur Ent‐ wicklung der Orthografie. Bei DESI gab es bei den sprachsystematischen Fähigkeiten keine Veränderungen, dafür aber (bildungsgangspezifische) Zuwächse in der Se‐ 355 Ausbildungsvorbereitende Schreibförderung in der Sekundarstufe I mantik/ Pragmatik. Bei LAU erzielten die Bildungsaufsteiger stärkere Zuwächse in der Orthografie als jene Schülerinnen und Schüler, die bereits am Ende der Sekun‐ darstufe I das Gymnasium besuchten. KESS kommt in einem vergleichbaren Zeit‐ raum zu einem anderen Ergebnis. • Es gibt systematische, studienübergreifende Schulformdifferenzen. Als besonders för‐ derbedürftig wirken - unabhängig davon, ob man orthografische oder breiter ge‐ fasste Schreibkompetenzen betrachtet - die Hauptschuljugendlichen und jene aus den Gesamtschulen. Doch auch unter Realschülerinnen und Realschülern ist ein recht großer Teil förderbedürftig. Ein weiterer kritischer Befund der Schulform: Die Differenzen zwischen den Schulformen verringern sich nicht, sodass formal höher gebildete bzw. beschulte Heranwachsende einen Leistungsvorsprung von zum Teil mehreren Jahren haben. • Das Niveau der demonstrierten Leistungen hängt mit familialen Merkmalen zu‐ sammen. Wo diese Variablen erfasst und analysiert wurden, zeigen sich Effekte vor allem des Migrationshintergrunds und des kulturellen Kapitals der Eltern. Wer hier unterprivilegiert ist, hat i. d. R. bis zur Schwelle des Erwachsenenalters schrift‐ sprachliche Probleme. 4. Fazit: Die Notwendigkeit eines ausbildungsvorbereitenden Deutschunterrichts Das Schreiben im Kontext Beruf bzw. Berufsausbildung erfordert in aller Regel kurze Texte, die allerdings hohe Anforderungen an die schreibende Person stellen, auf die man optima‐ lerweise schulisch vorbereitet wird. Es ist freilich in der berufsschulorientierten Schreib‐ forschung immer wieder darauf hingewiesen worden, dass es eine Diskrepanz gibt zwi‐ schen dem Schreibunterricht in der Sekundarschule und jenem im beruflichen Kontext, darunter in der Ausbildung (Tab. 2 für eine Gegenüberstellung). Insbesondere verleiht die Einbettung in einen Kontext, bei dem Schreiben für das Lösen authentischer und relevanter Probleme genutzt wird, nebst dem kooperativen Verfassen von meist kurzen Texten dem Schreiben eine ganz spezifische Qualität. Allgemeinbildende Schule Ausbildung/ Beruf Adressat meist nur ein einzelner (fik‐ tiver) Mehrfachadressierung* Autorschaft oft alleinige Autorschaft oft kooperatives Schreiben* Situierung Künstliche Schreibsituation, fiktiver Schreibanlass, feh‐ lende kontextuelle und soziale Einbettung, kaum Hilfsmittel Situationsgebundenheit/ Empraxie, Arbeitsbezug, kon‐ textuelle Verankerung, Mög‐ lichkeit des Rückgriffs auf Hilfsmittel Stil individueller Stil standardisierter Stil: gebunden an Formulierungsroutinen und -regeln* 356 Maik Philipp Allgemeinbildende Schule Ausbildung/ Beruf Textmerkmale Entfaltung von (z. T. fiktiven) Themen, Ideen, Argumenten; Text als lineare, kohärente, vertextete Einheit Kürze, Prägnanz, Pointiertheit, fakten- und erlebnisgebun‐ den; * rudimentäre Vertextung (Listen, Tabellen, Formulare), multikodale Konglomerate Textsorten Schulspezifisch beruflich relevant, authentisch Zeit langer Schreibprozess (mit Revision) Begleiterscheinung (mit Zeitdruck) Ziel (eher) Selbstzweck Problemlöseprozess Tab. 2: Schreibbezogene Anforderungen in Schule und Ausbildung (und Beruf) (Quelle: nach Efing 2011 und 2013a: 28; * schreibbezogene Anforderungen konvergieren gemäß Efing 2011 in Ausbildung und Beruf) Die soeben angesprochene Notwendigkeit der Vorbereitung fordert Efing (2013a) im Rahmen des ausbildungsvorbereitenden Deutschunterrichts. Damit ist ein Unterricht ge‐ meint, der auf die Förderung der funktionalen bzw. funktional-pragmatischen Kommuni‐ kationsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern in der Sekundarstufe I abzielt. Das Ziel ist - mittels beruflich relevanter Aufgaben, die jene des regulären Deutschunterrichts er‐ gänzen - „die Verbesserung der individuellen Chancen der Schulabsolventen auf dem Aus‐ bildungsmarkt durch eine Reduzierung der […] sprachlich-kommunikativen Defizite“ (Efing 2013a: 27). Die entscheidende Frage lautet: Ab wann genau werden die sprach‐ lich-kommunikativen Defizite zum faktischen Risikofaktor? Hierin besteht Dissens zwi‐ schen der Fachdidaktik einerseits und den Einschätzungen von Vertreterinnen und Vertre‐ tern der Berufsausbildung andererseits. Letztere halten die Schreibkompetenz zum Teil für erheblich weniger wichtig als die mündlichen Fähigkeiten, veranschlagen umgekehrt aber orthografische Fähigkeiten hoch (vgl. Schäfer 2013, Efing 2008: 21). Diese Dominanz der Orthografie aus Unternehmenssicht und Warte der Berufsschul‐ lehrpersonen darf aber nicht dazu führen, dass der Deutschunterricht der Sekundarstufe I zum reinen Orthografie-Unterricht gerät. Vielmehr empfiehlt sich gemäß Pospiech (2013) eher dreierlei in puncto ausbildungsvorbereitende Schreibförderung in der Sekundarstufe I: 1. Berufe auf ihre Anforderungen an das Schreiben hin zu erkunden, um so zu eruieren, welche realen schreibbezogenen Anforderungen einzelne Berufe mit sich bringen; 2. berufliche Textsorten und ihre Funktionen zu erkunden, um für die Eigenheiten, die in Tab. 2 zusammengestellt sind, sensibilisiert zu werden; 3. mit Textpuzzles Textsortencharakteristika zu erkunden - hier geht es darum, Formu‐ lierungsroutinen in kleinen Textteilen aufzubauen. Die Erkundungen des Schreibens im beruflichen bzw. berufsschulischen Kontext geht zum Teil einher mit dem, was die evidenzbasierte Schreibförderung als sinnvoll erscheinen lässt (vgl. Hoefele & Konstantinidou i. d. B.). Darunter fallen die Analyse von Textmodellen, das Kombinieren von einzelnen Informationen zu sprachlich komplexeren Einheiten, der kon‐ textualisierte Grammatikunterricht, die Erhöhung des Schreibwortschatzes, Handschriftt‐ 357 Ausbildungsvorbereitende Schreibförderung in der Sekundarstufe I rainings, das Schreiben am Computer und das kooperative Schreiben. Insofern kann und sollte sich ein ausbildungsvorbereitender Deutschunterricht an den modularen Inhalten der Schreibdidaktik bedienen und sie für seine Zwecke adaptieren. Literaturverzeichnis Behörde für Schule und Berufsbildung (Hrsg.) (2011). LAU - Aspekte der Lernausgangslage und der Lernentwicklung. Klassenstufe 5, 7 und 9. Münster: Waxmann. Behörde für Schule und Berufsbildung (Hrsg.) (2012). LAU - Aspekte der Lernausgangslage und der Lernentwicklung. Klassenstufen 11 und 13. Münster: Waxmann. Behörde für Schule und Berufsbildung (Hrsg.) (2013). 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In: Efing, Christian (Hrsg.), 65-91. 359 Ausbildungsvorbereitende Schreibförderung in der Sekundarstufe I Technische Redaktion Petra Drewer 1. Veränderungen im Berufsfeld „Technische Redaktion“ 1.1 Erweiterung des Textsorten- und Medienspektrums Noch vor einigen Jahren fasste man unter dem Berufsfeld „Technische Redaktion“ ( TR ) in erster Linie das Erstellen von (instruktiven) Produktinformationen, klassischerweise von Bedienungsanleitungen. Neben der unternehmensexternen ist nach und nach auch die un‐ ternehmensinterne Dokumentation in das Blickfeld und den Tätigkeitsbereich Technischer Redakteure gerückt. Sie bildet den gesamten Produktlebenszyklus ab und stellt oft die Basis der zu erstellenden unternehmensexternen Texte dar. Analog zum Produktlebenszyklus gehören also zu den ersten relevanten Textsorten im Prozess Lastenhefte, Pflichtenhefte und technische Leistungsbeschreibungen. Im Bereich der Vermarktung spielen Datenblätter, Preislisten, Produktkataloge, Prospekte, Firmen‐ webseiten, Kundenpräsentationen und Presseinformationen eine große Rolle, bevor das Produkt beim Kunden zum Einsatz kommt, der dann Bedienungsanleitungen, Betriebsan‐ leitungen, Schulungs- und Trainingsinformationen, Online-Hilfen, Tutorials etc. erwartet. Auch Instandhaltungsanleitungen, Wartungsanweisungen, Diagnoseunterlagen, Repara‐ turanleitungen, Ersatzteillisten bis hin zu Demontagebeschreibungen oder Entsorgungs‐ unterlagen müssen erstellt und verwaltet werden. Dabei rückt mehr und mehr die Verwal‐ tung, Verbreitung und (automatisierte) Publikation in den Fokus. Bei diesen administrativen Aufgaben geht es nicht nur um das Management von Daten, sondern auch von Informati‐ onen, die durch Kontextualisierung und Aufbereitung der Daten entstehen. Beim Informa‐ tionsmanagement in der TR geht es also v. a. um das Verwalten und Managen von techni‐ schen (oft produktbezogenen) Informationen, die in verschiedenen medialen Formen vorliegen. Neben der textlichen Präsentation geht es im TR -Bereich auch um Visualisierungen sowie um die multimediale Aufbereitung der technischen Sachverhalte. Apps, Filme, Vi‐ deosequenzen, E-Learning-Module, Webseiten, Social-Media- und Blog-Beiträge spielen eine ebenso große Rolle wie die klassischen Texte (Textsorten), zumal man die verschie‐ denen Informationen auch für mobile Endgeräte (Smartphones, Tablet- PC s) verfügbar ma‐ chen muss. Neben dem Textsortenspektrum ist also auch der Umfang der relevanten Medien deutlich breiter geworden. 1 An anderer Stelle weist er darauf hin, dass Technische Redakteure im Regelfall Dokumentationen und keine Texte im engeren Sinn erstellen (vgl. Schmitt 1999: 34), doch ist diese begriffliche Trennung an dieser Stelle nicht notwendig, zumal der Textbegriff auch weiter gefasst werden kann. 1.2 Anforderungen an Technische Redakteure In Bezug auf die geforderten Kompetenzen und Arbeitsergebnisse sind ebenfalls deutliche Veränderungen feststellbar. Erwartete man zunächst vor allem verständliche, eindeutige Texte, so fordert die berufliche Praxis heute in erster Linie kostengünstig erstellte, wieder‐ verwendbare, übersetzungsgerechte Texte. Die erstellten Dokumente werden nicht als Handwerksprodukte betrachtet, sondern als Serienfertigungen - es geht um die Versprach‐ lichung und Aufbereitung großer Informationsmengen in kurzer Zeit und zu geringen Kosten. Wie bereits erläutert, verlagert sich der Aufgabenbereich kontinuierlich vom Informa‐ tionsvertexten hin zum (potentiell mehrsprachigen) Informationsmanagement. Sprachliche Kompetenzen spielen im Berufsprofil zwar weiterhin eine große Rolle, doch Technische Redakteurinnen und Redakteure sind mindestens ebenso oft im IT -Umfeld tätig wie in der klassischen Textproduktion. Interdisziplinarität ist in der Praxis ebenso gefordert wie in der Ausbildung. Schmitt (1999) betont ebenfalls die starke Interdisziplinarität, indem er „Technical Writing“, wie er es nennt, definiert als das planvolle, textsortengerechte und adressatenorientierte Erstellen optimal verständlicher tech‐ nischer Dokumentation, insbesondere von Benutzerinformationen, unter Einsatz aller unter den gegebenen Produktionsbedingungen verfügbaren und der Kommunikationsabsicht dienlichen verbalen und nonverbalen Mittel […] unter Einbezug von Rezeptionssituation, rechtlichen As‐ pekten und Normen, idealiter unter Berücksichtigung relevanter Erkenntnisse anderer Diszip‐ linen, wie Psychologie, Rezeptionsforschung, Psycholinguistik, Ergonomieforschung, Terminolo‐ gieforschung und Translatologie, sowie unter Nutzung aktueller technischer Hilfsmittel (ebd.: 25 f.). Mit dieser umfassenden Definition gelingt es Schmitt, viele der geforderten Kompetenzbe‐ reiche abzudecken und zeitgleich die zentrale Tätigkeit der Texterstellung 1 in den Mittel‐ punkt zu rücken. Neben fachredaktionellen Kompetenzen unterschiedlicher Art ist v. a. die Vermittlung von Technikwissen ein zentrales Thema für die Ausbildung. Auf sprachlich oder grafisch interessierte Studienanfänger wirkt der Technikbereich oft nicht besonders anziehend, doch es gilt: Ohne Technikverständnis keine verständlichen technischen Texte. Am inten‐ sivsten wird die Diskussion der fachlichen Orientierung vermutlich bei technischen Über‐ setzern geführt. Hier wird seit Jahrzehnten - sowohl von Auftraggebern als auch von Aus‐ bildungsinstituten - die Frage gestellt: Lieber ein „Sprachler“ mit Technikkenntnissen oder ein „Techniker“ mit Sprachkenntnissen? Dieselbe Diskussion wird auch in der TR geführt und wirkt sich auf die Gestaltung von Curricula aus, die entweder eine ingenieurwissen‐ schaftliche Basis haben und die fachredaktionellen Kenntnisse als Vertiefung aufsetzen oder die fachredaktionellen Kenntnisse in den Mittelpunkt rücken und das Technikwissen als eher nebengeordneten Baustein betrachten. 362 Petra Drewer Die Ausbildung versucht, das von der Praxis geforderte interdisziplinäre Spektrum ab‐ zudecken, wobei die IT -Komponente eine besondere Rolle einnimmt. Im Studiengang Kommunikation und Medienmanagement (vormals Technische Redaktion) an der Hochschule Karlsruhe, der als Fallbeispiel dienen kann, werden Lehrveranstaltungen zu verschieden‐ sten Themen angeboten: Programmierung, Internettechnologien, App-Erstellung, Me‐ thoden und Werkzeuge des Informationsmanagements, Konzeption von Informationsar‐ chitekturen, Modularisierung von Informationen als Voraussetzung für den Einsatz von Content-Management-Systemen etc. (zum Thema Content-Management vgl. z. B. Drewer & Ziegler 2014: 287-472). Auch in Bezug auf die sprachlichen Fächer ist eine Zunahme der informationstechnolo‐ gischen Einflüsse zu verzeichnen - seien es Datenbanken zur Verwaltung von Termino‐ logie, Controlled-Language-Checker zum maschinellen Lektorat oder Authoring-Me‐ mory-Systeme zur Verwaltung und Wiederverwendung von segmentierten Texten. 2. Modularisierung, Standardisierung und Wiederverwendung Technische Redakteurinnen und Redakteure produzieren kaum ein Dokument allein, son‐ dern arbeiten in Erstellteams, oftmals an verschiedenen Standorten. Aus diesem Grund werden alle (größeren) Dokumente in Bausteine zerlegt und diese individuell erstellt. Der Modularisierungsgedanke ist nicht nur für den Erstellprozess zentral, sondern auch für die kostengetriebene, teilweise automatisierte Wiederverwendung (Re-Use von Texten bzw. Textbausteinen). Darüber hinaus werden technische Dokumente (sowie ihre Erstellerinnen und Ersteller) daran gemessen, wie aufwendig ihre Übersetzungen sind, wobei auch die Messung der Übersetzbarkeit weniger an der Humanübersetzung orientiert ist als vielmehr an der maschinellen Verarbeitbarkeit der Texte beim Einsatz von Translation-Memory-Sys‐ temen (ggf. sogar von vollautomatischen maschinellen Übersetzungssystemen). Der Fokus der Praxis liegt also in erster Linie auf Quantität und Kosten, erst in zweiter Linie auf Qualität und Verständlichkeit. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass man in der Praxis versucht, beide Ziele mit der‐ selben Vorgehensweise zu erreichen, und zwar durch Standardisierung. Unternehmen, die sich bereits intensiver mit Dokumentationsthemen befasst haben, verfügen im Regelfall über einen Redaktionsleitfaden, in dem Regeln zu Wortwahl, Satzbau, Textaufbau, aber auch zu Dokumentvorlagen, Layout und Design, Verantwortlichkeiten und Prozessen festgelegt sind. Persönliche Stile und Vorlieben sollen so weit wie möglich verhindert werden, indem strenge Vorgaben die sprachliche Gestaltung steuern, vereinheitlichen und idealerweise hinsichtlich Verständlichkeit und Eindeutigkeit verbessern. Abbildung 1, bei der die un‐ terschiedlichen Schriftarten individuelle Schreibstile symbolisieren, verdeutlicht diesen Prozess der „Glättung“. 363 Technische Redaktion Abb. 1: Konsistenzsteigerung durch sprachliche Standardisierung (Darstellung nach Drewer & Ho‐ rend 2007: 24, Drewer & Ziegler 2014: 207) Das unfreie regelbasierte Schreiben (inkl. maschinellem Lektorat) ist also eine Kernkom‐ ponente im TR -Arbeitsalltag. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass kreative, ei‐ genständige Schreibende in diesem Berufsfeld fehl am Platze sind. Es eignet sich vielmehr für Schreibende, die gewillt (und fähig) sind, sich an enge Vorgaben zu halten, persönliche Vorlieben zu unterdrücken und mit hoher Effizienz standardisierte Texte zu verfassen. Schon im Grundsatz steht bei der Technischen Redaktion nicht die freie, schriftstellerische Textproduktion im Mittelpunkt, sondern es findet eine Art Reformulierungsprozess statt. Technische Redakteure entnehmen den relevanten Inhalt ihrer Texte meist anderen Texten (v. a. aus Forschung und Entwicklung) oder verwenden mündliche Äußerungen von Fach‐ leuten als Quellen. Sie widmen sich also einer intralingualen Übertragung (z. B. von einer Textsorte in eine andere) - so wie Technische Übersetzer eine interlinguale Übertragung 364 Petra Drewer vornehmen. Während Übersetzer also sprachliche und kulturelle Unterschiede überbrü‐ cken, überbrücken Technische Redakteure Wissensgefälle und verschiedene Intentionen. Die Praxis geht sogar noch einen Schritt über die streng vereinheitlichte Textproduktion hinaus und möchte das Verfassen neuer Texte eigentlich komplett vermeiden, indem einmal erstellte Textbausteine (Module) ständig wiederverwendet werden. Die vorhandenen Mo‐ dule sollen dabei u. a. in verschiedenen Textsorten, mit verschiedenen kommunikativen Funktionen, für verschiedene Zielgruppen und in unterschiedlichen Medien wiederver‐ wendbar sein. Während sich also die Fachsprachenforschung von Wort- und Satzbetrachtungen zu einer ganzheitlichen Textbetrachtung entwickelt hat, fordert die berufliche Praxis im Sinne des Single-Source- und Re-Use-Gedankens das genaue Gegenteil: kleine Texteinheiten, die funktions-, zielgruppen- und medienneutral gestaltet sind, so dass sie in verschiedensten Textsorten eingesetzt werden können und keine Neuerstellung erforderlich ist. An dieser Stelle ergibt sich in einem hochgradig interdisziplinären Studiengang ein Kon‐ flikt, den die Studierenden einordnen und bewältigen müssen. Während in Lehrveranstal‐ tungen zur Textproduktion linguistisch basiertes Wissen und Methoden vermittelt werden, die z. B. Erkenntnisse aus Kognitionspsychologie oder Verständlichkeitsforschung einbe‐ ziehen, ist es in den informationstechnologisch basierten Lehrveranstaltungen an der Ta‐ gesordnung, Textsorten- und Zielgruppenneutralität (ebenso Kultur- und Medienneutra‐ lität) von den verwalteten Textbausteinen zu fordern, da ohne diese Neutralität die gewünschte Wiederverwendung nicht möglich wäre. 3. Zielgruppen- und Textsortenneutralität? Am Beispiel der Terminologieverwendung soll kurz gezeigt werden, dass die als Basis des Re-Use geforderte Neutralität schwer erreichbar ist. Wie alle Textproduzenten stehen insbesondere die Verfasserinnen und Verfasser von Technischen Dokumentationen und von Vermittlungstexten vor einem Dilemma. Auf In‐ haltsebene müssen die Texte ihre Darstellungsfunktion erfüllen, da sie Wissen aus einem bestimmten Bereich übermitteln. Auf Beziehungsbzw. Sprachhandlungsebene haben die Texte eine Instruktionsfunktion, da die Leser nach dem Verstehen des Textes befähigt sein sollen, bestimmte Handlungen auszuführen. Der Verfasser muss also von einem angenom‐ menen Vorwissen (sowohl inhaltlich als auch fachsprachlich) ausgehen und seine Text‐ produktion daran anpassen. Gleichzeitig bedenkt er die Funktion seines Textes und gelangt so zu einer „impliziten Textdidaktik“ (Kalverkämper 1988: 163 f.). Ein beispielhafter Ablauf könnte folgendermaßen aussehen: Zunächst werden die In‐ formationen ausgewählt, die vermittelt werden müssen. Wenn man davon ausgehen muss, dass die Leserschaft bestimmte Zusammenhänge (noch) nicht kennt, so lautet die erste Frage: Sind diese Zusammenhänge unabdingbar, um die Information zu verstehen? Je nach Textfunktion werden die unbekannten Zusammenhänge gar nicht erwähnt, oder sie werden erklärt. In diesem Fall muss im nächsten Schritt festgelegt werden, a) in welcher Reihenfolge die relevanten Informationen präsentiert werden und b) welche Termini zur Erklärung der Sachverhalte notwendig sind und folglich eingeführt und erklärt werden müssen. Die Spanne bei der Erklärungstiefe reicht von der fachwissenschaftlich korrekten Definition, 365 Technische Redaktion die in informatorischen Texten der fachexternen Kommunikation allerdings nur selten er‐ forderlich ist, bis hin zu gemeinverständlichen Alltagserklärungen, wie sie in manchen populärwissenschaftlichen Magazinen üblich sind. Zugleich müssen die Verfasserinnen und Verfasser erkennen, an welche Vorwissensbe‐ stände angeknüpft werden kann, um den Verstehensprozess zu erleichtern. Diese Ver‐ knüpfung kann einerseits helfen, das neue Wissen in schon bestehende kognitive Struk‐ turen einzubauen, andererseits kann über Analogien und Modelle zu schon bekannten Bereichen ein Einstieg ins Thema geschaffen und das Verstehen komplexer Zusammen‐ hänge gefördert werden (vgl. Drewer 2003: 90-108). Speziell im Bereich der Lehre und Didaktisierung darf jedoch die Sachgerechtheit nicht zugunsten der Aufbereitung aufgegeben werden. Die Verwendung von Fachtermini erzeugt zwar eine scheinbare Sachangemessenheit, doch solange der Transfer rein sprachlich bleibt, ist die Funktion eines erklärenden Textes nicht erfüllt. Fachleuten, die einen Terminus ihrer Fachsprache verwenden, sind die relevanten Merkmale, die mit dem entsprechenden Fach‐ begriff verbunden sind, bekannt. Laien hingegen verwenden den Terminus unter Um‐ ständen als reine Worthülse; die Zahl der bekannten begrifflichen Merkmale ist deutlich niedriger. Durch die bloße Übernahme von Redeweisen ist noch keine Zugehörigkeit zur entsprechenden Fachwelt gegeben. Die Verfasser von Fachtexten stehen also immer vor der Frage nach Quantität und Qua‐ lität der im Text verwendeten Terminologie. Im Bereich der fachinternen Kommunikation ist davon auszugehen, dass die Rezipienten des Textes mit der Terminologie des Fachs ver‐ traut sind und ihren Gebrauch erwarten. Definitionen sind hier nicht erforderlich, es sei denn, ein Verfasser möchte einen etablierten Terminus „umdefinieren“ oder sich bewusst von anderen Schulen oder anderen Forschungsgemeinschaften abgrenzen. Im fachexternen Bereich ist davon auszugehen, dass die Leser die Terminologie des Fachs nicht oder nur oberflächlich kennen. Man muss also entscheiden, ob die Terminologie vermieden werden kann oder ob sie eingeführt und mit Hilfe von Definitionen erklärt werden muss. In einem didaktisch orientierten Text ist es zwingend erforderlich, neu eingeführte Ter‐ mini zu erklären, denn das primäre Ziel des Textes - die Wissensvermittlung - geht einher mit der Vermittlung der entsprechenden Fachsprache. Die Lernenden sollen in die Lage versetzt werden, auch weiterführende Literatur zu lesen und sich aktiv an der Fachkom‐ munikation zu beteiligen; dazu benötigen sie das entsprechende terminologische Reper‐ toire. Sie erhalten also Begriffsdefinitionen, um die verwendeten Termini zu verstehen und selbst verwenden zu können. So vollzieht sich für sie der Weg von der fachexternen in die fachinterne Kommunikationswelt. Bei instruktiven Texten, die ebenfalls oft in den Bereich der fachexternen Kommunika‐ tion fallen, soll der Leser möglichst rasch in die Lage versetzt werden, Handlungen, z. B. an einem technischen Gerät, vorzunehmen. Metasprachliche Elemente, zu denen aus dieser Perspektive auch Definitionen gehören, verzögern das Erreichen dieses Ziels. Solange der Technische Redakteur einen Begriff erklärt, sagt er nichts über die Bedienung des Geräts. Metasprachliche Elemente stehen damit im Widerspruch zu den Forderungen nach Sprach‐ ökonomie und hoher Informationsdichte (Göpferich 1998: 187). 366 Petra Drewer Es wird schnell deutlich, dass die Frage nach Quantität und Qualität der eingesetzten Ter‐ minologie nicht pauschal zu beantworten ist, sondern von Zielgruppe und Textsorte ab‐ hängig gemacht werden muss. Die angestrebte Neutralität als Basis der Wiederverwendung ist also schwer zu erreichen. 4. Ebenen der Standardisierung 4.1 Grundlagen Die prägenden Faktoren der Textproduktion in der Praxis sind, wie oben erläutert, einerseits die Wiederverwendung von Vorhandenem und andererseits strenge Regelwerke für die Erstellung von Neuem. Beides dient dazu, die Konsistenz der Technischen Dokumentation zu erhöhen. Gleichzeitig wird Konsistenz als Teil von Verständlichkeit gewertet. Im Rahmen ihrer Ausbildung müssen angehende Technische Redakteurinnen und Red‐ akteure auf diese Standardisierungsanforderungen vorbereitet werden, die sich in ver‐ schiedenen Größenordnungen abzeichnen: auf Wortebene (hier v. a. die Erarbeitung, Ver‐ waltung und Verwendung einer konsistenten Terminologie), auf Satzebene (hier v. a. die Aufstellung und Anwendung von syntaktischen Stil- und Schreibregeln), auf Textebene (hier v. a. der Einsatz von Strukturierungs- und Standardisierungsmethoden). Bei der Einhaltung der verschiedenen Vorgaben sowie bei der Wiederverwendung von Textbausteinen werden Technische Redakteure i. d. R. durch Werkzeuge unterstützt. In den folgenden Absätzen sollen einerseits die Maßnahmen dargelegt werden, die auf den ver‐ schiedenen Ebenen für Vereinheitlichung sorgen sollen, sowie kurz auf die zentralen Werk‐ zeuge eingegangen werden, die den Vereinheitlichungswunsch unterstützen. 4.2 Standardisierung auf Textebene Wenn Strukturierungsbzw. Standardisierungsmethoden wie Information Mapping oder Funktionsdesign zum Einsatz kommen, handelt es sich um strukturierende Eingriffe auf der Ebene des gesamten Dokuments. Will man die Steigerung der Konsistenz allein durch Wiederverwendung erreichen, kommen auf dieser Ebene v. a. Content-Management-Systeme ( CMS ) zum Einsatz. Sie ver‐ walten Textbausteine unterschiedlicher Größe (einzelne Sätze oder thematisch gebundene Absätze bis hin zu ganzen Kapiteln) und unterstützen die systematische Wiederverwen‐ dung dieser Bausteine. Der CMS -Einsatz ist insofern ein interessanter Fall, als er einerseits die Konsistenz der Technischen Dokumentation durch Wiederverwendung von Textbausteinen steigern soll, andererseits aber selbst darauf angewiesen ist, dass die Bausteine auf Wort- und Satzebene hochgradig standardisiert und konsistent sind, damit ein immer wieder neues Zusammen‐ setzen überhaupt sinnvoll möglich ist, ohne sprachliche „Brüche“ und Unstimmigkeiten zu erzeugen. 4.3 Standardisierung auf Satz- oder Segmentebene Die nächstkleinere Einheit, für die im Unternehmensalltag Regeln aufgestellt werden, ist der Satz. Die syntaktischen Regeln finden sich meist in Redaktionsleitfäden oder anderen Regelwerken. Die Einhaltung der hinterlegten Schreibregeln wird entweder durch mensch‐ 367 Technische Redaktion liche Revision oder - soweit möglich - durch ein maschinelles Lektorat mit Hilfe eines Prüfwerkzeugs (Controlled-Language-Checker, CLC ) überprüft. Eine vertiefte Darstellung des Einsatzes, der Grundlagen sowie der Vor- und Nachteile von CLC findet sich in Drewer & Ziegler 2014: 219-267. In den vergangenen Jahren haben sich in der TR -Praxis einige Stilregeln etabliert, die zwar gut gemeint, aber empirisch weder belegt noch immer sinnvoll sind. So ist es bei‐ spielsweise nachvollziehbar, wenn ein hohes Maß an Prägnanz gefordert wird. Zum einen können so Texterstellungs- und Übersetzungskosten reduziert werden, zum anderen wissen es auch die Leser von Gebrauchstexten zu schätzen, wenn sie Informationen schnell finden und verarbeiten können. Wenn sich vor diesem Hintergrund jedoch die Schreibregel „Ver‐ meiden Sie Artikel“ etabliert, so hat dies in vielen Fällen nicht die erhofften Konsequenzen. Die Eindeutigkeit der Aussagen leidet, denn z. B. Numeri sind teilweise nicht mehr er‐ kennbar (vgl. die Anweisung „Filter austauschen“). Für Berufseinsteiger ist oft schwer zu entscheiden, welche Schreibregeln sinnvoll und empirisch belegbar sind und welche allein auf Tradierung innerhalb der TR -Welt beruhen. Es müssen daher in der Ausbildung gängige Regeln aus der Praxis analysiert und diskutiert werden sowie vor dem Hintergrund von Erkenntnissen der Fachsprachenforschung, Ver‐ ständlichkeitsforschung oder der (Kognitiven) Linguistik kritisch hinterfragt werden. Die toolgestützte Wiederverwendung wird auf Segmentebene durch Authoring-Me‐ mory-Systeme ( AMS ) realisiert (siehe dazu z. B. auch Drewer & Ziegler 2014: 270-286), die analog zu Translation-Memory-Systemen ( TMS ) Vorschläge zur Wiederverwendung von früher formulierten und schon eingesetzten Sätzen bzw. Segmenten machen und so die Konsistenz der Texte erhöhen. Beide Werkzeuge ( AMS auf Satzebene und CMS auf Mo‐ dulebene) führen zu einer höheren Konsistenz, nicht aber zwingend zu einer höheren Qua‐ lität. Ganz abgesehen davon, dass aus linguistischer Perspektive schon die Grundidee ziel‐ gruppen- und textsortenneutraler, nahezu beliebig zusammensetzbarer Module schwer vorstellbar ist, kommt es im Falle unzureichender Qualitätssicherung oder unzureichender Pflege der Datenbestände dazu, dass fehlerhafte, schlecht formulierte Texteinheiten immer wieder eingesetzt und so Fehler zementiert werden (vgl. Drewer & Ziegler 2014: 82 f.). Der Wunsch nach verstärkter Prozessverschlankung und -automatisierung ist jedoch so groß, dass auf Qualitätssicherungsmaßnahmen oft verzichtet wird. Folglich werden feh‐ lerhafte Segmente vielfach wiederverwendet oder Segmente, die in bestimmten Umge‐ bungen korrekt waren, tauchen in falschen Kontexten oder ungeeigneten Textsorten wieder auf. 4.4 Standardisierung auf Wortebene (Terminologiemanagement) Die kleinste Einheit, auf die in der Standardisierungspraxis Einfluss genommen wird, ist das Wort. In vielen Redaktionsleitfäden werden Vorgaben zur Wortwahl im gemeinsprach‐ lichen Bereich gemacht, z. B. „Vermeiden Sie Füllwörter und veraltete Ausdrücke“, wobei es durchaus strittig ist, was genau unter einem Füllwort zu verstehen und wie die Veralte‐ rung eines Wortes zu messen ist. Wesentlich wichtiger und umfangreicher sind jedoch Vorgaben zum fachsprachlichen Wortschatz. Will man Fachwissen kompakt und eindeutig vermitteln, so ist Terminologie unumgänglich. Ihre Hauptfunktion ist es ja gerade, Texte 368 Petra Drewer über fachliche Inhalte eindeutiger zu machen, also die Verständigung zu erleichtern, wie auch die Definition von Fachsprache aus DIN 2342 (2011: 5) verdeutlicht: Fachsprache Bereich der Sprache, der auf eindeutige und widerspruchsfreie Kommunikation in einem Fachge‐ biet gerichtet ist und dessen Funktionieren durch eine festgelegte Terminologie entscheidend un‐ terstützt wird Für die TR -Praxis ist das wichtigste Ziel die terminologische Konsistenz. Im Idealfall werden die firmeneigene sowie die übergreifende fachspezifische Terminologie systematisch erar‐ beitet, in einem professionellen Terminologieverwaltungssystem gespeichert und ihre kor‐ rekte Verwendung in Texten mit Hilfe eines Prüfprogramms gewährleistet. Abbildung 2 zeigt, wie eine solche Software reagiert, wenn ein Autor einen Terminus verwendet, der in der Terminologieverwaltung als verboten hinterlegt ist. Das über ein Plug-in in den Editor MS Word eingebundene Prüfwerkzeug erkennt, dass der Terminus Return-Taste gemäß firmeninterner Terminologieverwaltung unzulässig ist und schlägt daher die Vorzugsbenennung Enter-Taste zur Ersetzung vor. Per Klick kann der Redakteur auf den vollständigen terminologischen Eintrag zugreifen, um weitere Informationen zum Begriff, zur Verwendung o. Ä. zu erhalten. Abb. 2: Terminologieprüfung mit CLC (Acrolinx) Soll die Dokumentation übersetzt werden, so benötigt man mehrsprachige terminologische Datenbestände, die dazu beitragen, den Übersetzungsablauf zu optimieren und auch die