Eine kleine deutsch-französische Literaturgeschichte
Vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts
1024
2016
978-3-8233-9043-5
978-3-8233-8043-6
Gunter Narr Verlag
Hubert Roland
Die "kleine deutsch-französische Literaturgeschichte" vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts überwindet und relativiert die nationalen Standpunkte, um gemeinsame Epochen und Thematiken zu erzählen: Aufklärung, Klassik/Classicisme, Romantik, Realismus, Naturalismus, Fin de Siècle/Jahrhundertwende, Avantgarden, Literatur des Ersten Weltkriegs. Sie ist der Versuch einer Pragmatik der Literaturgeschichtsschreibung, die auf der Grundlage von zwei benachbarten, zum Teil historisch verflochtenen Kulturräumen beruht, zwischen denen seit dem Mittelalter ein intensiver Austausch stattgefunden hat. Auch in Konflikt- und Krisenzeiten hat sich diese Tradition fortgesetzt.
Jedes Kapitel skizziert eine gegenstandsbezogene Fragestellung, die unterschiedliche Gewichtungen zwischen den Prinzipien der histoire parallèle und der histoire comparée geltend macht. Im Vordergrund steht eine resolute komparatistische Perspektive, die sich einer gründlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte deutsch-französischer Kulturtransfers, Wechselwirkungen, Vermittlungsprozesse und Berührungszonen widmet.
<?page no="0"?> lendemains edition lendemains 40 Hubert Roland (Hrsg.) Eine kleine deutsch-französische Literaturgeschichte Vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts <?page no="1"?> Eine kleine deutsch-französische Literaturgeschichte <?page no="2"?> edition lendemains 40 herausgegeben von Wolfgang Asholt (Osnabrück), Hans Manfred Bock (Kassel), Andreas Gelz (Freiburg) und Christian Papilloud (Halle) <?page no="3"?> Hubert Roland (Hrsg.) Eine kleine deutsch-französische Literaturgeschichte Vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 1861-3934 ISBN 978-3-8233-8043-6 Umschlagabbildungen: Moritz Daniel Oppenheim: Der Dichter Heinrich Heine © bpk | Hamburger Kunsthalle | Elke Walford Marie Eléonore Godefroid: Germaine Necker, Baronin von Staël-Holstein, genannt Madame de Staël © bpk | RMN - Grand Palais (Château de Versailles) | Franck Raux Gedruckt mit Unterstützung des Institut des Civilisations, Arts et Lettres (INCAL) der Université catholique de Louvain sowie der Deutschen Botschaft in Brüssel. <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Einführung .............................................................................................................. 6 Kapitel 1: Aufklärung und Lumières im Kontext des 18. Jahrhunderts (Hans-Joachim Lope) ............................................................................................... 13 Kapitel 2: Classicisme/ ‘Klassik‘. Begriffsgeschichte und deutsch-französische Wechselwirkungen um 1800 (Hartmut Stenzel) ................................................................................................... 45 Kapitel 3: Deutsch-französische Verflechtungen um die Romantik. Kulturtransfer und Missverständnis (Georges Jacques, Hubert Roland und Johannes Werner) ........................................ 73 Kapitel 4: Formen realistischen Schreibens: Deutsche Provinzialität, französische Avantgarde? (Louis Gerrekens) .................................................................................................. 107 Kapitel 5: Naturalisme und Naturalismus: Vom Aufbruch in die Moderne? (Sabine Schmitz).................................................................................................... 133 Kapitel 6: Fin de siècle/ Jahrhundertwende: Eine Tendenzgeschichte (Achim Küpper)..................................................................................................... 151 Kapitel 7: Die vernetzten Avantgarden: Konvergenzen und Spezifizitäten (Monique Boussart)............................................................................................... 183 Kapitel 8: Die Literatur des Ersten Weltkriegs (1914-1939) (Philippe Beck)....................................................................................................... 207 Resümees ............................................................................................................. 233 Namensverzeichnis ............................................................................................ 241 <?page no="6"?> Einführung Die Literaturgeschichtsschreibung ist im Wandel. Seit einiger Zeit schon reflektiert sie ihre eigene Praxis bzw. ihre eigenen Grundlagen und bemüht sich um die Entwicklung neuer theoretischer Ansätze. 1 Denn zweifellos gibt es einen großen Nachholbedarf im Vergleich zur Disziplin der allgemeinen Historiographie, die seit Hayden Whites bahnbrechender Studie zur Entlarvung der Mechanismen der Geschichtsschreibung als Narrativ (Metahistory) 2 ihre eigene Position diskutiert und in Frage stellt. Im Grunde genommen liegt das Unbehagen darin begründet, dass die Literaturgeschichtsschreibung sich noch nicht ausreichend von der Aufgabe der nationalen Philologien im 19. Jahrhundert emanzipiert hat und immer noch auf das traditionelle Modell der kulturellen Nationenbildung angewiesen ist. Sie pflegt und vermittelt ein vorbildliches immaterielles Erbe, das - jedenfalls für die „großen europäischen Nationen― - sprachgebunden ist und eine nur selten neu evaluierte Erinnerungskultur weitergibt. In seinem kritischen und speziell auf die französischen Verhältnisse zugeschnittenen Beitrag vertritt Alain Vaillant die Ansicht, dass die (nationale) Literaturgeschichtsschreibung unter einem Übermaß an Vertrauen in ihre mission patrimoniale - „noble mais essentiellement mémorielle― - leidet. Sie begnüge sich mit der Erfüllung der ihr ursprünglich zugeschriebenen Aufgaben: „préserver le lien avec le passé, […] entretenir le souvenir des grands auteurs, des grandes œuvres ou des grandes périodes de la littérature […]―. 3 Die Schwierigkeit besteht in der einfachen Feststellung, dass die Benennung „Literaturgeschichte― „sowohl den Gegenstand, den historischen Prozess der Literatur, als auch den Vorgang seiner Erkenntnis, Deutung und Darstellung durch die Literaturgeschichtsschreibung […]― bezeichnet. 4 Diese Darstellung ist also immer das Ergebnis von mehr oder weniger impliziten Verfahren der Selektion, zuweilen auch der Konstruktion, die auf Prozesse der Bewertung zurückzuführen sind. Vaillants pauschale Aussage, dass die Disziplin der Literaturgeschichte sich jeder epistemologischen Überlegung über ihr Werden entzieht, bzw. dass ihr Status immer noch in 1 S. Linda Hutcheon & Mario J. Valdés: Rethinking Literary History. A Dialogue on Theory, Oxford N.Y., Oxford University Press, 2002; Reconsiderations of Literary Theory, Literary History and Cultural Authority = New Literary History, Nr. 33/ 1, Winter 2002. 2 Hayden White: Metahistory. The historical imagination in nineteenth-century Europe, Baltimore & London, The Johns Hopkins University Press, 1990 [1973]. 3 Alain Vaillant: L’histoire littéraire, Paris, Armand Colin, 2010, 11. 4 Ansgar Nünning: „Literaturgeschichte und Literaturgeschichtsschreibung―, in: Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie. Vierte, aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart/ Weimar, 2008, 433-436; hier 433. <?page no="7"?> Einführung 7 Anlehnung an das Muster der Ideengeschichte festgelegt wird, kann man dennoch nicht als solche billigen. „An die Stelle enzyklopädischer Gesamtdarstellungen einer Nationalliteratur, die die nationale Identität eines Volkes zu erhellen versuchten […]―, 5 ist sehr wohl mit der Zeit eine Vielzahl der Formen und Modalitäten der Literaturgeschichtsschreibung aus verschiedenen Perspektiven entstanden: New Criticism, Theoretisierung der Literaturwissenschaft, Rezeptionsgeschichte, New Historicism, Gender Studies, usw. 6 In der englischsprachigen Literaturwissenschaft berührt der Beitrag der cultural studies und der postkolonialen Kritik heute zwangsläufig die historische Infragestellung der Literatur. Und schließlich ist es die Sozialgeschichte der Literatur, auch im Sinne einer „approche systémique des faits sociaux― und der Historisierung der literarischen Kommunikation, die sich Vaillant wünscht, 7 die heutzutage in ihrem Programm die Literaturgeschichtsschreibung als Priorität definiert. 8 Dass die lang etablierte, sich stets erneuernde Tradition der komparatistischen Historiographie - sei es auf der Ebene der traditionellen europäischen Literaturgeschichte oder unter dem neueren Blickwinkel der World Literature - zahlreiche hochkarätige Studien und Nachschlagewerke zur Überwindung nationaler Standpunkte geliefert hat, 9 kann hier aus Gründen einer im vorgegebenen Rahmen unerreichbaren Vollständigkeit nicht im Einzelnen nachgewiesen werden. Derartige Beiträge werden in den epochenbezogenen Kapiteln dieses Bandes von Fall zu Fall dokumentiert. Die hier vorgelegte „kleine deutsch-französische Literaturgeschichte― zwischen dem 18. Jahrhundert und dem Ersten Weltkrieg ist zwar komparatistisch inspiriert und geprägt, kann und will aber nicht mit solch herausfordernden Projekten konkurrieren. Sie nimmt eine entschieden „dekonstruktivistische― Position ein, indem sie das Gewicht der kulturnationalen Traditionen, die die überwiegende Mehrheit der Literaturgeschichten in der Form des Lehrbuchs immer noch bestimmt, als ein ideologisches Problem 5 Ibid., 434. 6 Ibid., 434-436. 7 Vaillant, op. cit., 17. 8 S. den neueren, von Matthias Buschmeier, Walter Erhart und Kai Kauffmann herausgegebenen Band Literaturgeschichte. Theorien Ŕ Modelle Ŕ Praktiken, Berlin, New York, Walter de Gruyter, 2014 und die aufschlussreiche Rezension von Heribert Tommek zu diesem Band: „‗Zusammenhang soll sein! ‗ Zum Versuch, die Theorie der Literaturgeschichte zu beleben―, in: IASL online [30.10.2015]. URL: http: / / www.iaslonline.de/ index.php? vorgang_id=3871. Datum des Zugriffs: 27.02.2016. 9 In letzter Zeit ist die Idee und das Projekt einer sogenannten World History of Literature erwähnenswert: Anders Petterson & Theo D‘haen, „Towards a Non-Eurocentric World History of Literature―, in: Marc Maufort & Caroline De Wagter (eds.), Old Margins and New Centers. The European Literary Heritage in an Age of Globalization, Bruxelles/ Bern (e.a.), P.I.E. Peter Lang, 2011, 29-42. <?page no="8"?> Einführung 8 empfindet. Andererseits wird hier kein wirklicher Versuch unternommen, für neue „Ordnungsmuster― der Literaturgeschichte zu plädieren. Traditionelle Epochen der europäischen Literaturgeschichte werden nicht in Frage gestellt, weil sie in pragmatischer Hinsicht eine Klarheit schaffende Funktion erfüllen. Die Art und Weise jedoch, wie die Nationalliteraturen sich diese Meilensteine angeeignet haben, wird hervorgehoben bzw. entlarvt. Ebenso wenig wird auf den konstitutiven Gedanken des „Narrativs― für die Literaturgeschichtsschreibung verzichtet. Im Gegenteil bilden wir ein alternatives narratives Modell, das - möglicherweise - den nationalen Rahmen durch die Abgrenzung eines bilateralen Musters ersetzt, in der Herangehensweise aber alle Wege der Erweiterung und Überwindung des nationalen Gedankens anstrebt: Die deutsch-französische Literaturgeschichte bezieht sich natürlich auf die Gesamtheit der deutsch- und französischsprachigen Kulturräume; jenseits der stark betonten Ansätze der literarischen und intellektuellen Vernetzung sowie der Kulturtransferforschung bleibt sie sich stets auch der Notwendigkeit der europäischen Kontextualisierung bewusst. Ihre imagologischen Implikationen sind über die Darlegung und Historisierung aller Mechanismen der Nationen- und Identitätsbildung des „Fremden― und des „Eigenen― im deutsch-französischen Bereich hinaus ein Bestandteil dieses Projekts. Die „kleine deutsche-französische Literaturgeschichte― ist der Versuch einer Pragmatik der Literaturgeschichtsschreibung, die auf der geistesgeschichtlichen Grundlage von zwei benachbarten, zum Teil historisch verflochtenen Kulturräumen beruht, zwischen denen seit dem Mittelalter ein intensiver Austausch stattgefunden hat. Auch in Konflikt- und Krisenzeiten hat sich diese Tradition fortgesetzt, die selbstverständlich nicht immer friedlich verlaufen ist und die politischen Konfrontationen widerspiegelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sie darüber hinaus an der Integration zweier Nationen im Dienste des europäischen Einigungsprozesses mitgewirkt und wurde zum Teil institutionalisiert, 10 womit diese Dynamik auch noch durch eine rege Erinnerungskultur verstärkt wurde. Vor diesem allgemeinen Hintergrund lässt sich schließlich noch erklären, dass der entscheidende Impuls für die Entwicklung der Kulturtransferforschung in den 1980er Jahren aus der deutsch-französischen Konstellation heraus erwuchs. 11 Viele wichtige Vorstudien zu den deutsch-französischen Literaturbeziehungen und Kulturtransfers, die die in diesem Band behandelten Epochen 10 S. Nicole Colin, Corine Defrance, Ulrich Pfeil, Joachim Umlauf (ed.): Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage, Tübingen, Narr, 2015 (edition lendemains 28). 11 S. Michel Espagne: Les transferts culturels franco-allemands, Paris, Presses Universitaires de France, 1999. <?page no="9"?> Einführung 9 betreffen, 12 haben den Weg dieser Publikation bestimmt, die sich darüber hinaus auch als didaktische Synthese versteht. Was die Darstellung eines solchen synthetischen Blicks angeht, so hat sich in methodischer Hinsicht eine konzeptuelle Positionierung für die Redaktion der Kapitel zweifellos als schwieriger erwiesen, als wir ursprünglich gedacht hatten. Vor die Alternative zwischen der Geschichtsschreibung von histoires parallèles oder einer histoire comparée gestellt, haben wir uns prinzipiell für letzteres Prinzip entschieden. Das Nebeneinanderstellen nationaler Literaturgeschichten kann mit Sicherheit nicht die heutigen Ansprüche einer vergleichenden Literaturwissenschaft erfüllen. Als vorrangig wurde die gründliche Auseinandersetzung mit der Geschichte deutsch-französischer Wechselwirkungen, Vermittlungsprozesse und Berührungszonen definiert. Obwohl das Schema der aufeinanderfolgenden Epochen bewahrt wurde, wurde diese Chronologie doch flexibel gehandhabt. Zur Klärung der zeitlichen Verschiebungen zwischen der deutschen und der französischen Romantik wurde zum Beispiel eine gemeinsame romantische Epoche 1750-1850 festgelegt. Die Vorgabe eines homogenen Modells für jedes Kapitel haben wir als konzeptuelle Sackgasse angesehen. Um der Komplexität und der Eigendynamik der Epochen gerecht zu werden, mussten wir für jedes Kapitel auf einer gegenstandsbezogenen Fragestellung aufbauen, so dass die Verfasser sich frei gefühlt haben, unterschiedliche Gewichtungen - sogar zwischen histoire parallèle und histoire comparée - geltend zu machen. Die größte Schwierigkeit, die aus der expliziten Darstellung eines Forschungsgegenstandes (der schon im Titel jedes Beitrags angekündigt wird) hervorgeht, besteht darin, dass andere, manchmal wichtige Aspekte und Facetten einer Epoche außer Acht gelassen werden. Hiermit löst sich der Anspruch auf Ausführlichkeit auf, so dass die „kleine deutsch-französische Literaturgeschichte― tatsächlich als Übung der Perspektivierung, nicht aber als Ersatz der traditionellen Literaturgeschichten bezeichnet werden kann. Als Anfangspunkt unserer Chronologie steht die Periode des 18. Jahrhunderts, der Höhepunkt eines sich etablierenden deutsch-französischen Austauschs. In seiner kontrastiven Auseinandersetzung mit den Lumières und der Aufklärung widmet sich Hans-Joachim Lope den übergreifenden Strukturen, den Voraussetzungen und Rahmenbedingungen dieser intellektuellen Strömungen sowie andererseits den Mechanismen der Zirkulation 12 S. etwa Michel Espagne & Michael Werner (ed.): Transferts: les relations interculturelles dans l’espace franco-allemand (XVIIIIe et XIXe siècle), Paris, Recherche sur les Civilisations, 1988; Hans-Jürgen Lüsebrink & Rolf Reichardt (ed.): Kulturtransfer im Epochenumbruch: Frankreich-Deutschland 1770 bis 1815, Leipzig, Leipziger Universitätsverlag, 1997; Günter Berger & Franziska Sick (ed.): Französisch-deutscher Kulturtransfer im „Ancien Régime“, Tübingen, Stauffenburg, 2002 (Cahiers lendemains, Bd. 3); Eckhard Heftrich & Jean-Marie Valentin (ed.): Gallo-Germanica: Wechselwirkungen und Parallelen deutscher und französischer Literatur (18. - 20. Jahrhundert), Presses Universitaires de Nancy, 1986. <?page no="10"?> Einführung 10 der Ideen und der Vermittlungsprozesse (imitatio, aemulatio, translatio). Bei aller Vorbildlichkeit des 18. Jahrhunderts für den transnationalen Dialog verharmlost Lope auch nicht die aufkommenden Feindbildkonstruktionen und patriotischen Ausbrüche der Gallophobie und Gallophilie. Unter Berücksichtigung der teleologischen Konstruktionsprozesse solcher Konzepte untersucht Hartmut Stenzel die Begriffsgeschichte des französischen Classicisme und der deutschen Klassik. Als Reaktion gegen die angebliche Vorbildlichkeit des (französischen) 17. Jahrhunderts fragen sich die deutschen Autoren, wie sie die Idee einer deutschen Nationalliteratur begründen können. Die deutsch-französischen Wechselwirkungen um 1800 werden anhand der Begriffsgeschichte des ‚Klassischen‗ in Frankreich und Deutschland und der folgenden Auseinandersetzung mit dem französischen Vorbild im Umfeld der Weimarer Klassik dargestellt. Die Fallstudie von Goethes Voltaire- Bearbeitung illustriert eine ambivalente Annäherung an den französischen Klassizismus. Die Entstehung der Antinomie „klassisch-romantisch― prägt die Evolution der romantischen Bewegungen in Deutschland und Frankreich, die im gemeinsamen Beitrag von Georges Jacques, Hubert Roland und Johannes Werner aus der besonderen Perspektive des Kulturtransfers und des Missverständnisses erhellt werden. Das sogenannte „konstruktive Missverständnis― wird als konstituierendes Element der Selektions- und Rezeptionsprozesse erkannt, die die Integration und Aneignung des Transfers der deutschen Romantik im gesellschaftlichen und kulturellen Kontext der entstehenden französischen Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts charakterisieren. Die Tragweite solcher Kulturvermittler wie Madame de Staël und Heinrich Heine in den deutsch-französischen Verflechtungen um die Romantik ist immens. Bis in dieses Jahrhundert hinein kann man zudem die tief greifende Verwechslung von romantisme politique und „politischer Romantik― reflektieren, die einerseits bei den Betroffenen aller Nationen den utopischen Elan für die Ideale der Französischen Revolution, andererseits die Mythisierung der „Volksidee― im Nationalismus der restaurativen Kräfte der deutschen Spätromantik im Widerstand gegen Napoleon nähren. Es überrascht nicht, dass die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Strömungen des Realismus und Naturalismus periodisiert wird, die diesmal in den deutsch- und französischsprachigen Literaturen chronologisch konvergieren. Zufällig stehen diese beiden Kapitel unter dem Zeichen des dialektischen Antagonismus von Fortschritt/ Moderne und Tradition/ Antimoderne. Louis Gerrekens vermittelt die gängige Meinung, der zufolge die Formen des realistischen Schreibens in Frankreich eher mit einer Ethik der Denunzierung der sozialen Ungleichheiten in der Dynamik des bereits vorhandenen industriellen Zeitalters assoziiert werden, während sie in deutscher Sprache in der von der Industrialisierung noch verschonten Provinz verankert seien und somit eine poetisierende und moralisierende <?page no="11"?> Einführung 11 Wiedergabe der Realität fördern würden. Was den Naturalismus betrifft, so geht Sabine Schmitz von dem umgekehrten Postulat aus, dass dieser nämlich in Frankreich als verspätetes Phänomen der realistischen Ästhetik, in Deutschland hingegen als Vorläufer oder sogar frühe Komponente der Moderne gilt. Diese elementaren Antagonismen werden in den beiden Kapiteln durch eine aufmerksame Lektüre der jeweiligen Werke überwunden, in deren Verlauf sich zeigt, wie sehr gemeinsame Textverfahren und gesellschaftliche Aussagen im Sinne einer transnationalen (quasi gesamteuropäischen) Bewegung an den Tag gebracht werden können: Sowohl Gustave Flaubert als auch Theodor Fontane entlarven den Realismus als bewusste formale Illusion, während eine neuere kritische Annäherung der Ausprägungen des Naturalismus in Deutschland und Frankreich seine maßgebliche Teilhabe an der Gestaltung der Moderne belegt. In seiner sogenannten „Tendenzgeschichte― der Literatur des Fin de Siècle bzw. der Jahrhundertwende entwickelt Achim Küpper die Idee eines kontrastiven begrifflichen Apparats, der die grundlegenden epochalen Merkmale dieser Stilrichtung hervorhebt und deutliche Impulse der französischsprachigen auf die deutschsprachige Literatur erkennen lässt. Übergreifende Verwoben- und Verflochtenheiten beider Sprachräume wie die Motive der Langeweile und des Flaneurs, das Interesse für Interieur und Psychologisierung, das doppelte Paradigma einer Lyrisierung des Dramas und einer Theatralisierung der Narration kommen hinzu und prägen das neue Zeitbewusstsein der literarischen Moderne in dieser Schwellenepoche. Die um die Jahrhundertwende aufkommende Suche nach neuen Formen der Gemeinschaft wird auch zum konstitutiven Merkmal der von Monique Boussart unter die Lupe genommenen deutsch-französischen „vernetzten Avantgarden―, die ab 1910 alle ästhetischen Normen radikal in Frage stellen und grundlegende Innovationen einführen. In der Genese dieser Bewegungen ist auch diesmal eine europäische Kontextualisierung unumgänglich: Vom Futurismus zum Dadaismus lassen sich thematische und formale Konvergenzen feststellen, die von den wichtigen Vermittlungsinstanzen dieser Avantgarden (Zeitschriften, Anthologien, zweisprachige Persönlichkeiten) getragen werden. Demgegenüber müssen freilich auch die Besonderheiten der deutschen und der französischen Avantgarden ans Licht gebracht und die ästhetische Logik des Expressionismus von der des sogenannten „cubisme littéraire― unterschieden werden. Mitten in den Aufschwung der europäischen Avantgarden fällt das zutiefst traumatische Ereignis des Beginns des Ersten Weltkriegs und vernichtet die Grundlagen dieses über Generationen aufgebauten geistigen Erbes. Die Literatur des Ersten Weltkriegs wird von Philippe Beck als deutschfranzösische Gattung in ihrer breitgefächerten Heterogenität gekennzeichnet. Auf der Grundlage eines breiten Korpus, der die schon vor 1914 verfassten dichterischen Vorstellungen eines großen Kriegs bis zu den Texten bein- <?page no="12"?> Einführung 12 haltet, die nach 1918 den Krieg als Erlebnis einer verlorenen Generation zu deuten versuchen, werden in dieser Analyse alle inhaltlichen und stilistischen Merkmale skizziert, die dieser Literatur die Signifikanz eines „interkulturellen Phänomen― geben. Die Initiative dieses Projekts wurde in seiner Anfangsphase von einem Zuschuss des belgischen Fonds de la Recherche Scientifique-FNRS gefördert. Unser Dank gilt dem FNRS sowie dem Narr Verlag und den Herausgebern der édition lendemains, die seine Verwirklichung möglich gemacht haben. Manon Crombois danke ich schließlich für ihre effiziente Hilfe bei der technischen Herstellung dieses Buches. Hubert Roland Louvain-la-Neuve, den 25. Juli 2016 <?page no="13"?> Hans-Joachim Lope Kapitel 1 Aufklärung und Lumières im Kontext des 18. Jahrhunderts Vorbemerkung - Die folgende Darstellung bezieht sich auf das Siècle des Lumières vom Spanischen Erbfolgekrieg (1700-1714) bis zur Französischen Revolution (1789), von Louis le Grand bis Louis le Bien-Aimé, vom Zeitalter der Vernunft bis zum Hexenkessel Rokoko 1 . Dabei richtet sich die deutsch-französische Perspektive auf ein Region und Stand übergreifendes - tendenziell also nationales und damit zwangsläufig auch internationales Ŕ Gesellschaftsgefüge, das zunehmend (auch) in der Literatur hinterfragt wird. Wenn schon das Universum mathematischen Regeln folgt, sollte dann nicht auch das menschliche Zusammenleben aus der ratio heraus gestaltbar sein? Die Aufklärung des 18 . Jahrhunderts sucht die Antwort auf diese Frage sowohl im Rückgriff auf die Erfahrung „ausklingender aristokratischer Kultur― als auch im Sinne der „Aufgeschlossenheit erwachenden Bürgertums― 2 . Rahmenbedingungen a) Frankreich. - Das Frankreich des 18. Jahrhunderts ist der späteren république une et indivisible noch kaum vergleichbar . Binnenzölle behindern das Wirtschaftsleben, Maße und Gewichte sind uneinheitlich, und nicht einmal das système de Law (1716-1720; nach J. Law: Money and trade 1705) vermag der chronischen Finanznot des Staates abzuhelfen. Außenpolitisch tritt das Land (zunächst noch ohne Lothringen, Korsika, u. a.) als absolutistisch geführtes Königreich auf (ca. 530000 km²), dessen Hegemoniestreben freilich schon im Spanischen Erbfolgekrieg an seine Grenzen stößt. Beim Tode Ludwigs XIV. (1715) ist der Glanz von Versailles so weit verblasst, dass sich das Zentrum des politischen und kulturellen Lebens erneut - und diesmal endgültig - nach Paris zurück verlagert. In den Cafés, Clubs und Salons der Hauptstadt 1 Harold Nicolson: Das Zeitalter der Vernunft, a. d. Englischen v. Ursula von Zedlitz, München, 1961; Otto Zierer: Hexenkessel Rokoko, München/ Berlin, 1982. 2 Robert Lavalette: Illustrierte Literaturgeschichte der Welt, Zürich, ²1954, 212-213. <?page no="14"?> Hans-Joachim Lope 14 diskutiert man fortan die Moralischen Wochenschriften des In- und Auslandes, verteilt Karrierechancen im Literatur- und Kunstbetrieb, macht Moden, Bestseller, Akademiekandidaturen. Um 1750 hat Paris ca. 500000 legale Einwohner. Doch bleibt auch der Beitrag der Provinzen bedeutend: Buffon wirkt in Dijon, Montesquieu in Bordeaux, Vauvenargues in Aix-en-Provence. Grundlage des französischen Bildungswesens sind um 1750 ca. 10000 Elementarschulen in kirchlicher Trägerschaft, 21 Universitäten, 560 Collèges und an die 100 Fachschulen. Abgesehen von der kurzen Liberalisierungsphase unter dem Regenten Philippe d‘Orléans (1715-1723) bleibt das allgemeine geistige Klima durch Zensur und Repression bestimmt . Bis zum Toleranzedikt von 1787 treffen sie Jansenisten, Quietisten, Protestanten und philosophes gleichermaßen . An die 200000 vertriebene Hugenotten tragen die französische Sprache nach England und Preußen, in die Niederlande und die deutschen Kleinstaaten. Sie stärken die Frankophonien vor Ort und sind schon bald Teil einer französischsprachigen Öffentlichkeit in Europa, deren aktive Buch- und Zeitschriftenproduktion - darunter die beliebten Almanache 3 - sich der französischen Zensur definitiv entzieht. Die Zahl allophoner Autoren steigt: Casanova, Hemsterhuis, Isabelle de Charrière… Friedrich hinterlässt ein umfangreiches Werk in französischer Sprache, und auch der Nachlass von Maria-Theresia und Katharina steht für Kreativität und Originalität dieser Frankophonie. Zwar sind die Friedensschlüsse von Aachen (1748) und Paris (1763) der französischen Vormachtstellung nicht günstig, doch beschreibt Rivarols in Berlin preisgekrönter Discours sur l'universalité de la langue française (1784) durchaus eine vorerst noch unbestrittene Tatsache. Der oft aus dem Zusammenhang gerissene Kernsatz „Ce qui n‘est pas clair n‘est pas français― begründet ein zählebiges Klischee. b) Das deutschsprachige Mitteleuropa. - „Zwischen Frankreich und Russland […] lag […] das Deutsche Reich […], ausgeraubt und verfault, zerrissen in dreihundert Souveränitäten. […]. Der Kaiser besaß fast nur noch das Recht, Adelstitel zu verleihen; der Reichstag in Regensburg war ein Gesandtenkongress, der seine Zeit mit […] Klatsch und Kram vertrödelte, das Reichskammergericht in Wetzlar die berüchtigste Verschleppungsanstalt in Europa und das Reichsheer ein […] Haufe von Vogelscheuchen― 4 . Die hier 3 York-Gothart Mix: „‘Manie d‘Almanacs‘ - französischsprachige Almanache im deutschen Sprachraum des 18. Jahrhunderts―, in: Raymond Heitz/ York-Gothart Mix/ Jean Mondot/ Nina Birkner: Gallophilie und Gallophobie in der Literatur und den Medien in Deutschland und Italien im 18. Jahrhundert, Heidelberg, 2011, 301-317. 4 Franz Mehring: „Der preußische Staat und die klassische Literatur [1893]―, in Id.: Aufsätze zur deutschen Literaturgeschichte, Leipzig, ³1969, 25-56, 25. <?page no="15"?> Aufklärung und Lumières im Kontext des 18. Jahrhunderts 15 beschriebene „Duodezgroteske― 5 im Herzen Europas ist bis 1806 das Kernland des Alten Reiches (ca. 630000 km²). Und östlich davon liegt das von den Hohenzollern verwaltete und 1701 zum Königreich erhobene Preußen, dessen Aufstieg das europäische Machtgefüge bald grundlegend verändern wird. Hier finden Glaubensflüchtlinge (Hugenotten, Waldenser, salzburgische Lutheraner, irische Katholiken) Aufnahme, hier werden 1714 die Hexenprozesse abgeschafft, hier verzichtet man auf Kolonien in Übersee. Und hier wird man am Ende auch die Führungsrolle des Hauses Habsburg in Frage stellen. Berlin (1700: 20000; 1800: 170000 Einwohner) wird zur Rivalin Wiens (1700: 113000; 1800: 247000 Einwohner). Weite Teile des Alten Reiches bestehen aus kleinen und kleinsten Territorien. Oft geben Fürsten ihren Residenzen, wie Dresden, Kassel, Weimar und andere Beispiele zeigen, zukunftsweisende Impulse durch „Mäzenatentum, Oper oder Theater―. Auch eine Bibliothek kann - wie in Wolfenbüttel - den Ruhm einer Stadt begründen 6 . Hinzu kommen die Universitäten in Göttingen, Halle, Jena, Königsberg und anderswo, sowie die unruhigen Bürgermetropolen wie Frankfurt/ M., Hamburg, Leipzig oder - jenseits der Grenzen - Basel, Bern und Zürich. An der anfangs keineswegs selbstverständlichen Kooperation von Lutheranern und Reformierten beteiligen sich zunehmend auch die katholischen Territorien und ermöglichen damit mittelfristig die Überwindung der konfessionellen apartheid im Reich. Obwohl ihre Kraftzentren weit im Osten liegen, reichen sowohl Österreich (Breisgau) als auch Brandenburg-Preußen (Kleve, Moers) bis tief in die Rheinlande hinein, was den französischen Nachbarn insofern direkt betrifft, als die deutschen Führungsmächte ständig nach Verbündeten außerhalb des Reiches suchen. Regionale Bindungen kommen hinzu. Goethe beendet sein Jura-Studium in Straßburg. 1793 betreibt Mainz den Anschluss an die Französische Republik. Französisch bleibt internationale Verkehrssprache nicht zuletzt dank der europaweit rezipierten Zeitschriften von Raynal (Nouvelles littéraires 1747-1751, 1754-1755), Grimm (Correspondance littéraire 1753-1790), Fréron (Année littéraire 1754-1790), Linguet (Journal politique et littéraire 1773- 1783) u. a. In Wien favorisiert man - dynastischen Erwägungen folgend - mal das Französische, mal das Italienische, mal das Spanische. Latein behauptet sich in der Wissenschaft, und in den protestantischen Territorien ist Deutsch das Identität stiftende Vehikel der Predigt und der Gemeindearbeit. 5 Inge Stephan: „Aufklärung―, in: (Metzlers) Deutsche Literaturgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wolfgang Beutin e. a. (ed.), Stuttgart/ Weimar, 8 2013, 148-181, 148. 6 Michael Erbe: Deutsche Geschichte 1713-1790, Stuttgart/ Berlin/ Köln/ Mainz, 1985, 91. <?page no="16"?> Hans-Joachim Lope 16 Alte Welt, neue Horizonte Der durch die Seefahrer und Konquistadoren früherer Generationen eingeleitete Wettlauf der europäischen Kolonialmächte um Landbesitz und strategische Häfen in Übersee setzt sich auch im 18. Jahrhundert fort. Neu hinzu kommt jetzt die systematische Aneignung des Unbekannten mit Hilfe minuziös durchgeplanter Expeditionen. Die schiffsbautechnischen Voraussetzungen dazu liefern u. a. Daniel Bernouilli (Hydrodynamica, Straßburg 1738) und Leonhard Euler (Scientia navalis, Basel 1749), und wenn schon man im Alten Reich keinen Seefahrer vom Rang eines Cook oder eines Bougainville findet, so registriert man doch auch hier die von Abenteurern, Kaufleuten, Naturforschern und Missionaren weltweit zusammengetragenen Informationen. Systematisiert, ideologisiert, mythologisiert und durch Kompilationen wie Prévosts Histoire générale des voyages (1744-1759) bekräftigt, werden sie auch hier zur Referenz für Wissenstransfer und Transkulturalität. Georg Forsters Südseetagebuch gehört sowohl der englischen (A voyage round the world 1777) als auch der deutschen Literatur (Reise um die Welt 1778-1780) 7 . In französisch-deutscher Sicht ist dieser Text das Gegenstück zu Bougainvilles Voyage autour du monde (1771) und gemeinsam begründen sie den Südseemythos späterer Generationen. Das bei Diderot zur explosiven Utopie verdichtete Thema der freien Liebe auf Tahiti wird dabei zum Angelpunkt einer umfassenden Zivilisationskritik. Von jetzt an rechtfertigt der von Ausbeutung, Sklaverei, Mission und kollaborierenden Gruppen vor Ort getragene Ausgriff des Weißen Mannes jede Form des Widerstandes der (später so genannten) Dritten Welt 8 . Hinzu kommt ein neuer Umgang mit der seit Montaigne (Des cannibales) aktuellen und im 18. Jahrhundert vielfach erneuerten Topik des Guten Wilden, inklusive des nach wie vor verstörenden Phänomens der Anthropophagie. Die nunmehr in ihrer ganzen Buntheit erkannte Menschheit (Le Cat: Traité de la couleur de la peau humaine 1765) nährt Herders Suche nach der Einheit in der Vielfalt der „Humanität― (Neger-Idylle 1797) und führt in der Debatte um Polygenese und Transformismus zu pigmentokratischen Untertönen sogar bei Buffon (Variétés dans l’espèce humaine) und Kant (Von den verschiedenen Racen der Menschen). 9 Zudem sind Forster und Diderot/ Bougainville (anders als Rousseau) keineswegs der Meinung, das 7 Als Kind begleitet Forster seinen Vater Reinhold nach Kirgisien. 1772-1775 nehmen beide an Cooks 2. Südsee-Expedition teil. Die Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790 (1791-1794) entstehen während einer gemeinsamen Reise mit Alexander von Humboldt. 8 „Tu n‘es pas esclave: tu souffrirais plutôt la mort que de l‘être, et tu veux nous asservir! Tu crois donc que le Tahitien ne sait pas défendre sa liberté [...]? [...] le Tahitien est ton frère. [...]; quel droit as-tu sur lui qu‘il n‘ait pas sur toi? ― (Supplément au voyage de Bougainville (1771), „Les Adieux du Vieillard―, in: Diderot: Œuvres philosophiques. Textes établis [...] par P. Vernière, Paris, 1961, 455-516, 465-466. 9 Jean de Viguerie: Histoire et Dictionnaire du temps des Lumières, Paris, 2007, Art. Racisme. <?page no="17"?> Aufklärung und Lumières im Kontext des 18. Jahrhunderts 17 Heil liege in der grundsätzlichen Ablehnung der Zivilisation. Parallel dazu verstärkt die Mär vom Neuen Kythera die Mode der Robinsonaden und Inselutopien im Gefolge von Defoe und Swift bis hin zu Marivaux (L’Île de la raison 1727) und Bernardin de Saint-Pierre (Paul et Virginie 1788). Vor diesem Hintergrund veranstalten zahlreiche exotische Protagonisten ihren fröhlichen „Carnaval critique― in der Literatur des 18. Jahrhunderts 10 . Der Gute Wilde tritt dabei auch in Konkurrenz zu Vertretern außereuropäischer Hochkulturen (Araber, Chinesen, Inder, Perser, Türken) von Montesquieu (Lettres persanes 1721) bis Mozart (Entführung aus dem Serail 1782), Pezzl (Marokkanische Briefe 1784) u. a. 11 In Candide ou l’optimisme (1759) führt Voltaire eine ebenso groteske wie kosmopolitische Liebesgeschichte in Konstantinopel zum halbwegs guten Ende: il faut cultiver notre jardin. Auch David Fassmann (Der reisende Chineser 1727-1733) und Bernritter (Württembergische Briefe 1786) spielen mit diesem Perspektivismus. Voltaires Orient (Zaïre 1733) und Lessings Morgenland (Nathan der Weise posth. 1783) vereinigen Menschen verschiedenster Provenienz auf der Bühne. Zuweilen doppelt sich die exotische Perspektive mit der Reiseerfahrung jener Autoren, die selber ihren grand tour durch Europa oder andere Teile der Welt absolviert hatten: Gmelin (Reise durch Sibirien 1774-1778), Volney (Voyage en Syrie et en Égypte 1787), Ligne (Lettres de Crimée 1787, Erstausgabe 1801) u. a. 1773 ist Diderot in Sankt-Petersburg, 1774 beschreibt Beaumarchais im Fragment de mon voyage d’Espagne das Abenteuer in Madrid, das Goethes Clavigo (1774) inspiriert. Die Fernwirkung von Rameaus Indes galantes (1735) erreicht Madame de Graffigny (Lettres d’une Péruvienne 1747), Marmontel (Les Incas 1777) und Kotzebue (Die Sonnenjungfrau, Reval 1789; Erstausgabe Wien 1791). Aber auch die Wunderbare[n] Reisen zu Wasser und zu Lande (engl. Oxford 1783; dt.: London 1786) des Baron Münchhausen weisen in diese Richtung von Exotismus (Russland, Osmanisches Reich) und ‚Fantasy‗ avant la lettre (Ritt auf der Kanonenkugel, Mondfahrt, etc.). Zur Erfahrung der Neuen Horizonte im 18. Jahrhunderts gehört auch, dass die europäischen Kolonialmächte ihre hausgemachten Konflikte in alle Welt exportieren. In Canada, Indien und Ostasien, in Pazifik und Karibik bekämpfen sich Engländer und Franzosen ohne Rücksicht auf die Einheimischen, gleichgültig, ob es sich dabei um Autochthone oder um Mischbevölkerungen aus Indigenen, Mestizen, Kreolen und versklavten Afrikanern handelt . Groß ist der Schock, als sich im amerikanischen Unabhängigkeits- 10 Paul Hazard: La pensée européenne au XVIIIe siècle de Montesquieu à Lessing, Paris, 1963, 16. 11 Für Pezzl sind das Reich „ein politischer Klumpen― und die Kleriker die „Stinktiere des Menschengeschlechts― (Helmuth Rogge: Fingierte Briefe als Mittel politischer Satire, München, 1966, 94). - Vg. auch Pezzls Staatsveränderungen von Tretucheschei (= Teutsches Reich) u. a. Epauroischen (= Europäischen) Staaten […] (1761) und Abdul Erzerums neue persische Briefe (1787). <?page no="18"?> Hans-Joachim Lope 18 krieg zum ersten Mal ein Kolonialterritorium mit Erfolg gegen die Metropole erhebt (1776). Die Amerikanische wird zum Vorbild der Französischen Revolution von 1789. Große Beachtung findet auch der Aufstand in der Karibik (vg. Kleist: Die Verlobung in San Domingo 1810), der 1804 zur Gründung der frankophonen Sklavenrepublik auf Haiti führt. Amerika als Metapher für Freiheit und Neubeginn: Schon 1731 darf die Manon Lescaut des Abbé Prévost in der Prairie von Louisiana nicht nur in Schönheit, sondern auch in wiedergewonnener Unschuld sterben. Denkmodelle und praktische Erfahrungen Während Aufklärung und Pietismus sich im Norden des Reichs zeitweise als Verbündete erkennen, ist die Pariser Académie des Sciences um 1720 noch fest in der Hand der Cartesianer. Um 1750 hingegen sieht sich nur noch der fast 100jährige Fontenelle in dieser Tradition (Théorie des tourbillons cartésiens 1752). Die Jüngeren (Buffon, Maupertuis u. a.) huldigen jetzt Newton und dem Sensualismus, und spätestens mit La Mettrie (L’homme machine 1747) und Condillac (Traité des sensations 1754) ist Descartes mechanistisches Weltbild auch in Frankreich überwunden. Dem Sieg der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang im Reich geht im Westen eine lebhafte Debatte um das Verhältnis von Moral und Sinnlichkeit voraus. Nicht immer siegt dabei das optimistische Menschenbild. Bernards calvinistisch inspirierte Réflexions morales (³1711) reduzieren menschliches Handeln grundsätzlich auf den negativen Impuls von amour-propre und intérêt und akzeptieren die vertu keineswegs als fundamentale Gegebenheit der menschlichen Natur . Die Erziehungsdebatte wird zunächst durch Fénelons Traité de l’éducation des filles (1687; dt. August H . Francke: Über die Erziehung der Töchter 1698) bestimmt. Nach 1760 bringen dann Autoren wie La Chalotais (Essai d’éducation nationale 1763; dt. Schlözer: Versuch über den Kinderunterricht 1771), und Lesbroussart (Éducation belgique, Brüssel 1783) auch die Erziehung des politisch bewussten citoyen ins Spiel. Wie in Frankreich, wo die Querelle des anciens et des modernes im Wesentlichen schon unter Ludwig XIV. entschieden wird, trägt auch die diesbezügliche Diskussion im Reich zunächst die Züge einer Sprachdebatte. Thomasius löst sie aus, als er 1687 an der Universität Leipzig die erste Vorlesung in deutscher statt in lateinischer Sprache anbietet. Fortan argumentiert er - seit 1694 in Halle lehrend - unbeirrt gegen „Pedanterey―, „Schulfüchserey―, „Clérisey―, Folter und Hexenwahn. 12 - Und überall im Reich diskutiert man Leibniz‘ Essai de Théodicée (1710) mit seiner noch auf Voltaires Candide abfärbenden Lehre von der prästabilierten Harmonie. 12 Iwan-Michelangelo D‘Aprile/ Winfried Siebers: Das 18. Jahrhundert. Zeitalter der Aufklärung, Berlin, 2008, 39-40. <?page no="19"?> Aufklärung und Lumières im Kontext des 18. Jahrhunderts 19 Christian Wolff, seit 1707 Professor in Halle, macht sich den Pietisten am Ort spätestens 1722 mit seiner Rede über Die Sittenlehre der Sineser (Oratio de philosophiae Sinensium morali) verdächtig, in der er Konfuzius als Begründer eines perfekt funktionierenden, aber nachweislich vom Christentum unbeeinflussten Staatswesens präsentiert. Er emigriert nach Kassel und Marburg (wo Lomonossow sein Schüler wird), und kehrt erst 1740 auf preußisches Gebiet zurück. Sein Verhältnis zu den französischen philosophes bleibt zögerlich, da diese ihn weder als den unbestrittenen praeceptor generis humani akzeptieren 13 , noch seinen lateinischen Werken (Philosophia rationalis 1728, Philosophia moralis 1742, Jus gentium 1752, u. a.) den erwarteten Erfolg bescheren. - Das von Anfang an prekäre Bündnis von Aufklärung und Protestantismus 14 scheitert spätestens mit Reimarus‘ Kritik (Abhandlung von den vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion 1754) am kirchlich verwalteten Geheimwissen (Jungferngeburt, Auferstehung, Wunder etc.). Aufgeklärte Erziehungsideale inspirieren mehrere Umsetzungsversuche in die Praxis. Auf die Franckeschen Stiftungen in Halle (1774) folgen Dessau (Basedow), Schnepfenthal bei Gotha (Salzmann), Birr/ Aargau (Pestalozzi) u. a. Fellenbergs Landschulheim auf Gut Hofwil bei Bern (1799) wird gar zum Vorbild der „pädagogischen Provinz― im Wilhelm Meister (Wanderjahre II). Und nimmt man noch Baumgarten (Aesthetica 1750) und Lessing (Die Erziehung des Menschengeschlechts 1780) hinzu, wird die Tradition sichtbar, aus der am Ende der Bildungsroman der Epoche erwächst (Moritz: Anton Reiser 1785; Jean Paul: Die unsichtbare Loge 1793). Freilich: „Ici encore l‘initiative vint de France― mit Dubos (Réflexions critiques sur la poésie et la peinture 1719), Batteux (Traité sur les beaux-arts réduits à un même principe 1746) u. a. 15 . Gelebte Mehrsprachigkeit auf dem Theater Ausgehend von Lessings 17. Literaturbrief und den einschlägigen Äußerungen in der Hamburgischen Dramaturgie besitzt die „Formel von den Deutschen als Nachahmern der Franzosen― bis heute „ein gewisses Maß an fragloser Plausibilität― 16 . Demnach gelangt das Theater des grand siècle im Zuge der allgemeinen Gallophilie des 18. Jahrhunderts zu „fast unumschränkter Herrschaft―, bevor es seit den 60er Jahren im Zuge der erstarkenden deut- 13 Jean École: „Les pièces les plus originales de la métaphysique de Christian Wolff (1679- 1754), le ‘professeur du genre humain‘―, in: Werner Schneiders (ed.): Aufklärung als Mission, Marburg, 1993, 103-113. 14 Historisches hierzu bei Angela Borgstedt: Das Zeitalter der Aufklärung, Darmstadt, 2004, 38-42. 15 J.-F. Angelloz/ Jeanne Naujac: Le classicisme allemand, Paris 1975, 13-16. 16 Olav Krämer: „‗Welcher Gestalt man denen Frantzosen nachahmen solle‘. Stationen einer Jahrhundertdebatte―, in: Jens Häseler/ Albert Meier (ed.): Gallophobie im 18. Jahrhundert. Mitarbeit: O. Koch, Berlin, 2005, 61-88, 61. <?page no="20"?> Hans-Joachim Lope 20 schen ‚National‗-Literatur wieder an Einfluss verliert 17 . Als Nothelfer in diesem Emanzipationsprozess fungiert der angeblich über jede Regelbindung erhabene Shakespeare 18 . Freilich gilt diese Sichtweise nur für eine überschaubare Anzahl von Werken des kanonisierten Höhenkamm-Repertoires und weniger für das Lustspiel, da die Deutschen nun einmal, wie Ligne in den Livres rouges bezeugt, lieber über Hans Wurst als über Georges Dandin lachen 19 . Zum Leidwesen der auf lukrative Posten im Kulturbetrieb der herbeigesehnten Kulturnation hoffenden deutschsprachigen Intellektuellen zeigen vor Allem die Höfe im Reich eine große Offenheit gegenüber fremden Kultureinflüssen. Man schätzt italienische Musik und französische Malerei, man praktiziert Plurikulturalität und Mehrsprachigkeit auf der Bühne. Die diesbezügliche Kritik reduziert sich nur zu oft auf die Topoi einer populistisch gegen Modewahn und Überfremdung wetternden Hof- und Luxusschelte, die meist in dem Augenblick verstummt, in dem es gelingt, die ungeliebten Ausländer durch „honorige― Deutsche zu ersetzen. Lange bevor Norbert Elias (Die höfische Gesellschaft [1989], Frankfurt/ M. 2002) es wieder in Erinnerung ruft, weiß schon Goethe, dass es den Höfen im Reich mitnichten „an geistiger Kultur― mangelt und dass sie durchaus fähig sind, „durch Literatur und Philosophie die Geister […] auf einen hohen […] Standpunkt zu versetzen [ … ]― (Dichtung und Wahrheit 17, 4). Dass dies mehrsprachig geschieht, liegt weniger an der Entfremdung der deutschen Bildungseliten als vielmehr daran, dass man namentlich das Französische als Medium einer „fluktuierenden europäischen Kulturdistribution― erlebt, während die germanophonen Autoren nicht immer dem Verdacht entgehen, eben diese Fluktuation zugunsten der kulturnationalen Emanzipation abwürgen zu wollen 20 . Dancourt, Lesage, Marivaux und andere französische Autoren, die in der Folgezeit den Geschmack des bürgerlichen Publikums im Reich mit prägen, erleben ihre ersten Inszenierungen bei Hofe. 1732 spielt das Münchener Hoftheater Voltaires Brutus (1730) auf Französisch. Die Cénie (1751) der Madame de Graffigny kommt 1752 in Berlin und Wien auf Französisch zum Er- 17 Reinhard Meyer: „Das französische Theater in Deutschland―, in: Gerhard Sauder/ Jochen Schlobach (ed.): Aufklärungen. Frankreich und Deutschland im 18. Jahrhundert, Heidelberg, 1985, 145-166, 145. 18 Die deutsche Shakespeare-Debatte beginnt früh mit Johann E. Schlegels Vergleichung Shakespeares und Andreas Gryphs (1741). An der Diskussion beteiligen sich u. a. auch Gerstenberg (Briefe über die Merkwürdigkeiten der Litteratur 1766/ 1767), Herder (Shakespeare 1773), Lenz (Anmerkungen über das Theater 1773). 19 Jeroom Vercruysse (1994): Le paramètre européen dans les ’Livres rouges’, in: Nouvelles Annales Prince de Ligne, 8, 1994, 27-56, 36; (auch online http: / / www.chjdeligneintegral-34melanges.be/ htm/ textes.html [11.07.2016]. 20 Reinhard Meyer: „Die Entwicklung des Theaters im 18. Jahrhundert (unter besonderer Berücksichtigung des Dramas―, in: Jürgen Ziechmann (ed.): Panorama der fridericianischen Zeit, Bremen, 1985, 281-287, 285. <?page no="21"?> Aufklärung und Lumières im Kontext des 18. Jahrhunderts 21 folg, und Beaumarchais Barbier de Séville (1775) wird 1776 in Berlin gleich in beiden Sprachen aufgeführt. Oft liefern diese Inszenierungen wichtige ästhetische Impulse und „dringend benötigte Formulierungshilfen― 21 : Beaumarchais (Essai sur le genre dramatique sérieux 1767), Diderot (Paradoxe sur le comédien 1769), Mercier (Du théâtre ou nouvel essai sur l’art dramatique 1773), Ligne (Lettres à Eugénie 1772/ 1774). Dank Lessings Übersetzung (1760) des Discours sur la poésie dramatique, des Fils naturel und des Père de famille befeuert vor Allem Diderot die Debatte . Er plant nicht nur eine Übertragung der Miss Sarah Sampson, sondern diskutiert auch die in beiden Ländern kontroversen Begrifflichkeiten von clarté, émotion, génie, goût, raison und sentiment Ŕ bis hin zur klassischen Trias vom Guten, Wahren und Schönen und zur Goethe präludierenden Debatte um Dichtung und Wahrheit 22 . Der Rückgang der französischen Theater im Reich nach 1763 ist in jedem Einzelfall zu überprüfen, denn nicht immer ist die Kulturnation im Spiel, wenn irgendwo ein frankophones Hoftheater aufgelöst oder durch italienische oder englische Künstler ersetzt wird. In den Fällen, in denen deutschsprachige Truppen in diese Lücken stoßen, geschieht das oft mit dem Anliegen, Kultur fortan nicht mehr nur ad majorem principis gloriam zu betreiben, sondern als des „sittlichen Bürgers Abendschule― mit volkspädagogischem Anspruch 23 . Schon 1953 bewertet Laaths auch Lessings Rolle in dieser Debatte eher zögerlich und „kann sich einer gewissen Bestürzung nicht erwehren, bei dem sonst so klarsichtigen Mann die […] Bemerkung zu lesen, dass es kein Drama Corneilles gäbe, welches besser zu machen er sich nicht getraue― 24 . Imitatio und Aemulatio „Nicht nur Journalisten verwechseln gerne […] Zielgruppe und Volk―, auch Literaturwissenschaftler laufen zuweilen Gefahr, „die Deutschen den Franzosen […] wie zwei Fußballmannschaften einander gegenüberzustellen― 25 . Noch Metzlers Deutsche Literaturgeschichte ( 8 2013: 167) betitelt im Kapitel 21 Meyer: „Das französische Theater […]―, in: Sauder/ Schlobach (ed.), 1985, 163. 22 „[…] le vrai est le père, […], le bon […] est le fils, […] le beau […] est le saint-esprit.― - „Le philosophe veut être vrai. Le poète veut être merveilleux. Si l‘image est en même temps fidèle et surprenante, l‘auteur est en même temps philosophe et poète― (Diderot, Kommentar zu F. Hemsterhuis: Lettre sur l’homme et ses rapports avec le commentaire inédit de Diderot [1774], texte établi, […] et annoté par G. May, New Haven, 1964, 24). 23 Hilde Heider-Pregler: Des sittlichen Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch und Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jahrhundert, München, 1980, 34-68. 24 Erwin Laaths: Geschichte der Weltliteratur, Bindlach, 1988, 469. (Erstauflage: München 1953). 25 Gonthier-Louis Fink: „Die französische Monarchie und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation - Die gegenseitige Bespiegelung des janusköpfigen Nachbarn 1670- 1780―, in: Häseler/ Meier (ed.), 2005, 159-193, 159. <?page no="22"?> Hans-Joachim Lope 22 Aufklärung einen Unterpunkt mit Das deutsche Theater holt auf, gerade so als handele es sich um einen 100-m-Lauf. Auf der Suche nach der Nation als „literarischer Raum― 26 erklärt die zeitgenössische Reformdebatte sowohl das französischsprachige „Hoftheater― als auch das deutschsprachige „Pöbeltheater― für unvereinbar mit den Bestrebungen der kulturnationalen Bildungselite 27 . Unklar ist dabei zunächst, ob diese Suche sich auf das Reich als Ganzes (Moser: Von dem deutschen Nationalgeist 1766), einzelne Territorien (z . B. Friedrichs Preußen) oder - wie in Mösers Patriotischen Phantasien (1765) - auf die gefühlte Spracheinheit im Herzen Europas beziehen soll. Aus Schweizer Sicht ist ein solcher Sprachpatriotismus ohnehin nicht mehr „als die Liebe eines Esels zu seinem Stall― 28 , und das Zusammenrücken alemannischer und frankophoner Eidgenossen in der société helvétique von 1761 dient sichtbar der Stärkung eines die Sprachbarriere überwölbenden esprit suisse. Zwar sucht die Suisse alémanique in der „Litteratur― zu Recht ihren Platz im deutschen Sprachraum, doch bleibt es dabei, dass die Conföderation „in Absicht auf moralische und politische Verfassung von Teutschland ungemein abweicht― 29 . Im Hinblick auf die deutsche Bühnendebatte empfiehlt der Leipziger Professor, Voltaireleser und Fontenelle-Übersetzer Gottsched: Wir Deutschen müssen uns so lange mit Uebersetzungen aus dem Französischen behelfen, bis wir werden Poeten bekommen, die selber was Regelmäßiges machen können. 30 Imitatio als Vorstufe der aemulatio: So jedenfalls hoffen es Gottsched, seine Frau Luise Adelgunde Victorie 31 und die Schauspielerin und Intendantin Caroline Friederike Neuber (die Neuberin), deren Truppe die Reformarbeit bis 1741 begleitet. Wichtige Text-Übertragungen - Corneille, Molière, Racine, Voltaire u. a. - erscheinen in Die Deutsche Schaubühne nach den Regeln der alten Griechen und Römer eingerichtet (6 vol., 1740-1745) und dienen mittelfristig der Überwindung der traditionellen Zoten, Farcen und Hanswurstiaden. Französisch schreibende Autoren ermutigen diesen Ansatz ausdrück- 26 D‘Aprile/ Siebers 2008: 41-43. 27 Stephan: „Aufklärung―, in: (Metzlers) Deutsche Literaturgeschichte, 8 2013, 160. 28 Johann Georg Zimmermann (1980): Vom Nationalstolz. Über die Herkunft der Vorurteile gegenüber anderen Menschen und Völkern, [Zürich 1768, 4 1787), Hgg. G. Blumer/ A. Messerli, Zürich, 1980, 144. 29 Johannes B. Bürkli: Neue Schweizerische Blumenlese, enthält sinnreiche Sprüche für alle Stände zur Erbauung, Zürich, 1780 - Vorrede. 30 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst, Leipzig, 1751. - Reprint: Darmstadt 1977, 602. 31 Die Gottschedin schrieb selber Komödien: Die ungleiche Heyrath (1743) löst das Dilemma von Molières Georges Dandin, indem der bürgerliche Bräutigam am Ende auf die adlige Braut verzichtet. Die Pietisterey im Fischbein-Rocke (1736) ist ein Frontalangriff auf die Bigotterie pietistischer Milieus. <?page no="23"?> Aufklärung und Lumières im Kontext des 18. Jahrhunderts 23 lich 32 , und so entsteht 1744 - im Rückgriff auf Voltaire (Henriade 1724) und Baculard d‘Arnaud (Coligny 1740) - Gottscheds Parisische Bluthochzeit zum Thema der Bartholomäusnacht. Auch Gellert macht jetzt französische Modelle im Reich verfügbar, z.B. in dem der comédie larmoyante nachempfundenen Rührstück Die zärtlichen Schwestern (1745). Seine diesbezüglichen Überlegungen hält er in lateinischer Spache (Pro comœdia commovente 1751) fest. Doch schon bald konterkariert Gotthold E. Lessing diese Reformen, indem er Gottsched zu Unrecht eine völlig unkritische Gallomanie unterstellt und sich selbst zum Sprachrohr eines kompromisslosen Wir-oder-Die- Denkens stilisiert. Für ihn unterliegt es keinem Zweifel, dass wir (= die Deutschen) „mehr in den Geschmack der Engländer, als der Franzosen einschlagen― und dass wir auf unseren Bühnen mehr erleben wollen als das „französische Trauerspiel― (Literaturbrief, 28. 4. 1749) uns bietet 33 . Die Versailles- Klassik ist veraltet und einen Ausweg weist nur der noch viel ältere Shakespeare 34 . Und schon bald exemplifiziert Lessing seine Reform-Vorstellungen in einer Reihe richtungsweisender Meisterdramen aus eigener Feder: Minna von Barnhelm 1767, Emilia Galotti 1772, Nathan der Weise 1779. Dabei gerät ihm freilich die gegen Ende der Minna auftretende Figur des Riccaut de La Marlinière zur folgenschweren kulturnationalen Entgleisung 35 , liefert sie doch das jederzeit abrufbare Negativklischee des Nachbarvolks und erlaubt es Generationen chauvinistischer Oberlehrer, einen üblen Aufschneider da auszumachen, wo sehr wohl zu unterscheiden wäre, ob der Franzose dem Deutschen des 18 . Jahrhunderts als haltloser Glücksritter, Glaubensflüchtling oder, wie Voltaire, als in der Heimat verfemter Intellektueller begegnet 36 . Doch reißt Lessings Dialog mit Frankreich deswegen nicht ab. Seine 32 Cf. Krämer: „Welcher Gestalt man denen Frantzosen nachahmen solle―, in: Häseler/ Meier (ed.), 2005, 61-88. 33 G. E. Lessing: Briefe, die neueste Literatur betreffend, Leipzig, 1987: „Seine […] Verbesserungen […] sind wahre Verschlimmerungen. […]. […] er […] wollte nicht sowohl unser altes Theater verbessern, als der Schöpfer eines ganz neuen sein. Und was für eines neuen? Eines französisierenden; ohne zu untersuchen, ob dieses […] der deutschen Denkungsart angemessen sei, oder nicht― (17. Literaturbrief, 16. 2. 1759). 34 Zu den frühen Initiatoren der diesbezüglichen Debatte in Frankreich gehört bekanntlich Voltaire: „Les monstres brillants de Shakespeare plaisent mille fois plus que la sagesse moderne― (Lettres philosophiques ou Lettres anglaises [1734], éd. R. Naves, Paris, 1988, 109). 35 Ruth Florack: „‗… nicht gewohnt zu fliehen vor des Franzmanns leerem Wind‘. - Zu nationalen Stereotypen in Dichtung und Flugschriften―, in: Wolfgang Adam/ Holger Dainat (ed.): ’Krieg ist mein Lied’. Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Medien, Göttingen, 2007, 65-87. Hier bes. 71. - Nina Birkner: „Der ‘närrische‘ Franzose. Zur Funktion des kulturnationalen Stereotyps im Lustspiel des 18. Jahrhunderts―, in: Heitz/ Mix/ Mondot/ Birkner (ed.), 2011, 181-194. 36 Jens Häseler: „Französisch sein im Deutschland des 18. Jahrhunderts Fluch oder Privileg? ―, in: Häseler/ Meier (ed.), 2005, 221-231. <?page no="24"?> Hans-Joachim Lope 24 Fabeln (1759) erneuern den Dialog mit La Fontaine, die Hamburgische Dramaturgie äußert sich weiterhin kompetent zu Nivelle de La Chaussée (26. Juni 1767), Marivaux (30. Juni), Régnard (4. Aug.) u. a. Selbst Voltaire bekommt am Ende noch ein versöhnliches Epitaph. 37 Aufmerksam verfolgt man in Frankreich die deutsche Literaturdebatte. Insofern gehört die Bibliothèque germanique (seit 1720) ebenso in die Vorgeschichte von Madame de Staël (De l’Allemagne 1810), wie Huber (Choix de poésies allemandes 1766), Hérissart (Observations historiques sur la littérature allemande 1781) und Bonneville (Le nouveau théâtre allemand 1782; Choix de petits romans tiré de l’allemand 1786). Grimm weiß es schon 1762: „Si l‘on avait parlé à Paris, il y a douze ans, d‘un poète allemand, on aurait paru bien ridicule. Ce temps est bien changé― (Correspondance littéraire, 1. 1. 1762). 38 1776 erscheint Goethes Werther auf Französisch, es folgen Lessings Hamburgische Dramaturgie (1785), Schillers Räuber (1785), Gessners Idyllen (1786) u. a. In seinem Artikel Zum Shäkespears Tag (1771) begeistert Goethe sich für den Mann aus Stratford-on-Aven, doch entschließt er sich schon bald, seinen in diesem Sinne stark überzogenen Götz klassisch zu dämpfen. Später übersetzt er - nach Diderots Neveu de Rameau (1762) 39 - Voltaires Mahomet und die Chöre aus Racines Athalie (1805). Schiller überträgt 1785 die Episode um Mme de la Pommeraye aus Jacques le fataliste (1778) als Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache ins Deutsche und ruft nach seiner Sturm-und-Drang- Phase erneut den Geist der französischen Klassik zur Hilfe: „Er komme […] zu reinigen die entweihte Szene― (An Goethe, als er den Mahomet von Voltaire auf die Bühne brachte). Zu Schillers letzten Werken gehört die meisterhafte Übertragung (1805) von Racines Phèder. 40 Während man sich im Reich über das grand siècle streitet, diskutiert man in Frankreich längst die radikaleren Facetten der Aufklärung. Die deutsche Voltaire-Rezeption wird u. a. dadurch behindert, dass die Kirchenkritik des 37 Grabschrift auf Voltaire 1779; in: Werke I, Darmstadt, 1970, 54: Hier liegt - wenn man euch glauben wollte, Ihr frommen Herrn! - der längst hier liegen sollte. Der liebe Gott verzeih aus Gnade Ihm seine Henriade Und seine Trauerspiele Und seiner Verschen viele; Denn was er sonst ans Licht gebracht, Das hat er ziemlich gut gemacht. 38 Dieses und weitere Beispiele bei Wolfgang Leiner: Das Deutschlandbild in der französischen Literatur, Darmstadt, 1989, 80. 39 Da Diderots Original-Manuskript des Neveu bis 1891 verschollen war, wurde Goethes Text zur Grundlage der Rückübersetzung ins Französische durch Saur und Saint-Geniès (1821). 40 Gilles Darras: „Schiller et la France―, in: Heitz/ Mix/ Mondot/ Birkner, 2011, 127-139, 128-129. <?page no="25"?> Aufklärung und Lumières im Kontext des 18. Jahrhunderts 25 Franzosen auch den Protestantismus nicht verschont, und Montesquieus Lettres persanes liest man hier oft eher als Zeugnis satirischer Distanznahme denn als massive Attacke auf Despotie und sexuelle Repression. Mendelssohns Übersetzung (1756) ist sichtbar um die Dämpfung der Zivilisationskritik in Rousseaus Discours sur l’inégalité bemüht, und den Contrat social (1756) diskutiert man vertieft erst nach 1789. Die Profession de foi du vicaire savoyard im Émile (1762) stößt (außer bei Goethe und Wieland) eher auf Ablehnung. 41 Und als Goethe 1782 die Confessions zur Hand nimmt, bleibt seine Begeisterung („Welch ein Geschenk für die Menschlichkeit―, Brief, 9. 5. 1782) nicht unwidersprochen. Jacobi: „Gewiss war Rousseau schon halbwahnsinnig, da er dieses Buch schrieb― (Briefwechsel: 356). 42 In diesen Jahrzehnten überleben sich auch die überkommenen Kleinformen der französischen Lyrik, so dass Klopstock sie leicht als Zeugnisse „französischer Flüchtigkeit― und „Witzelei― abtun kann. 43 In Mode bleiben zunächst Lesage, Prévost, Marivaux, Perrault, Marmontel und Cazotte (Le diable amoureux 1776). Wielands Agathon (1766/ 67) und Goethes Werther (1774) bezeugen das ungebrochene Prestige Crébillons (Les égarements du cœur et de la raison de M. De Meilcourt 1748), und eine neue Generation begeistert sich für Fielding und Richardson, Restif de La Bretonne, Laclos (Les liaisons dangereuses 1782) und Mercier. Weitere Veränderungen vollziehen sich nach 1789, als der Adel sich von Frankreich lossagt, während andere die neuen Franken als Brüder im Geiste begrüßen. Campe, Clovestoque (Klopstock) und Gille (Schiller) werden jetzt Ehrenbürger der Revolution. Quietismus und kalvinistische Mystik Einen besonderen Beitrag zur Überwindung der konfessionellen apartheid im Reich leistet Gerhard Tersteegen mit der Folge, dass die reformierte Amtskirche ihm 1740 für 10 Jahre jede Predigertätigkeit untersagt. Tersteegen ist der Erneuerer des evangelischen Chorals im 18. Jahrhundert (Jauchzet ihr Himmel, Gott ist gegenwärtig, Ich bete an die Macht der Liebe) und wahrscheinlich - nach Luther und Gerhardt - der dritte große Liederdichter des deutschsprachigen Protestantismus überhaupt. In Moers am Niederrhein 44 41 Fink: „Der Einfluss der französischen Aufklärung auf das literarische Deutschland―, in: Ziechmann (ed.), 1985, 204-210, 207. 42 Friedrich Heinrich Jacobi: Auserleser B chsel, Leipzig, Fleischer, 1825-1827, 356. 42 Fink: Der Einfluss…, in: Ziechmann (ed.), 1985, Briefwechsel, Leipzig, Fleischer, 1825- 1827, 356. 43 Fink: Der Einfluss…, in: Ziechmann (ed.), 1985, 209. 44 Die Grafschaft Moers fiel 1702 durch Erbfolge an Preußen. - Tersteegens Stellung in der deutschen Lyrik der Zeit umreißt Gerhard Kaiser: Aufklärung Ŕ Empfindsamkeit Ŕ Sturm und Drang, Tübingen-Basel, 6 2007, 33-38 (mit Hinweisen zu Lavater, Schönaich, Zinzendorf u. a.). <?page no="26"?> Hans-Joachim Lope 26 geboren und mit drei Sprachen (französisch, niederländisch, deutsch) aufgewachsen, erwirbt er die Bibliothek Peter Poirets und schreibt nach der Lektüre der Pratique de la vraye Théologie mystique (1709) sein Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen (1729). In der Tradition des Hortulus mystico-poeticus stehend bezieht dieser Gedichtband sich deutlich auf die Poésies et cantiques sur divers sujets qui regardent la vie intérieure, ou l’Esprit du vrai christianisme (1722) der unter Louis XIV inhaftierten Quietistin Jeanne Marie Bouvier de La Mothe-Guyon, deren Locke Tersteegen in einem Medaillon stets bei sich trägt. Tersteegens Übersetzung der Poésies et cantiques ist das Werk eines poeta doctus von Rang: 45 Ein ungesuchter Trieb kam neulich in mich dringen Zur ungelegnen Zeit, weil Kopf und Augen blöd, Was hier Frau Guion schreibt, sollt ich ins Deutsche bringen; Ich that, was ich gekonnt, ich konnte, was hier steht. Ob mein Verdeutschen treu, kann jeder selber sehen, Wenn er Französisch und der Liebe Sprache kann; Ein wenig muss er auch die Reimenkunst verstehen. Doch heißt es Gott nur gut, dann hab ich‘s gut gethan… 46 Wie Pascal 1654 in einem Moment mystischer Ekstase sein Mémorial abfasst („Certitude. Certitude. Sentiment. Joie. Paix―), so verpflichtet Tersteegen sich 1724 in einer eigenartigen Blutverschreibung, seinem „Seelenfreund― Jesus ewig in „keuscher, jungfräulicher Liebe […] anzuhangen―. Pascals pari entspricht bei Tersteegen die Lotterie der Frommen (Blumengärtlein 591). Das cujus regio ejus et religio ist für ihn keine Sache der res publica litteraria. Zwar hat die „herrschende römische Kirche― den französischen Quietisten übel mitgespielt. Aber, so fügt Tersteegen im kritischen Blick auf die Reformierten hinzu: „wolle Gott, dass sie es allein wäre― (Lebensbeschreibungen, t. I: 20). 47 Seine Übersetzungen zeigen ihn als Vertreter einer intelligenten Ökumene und als polyglotten Europäer. 48 Und als er im Jahr 1762 die Œuvres du 45 Die heilige Liebe Gottes und die unheilige Naturliebe. Nach ihren unterschiedlichen Wirkungen in 44 anmuthigen Sinnbildern und erbaulichen Versen vorgestellt. Aus dem Französischen der Mme J.M. de la Mothe Guion treulich verteutschet, und mit Ferneren Betrachtungen aus ihren […] Schriften erläutert von G. T. St., Mühlheim (sic) am Rhein (= Ruhr). 46 Hans-Jürgen Schrader: „Hortulus mystico-poeticus. Erbschaft der Formeln und Zauber der Form in Tersteegens ‘Blumengärtlein‘―, in: Manfred Kock (ed.): Gerhard Tersteegen. Evangelische Mystik inmitten der Aufklärung, Köln, 1997, 47-76, 59. 47 Gerhard Tersteegen: Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen mit der frommen Lotterie und einem kurzen Lebenslauf des Verfassers. […], Stuttgart, 17 1988 (nach der Ausgabe Essen: Bädeker 1847), id.: Auserlesene Lebensbeschreibungen heiliger Seelen [1786], 3 vol., Nachdr. Utikon-Waldegg, 1984. 48 U. a.: Jean de Labadie: Manuel de piétié Ŕ Handbuch der Frömmigkeit; Jean de Bernières- Louvigny: Le Chrétien intérieur Ŕ Das verborgene Leben mit Christo in Gott. - Beide Werke erscheinen anonym. <?page no="27"?> Aufklärung und Lumières im Kontext des 18. Jahrhunderts 27 philosophe de Sanssouci in die Hand bekommt, kritisiert er Friedrichs materialistische Tugendlehre als eine „elende Philosophie― (Gedancken über die Wercke des Philosophen zu Sanssouci) 49 . Im 7jährigen Krieg meidet er antifranzösische Untertöne und begegnet den als Verbündete des Kurfürsten Karl- Theodor im Lande befindlichen französischen Soldaten mit Offenheit und im Sinne einer allzeit aufbruchsbereiten ecclesia viatorum: Die frantzosen haben mir […] manche gute lection […] gegeben. […]. Vor etlichen tagen erzählte mir einer, wie sie schon 2 Monate auf dem Marsch gewesen […]. Ich sagte, ihr habt ja wol eine miserable Lebens-art, Worauf er mir diese schöne pilger-lection zur Antwort gab: Wir müssen unserm Könige gehorsam seyn. Mögte auch dieser redliche sinn die richtschnur unseres […] Verhaltens seyn, dass wir mit Wahrer Vergessung […] unseres wohl oder Weh […] uns nur schmiegen mogten nach dem Winck und führung unsers Königs, […], worin auch gewiss unsere seligkeit hier und ewig mit eingeschlossen ist. 50 Enzyklopädien in Deutschland und Frankreich Die Popularisierung von Wissen ist ein Grundanliegen der Aufklärung. Das beweisen nicht zuletzt die großen Lexika und Realwörterbücher der Zeit. Im deutsch-französischen Bereich sind dies besonders Zedlers Universallexicon und Diderots Encyclopédie. Sie liefern Informationen zu allen möglichen Wissensgebieten, die sich am Ende, so Diderot, zu einem alphabetisch geordneten „tableau général des efforts de l‘esprit humain― zusammenfügen (Prospectus). Historisch verweist dieser Anspruch auf den antiken enkyklios paideía und auf die Summae aus Spätantike und Mittelalter: Isidor von Sevilla, Hrabanus Maurus, Vincent von Beauvais u. a. Spätestens seit Alsteds Scientiarum omnium Encyclopedia VII tomis distincta (1630) steht der Begriff Enzyklopädie dann für ein Sammelwerk, dessen Gliederung in überschaubare Sachartikel eher der Kurzinformation zum jeweiligen Stichwort als dem übergeordneten Zusammenhang dient. Hier gehen Moréri, Bayle, Furetière, die Jesuiten von Trévoux, das Journal des Savants und die Leipziger Acta eruditorum voraus. Das umfangreichste aller bis dato publizierten Werke dieser Art ist das zunächst von Ludewig, später von Frankenstein, Longolius und anderen herausgegebene Große[s] vollständige[s] Universal-Lexicon . Bis heute wird es 49 Bei Friso Melzer: Kirche und Literatur. Geschichte der evangelischen Literaturkritik, Gütersloh, 1933, 13-34. 50 Gustav-A. Benrath: „Gerhard Tersteegen in seiner Zeit―, in: Kock (ed.), 1997, 7-22, 20, An Arnold Goyen. <?page no="28"?> Hans-Joachim Lope 28 nach seinem Verleger Johann H. Zedler als der Zedler bezeichnet 51 . Das Werk enthält an die 284000 Sachartikel. 52 Über die „Frantzosen― erfährt man, dass sie dank der fränkischen Wurzeln ihrer Adelskaste „ursprünglich eine Teutsche Nation― sind und dass ihr König über eine beachtliche Armee verfügt, „wiewohl […] seit Vertreibung derer Hugonotten an dieser Rechnung etwas abgehen mag― (Art. Franckreich). Manche Deutsche sind wahre „Affen der Frantzosen― (Art.: Naturell der Voelcker) und der Zustand der Wälder im Reich lässt befürchten, es könne dem Land dereinst an „wildem Holze― mangeln (Art . Wald). Der längste Artikel betrifft Christian Wolff (349 Spalten). Das französische Gegenstück zum Zedler ist die mit den Namen Diderot und D‘Alembert verbundene Encyclopédie des Pariser Verlegers Le Breton 53 , dem ursprünglich eine französische Bearbeitung von Chambers Cyclopædia (London 1728, 5 1746) vorschwebt. Die Grundkonzeption des Werks beruht auf einem Système figuré des connaissances humaines, das den menschlichen Verstand (entendement) in mémoire, raison und imagination unterteilt und diesen Rubriken jeweils die Tätigkeitsbereiche histoire, philosophie und poésie zuordnet. Einbildungskraft, Inspiration und Künstlertum stehen somit gleichberechtigt neben ratio und memoria 54 . Die Encyclopédie erscheint von 1751 bis 1772 in Paris in 28 Folio-Bänden. Elf davon enthalten handwerks- und technikgeschichtlich wegweisende planches. Es folgen ein Supplément (5 vol.) in Amsterdam (1776-1777) und eine Table analytique et raisonnée des matières in Paris (2 vol. 1780). Spätere Editionen (Genf 1777; Lausanne 1778; Yverdon 1770-1780) ordnen die Suppléments alphabetisch in das Gesamtwerk ein. Für den Erfolg des Unternehmens - an die 72000 Artikel - spricht die Tatsache, dass die beteiligte société de gens de lettres kollektiv als les encyclopédistes in die Literaturgeschichte eingeht. Den Zedler würdigt Diderot als „la grande Encyclopédie allemande―, die er für seine eigene Arbeit nutzt (Art. 51 Johann Heinrich Zedler (ed.): Große[s] vollständige[s] Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert wurden […], 64 vol. 4 Supplement-Bde., Halle/ Leipzig, Gleditsch, 1732-1754. - Reprint: Graz, 1964. 52 Cf. Jürgen Voss: „Deutsche und französische Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts―, in: Schneiders (ed.), 1993, 238-247. 53 Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une Société de Gens de Lettres. Mis en ordre et publié par M. Diderot [...] et [...] par M. D‘Alembert [...]. Paris : Briasson, David, Le Breton, Durand; puis Neuchâtel, S. Fauche 1751-1765, 17 vol. In-fol (plus les planches). - Reprint: Stuttgart-Bad Cannstatt, 1966/ 1967. 54 „L‘entendement ne s‘occupe de ses perceptions que de trois façons [...]: La Mémoire, la Raison, l‘Imagination [...]. D‘où résulte une distribution générale de la connaissance [...] en Histoire [...], Philosophie [...] et [...] Poésie [...]. Nous rapporterons l‘architecture, la musique, la peinture, la sculpture, la gravure, etc., à la Poésie; car il n‘est pas moins vrai de dire du peintre qu‘il est un poète [...] et du sculpteur ou graveur qu‘il est un peintre en relief ou en creux, que du musicien qu‘il est un peintre par le son― (D‘Alembert: Discours préliminaire). <?page no="29"?> Aufklärung und Lumières im Kontext des 18. Jahrhunderts 29 Encyclopédie). Grimm, der seit 1748 in Paris lebt, spielt hier die Rolle des Vermittlers. Nach den vorbereitenden - durch Diderots Haftzeit in Vincennes unterbrochenen - Arbeiten der Jahre 1746-1749, erscheint 1750 ein Prospectus, der das Unternehmen ankündigt und insgesamt 4255 nationale und internationale Subskriptionen bewirkt. Bei einem Preis von 980 livres pro Exemplar bedeutet das eine Summe von fast 4,17 Mio livres. Seit 1759 steht das Werk auf dem Index, doch ist das damit verbundene Publikationsverbot in Frankreich nicht durchzusetzen. Die Publikation geht auf der Basis einer permission tacite weiter, auch wenn Le Breton fortan zur Sicherheit mit Samuel Fauche aus Neuchâtel einen falschen Drucker angibt. Unter den Mitarbeitern der Encyclopédie finden sich einige der bekanntesten Literaten der Zeit: Montesquieu, Rousseau, Voltaire u. a. Die philosophische Grundtendenz bestimmen Helvétius, Condillac, Holbach und der Beccaria-Jünger Morellet. Diderot liefert an die 1000 Beiträge (Génie, Tabac, etc.), D‘Alembert den kämpferischen Artikel Genève. Unermüdliche Kleinarbeit leisten Jaucourt (Naturkunde, Jura), Daubenton (Anatomie, Medizin) und La Condamine (Geografie, Mathematik). Die Artikel von Quesnay und Turgot stehen am Ursprung der modernen Volkswirtschaftslehre. In der Tendenz dem Zedler vergleichbar ist Buffons Beitrag über die französischen Wälder: „Le bois était autrefois très-commun en France, maintenant il suffit à peine aux usages indispensables, […]― (Art.: Bois sur pied). Interessant bleiben die Artikel zur politischen und kulturellen Situation im Reich 55 und die selbstkritischen Töne im Artikel Allemagne: „[...] indépendamment de notre argent, nous avions laissé en Allemagne nos goûts et nos vices, ceux-ci y resteront, l‘autre nous est déjà rentré―. Trotzdem verkauft sich die Encyclopédie im Reich nur zögerlich, wobei sich die Ingenieure von Freiberg und Clausthal sehr viel leichter tun als die Schöngeister in Weimar, Jena oder Leipzig. Im Spannungsfeld von Universalismus und ‚Kulturnation‘ „Nommez-moi un esprit créateur sur votre parnasse: [...], nommez-moi un poète allemand qui ait tiré de son propre fond un ouvrage de quelque réputation; je vous en défie―. Mit diesem Satz äußert sich Jacob Éléazar Mauvillon 56 zum Zustand der deutschen Literatur und präzisiert an anderer Stelle: ―Que manque-t-il donc à l‘Allemagne pour produire de grands poètes? Rien 55 Klaus Malettke: „Altes Reich und Reichsverfassung in der französischen Encyclopédie―, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 9, 1987, 489-504. 56 Jacob Éléazar Mauvillon: Lettres françaises et germaniques ou Réflexions militaires, littéraires et critiques sur les Français et les Allemands, (Arkstee) - Leipzig (Merkus), 1740, 362. - Das Werk trägt die irreführende Ortsangabe A Londres. <?page no="30"?> Hans-Joachim Lope 30 que de l‘esprit―. 57 Die durch konfessionelle, dialektale und politische Partikularismen gegängelte deutsche Sprache bezieht sich überwiegend auf Lokales und Regionales und eignet sich noch kaum als Trägerin von Botschaften nationalen oder gar universalen Anspruchs. Der Ausbau einer Kulturmetropole nach Pariser Vorbild und die Gründung einer der Académie française vergleichbaren Kultur-Institution erscheinen unter diesen Umständen illusorisch. 58 Voltaires Voyage à Berlin und der Essai sur les mœurs enthalten neben vielen Sachinformationen auch die altbekannten Klischees über die Deutschen und ihre wieder einmal an der Germania horrida et frigida des Tacitus gemessene Heimat. 59 Luthers Fäkalsprache 60 und das im Candide nach Kräften verballhornte Idiom der Kutscher und Krautjunker beherrschen den Sprachalltag des Reisenden, was insofern erstaunt, als Voltaire, der perfekt Englisch schreibt und spricht, dem Anderen bei anderer Gelegenheit sehr viel offener begegnet. Offenbar erstickt der frankophone cordon, der seinen Star im Reich umlagert, jedes spontane Interesse für das bereiste Land: „On ne parle que notre langue. [...]. Je trouve des gens élevés à Koenigsberg qui savent mes vers par cœur― (Brief 24.10 . 1750) 61 . Viele französische Autoren der Zeit (Mirabeau, Montesquieu u. a.) kennen das Reich aus eigener Anschauung, was in umgekehrter Richtung (Kant, Lessing, Wolff u. a.) eher selten zutrifft. Montesquieus Voyage de Gratz à La Haye (1728) beschreibt u. a. Braunschweig, Köln und Mannheim und begreift das Reich trotz regionaler Unterschiede klar als Einheit mit der Hauptstadt Wien. Mirabeaus Histoire secrète de la Cour de Berlin (1787) zeigt hingegen eher preußische als deutsche Verhältnisse. Und Riesbecks Briefe eines reisen- 57 Ibid., (ibid. 345-346). - Masson de Morvilliers ganz ähnlich motivierte Frage „Que doiton à l‘Espagne? ― (Encyclopédie méthodique 1782) bewirkt bekanntlich eine internationale Polemik, die u. a. auch die Berliner Akademie erreicht (Hans-Joachim Lope: „¿Qué se debe a España? La polémica en su contexto europeo―, in: Jesús Cañas/ Miguel Á. Lama (Eds.): Juan Pablo Forner y su época, Mérida, 1998, 401-416. 58 Roland Krebs: „Les Lettres françaises et germaniques de Mauvillon et leur réception en Allemagne―, in: Dix-huitième siècle 14, 1982, 377-390. Hier: 380: „Pourquoi Bavarois, Autrichiens ou Suisses devraient-ils se plier aux règles édictées par une société sans statut officiel […]? [...] la division [...] de l‘Allemagne voue à l‘échec toute tentative de véritable unification linguistique, ce qui constitue un obstacle évident au développement d‘une littérature nationale. Sans capitale politique et culturelle [...] l‘Allemagne […] semble condamnée à rester une mosaïque de provinces.― 59 ―[…], j‘ai traversé les [...] tristes, et stériles campagnes de la Vestphalie. [...]. Dans de grandes huttes, [...] on voit des animaux qu‘on appelle hommes, qui vivent [...] pêlemêle avec d‘autres animaux domestiques―, Voltaire: „Voyage à Berlin―, in: Œuvres complètes, t. XVI, 1968, Genève/ Oxford, 144 (bei Leiner 1989, 190). 60 „Luther, avec ces bassesses [...] triomphait dans son pays de toute la politesse romaine― (Essai sur les mœurs II; Leiner: 62). 61 Bei Leiner 1989, 259. <?page no="31"?> Aufklärung und Lumières im Kontext des 18. Jahrhunderts 31 den Franzosen über Deutschland an seinen Bruder zu Paris (1783) 62 stammen gar nicht von einem französischen sondern von einem deutschen Autor, der sich als Franzose ausgibt. Auch er sieht Wien als Kapitale, betont jedoch, dass im Bereich der „Wissenschaften und Künste― nunmehr Berlin „die erste Stadt― im Reich sei (220) - und zugleich die permissivste, wie sein Berliner Sittenspiegel andeutet (224-231). „[…] l‘Allemagne n‘est pas un païs où un étranger puisse être tenté de s‘arrêter: il ne faut que la parcourir― schreibt Pilati di Tassulo. 63 Und in Collinis Lettres sur l’Allemagne liest man: [...] ce pays qui offre beaucoup d‘avantages au voyageur, tant du côté de l‘ordre, que de la police et du travail, ne peut offrir aucun agrément à l‘Étranger qui seroit intentionné d‘y faire un long séjour, ou de s‘y établir [...]. L‘Etranger reste toujours étranger en Allemagne, y séjournât-il 50 ans. 64 Alles, was bei den Nachbarn „simple, noble et naturel― ist, halten die Deutschen per se für oberflächlich und wertlos. 65 Jede Nation macht sich eben selbst zum „Maßstabe der Vollkommenheit― (Sonnenfels: Ueber die Liebe des Vaterlandes 1771). 66 Deutsche Berichte über Frankreich sind oft französisch verfasst, wie z.B. die Lettres des Baron von Pöllnitz (um 1730; Ausg. A. Savine, Paris 1909), die Mémoires von J.G. Wille (éd. G. Duplessis, 2 vol., Paris 1857) oder auch Christian von Mannlichs Histoire (hg. K.-H. Bender/ H. Kleber, Trier 1989) mit ihren ‗Interviews‗ zu Beaumarchais, Fragonard und Gluck und ihrer kultur- und modegeschichtlich interessanten Schilderung einiger aventures amoureuses im Umfeld der Pariser Oper. Straßen-, Kanal- und Postverbindungen sind in Frankreich besser als im Reich. Moderne Dampfmaschinen, Erz- und Kohlegruben stehen im Kontrast zur Verelendung ganzer Landstriche. Paris ist Hexenkessel und Faszi- 62 Johann Kaspar Riesbeck (s.d.): Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland an seinen Bruder zu Paris [1783], hgg. und bearbeitet von W. Gerlach, Zürich, Buchclub Ex Libris, s.d. 63 Carlo Antonio Pilati di Tassulo: Voyages aux différents pays de l’Europe en 1744, 1755 et 1776, 2 vol., La Haye, Benot, 1777, t. I : 92. 64 Cosimo Alessandro Collini: Lettres sur les Allemands [1770], Hamburg, 1790. - Klaus Heitmann: „Deutschland aus der Sicht eines italienischen Kosmopoliten: Cosimo Alessandro Collini und seine ‘Lettres sur les Allemands‘ [1790]―, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 229, 1992, 98-128, 128. 65 „Ils croient [...] se dégrader, s‘ils imitoient ce simple et ce naturel. De là [...] cet ampoulé, ce guindé, ce forcé, cet entortillé de leur langage et de leur stile ; de là [...] encore ces pensées obscures et mistérieuses, [...] qui sont pour eux du sublime, du profond, du solide, […]― (Collini bei Heitmann: 121). 66 Fink: „Das Bild des Nachbarvolkes im Spiegel der deutschen und der französischen Hochaufklärung 1750-1789―, in: Bernhard Giesen (ed.): Nationale und kulturelle Identität, Frankfurt/ M., 1991, 453-492, 472. <?page no="32"?> Hans-Joachim Lope 32 nosum zugleich. 67 Das Kulturleben der Stadt erstaunt den Besucher ebenso wie das unkomplizierte Geschlechterverhältnis, das die deutschen Pastorensöhne und Duodez-Residenzler nur zu gern als „Frivolität― missdeuten. 68 Auch Herders Urteil wird nicht klüger dadurch, dass er es schon Tage vor seiner Ankunft in der Stadt formuliert: „Originalwerke― gibt es hier nicht, das Genie „wird […] verspottet―, der Diskurs ergeht sich in „langschwänzigen Perioden―, etc. Er hätte sich schon in Kopenhagen „debarquieren― sollen. 69 Sophie Laroche hingegen erlebt die „freye Nachlässigkeit― des Pariser Alltags ohne Berührungsängste (Journal einer Reise durch Frankreich 1787: 455). Kritisieren französische Autoren die deutsche Sprache oft mit ästhetischen Argumenten (viele Konsonanten, Dialekte, Grobheit), so verfallen deutsche Kulturnationale nur zu gern in die pauschale moralische Abqualifizierung alles Welschen. Klopstock will alle Leser fremdsprachlicher Bücher aus dem Lande jagen. 70 Schubart kritisiert die „Milchgesichter―, die ihre Zeit mit „französeln― vergeuden (Chronik der Deutschen, 13. Juni 1774). 71 Nach Herder muss eine „Französische Erziehung […] Deutsche Gemüter notwendig missbilden und irre führen― (Fragmente über die neuere deutsche Literatur 1766-1767). 72 Hölty warnt vor binationalen Ehen. 73 Und Lenz hält die Tragödien der französischen Klassik ausnahmslos für „outriert― wie eine „zu 67 Siegfried Jüttner: „Großstadtmythen. Paris-Bilder des 18. Jahrhunderts―, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 55, 1981,173-203. 68 Hans-Wolf Jäger: „Zum Frankreichbild deutscher Reisender im 18. Jahrhundert―, in: Sauder/ Schlobach (ed.) 1985, 203-221, 215. 69 Johann Gottfried Herder: „Journal meiner Reise im Jahre 1769―, in: Sämmtliche Werke, 33 vol., hg. B. Suphan, Berlin: Weidmann, t. IV(1891), 413-435. - Reprint: Hildesheim 1967/ 1968. 70 Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke. Historisch-kritische Ausgabe (= HKA), Berlin-New York, 1975, t. VII, 1: 44): „Wer sich in einer ausländischen Schrift berauscht […], über dem rufe man gleich auf der Stelle […] Jo Duthe! Und stoße ihn […] über die Grenzen hinaus―. 71 Bei Jean Clédière: „Idéal cosmopolite, vertus allemandes et l‘image de la France dans la ‗Deutsche Chronik‘ de Schubart―, in: Fink (ed.): Cosmopolitisme, patriotisme et xénophobie en Europe au Siècle des Lumières, Colloque international (2-5 octobre 1985), Université de Strasbourg, 1987, 253-270. 72 Herder: „Briefe zur Beförderung der Humanität―, in: Werke, t.VII: 590-597. Dazu Krämer: „‘Welcher Gestalt man denen Frantzosen nachahmen solle‘―, in: Häseler/ Meier (ed.): Gallophobie, 2005, 61-88. 73 Hölty: An Hahn 1772. Kein deutscher Jüngling wähle das Mädchen sich, Das deutsche Lieder hasset, und Wollustsang Des Galliers in ihrer Laute Tändelnde Silberaccorde tönet. In: Anton Lübbering (Hg.): ’Für Klopstock’. Ein Gedichtband des Göttinger ’Hains’, 1773. Nach der Handschrift im Hamburger Klopstock-Nachlass zum ersten Mal hgg. von […], Tübingen, 1957, 18. <?page no="33"?> Aufklärung und Lumières im Kontext des 18. Jahrhunderts 33 hoch gespannte Saite―. 74 Besonnene Stimmen wie Wekhrlin, Grimm u. a. finden kaum mehr Gehör. 75 Berlin als Außenposten der französischen Literatur Von der Europe française bewundert und von der Kulturnation beargwöhnt, entwickelt sich Berlin im 18. Jahrhundert zum bedeutenden Zentrum einer frankophonen Kulturszene. Ein frankophiler Monarch und eine selbstbewusste französische Kolonie im Raum Berlin/ Potsdam stehen für diesen einmaligen Moment französischer Literaturgeschichte im deutschsprachigen Umfeld. Die 1711 offiziell als Societät der Wissenschaften bestätigte Berliner Akademie wird 1744 durch Friedrich II. neu belebt und durch die Berufung des französischen Mathematikers Maupertuis glanzvoll aufgewertet. Die Sitzungssprachen sind Französisch und Deutsch. In Berlin wirken Künstler wie Le Sueur, Pesne und Tassaert, verfolgte Priester wie Prades und Denina, der Mathematiker Euler aus Basel, der Newtonianer Algarotti aus Venedig, Militärs und Diplomaten wie der Schotte Keith oder der Niederländer La Motte- Fouqué und nicht zuletzt Friedrichs französischer Leibkoch André L. Noël. In den Gemächern des Königs hängen Watteaus Embarquement und L’Enseigne de Gersaint. La Mettrie ist seit 1749 in Berlin, wo er mit L’art de jouir noch kurz vor seinem Tode (1751) die Führung des materialistischen Flügels der Aufklärung übernimmt . D‘Argens lebt von 1740 bis 1768 in der Hauptstadt und gehört zum engsten Kreis von Sanssouci . Jordan, Ancillon und Formey repräsentieren als Söhne ortsansässiger Hugenottenfamilien einen besonderen Aspekt der preußischen Frankophonie: Jordan wird Vizepräsident der Akademie (1744), Ancillon Mitglied der Akademien von Dijon und Rouen, Formey Pfarrer der französischen Gemeinde in Berlin (1736), Diplomat, Akademiesekretär und Korrektor der königlichen Poésies . Seine Nouvelle bibliothèque germanique (ab 1733) und das Journal de Berlin (ab 1740) bieten reiche Quellenmaterialien zu Berlin, la cour et la ville, im Kontext der Epoche. Hinzu kommen ca. 30000 Briefe, deren systematische Erschließung erst in jüngster Zeit begonnen hat. 76 Cornelis de Pauw wirkt, von einigen Berlin-Aufenthalten abgesehen, überwiegend im niederrheinischen Kleve. 74 Jakob Michael Reinhold Lenz: Werke und Briefe, 3 vol., Hg. S. Damm, Leipzig-München- Wien, s. d., t. II, 630. 75 J. Mondot: „Le cosmopolitisme contre les xénophobies politiques et anthropologiques dans les écrits de Wekhrlin―, in: Fink (ed.), 1987, 241-251. - R. Krebs: „La France jugée par Gottsched, ennemie héréditaire ou modèle culturel ? ―, Ibid., 159-173. Hier besonders zu Grimm: 166. 76 Jens Häseler: La Correspondance de Jean Henri Samuel Formey (1711-1797): inventaire alphabétique. Établi sous la direction de [...], avec la Bibliographie des écrits de [...] Formey établie par R. Geissler, Paris, 2003. <?page no="34"?> Hans-Joachim Lope 34 Vor diesem Hintergrund gewinnt auch Voltaires oft als Einzelereignis herausgestellter Berlin-Aufenthalt eine gewisse Normalität. Voltaire und Friedrich stehen seit 1736 im Briefwechsel und sind sich 1740 und 1743 auch schon persönlich begegnet . Friedrich will den prominenten Autor an seinen Hof ziehen, um die später von Menzel so eindrucksvoll ins Bild gesetzten divins soupers von Sanssouci zu bereichern. Bei seiner Ankunft in Berlin im Jahre 1751 ist Voltaire zunächst begeistert. Er erhält ein Jahresgehalt von 20000 livres, wird Kammerherr, arbeitet an Le siècle de Louis XIV (1751) und am Dictionnaire philosophique (1752/ 1764). Die Publikation des Micromégas (1752) führt jedoch schon bald zum - von Voltaire bewusst angeheizten (Diatribe du docteur Akakia 1753) - Bruch mit Maupertuis, dem Präsidenten der Akademie, dessen Partei der König am Ende mit guten Gründen ergreift. 77 Voltaire packt seine Koffer. In Frankfurt zwingt der preußische Geheimdienst ihn zur Herausgabe königlicher Manuskripte, mit denen er angeblich die Pariser Salons belustigen will. So gibt der Streit zweier Franzosen in Berlin den äußeren Anlass für das Zerwürfnis zwischen Friedrich und Voltaire. Tiefer liegende Gründe kommen hinzu: Voltaires Reserve gegenüber einem Souverän, der denkt wie ein Philosoph und handelt wie ein König; Friedrichs Zweifel an einem Schöngeist, der nachgewiesenermaßen in illegale Schiebereien mit sächsischen Staatsanleihen verwickelt ist, etc. Beide kommentieren die Krise von 1753 sehr gehässig und stehen doch wenig später wieder im Briefkontakt. Man hat begriffen: Friedrich ist kein Pazifist und Voltaire ist kein Höfling. Mehr denn je wird ihre Correspondance jetzt zum Zeugnis einer persönlichen Freundschaft. 78 Carlo Deninas Sammelwerk La Prusse littéraire sous Fréderic II 79 enthält einen umfangreichen Katalog von Autoren, die unabhängig von Herkunft und Muttersprache das preußische Kulturleben bestimmen . Detailliert umreißt der in Revello (Piemont) gebürtige und seit 1782 in Berlin befindliche Autor dabei die Rolle des Königreichs im Spannungsfeld von Europe française und Kulturnation. Ausgerechnet der frankophone Friedrich gilt nach 1763 vielen 77 Inhaltlich geht es u. a. um die Parodie von Maupertuis erarbeiteter naturwissenschaftlicher Erkenntnisse im Micromégas (Größenverhältnisse der Planeten, außerirdisches Leben, die Erde als Rotationsellipsoïd, etc.). An der Kontroverse beteiligen sich auch La Beaumelle und der deutsche Mathematiker König. Die Feindschaft zwischen Voltaire und Maupertuis reicht bis in die lothringer Jahre auf Schloss Cirey bei Mme Du Châtelet zurück. 78 Jürgen von Stackelberg: Voltaire, München, 2006, 14-21. 79 Carlo Denina: La Prusse littéraire sous Frédéric II. Histoire abrégée de la plupart des auteurs, des académiciens et des artistes qui sont nés ou qui ont vécu dans les états prussiens depuis MDCCXL jusqu’à MDCCLXXXVI, 3 vol., Berlin, H. A. Rottmann, libraire du Roi, 1790- 1791. - Reprint : Genève 1968. <?page no="35"?> Aufklärung und Lumières im Kontext des 18. Jahrhunderts 35 Patrioten als eine „Art nationale[r] Gesamtkönig―, der nicht nur die politischen, sondern auch die kulturellen Karten neu mischt 80 : Mais lorsqu‘on vit par le succès de la guerre de sept ans, que l‘Allemagne n‘avoit pas besoin de l‘Autriche pour s‘assurer du côté du Rhin, & qu‘elle n‘avoit pas besoin non plus de la France [...] pour se défendre du côté du Danube, la nation [...] osa penser & et parler plus qu‘elle n‘avoit encore osé. [...]. Le roi de Prusse laissa écrire, & [...] les écrivains formèrent un corps qui se soutenoit [...] pour lui-même. Voilà la cause [...] de l‘essor qu‘a pris la littérature en Allemagne depuis vingt cinq ou trente ans. [...]. Ce n‘est pas [...] que toute sorte de censure [ ... ] ait été abolie. [ ... ]. Mais comme le roi étoit très tolérant, le ministère le devint à un point, que la presse se trouva aussi libre à Berlin qu‘elle l‘est à Londres. (Denina: La Prusse, Intr.: 62-64). Die persönliche Vorliebe des Königs für das Französische bedeutet keineswegs, dass er die Entfaltung des Deutschen bewusst behindert: Au reste, si Frédéric ne favorisa pas la littérature nationale, elle étoit toujours assez encouragée par la constitution du pays & et par le zèle de quelques ministres d‘état dont le roi connoissoit les vues patriotiques. Aussi n‘y eut-il pas moins de bons écrivains allemands placés dans les universités prussiennes, dans les églises & et [...] emplois honorables, qu‘il n‘y en avoit dans les autres états d‘Allemagne. Le désir de servir un grand roi, & et l‘éclat dont brilloit la Prusse, surtout après la guerre de sept ans, attiroit à Berlin autant les Allemands [...] que des savans & et des voyageurs d‘autres nations. Ainsi, quoique Frédéric II n‘ait jamais eu auprès de lui que des gens de lettres qui écrivoient en françois, Berlin ne laissa pas de devenir le siége de la littérature allemande [...]. Les langues étrangères, […], loin d‘y mettre obstacle, contribuèrent à sa perfection […]. (ibid.: 83-84). Erst die europaweite Vernetzung macht Friedrichs translatio imperii von Wien nach Berlin zur Basis einer glaubhaften translatio studii. Für Kant erübrigt Denina 3, für Lessing 5, für Winckelmann 7 und für Wolff 17 Seiten. Sich selber präsentiert er auf über 110 (t. I: 359-471) Seiten und zeichnet dabei das interessante Portrait eines europäischen Grenzgängers in der Spätzeit des friderizianischen Preußen. Anders als seine Correspondance und einige seiner politischen und historiographischen Texte (Anti-Machiavel 1740, Lettres sur l’amour de la patrie […] 1779, u. a.) sind Friedrichs Poésies zunehmend in Vergessenheit geraten. Sie zeigen ihn auf der Höhe einer hedonistischen Aufklärung ohne jede Rückversicherung im Jenseitsglauben: „Un instant de plaisir pour celui qui jouit, 80 Jochen Heymann: Carlo Denina, Historiograph und Apologet Friedrichs II, in: Jürgen Ziechmann (ed.), Friderizianische Miniaturen I, Bremen, 1988, 53-64, 59. / <?page no="36"?> Hans-Joachim Lope 36 Vaut un siècle d‘honneur dont l‘éclat éblouit―. 81 Friedrichs Komödien (Le singe de la mode 1742; L’école du Monde 1748; u. a.) stehen in einer epigonalen Molière-Nachfolge, und auch seine Sylla-Tragödie ist kein Meisterwerk geworden (1753). Sein Libretto zu Grauns Montezuma (1755) hält sich hingegen (in der italienischen Fassung von Tagliazucchi) bis heute auf den internationalen Opern-Bühnen. 1780 erscheint Friedrichs Schrift De la littérature allemande. Das Werk formuliert keineswegs, wie Klopstock unterstellt 82 , den grundsätzlichen Zweifel eines Gallomanen an der Möglichkeit des literarischen Fortschritts in Deutschland, sondern verfolgt zunächst einmal das Ziel, „die deutsche Kultur für die westeuropäischen Muster anschlussfähig zu machen―. Und da Französisch für Friedrich keine fremde, sondern eine im Reich höchst präsente Minderheitensprache ist, diskutiert er von einer Warte aus, bei der es weniger um Deutsch und Französisch im kulturnationalen Sinne als vielmehr um die generelle Frage der „Literatur in Deutschland― geht. 83 Eine aetas aurea der deutschen Literatur liegt für Friedrich noch in weiter Ferne . Die Vorbereitungsphase dauert und wird durch die allgemeine Shakespeare- Euphorie nicht erleichtert. Als Förderer der Berliner Hugenottenkolonie weiß der König zudem um die Gefahr der kulturnational unterfütterten Forderung nach Einsprachigkeit: „écrire en allemand, c‘est s‘emprisonner; écrire en français, c‘est s‘ouvrir toute l‘Europe―. 84 Seine eigenen Gedanken zur Zukunft der lettres allemandes umreisst Friedrich in einem berühmten Brief an Voltaire . Demnach wollen nunmehr auch „unsere Deutschen― mit „Athen, Rom, Florenz und Paris― konkurrieren . Doch vermögen ihre „Schulmeister und [ … ] Professoren― ihrer Sprache noch nicht „den Schliff und die leichten Wendungen zu geben, die sie sich nur in weltläufiger Gesellschaft aneignen könnte― . In Ermangelung eines konsensfähigen goût im deutschsprachigen Raum kann kaum einer von ihnen aus dem von „römischem, englischem, französischem und teutonischem― Getue durchsetzten Galimatias der deutschen Regionen einen landesweit auch nur halbwegs verständlichen Text fabrizieren. Doch schließt Friedrich eine aetas aurea der Schönen Künste in Deutschland für die Zukunft 81 Jürgen Overhoff/ Vanessa de Senarclens (Hgg.): An meinen Geist. Friedrich der Große in seiner Dichtung. Eine Anthologie, Paderborn-München-Wien-Zürich, 2011. - Hier: Friedrich: La Jouissance, 81-82. 82 Klopstock: Die Rache 1782: Du erniedrigst dich, Ausländertöne Nachzustammeln […]. Dein Blatt von Deutschlands Sprache! […] ist selbst dem Widerrufe Nicht vertilgbar. (bei D‘Aprile/ Siebers 2008: 50). 83 D‘Aprile/ Siebers, 2008, 48-50. 84 Hazard: La pensée européenne, 1963, 446-447. <?page no="37"?> Aufklärung und Lumières im Kontext des 18. Jahrhunderts 37 nicht aus. Nur wird er selber diese Zukunft nicht mehr erleben . Sein Stolz ist es, ein Zeitgenosse Voltaires gewesen zu sein (an Voltaire, 24 . Juli 1775) 85 . Klassische Antike und nationale Vergangenheit Die Rezeption der griechisch-römischen Antike dient auch im 18. Jahrhundert noch vielfach der Herrscherapotheose und der Verherrlichung politischer und kultureller Leistungen der Gegenwart. Nur zu gerne präsentiert sich das monarchische Frankreich als Erbe des augusteischen Zeitalters, und auch deutsche Fürsten gefallen sich in der Pose Caesars oder Alexanders. Zwar äußert Friedrich sich eher reserviert zur Archäologie-Begeisterung seiner Zeit 86 , doch sieht er sich als Souverän durchaus in der Kontinuität des Römischen Erbes. Die Revolutionäre von 1789 berufen sich auf die Gracchen und Scaevola. Napoleon verweist als Revolutionsgeneral gern auf Brutus und Scipio, bevor er sich als Imperator in Caesaren-Pose präsentiert. Neue Nahrung erhält die ganze Debatte durch den in Halle, Jena und Dresden ausgebildeten und später in Rom, Neapel und Florenz von einflussreichen Mäzenen (Albani, Mengs) geförderten Johann Joachim Winckelmann. Seine Geschichte der Kunst des Althertums (1764) wird zum Modell einer „histoire de l‘art […] capable de nourrir l‘humanisme classique de l‘Allemagne― und bewirkt eine umfassende Archäologie-Debatte von Lessings Laokoon (1766) bis hin zu Schiller (Die Götter Griechenlands 1788) und Hölderlin (Hyperion 1797/ 1799). 87 Die „edle Einfalt― und die „stille Größe―, die er den Griechen bescheinigt 88 , stehen zudem für eine folgenreiche Hellas-Ideologie . Denn in der Tat besetzt der durch Winckelmanns Brille gesehene Hellene im ästhetischen Diskurs der Zeit alsbald jene „systematische Stelle―, die Rousseau dem „hypothetisch unentfremdete[n] Naturzustand― zuschreibt. 89 Und genau diesem Impuls verdankt sich das Ideologem einer tiefen Empa- 85 Voltaire - Friedrich der Große: Briefwechsel, hgg. und übersetzt von Hans Pleschinski, Darmstadt, 2011, 482. 86 Brief an Voltaire, 15. Nov. 1741, ibid.: 295: Pourquoi remuer à grands frais Les décombres de Rome entière, Ce marbre et cette antique pierre ? Et pourquoi chercher les portraits De Virgile, Horace, et d‘Homère ? Leur esprit et leur caractère, Plus estimables que leurs traits, Se retrouvent tous dans Voltaire. 87 Angelloz/ Naujac, 1975, 40. 88 Johann J. Winckelmann: Kleine Schriften, Vorreden, Entwürfe, hg. W. Rehm. Einl. H. Sichtermann, Berlin, 1968, 43. 89 D‘Aprile/ Siebers, 2008, 102-103. <?page no="38"?> Hans-Joachim Lope 38 thie zwischen Deutschland und dem „Land der Griechen―, das Goethes Iphigenie (1779) „mit der Seele― sucht (I, 1). Auch das zeitgenössische Frankreich pflegt seine Hellas-Bezüge. In dem Roman Le voyage du jeune Anacharsis en Grèce führt Jean J . Barthélémy 1788 seinen Protagonisten mit Aristoteles, Demosthenes und Platon zusammen, und der in Galata bei Istambul geborene André Chénier („Byzance, mon berceau―) zieht in L’Amérique die Verbindungslinie von der attischen zur amerikanischen Demokratie von 1776. In La jeune Tarantine feilt er an klassischen Versen („Sur des pensers nouveaux faisons des vers antiques―) und bezieht zugleich Stellung zur Revolution von 1789 (Le serment du Jeu de Paume, Ode à Charlotte Corday, À une jeune captive). Dass er den Prozess gegen Louis XVI als unwürdige Farce entlarvt, kostet ihn das Leben. Die ganze Komplexität des Griechenlandthemas zeigt sich bei Charles- Joseph de Ligne: Katharinas projet grec zielt bekanntlich auf eine expansive Schwarzmeerpolitik, die dem Osmanischen Reich die Gebiete der südlichen Ukraine (Zaparodje 1774, Krim 1783) entreißt und dort ganz bewusst wieder die Orts-, Fluss- und Ländernamen aus der römisch-griechischen Antike einführt: Krim/ Tauris, Dnjepr/ Borystenes, Schwarzes Meer/ Pontus Euxinus, Asowsches Meer/ Palus Maeotis, etc. 90 : Ein erster Erfolg der Philhellenen im Zarenreich, die hier schon früh die Gründung eines griechischen Nationalstaates betreiben und dabei immer wieder Russlands enge Verbindung zu den Schwarzmeer-Griechen betonen: Homer, Prometheus, Jason, Ovid, Racine (Mithridate, Iphigénie), Gluck (Orpheus und Euridike 1762, Iphigenie in Aulis 1774, Iphigenie auf Tauris 1779). 91 Parallel zu dieser Antike-Begeisterung zeigt sich sowohl in Frankreich als auch im Reich ein neues Interesse für die nationale Vergangenheit. Besonders das Mittelalter erscheint vielen Betrachtern nun nicht mehr nur als eine Zeit der „Finsternis und des Pfaffentrugs―, sondern als leuchtendes Vorbild in Sachen „Frömmigkeit und […] Freiheit―. 92 Gottscheds Interesse für Reinke de Vos (1752), Bodmers Nibelungen-Edition (1755) und Goethes erster Kontakt mit dem Volksbuch vom Dr. Faustus verdanken sich diesen Umorientierungen. 93 Und schon bald beginnt der seit dem Messias (1748) als Sprecher der 90 Anlässlich ihrer Dnjepr-Fahrt von 1787 beraten Katharina II. und Joseph II. das projet grec im Einzelnen: „Catherine parlait de faire renaître les Lycurge et les Solon; [...]; et Joseph [...] disait: ‗Que diable faire de Constantinople‘? ― (Ch.-J. de Ligne: Lettres à la Marquise de Coigny [1787/ 1801], éd. J.-P. Guicciardi, Paris, 1986, 53-54). 91 H.-J. Lope: „Charles-Joseph de Ligne et la mer Noire―, in: Nouvelles Annales Prince de Ligne, 8, 1994, 143-167; (auch online http: / / www.chjdeligne-integral-34melanges.be/ htm/ textes.html [11.07.2016]. 92 Fink: Das Bild des Nachbarvolkes … in: Giesen (ed.), 1991, 453-492. - Hier: 467-477. 93 Gleichzeitig tritt auch die aufkommende Ossian-Mode in Konkurrenz zum römischgriechischen Erbe und beschleunigt das Ende der klassisch inspirierten Anakreontik von Hagedorn bis Delille. Die dem gälischen Sänger Ossian (3. Jh.) zugeschriebenen Gedichte des Schotten Macpherson entstehen zwischen 1760 und 1763. 1773 erscheint <?page no="39"?> Aufklärung und Lumières im Kontext des 18. Jahrhunderts 39 Avantgarden unbestrittene Klopstock, letztere im Sinne eines rabiaten Germanenkultes ideologisch zu überbauen. 94 Seine Gelehrtenrepublik verherrlicht das ‗unverfälschte‗ Sängertum der Barden und Skalden und die Gruppe um den Göttinger Musen-Almanach (1770) verfällt in höchst „wunderliche Wiederherstellungsversuche― geglaubter alt-deutscher Sitten und Gebräuche. 95 Diese Interpretation der Vergangenheit „en clave germánica‖ 96 zielt deutlich auf ein nationales Dichtungsprogramm jenseits aller weltbürgerlichen Absicht . Als Nachfolger Roms verkörpert Frankreich jetzt auf einmal den Süden und wird zum Träger aller möglichen Negativ-Klischees, vor Allem in puncto Kriegsverwendungsfähigkeit: O Aufklärung der Weichlinge im Süden! Was bist du gegen die Seelenstärke Nordischer Männer, die […] mit eben der Freudigkeit den kalten Stahl blizzen (sic) sehen, womit ein Franzos seinen Champagner perlen sieht…. 97 Auf dieser Grundlage macht man dann die Hermannsschlacht des Jahres 9 n. Chr. als den Prototyp eines im Nord-Süd-Konflikt sich erfüllenden urdeutschen Dramenstoffs aus - was umso einfacher ist, als man die große Zahl der mit dem Stoff befassten nicht-deutschen Autoren einfach verschweigt. 98 Eilig identifizieren Johann Chr. Elias Schlegel (Hermann 1737), Möser (Hermann 1749), Wieland (Hermann 1751) und Ayrenhoff (Hermann und Thusnelde 1768) die alten Germanen mit den alten Deutschen. Und Ähnliches gilt für das Heldengedicht Hermann oder das befreyte Deutschland (1751) von Gottsched und Schönaich. Lange bevor Kleists Hermann die Verbindung zwischen dem Cherusker und der napoleonischen Krise herstellt, beschäfdie Fassung ne varietur unter dem Titel The poems of Ossian. Die erste deutsche Ossian- Version liefert Michael Denis (1768/ 69). 94 Klopstock: Unsre Sprache (1773): […] an mannigfacher Uranlage Zu immer neuer und doch deutscher Wendung reich; Ist, was wir selbst in jenen grauen Jahren, Als Tacitus uns forschte, waren: Gesondert, ungemischt und nur sich selber gleich. 95 Laaths: Weltliteratur, 1988, 467. 96 Eduardo Iañez Pareja: Las literaturas en el siglo XVIII, Barcelona, 1990, 168. 97 Anonymus (= F. Eckardt): Erinnerungen über einige Briefe eines vorgeblichen Franzosen [...] von einem Veteranen aus Thüringen (Alethinien 1784). Dazu Françoise Knopper-Gouron: „Cosmopolitisme et xénophobie chez les voyageurs allemands en Allemagne du Sud et en Autriche―, in: Fink (ed.), 1987, 227-239, 230. - Im Unterschied zu Eckardt kann Friedrich Süden und Westen noch unterscheiden: ―Wir Völker des Nordens sind nicht so verweichlicht wie die Völker des Westens; die Männer bei uns sind weniger weibisch und […] zu mehr […] Ausdauer fähig― (an Voltaire, 5. Dez. 1742, 298). 98 Scudéry: Arminius ou les frères ennemis (Drama 1644), J. B. de Campistron: Arminius (1684). Letzterer inspiriert A. Salvis Libretto, das u. a. den Opern von A. Scarlatti (1722), Hasse (1730) und Händel (1737) zugrunde liegt. Es gibt über 35 Opern zum Thema (Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur, Stuttgart, 2005, 72-76). <?page no="40"?> Hans-Joachim Lope 40 tigen sich auch Klopstocks „drei Bardieten für die Schaubühne― mit dem Stoff . Sie tragen die Titel Hermanns Schlacht (1769), Hermann und die Fürsten (1784) und Hermanns Tod (1787) und bilden ein „médiocre drame patriotique― zwischen Selbstüberschätzung und Deutschtümelei. 99 Freudig folgt das Volk seinem Führer in die „schöne Todesschlacht―. Frauen, Kinder und Greise wollen „irgendeinem fallenden Römer― die Lanze „ins Herz― rammen 100 , und nach dem Sieg - so die Gelehrtenrepublik - „kehren wir wieder in die Haine Deutschlands―, um „in den Grabhügeln unserer Väter zu schlafen― (Hamburger Klopstock-Ausgabe [HKA] VII, 1, 129). Der Bühnen-Hermann wird zur Symbolfigur einer Identität, die davon träumt, die Städte des Feindes […] anzuzünden und nicht eher von dannen zu ziehn, als bis der Dampf überall aufstiege: uns aufzumachen und neue Länder zu suchen, auf der kühnen Fahrt selbst nicht die kleinste Insel […] in dem Oceane liegen zu lassen, sondern überall zu landen […] damit, wenn Sturm und Hagel Ausländer auch dahin bringen, sie unser früheres Recht erkennen […]. (Klopstock, Gelehrtenrepublik, HKA VII, 1, 129). Hier bedarf die Aussage von D‘Aprile/ Siebers, derzufolge „Überlegenheitsphantasien― aller Art bei den deutschen Kulturnationalen des 18. Jahrhunderts „noch außerhalb des Vorstellungsvermögens― liegen, wohl doch der Nuancierung. 101 Die Nazi-Propaganda der 30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts hat sich jedenfalls mit Erfolg auf diese Texte berufen: „On ne peut certes reprocher à Klopstock d‘avoir été ‘récupéré‘ par les pangermanistes et les intellectuels nazis. Mais cet exemple ne montre-t-il pas le danger de toute dérive vers le nationalisme? ―. 102 Kontrasterfahrungen im Umfeld des 7jährigen Krieges und der Französischen Revolution Der 7jährige Krieg (1756-1763) erscheint vielen Zeitgenossen als ein „nationaler― Kampf, und der preußische Sieg bei Rossbach (5. Nov. 1757) ist in der Tat eine schwere Niederlage für das mit Wien verbündete Frankreich. Gleims Preussische Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 (1758) verfallen aus diesem Anlass in „wütende […] Feindbildkonstruktionen― 103 , auch wenn 99 Angelloz/ Naujac, 1975, 19. 100 Wir folgen Jean Murat: Klopstock, citoyen français et patriote allemand, in: Fink (ed.), 1987, 199-211. 101 D‘Aprile/ Siebers, 2008, 43. 102 Murat, in: Fink (ed.), Cosmopolitisme, 1987, 211. 103 Vg. Sascha Möbius: „‘Haß gegen alles, was nur den Namen eines Franzosen führet‘? Die Schlacht bei Roßbach und nationale Stereotype in der deutschsprachigen Militärliteratur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts―, in: Häseler/ Meier (ed.), 2005, 123- <?page no="41"?> Aufklärung und Lumières im Kontext des 18. Jahrhunderts 41 sie keineswegs - wie behauptet - von einem direkt beteiligten Grenadier, sondern von einem Bildungsbürger in der Etappe, stammen: Gott donnerte, da floh der Feind! Singt Brüder, singet Gott! Denn Friederich, der Menschenfreund, hat obgesiegt mit Gott. (Gleim: Kriegslieder II, 1-4) Gleims Berufung auf „Gott und Vaterland― (Kriegslieder II, 65-66) verdeckt wirkungsvoll, dass preußische und deutsche Interessen im 7jährigen Krieg keineswegs kongruieren und dass gerade der siegreiche Friedrich nur bedingt zur all-deutschen Ikone taugt. 104 Mancher Kulturpatriot glaubt sich jedoch fortan auf der Suche nach deutscher Selbstvergewisserung nur noch von Feinden umgeben. 105 Der deutsche Geist, so Lenz, „leidet keine Naturalisationen― und „der Deutsche wird an der Küste der Kaffern so als in Diderots Insel der Glückseligkeit immer Deutscher bleiben―. 106 Anders als die für Gott kämpfenden Deutschen betonen die Franzosen stets ihr Ehrgefühl und ihre Königstreue. Im Kampf mit den Briten, so André Chénier, hat Frankreich es oft genug bewiesen: Ton peuple industrieux est né pour le combat, Le glaive, le mousquet n‘accablent point ses bras. Il s‘élance aux assauts, et son fer intrépide Chassa l‘impie Anglais, usurpateur avide. 107 Während Franzosen und Briten den 7jährigen Krieg als eine weltpolitische Konfrontation begreifen, die in Canada, Indien, im Pazifik und in der Kari- 158, 127. - Die folgenden Textbelege nach Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Preussische Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier [1758], hg. A. Sauer, Heilbronn, 1882. 104 Friedrich selber sah im Sieg bei Rossbach über „Franzosen und Deutsche― die „Ehre der (preußischen) Nation― bestätigt (Danksagung des Königs von Preußen an die Sämmtliche Armee […], bei Möbius, 142). 105 Vg. z.B. E. Chr. v. Kleist: Ode an die preußische Armee. Im März 1757: Der schiele Neid treibt niederträchtge Scharen Aus West und Süd heraus, Und Nordens Höhlen spein, so wie des Osts, Barbaren Und Ungeheu‘r, dich zu verschlingen aus. Verdopple deinen Mut! Der Feinde wilde Fluten Hemmt Friedrich und sein starker Arm; […]. (Deutsche Gedichte, 1987, 221). 106 Lenz: Werke und Briefe, 3 vol., t. II, 770. 107 Anthologie poétique française. XVIIIe siècle. Choix (…) par M. Allem, Paris, 1966. - Hier André Chénier: 476-477. <?page no="42"?> Hans-Joachim Lope 42 bik ausgefochten wird, interessiert im Reich vor Allem die Frage, wer am Ende Schlesien beherrscht. 108 Der nationalistische Schub, den der 7jährige Krieg im Reich auslöst, verbindet sich in Frankreich mit der Französischen Revolution. Richtet sich das Revolutionslied Ça ira von 1789 noch überwiegend gegen den inneren Feind („les aristocrates à la lanterne―), so geht die Stoßrichtung der Marseillaise (Rouget de Lisle 1792) klar gegen die „horde d‘esclaves, de rois, de traîtres conjurés― im Ausland. Und nach dem Sturz der Monarchie steigert Marie-Joseph Chénier die Freiheitsrhetorik der jungen Republik zur klaren Kampfansage an die Nachbarn in Europa: Tremblez ennemis de la France Rois ivres de sang et d‘Orgueil. Le Peuple souverain s‘avance. Tyrans descendez au cercueil. La République nous appelle. Sachons vaincre ou sachons périr. Un Français doit vivre pour elle Pour elle un Français doit mourir. („Le chant du départ―. In: Anthologie 1966 : 492-493). Wie die republikanische Menscheitsbeglückung in der Praxis aussieht, zeigt das Schicksal von Anacharsis Cloots, dem die abschließenden Bemerkungen dieses Abschnitts gewidmet sein sollen. Johann Baptist Hermann Maria Cloots, Baron de Val-de-Grâce (nach dem Familiensitz Gnadenthal im preußischen Kleve), entstammt einer einflussreichen preußisch-rheinisch-belgischniederländischen Familie und ist der Neffe des Enzyklopädisten Cornelis de Pauw. Er besucht Schulen in Berlin, Brüssel, Mons und Paris, schreibt über die Juden in Preußen (Lettres sur les Juifs 1782), fordert die Rheingrenze für Frankreich (Vœux d’un gallophile 1786) und geht 1789 nach Paris, wo er den Vornamen Anacharsis (nach dem Roman von Barthélémy) annimmt. Am 19 . Juni 1790 betritt er die assemblée nationale in Begleitung von 36 citoyens, die er zuvor mit Hilfe eines Theaterfundus als Vertreter verschiedener Länder und Kulturen der Menschheit ausstaffiert: Eine ambassade de l’humanité, die bezeugen soll, dass die Erklärung der Bürger- und Menschenrechte vom 26. August 1789 nicht nur Frankreich, sondern die ganze Menschheit betrifft. Nicht alle Deputierten der assemblée goutieren dieses happening. 109 1791 ernennt Cloots sich selbst zum orateur du genre humain und entwirft 1793 die 108 Cf. Marian Füssel: Der siebenjährige Krieg. Ein Weltkrieg im 18. Jahrhundert, München, 2010, 101-109 (Kapitel: Erinnerungskulturen eines globalen Konfliktes). 109 Roland Mortier: Anacharsis Cloots ou l’utopie foudroyée. Préface de Françoise Mallet-Joris, Paris, 1995, bes. 274-275. - In Anspielung auf dieses Ereignis legt sich der Künstler Josef Beuys im 20. Jahrhundert den Namen Joseph-Anacharsis Clootsbeuys zu. <?page no="43"?> Aufklärung und Lumières im Kontext des 18. Jahrhunderts 43 Verfassung einer Weltrepublik mit dem Zentrum Paris (Bases constitutionnelles de la république du genre humain). Die Geschichte dieses frankophonen Rhein-Preußen der sich als Kosmopolit und Adliger den Tod auf der Guillotine einhandelt, steht für die Tatsache, dass die jakobinische terreur der Jahre 1793-1794 in Frankreich mit einer Welle massiver Fremdenfeindlichkeit einhergeht. Fremde gelten jetzt a priori als Feinde, nur richtige Franzosen 110 garantieren den Fortbestand der Republik. Robespierres Anklagerede gegen Cloots findet sich in der Feuille du Salut public vom 25. Frimaire, an II: Pouvons-nous regarder comme patriote un baron allemand? […]. Mettons nous en garde contre les étrangers qui veulent paraître plus patriotes que les Français eux-mêmes. [...]. Citoyens regarderez-vous comme patriote un étranger qui veut être plus démocrate que les Français [...] ? [ … ] Et comment M. Cloots pouvait-il s‘intéresser à l‘unité de la République, aux intérêts de la France? Dédaignant le titre de citoyen français, il ne voulait que celui de citoyen du monde. [...]. Paris fourmille d‘intrigants […]. [...]. Cloots est prussien. […] Prononcez! (bei Mortier 438- 440). Dieses „chef-d‘œuvre d‘éloquence terroriste [...]― 111 verfehlt seine Wirkung nicht . Mit Cloots besteigt am 24 . 3 . 1794 nicht nur ein radikal-idealistischer Revolutionär die Guillotine, sondern auch ein bedeutender Vertreter der aufgeklärten Frankophonie des 18. Jahrhunderts. Für ihn gibt es weder in Robespierres Republik, noch in der werdenden Kulturnation einen Platz. Weiterführende Literatur Bauer-Funke, Cerstin: Die französische Aufklärung. Literatur, Gesellschaft und Kultur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart-Düsseldorf-Leipzig, 2004. Chevallier. R. (ed.): La Révolution française et l’antiquité, Tours, Université de Tours (Centre de recherches A. Piganiol), 1991. Jäger, Hans-Wolf (ed.): Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, Göttingen, 1997. Jüttner, Siegfried (ed.): Die Konstituierung eines Kultur- und Kommunikationsraumes ‘Europa‘ im Wandel der Medienlandschaft des 18. Jahrhunderts, Unter Mitwirkung von Volker Steinkamp, Frankfurt/ M., 2008. Kérautret, Michel: La littérature française du XVIIIe siècle, Paris, 5, 2002. 110 1797 verweigert die Republik dem spanischen Sonderbotschafter Francisco Cabarrús die Akkreditierung anlässlich der Rastätter Konvention mit der Begründung, ein ‚Franzose‗ könne per se nur Frankreich dienen. Cabarrús war gebürtiger Baske und hatte als solcher für Spanien optiert. Seine Tochter ist die als ‚Notre-Dame de Thermidor‗ bekannte Teresa Cabarrús y Gelabert. 111 Mortier, 1995, 440-441. <?page no="44"?> Hans-Joachim Lope 44 Korff, Hermann August: Voltaire im literarischen Deutschland des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes von Gottsched bis Goethe, 2 vol., Heidelberg, 1917. Krauss, Werner: Literatur der französischen Aufklärung, Darmstadt, 1972. L’enquête du Régent 1716-1718. Sciences, techniques et politique dans la France préindustrielle. Corpus de textes établis, présentés et annotés par Christiane Demeulenaere-Douyère et David J. Sturdy, Turnhout 2008. Leonardy, Ernst: „Das ‗Volk‗ als Wunschidentität der Deutschen: Die Rolle der alten deutschen ‗Volkspoesie‗ im geistigen Widerstand gegen Napoleon―, in: Hubert Roland/ Sabine Schmitz (ed.): Pour une iconographie des identités culturelles et nationales. La construction des images collectives à travers le texte et l’image. Ŕ Ikonographie kultureller und nationaler Identität. Zur Konstruktion kollektiver images in Text und Bild, Frankfurt/ M., 2004, 69-85. Lope, Hans-Joachim: „Die Österreichischen Niederlande des 18. Jahrhundert (1715- 1794)―, in: Anne Begenat-Neuschäfer/ Marieke Gillessen (ed.): Die Wallonie und Brüssel. Eine Bestandsaufnahme, Frankfurt/ M., 2015, 31-55. Richardot, Anne (ed.): Femmes et libertinage au XVIIIe siècle ou les Caprices de Cythère, Rennes, 2003. Steinmetz, Horst: Das deutsche Drama von Gottsched bis Lessing. Ein historischer Überblick, Stuttgart, 1987. Trousson, Raymond/ Vercruysse Jeroom (ed.): Dictionnaire général de Voltaire, Paris, 2003. Zékian, Stéphane: L’invention des classiques. Le ‘siècle de Louis XIV ‘ existe-t-il? , Paris, 201 <?page no="45"?> Hartmut Stenzel Kapitel 2 Classicisme / ‘Klassik’. Begriffsgeschichte und deutsch-französische Wechselwirkungen um 1800 In dem Vortrag über „Epochen der Dichtkunst―, den er in Friedrich Schlegels „Gespräch über die Poesie― (1800) hält, geht Andrea mit der Konstruktion von literarischen Blütezeiten ebenso hart ins Gericht wie einige seiner Gesprächspartner, unter denen etwa Marcus zuvor schon die Meinung vertreten hatte, das ‚goldene Zeitalter‘ sei nun einmal eine „moderne Krankheit―. Andrea entwirft zunächst eine Perspektive des fortschreitenden Verfalls der Literatur seit der als „unversiegbare Quelle allbildsamer Dichtung […] für uns Neuere― bewerteten homerischen Poesie - trotz überragender Autoren der Moderne wie Cervantes, Shakespeare und schließlich auch Goethe. Bereits das Zeitalter des Augustus, in dem „jeder glaubte, er müsse die Musen begünstigen und ihnen wieder aufhelfen― sei jedoch „die taube Blüte in der Bildung dieser Nation― gewesen. Und Andrea bemerkt zu den Auswirkungen dieses Vorbilds: Die Modernen sind ihnen darin gefolgt; was unter Augustus und Mäcenas geschah, war eine Vorbedeutung auf die Cinquecentisten Italiens. Ludwig der Vierzehnte versuchte denselben Frühling des Geistes in Frankreich zu erzwingen, auch die Engländer kamen überein, den Geschmack unter der Königin Anna für den besten zu halten, und keine Nation wollte fernerhin ohne ihr goldnes Zeitalter bleiben; jedes folgende war leerer und schlechter noch als das vorhergehende, und was sich die Deutschen als golden eingebildet haben, verbietet die Würde dieser Darstellung näher zu bezeichnen. 1 Mit dieser Deutung literarischer Blütezeiten der Moderne als fortschreitender Verfall des antiken Ideals kritisiert Schlegel einen Wandel des ästhetischen Denkens wie auch des literarischen Feldes, die für die Wechselwirkungen wie für die Rivalität zwischen den als ‚klassisch‘ bezeichneten Perioden der deutschen und der französischen Literatur um 1800 grundlegend sind. Im Kontext der französischen Revolution und mehr noch der 1 Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe, hrsg. von E. Behler u. a., Band 2, München, Paderborn, Wien, Zürich, 1967, 290-311, hier 295. <?page no="46"?> Hartmut Stenzel 46 napoleonischen Kriege erhält die seit dem 16. Jahrhundert nach und nach entstehende und in den Debatten des 18. Jahrhunderts (etwa bei Lessing oder Voltaire) weithin wirksame Idee einer ‚Nationalisierung‘ der Literatur eine grundlegende Bedeutung und wird zum wesentlichen Bezugspunkt der Literaturkritik. Schlegel situiert die literarische Entwicklung insgesamt wie die Konstruktion ‚goldener Zeitalter‘ bereits im Kontext einer Konkurrenz zwischen den Nationen (einen Prozess, den er bereits im römischen Kaiserreich beginnen lässt). In der danach für die Literaturgeschichte und -kritik seit dem 19. Jahrhundert grundlegenden Rivalität verschiedener Nationalliteraturen spielt die schon in der Darstellung Schlegels kritisierte Konstruktion literarischer Blütezeiten dann eine wesentliche Rolle. Die ‚goldenen Zeitalter‘ verschiedener Nationen, die er anführt, bezeichnet er zwar noch nicht mit dem Klassikbegriff, der sich erst im 19. Jahrhundert endgültig etablieren wird (dazu gleich mehr), jedoch verwendet er den aus der antiken Mythologie stammenden Begriff des ‚goldenen Zeitalters‘ hier, um jene Höhepunkte in der Entwicklung der Nationalliteraturen zu bezeichnen, die später als ‚Klassiken‘ gewertet worden sind. Mit seiner sarkastischen Kritik an diesen Konstruktionen markiert er den Übergang von einer transnationalen Idee literarischer Bildung, für die die großen Autoren der Antike als unüberbietbare Vorbilder gelten (der noch im 18. Jahrhundert weithin wirksamen Konzeption einer „res publica litteraria― 2 ), zu einer Ordnung der Nationalliteraturen, in der die Idee einer literarischen Klassik nicht mehr auf den für die „res publica litteraria― maßgeblichen gemeinsamen Bezugspunkt der Antike bezogen, sondern in die Moderne transportiert wird. Die Konstruktion ‚klassischer‘ Perioden der Literatur in der Literaturkritik bezieht sich schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auf Gipfelpunkte der verschiedenen europäischen Nationalliteraturen, die bereits damals und dann systematisch im 19. Jahrhundert getrennt voneinander und im Kontext der politischen Konkurrenz der Nationen und der Legitimation des jeweiligen nationalen Selbstbewusstseins konstruiert werden. Für die bei Schlegel aufgeworfene Frage nach der Möglichkeit einer literarischen Blütezeit in Deutschland wie auch hinsichtlich der in diesem Beitrag behandelten Frage nach dem Verhältnis zwischen den ‚klassischen‘ Perioden in der deutschen und französischen Literatur ist die negative Bedeutung aufschlussreich, die er der einzigen um 1800 diskursiv bereits weitgehend fixierten nationalen Blütezeit, der der französischen Literatur zuschreibt. Das angeführte Zitat beinhaltet ein Minderwertigkeitsbewusstsein in Hinsicht auf die deutsche Entwicklung, das mit harscher Kritik am französischen Vorbild kompensiert wird. Bereits mit der Formulierung, nach der 2 Vgl. dazu etwa Hans Bots/ Françoise Wacquet: La République des lettres, Paris, 1997 sowie die Beiträge in dem Sammelband Françoise Waquet u.a. (ed.), Commercium litterarium. La communication dans la République des Lettres (1600-1750), Amsterdam, 1994. <?page no="47"?> Classicisme/ ‘Klassik‘. Deutsch-französische Wechselwirkungen um 1800 47 Ludwig XIV. einen „Frühling des Geistes― in Frankreich zu „erzwingen― versucht habe, erscheint die französische Literatur des 17. Jahrhunderts als ein Produkt politischer Einflussnahme. Gegen Ende seiner Überlegungen formuliert Andrea dann das folgende Urteil über das französische ‚goldene Zeitalter‘: Aus oberflächlichen Abstraktionen und Räsonnements, aus dem mißverstandenen Altertum und dem mittelmäßigen Talent entstand in Frankreich ein umfassendes und zusammenhängendes System von falscher Poesie, welches auf einer gleich falschen Theorie der Dichtkunst ruhete, und von hier aus verbreitete sich diese schwächliche Geisteskrankheit des sogenannten guten Geschmacks fast über alle Länder Europas. Die Franzosen und die Engländer konstituierten sich nun ihre verschiedenen goldenen Zeitalter, und wählten sorgfältig als würdige Repräsentanten der Nation im Pantheon des Ruhms ihre Zahl von Klassikern aus Schriftstellern, die sämtlich in einer Geschichte der Kunst keine Erwähnung finden können. 3 Damit wird die Konstruktion nationalliterarischer Blütezeiten in der Moderne allgemein wie der Geltungsanspruch des französischen Vorbilds für diese Konstruktionen als „schwächliche Geisteskrankheit― erneut in Frage gestellt. Die Mängel der modernen ‚Klassiken‘ werden mit einer Abwendung von dem für Schlegel allein maßgeblichen Vorbild der griechischen Antike in Verbindung gebracht. Im Fall der französischen Literatur wird das negative Urteil explizit mit einer „falschen― Rezeption der Antike (dem „mißverstandenen Altertum―) begründet. Gemeint ist damit wohl neben der für den französischen Klassizismus des 17. Jahrhunderts ausschlaggebenden Orientierung an Autoren und Werken der römischen Literatur der Republik und des Kaiserreichs die in dieser Periode dominante Regelpoetik (als „falsche Theorie der Dichtkunst―, die bereits Lessing kritisiert hatte). Schlegel formuliert damit eine Begründung der abwertenden Sicht des französischen Klassizismus, die bei der Konstruktion eines Gegensatzes zwischen der französischem Literatur des 17. Jahrhunderts und dem deutschen Klassizismus in der zeitgenössischen Literaturkritik eine wichtige Rolle spielt und die später lange Zeit auch in der Germanistik große Konjunktur haben sollte. 4 Politisch kann man Schlegels Polemik mit den Rivalitäten zwischen Frankreich und den wenig kohärenten kulturellen wie politischen Zentren des Deutschen Reichs in Verbindung bringen (vgl. dazu in diesem Band den Beitrag zur Aufklärung). Die Abwehr eines Vorbildcharakters der französischen Literatur impliziert mit der negativen Sicht der politischen Beeinflussung der literarischen Entwicklung unter Ludwig XIV. zugleich die Konzeption einer Autonomie der Literatur, die sich im letzten 3 Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, 302. 4 Vgl. etwa Hans A. Korff: Geist der Goethezeit, 4 Bde, Leipzig, 4 1957, Bd. 1, 23sqq. und 146sqq.; Walther Rehm: Griechentum und Goethezeit, Bern, 4 1969, 18sqq. <?page no="48"?> Hartmut Stenzel 48 Drittel des 18. Jahrhunderts in Deutschland verbreitet und die für Schlegel selbst wie dann auch für Schiller und Goethe grundlegend werden wird. In den kritischen Überlegungen Schlegels zeigen sich damit die Konfliktlinien, in denen sich um 1800 die Wechselwirkungen zwischen der deutschen und der französischen Literatur entfalten. Das literarische Feld, in dem Schlegel Position bezieht, wird von ästhetisch-literarischen und politischen Problemen bestimmt, die zugleich eine Attraktionskraft des französischen Vorbilds wie auch eine Distanzierung von ihm begründen. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts gilt die französische Literatur noch als unumstrittener Bezugspunkt für die Entwicklung der in vieler Hinsicht zersplitterten und uneinheitlichen deutschen Literatur. Diese Vorbildfunktion wird in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nicht zuletzt unter dem Eindruck des Siebenjährigen Kriegs aus politischen Gründen zunehmend in Frage gestellt. Schon in den Differenzen zwischen Gottsched und Lessing bahnt sich zudem eine konzeptuelle Abwendung von der französischen Entwicklung an. Sie wird mit der bereits erwähnten ästhetischen Idealisierung der griechischen Antike begründet, wie sie programmatisch erstmals in J. J. Winckelmanns einflussreicher und breit rezipierter Abhandlung Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) formuliert worden war. Die gespaltene Rezeption der französischen Literatur zwischen (literatur-)politischer Attraktionskraft und ästhetischer Distanzierung ist auch noch für deren Bedeutung bei Goethe und Schiller grundlegend, die im Folgenden in einigen Aspekten genauer behandelt werden soll. Bevor ich auf die Bedeutung der französischen Entwicklung und die Auseinandersetzung mit ihr im Umfeld des Weimarer Klassizismus eingehe, sollen zunächst einige grundsätzliche Probleme der Entstehung des Klassikbegriffs skizziert werden, wie er heute gängig verwendet wird. Er hat seinen Ursprung im Wesentlichen in der überragenden Bedeutung, die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts (seit der sog. „Querelle des Anciens et des Modernes―) der Literatur aus der Zeit Ludwigs XIV. zugeschrieben worden ist. Ist diese Konstruktion als „siècle de Louis XIV― bei Charles Perrault und anderen zunächst an die Figur des Sonnenkönigs gebunden und damit auch politisch motiviert, so ermöglicht der Klassikbegriff seit dem 18. Jahrhundert und systematisch dann in den nationalen Literaturwissenschaften seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die überhöhende Verallgemeinerung einer als Höhepunkt angesehenen Periode zunächst der französischen wie dann später der deutschen Literatur. 5 Mit der Entwicklung des Klassikbe- 5 Vgl. zur Verwendung dieses Begriffs in den nationalen Literaturwissenschaften allgemein René Wellek: „The Term and Concept of Classicism in Literary History―, in: ders., Discriminations. Further Concepts of Criticism, London, 1970, 55-90; zu der französischen Seite dieser Begriffsgeschichte meine Darstellung in: Die französische 'Klassik'. Literarische Modernisierung und absolutistischer Staat, München, 1995, Kap. 1, zur deutschen Eva <?page no="49"?> Classicisme/ ‘Klassik‘. Deutsch-französische Wechselwirkungen um 1800 49 griffs wird die Literatur der Moderne als dem Vorbild der Antike zumindest ebenbürtig, wo nicht überlegen angesehen. Dieser Bedeutungswandel spielt in den Wechselwirkungen zwischen der französischen und der deutschen Literatur eine wichtige Rolle. Er ist damit selbst ein wesentlicher Bestandteil der Beziehungsgeschichte, die sich in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zwischen der deutschen und der französischen Literatur entfaltet. Zur Begriffsgeschichte des 'Klassischen' in Frankreich und Deutschland 6 Der Ausgangspunkt für das Wortfeld des ‚Klassischen‘ ist das lateinische Adjektiv „classicus―, das in der Antike neben seiner militärischen Bedeutung vor allem als Bezeichnung für den sozialen Rang verwendet wird. Es wird im lateinischen Schrifttum nur ganz vereinzelt auf literarische Wertungsfragen übertragen. Eine viel zitierte einschlägige Stelle findet sich Ende des 2. Jahrhunderts bei Aulus Gellius in den Noctes Atticae, einer Kompilation antiker Wissensbestände und Texttraditionen. Gellius verwendet die Formulierung, ein „classicus adsiduusque aliquis scriptor, non proletarius― („ein angesehener Schriftsteller von Rang, und nicht ein niedriger―) solle als zuverlässige Quelle für die Aneignung der antiken Überlieferung dienen. Er will damit wohl die Bedeutung der literarischen Qualität dieser Vorbilder für die Orientierung an der Tradition betonen. 7 Damit wird die soziale Hierarchie (auch „adsiduus― gehört zu diesem Bedeutungsbereich und ist eigentlich eine Bezeichnung für steuerpflichtige oder Land besitzende römische Bürger) auf eine literarische Rangordnung übertragen und „classicus― erstmals zu einem Begriff literarischer Wertung. Doch diese Entwicklung der Begriffsverwendung bleibt über Jahrhunderte ohne weiter reichende Bedeutung. Erst seit der Renaissance entwickelt sich in Frankreich eine auf die zunächst unbestrittene Vorbildfunktion antiker Literatur bezogene Bedeutung des Wortfelds als Inbegriff literarischer Wertung. Sie steht zunächst in Zusammenhang mit der Verwendung antiker Texte im Unterricht. „Classique― als Bezeichnung vorbildlicher, vor allem der schulischen Lektüre dienender antiker Autoren („ne se dit gueres que des auteurs qu‗on lit dans les classes―) ist die wichtigste Bedeutung, die der Dictionnaire universel Furetières von 1690 verzeichnet. Diese Definition ver- Becker, „Klassiker in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung zwischen 1780 und 1860―, in: J. Hermand / M. Windfuhr (ed.), Zur Literatur der Restaurationsepoche, Frankfurt, 1970, 349-370. 6 Vgl. zum Folgenden meine Darstellung in dem Beitrag „Klassizismus als Klassik―, in: Der Neue Pauly, Rezeptionsteil, Bd. 2, 887 - 902. 7 Vgl. dazu auch den Artikel „Klassizismus, Klassik―, in: Gert Ueding, Hrsg., Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Tübingen, 1998, 977-1088, hier 977sq. <?page no="50"?> Hartmut Stenzel 50 deutlicht zugleich, dass im Frankreich des 17. Jahrhunderts eine Bewertung der Gegenwartsliteratur selbst als ‚klassisch‘ noch nicht gängig ist. Für die vornehmlich unter Bezug auf römische Vorbilder entworfene klassizistische Dichtungslehre, die sich seit den 1630er Jahren entwickelt und auch Boileaus berühmtem Art poétique (1674) zu Grunde liegt, können nur die Autoren der Antike, allen voran Vergil, als Vorbilder angesehen werden, deren Perfektion als Muster dient und die damit als ‚Klassiker‘ gelten. 8 Allerdings wird diese Konstruktion einer Vorbildfunktion der antiken Literatur im Lauf des 17. Jahrhunderts zugunsten einer Aufwertung der literarischen Produktion der Gegenwart zunehmend in Frage gestellt. 9 Diese schon in der ersten Hälfte des Jahrhunderts sich anbahnende Relativierung der Vorbildlichkeit der antiken Musterautoren manifestiert sich spektakulär in der „Querelle des Anciens et des Modernes― (seit 1687), in der die Partei der „Modernes―, insbesondere ihr Wortführer Charles Perrault, das traditionelle Verständnis der Antike und das Verhältnis zwischen Antike und Moderne geradezu umkehrt. Im ersten Dialog von Perraults Parallèle des Anciens et des Modernes mit dem bezeichnenden Titel „De la Prevention en faveur des Anciens― sagt denn auch einer der Wortführer der „Modernes― unter Rückgriff auf ein lebensgeschichtliches Bild der Menschheitsgeschichte, in der die Antike die Kindheit, die Gegenwart hingegen das lebenskluge Alter darstellt: „c‘est nous qui sommes les Anciens.― 10 Das Verhältnis zwischen Antike und Moderne wird nun in einem historischen Entwicklungsdenken neu gedeutet, in dem die Moderne als (immer weiter fortschreitende) Vervollkommnung antiker Anfänge gedacht werden kann, eine Vervollkommnung, die Perrault dann im „siècle de Louis XIV― gipfeln lässt. Diese Perspektive systematisiert Perrault mit seinem Vergleich antiker und zeitgenössischer Autoren, eben dem Parallèle des Anciens et des Modernes, das konsequenter- 8 Trotz seines Titels ist Boileaus Traktat weniger ein poetologisches Lehrgedicht, obwohl es als solches rezipiert worden ist, als vielmehr eine Kampfschrift gegen alle ‚modernen‘ (d.h. vor allem: vom antiken Vorbild und der „raison― abweichenden oder gar deren Bedeutung in Frage stellenden) Tendenzen und Autoren der Literatur seiner Zeit. So gilt ihm Vergil als Vorbild für das Epos (das die zeitgenössischen Epen weit überrage) oder Terenz und Plautus als Vorbilder der Komödie (die selbst von Molière nicht ganz erreicht würden). 9 So schon in der prägnanten Formulierung Théophile de Viaus: „Il faut écrire à la moderne; Démosthène et Virgile n‘ont point écrit en notre temps, et nous ne saurions écrire en leur siècle; leurs livres quand ils les firent étaient nouveaux, et nous en faisons tous les jours de vieux― („Première journée―, 1623). Vgl. dazu Hartmut Stenzel: Die französische ‚Klassik’. Literarische Modernisierung und absolutistischer Staat, München, 1995, 136sqq. 10 Reprint der Ausgabe Paris 1688, hrsg. von H.-R. Jauß, München, 1964, 113 (49 f. im Reprint). Zur Begründung dieser Umkehrung des Verhältnisses von Antike und Moderne heißt es dort: „[…] nos premiers peres [i.e. die antiken Autoren] ne doivent-ils pas être regardez comme les enfants & nous comme les vieillards & les veritables Anciens du monde? ―. <?page no="51"?> Classicisme/ ‘Klassik‘. Deutsch-französische Wechselwirkungen um 1800 51 weise jeweils zu Gunsten der modernen Autoren ausfällt. Er begreift diese als den antiken überlegen, weil sie auf deren Ansätzen aufbauen und diese weiterführen können. Diese Relativierung des Vorbildcharakters der Antike ist im Übrigen keine französische Besonderheit. Parallel dazu wie auch in Auseinandersetzung mit den französischen Debatten werden seit dem Ende des 17. Jahrhunderts ähnliche Positionen auch im Deutschen Reich diskutiert, wenn auch eher unter Gelehrten als im literarischen Feld, das dort als Grundlage und Bezugspunkt einer einheitlichen literarischen und politischen Entwicklung noch weitgehend fehlt. 11 Mit dieser Einschränkung der den Modellen der Antike zugeschriebenen Bedeutung werden in Frankreich wie in Deutschland im 18. Jahrhundert die Grundlagen für eine Aufwertung der eigenen Literatur gelegt und damit auch dafür, dass Autoren oder Perioden der modernen Literatur als ‚klassisch‘ angesehen werden können. Leitideen der Aufklärung wie der historische Fortschritt und die Vervollkommnung der Menschheit spielen dabei eine wesentliche Rolle. 12 Diese Aufwertung der Gegenwart gegenüber der Antike macht es seit der „Querelle des Anciens et des Modernes― möglich, das Wortfeld „classique / klassisch― ohne Bezug auf die Antike mit der Bedeutung „literarisch vorbildlich― bzw. „vollkommen― zu verwenden und die Idee der Vollkommenheit damit auf Autoren oder Phasen der jeweiligen nationalen Literatur der Moderne zu übertragen. In diesem Sinn findet sich „classique― in Frankreich zwar erstmals schon 1548 in Thomas Sebillets Art poétique françois („bons et classiques poètes français― 13 ), aber erst im 18. Jahrhundert wird dieses Attribut gängig als Bezeichnung und Wertung von Autoren der jüngeren Vergangenheit oder gar der Gegenwart verwendet. Mit „bons auteurs du siècle de Louis XIV et de celui-ci― bestimmt etwa der Artikel „classique― der Encyclopédie (1754) eine Bedeutung des Begriffs „classique―. Auch wenn die traditionelle Anwendung des Begriffs auf Autoren der Antike wie auf die schulische Lektüre in diesem Artikel weiter als eine mögliche Bedeutung von „classique― angeführt wird, zeigt diese Definition doch eine Entwicklung an, auf der die Konstruktion von Klassiken in den modernen Literaturen aufbauen wird. Systematisiert wird die damit verbundene Umdeutung der Literatur des 17. Jahrhunderts zu einer ‚Klassik‘ zur gleichen Zeit in Voltaires Le Siècle de Louis XIV (vollständig zuerst 1751). Voltaire zählt - zusammen mit der eben zitierten Encyclopédie - zu den ersten, die den Begriff „classique― auf Auto- 11 Vgl. dazu die grundlegende Darstellung von Peter K. Kaplitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt, München, 1981. 12 Vgl. dazu die Einleitung von H.-R. Jauss zu der Anm. 10 zitierten Ausgabe. 13 Francis Goyet: Traités de poétique et de rhétorique de la Renaissance, Paris, 1990, 59. Sébillet sieht die von ihm angeführten Repräsentanten der französischen Literatur wie Jean de Meun oder Alain Chartier auch bereits als denen der Antike ebenbürtig an. <?page no="52"?> Hartmut Stenzel 52 ren des 17. Jahrhunderts anwenden, um sie als vorbildlich und unerreichbar zu charakterisieren. Auch wenn dieser Begriff selbst in seinem Siècle de Louis XIV noch nicht vorkommt 14 , wertet er die Autoren des 17. Jahrhunderts dort in genau der Weise als unüberbietbares Vorbild, wie dies traditionell denjenigen der Antike zugeschrieben worden war. So bezeichnet er sie etwa als „génies qui seront les délices et l‘instruction des siècles à venir― oder als „grands hommes [qui] ont enseigné à penser et à parler―. 15 Den Autoren des 17. Jahrhunderts wird in der Sicht Voltaires mithin genau die Bedeutung gegeben, die zuvor die bedeutendsten Repräsentanten der Antike inne hatten. Zugleich betont er ihre Neuheit und die Eigenständigkeit ihrer Werke gegenüber der Antike, die der französischen Literatur des 17. Jahrhunderts eine Funktion zuschreiben, die man als erste moderne ‚Klassik‘ bezeichnen kann: „[…] dans l‘éloquence, dans la poésie, dans la littérature, les Français furent les législateurs de l‘Europe.― 16 Voltaires Konstruktion der Literatur des 17. Jahrhunderts als unüberbietbare Blütezeit impliziert in Fortführung der Darstellung Perraults eine Übereinstimmung der literarischen Bedeutung Frankreichs mit seiner politischen Stellung unter Ludwig XIV. Seine Deutung der nachfolgenden Entwicklung als Niedergang hat zum Ziel, zugleich eine kritische Sicht der politischen Lage wie der kulturellen Bedeutung Frankreichs in seiner Gegenwart zu legitimieren. 17 Dennoch liegt ihre Innovation vor allem darin, dass Voltaire die französische Literatur des 17. Jahrhunderts in ihrer kulturellen Bedeutung wie in ihrer politischen Dimension (als Resultat des „siècle de Louis XIV―) zu einem Kulturmodell der Moderne macht, dessen Normativität an die Stelle der Antike tritt. Angesichts der überragenden Stellung, die Voltaire als bedeutendster Repräsentant der als Vorbild fungierenden französischen Kultur um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland einnimmt (die erste Ausgabe des Siècle de Louis XIV erscheint 1751 in Berlin), 18 hat seine Deutung wesentlichen Einfluss auf die deutsche Rezeption der französischen Literatur und Kultur gehabt. Noch Goethe erkennt diese Bedeutung Voltaires an, wenn er in den Anmerkungen zu seiner Übersetzung von Diderots Neveu de Rameau schreibt: 14 In seinen Commentaires sur Corneille (1764) verwendet er mehrfach den Begriff „classique― in diesem Sinn, allerdings - wie das Beispiel der Encyclopédie zeigt - nicht als erster, wie dies Jürgen Grimm: Französische Klassik, Stuttgart, 2005, 8sq. unter Berufung auf Littré annimmt. 15 Voltaire, Œuvres historiques, Paris, éd. René Pomeau, 1957, 1013 f. und 1015. 16 Ebd., 1006sq. bzw. 1002. 17 Vgl.: „Ainsi donc le génie n‘a qu‘un siècle, après quoi il faut qu‘il dégénère― etc. (Ibid., 1017). 18 Vgl. dazu Hans A. Korff: Voltaire im literarischen Deutschland des 18. Jahrhunderts, Heidelberg, 1917 oder die Beiträge zu P. Brockmeier / R. Desné, J. Voss (ed.): Voltaire und Deutschland. Quellen und Untersuchungen zur Rezeption der Französischen Aufklärung, Stuttgart, 1979, insbesondere die von Peter Brockmeier und Horst A. Glaser. <?page no="53"?> Classicisme/ ‘Klassik‘. Deutsch-französische Wechselwirkungen um 1800 53 So entstand in Ludwig dem XIV. ein französischer König im höchsten Sinne, und ebenso in Voltaire der höchste unter den Franzosen denkbare, der Nation gemäßeste Schriftsteller. 19 Dieses Urteil ist nicht nur deshalb aufschlussreich, weil es das fortdauernde Ansehen Voltaires im literarischen Deutschland um 1800 dokumentiert, sondern auch deshalb, weil ihm mit der Parallele zwischen Voltaire und Ludwig XIV. Voltaires Konstruktion des französischen 17. Jahrhunderts als einer von dem Monarchen in Gang gesetzte Blütezeit zu Grunde liegt. Zwar verschiebt Goethe die Idee literarischer Vorbildlichkeit und die darin implizierte hierarchische Sicht der Literaturentwicklung auf Voltaire, also einen Autor des 18. Jahrhunderts, aber er greift zugleich die für Voltaires Konstruktion des französischen 17. Jahrhunderts zentrale Verbindung von literarischer und politischer Aufwertung der Moderne auf („und ebenso…―), in der die politische Blüte als notwendige Vorbedingung der literarischen gedacht wird. Goethes Würdigung ist nicht ohne Vorbehalt: Voltaire fehle es an „Tiefe in der Anlage― und „Vollendung in der Ausführung―, wie er weiter schreibt. 20 Dennoch zeigt sein Urteil zum einen den Einfluss des französischen Vorbilds für die deutschen Literaturdebatten in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, zum anderen aber auch die wachsende Bedeutung nationaler Unterschiede für die literarische Wertung („der höchste unter den Franzosen denkbare, der Nation gemäßeste Schriftsteller―). Wenn Goethe die Würdigung Voltaires durch nationale Differenzierung einschränkt, so deutet sich in diesem Vorbehalt implizit auch die Intention an, in der deutschen literarischen Entwicklung die französische zu überbieten - möglicherweise durch die eben zitierte, Voltaire abgehende „Tiefe in der Anlage― und „Vollendung in der Ausführung―. In dieser Hinsicht führt Goethe eine Wertung der literarischen Bedeutung in nationalen Kategorien fort, die sich bei vielen deutschen Autoren in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts findet. Man denke nur an das eingangs zitierte harsche Urteil Schlegels oder, früher schon, an Lessings grundlegende Kritik an Gottsched in dem berühmten 17. Literaturbrief (1759), in dem er den Gegensatz zwischen Gottscheds „französisierende[m] Theater― und der „deutschen Denkungsart― hervorhebt. 21 Das Bewusstsein nationaler Differenzen wie die Abwertung der anderen Nation spielt in der Auseinandersetzung mit dem französischen Klassizismus von Anfang an eine wichtige Rolle. 19 Goethes sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe, in Verbindung mit Konrad Burdach etc. hrsg. von Eduard von der Hellen, Stuttgart o. J., Bd. 34, 195. 20 Ebd., 196. 21 „[…] er wollte nicht sowohl unser altes Theater verbessern, als der Schöpfer eines ganz neuen seyn. Und was für eines neuen? Eines Französisierenden; ohne zu untersuchen, ob dieses französisierende Theater der deutschen Denkungsart angemessen sey, oder nicht―. <?page no="54"?> Hartmut Stenzel 54 Die literarischen Entwicklungen in Deutschland, die später als ‚Klassik‘ kanonisiert werden, entwerfen jedenfalls ihre Orientierung in intensiver Auseinandersetzung mit der literarischen Situation in Frankreich und der Sicht der französischen Literatur, die Voltaire und andere verbreitet hatten. Diese wird zum impliziten oder expliziten Bezugspunkt der Positionen, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das nationale literarische Selbstbewusstsein der Jahrhundertwende vorbereiten. Nicht nur politisch, sondern auch kulturell bleibt der westliche Nachbar ein ambivalenter Bezugspunkt. Einerseits wird, wie schon die einleitenden Zitate von Schlegel zeigen, die überragende Stellung der französischen Literatur in Europa zum Ausgangs- und Bezugspunkt für eine Reflexion über die deutschen Verhältnisse und ihre Perspektiven. Das von Voltaire und anderen konstruierten Modell der französischen Literatur des 17. Jahrhunderts als einer ‚Klassik‘ kann in dem literarisch wie politisch zersplitterten Deutschen Reich als literaturpolitisches Vorbild dienen. Andererseits erscheint die kulturelle Dominanz, die dieses Vorbild ausübt, für die Bestrebungen, eine nationale Literatur und Kultur zu begründen ebenso als bedrohlich, wie es Frankreich auf politischer und militärischer Ebene immer schon war. Bei Schlegel wie bei Goethe ist diese Ambivalenz zu beobachten, wenn sie die in dem französischen Vorbild präsente Konstruktion einer kulturellen Blüte zwar aufgreifen, im Namen nationaler Differenzen aber auch kritisch reflektieren und ihre Geltung beziehungsweise ihre Übertragbarkeit auf die deutsche Situation in Frage stellen. Die Komplexität der Beziehungen zwischen den ‚klassischen‘ Perioden der französischen und deutschen Literatur wird also in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von den Widersprüchen bestimmt, die sich aus dieser ambivalenten Bedeutung des französischen Vorbilds ergeben. Die Auseinandersetzung mit einer in der von Voltaire entworfenen Perspektive zur ‚Klassik‘ überhöhten französischen Literatur zielt auf die Begründung einer Nationalliteratur, die sich an der Bedeutung des französischen Vorbilds inspiriert, seine Grundlagen jedoch ablehnt und es überbieten will. In dieser widersprüchlichen Konstellation konstituieren sich die Wechselwirkungen zwischen deutscher und französischer Literatur, ohne die die Entwicklung des Klassizismus in der deutschen Literatur um 1800 undenkbar ist. Die Auseinandersetzung mit dem französischen Vorbild im Umfeld der Weimarer ‚Klassik’ Die Wechselwirkungen zwischen dem französischen Klassizismus und den literarischen Entwicklungen im Deutschen Reich werden im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts in dem Maße komplizierter, in dem die politische wie die kulturelle Bedeutung Frankreichs von den Revolutionsereignissen <?page no="55"?> Classicisme/ ‘Klassik‘. Deutsch-französische Wechselwirkungen um 1800 55 überlagert und neu wahrgenommen (aber auch abgewehrt) werden. Es ist hier nicht der Ort, auf die zunächst häufig emphatische, angesichts der Verwicklungen der Revolutionsereignisse zunehmend distanzierte Rezeption der französischen Umwälzung in Deutschland näher einzugehen. 22 Dass die Revolutionsereignisse nicht nur politisch zu einer Revision des Frankreichbildes beitragen, sondern auch für die Entstehung des deutschen Klassizismus grundlegend sind, lässt sich bei seinen beiden Begründern in aller Deutlichkeit beobachten. Distanz und Abwehr gegenüber der Revolution zeigen sich bei Schiller, dem „citoyen d‘honneur― der Revolution (er wurde als Dichter der Räuber geehrt), nach seiner rebellischen Jugendzeit immer stärker. Wie wenig ihm an dieser Ehrung gelegen war, kann man daraus ersehen, dass er kurz nach ihrem Erhalt (1798) im letzten Teil seines „Lieds von der Glocke― (V. 342- 381), diesem Loblied auf eine stabile traditionelle Gesellschaftsordnung, ein antirevolutionäres Pamphlet in Versform verfasst. Mehr noch zeigen sie sich bei Goethe, bei dem sich von vorneherein nachhaltige Skepsis gegenüber den Umwälzungen im Nachbarland konstatieren lässt. 23 Bei Goethe kann man trotz oder gerade wegen der revolutionskritischen Akzente vieler Werke der 1790er Jahre (explizit und recht platt etwa in der Komödie Der Bürgergeneral oder dem Drama Die Aufgeregten, weniger direkt beispielsweise in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter oder in Herrmann und Dorothea) eine durchgängige Reflexion auf das französische Vorbild feststellen. Diese führt ihn nicht nur zu einer zunehmend reaktionären politischen Einstellung, sondern sie beeinflusst auch seine literarisch-ästhetische Orientierung und die Entwicklung seiner Konzeption von der Bedeutung der deutschen Literatur. Beide gehen von dem französischen Vorbild aus und setzen sich von ihm ab. Die Bedeutung der Auseinandersetzung mit den französischen Verhältnissen für die Entwicklung der Position Goethes zeigt sich deutlich in einer Bilanz des Entwicklungsstands der Nationalliteratur, die er in einem bemerkenswerten Aufsatz zieht, in dem er die Möglichkeit eines literarischen Klassizismus in Deutschland theoretisch entschieden bestreitet, damit paradoxerweise aber zugleich praktisch zu seiner Begründung beiträgt. In eben jenem Jahr 1795, in das man gängig die Geburtsstunde der (in der Zusammenarbeit zwischen Schiller und Goethe ja sehr kurzlebigen! ) Weimarer 22 Vgl. dazu etwa den Überblick von Claus Träger: Die französische Revolution im Spiegel der deutschen Literatur, Leipzig, 1979. 23 Zu Schiller vgl. beispielsweise Ulrich Karthaus: ―Schiller und die französische Revolution―, Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft, 33, 1989, 210-239 oder Jean Mondot: „Schiller et la Révolution française. D‘un silence, l‘autre―, Revue germanique internationale, 22, 2004, URL: http: / / rgi.revues.org/ 1028 [12.07.2016]; zu Goethe etwa den Kommentar zur Goethe-Ausgabe bei Hanser, Bd. 4.1 und 4.2 („Wirkungen der französischen Revolution 1791-1797―) München 1986. <?page no="56"?> Hartmut Stenzel 56 ‚Klassik‘ legt, verfasst er eine Polemik gegen Positionen, die er als „literarischen Sansculottismus― bezeichnet (eine auf die gängige Bezeichnung der radikalsten Fraktion der Pariser Revolutionäre als „sansculottes― zurückgreifende Wortschöpfung Goethes). Darin bestreitet er für die deutsche Literatur seiner Zeit die Möglichkeit, zu einer klassischen zu werden. Die in diesem Aufsatz formulierten Überlegungen sind nicht nur aufschlussreich, weil sie die in Goethes Augen unabdingbaren Voraussetzungen für das Auftreten eines „klassische[n] Nationalautor[s]― formulieren, sondern auch deshalb, weil seine Argumentation die Auseinandersetzung mit dem französischen Vorbild verrät - schon in der Verwendung des Begriffs „klassisch―, der bis dahin in Deutschland nicht gängig war. Als Vorbedingung für das Auftreten eines solchen Autors setzt er dort an, dass dieser „in der Geschichte seiner Nation große Begebenheiten und ihre Folgen in einer glücklichen und bedeutenden Einheit vorfindet―. Er postuliert den in einem klassischen Autor notwendig vorhandenen Einklang von „Nationalgeist― und „einwohnende[m] Genie― und resümiert: „ […] einen vortrefflichen Nationalschriftsteller kann man nur von der Nation fordern―. Goethe argumentiert gegen ein nationalistisch konturiertes Verständnis des Klassizismus, das offensichtlich vom französischen Vorbild inspiriert ist. 24 Und bei aller geheimen Faszination für dieses Vorbild tut er dies nicht nur, um die Misere der deutschen Zustände als Entschuldigung anzuführen („jeder, auch das größte Genie leidet von seinem Jahrhundert in einigen Stücken―), sondern vor allem, um der Vorstellung entgegenzutreten, das französische Vorbild könne als nachahmenswertes Modell fungieren. „Wir wollen die Umwälzungen nicht wünschen, die in Deutschland klassische Werke hervorbringen könnten―, so beschließt er die Überlegungen zum Verhältnis von Nation und Klassizismus und formuliert damit eine deutlich politisch motivierte Ablehnung der Vorbildfunktion Frankreichs. 25 Dessen Entwicklung hat schließlich- und diese Dimension der Auseinandersetzung mit den französischen Verhältnissen zeigt sich im Titel des Aufsatzes ebenso wie in den zuletzt angeführten Zitaten - im Verständnis Goethes wesentlich zu jenen Umwälzungen beigetragen, die 1795 noch unmittelbar drängend auf der Tagesordnung stehen. Die Revolutionsangst führt bei Goethe zu der Ablehnung eines von ihm ansonsten zum Teil durchaus geschätzten literarischen Vorbilds, das in seiner Sicht jedoch nicht von dem politischen Umsturz getrennt werden kann, den die Nation in Frankreich bewirkt hat. Deshalb postuliert Goethe eine doppelt begründete Distanz der deutschen Literatur vom politischen Feld. Zum einen impliziert die Argumentation, die die Forderung nach deren politischer Fundierung in der Nation als 24 Vgl. dazu Clemens Pornschlegel: „Unsichtbare Nationalliteratur. Zu Goethes Polemik ‚Literarischer Sansculottismus‗―, Goethezeitportal. URL: http: / / www.goethezeitportal.de/ db/ wiss/ goethe/ pornschlegel_nationalliteratur.pdf [12.07.2016]. 25 Alle Zitate aus der in Anm. 19 angeführten Werkausgabe, Bd. 36, S. 140sq. <?page no="57"?> Classicisme/ ‘Klassik‘. Deutsch-französische Wechselwirkungen um 1800 57 „Sansculottismus― disqualifiziert, eine kritische Sicht der französischen Verhältnisse. Auch wenn die politische Bedeutung der „sansculottes― nach dem Sturz und der Hinrichtung Robespierres, zum Zeitpunkt der Entstehung des Artikels 1795 bereits weitgehend der Vergangenheit angehört, bleibt ja in Frankreich der Leitbegriff der Nation auch im weiteren Verlauf der Revolution ein wesentlicher Bezugspunkt des politischen Umbruchs. 26 Zum anderen liegt Goethes Überlegungen eine skeptische Sicht der politischen Verhältnisse im Deutschen Reich zugrunde, die die Möglichkeit einer nationalen Einheit als Grundlage einer Nationalliteratur nicht nur bezweifelt, sondern angesichts der politischen Entwicklung in der Nachbarnation geradezu fürchtet. Deshalb siedelt er - auch wieder in Abgrenzung von dem französischen Bezugspunkt - die literarische Entwicklung jenseits der politischen an. Die deutsche Literatur soll gerade durch ihre Distanz vom Feld der Politik zu einer ‚klassischen‘ und damit dann doch zu einer nationalen werden. Mit der Trennung von Ästhetik und Literatur auf der einen sowie Gesellschaft und Politik auf der anderen Seite ist eine Grundlage des deutschen Klassizismus um 1800 bezeichnet, die in doppelter Hinsicht auf die französischen Verhältnisse reagiert. Einerseits nimmt der Klassizismus Schillers wie Goethes die Idee einer gesellschaftlich anerkannten und geförderten Stellung der Literatur auf, wie Voltaires Sicht des „siècle de Louis XIV― sie für die französische ‚Klassik‘ des 17. Jahrhunderts konstruiert hat, und will dieses Vorbild überbieten. Andererseits will er diese ‚klassische‘ Bedeutung der Literatur in Deutschland gegen das französische Vorbild in einem Raum autonomer Geistigkeit jenseits der durch die Umwälzungen in Frankreich als Grundlage der Nationalliteratur diskreditiert erscheinenden gesellschaftlichen und politischen Konflikte konstituieren. Diese Abwehr der französischen Verhältnisse in Politik und Literatur klingt in der Annäherung der beiden Weimarer immer wieder an, so wenn Goethe in einem berühmten Brief schreibt, er plane, mit Schiller „gemeinschaftlich zu arbeiten, zu einer Zeit, wo die leidige Politik und der unselige körperlose Parteigeist alle freundschaftlichen Verhältnisse [...] zu zerstören droht― (An Fritz von Stein, 28.8. 1794). Goethes - durchaus auch angstvolle - Abwehr des Revolutionsgeschehens steigert sich seit der Hinrichtung Ludwigs XVI. (Januar 1793) zusehends, 27 und seine Zuwendung zu Schiller ist, wie die Briefstelle zeigt, auch von dem Willen motiviert, in der Zusammenarbeit und der Entwicklung gemeinsamer literarischer Positionen einen Ort der Stabilität jenseits der politischen Wirren zu konstruieren, der dann später zur ‚klassischen‘ deutschen Literatur werden sollte. 26 Vgl. dazu Pierre Nora: Artikel „Nation― in: Furet/ Ozouf (ed.), Dictionnaire critique de la Révolution française, Bd. 4, Paris, 1992, 339-358. 27 Vgl. dazu etwa Wolfgang Rothe: Der politische Goethe. Dichter und Staatsdiener im Spätabsolutismus, Göttingen, 1998, 75sqq. <?page no="58"?> Hartmut Stenzel 58 Diese Position manifestiert sich deutlich in einem der ersten Produkte ihrer Zusammenarbeit, den Xenien (seit Ende 1795), in denen Goethe und Schiller eine gemeinsame Position im literarischen Feld abgrenzen und verteidigen. Neben einer Reihe mehr oder weniger treffender Invektiven gegen literarische Konkurrenten finden sich dort auch Reflexionen, die explizit die angestrebte Orientierung der deutschen Literatur als Gegenbild zu der heillos erscheinenden politischen Situation positionieren und legitimieren sollen, so insbesondere die berühmte 95. Xenie „Das deutsche Reich―: Deutschland? aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden. Wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf. Dieses Distichon entwirft eine Perspektive, in der die geistige Nation als von der politischen Situation getrennt gedacht wird und damit auch einer eigenen Logik folgt. Ausgehend von dieser Sicht von der Lage des Geistes in der deutschen Misere setzt die nachfolgende Xenie 96 („Deutscher Nationalcharakter―) an die Stelle der Entwicklung zur Nation ein autonomes Projekt menschlicher ‚Bildung‘: Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens Bildet, ihr könnte es, dafür freier zu Menschen euch aus. Damit ersetzt - ganz anders als in dem französischen Vorbild - die Entwicklung einer geistigen Blüte die für unmöglich erklärte politische Entwicklung zur Nation. Dass damit die Vorstellung eines „deutsche[n] Nationalcharakter[s]― verbunden wird, verweist auch wieder auf die politische Misere des zersplitterten Reichs wie auf die Bedeutung des Begriffs der Nation als Bezugspunkt der angestrebten Entwicklung eines kulturellen Feldes (das der ‚Bildung‘), in dem die Deutschen einen Ersatz für die unmöglich erscheinende Entwicklung zu einer politischen Nation finden sollen. Erneut wird hier der Bezugspunkt der französischen Entwicklung deutlich, und erneut in einem negativen Sinn. Den beiden eben zitierten Xenien geht nämlich eine andere, „Revolutionen― betitelte voraus, in der die französische Revolution als Bedrohung des Projekts autonomer Geistigkeit erscheint, das in dem Begriff der „Bildung― gefasst wird und das den nachfolgenden Xenien zufolge ja die Nation in Deutschland begründen soll: Was das Luthertum war, ist jetzt das Franztum in diesen Letzten Tagen, es drängt ruhige Bildung zurück. (Xenien 93) Bemerkenswert ist die Parallele, in der hier Reformation und französische Revolution als vergleichbare Bedrohung „ruhige[r] Bildung―, dieses Inbegriffs möglicher kultureller Entwicklung zu einer Nation hingestellt werden. Man könnte darin eine historische Perspektive angedeutet sehen, in der die Reformation als Bedrohung humanistischer Bildung wie auch als Faktor der Gefährdung nationaler Einheit gesehen wird. Jedenfalls aber verweist diese Reflexion auf die Perspektive einer radikalen Autonomie der „Bildung―, <?page no="59"?> Classicisme/ ‘Klassik‘. Deutsch-französische Wechselwirkungen um 1800 59 ihres Eigenwerts jenseits gesellschaftlicher Konflikte, seien es die der Reformationszeit oder die der revolutionären Gegenwart. Dagegen wollen Goethe und Schiller ihre Position im literarischen Feld begründen, indem sie ihr Selbstverständnis in einer kulturellen Bedeutung der Nation situieren und die dafür erforderliche geistige Erneuerung in Abwendung von, ja im Gegensatz zu Geschichte und Gesellschaft ansiedeln. An die Stelle von deren prekärer und bedrohlicher Instabilität tritt der Bezugspunkt der griechischen Antike, mit dem die literarische Konstellation legitimiert werden soll, die später als Weimarer oder deutsche „Klassik― konsekriert worden ist. Sie ist bereits in den eben zitierten Xenien präsent, eine aus der römischen Kaiserzeit übernommene Form der Gelegenheitsdichtung in Distichen, mit denen die beiden ‚Weimarer‘ unter dem von Goethe in einem Brief an Schiller (23. 12. 1795) explizit angeführten Patronat ihres vermutlichen Begründers Martial (40-ca. 104) ihre Position in dem uneinheitlichen literarischen Feld des Reichs zur Geltung zu bringen versuchen. Die Antike wird in der Entwicklung des deutschen Klassizismus zu eben dem stabilen ästhetischen Bezugspunkt, den die deutschen politischen Verhältnisse nicht zu bieten vermochten (und die französischen natürlich noch viel weniger). Diese Position setzt die Idee eines durch die Antike beglaubigten Kunstschönen gegen die Wirren der Geschichte, um damit eine literarische Diskursordnung zu propagieren, die durch eine von den beiden „Weimarern― dominierte klassizistische Orientierung begründet werden soll. 28 Deutsch-französische Divergenzen: Zur Rezeption der Antike im deutschen Klassizismus Allerdings war es Goethe und Schiller nur deshalb möglich, sich derart mit einem an der Antike geschulten symbolischen Kapital programmatisch zu positionieren, weil sie dabei auf eine Konjunktur kultureller Orientierung an der Antike zurückgreifen konnten. Ihre Position steht im Kontext einer Entwicklung, in der in Deutschland seit der Entdeckung Homers dem Kulturmodell der griechischen Antike eine überragende Bedeutung zugeschrieben worden war. Bereits darin kann man eine deutliche Distanzierung vom französischen Klassizismus erkennen. 29 Diese Entwicklung zeichnet sich 28 Zum literaturpolitischen Aspekt der ‚Weimarer‗ Konstellation vgl. Chr. Bürger: Der Ursprung der bürgerlichen Institution Kunst. Untersuchungen zum klassischen Goethe, Frankfurt, 1977; H.-D. Dahnke / B. Leistner (ed.), Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts, 2 Bde., Berlin, 1989. 29 „Die Entdeckung Homers war an sich in Deutschland schon eine Verabschiedung französischer Literaturmodelle― (Joachim Wohlleben: Die Sonne Homers, Göttingen, 1990, 7 f.). Als symbolisch für die überragende Bedeutung der griechischen Antike ist <?page no="60"?> Hartmut Stenzel 60 bereits seit der Mitte des Jahrhunderts ab. Ihre theoretischen Grundlagen liefert in vieler Hinsicht Winckelmanns bereits erwähnte Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und der Bildhauerkunst. Diese bis weit ins 19. Jh. hinein als maßgeblich rezipierte Abhandlung nimmt geistesgeschichtlich eine ambivalente Position ein, indem sie einerseits an eine aufklärerische Fortschrittsperspektive anknüpft („Der gute Geschmack, welcher sich mehr und mehr durch die Welt ausbreitet, hat sich angefangen zuerst unter dem griechischen Himmel zu bilden― 30 ) und den der griechischen Kunst zugeschriebenen überragenden Rang aus Klima und Lebensverhältnissen zu historisieren versucht. Andererseits aber entwirft Winckelmann eine Idee von deren Unnachahmlichkeit und Unüberbietbarkeit (etwa in der berühmten, den Gehalt der griechischen Kunstwerke charakterisierenden Formulierung „eine edle Einfalt, und eine stille Größe― [ebd., 43]), die das geschichtliche Entwicklungsdenken konterkariert und jenseits von Geschichte und Politik gedacht wird. Entscheidend für die Rezeption Winckelmanns ist seine philosophische Konstruktion einer Vorbildlichkeit der griechischen Kunst, womit er, in dieser Hinsicht durchaus vergleichbar mit dem französischen Klassizismus, über die gelehrt-humanistische („antiquarische―) Position einer umfassenden Rezeption der antiken Überlieferung hinausgeht. Indem er „die Begriffe des Ganzen, des Vollkommenen in der Natur des Althertums― als einen Bezugspunkt begreift, der im Künstler „die Begriffe des Getheilten in unserer Natur― läutern soll (ebd., 38), wird die griechische Kunst in seiner Deutung zu einem nachzuahmenden Ideal. Mit Winckelmanns Idealisierung der griechischen Kunst ist eine Grundlage dafür gelegt, eine „andere― Antike (ein „recht verstandenes Altertum―, um Schlegels eingangs zitiertes negatives Urteil über den französischen Klassizismus positiv zu wenden) gegen den ‚römischen‘ Klassizismus der französischen Literatur als Bezugspunkt der deutschen Literaturentwicklung zu entwerfen. In dieser Entwicklung, in der sich der deutsche Klassizismus konstituiert, ist der Aspekt der Projektion und Konstruktion im Bild der Antike sehr viel deutlicher und bewusster als im französischen Klassizismus. Lessing oder Herder hatten noch historisch-kritische Einwände gegen die vereinheitlichende Reduktion von Winckelmanns Bilde der Antike geltend gemacht. Der Klassizismus der Jahrhundertwende gewinnt dagegen darin Kohärenz, dass der fiktive Charakter der Konstruktion und Aneignung der griechischen Antike bewusst vertreten wird. Die Übergänge dazu beginnen in der Abwendung von den offenen Formen und den widersprüchlichen Gehalten der Werke des Sturm und Drang, wie sie sich etwa in der Entwicklung einer traditionell häufig die Selbstdarstellung von Goethes Iphigenie gewertet worden: „das Land der Griechen mit der Seele suchend―. 30 J. J. Winckelmann: Kleinere Schriften, Vorreden, Entwürfe, hrsg. von W. Rehm, 1968, 13. Dort auch die folgenden Zitate. <?page no="61"?> Classicisme/ ‘Klassik‘. Deutsch-französische Wechselwirkungen um 1800 61 utopisch-humanitären Perspektive von Goethes Iphigenie auf Tauris (1779- 1787) abzeichnet. 31 Deutlicher noch zeigt das Bewusstsein vom Konstruktcharakter der idealisierten griechischen Antike sich in Schillers berühmtem Gedicht „Die Götter Griechenlands―(1788), wo die ideale Schönheit verbürgenden Gestalten der Mythologie von Anfang an als „Schöne Wesen aus dem Fabelland― erscheinen. 32 Ebenso wie Goethes Iphigenie ist Schillers Gedicht nicht an der antiken Überlieferung als solcher interessiert (also im Falle Schillers etwa an der antiken Mythologie), sondern projiziert in diese Überlieferung philosophische und ästhetische Idealvorstellungen, die der Gegenwart abgehen oder gar in ihr negiert erscheinen. In den „Athenäums-Fragmenten― (1797/ 98) insistiert dann Friedrich Schlegel entschieden darauf, dass Winckelmann, „der alle Alten gleichsam wie Einen Autor las―, mit dieser idealtypischen Reduktion „die Wahrnehmung der absoluten Verschiedenheit des Antiken und des Modernen― ermöglicht habe und vermerkt kurz darauf: „Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte, oder wünschte; vorzüglich sich selbst― 33 . Goethe, der 1805 mit dem Sammelband Winckelmann und sein Jahrhundert eine Art Bilanz der neuen Antikerezeption ziehen will, charakterisiert dort in seinem einleitenden Aufsatz Winckelmanns Anschauung der Antike mit den Worten W. von Humboldts als „ein gewaltsames Hinreißen in eine von uns nun einmal, sei es auch durch notwendige Täuschung, als edler und erhabener angesehene Vergangenheit―. Und in dem Brief Humboldts, aus dem Goethe zitiert, bilanziert dieser: „Nur aus der Ferne, nur von allem Gemeinen getrennt, nur als vergangen muß uns das Altertum erscheinen―. 34 Es geht nicht um eine wie auch immer historisch angemessene Aneignung der Antike, sondern um die Konstruktion eines symbolischen Kapitals jenseits gesellschaftlicher Bezugspunkte oder Konflikte, das durch eine in die Antike projizierte Idealität legitimiert werden soll. Auf den Legitimationsbedarf, dem die Antike in dieser weithin Goethe und Schiller gemeinsamen Position Genüge tun muss, verweisen Zeitschriftentitel wie Schillers Horen (1795-1797; Horen sind in der griechischen Mythologie nach Hesiod die Göttinnen, die Recht und Ordnung bewahren) oder Goethes Propyläen (1798-1800; die Propyläen sind das Eingangsportal der Akropolis). Beide Projekte, die jeweils zu einem guten Teil von der Zusammenarbeit zwischen Schiller und Goethe leben, wollen im programmatischen Rückgriff auf mit symbolischer Bedeutung aufgeladene antike Bezugspunkte eine Orientierung für die literarische und ästhetische Entwick- 31 vgl. dazu Chr. Bürger: Der Ursprung der bürgerlichen Institution Kunst. Untersuchungen zum klassischen Goethe, 1977, 177sqq. 32 Schillers Werke. Nationalausgabe. Begründet v. Julius Petersen und Hermann Schneider; weiter hg. v. Lieselotte Blumenthal u. Benno v. Wiese. Bd. 2,1, 336. 33 Kritische Friedrich-Schlegel Ausgabe (wie Anm. 1), Bd. 2, 188sq. 34 Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, Weimar, 1887sqq., Ndr. 1987, Bd. 46, 38sq. <?page no="62"?> Hartmut Stenzel 62 lung in Deutschland entwerfen. Sie sind allerdings beide recht kurzlebig geblieben, was zumindest darauf verweist, wie wenig Resonanz die Orientierung am symbolischen Kapital der Antike im kulturellen Leben des Deutschen Reichs zunächst fand. Mit dem Rückgriff auf einen dadurch beglaubigten Vorstellungshorizont soll ein Programm ästhetischer Idealisierung legitimiert werden, in dem sich die Kunst von der konfliktträchtigen Realität der Zeit abwenden soll - und dieses Programm erschien vielen Zeitgenossen einer Zeit politischer Umbrüche offenbar nicht angemessen. Deutlich wird jedenfalls angesichts dieser Funktionalisierung der Antike, wie bestimmend das Revolutionsgeschehen als negativer Horizont der klassizistischen Orientierung bei Goethe und Schiller fungiert. Die Angst vor der Möglichkeit einer Entwicklung französischer Verhältnisse in Literatur und Politik und die Abwehr darauf gerichteter Tendenzen stellt ein wichtiges Motiv in der Zusammenarbeit der beiden ‚Weimarer‘ (Schiller zog allerdings erst 1799 von Jena nach Weimar) dar. So postuliert Schiller in der Ankündigung der Horen (1795) ein programmatisches „Stillschweigen― über das „nahe Geräusch des Krieges―, dieses „Lieblingsthema des Tages―, und er fährt fort: Aber je mehr das beschränkte Interesse der Gegenwart die Gemüter in Spannung setzt, einengt und unterjocht, desto dringender wird das Bedürfnis, durch ein allgemeines und höheres Interesse an dem, was rein menschlich und über allen Einfluss der Zeiten erhaben ist, sie wieder in Freiheit zu setzen und die politische geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen. 35 Der Gegensatz zwischen dem „beschränkte[n] Interesse der Gegenwart― und dem, was „über allen Einfluss der Zeiten erhaben ist― transportiert erneut jene Abwendung vom Feld der Politik, die dem Klassizismus Schillers wesentlich zu Grunde liegt und mit der er hier die Autonomie eines ästhetischen Projekts legitimiert, das in dem Zitat mit der Metapher von der „Fahne der Wahrheit und Schönheit― bezeichnet wird. Die Ausgrenzung der „Gegenwart― aus ihrem von der griechischen Antike beglaubigten philosophischen und ästhetischen Projekt findet sich bei Schiller wie bei Goethe in vielfacher Variation; 36 sie verweist auf die Abwehrhaltung gegenüber den 35 Schillers Werke. Nationalausgabe. Begründet v. Julius Petersen und Hermann Schneider; weiter hg. v. Lieselotte Blumenthal u. Benno v. Wiese, Bd. 22. 106. 36 So soll beispielsweise der Titel von Goethes Propyläen nach den programmatischen Erklärungen der Einleitung das Eingangstor zum Heiligtum der Kunst symbolisieren. Die Antike als Bezugspunkt ästhetischer Idealisierung wird von Goethe in den Propyläen unter anderem mit den „Weimarischen Preisaufgaben― versucht, einem Wettbewerb, in dem Künstler Szenen aus den Epen Homers gestalten sollen. Über eines dieser Kunstwerke schreibt nun wiederum Schiller, den für den deutschen Klassizismus grundlegenden Gegensatz zwischen Kunst und ‚Wirklichkeit‘ variierend: „Mit diesem Bilde sind wir in die geistige Welt der Kunst eingetreten. Das gemeine Wirkliche ist <?page no="63"?> Classicisme/ ‘Klassik‘. Deutsch-französische Wechselwirkungen um 1800 63 französischen Verhältnissen als Grundmotiv der klassizistischen Orientierung zumindest bei ihren beiden zentralen Repräsentanten. Ambivalente Annäherung an den französischen Klassizismus: Goethes Voltaire-Bearbeitung Trotz dieser auf ästhetischer wie auf politischer Ebene eindeutigen Position bleibt die Beziehung der beiden ‚Weimarer‘ Klassizisten zur französischen Literatur des 17. Jahrhunderts ambivalent. Das Autonomiepostulat, in dessen Namen dieses Vorbild abgelehnt wird, da es politisch gelenkt sei, wird durchkreuzt von der Faszination, die der französische Klassizismus als gesellschaftlich gefestigte und anerkannte erscheinende Literatur weiterhin ausübt. Diese Faszination erklärt sich nicht zuletzt aus einer Situation, in der die Weimarer Klassizisten um die Jahrhundertwende weit davon entfernt bleiben, eine solche gesellschaftliche Anerkennung zu genießen. Ihre kurzlebigen Zeitschriftenprojekte zeigen ebenso wie etwa Goethes Klagen über das deutsche Publikum, 37 dass die später in Deutschland so emphatisch als Gipfelpunkt der Nationalliteratur idealisierte, weitgehend auf Schiller und Goethe beschränkte „Klassik― in der Zeit der Entstehung von deren klassizistischen Positionen im uneinheitlichen literarischen Feld des Deutschen Reichs nur sehr eingeschränkt Resonanz fand. 38 Trotz aller politischen Ablehnung und ästhetischen Kritik ist die Faszination gesellschaftlicher Geltung ein Bestandteil des französischen Klassizismus, der in der Selbstverständigung der beiden ‚Weimarer‘ eine unverkennbare Bedeutung bewahrt. Nicht als ästhetischer oder poetologischer Bezugspunkt, wohl aber als Literatur mit einer stabil erscheinenden gesellschaftlichen und politischen Verankerung als Resultat eines kohärenten literarischen Feldes hat die französische Literatur des 17. Jahrhunderts eine Attraktionskraft, die zwar kaum explizit eingeuns aus den Augen gerückt, nur das Bedeutende ist aufgenommen.― („An den Herausgeber der Propyläen―, Schillers Werke. Nationalausgabe. Begründet v. Julius Petersen und Hermann Schneider; weiter hg. v. Lieselotte Blumenthal u. Benno v. Wiese, Bd. 22, 302sq.). 37 Vgl. etwa den Briefwechsel mit dem Verleger Cotta über den mangelnden Absatz der Propyläen aus den Jahren 1799 und 1800 (Goethe und Cotta. Briefwechsel 1797-1832, hrsg. von D. Kuhn, Stuttgart, 1979, Bd. 1). 38 Vgl. zur Situation Goethes nach Schillers Tod Ernst Osterkamp, „Einsamkeit. Über ein Problem im Leben und Werk des späten Goethe―, in: tabula rasa 9/ 2009 (http: / / www.tabularasa-jena.de/ artikel/ artikel_868/ [12.07.2016]): „Er wußte, dass die Pläne zur Steuerung der literarischen Prozesse in Deutschland von dem Machtzentrum Weimar aus sich mit dem Tod Schillers erledigt hatten, und er wußte überdies, dass der seit der Zeit der Propyläen gehegte Traum einer gezielten Lenkung der deutschen Kunstentwicklung nach dem Vorbild der Antike mit dem Ende der Weimarer Preisaufgaben ausgeträumt war―. <?page no="64"?> Hartmut Stenzel 64 standen wird, sie aber doch als national anerkannte und in dieser Hinsicht bereits verwirklichte ‚Klassik‘ erscheinen lassen kann. Diesen Aspekt der deutsch-französischen Wechselwirkungen um 1800 verdeutlicht in all seiner Widersprüchlichkeit ein Gedicht Schillers „An Goethe, als er den Mahomet von Voltaire auf die Bühne brachte―. 39 Es war als Prolog für die erste Aufführung von Goethes Übersetzung und Bearbeitung von Voltaires klassizistischem Drama Le Fanatisme, ou Mahomet le prophète bestimmt (1736/ 41), die 1800 in dem von Goethe geleiteten Weimarer Theater stattfand. 40 Zu diesem, wie Goethe selbst sagt, „sonderbaren Unternehmen― hatte ihn sein fürstlicher Gönner, der Herzog Carl August von Weimar gedrängt; 41 er war also selbst wohl nicht so recht überzeugt von der Bedeutung des Dramas. Es handelt sich, wie schon der Titel zeigt, um ein aufklärerisches Tendenzstück, das deutlich von dem zumindest schon seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in Frankreich verbreiteten Traktat von den „Trois imposteurs― beeinflusst wird, das die drei großen damals bekannten Religionsstifter Moses, Jesus und Mohammed als Betrüger darstellt. 42 Voltaires Drama zeigt nachhaltig das Fortwirken dieses religionskritischen Denkens in der französischen Aufklärung und stellt die Ausbreitung des Islam durch den Propheten Mohammed als Resultat eines Betrugsmanövers dar, mit dem dieser religiöse Schwärmerei und Leichtgläubigkeit skrupellos ausnützt. Für die Rezeption im Deutschen Reich ist es wohl nicht unwichtig, dass dieses nach der Pariser Erstaufführung längere Zeit verbotene Werk dem preußischen König Friedrich II. gewidmet ist, mit einem Widmungsbrief, der den König als Philosophen darstellt, der mit Voltaire im Kampf für religiöse Toleranz und gegen den Fanatismus solidarisch sei. An dieser Religionskritik ist Goethe offenbar wenig interessiert, wie schon die Reduktion des Titels auf den Namen des Propheten zeigt. Obwohl er sich schon in seiner Jugend für die Person und das Wirken Mohammeds interessiert hat, 43 geht es ihm nicht um eine Auseinandersetzung mit dem Islam, und noch weniger um Voltaires aufklärerische Darstellung der Religion (und keineswegs nur des Islam! 44 ) als Betrug. Er übersetzt das Werk 39 Schillers Werke. Nationalausgabe. Begründet v. Julius Petersen und Hermann Schneider; weiter hg. v. Lieselotte Blumenthal und Benno v. Wiese, Bd. 2,1, 404-406. 40 Zum Kontext vgl. Birgit Himmelseher: Das Weimarer Hoftheater unter Goethes Leitung: Kunstanspruch und Kulturpolitik im Konflikt, Berlin, 2010, 82-86. 41 Vgl. den Brief an den Prinzen August von Gotha vom 3.1.1803. 42 Vgl. die Einleitung von Pierre Retat zu dem Reprint des Traité des trois imposteurs von 1777, Saint Étienne, 1973. 43 Vgl. dazu und zum Folgenden Albrecht Meier, „Voltaires und Goethes Mahomet―, Vortrag vor der Goethe-Gesellschaft Kiel, 2008, http: / / digital-b.ub.uni-frankfurt.de/ frontdoor/ index/ index/ docId/ 20005 [12.07.2016]. 44 In einem Brief Voltaires vom 1. September 1742 heißt es über das Drama: „Ma pièce représente, sous le nom de Mahomet, le prieur des Jacobins mettant le poignard à la main de Jacques Clément― (ein fanatischer Mönch, der 1589 den französischen König <?page no="65"?> Classicisme/ ‘Klassik‘. Deutsch-französische Wechselwirkungen um 1800 65 trotz einiger Modifikationen relativ genau, gibt aber dem Konflikt eine eher politische Dimension, in der der Protagonist als Tyrann erscheint. Seine Bearbeitung betont die politische Dimension des Umsturzes, mit dem Mohammed in Mekka die Macht erobert hat und weiter ausbreiten will, und könnte durchaus als implizite Kritik am zeitgenössischen Revolutionsgeschehen verstanden werden. Interessiert hat Goethe bei dieser Pflichtaufgabe aber wohl die Auseinandersetzung mit einem klassizistischen Drama, in dem Voltaire in vieler Hinsicht dem Vorbild des 17. Jahrhunderts folgt. Damit erprobt Goethe die Bedeutung eines Dramenmodells, das in Deutschland schon seit Lessings Polemik gegen Gottsched als nachhaltig diskreditiert erscheint. Das Verhältnis zwischen französischem und deutschem Klassizismus ist denn auch der Aspekt des Werks, den Schiller in seinem Gedicht in Anrede an Goethe zunächst kritisch markiert: Du selbst, der uns von falschem Regelzwange Zur Wahrheit und Natur zurückgeführt, […] Du, den die Kunst, die göttliche, schon lange Mit ihrer reinen Priesterbinde ziert, Du opferst auf zertrümmerten Altären Der Aftermuse, die wir nicht mehr ehren? Mit dem Gegensatz von „falschem Regelzwange― und „Wahrheit und Natur― greift Schiller Lessings Kritik am französischen Drama auf und stellt Goethe selbst als den Initiator der Überwindung des „falsche[n] Regelzwang[s]― der französischen klassizistischen Dichtungslehre dar. Zudem intensiviert er die poetologische Dimension dieser Abwendung vom französischen Vorbild durch die religiöse Aura, mit der „die Kunst, die göttliche― gegen die „zertrümmerten Altäre― dieser „Aftermuse― gestellt wird. Damit wird zugleich die rhetorische Frage aufgebaut, ob Goethe mit seiner Voltaire- Bearbeitung etwa zu diesem bereits überwunden geglaubten Dichtungsmodell zurückkehrt. Gegen dieses Modell begründet Schiller dann mit dem Autonomiepostulat den nationalen Gegensatz zwischen deutscher und französischer Dichtung: Wir können muthig einen Lorbeer zeigen, Der auf dem deutschen Pindus selbst gegrünt. Selbst in der Künste Heiligthum zu steigen, Hat sich der deutsche Genius erkühnt, Und auf der Spur des Griechen und des Britten Ist er dem bessern Ruhme nachgeschritten. Heinrich III. wegen dessen Annäherung an die protestantische Partei in den Religionskriegen ermordet hatte). <?page no="66"?> Hartmut Stenzel 66 Denn dort, wo Sklaven knien, Despoten walten, Wo sich die eitle Aftergröße bläht, Da kann die Kunst das Edle nicht gestalten, Von keinem Ludwig wird es ausgesät; Aus eigner Fülle muß es sich entfalten, Es borget nicht von ird‗scher Majestät, Nur mit der Wahrheit wird es sich vermählen, Und seine Gluth durchflammt nur freie Seelen. Freiheit versus Fremdbestimmung, „freie Seelen― versus „Sklaven― ist die Basisopposition, mit der diese ästhetische und zugleich nationale Differenz entfaltet wird: aus der „eigne[n] Fülle―, nicht auf einen politischen Auftrag hin (die Anspielung auf Voltaires „siècle de Louis XIV― ist überdeutlich), sondern nur von der griechischen Antike und Shakespeare („auf der Spur des Griechen und des Briten―) geleitet, entwickle sich der „deutsche Genius― zu „dem bessern Ruhm―. Schillers Konstruktion ist in der Abwehr des französischen Vorbilds wie in ihrem ästhetisch begründeten Nationalismus eindeutig, um nicht zu sagen platt; sie impliziert allenfalls einen versteckten Wink mit dem Zaunpfahl, da ja die Bearbeitung des Dramas, als dessen Prolog sein Gedicht gedacht ist, gerade eine Auftragsarbeit für einen Fürsten ist. Das sagt Schiller zwar nicht, aber er schränkt in einer - nach der pathetischen Beschwörung der „Gluth―, die „nur freie Seelen― durchflamme - durchaus überraschenden Wendung sein Autonomieideal als potentiell für die Kunst zerstörerisch wieder ein: Es droht die Kunst vom Schauplatz zu verschwinden, Ihr wildes Reich behauptet Phantasie; Die Bühne will sie wie die Welt entzünden, Das Niedrigste und Höchste menget sie. Nur bei dem Franken war noch Kunst zu finden, Erschwang er gleich ihr holdes Urbild nie; Gebannt in unveränderlichen Schranken Hält er sie fest, und nimmer darf sie wanken. Die Kunst erscheint hier als bedroht von der „Phantasie―, der ein revolutionäres Potential zugeschrieben wird („Das Niedrigste und Höchste menget sie―). Man kann in der nur vage angedeuteten Gefährdung der Kunst durch diese unkontrollierbare Macht einen summarischen Verweis auf zwei zeitgenössische Phänomene des literarischen Felds sehen: zum einen eine (wenig ausgeprägte 45 ) Tendenz selbst, den Geist der Revolution auch auf der Bühne zur Geltung zu bringen, eine Tendenz, die Goethe später als „Sans- 45 Vgl. dazu etwa Norbert Otto Eke: Signaturen der Revolution. Frankreich - Deutschland: deutsche Zeitgenossenschaft und deutsches Drama zur Französischen Revolution um 1800, München, 1997. <?page no="67"?> Classicisme/ ‘Klassik‘. Deutsch-französische Wechselwirkungen um 1800 67 culottisme― (schon wieder! ) brandmarken wird 46 ; zum anderen die ersten theoretischen Konzeptionen der Romantik, deren Anfänge ja auch nicht ohne Bezug zu den Erfahrungen des Revolutionsgeschehens zu verstehen sind, 47 und die sich jedenfalls etwa in Schlegels berühmter Definition der Romantik als „progressive Universalpoesie― gegen jede Reglementierung im Namen dichterischer Freiheit verwahren. 48 Wie dem auch sei, jedenfalls setzt Schiller nun als Rettung vor dieser Umsturzphantasie im Reich der Kunst auf die „unveränderlichen Schranken―, die das gerade erst so harsch disqualifizierte französische Vorbild für die Kunst errichte. Der französische Klassizismus erscheint damit - in bemerkenswerter Revision seiner Wertung als kunstwidrig - nun als stabiler Bezugspunkt, mit dem die Kunst vor den ästhetischen Turbulenzen bewahrt werden könne, die die französische Revolution erzeugt hat. Dieses ambivalente Lob der „unveränderlichen Schranken―, die die „Kunst― des „Franken― bereitstelle, mag man sowohl als implizite Rehabilitation der Gesellschaftsordnung des Ancien Régime wie auch der Regelpoetik des 17. Jahrhunderts lesen. Bestimmt wird sie jedenfalls von dem Bedürfnis nach einer kohärenten Ordnung der Kunst, nach eben jenen „unveränderlichen Schranken― im literarischen Feld, deren Fehlen die deutschen Verhältnisse - und damit die Dominanz des ‚Weimarer‘ Klassizismus im literarischen Feld des Reichs- so nachhaltig beeinträchtigt. 46 1812 bezeichnet Goethe in einem Memorandum an die Weimarer Hoftheater- Kommission den Umstand, dass Theaterdichter begonnen hätten „den oberen Ständen den Krieg anzukündigen― als einen „Sansculottisme―, der sich „in Zeiten, wo alles nach ungemessener Freiheit strebte― auf der Bühne ausgebreitet habe (zit. nach Birgit Himmelseher: Das Weimarer Hoftheater unter Goethes Leitung: Kunstanspruch und Kulturpolitik im Konflikt, Berlin, 2010, 230). Goethes fortdauernde Revolutionsangst trägt mit zu einer weitgehenden Zensur der für die Aufführung am Weimarer Hoftheater ausgewählten Dramen bei (vgl. Ibid.). 47 Nicht umsonst schreibt Schlegel: „Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters. Wer an dieser Zusammenstellung Anstoß nimmt, wem keine Revolution wichtig scheinen kann, die nicht laut und materiell ist, der hat sich noch nicht auf den hohen weiten Standpunkt der Geschichte der Menschheit erhoben.― (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe, hrsg. von E. Behler u. a., Band 2, München, Paderborn, Wien, Zürich, 1967, 365). 48 Im 116. Athenäum-Fragment begründet Schlegel diese Bestimmung der Romantik unter anderem folgendermaßen: „Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide.― (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe, hrsg. von E. Behler u. a., Band 2, München, Paderborn, Wien, Zürich, 1967, 183). <?page no="68"?> Hartmut Stenzel 68 Der Konflikt, in dem Schiller sich in diesem Gedicht bewegt, ohne ihn lösen zu können, ist auf ästhetischer Ebene der zwischen Regelzwang und künstlerischer Freiheit, auf gesellschaftlicher Ebene der zwischen politischer Lenkung und Autonomie der Kunst. Damit manifestiert sich auch in diesem Gedicht das schon mehrfach angesprochene ambivalente Verhältnis zwischen französischem und ‚Weimarer‘ Klassizismus, das seine Schlussverse in dem unklaren Gegensatz zwischen „Muster― und „Führer nur zum Bessern― wieder aufgreifen: Nicht Muster zwar darf uns der Franke werden! Aus seiner Kunst spricht kein lebend‗ger Geist; Des falschen Anstands prunkende Geberden Verschmäht der Sinn, der nur das Wahre preist! Ein Führer nur zum Bessern soll er werden. Der Gegensatz an sich verweist auf die ästhetische Ebene: „Muster― darf der „Franke― nicht sein, weil seine „Kunst―, in Konventionen erstarrt, nichts „Wahre[s]― enthält. Warum er dann trotzdem „Führer nur zum Bessern― sein soll, kann wohl nur durch einen impliziten Rückverweis auf die zuvor erwähnten „unveränderlichen Schranken― verständlich werden. Der französische Klassizismus wird in dem Gedicht insgesamt als in seiner gesellschaftlichen Bedeutung faszinierendes, aber ästhetisch von der deutschen Entwicklung übertroffenes Vorbild auf- und zugleich abgewertet. Im nationalistischen Diskurs der Germanistik ist diese Deutung der Beziehung zwischen den beiden als ‚klassisch‘ gewerteten Perioden der deutschen und der französischen Literatur immer wieder aufgegriffen und zu einer Abwertung des französischen Klassizismus als längst entwerteter, unbedeutender Vorläufer der deutschen ‚Klassik‘ zugespitzt worden. 49 Diese Deutung verkennt die unaufhebbare Ambivalenz, mit der sich Schiller und Goethe in der Auseinandersetzung mit dem französischen Klassizismus wie der französischen Literatur insgesamt bewegen. Goethe wird, nicht zuletzt durch Wilhelm von Humboldt beeinflusst 50 , im Laufe seiner Entwicklung dabei gegenüber dem Nachbarland noch offener als Schiller. So vermerkt er in den Anmerkungen zu seiner Übersetzung von Diderots Neveu de Rameau (wobei diese Übersetzung selbst ein Beleg für sein Interesse an der französischen Literatur ist): 49 In drastischer Form etwa folgendermaßen: „Die Firma Racine und Co. ist von den deutschen Klassikern überwunden und als minderwertig ad acta gelegt worden.― (Hans A. Korff: Voltaire im literarischen Deutschland des 18. Jahrhunderts, Heidelberg, 1917, 3). Aber auch die deutsche Romanistik hat sich im Zeichen des Nationalsozialismus dieser Deutung angeschlossen - wenn auch mit einem weniger negativen Urteil über den französischen „Vorläufer―. So etwa Fritz Neubert, Die französische Klassik und Europa, Berlin, 1941. 50 Vgl. dazu Günter Oesterle, „Kulturelle Identität und Klassizismus―, in: B. Giesen (ed.), Nationale und kulturelle Identität, Frankfurt, 1991, 304-349. <?page no="69"?> Classicisme/ ‘Klassik‘. Deutsch-französische Wechselwirkungen um 1800 69 Eine historische Darstellung der französischen Ästhetik von einem Deutschen wäre daher höchst interessant, und wir würden auf diesem Weg vielleicht einige Standpunkte gewinnen, um gewisse Regionen deutscher Art und Kunst, in welchen noch viel Verwirrung herrscht, zu übersehen und zu beurteilen und eine allgemeine deutsche Ästhetik, die jetzt noch so sehr an Einseitigkeiten leidet, vorzubereiten. 51 Was jene „Einseitigkeiten― der „allgemeinen deutschen Ästhetik― anlangt, so expliziert sie Goethe hier zwar nicht näher, aber die Konturen des Problems zeichnen sich gerade im Bezug auf das französische Vorbild ab, dem hier zugeschrieben wird, ihnen abhelfen zu können. Goethes Argumentationsstrategie folgt - weniger abwertend - einer Logik, die der vergleichbar ist, die ich bei Schiller untersucht habe. „Einseitigkeit― bezöge sich in dieser Perspektive wiederum auf das Fehlen einer stabilen sozialen Basis für das ästhetische Denken, die - natürlich idealtypisch stilisiert - die französische Situation kennzeichnen soll. In der als Behebung von Mängeln gedachten Aufhebung der Autonomieästhetik in einen sozialen Funktionszusammenhang deuten sich in solchen Denkfiguren grundsätzliche Aporien jener Selbststilisierung des Weimarer Klassizismus an, in der der Ort literarischer Idealität jenseits von und auf Distanz zur Geschichte konstruiert werden sollte. Natürlich beinhaltet gerade im Fall Goethes die positive Wertung des französischen Vorbilds auch eine keinesfalls gering zu schätzende Offenheit - in eben dem Jahr 1806, in dem Napoleon das Schicksal des alten Deutschen Reichs besiegelt. Jedenfalls würden damit die Wechselwirkungen zwischen französischer und deutscher Literatur zu einem produktiven Austausch gelangen, der von jenen nationalistischen Abwehrgesten frei wäre, die auf beiden Seiten im 19. Jahrhundert und darüber hinaus die deutsch-französischen Beziehungen zunehmend beeinträchtigen werden. Ausblick Trotz der Entwicklung des Revolutionsgeschehens in Frankreich, trotz der Abwehr gegenüber dem französischen Vorbild, die sich bei Schiller und Goethe konstatieren lässt, gibt es um 1800 einen solchen Austausch noch, wie die Geschichte des Romantik-Begriffs zeigt, der ja um 1800 als Ergänzung und Erweiterung der klassizistischen Orientierung der Literatur in Deutschland auftaucht, 52 aber von Anfang an auch als deren Gegenspieler 51 Goethes sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe, in Verbindung mit Konrad Burdach etc. hrsg. von Eduard von der Hellen, Stuttgart o. J., Bd. 34, 195sq. 52 Zum Verhältnis der unterschiedlichen literarischen Orientierungen um 1800 in Deutschland vgl. die grundsätzlichen Überlegungen von Sabine M. Schneider, „Klassi- <?page no="70"?> Hartmut Stenzel 70 verstanden worden ist. Madame de Staël, die in intensivem Austausch mit den Weimarern und anderen deutschen Literaturzirkeln stand, bringt den Gegensatz „klassisch-romantisch― nach Frankreich zurück, indem sie ihn mit den Begriffspaaren „veraltet-modern― und „eingeführt-einheimisch― oder auch „künstlich-volkstümlich― zur Diskreditierung der um 1800 in Frankreich vorherrschenden klassizistischen Orientierung der Literatur verwendet. 53 Bezeichnenderweise begreift sie den Klassizismus trotz ihrer Gespräche mit Goethe und Schiller als typisch französisch-romanische Form der Literatur, während sie die romantische Dichtung als germanisch, ritterlich und christlich einordnet. Nur diese letztere ermöglicht es ihrer Ansicht nach, individuelle Gefühle und Empfindungen zu gestalten, weshalb sie zur Erneuerung der in Künstlichkeit erstarrten französischen Literatur beitragen könne. 54 Mit Mme de Staël wird eine Entwicklung eingeleitet, in der die von der Abwehr des französischen Vorbilds bestimmten literarischen Orientierungen im Deutschen Reich wieder nach Frankreich zurückwirken und dort einen bedeutsamen Einfluss auf die Entwicklung der Literatur bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts ausüben. Der Triumph der Romantik über den im Kaiserreich und zu Beginn der Restaurationsmonarchie noch dominanten Klassizismus erhält von Mme de Staëls Umdeutung der deutschen Literatur wesentliche Impulse. Doch damit schlagen wir ein neues Kapitel der Wechselwirkung deutsch-französischer Literaturbeziehungen auf, das im folgenden Kapitel behandelt werden wird. zismus und Romantik - Zwei Konfigurationen der einen ästhetischen Moderne―, in: Jahrbuch der Jean Paul-Gesellschaft 37/ 2002, 86-128. 53 In dem Kapitel „De la poésie classique et de la poésie romantique― von De l’Allemagne heißt es unter anderem : „[…] la question pour nous n‘est pas entre la poésie classique et la poésie romantique, mais entre l‘imitation de l‘une et l‘inspiration de l‘autre. La littérature des anciens est chez nous une littérature transplantée : la littérature romantique ou chevaleresque est chez nous indigène― und weiter : „La poésie française étant la plus classique de toutes les poésies modernes, elle est la seule qui ne soit pas répandue parmi le peuple― etc. (Paris, 1813, 289sq.). 54 Vgl. Ibid..: „La littérature romantique est la seule qui soit susceptible encore d‘être perfectionnée, parce qu‘ayant ses racines dans notre propre sol, elle est la seule qui puisse croître et se vivifier de nouveau; elle exprime notre religion; elle rappelle notre histoire: son origine est ancienne, mais non antique. La poésie classique doit passer par les souvenirs du paganisme pour arriver jusqu‘à nous : la poésie des Germains est l‘ère chrétienne des beaux-arts: elle se sert de nos impressions personnelles pour nous émouvoir: le génie qui l‘inspire s‘adresse immédiatement à notre coeur, et semble évoquer notre vie elle-même comme un fantôme le plus puissant et le plus terrible de tous―. <?page no="71"?> Classicisme/ ‘Klassik‘. Deutsch-französische Wechselwirkungen um 1800 71 Weiterführende Literatur Berghahn Klaus L.: „Von Weimar nach Versailles. Zur Entstehung der Klassik- Legende im 19. Jahrhundert―, in: idem, Schiller: Ansichten eines Idealisten, Frankfurt/ M., Athenäum, 1986, 210-229. Brody Jules (ed.): French Clacissism. A Critical Miscellany, Englewood Cliffs, 1966. Bury Emmanuel: Le Clacissisme. L’avènement du modèle littéraire français, Paris, Armand Colin, 1993. Dandrey Patrick: „Qu‘est-ce que le clacissisme? ―, in: L’État classique, textes réunis par H. Méchoulan et J. Cornette, Paris, J. Vrin, 1966, 43-67. Grimm Reinhold & Jost Hermand: Die Klassik-Legende. Second Wisconsin Workshop, Frankfurt/ M., Athenäum, 1971. Mandelkow Karl Robert, „Deutsche Literatur zwischen Klassik und Romantik aus rezeptionsgeschichtlicher Sicht―, in: idem (ed.), Europäische Romantik I, Wiebelsheim, Aula-Verlag, 1982, 1-26 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 14). Rohou Jean (ed.): „La périodisation à l‘âge classique―, Littératures classiques, n°34, 1998. Simm Hans-Joachim (ed.), Literarische Klassik, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1988. Thoma, H.: „Literatur - Didaktik - Politik: Zur Rezeptionsgeschichte der französischen Klassik―, in: Rolf Kloepfer u.a. (ed.), Bildung und Ausbildung in der Romania, Bd. 1, München, Fink, 1979, 166-185. Un clacissisme ou des clacissismes? Actes du colloque international, Université de Reims, 1991, dir. Georges Forestier & Jean-Pierre Néraudau, Pau, 1995. Voßkamp Wilhelm (ed.): Klassik im Vergleich. Normativität und Historizität europäischer Klassiken, Stuttgart/ Weimar, Metzler, 1993. <?page no="73"?> Georges Jacques, Hubert Roland und Johannes Werner (unter Mitarbeit von Christian Drösch) 1 Kapitel 3 Deutsch-französische Verflechtungen um die Romantik. Kulturtransfer und Missverständnis 1 Einleitung: Historiographie und Kulturtransfer Das Zeitalter der Romantik stellt unmissverständlich eine entscheidende, epochenmachende Schwelle in der spannungsvollen Geschichte der deutschfranzösischen Beziehungen im europäischen Kontext dar. Konstitutiv dafür ist das komplexe und kontradiktorische Verhältnis zwischen einem von der Französischen Revolution ausgelösten kosmopolitischen Elan und dem Aufstieg einer in der Intellektuellenwelt brisanten nationalistischen Strömung, die nicht von dem Hintergrund der napoleonischen Kriege und der hiermit assoziierten traumatischen Gestaltung von Feindbildern abzukoppeln ist. 2 Demgegenüber gilt zu Recht die Romantik auf dem ästhetischen Gebiet als Höhepunkt von deutsch-französischen „Wahlverwandtschaften― messen. Diese lassen sich nicht zuletzt über eine lange Transfergeschichte, unter anderem über die intensive Auseinandersetzung mit dem Erbe der deutschen Romantik in den aufeinanderfolgenden Epochen der französischen Literaturgeschichte (wie dem Symbolismus und dem Surrealismus). Auch dieser Aspekt der Historiographie wird von Alain Vaillant in seinem neueren anregenden Plädoyer für eine „histoire globale du romantisme― einbezogen. Laut Vaillant ist die Geschichte des romantisme mondial als eine Geschichte der permanenten Kulturvermittlung zu lesen, die sich seit 1 Dieser Text ist das Ergebnis einer gemeinsamen Auseinandersetzung der drei Verfasser mit der Komplexität der romantischen Thematik aus deutsch-französischer Sicht. Zu unserer ursprünglichen Diskussion hat Christian Drösch aktiv beigetragen und für seine Übersetzung des Textteils von Georges Jacques sind wir ihm noch zu Dank verpflichtet. Für ihre aufmerksame Lektüre danken wir schließlich noch Caroline Klein. 2 Über die Beziehung zwischen Kosmopolitismus und Nationalismus vor dem Hintergrund des deutsch-französischen Paradigmas nach 1800, s. das Kapitel „The Fissured Identity of Literature: The Birth of National Literary History out of International Cultural Transfers― in dem neueren Werk von Vladimir Biti: Tracing Global Democracy, Berlin, De Gruyter, 2016, 57-82. <?page no="74"?> Georges Jacques, Hubert Roland und Johannes Werner 74 dem 19. Jahrhundert und bis heute mit beschleunigendem Rhythmus entwickelt und dazu Austausch und Verflechtungen sowie die Hybridisierung der nationalen Kulturen fördert. 3 Bemerkenswert und von besonderer Relevanz für die romantische Epoche aus deutsch-französischer Perspektive ist dazu die Feststellung, dass sich Zeiten von politischen Konflikten und Okkupationen über alle Brutalitäten und nationalistische Ausbrüche hinaus für das „Treffen zwischen den Kulturen― günstig auswirken. 4 So stellt sich heraus, dass das Exil als „Randphänomen― der Kriege und des politischen nationalistischen Klimas in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die zwei vorbildlichsten deutsch-französischen Vermittlerfiguren um die Romantik unmittelbar betrifft, von denen noch die Rede sein wird: Germaine de Staël und Heinrich Heine. 2 „Das große Missverständnis“ Die versöhnende Auffassung, dass Kulturtransfers in Kriegszeiten eine trotz aller traumatischen Ereignisse überbrückende Funktion übernehmen können, da sie den Anstoß zu neuen Berührungszonen und unerwarteten Konfrontationen im positiven Sinne geben, 5 bedarf jedoch weiterer Überlegungen, die das in der Transferforschung vernachlässigte Kriterium des Missverständnisses reflektieren sollten. Im Feld der Publikationen zum deutsch-französischen Dialog wird diese Idee sogar bewertet. Sie kehrt in der Tat leitmotivisch zurück, spätestens seitdem die ursprünglich 1989 veröffentlichte deutschsprachige Publikation 100 Schlüsselbegriffe für Deutsche und Franzosen (München, 1989) ein Jahr später unter dem Titel Au jardin des malentendus. Le commerce franco-allemand des idées ins Französiche übersetzt bzw. angepasst wurde. Im Geist der interkulturellen Studien strebe dieser angedeutete jardin die wechselseitige Verflech- 3 „On le voit, l‘histoire du romantisme mondial se confond avec celle des transferts culturels qui se développent à un rythme de plus en plus accéléré à partir du XIXe siècle et qui permettent d‘incessants échanges et hybridations entre les cultures nationales―: Alain Vaillant: „Pour une histoire globale du romantisme―, in: Id. (ed.), Dictionnaire du Romantisme, Paris, CNRS-Éditions, 2012, XV-CIX, XXIII. 4 „Les crises qui secouent l‘Europe ont aussi, à leur manière infiniment plus brutale, favorisé la rencontre entre les cultures. Les guerres incessantes de la Révolution et de l‘Empire […] ont entraîné l‘occupation forcée de pays entiers et, malgré les violences et la contrainte subie, ouvert les horizons des occupants comme des peuples occupés […]―: Ibid., XXIII-XXIV. 5 Diese These vertritt ebenso Hans-Jürgen Lüsebrink unter anderem mit Bezug auf den Zweiten Weltkrieg: „Interculturalités en temps de guerre - approches d‘une problématique paradoxale―, in: Valérie Deshoulières, H.-J. Lüsebrink, Christoph Vatter (ed.), Europa zwischen Text und Ort-L’Europe entre Texte et Lieu/ Interkulturalität in Kriegszeiten- Interculturalités en temps de guerre (1914-1954), Bielefeld, transcript, 2013 (= Jahrbuch des Frankreichzentrums der Universität des Saarlandes; 12), 99-110 (100-101). <?page no="75"?> Deutsch-französische Verflechtungen um die Romantik 75 tung (interpénétration) der deutschen und französischen Geschichten und Kulturen an, die Überwindung der nationalen Positionen also, sowie die Enthüllung der „richesse souvent méconnue de la confrontation francoallemande et de ses malentendus toujours fructueux―. 6 Zweifellos liefert seit Madame de Staëls idealisiertem Deutschlandbild in De l’Allemagne und Gérard de Nervals Faust-Übersetzung die romantische deutsch-französische Konstellation bis heute viel Stoff für „produktive― bzw. „fruchtbare― Missverständnisse. Dennoch ist diese Rezeptionsgeschichte auch von einer anrüchigen Kontroverse betroffen, die zum letzten Mal im Frühling 2013 von der (anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Élysée- Vertrags im Musée du Louvre stattfindenden) Ausstellung „De l‘Allemagne (1800-1939), de Friedrich à Beckmann― ausgelöst wurde. 7 Darüber berichtete die Tageszeitung Le Monde am 18. April 2013 unter dem Titel „De l‘Allemagne: le grand malentendu― und bezog sich hiermit auf die verschiedenen Kritiken aus der deutschen Presse. 8 Und am 31. Mai 2013 verwies die belgische Ausgabe des kostenlosen Flugblatts Métro (in dem kurzen Kommentar auf den gemeinsamen Besuch der Ausstellung durch Präsident François Hollande und Bundeskanzlerin Angela Merkel) erneut auf die Kritik der deutschen Presse, laut der die Ausstellung „alle Klischees einer deutschen schwarzen Romantik, die unausweichlich zum Nationalsozialismus geführt habe―, hervorgerufen hätte. 9 Eine solche politische Missdeutung der deutschen Romantik im öffentlichen Medienraum läuft natürlich unabhängig von der wissenschaftlichen Diskussion ab, zumal sie im offenen Widerspruch zu einer maßgebenden französischsprachigen intellektuellen Kritik der Gegenwart steht, die sich überwiegend den spekulativen und theoretisch-ästhetischen Aspekten der deutschen Romantik widmet. 10 6 So im Vorwort des französischen Bandes (unter dem Titel „Dans le dédale des traditions―): Au jardin des malentendus. Le commerce franco-allemand des idées. Textes édités par Jacques Leenhardt et Robert Picht, Paris, Actes Sud, 1990, 12. 7 Diese Ausstellung lief vom 28. März bis zum 24. Juni 2013. 8 http: / / www.lemonde.fr/ culture/ article/ 2013/ 04/ 18/ de-l-allemagne-le-grandmalentendu_3162455_3246.html [11.07.2016]. 9 Es ist hier die Rede von „[…] tous les clichés du romantisme noir de l‘Allemagne ayant mené inéluctablement au nazisme―. 10 S. exemplarisch L’Absolu littéraire: Théorie de la littérature du romantisme allemand. [Textes choisis, présentés et traduits] par Philippe Lacoue-Labarthe et Jean-Luc Nancy, Paris, Seuil, 1978; Jean-Marie Schaeffer: La naissance de la littérature. La théorie esthétique du romantisme allemand, Paris, École normale supérieure, 1983; Alain Montandon: Les yeux de la nuit. Essai sur le romantisme allemand, Clermont-Ferrand, Presses Universitaires Blaise-Pascal, 2010; Philippe Grosos: L’ironie du réel: à la lumière du romantisme allemand, Lausanne/ Paris, l‘Age d‘homme, 2009; Charles Le Blanc, Laurent Margantin, Olivier Schefer: La forme poétique du monde. Anthologie du romantisme allemand, Paris, José Corti, 2003. <?page no="76"?> Georges Jacques, Hubert Roland und Johannes Werner 76 Im Grunde genommen gilt eine solche Deutungslinie bei französischsprachigen Intellektuellen spätestens seit der originellen Vermittlung des Schweizer Literaturwissenschaftlers Albert Béguin (1901-1957), des Übersetzers von Jean Paul, E.T.A. Hoffmann und Ludwig Tieck. Seine einflussreiche Studie L’âme romantique et le rêve: essai sur le romantisme allemand et la poésie française 11 hatte das literarische Bewusstsein der Generation der jungen Literaten französischer Sprache (unter anderem der Surrealisten) seiner Zeit stark geprägt. Indem Béguin die Affinitäten der deutschen Romantik mit der jungen französischen Literatur untersuchte, wurde erstere Strömung durch originelle Vermittlung und Aneignung zum französischen Kulturgut. In den 1930er Jahren bemühte sich Béguin, eine „unpolitische― Lesart der deutschen Romantik zu vermitteln, wie dies auch der Fall in einem parallelen, von ihm herausgegebenen Romantik-Sonderheft der bedeutenden Zeitschrift Cahiers du Sud 1937 war. Die (deutsche) Romantik wurde dementsprechend im französischsprachigen Raum als reine geistige Ideenströmung gedeutet, die mit größter Ausdruckskraft auf die geheimen und unbewussten Seelenzustände des Menschen fokussiert. Das besondere ‚Genie‗ der Romantik lag in der visionären Kraft ihrer Dichter und Denker (von Friedrich Schlegel, Novalis und Ludwig Tieck bis E.T.A. Hoffmann, Hölderlin und Kleist), die laut dem Prinzip der Offenbarung den Zugang zu versteckten Wahrheiten ermöglicht hatte. Wie war es aber mit der reaktionär-nationalistischen Komponente der Spätromantik zur Zeit der napoleonischen Kriege, als der Diskurs mancher Vertreter der Romantik zum „politisch-ästhetischen Kampfbegriff― und zur Ideologie einer „Befreiungsbewegung― wurde? 12 Als das Romantik- Sonderheft der Cahiers du Sud nach dem Kriegsende, im Jahre 1949, neu verlegt wurde, wollte Béguin in einem neuen Vorwort dafür büßen, dass er damals diese ideologische Dimension verschwiegen hatte. Dass es eine ideengeschichtliche Verwandtschaft zwischen der romantischen „Geisteshaltung― und deren späteren niedrigen Formen des Mystizismus, die letztendlich vom Nationalsozialismus instrumentalisiert wurden, gegeben hatte, sei Béguin schon Mitte der 1930er Jahre klar gewesen, wie er selbst in dem Vorwort erläutert. Dennoch ließ er 1949 als Argument gelten, dass er vor dem Krieg die bewusste Meinung vertreten hätte, dass ein effizienter Kampf gegen den Verrat des Nationalsozialismus und dessen Herabwürdigung des romantischen Ideenguts lieber über die Bewertung der intellektuellen Höhepunkte der Bewegung lief. Dementsprechend hatten Béguin und seine Mitarbeiter, so im neuen Vorwort, das „dunkle Erbe― der Romantik unerwähnt lassen wollen: 11 Paris, Corti, 1939 (neue Ausgabe 1946). 12 S. Ernst Müller: „Romantisch/ Romantik―, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart/ Weimar, Metzler, 2003, 330-332. <?page no="77"?> Deutsch-französische Verflechtungen um die Romantik 77 Nous avions pensé […] qu‘il n‘était pas nécessaire d‘y faire allusion dans un cahier consacré au moment le plus haut de l‘histoire spirituelle allemande. Ce n‘était pas que nous puissions ignorer entièrement les filiations qu‘on établirait, de façon légitime et irréfutable, entre telle orientation romantique et telle formule particulièrement odieuse du credo hitlérien. La chaîne est continue, qui va des philosophes romantiques […] à leurs disciples vulgarisateurs, tel Georg Friedrich Daumer, puis à Nietzsche et Wagner, puis encore à leurs interprètes inférieurs du type H.S. Chamberlain, et enfin aux doctrinaires du racisme. Ligne de décadence et de successive trahison, sans doute, - car il faut dénier aux Moeller van den Bruck et aux Rosenberg le droit de se réclamer de Nietzsche, de Schelling, de Novalis ou de Herder, voire de Maître Eckhart, - mais cette ligne descendante n‘en existe pas moins comme existe un fait d‘histoire. S‘il nous paraissait préférable de ne pas marquer cette liaison, c‘est que nous pensions agir plus efficacement contre les formes basses du mysticisme allemand en remettant en lumière ses formes supérieures, obnubilées en Allemagne même par une critique asservie. 13 Es ging offenbar im intellektuellen Nachkriegsfrankreich wieder um die leitmotivisch wiederkehrende Thematisierung der sogenannten „deutschen Seele―. Kurz vor der Erscheinung der Neuausgabe der Cahiers du Sud veröffentlichte noch 1947 der französische komparatistische Literaturwissenschaftler Jean-Marie Carré - der ebenso um im Krieg gestorbene Studenten trauerte - unter dem Titel Les écrivains français et le mirage allemand ein emotionales Plädoyer gegen die französischen Schriftsteller, die sich seit dem 19. Jahrhundert immer wieder vom deutschen „Trugbild― hatten verführen lassen, mit dem er alle Tendenzen der Idealisierung der deutschen „Dichter und Denker― meinte. Carrés Auffassung der ideologischen Dimension der deutschen Romantik konvergierte schon mit der von Béguin: Il y a, d‘autre part, chez certains représentants du Romantisme allemand, une nostalgie d‘absolu, un désir de la mort, de la nuit et de l‘au-delà, un goût de la guerre, une exaltation de la passion, une volonté d‘atteindre, au plus profond de l‘inconscient, une réalité suprême, indicible, incommunicable, pardelà les frontières de la logique, de la raison, qui ont donné le branle à une sombre inquiétude, dont nous verrons s‘épanouir les manifestations dans le wagnérisme et dans le national-socialisme. 14 Der imagologische Diskurs einer versteckten und dennoch intimen Kontinuität zwischen der deutschen Romantik und dem Nationalsozialismus charakterisiert nicht nur die Wahrnehmung von deutschen Fremdbildern, die in 13 Albert Béguin: „Avant-propos―, in: Le romantisme allemand. Textes et études publiés sous la direction de A. Béguin, Les Cahiers du Sud, 1949, 9-19, 10. 14 Jean-Marie Carré: Les écrivains français et le mirage allemand 1800-1940, Paris, 1947, 40. <?page no="78"?> Georges Jacques, Hubert Roland und Johannes Werner 78 Frankreich und in anderen Kulturräumen in Krisenzeiten Konjunktur hatten, sondern wird auch gelegentlich als Selbstbild in der deutschen Kritik vermittelt. So unterscheidet man ihn im Erfolgsband Romantik. Eine deutsche Affäre (2007), in dem Rüdiger Safranski die Romantik als „glänzende Epoche des deutschen Geistes― vom Prinzip des „Romantischen― als „Geisteshaltung― der deutschen Ideengeschichte abgrenzt. Letzteres Prinzip habe nach der romantischen Epoche die unterschiedlichsten Ausdrucksformen gefunden: Dazu gehören nicht nur die sozial-politische Utopie des Vormärz, sondern auch der Geist der Wagner‗schen Mythen und der Philosophie Nietzsches, die Katastrophe des Nationalsozialismus sowie schließlich noch der Avantgardismus des 68-er Bewegung. 15 Man sieht also, weshalb die Historiographie der Romantik untrennbar von den widersprüchlichen Bewegungen ist, die ihre langfristige Rezeption geprägt haben. Entscheidend für jede Geste der Aneignung bzw. der ideologischen Umdeutung (im Falle des Nationalsozialismus) 16 bleibt in dieser Gedankenfülle die selektive Auswahl der Informationen, die die unterschiedlichen Lesarten und Deutungslinien fundiert, auch im Sinne von Effekten der Emphase oder der Verdrängung. Will man Missverständnissen vorbeugen, insbesondere aus der Perspektivierung einer Romantik als „Makro-Epoche― im Sinne von Vaillant und Safranski, ist es erforderlich, die ästhetische Komponente der Bewegung, die die Aneignung der deutschen Romantik durch spätere französische Strömungen wie den Symbolismus oder den Surrealismus weitgehend motiviert, 17 von der politischideologischen Dimension des romantischen Phänomens zu unterscheiden. Die Instrumentalisierung der Romantik durch die Ideologen des Dritten Reiches wird folgenderweise von Safranski subsumiert: „die Ideen über Volk und Volkskultur, die romantischen Organismus-Vorstellungen in Bezug auf Staat und Gesellschaft und die romantischen Mytheninterpretationen eines [Joseph] Görres und [Georg Friedrich] Creuzer―. 18 15 Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre, München, Carl Hanser Verlag, 2007, 392 und 12. Der Verf. fügt hinzu, dass um 1900 unter dem Einfluss sozialdarwinistischen Denkens die „romantische Lebensphilosophie […] in dem Augenblick vergiftet worden― sei, „wo sie sich mit einem Szientismus verband, der glaubte, aus der Biologie eine Moral ableiten zu können […]― (ibid., 358). 16 Auch Caspar David Friedrich wurde in der nationalsozialistischen Publizistik als „der einsame, einzelne―, der für „das vaterländische Schicksal―, für „deutsche Innerlichkeit, Seelentiefe und Heroismus― stand, missbraucht: s. Werner Busch: „Caspar David Friedrich―, in: Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, München, C.H. Beck, 2001, 516-530, 519. 17 S. Jean-Paul Glorieux: Novalis dans les lettres françaises à l’époque et au lendemain du Symbolisme, Presses Universitaires de Louvain, 1982. 18 Safranski, op. cit., 350. <?page no="79"?> Deutsch-französische Verflechtungen um die Romantik 79 3 Zur Chronologie, Begriffsbestimmung und Pluralität der Romantik Kommen wir nun zur Periodisierung der romantischen Epoche selbst. Auf der Ebene der deutschen nationalen Literaturgeschichtsschreibung wird heutzutage die Idee einer Einheit der romantischen Bewegung in Frage gestellt. Von der gängigen „Fokussierung und Verengung der Romantik auf den kurzen, zweifellos besonders produktiven Zeitraum der Jahre vor und unmittelbar nach 1800― ausgehend, deutet in der Tat die deutsche Historiographie „die Romantik des 19. Jahrhunderts als Transformation frühromantischer Konzepte unter veränderten politisch-gesellschaftlichen, wissensgeschichtlichen, anthropologischen, medialen und anderen Bedingungen […]―. 19 Und schon innerhalb der traditionellen Eingrenzung der Bewegung zwischen den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts und der Mitte des 19. Jahrhunderts 20 ist gelegentlich die Rede von „partiellen Romantiken―, bzw. wird „aus ideenpolitischen und wissenschaftsgeschichtlichen Gründen, der Begriff der ‚Romantik‗ in immer kleinere partikulare Einheiten zergliedert […]―, so dass „an der Möglichkeit eines übergreifenden Romantikbegriffs― gezweifelt wird. 21 Die Chronologie einer deutsch-französischen transfergeschichtlichen Darstellung der Romantik darf sich ihrerseits nicht mit dem Standpunkt der deutschen Historiographie im engen Sinne zufrieden stellen. In der Suche nach einem romantischen Modell, das in Europa noch späteren Formen der Weltdeutung und der ästhetischen Gestaltung der Wirklichkeit ein besonderes Gepräge gegeben hat, will dieses Kapitel das Spektrum der deutschfranzösischen Literatur zwischen 1750 und 1850 decken. Es muss also ebenfalls die Bedeutung beleuchtet werden, die die deutsch-französischen Wechselbeziehungen zur Zeit Jean-Jacques Rousseaus, des Sturm und Drang und der Französischen Revolution für die Entwicklung der romantischen Poetik und Literatur hatten. Anschließend kommt ebenso in Frage, dass die romantische Ästhetik nicht erst von ihren Rezipienten, sondern schon von ihren Vertretern in Deutschland und Frankreich als Neubeginn moderner Litera- 19 Dirk von Petersdorff/ Bernd Auerochs: „Einleitung―, in: dies. (ed.): Einheit der Romantik? Zur Transformation frühromantischer Konzepte im 19. Jahrhundert, Paderborn, 2009, 7 und 1. 20 So etwa Ludwig Stockinger in seinem Aufsatz „Die ganze Romantik oder partielle Romantiken―: „Der Beginn liegt für mich also in der Diskussionsphase der Jenaer Romantik, deren Ergebnis mit dem ersten Band der Zeitschrift Athenaeum erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Das Ende habe ich so bestimmt, dass die spätesten Werke von Eichendorff […] noch erfasst werden können, aber auch die Werke des späten Heine―, in: Ibid., 21-41 (29-30). 21 Ibid., 27-28. <?page no="80"?> Georges Jacques, Hubert Roland und Johannes Werner 80 tur seit dem Mittelalter und Shakespeare und in entschiedener Weise als Gegenbegriff zur Klassik verstanden wurde. 22 Zunächst einmal muss begriffsgeschichtlich an den Unterschied zwischen ‚romantisch‗ und ‚Romantik‗ erinnert werden, da das Adjektiv vor dem Nomen entstanden ist. In diesem Zusammenhang erläutert Alain Vaillant, dass ‚romantisch‗ nur die Voraussetzungen für das literarische und künstlerische Bewusstwerden einer allmählich hervortretenden neuen kulturellen Wirklichkeit kennzeichne, deren Umrisse zu Beginn unscharf und veränderlich geblieben seien. 23 Erst die Erfindung des Nomens „Romantik― habe die Datierung einer klaren ästhetischen Forderung mit der dazu notwendigen hinterfragenden Dimension und dem dazu gehörenden theoretischen Metadiskurs ermöglicht. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts hatte das Adjektiv ‚romantisch‗ eine große Bedeutungsvielfalt erlangt: Man benutzte es zur Bezeichnung von Menschen, Dingen, Vorstellungen, Ideen, Stimmungen, Gefühlen, Zeiten, Völkern, Sprachen, Gemälden, Musikstücken, Landschaften und Gärten sowie literarischen Werken, Formen und Inhalten. 24 Um 1800 erhielt es dann eine neue ästhetische Bedeutung, indem namhafte Vertreter der gerade im Entstehen begriffenen Epoche der Romantik das Romantische als eine Art der Weltanschauung, als ein poetisches Verfahren und als eine „Operation― definierten, die in der Dichtung angewendet wurden, um der alltäglichen Wirklichkeit einen höheren Sinn zu verleihen. Exemplarisch geht eine solche Denkungsart aus der 105. Aufzeichnung von Novalis‘ (1772-1801) Logologischen Fragmenten [II] (1798) hervor: Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder. Romantisiren ist nichts, als eine qualit[ative] Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identificirt. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es. 25 22 S. Vaillant, op. cit., XVI und den Beitrag von Hartmut Stenzel zu diesem Band. 23 Über die Ursprünge des Begriffs, s. auch Gerhard Schulz: Romantik. Geschichte und Begriff, München, 2008 (3. Auflage), 10-12. 24 Siehe dazu Lothar Pikulik: Frühromantik. Epoche Ŕ Werke - Wirkung, München, 1992, 74sq. u. als weiterführende Literatur den zweiten und dritten Teil in Schanze, Helmut (Hrsg.): Romantik-Handbuch. 2., durchges. u. akt. Aufl. Stuttgart 2003 (= Kröners Taschenausgabe, Bd. 363), 208-392 (literarische Formen) u. 393-617 (Künste und Wissenschaften). 25 Novalis: „Logologische Fragmente [II], in: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs Ŕ Band II: Das philosophische Werk I. Hrsg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl u. Gerhard Schulz, Stuttgart, Kohlhammer, 1965, 2. Auflage, 531- 563, hier 545. Für Novalis bedeuten „romantisieren― und „poetisieren― dasselbe, da das erhöhende Romantisieren der Wirklichkeit zusammen mit dem erniedrigenden Bekannt- und Endlichmachen des Erhöhten den Gesamtprozess der Poetisierung bilde: <?page no="81"?> Deutsch-französische Verflechtungen um die Romantik 81 Hiermit scheint sich eine Verlagerung der Begriffsbestimmung vom Objekt auf das Subjekt zu vollziehen, da es sich nun weniger um die Eigenschaft eines betrachteten oder dargestellten Objekts als um eine Sichtweise des Subjekts auf den vorliegenden Gegenstand handelt. Richtungsweisend für die Bedeutung des Adjektivs „romantisch― in Frankreich ist August Wilhelm Schlegels tiefgreifende Unterscheidung zwischen klassisch-antiker und mittelalterlich-romantischer Literatur gewesen, die er in seinen Charakteristiken und Kritiken (1801) und in zwei Vorlesungsreihen vornahm. 26 Seine zwischen 1801 und 1804 gehaltenen Berliner Vorlesungen Über schöne Litteratur und Kunst 27 machten eine andere wichtige Mittlerfigur auf ihn aufmerksam: Anne Louise Germaine Necker, Baronne de Staël-Holstein (1766-1817), die ihn 1804 auf ihren Schweizer Landsitz in Coppet am Genfer See führte, und die er von da an bis zu ihrem Tod stets begleitete. (Seine 1808 in Wien gehaltenen Vorlesungen Über dramatische Kunst und Litteratur 28 wurden von ihrer Kusine Albertine-Adrienne Necker de Saussure (1766-1841) unter dem Titel Cours de littérature dramatique (1813) ins Französische übersetzt). 29 Schlegels Definition des Romantischen, die Josef Körner zufolge als „Botschaft der deutschen Romantik an Europa― alle europäischen Literaturen beeinflusste, 30 erfasst idealtypisch die Tatsache, dass ‚romantisch‗ in Frankreich in erster Linie ‚nicht‗bzw. ‚antiklassisch‗ bedeutete. Tatsächlich zeichnet seine Auslegung des Begriffs die Abwendung der Romantiker von der klassizistischen Regelpoetik nach, die das ‚klassische‗ 17. Jahrhundert auf das Betreiben des Kardinals Richelieu hin hervorgebracht hatte, 31 und deren Beibehaltung seit den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts von Voltaire eingefordert wurde. Bis zur Jahrhundertwende wurde sie von den Autoren durchgängig respektiert, bis sie schließlich von den ‚Antivoltairianern‗ - einer Eigenbezeichnung der französischen Romantiker - für unzeitgemäß erklärt wurde. 32 „Die Kunst, auf eine angenehme Art zu befremden, einen Gegenstand fremd zu machen und doch bekannt und anziehend, das ist die romantische Poëtik.― (Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs Ŕ Band III: Das philosophische Werk II, Hrsg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl u. Gerhard Schulz, 2. Aufl., Stuttgart 1968, 685. Hervorhebung i. O.) Siehe dazu Pikulik, op. cit., 220. 26 Gerhart Hoffmeister: Deutsche und europäische Romantik, Stuttgart, 1990, 3. 27 3 Bde, hrsg. v. Jakob Minor, Heilbronn, 1884. 28 3 Bde, Heidelberg, 1809-11. 29 Gerhart Hoffmeister: „Deutsche und europäische Romantik―, in: Schanze (ed.): Romantik-Handbuch, op. cit., 131-165, 131f. 30 Josef Körner: Die Botschaft der deutschen Romantik an Europa, Augsburg, 1929. 31 Siehe dazu Jürgen Grimm: „Das ‚klassische‗ Jahrhundert―, in: id. (ed.): Französische Literaturgeschichte, 4., überarbeitete u. aktualisierte Aufl., Stuttgart/ Weimar, 1999, 136- 182, 158. 32 Siehe Winfried Engler: Die französische Romantik, Tübingen, 2003, 14; Dietmar Rieger: „Die Literatur des 18. Jahrhunderts―, in: Jürgen Grimm (ed.): Französische Literaturgeschichte, Stuttgart, 2006, 183-232, 194sq. <?page no="82"?> Georges Jacques, Hubert Roland und Johannes Werner 82 Das aus Deutschland stammende ‚romantisme‗Substantiv bürgerte sich lange vor der in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts erfolgten Verwendung des Wortes für eine strukturierte Bewegung von Senancour und Madame de Staël ein. Demjenigen, was Madame de Staël und Chateaubriand im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts produziert hatten, verlieh besonders Hugo seine ganze Bedeutung, indem er die Debatte auf die Bühne des Theaters brachte. Die Epoche Rousseaus und seiner Nachahmer als Frühromantik zu bezeichnen, 33 entspricht gleichwohl dem wackligen Begriff der Übergangsperiode, die vor allem die Schwierigkeiten vieler Literaturhistoriker ans Licht bringt, die Bausteine einer komplexen Konjunktur zu bündeln. Die Tatsache, dass Goethe und Schiller das geistige Klima begründeten, das sich in Weimar entwickelte, verschleiert noch lange nicht ihr Zögern - oder ihr Hin und Her - zwischen zwei Ästhetiken, derjenigen der Aufklärung und derjenigen des Sturm und Drang. In demselben Augenblick, in dem dem Rousseauismus sein Durchbruch gelang, erschütterte Goethes sogleich mehrfach übersetzter Werther die französischen Leser. Die Umwälzungen der Französischen Revolution lösten neben den von ihr verursachten Hoffnungen und Exzessen zunächst bei ihren Hauptdarstellern einen Schock aus, dann unter ihren Opfern, wobei man neben der Verzweiflung oder der Unerschütterlichkeit derjenigen, die auf dem Schafott endeten, noch das durch die Emigration entstandene Heimweh in Betracht ziehen muss. Dies erklärt sich durch die Tatsache, dass das Konsulat in Frankreich einen weitreichenden Versuch zur Versöhnung zwischen den Franzosen gemacht hatte, aber auch dadurch, dass die von Napoleon begründete kaiserliche Regierungsform nicht gewillt war, Protestäußerungen zu dulden, und dass sein Wille, sich auf das römische Kaiserreich zu berufen, eine neue Vorliebe für die klassische Ästhetik zur Folge hatte, so dass das Fortbestehen von Elementen der klassischen Ästhetik noch in den Jahren zwischen 1830 und 1850 bemerkbar war. André Chénier, der Dichter der Revolution, dessen Kühnheit sehr besonnen war, wurde erst 1819 übersetzt, kurz vor dem Erscheinen der Méditations poétiques Lamartines, der noch stark zwischen zwei Ästhetiken schwankte. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Madame de Staël, Benjamin Constant und Senancour - (mit Ausnahme von Chateaubriand) die originellsten Schriftsteller der ersten Jahre des Jahrhunderts - von der Schweiz aus agierten, an der Grenze zu Deutschland. Wie schon erwähnt besuchen dann einige ihrer namhaftesten Vertreter wie die Brüder Schlegel die Ufer des Genfer Sees, die Heimat Rousseaus, des großen Wegbereiters. 33 S. André Monglond: Le préromantisme français, Paris, Corti, 1969. <?page no="83"?> Deutsch-französische Verflechtungen um die Romantik 83 4 Zur Tragweite der Kulturvermittler und image-Bilder Aus der Perspektive der „Strukturelemente des Kulturtransfers― verantwortet Madame de Staël als personale Vermittlerin in De l’Allemagne sämtliche Prozesse, die sich vor diesem Hintergrund unterscheiden lassen: Selektionsprozesse und „Formen der Auswahl von Objekten, Texten, Diskursen und Praktiken― aus der Ausgangskultur, sowie Rezeptionsprozesse, die die „Integration und dynamische Aneignung― der transferierten Elemente „im sozialen und kulturellen Horizont der Zielkultur und im Kontext spezifischer Rezeptionsgruppen― betreffen. 34 Die immense Wirkung von De l’Allemagne machte aus dem Buch und der Verfasserin einen deutschen Erinnerungsort, der laut Michel Espagne „die doppelte Funktion des fremden Bezugspunktes― erfülle: „In ihnen verbinden sich unauflöslich eine innere Bedeutung - die Tradition der Selbstwahrnehmung der deutschen Literatur und Kultur - und eine äußere Bedeutung - das Bild, das sich Frankreich, England und Italien von der deutschen Kultur gemacht haben―. 35 Bekanntlich ließ sich extra muros der Erfolg des Buches dadurch erklären, dass es für die französische Öffentlichkeit als „Gegengewicht zu Napoleons Schwärmerei für die Welt des Mittelmeers― fungierte, während die deutschen Leser in diesem „Spiegelbild […] sich als eine homogene Kultur erkennen― konnten. 36 Dass Madame de Staël den Stoff der deutschen Literatur nicht voll und ganz beherrscht - ihren misslungenen Versuch einer Übersetzung von Goethes Natürlicher Tochter nennt Espagne „ein konstruktives Unverständnis― - spielt im Erfolg ihrer Rezeptionsgeschichte keine Rolle. Entscheidend ist in dieser Hinsicht, wie aus Jean Pauls Rezension von De l’Allemagne hervorgeht, dass im Kontrast der Darlegung von (gebildeten) zivilisatorischen Unterschieden (Deutschland als Land der Religiosität vs. Abkehr Frankreichs vom Christentum etwa) eine deutsche Identität erwächst und für lange Zeit popularisiert wird. 37 Auch für ihre Vermittlung der deutschen „romantischen Kultur― gilt Madame de Staël im Grunde genommen als misleading intermediary. Denn wider Erwarten lässt sie diesbezüglich die aufbrechende Generation der Frühromantik außer Acht, während sie in erster Linie noch den Sturm und Drang sowie die Klassik von Goethe und Schiller bewertet. 38 Diese charakteristische Verwechslung ist es, die die entstehende französische romantische 34 Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation, Interaktion-Fremdwahrnehmung- Kulturtransfer, Stuttgart/ Weimar, Metzler, 2008, 132-133. 35 S. Michel Espagne: „De l‘Allemagne―, in: Étienne François & Hagen Schulze (ed.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München, C.H. Beck, 2001, 225-241, 225. 36 Ibid., 232. 37 Ibid., 233. 38 Lilian R. Furst: „Mme de Staël‘s De l’Allemagne: A Misleading Intermediary―, in: idem, The Contours of European Romanticism, London and Basingstoke, Macmillan, 1979, 56-73, 58-63. <?page no="84"?> Georges Jacques, Hubert Roland und Johannes Werner 84 Bewegung nähren wird, so dass Lilian R. Furst meint, dass erst der spätere französische Symbolismus ein entsprechendes Pendant zur deutschen Romantik bilden wird. 39 Madame de Staëls Essai sur les fictions wird in Deutschland in der Zeitschrift Die Horen veröffentlicht, wobei kein Geringerer als Goethe der renommierte Übersetzer ist. So findet sie Zugang zu einem Kreis, dem die politischen Probleme fremd sind, die Frankreich auf der Suche nach sichselbst beschäftigen. Das Klima hat sich dank der Jenaer Romantik geändert und die in Berlin auf Schlegels Betreiben am Ende des 18. Jahrhunderts gegründete Zeitschrift Athenäum ähnelt einem Manifest, was erklärt, warum sie auf ebenso viel Widerstand wie Begeisterung gestoßen ist. Eben zu diesem Zeitpunkt publiziert Madame de Staël mit De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales (1800) 40 ihren ersten wichtigen Essai, in dem im Einklang mit Montesquieu und seiner Klimatheorie der berühmte Gegensatz zwischen den nördlichen und südlichen Literaturen, zwischen dem Nebel und der Sonne sowie zwischen Christentum und Heidentum auftaucht. Solche Vorstellungen mussten natürlich differenziert werden und erforderten für ihre Verfasserin eine vertiefte Kenntnis der nordischen Regionen. Gerade deshalb hat De l’Allemagne (1810) eine solche Geisteshaltung noch stärker beeinflusst, und sei es auch nur durch die Kritik an der Sympathie, die das Werk auslöste. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es darum geht, die Deutschen nachzuahmen, sondern darum, sich von ihnen inspirieren zu lassen, um die französische „Denkart― besser zu bereichern. Von Wieland bis Klopstock, von Kant bis Schelling und natürlich von Goethe bis Schiller entstehen Analysen, die keinen Anspruch auf absolute Gültigkeit haben und die manchmal zu Unrecht verallgemeinern, zum Beispiel wenn die Beziehungen zwischen Denken und Handeln (pensée und action) erörtert werden, die von den Deutschen nicht in Einklang gebracht werden könnten. Außerdem streitet Madame de Staël sich ständig - selbst wenn sie sich die Mühe gibt, mit Humboldts Hilfe Deutsch zu lernen - mit August Wilhelm Schlegel, dessen „sehr bedeutender― Einfluss „sowohl von den Deutschen als auch von den deutschfeindlichen französischen Kritikern übertrieben worden ist―. 41 Sie formuliert auch Urteile, die mit der Zeit angefochten werden, wenn sie zum Beispiel nicht die Rolle erkennt, die der Wilhelm Meister bei der Entstehung der neuen Gattung des Bildungsromans gespielt hat. Und es gibt schließlich noch die grundlegende Tatsache, dass Deutschland, mit dem Österreich und die deutschsprachige Schweiz gleichgestellt werden, nicht viel mit demjeni- 39 „Just as the French Symbolists are the true counterparts to the German Frühromantiker, so French Romanticism corresponds in fact to the Sturm und Drang―. Ibid., S. 71. 40 Kritische Ausgabe von Paul Van Tieghem, Genève, Droz, 1959. 41 Simone Balayé: „Introduction―, in: Madame de Staël: De l’Allemagne, Paris, Garnier- Flammarion, 1968, 23, Fußnote 1. Eigene Übersetzung. <?page no="85"?> Deutsch-französische Verflechtungen um die Romantik 85 gen gemein hat, was die preußische Vorherrschaft in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts daraus macht. Wir haben es mit einem zersplitterten Deutschland zu tun, (das ebenso zersplittert ist wie Italien, von dem Germaine de Staël in Corinne spricht,) dessen Gefahren, die mit seiner Entwicklung entstehen, man nicht erahnen kann: „De toutes les principautés de l‘Allemagne, il n‘en est point qui fasse mieux sentir que Weimar les avantages d‘un petit pays […].― 42 In den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts verbreitet sich eine Art der Germanomanie in Frankreich: Senancour, dessen Veröffentlichung von Oberman 43 (Obermann in den späteren Fassungen) im Jahre 1804 unbemerkt bleibt, entwirft einen Helden - eine Art Doppelgänger, dessen Name - der Mann der Höhen - für Abkapselung und Isolation steht, als Chateaubriand in René (1802) desgleichen dasjenige diagnostiziert, was später als ‚Weltschmerz‗ bezeichnet wird. Benjamin Constant, der Madame de Staël nahesteht, siedelt die Handlung seiner berühmtesten Erzählung - Adolphe (1816) 44 - in Deutschland an. Noch 1836 macht Alfred de Musset in den ersten Kapiteln von La confession d’un enfant du siècle auf einen besonderen Schriftsteller aufmerksam - den sich von Werther bis Faust entwickelnden Goethe - diesmal jedoch, um den verheerenden englischen und deutschen Einfluss auf die „fils de l‘Empire et petits-fils de la Révolution― aufzuzeigen, die zur Ernüchterung und Hoffnungslosigkeit verdammt sind. Früher waren noch viel weniger bekannte Texte erschienen, die Parallelen und Überkreuzungen zwischen den Themen erkennen lassen, denen man in Deutschland und Frankreich Aufmerksamkeit schenkt. So veröffentlichte der Emigrant Charles de Villers 1806 in Münster eine Abhandlung mit dem aussagekräftigen Titel De la manière essentiellement différente dont les poètes français et les allemands traitent l’amour, während in entgegengesetzter Richtung August Wilhelm Schlegel im darauffolgenden Jahr in Paris seinen Comparaison entre la „Phèdre“ de Racine et celle d’Euripide publiziert, in dem Racine ein wenig abfällig beurteilt wird: Den zeitgenössischen Dramaturgen wird geraten, einen Blick ins Elisabethanische Zeitalter oder ins Siglo de Oro zu wagen. In den informellen Zusammenkünften um Charles Nodier, die „Cénacles― genannt werden, erhalten die meisten derjenigen Autoren, die bald darauf als Romantiker bezeichnet werden, die Gelegenheit, ihr Schaffen miteinander zu vergleichen. Ein Ereignis soll diese Entwicklung beschleunigt haben: Es handelt sich um die Ankunft der englischen Komödianten in Paris und um ihre denkwürdigen Shakespeare-Aufführungen, die Veranlas- 42 Madame de Staël: De l’Allemagne, Paris, Garnier-Flammarion, 1968, Bd. 1, 123. 43 Étienne de Senancour: Oberman, Préface d‘André Monglond, Plan-de-la-Tour, Éditions d‘aujourd‘hui, 1980 (coll. „Les Introuvables―). 44 Œuvres complètes, tome 3: Écrits littéraires (1800-1813), sous la dir. de Paul Delbouille ; textes établis et annotés par Françoise Tilkin (et al.), Tübingen, Niemeyer, 1995. <?page no="86"?> Georges Jacques, Hubert Roland und Johannes Werner 86 sung zur Entstehung verschiedener Texte wie Racine et Shakespeare (1823- 1825) von Stendhal und vor allem des Vorworts von Hugos Cromwell (1827) geben. Die Titel erwecken den Anschein, als ob der englische Einfluss der einzige wäre. Dies hieße allerdings einen viel früheren Text von Benjamin Constant zu vergessen, das Vorwort seiner Übersetzung von Schillers Wallenstein (1809). Darin kommt bereits das Verlangen nach einer Lockerung der Regeln des französischen Theaters zum Ausdruck, für das es vorteilhaft wäre, sich davon anregen zu lassen, was seit einigen Jahren in Deutschland geschieht. Indem Hugo seine Ästhetik auf einer Geschichtsphilosophie begründet, rühmt er mit dem romantischen Drama eine neue Art Theaterstück, in der dasjenige, was auf der Bühne zu sehen ist, ebenso wichtig wird wie dasjenige, was zu hören ist, in der die Einheiten von Ort und Zeit in Frage gestellt werden und in der eine Theorie des Grotesken und des Hässlichen aufgestellt wird, die auf der Überzeugung vom Niedergang des Schönen gründet und einen Kampf gegen die Abstraktion ermöglicht. 1829 wird eine neue und überaus wichtige Etappe gemeistert, als der junge Gérard de Nerval Huit scènes de Faust übersetzt, die sogleich von Berlioz vertont werden. Eine Stimmung bewundernder Neugier umgibt das Werk, das wie dasjenige der jungen Romantiker dazu beiträgt, den Kanon der klassischen Dramaturgie zu durchbrechen, dabei aber wegen des bekanntlich unsicheren Umgangs Nervals mit der Übersetzung ebenso allerlei Missverständnisse fördert. 45 Schließlich muss natürlich noch in der romantischen Denkweise das Interesse für die volkstümlichen Traditionen der Vergangenheit erwähnt werden. Die Brüder Grimm hatten mit ihren Kinder- und Hausmärchen (1812/ 1815) die Quintessenz dieser Vorgehensweise verkörpert. Und gegen ihren Willen sorgen sie unwissentlich für Zusammenhänge zwischen der deutschen und französischen Kultur, indem sie Erzählungen für typisch deutsch halten, von denen einige durch Märchenerzählerinnen überliefert worden sind, bei denen es sich um Nachfahren ausgewanderter Hugenotten handelt, die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes durch Ludwig XIV. im Jahre 1685 nach Deutschland gekommen sind. Weiterhin ist ein großer Teil der Hugo‘schen Lyrik durch Gottfried August Bürgers Ballade Lenore (1773) beeinflusst, sei es durch die Gattung der Ballade selbst, wie Hugo sie in seiner ersten großen Gedichtsammlung (Odes et Ballades, 1826) behandelt, sei es durch die Motive des phantastischen Ritts und der Jagd in den Abgrund („course à l‘abîme―), die man namentlich in der Légende du beau Pécopin wiederfindet, einer Episode der Reiseerzählung Le Rhin (1842). Frühere Texte werden noch dank der Autorin von De l’Allemagne in Frankreich weit verbreitet, womit sich die Praxis der „konstruktiven Miss- 45 S. die neuere kritische Ausgabe von Le „Faust“ de Goethe. Traduit par Gérard de Nerval. Éd. présentée et annotée par Lieven D‘Hulst, Paris, Fayard, 2002. <?page no="87"?> Deutsch-französische Verflechtungen um die Romantik 87 verständnisse― fortsetzt. 46 Ein Auszug aus Jean Pauls Siebenkäs (1797) mit dem Titel „Rede des toten Christus vom Weltgebäude, daß kein Gott sei― (von der ein Fragment unter dem Titel Le songe de Jean Paul allgemein bekannt wird 47 ) wird popularisiert. Seine Bedeutung wird jedoch fast immer verzerrt, nachdem der Autor sich in der Fassung von Madame de Staël diesbezüglich folgendermaßen ausgedrückt hat: „Si mon cœur était jamais assez malheureux, assez desséché pour que les sentiments qui affirment l‘existence d‘un Dieu y fussent tous anéantis, je relirais ces pages; j‘en serais ébranlé profondément, et j‘y retrouverais mon salut et ma foi―. 48 Aufgrund der Zweideutigkeiten der Madame de Staël veranlasst also das aus dem Text hervorgehende Motiv der Abwesenheit Gottes, das eher dazu dient, die Entsetzlichkeit einer solchen Annahme aufzuzeigen, einige dazu, sich offen zum Atheismus zu bekennen. 49 Alfred de Vignys Lyrik kann als eine Fortsetzung dieser letzten Haltung angesehen werden. Der Mensch ist zum Stoizismus verdammt, weil der Himmel leer ist oder jedenfalls weil Gott schweigt. Im 1842 publizierten Le Mont des oliviers arbeitet Vigny die Episode von Christi Todeskampf in Gethsemane aus, indem er relativ textnah den Evangelien folgt, doch eine letzte Strophe aus dem Jahr 1851 mit dem Titel Le Silence verleiht dem Gedicht seine ganze Bedeutung: S‘il est vrai qu‘au Jardin sacré des Écritures, Le Fils de l‘homme ait dit ce qu‘on voit rapporté, Muet, aveugle et sourd au cri des créatures, Si le Ciel nous laissa comme un monde avorté, Le juste opposera le dédain à l‘absence Et ne répondra plus que par un froid silence Au silence éternel de la Divinité. 46 Zur Thematik der Übersetzung, s. Christine Lombez: La traduction de la poésie allemande en français dans la première moitié du 19 e siècle. Réception et interaction poétique, Tübingen, Niemeyer, 2009. 47 Dieser Text wurde 1807 von Charles de Villers übersetzt, erschien dann in De l’Allemagne und wurde 1814 von Madame de Staël retuschiert. 1844 veröffentlichte Gérard de Nerval mit seinem Gedicht Le Christ aux oliviers (erschienen in: L’Artiste, 31. März 1844, 201) eine weitere „imitation de Jean Paul―, die aber auch als die Fortsetzung der schon vorhandenen Übersetzungen zu verstehen ist. 48 S. Madame de Staël: „Un songe―, in: De l’Allemagne. Nouv. éd. revue d‘après les meilleurs textes, Paris, Garnier, s.d., 369. Zum Vergleich mit dem Originaltext: Jean Paul: „Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs―, in: ders.: Werke. 2. Abt., München, Carl Hanser, 1971, 3., neubearbeitete Aufl., 1. Abt., Bd. 2, 7-576, 270: „Wenn einmal mein Herz so unglücklich und ausgestorben wäre, daß in ihm alle Gefühle, die das Dasein Gottes bejahen, zerstöret wären; so würd‘ ich mich mit diesem meinem Aufsatz erschüttern und - er würde mich heilen und mir meine Gefühle wiedergeben―. 49 S. Claude Pichois: L’image de Jean Paul Richter dans les lettres françaises, Paris, Corti, 1963. <?page no="88"?> Georges Jacques, Hubert Roland und Johannes Werner 88 Ein letztes Beispiel der Nachwirkung der deutschen Romantik auf die französische Literatur zeigt sich im Erzähler E.T.A. Hoffmann, der Honoré de Balzac inspiriert. So lässt dieser in einer seiner Novellen, L’Élixir de longue vie (1831), die Figur des Don Juan auftreten, die Hoffmanns Elixiere des Teufels (1815) in Erinnerung ruft, auch wenn Balzacs Quelle fast gewiss englischer Herkunft ist. Alles, was bei Hoffmann das Motiv des Doppelgängers und die Thematik der Persönlichkeitsspaltung betrifft, wird allerdings in der wenig bekannten Novelle L’Auberge rouge (1831) aus Balzacs Comédie humaine (1842- 1848) veranschaulicht, deren Handlung in Deutschland spielt, was sicherlich kein Zufall ist. Dort kommen zwei befreundete Chirurgen der französischen Armeen während der Koalitionskriege im Gasthof von Andernach am Ufer des Rheins an. Prosper Magnan will einen reichen Deutschen in der Absicht ermorden, ihn auszurauben. Er widersteht zwar der Versuchung, doch als er erwacht, liegt der Deutsche ermordet in seinem Blut und sein Geld ist verschwunden. Alle äußeren Anzeichen sprechen gegen Prosper, der verurteilt und hingerichtet wird. Aus der Rahmenerzählung erfährt der Leser, dass Prospers mörderischer Gedanke in den Geist seines Begleiters übergesprungen ist. Dieser hat die Untat begangen und anschließend feige die Flucht ergriffen. Wenn Balzacs Werk als ein Spiegel seiner Epoche erscheint, so liegt das nicht allein daran, dass es zur Begründung der - in Ermangelung eines Besseren - so genannten realistischen Ästhetik beigetragen hat, sondern auch an der Art und Weise, wie es Theorien und Auffassungen nachgeahmt hat, zu denen einige äußerst geheimnisvolle gehören: der Somnambulismus (Prosper glaubt zunächst, in einem derartigen halbbewussten Zustand getötet zu haben) und der tierische Magnetismus, die in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts von Mesmer eingeführt wurden und die eine wesentliche Rolle in Balzacs Roman Ursule Mirouët (1842) spielen, da sie für ihn die „sciences des fluides impondérables― darstellen. Wenn man dem Galls Schädellehre und Lavaters Physiognomie hinzufügt, wird schnell deutlich, was die Comédie humaine Deutschland verdankt. 50 5 „Politische Romantik“ und Romantisme politique Kein anderer Bereich liefert mehr Stoff für deutsch-französische Konvergenzen und Divergenzen als die „politische Romantik― - dies nicht im Sinne von Carl Schmitts polemischem, in der germanistischen Forschung vielbe- 50 Georges Jacques: „Mesmérisme et parapsychologie chez Balzac et Dumas père: entre fascination et scepticisme―, in: Traces du mesmérisme dans la littérature européenne du 19 e siècle/ Einflüsse des Mesmerismus auf die europäische Literatur des 19. Jahrhunderts, hrsg. von Ernst Leonardy, Marie-France Renard, Christian Drösch & Stéphanie Vanasten, Bruxelles, Faculté universitaires Saint-Louis, 2001, 227-240. <?page no="89"?> Deutsch-französische Verflechtungen um die Romantik 89 sprochenem Begriff, 51 sondern einfach als Bezeichnung jener Texte, „in denen die Romantiker auf politische Zeitereignisse reagieren - und d. h. in erster Linie auf die Französische Revolution und ihre Auswirkungen, die Besetzung Deutschlands durch Napoleon und die Politik der Restauration nach 1815―. 52 Unserer erweiterten deutsch-französischen Chronologie bis 1850 entsprechend, gehören dazu noch die Auswirkungen der Revolutionen von 1830 und 1848, von denen noch die Rede sein wird. Die breitgefächerte Konstellation der politischen Romantik beginnt also natürlich mit der Auseinandersetzung der deutschen Intellektuellen mit der Französischen Revolution, die den Rahmen dieses Aufsatzes sprengt. Sie beinhaltet das gesamte spannungsvolle und widersprüchliche Feld sowohl der engagierten Dichter, die sich von einem großzügigen „romantisme politique optimiste et enthousiaste― 53 entzünden ließen, als auch derjenigen, die in Deutschland die ideologische „Indienstnahme― der Spätromantik durch konservative Gesellschaftstheoretiker sowie die Wendung zum Nationalgedanken als Reaktion gegen Napoleons despotische Ambitionen nach der Niederwerfung Preußens und dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 verkörperten. Letzteres historisches Trauma ist das, was die Wendung der deutschen Romantiker zum Nationalgedanken erklärt: „Die Suche nach einer kollektiven Identität soll eine geistige ‚Wiederbewaffnung‗ einleiten, die Voraussetzung für einen erfolgreichen Befreiungskampf gegen Napoleon im Zeichen der Einigung des zerstückelten ‚Vaterlands‗ werden kann―. 54 In dieser Atmosphäre der geistigen Mobilisierung kommt es zum übersteigerten Nationalismus von Fichtes Reden an die deutsche Nation (1807) und zur Umwertung des traditionellen Volks-Begriffs „zugunsten eines völkerbiologischen Ansatzes― 55 bzw. des „Mittels der Mythisierung, um dem Nationalcharakter eine quasi religiöse Weihe zu verleihen―. 56 Ernst Moritz Arndt greift explizit zu diesem Mittel. In seinen Texten erreicht für Ernst Leonardy 51 S. dazu Markus Schwering: „Politische Romantik―, in: Helmut Schanze (ed.), Romantik- Handbuch. 2. durchgesehene und aktualisierte Aufl., Tübingen, Kröner, 479-509; hier 479-480. S. auch Stefan Nienhaus: „Politische Romantik. Nutzen und Missbrauch eines kulturhistorischen Begriffs―, in: Einheit der Romantik? Zur Transformation frühromantischer Konzepte im 19. Jahrhundert, Paderborn, 2009, 57-66. 52 Ibid., 480. 53 Vaillant, op. cit., XXX. S. dazu auch den Beitrag von Hartmut Stenzel zu diesem Band. 54 Schwering, op. cit., 495. 55 Ibid. 56 Ernst Leonardy: „Das ‚Volk‗ als Wunschidentität der Deutschen. Die Rolle der alten deutschen ‚Volkspoesie‗ im geistigen Widerstand gegen Napoleon―, in: Hubert Roland/ Sabine Schmitz (ed.), Pour une iconographie des identités culturelles et nationales. La construction des images collectives à travers le texte et l’image/ Ikonographie kultureller und nationaler Identität. Zur Konstruktion kollektiver images in Text und Bild, Frankfurt/ M. [u.a.], Peter Lang, 2004, 69-85, 77. <?page no="90"?> Georges Jacques, Hubert Roland und Johannes Werner 90 „die Irrationalisierung des Volksbegriffes ihren Höhepunkt―, indem Arndt ebenso den Wortschatz der Mystik verwendet, „um das Leben und Weben der kollektiven Volksseele zu beschreiben―: „Es gibt einen göttlichen Strom des Lebens und der Liebe, der als der innigste und heiligste durch ein ganzes Volk fließet und alles, was das Volk empfindet, denket, bildet und schaffet, begeisternd und beseelend durchdringt […]. Dieses in allen Deutschen Lebende und alles Deutsche von innen her Beseelende und Verbindende kann man wohl die Deutschheit nennen―. 57 In diesen polemischen Texten von Arndt, Friedrich Ludwig Jahn oder Joseph Görres, die Schwering als „die Kehrseite eines kollektiven Inferioritätsgefühls― 58 deutet und die die „Volkszugehörigkeit― mit der „Seele jedes Volksangehörigen― verbinden, 59 kommt es zu der Abgrenzung eines „deutschen― und „französischen Wesens―, das mit den Ideen von Universalmonarchie, aber auch von Kosmopolitismus assoziiert wird. Zu antifranzösischen Ausbrüchen im Dienste der „nationalen Erneuerung― kam es auch bei größeren Namen der deutschen Literatur wie Heinrich von Kleist. 60 Diese radikale Feindbildkonstruktion liest sich als eine besondere Episode der Geschichte der Romantik vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlichen Situation. Die folgende Generation wendet sie ab und das politische Engagement steht mit der Julirevolution von 1830 dann wieder unter dem Zeichen eines positiven Ideals des romantisme socialiste, utopique et libertaire 61 , da Frankreich in diesen Jahren auch wieder zum Exilland der europäischen liberalen Intellektuellen geworden war, die vor der Repression der restaurativen Staaten flüchteten. Heinrich Heine ist höchstwahrscheinlich die Figur, die das Hin- und Hergerissensein zwischen den zwei Staaten Frankreich und Deutschland am besten symbolisiert. Dieser zum Protestantismus übergetretene Jude, der im besetzten Rheinland mit der französischen Kultur vertraut geworden ist, der sich durch zahlreiche Reisen zum Kosmopoliten entwickelt hat und der zum Opfer einer Zensur geworden ist, die sein Spötteln nur noch mehr verstärkt, betrachtet sich selbst als ein Vermittler zwischen den beiden Ländern. Gleich 57 Ernst Moritz Arndt: Phantasien zur Berichtigung der Urteile über künftige deutsche Verfassungen (1815), zitiert nach Leonardy, ibid., 77. In seinem Aufsatz beruft sich Leonardy auf eine im Nationalsozialismus veröffentlichte Anthologie des Germanisten Paul Kluckhohn (Die Idee des Volkes im Schrifttum der deutschen Bewegung von Möser und Herder bis Grimm, Berlin, Junker und Dünnhaupt, 1934), die er als die ausführlichste Textsammlung zum hier behandelten Thema bezeichnet. Sie sollte in den Augen ihres Verfassers in erster Linie „akademischen Übungen für Germanisten, Volkskundler, Historiker, Soziologen und zur Wissenschaftsgeschichte dienen― (Kluckhohn, 223; zitiert nach Leonardy, 72). 58 Schwering, op. cit., 495. 59 Leonardy, op. cit., 495. 60 Schwering, op. cit., 495. 61 Vaillant, op. cit., XXIV. <?page no="91"?> Deutsch-französische Verflechtungen um die Romantik 91 nach seiner Ankunft in Frankreich zu Beginn der Julimonarchie zögert er nicht, das Gastland dem Heimatland näherzubringen (De la France, 1833) und zugleich den Beitrag der Madame de Staël zu differenzieren (De l’Allemagne, 1834). Indem er sein Misstrauen gegenüber der l’art pour l’art- Lehre zum Ausdruck bringt, distanziert er sich von den Vorstellungen, die Théophile Gautier 1835 im Vorwort zu Mademoiselle de Maupin verteidigt. Heine, dessen Werk ebenso von Nerval übersetzt worden ist, bleibt zu seiner Zeit der Hauptvertreter des interkulturellen Dialogs. 6 Chronologie des romantisme politique nach 1830 Der Französischen Revolution von 1789, die von Fichte als „Morgenröthe― 62 , von Hegel als „herrlichem Sonnenaufgang― 63 begeistert begrüßt worden war, folgte bekanntlich eine Phase der bitteren Enttäuschung und der Ernüchterung. Aber die Julirevolution von 1830 bedeutet mit einem Schlag die Rückkehr zu den ursprünglichen, längst verratenen, aber nicht vergessenen Idealen. Heinrich Heine schreibt: „Heilige Julitage von Paris! ihr werdet ewig Zeugniß geben von dem Uradel der Menschen, der nie ganz zerstört werden kann. Wer euch erlebt hat, der jammert nicht mehr auf den alten Gräbern, sondern freudig glaubt er jetzt an die Auferstehung der Völker. Heilige Julitage! wie schön war die Sonne und wie groß war das Volk von Paris! ― 64 Eugène Delacroix malt im selben Jahr das Bild „Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden―, auf das sich Heine hier bezieht und das zur Ikone der Epoche wird. 65 Auf diese Revolution, „welche unsere Zeit gleichsam in zwey Hälften auseinandersprengte― 66 , folgt freilich nicht die von vielen ersehnte Republik, sondern wieder ein König, der sogenannte Bürgerkönig Louis Philippe. Die Julirevolution bringt eine wahre Flut von politischer Lyrik hervor, und zwar unter maßgeblicher Beteiligung von Victor Hugo, Alphonse de Lamartine und Alfred de Vigny. Ihnen ist Pierre Jean de Béranger mit seinen populären oppositionellen Gedichten („Chansons nouvelles―, 1825; „Chansons inédites―, 1828) in gewisser Weise schon vorausgegangen. In seinem 62 Johann Gottlieb Fichte: Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution. Zur Beurtheilung ihrer Rechtmäßigkeit. 2.Aufl., o.O. 1795, XX. 63 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (= Werke. Bd.9), Berlin, 1837, 441. 64 Heinrich Heine: „Französische Maler―, in: H.H., Werke (HKA). Hrsg. von Manfred Windfuhr. Bd.12/ 1, Hamburg, 1980, 9-76, 20. 65 Vgl. Siegfried Kracauer: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (= Werke. Bd.8), Hrsg. von Ingrid Belke, Frankfurt a.M., 2005, 17-24. 66 Heinrich Heine, Ludwig Börne: „Eine Denkschrift―, in: H.H., Werke. Bd.11, Hamburg, 1978, 9-132, 56. <?page no="92"?> Georges Jacques, Hubert Roland und Johannes Werner 92 ausladenden, sieben Kapitel und 260 Verse umfassenden Gedicht „Dicté après juillet 1830― blickt Hugo stolz auf das Geschehene zurück, das er ausführlich beschreibt: Alors tout se leva. - L‘homme, l‘enfant, la femme, Quiconque avait un bras, quiconque avait une âme, Tout vint, tout accourut. Et la ville à grand bruit Sur les lourds bataillons se rua jour et nuit. 67 Aber zugleich blickt er weit über das Geschehene hinaus: Oh! l‘avenir est magnifique! Jeunes Français, jeunes amis, Un siècle pur et pacifique S‘ouvre à vos pas mieux affermis. Chaque jour aura sa conquête. Depuis la base jusqu‘au faîte, Nous verrons avec majesté, Comme une mer sur ses rivages, Monter d‘étages en étages L‘irréstisible liberté! 68 Lamartine rollt, mit einem ähnlich positiven Resultat, in „Les révolutions― die lange Geschichte der Revolutionen auf: L‘humanité n‘est pas le bœuf à courte haleine Qui creuse à pas égaux son sillon dans la plaine Et revient ruminer sur un sillon pareil: C‘est l‘aigle rajeuni qui change son plumage Et qui monte affronter, de nuage en nuage, De plus hauts rayons du soleil. 69 67 Victor Hugo: „Dicté après juillet 1830―, in: V.H., Œuvres poétiques, Bd.1 (=Avant l’exil. 1802-1851). Hrsg. von Pierre Albouy, Paris, 1964, 817-824; hier 820. „Da nun erhob sich Alles! - Mann und Kind / Und Weib, was einen Arm und eine Seele / Nur hatte, kam! Mit Tosen auf die schweren / Heerhaufen stürzte wüthend sich Paris / Bei Tag und Nacht! ―: Victor Hugo: „An das junge Frankreich―, in: V.H., Oden und vermischte Gedichte (=Sämtliche Werke. Bd.9), Frankfurt, 1836, 296-307, 300. - Die Übersetzung stammt bemerkenswerterweise von Ferdinand Freiligrath. 68 Victor Hugo: „Dicté après juillet 1830―, op. cit., 822. („O, herrlich ist die Zukunft! Söhne / Des jungen Frankreichs! Muth nur! Ein / Jahrhundert, glühn‘d in Jugendschöne, / Thut sich euch auf, freundlich und rein / Kein Tag wird ohne Sieg vergehen! / Vom Grundstein bis zum Giebel sehen / Gewaltig und voll Majestät, / Wie am Gestad der Wellen Reigen, / Von Stocke wir zu Stocke steigen / Die Freiheit, der Nichts widersteht! ―: Victor Hugo: „An das junge Frankreich―, op. cit., 304). 69 Alphonse de Lamartine: „Les révolutions―, in: A.d.L., Œuvres poétiques. Hrsg. von Marius-François Guyard, Paris, 1963, 510-519,517: „Die Menschheit ist nicht der kurzatmige Ochse / Der mit gleichem Schritt in der Ebene seine Furche zieht / Und in eine gleiche Furche zurückkehrt, um wiederzukäuen: / Sie ist der verjüngte Adler, der sein <?page no="93"?> Deutsch-französische Verflechtungen um die Romantik 93 Vigny schaut in „Paris. Élévation― mit gemischten Gefühlen hinab auf die Stadt, die nicht nur Schauplatz und Objekt des weltbewegenden Geschehens, sondern sogar dessen Subjekt ist: Paris! principe et fin! Paris! ombre et flambeau! Je ne sais si c‘est mal, tout cela; mais c‘est beau, Mais c‘est grand! mais on sent jusqu‘au fond de son âme Qu‘un monde tout nouveau se forge à cette flamme … 70 Paris ist ihm zufolge nichts weniger als „l‘axe du monde― 71 , die Achse der Welt, um die sich in diesen Jahren alles dreht. Für Victor Hugo ist die Julirevolution „[le] mouvement populaire le plus clément des temps modernes―, eine Bewegung, die auch dazu berufen gewesen wäre, die Todesstrafe abzuschaffen; denn „il y avait tant de générosité dans l‘air, un tel esprit de douceur et de civilisation flottait dans les masses, on se sentait le cœur si bien épanoui par l‘approche d‘un bel avenir…―. 72 Mit seiner Erzählung „Le dernier jour d‘un condamné― (1832) setzt sich der Autor für die ausgebliebene Reform ein. 73 Es fällt übrigens auf, dass sich viele französische Literaten - etwa Hugo, Lamartine, Béranger, später noch Sue - auch direkt als Politiker engagieren; anders als die deutschen, denen dieser Weg versperrt bleibt. Die Julirevolution erregt also aufs Neue das Interesse der Deutschen, denen die freiheitsfeindlichen Karlsbader Beschlüsse von 1819 in den Knochen steckten. „Ach, die große Woche von Paris! Der Freyheitsmuth, der von dort herüberwehte nach Deutschland, hat freylich hie und da die Nachtlichter umgeworfen, so daß die rothen Gardinen an einigen Thronen in Brand geriethen, und die goldenen Kronen heiß wurden unter den lodernden Gefieder wechselt / Und der aufsteigt, um von Wolke zu Wolke / sich den höchsten Sonnenstrahlen auszusetzen―. 70 Alfred de Vigny: „Paris. Élévation―, in: A.d.V., Poèmes complets, Paris, 1967, 171-179; hier 176. („Paris! Anfang und Ende! Paris! Schatten und Fackel! / Ich weiß nicht, ob es schlecht ist, dies alles; aber es ist schön, / Aber es ist groß! aber man fühlt bis zum Grund seiner Seele / Dass sich eine ganz neue Welt in dieser Flamme schmiedet ...―). 71 Ibid. 172. - In einem Brief an Varnhagen, geschrieben am 27.06.1831 in Paris, nennt Heine die Stadt die Spitze der Welt (in: Ludmilla Assing [Hrsg.], Aus dem Nachlaß Varnhagens von Ense. Briefe von Stägemann, Metternich, Heine und Bettina von Arnim, nebst Briefen, Anmerkungen und Notizen von Varnhagen von Ense, Leipzig, 1865, 231-233, 233). 72 Victor Hugo: „Le dernier jour d‘un condamné―, in: V.H., Œuvres complètes, Bd.1. Hrsg. von Jacques Seebacher, Paris, 1985, 399-487; hier 403. - Nach der deutschen Revolution von 1919 ist es Alfred Wolfenstein, der die Erzählung ins Deutsche überträgt (Der letzte Tag eines Verurteilten, Berlin, 1925). 73 Dasselbe Ziel hat schon Lamartine mit seiner „Ode au peuple du 19 octobre 1830― verfolgt. <?page no="94"?> Georges Jacques, Hubert Roland und Johannes Werner 94 Schlafmützen― 74 , schreibt Heine, und: „Der gallische Hahn hat jetzt zum zweitenmale gekräht, und auch in Deutschland wird es Tag―. 75 Im Jahre 1831 kommt es in Göttingen zu einem Aufstand, 1832 versammeln sich die süddeutschen Demokraten auf dem sogenannten „Hambacher Fest―, was dazu führt, dass die Versammlungs- und die Pressefreiheit aufgehoben werden, und 1833 findet der „Frankfurter Wachensturm― statt, in dessen Folge über 2000 sogenannte Demagogen verhaftet werden. Was jenseits der Grenze geschieht, zeigt also Wirkung, auch auf literarischer Ebene. In Deutschland, so Heine, „werfen sich jetzt die belletristischen Schriftsteller mit Eifer in die Tagesbewegung, wovon sie sich so lange entfernt gehalten. Ihr Franzosen seyd während fünfzig Jahren beständig auf den Beinen gewesen und seyd jetzt müde; wir Deutsche hingegen haben bis jetzt am Studiertische gesessen, und haben alte Klassiker kommentirt, und möchten uns jetzt einige Bewegung machen―. 76 Heine selber stellt seine Zeitungsberichte zu einem Buch über Französische Zustände (1832) zusammen, Ludwig Börne schreibt Briefe aus Paris (1832/ 34); Georg Büchner arbeitet die Geschichte der Französischen Revolution von 1789 auf (Dantons Tod, 1835), Dietrich Christian Grabbe die der napoleonischen Kriege (Napoleon oder Die hundert Tage, 1831). Heine schreibt aber auch ein Werk Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834), das sich als eine Erweiterung und Berichtigung von Madame de Staëls De l’Allemagne von 1810 versteht und wie dieses als ein Versuch zu betrachten ist, die Franzosen mit Deutschland besser bekannt zu machen. 77 Es endet mit der Aussicht auf eine deutsche Revolution, „wogegen die französische Revoluzion nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte―. 78 Kein Wunder, dass die deutsche Obrigkeit aufmerksam wird. Im Jahre 1835 bezeichnet der Bundestag eine Reihe von missliebigen Autoren 74 Heinrich Heine: „Schlusswort (zum 2. Band der ‚Reisebilder‘)―, in: H.H., Werke, Bd.7/ 1, Hamburg, 1986, 270-273, 271. 75 Heinrich Heine: „Einleitung zu ‚Kahldorf über den Adel‗―, in: H.H., Werke, Bd.11., Hamburg, 1978, 134-145, 134. 76 Heinrich Heine: „Die romantische Schule―, in: H.H., Werke, Bd.8/ 1, Hamburg, 1979, 121-249, 217. 77 Robert Minder, der selber ein Grenzgänger zwischen der deutschen und der französischen Literatur war, fand, dass die beiden Bücher zusammengehörten: „Das ganze Deutschland lebt in ihnen, die beide im Exil entstanden sind - im Kampf gegen den Polizeistaat Napoleons das eine, im Kampf gegen den Polizeistaat Metternichs das andere, beide mit den Grundforderungen der Vernunft, der Freiheit und der Toleranz, wie das achtzehnte Jahrhundert sie verstanden und wie die Klassiker sie formuliert haben― („Madame de Staël entdeckt Deutschland―, in: R.M., Kultur und Literatur in Deutschland und Frankreich. Fünf Essays, Frankfurt a.M., 1962, 94-105, 101). Übrigens hat Heine die französische Übersetzung seines Buches ebenfalls unter dem Titel De l’Allemagne (1835) veröffentlicht. 78 Heinrich Heine: „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland―, in: H.H., Werke, Bd.8/ 1, Hamburg, 1979, 9-120, 119. <?page no="95"?> Deutsch-französische Verflechtungen um die Romantik 95 als ‚Junges Deutschland‘, unterwirft ihre bisherigen und zukünftigen Werke einer scharfen Zensur und treibt sie und ihresgleichen ins Exil. Heine und Börne ziehen um nach Paris, Büchner nach Straßburg. „Seit ich über der Grenze bin, habe ich frischen Lebensmut― 79 , schreibt Letzterer an die Familie; später geht er nach Zürich. Für Heine ist Paris „das neue Jerusalem, und der Rhein ist der Jordan, der das geweihte Land der Freyheit trennt von dem Lande der Philister―. 80 Im Vorwort zu Deutschland. Ein Wintermährchen betont er, gleich im ersten Satz, dass dieses Gedicht in Paris entstanden sei, „und die freye Luft des Ortes wehete in manche Strophe weit schärfer hinein, als mir eigentlich lieb war―. 81 Noch im deutschen Kehl, aber schon auf dem Weg nach dem französischen Straßburg sieht Börne am Hut eines Bauern die erste Kokarde, die ihm „wie ein kleiner Regenbogen nach der Sündflut unserer Tage, als das Friedenszeichen des versöhnten Gottes― 82 erscheint: Ach! und als mir die dreifarbige Fahne entgegenfunkelte - ganz unbeschreiblich hat mich das aufgeregt. Das Herz pochte mir bis zum Übelbefinden, und nur Tränen konnten meine gepreßte Brust erleichtern. Es war ein unentschiedenes Gemisch von Liebe und Haß, von Freude und Trauer, von Hoffnung und Furcht. Der Mut konnte die Wehmut, die Wehmut in meiner Brust den Mut nicht besiegen. Es war ein Streit ohne Ende und ohne Friede. Die Fahne stand mitten auf der Brücke, mit der Stange in Frankreichs Erde wurzelnd, aber ein Teil des Tuches flatterte in deutscher Luft. 83 Mit derart gemischten Gefühlen gehen die Autoren ins Exil; nicht weil sie wollen, sondern weil sie dazu gezwungen sind. Schon die zeitgenössischen Gegner geben sich die größte Mühe, sie als vaterlandslose Gesellen, ja als Verräter am eigenen Volk hinzustellen; was ihnen bei Heine und Börne, den beiden Juden, umso leichter gelingt. Aber sie, die Autoren, leiden unter dem Leben, das sie führen müssen, und halten Deutschland dennoch die Treue. Über seine zeitweilige Rückkehr schreibt Heine in Deutschland. Ein Wintermährchen (1844): Und als ich an die Grenze kam, Da fühlt ich ein stärkeres Klopfen In meiner Brust, ich glaube sogar Die Augen begunnen zu tropfen. 79 Georg Büchner: „Brief an die Familie (09.03.1835)―, in: G.B., Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Fritz Bergemann, Leipzig, 1922, 543-544, 544. 80 Heinrich Heine: „Englische Fragmente―, in: H.H., Werke, Bd. 7/ 1, Hamburg, 1986, 207- 269, 269. 81 Heinrich Heine: „Deutschland. Ein Wintermährchen. Vorwort―, in: H.H., Werke, Bd.4., Hamburg, 1985, 300-302, 300. 82 Ludwig Börne: Briefe aus Paris, Wiesbaden, 1986, 5. 83 Ibid. <?page no="96"?> Georges Jacques, Hubert Roland und Johannes Werner 96 Und als ich die deutsche Sprache vernahm, Da ward mir seltsam zu Muthe; Ich meinte nicht anders, als ob das Herz Recht angenehm verblute. 84 In seinem Buch über Börne heißt es: „Nur wer im Exil gelebt hat, weiß auch, was Vaterlandsliebe ist, Vaterlandsliebe mit all ihren süßen Schrecken und sehnsüchtigen Kümmernissen! ― 85 Aus Paris schreibt Börne selber: „Austauschen, nicht tauschen sollen wir mit Frankreich. Käme ein Gott zu mir und spräche: Ich will dich in einen Franzosen umwandeln mit allen deinen Gedanken und Gefühlen, mit allen deinen Erinnerungen und Hoffnungen - ich würde ihm antworten: Ich danke, Herr Gott―. 86 Die Autoren suchen ihr Heil in der Flucht, um der politischen Unterdrückung und Verfolgung zu entgehen sowie der Zensur, die ihnen das Schreiben und damit das Leben unmöglich macht. „Wenn ich an die Zensur denke, möchte ich mit dem Kopfe an die Wand rennen― 87 , schreibt Börne aus Paris. Sie greift tief in das literarische Geschehen ein, ruft aber immer neue, raffinierte Reaktionen hervor, denen sie nicht gewachsen ist. Börne veröffentlicht etwa eine Monographie der deutschen Postschnecke als „Beitrag zur Naturgeschichte der Mollusken und Testaceen― (1821); aber die „gelehrte Überschrift― 88 soll, wie er gleich gesteht, „keinen abschrecken als den Zensor, zu seinem und meinem Vorteile, und da dieser jetzt schon getäuscht ist, und der falsche Paß der verdächtigen Abhandlung glücklich über die Grenze geholfen hat, so ist längere Verstellung unnötig― 89 und Börne kann seiner Satire über die deutschen Dinge freien Lauf lassen. Als „Schmuggelhandel der Freiheit― 90 erklärt und empfiehlt Gutzkow dieses gefährliche Geschäft in einem Brief an Büchner in Straßburg, und auch Heine bekennt, dass er seine wahren Überzeugungen oft genug unter falscher Flagge „in den Hafen der öffentlichen Meinung hineinschmuckeln [sic]― 91 musste. Die Autoren wehren sich, und zwar mit einer literarischen Eleganz und Brillanz und mit ei- 84 Heinrich Heine: „Deutschland. Ein Wintermährchen―, in: H.H., Werke, Bd.4., Hamburg, 1985, 89-157, 91. 85 Heinrich Heine, Ludwig Börne, op. cit., 105. 86 Ludwig Börne: „Briefe aus Paris―, op. cit., 513. 87 Ibid., 38. 88 Ludwig Börne: „Monographie der deutschen Postschnecke―, in: L.B., Kritische Schriften, Hrsg. von Edgar Schumacher, Zürich/ Stuttgart, 1964, 378-493, 378. 89 Ibid. 90 Karl Gutzkow: „Brief an Georg Büchner (ohne Datum)―, in: G.B., Sämtliche Werke und Briefe, op. cit., 614-615, 614. 91 Heinrich Heine: „Vorrede zu Lutezia―, in: H.H., Werke. Bd.13/ 1, Hamburg, 1988, 291- 296, 293. <?page no="97"?> Deutsch-französische Verflechtungen um die Romantik 97 nem Witz, der an Lessing, Lichtenberg und dem vielgeliebten Jean Paul geschult ist. 92 Hinter dem Spaß steckt dennoch ein zuweilen bitterer, blutiger Ernst. „Trommle die Leute aus dem Schlaf―, 93 schreibt Heine, sieht sich aber nicht nur als Trommler, sondern sogar als „braver Soldat im Befreyungskriege der Menschheit―. 94 Denn: „Jetzt gilt es die höchsten Interessen des Lebens selbst, die Revolution tritt in die Literatur―. 95 Einen „Sohn der Revoluzion― 96 nennt er sich schon 1830 selbst und will, dass man ihm eine Leier reiche, „damit ich ein Schlachtlied singe―. 97 Börne meint seinerseits: „Die Zeiten der Theorien sind vorüber, die Zeit der Praxis ist gekommen. Ich will nicht schreiben mehr, ich will kämpfen. Hätte ich Gelegenheit und Jugendkraft, würde ich den Feind im Felde suchen; da mir aber beide fehlen, schärfe ich meine Feder, sie soviel als möglich einem Schwerte gleichzumachen―. 98 Büchner greift mit seiner Flugschrift Der hessische Landbote (1834) direkt in den politischen Kampf ein, bleibt aber ungehört. Das Motto - Friede den Hütten! Krieg den Palästen! Ŕ stammt von Chamfort, der es geprägt und den französischen Soldaten mitgegeben hat. Selbst in seinem scheinbar leichthändigen Lustspiel Leonce und Lena (1836) zielt Büchner mit satirischen Spitzen auf die deutsche Kleinstaaterei und auf das, was sie aus den Menschen macht: Müssen sie doch dankbar sein, wenn sie anlässlich einer hochfürstlichen Hochzeit einmal im Leben einen Braten wenigstens riechen dürfen. Und im Woyzeck (1837) lässt er sich tief, so tief wie keiner zuvor, zu den Unterdrückten hinab. Hinter Heine und Börne taucht allmählich die ‚Vormärz‗-Generation auf, angeführt von Georg Herwegh und Ferdinand Freiligrath; auch sie sieht sich in derselben Pflicht, und auch ihr Schicksal heißt Exil. „Das Abzeichen der modernen Literatur―, so Herwegh, „ist es eben, daß sie ein Kind der Politik, deutscher gesprochen, ein Kind der Juliusrevolution ist. Das sind nun zehn Jahre her, und sie hat bei keinem der besseren Schriftsteller ihre Mutter ver- 92 In Ideen. Das Buch Le Grand tut Heine so, als sei das ganze 12. Kapitel von der Zensur gestrichen worden, bis auf die zwischen den Strichen stehen gebliebenen Wörter „Die deutschen Censoren― und „Dummköpfe―, in: H.H., Werke, Bd.6., Hamburg, 1973, 169- 222, 201. Und noch Herwegh gibt „Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz― (1843) heraus - weil nur Druckschriften im Umfang von bis zu 20 Bogen der Vorzensur unterliegen, und weil die Schweiz, anders als Deutschland, ein freies Land ist. 93 Heinrich Heine: „Doktrin―, in: H.H., Werke, Bd.2., Hamburg, 1983, 109. 94 Heinrich Heine: „Reise von München nach Genua―, in: H.H., Werke, Bd.7/ 1, Hamburg, 1986, 13-80, 74. 95 Heinrich Heine: „Brief an Varnhagen, 04.02.1830―, in: Ludmilla Assing, op. cit., 199- 202; hier 200sq. 96 Heinrich Heine, Ludwig Börne, op. cit., 50. 97 Ibid. 98 Ludwig Börne: Briefe aus Paris, op. cit., 351. <?page no="98"?> Georges Jacques, Hubert Roland und Johannes Werner 98 leugnet―. 99 Von ihren Vorgängern unterscheiden sich die Nachfolger dadurch, dass sie, auch aus Ungeduld über die Unbeweglichkeit der deutschen Verhältnisse, eine schärfere, härtere, gröbere Tonart anschlagen, dass sie offener protestieren und appellieren. Das hintergründige, subtile Spiel der Anspielungen ist ihre Sache nicht mehr. Georg Weerth, der mit Marx und Engels befreundet ist, veröffentlicht „Humoristische Skizzen aus dem deutschen Handelsleben― (1845/ 48), die alles andere als humoristisch sind, und natürlich Gedichte, wie das berühmte „Hungerlied―: Verehrter Herr und König, Weißt du die schlimme Geschicht? Am Montag aßen wir wenig, Und am Dienstag aßen wir nicht. Und am Mittwoch mußten wir darben, Und am Donnerstag litten wir Not; Und ach, am Freitag starben Wir fast den Hungertod! Drum laß am Samstag backen Das Brot, fein säuberlich - Sonst werden wir sonntags packen Und fressen, o König, dich! 100 Dieses Lied muss denen bekannt vorkommen, die noch wissen, dass die Frauen von Paris mit dem Ruf nach Brot im Oktober 1789 nach Versailles zogen und den König zwangen, in die Hauptstadt zurückzukehren, wo er seinem Ende entgegenging. Und Herwegh schickt, nicht weniger direkt, propagandistisch und agitatorisch, einen „Aufruf― ins Land, der so beginnt (und so noch eine Weile weitertönt): Reißt die Kreuze aus der Erden! Alle sollen Schwerter werden, Gott im Himmel wird‘s verzeihn. Laßt, o laßt das Verseschweißen! Auf den Amboß legt das Eisen! Heiland soll das Eisen sein. 101 99 Georg Herwegh: „Die Literatur im Jahre 1840―, in: G.H., Gedichte und Prosa, Auswahl Hrsg. von Peter Hasubek, Stuttgart, 1975, 117-122, 118. 100 Georg Weerth: „Das Hungerlied―, in: G.W., Ausgewählte Werke, Hrsg. von Bruno Kaiser, Frankfurt a.M., 1966, 38-39. 101 Georg Herwegh: „Aufruf―, in: G.H., Gedichte und Prosa. Auswahl. Hrsg. von Peter Hasubek, Stuttgart, 1975, 13-14, 13. <?page no="99"?> Deutsch-französische Verflechtungen um die Romantik 99 Während sich die Deutschen an dem, was in Frankreich geschah und geschieht, ein Beispiel nehmen, während sie die Vergangenheit hinter sich lassen, fährt ein Franzose nach Deutschland und hat das Gegenteil im Sinn. Victor Hugo reist 1840 den Rhein entlang, dort, wo er am romantischsten ist. Er besucht die mittelalterlichen Kirchen und Burgen, am liebsten ihre Ruinen und dann auch noch bei Nacht; er berichtet von Geistern und Gespenstern, erzählt Märchen und Sagen. Über Deutschland schreibt er in seinem Vorwort von 1842, es sei „la collaboratrice naturelle de la France―. 102 Und über sich selbst: „Il a presque un sentiment filial pour cette noble et sainte patrie de tous les penseurs. S‘il n‘était pas français, il voudrait être allemand―. 103 Noch einmal, eigentlich zum dritten Mal, bringen die Franzosen eine Revolution zustande: die Februarrevolution von 1848, bei der wieder ein König, der Bürgerkönig, seinen Thron räumen muss. George Sand wird auf ihrem Landsitz von den Ereignissen überrascht, die sie als eine „divine surprise― 104 empfindet, und ist vor Freude außer sich: „On est heureux de s‘être endormi dans la fange et de se réveiller dans les cieux―. 105 Aus Paris schreibt Weerth an seine Mutter: „Eins der schönsten Völker der Welt hat sich in drei Tagen die Freiheit wiedererobert und den niederträchtigsten aller gekrönten Schufte, samt seiner Clique, mit Stumpf und Stiel vernichtet. Was bedarf es weiter der Worte noch? Ganz Frankreich ist für die Republik, und ob auch tausend Schwierigkeiten zu übersteigen sind - alles vereinigt sich, um den Triumph zu sichern―. 106 Jetzt endlich ist sie da und wird, etwa von Freiligrath, in vielen Strophen besungen: Die Republik, die Republik! Herr Gott, das war ein Schlagen! Das war ein Sieg aus einem Stück! Das war ein Wurf! Die Republik! Und alles in drei Tagen! Die Republik, die Republik! Vive la République! […] Die Republik, die Republik! Wohlan denn, Rhein und Elbe! Donau, wohlan - die Republik! 102 Victor Hugo: Le Rhin. Bd.1, Paris, 1884, 12. - Umgekehrt ist Heine davon überzeugt, dass „das aufrichtige und großmüthige [...] Frankreich unser natürlicher und wahrhaft sicherster Alliirter ist― (Heinrich Heine: „Lutezia―, in: H.H., Werke. Bd.13/ 1, Hamburg, 1988, 13-158, 18. 103 Victor Hugo: Le Rhin, op. cit., 13. 104 Zit. n. Jean Pommier: Les écrivains devant la révolution de 1848: Lamartine, Hugo, Lamennais, George Sand, Michelet, Béranger, Paris, 1948, 49. 105 Zit. n. Ibid. 106 Georg Weerth, op. cit., XIII. <?page no="100"?> Georges Jacques, Hubert Roland und Johannes Werner 100 Die Stirnen hoch, hoch das Genick! Eu‘r Feldgeschrei dasselbe: Die Republik, die Republik! Vive la République! 107 Nach dem Vorbild der Franzosen raffen sich nun auch die Deutschen zu einer Revolution, der so genannten Märzrevolution, auf, die kläglich scheitert. Aber sie liegt schon lange in der Luft, wird auch von deutschen Schriftstellern herbeigeschrieben, die daher unter dem Namen ‚Vormärz‘ in die Literaturgeschichte eingegangen sind. Herwegh führt sogar selber eine „Deutsche Demokratische Legion―, die sich in Paris gebildet hat, über den Rhein, muss sich aber schon nach wenigen Tagen geschlagen geben und in die Schweiz fliehen. Die französische Junirevolution von 1848, die nunmehr vierte innerhalb von 60 Jahren, scheitert auch und bahnt einem neuen Herrscher, nämlich Kaiser Napoleon III., den Weg. Im selben Jahr gibt Karl Marx mit Arnold Ruge in Paris den ersten und einzigen Band der Deutsch-Französischen Jahrbücher heraus. Marx kennt Heine gut, nennt ihn seinen Freund 108 - und umgekehrt. 109 Und wie Heine, oft auch durch ihn, kennt er die französischen Autoren, die er in seinem Werk zu Dutzenden zitiert. Da sind Fourier, dem Heine noch selber begegnet ist; Proudhon, mit dem wiederum Marx 1844 zusammentrifft; Saint-Simon und sein Schüler Enfantin, dem Heine die französische Ausgabe der Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland widmet. Das Schlagwort von der Religion als „Opium des Volks―, das von Marx stammt, geht unmittelbar auf Heine (jedoch noch viel weiter) zurück. 110 Paris ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Hauptstadt nicht nur der französischen, sondern auch der deutschen Kultur. „Frankreich allein hat ein Paris―, schreibt Friedrich Engels, ebenfalls 1848, nämlich „eine Stadt, in der die europäische Zivilisation zu ihrer vollsten Blüte sich entfaltet, in der alle Nervenfasern der europäischen Geschichte sich vereinigen und von der in gemessenen Zeiträumen die elektrischen Schläge ausgehn, unter denen eine ganze Welt erbebt―. 111 Gutzkow formuliert es anlässlich eines Romans von Balzac schon 1835 folgendermaßen: „Man kann sagen, Paris kennen, heißt auch die Welt kennen, denn Paris ist der Puls der Zivilisation; man muß auch sagen, Paris kennen, heißt das Herz kennen, denn 107 Ferdinand Freiligrath, „Die Republik―, in: F.F., Werke. Hrsg. von Werner Ilberg, 2.Aufl., Berlin/ Weimar, 1967, 116-118. 108 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Berlin, 1932, 562 (Fußn.). 109 Heinrich Heine: „Vorrede zur zweiten Auflage―, in: H.H., Werke, Bd.8/ 1, Hamburg, 1979, 496-500, 498. 110 Vgl. Johannes Werner: „Opium des Volks. Zur Herkunft eines Schlagworts―, in: Internationale katholische Zeitschrift ‚Communio’, 3/ 2010, 339-341. 111 Friedrich Engels: „Von Paris nach Bern―, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd.5, Berlin, 1959, 463-480, 464. <?page no="101"?> Deutsch-französische Verflechtungen um die Romantik 101 welche Interessen, welche Gefühle müssen sich nicht in einer Stadt offenbaren, welche Frankreich und die Bildung Europas in sich absorbiert? ― 112 Die deutschen Autoren nehmen an dem, was hüben und drüben geschieht, teil, greifen auch darin ein. 113 Wenn sie es tun, dann nicht mit Romanen, mit denen sowohl sie als auch ihre Leser in dieser schnelllebigen Zeit sich zu lange aufhalten müssten; auch kaum mit Dramen, obwohl sich diese Gattung doch von jeher zur Darstellung von Konflikten, auch sozialen, am besten eignet - denn die Zensur sorgt dafür, dass das wenige, was für die Bühne geschrieben wird, gar nicht auf die Bühne kommt. Dafür treten nun Gedichte, und zwar einfache, lied- und volksliedhafte, in den Vordergrund. Ein Gedicht schlüpft durch das engmaschige Netz der Zensur, geht wie die Flug- und Zeitungsblätter, auf denen es gedruckt ist, von Hand zu Hand und dann von Mund zu Mund. Auch eher journalistische Formen werden gerne gewählt, wie der Brief und das Tagebuch, die dem täglichen Geschehen atemlos auf den Fersen bleiben, und die so genannten „Reisebilder―, bei denen der Autor nicht nur erzählt, was er erfährt, sondern auch das, was in ihm vorgeht; bei denen er von anderen Ländern berichtet und doch das eigene meint. 114 So hielt es schon Seume bei seinem „Spaziergang nach Syrakus― (1802); und, schon vor ihm, der weitgereiste Forster in seinen Ansichten vom Niederrhein (1790), als er eine Welt im Umbruch beschrieb; in einem Übergang, der überall versprach, was etwa in Holland schon verwirklicht schien: nämlich das Ideal einer „freien und arbeitsamen, gesunden und wohlgekleideten, genügsamen und reinlichen, gutgearteten und durch Erziehung zu einer auf Grundsatz ruhenden Tugend gebildeten Nation―. 115 Forster schloss sich in Mainz den Jakobinern an, ging als deren Deputierter nach Paris, wo er 1794 verbittert starb. Aber an die „Löwenkräfte des freien Menschen, der seine Freiheit über alles liebt―, 116 glaubte er bis zuletzt. - Auf der französischen Seite tut sich, in diesem Genre, nur Stendhal hervor, und zwar mit „Rome, Naples et Florence― (1817), das ihm Ausweisungen und Verfolgungen einbringt, und mit den „Promenades dans Rome― (1829), bei deren Beschreibung er wiederum kein Blatt vor den Mund nimmt. 112 Karl Gutzkow: Liberale Energie. Eine Sammlung seiner kritischen Schriften, hrsg. von Peter Demetz, Frankfurt a.M./ Berlin/ Wien, 1974, 203sq. 113 Auch vermitteln sie, indem sie übersetzen: etwa Börne die „Paroles d‘un croyant― von Lamennais, Büchner die Dramen Lucretia Borgia und Maria Tudor von Hugo, Freiligrath einige Gedichte wiederum von Hugo und, in sechs Bänden, das Werk von Lamartine. 114 Vgl. Johannes Werner: „Kunstform und Gesellschaftsform. Materialien zu einer soziologischen Ästhetik―, in: Literaturwissenschaft-Gesellschaftswissenschaft, Bd. 40, Stuttgart, 1979, 56-70. 115 Georg Forster: „Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich, im April, Mai und Junius 1790―, in: Saemmtliche Schriften, Bd.3, Leipzig, 1843, 356. 116 Ibid., 227. <?page no="102"?> Georges Jacques, Hubert Roland und Johannes Werner 102 Während die deutschen Autoren also mit angemessenen Mitteln, und vor allem rasch, auf das reagieren, was geschieht, ziehen sich die französischen eher auf historische oder private Themen zurück und, erstaunlicherweise, auf den Roman. Stendhal (Le rouge et le noir, 1830; La chartreuse de Parme, 1839), Dumas Vater (Les trois mousquetaires, 1844; Le comte de Monte-Cristo, 1845) und Sohn (La dame aux camélias, 1848) bedienen ein Publikum, das zunächst nur unterhalten werden will. Aber selbst der Roman kann kritisches Potential enthalten und entfalten. Hugo ist der Erste, der die aufbegehrenden Volksmassen in den Mittelpunkt des Geschehens stellt (Notre- Dame de Paris, 1831). Honoré de Balzac schreibt bis 1850 rund 90 von zirka 135 geplanten Romanen, die die gesamte französische Gesellschaft seiner Zeit in ihren sozialen und regionalen Differenzierungen abbilden und ihr so einen Spiegel vorhalten sollen. George Sand lässt zwischen 1840 und 1845 die lange Reihe ihrer so genannten Sozialromane erscheinen; in ihnen, vor allem in Le compagnon du tour de France (1840), erweist sie sich als entschiedene Sozialistin, wie auch durch die von ihr initiierte und finanzierte, aber kurzlebige Zeitschrift La cause du peuple, mit der sie im April 1848 hervortritt. Sands Romane erscheinen fortlaufend, d.h. in Fortsetzungen, in einem Journal und erreichen dadurch eine große Leserschaft; so auch die, in denen Eugène Sue, auch er ein Sozialist, direkt auf die sozialen Probleme der Zeit hinweist und ihre Lösung anmahnt (Les mystères de Paris, 1842/ 43; Le juif errant, 1844). Sie sehen, wie es scheint, die Revolution von 1848 voraus und bereiten sie sogar vor. 117 Die Mystères de Paris stehen übrigens im Zentrum des 1845 veröffentlichten, ersten gemeinsamen Werks von Marx und Engels. 118 Sue hat dann, auf deutscher Seite, einen Nachahmer in Gutzkow (Die Ritter vom Geist, 1850/ 51; Der Zauberer von Rom, 1858/ 61), dessen erster Roman (Wally, die Zweiflerin, 1835) zum Eingreifen des Bundestages gegen das ‚Junge Deutschland‘ geführt hat. Sonst tritt Gutzkow mit wirkungsvollen Lustspielen (Zopf und Schwert, 1844; Das Urbild des Tartüffe, 1844) hervor, deren Vorbild er bei den zeitgenössischen Franzosen findet, wie beispielsweise Eugène Scribe. Jedoch, auch die Revolution von 1848 läuft letztlich ins Leere, in Frankreich wie in Deutschland. Heine, der schon von Anfang an dabei ist, muss 117 Mit Les mystères du peuple (1849-1856) führt Sue das Projekt in den folgenden Jahren fort. 118 Friedrich Engels/ Karl Marx: „Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten―, in: MEW, Bd.2, Berlin, 1962, 3-223. - Noch viel intensiver beschäftigt sich Marx mit Balzac, über dessen Comédie humaine er eine große Kritik schreiben will, wozu es aber nie kommt. Engels wiederum meint, dass er von Balzac „mehr gelernt― habe „als von allen berufsmäßigen Historikern, Ökonomen und Statistikern dieser Zeit zusammengenommen― (Brief an Margaret Harkness, Anfang April 1888, in: Karl Marx/ Friedrich Engels: Briefe 1888-1890 (= MEW, Bd. 37), 4. Aufl., Berlin, 1986, 42-44; hier 44). - Dazu, sehr kritisch: Peter Demetz: Marx, Engels und die Dichter. Zur Grundlagenforschung des Marxismus, Stuttgart, 1959, 135-143, 226-234. <?page no="103"?> Deutsch-französische Verflechtungen um die Romantik 103 auch noch das Ende erleben und 1849 das Nachwort und den Nachruf schreiben: Gelegt hat sich der starke Wind, Und wieder stille wird‘s daheime; Germania, das große Kind, Erfreut sich wieder seiner Weihnachtsbäume. Wir treiben jetzt Familienglück - Was höher lockt, das ist vom Uebel - Die Friedensschwalbe kehrt zurück, Die einst genistet in des Hauses Giebel. Gemütlich ruhen Wald und Fluß, Von sanftem Mondlicht übergossen; Nur manchmal knallt‘s - Ist das ein Schuß? - Es ist vielleicht ein Freund, den man erschossen. 119 Die Sache scheint verloren, wenigstens auf deutscher Seite. Später setzt ihr Heinrich Mann noch ein Denkmal in der tragischen Gestalt des alten Buck, der einst „ein Achtundvierziger― 120 und „auch Dichter― 121 gewesen ist und im wilhelminischen Deutschland auf verlorenem Posten steht. Im Rückblick zeigt sich aber deutlich, dass Politik und Literatur, vor allem deutsche und französische Politik und Literatur einander nie so nahe kamen als in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; und dass das, was damals zu scheitern schien, insgeheim weiterwirkte. Heine bekennt 1851 in seinem Testament: „La grande affaire de ma vie était de travailler à l‘entente cordiale entre l‘Allemagne et la France, et à déjouer les artifices des ennemies de la démocratie qui exploitent à leur profit les préjugés et les animosités internationaux―. 122 Und Börne schreibt schon 1837, kurz vor seinem Tod: „Die nächsten Jahrhunderte werden weder den Deutschen noch den Franzosen noch sonst einem andern Volke oder einem Fürsten gehören; sondern der Menschheit―. 123 119 Heinrich Heine: „Im Oktober 1849―, in: H.H., Werke, Bd. 3/ 1, Hamburg, 1991, 117-119, 117. 120 Heinrich Mann: Der Untertan. Roman. Hrsg. von Peter-Paul Schneider, Frankfurt a.M., 1995, 118. 121 Ibid., 121. 122 Heinrich Heine: „Testament vom 13.11.1851―, in: H.H., Werke, Bd.15, Hamburg, 1982, 207-211; hier 210. An anderer Stelle betont er „das patriotische Bedürfniß, meine verblendeten Landsleute über den treulosen Blödsinn der Franzosenfresser und Rheinliedbarden aufzuklären― (Heinrich Heine: „Lutezia―, in: H.H., Werke, Bd.13/ 1, Hamburg, 1988, 13-158, 18). 123 Ludwig Börne: „Menzel der Franzosenfresser―, in: L.B., Menzel der Franzosenfresser und andere Schriften, Hrsg. von Walter Hinderer, Frankfurt a.M., 1969, 95-201, 173. <?page no="104"?> Georges Jacques, Hubert Roland und Johannes Werner 104 7 Schlussfolgerung Die Rezeptionsgeschichte der deutsch-französischen Verflechtungen um die Romantik liest sich als eine Konstellation von Transformationen, die langfristig alle möglichen Transfers und Missverständnisse integrieren und überwinden. Auf rein ästhetischer Ebene ließe sich darüber hinaus vermutlich eine homogene ästhetische Dimension des romantischen Phänomens in deutsch-französischer Hinsicht viel einfacher skizzieren als auf dem ideologischen Gebiet. Denn wenn wir die Romantik als einen soziokulturellen Prozess betrachten, werden wir mit antagonistischen Kräften konfrontiert (Kosmopolitismus und Nationalismus), die sich aber nicht mit den Nationen Deutschland und Frankreich assoziieren lassen, sondern eher transnational wirken. Die Vielfalt und Pluralität der intellektuellen romantischen Bewegung setzt auch eine widersprüchliche Heterogenität voraus, wobei die Stichwörter „Liberalismus― und „Restauration― auch nicht reichen, um dieser Komplexität gerecht zu sein. Weiterführende Literatur Angelloz Jean-François: Le romantisme allemand, Paris, Presses Universitaires de France, 1973. Behler Ernst: Unendliche Perfektibilität. Deutsche Romantik und Französische Revolution, Paderborn, Schöningh, 1989. Droz Jacques: Le Romantisme allemand et l’État: résistance et collaboration dans l’Allemagne napoléonienne, Paris, Gallimard, 1995. Fink Gonthier-Louis: „La littérature allemande face à la Révolution française (1789- 1800). Littérature et politique, libertés et contraintes―, in: Voss Jürgen (ed.), Deutschland und die französische Revolution, 17. Deutsch-französisches Historikerkolloquium des Deutschen Historischen Instituts Paris (1981), München und Zürich, Artemis Verlag, 1983, 249-300. Höhn Gerhard & Füllner Bernd (ed.), Deutsch-französischer Ideentransfer im Vormärz, Bielefeld, Aisthesis, 2003. Horst Christoph auf der: Heinrich Heine und die Geschichte Frankreichs, Stuttgart/ Weimar, Metzler, 2000. Kremer Detlef: Romantik, Stuttgart, Metzler, 2003. Le Blanc Charles: La forme poétique du monde: anthologie du romantisme allemand, Paris, José Corti, 2003. Péju Pierre: Lignes de vie: récits et existence chez les romantiques allemands, Paris, Corti, 2000. Pikulik Lothar: Frühromantik. Epoche Ŕ Werke Ŕ Wirkung, München, Beck, 2000. Schaeffer Jean-Marie: La naissance de la littérature. La théorie esthétique du romantisme allemand, Paris, École Normale Supérieure, 1983. Schulz Gerhard: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Teil 1: Das Zeitalter der Französischen Revolution; Teil 2: Das Zeitalter der Napoleonischen Kriege und der Restauration = Geschichte der deutschen Literatur von den An- <?page no="105"?> Deutsch-französische Verflechtungen um die Romantik 105 fängen bis zur Gegenwart/ begr. von Helmut de Boor und Richard Newald, Bd. 7, München, Beck, 1995. Schulz Gerhard: Romantik. Geschichte und Begriff, München, Beck, 2008. <?page no="107"?> Louis Gerrekens Kapitel 4 Formen realistischen Schreibens: Deutsche Provinzialität, französische Avantgarde? Einleitung Unterschiedliche Literaturen oder literarische Strömungen lassen sich nur vor dem Hintergrund der verallgemeinernden fiktiven Annahme vergleichen, dass es sie als partikulare Entitäten gibt. Potenziert wird die Schwierigkeit im Fall des Realismus dadurch, dass die Bezeichnung der zu behandelnden Epoche zwar gesamteuropäisch, ja über die Grenzen des Kontinents hinaus, begegnet, aber so, dass jedem, der sich eingehender damit befasst, bald auffällt, dass der Begriff nicht einheitlich definiert, ja nicht einmal genau konturiert ist. So beginnen die vielen Einzelstudien über den Realismus immer wieder mit Warnungen etwa vor den „difficultés d‘un concept particulièrement flou― 1 oder gar mit einschränkenden Bemerkungen zu seiner konkreten Verwendbarkeit schlechthin. Mit anderen Worten: Realismus, den es eigentlich seit jeher in der Kunst gegeben hat, klingt als Kategorie „altbacken oder - schlimmer noch […] falsch― 2 ; trotz der Vielzahl an Publikationen zum Thema steht „eine umfassende Theorie des Realismus in europäischer Gesamtperspektive noch― 3 aus, und dennoch handelt es sich um eine (nicht nur) literarische Bewegung des 19. Jahrhunderts, die in keiner Literaturgeschichte fehlt und von der - vereinfachend ausgedrückt - naiv angenommen wird, dass sie sich die vollständige, getreue Wiedergabe der (vorrangig sozialen) Wirklichkeit zum Ziel gesetzt hat. 1 Guy Larroux: Le Réalisme. Eléments de critique, d’histoire et de poétique, Paris, Nathan, 1995, 8. 2 Hugo Aust: Realismus. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart, Metzler, 2006. Hier Vorbemerkung V. 3 Europäische Realismen. Facetten Ŕ Konvergenzen ŔDifferenzen. Hg. von Uwe Dethloff, St. Ingbert, Röhrig, 2001, hier Vorwort des Hrgs., 9. <?page no="108"?> Louis Gerrekens 108 Allein schon die definitorische Sackgasse mahnt zu Bescheidenheit; im Folgenden kann es selbstverständlich nicht darum gehen, die jeweiligen Forschungslücken zu füllen oder den soundsovielten Beitrag zum Epochenbegriff zu leisten, sondern es soll anhand von einigen konkreten Aspekten der realistischen Literatur in Frankreich einerseits und im deutschsprachigen Raum andererseits gezeigt werden, was beide Formen realistischer Literatur in der künstlerischen Produktion und Rezeption vereint und unterscheidet, wobei die Frage sich zwangsläufig in den Vordergrund drängt, wie es dazu gekommen ist, dass sich der deutsche 4 Realismus - nach Erich Auerbachs berühmtem epochemachendem Verdikt allgemein das Prädikat provinziell eingetragen hat 5 , der französische hingegen oft mit Internationalität und Vormoderne verbunden wird. Exemplarisch wird auf einige der Autoren eingegangen, die im Forschungskonsens als besonders repräsentativ gelten, was allerdings noch lange nicht bedeutet, dass auch die Schriftsteller selbst dieser Meinung gewesen wären. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Die kanonisierten französischen Realisten Stendhal und Balzac haben sich nie als solche erleben können, hat die Bewegung doch erst nach ihrem Tod (1842 und 1850) ihren begrifflichen Rahmen erhalten, und Gustave Flaubert, der immer wieder als der Realist schlechthin angeführt wird, hat sich vehement dagegen gewehrt, überhaupt zum verabscheuten Realismus zu gehören! Auf diese Art und Weise wird gleich sinnfällig, dass das vorliegende Kapitel großenteils mit Konzepten arbeiten und auskommen wird, die von der Rezeptionsgeschichte und insbesondere von der älteren Forschung her stammen; allerdings wird dann zu untersuchen sein, ob die im hier beschriebenen geschichtlichen Prozess hervorgebrachten Repräsentationen, Urteile und natürlich auch die Differenzen nach dem heutigen Forschungsstand weiterhin aufrechtzuerhalten sind. 4 Der Einfachheit halber werde ich weiterhin öfter das Adjektiv „deutsch― verwenden, obwohl die Texte, um die es im Folgenden geht, nicht alle in Deutschland entstanden sind und auch österreichische und schweizerische Autoren zu berücksichtigen sind. Siehe hierzu: Aust, Hugo: „Trilaterale Positionen in der Literatur des Realismus―, in: Dethloff, 2001, 391- 416. 5 Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern, A. Francke, 1946. Siehe vor allem 479sqq. Auerbach sieht darin, dass im 19. Jahrhundert „in Deutschland das Leben selbst viel provinzieller, viel altmodischer, viel weniger ‚zeitgenössisch‗― (479) ist, den Grund für diese Provinzialität auch von Literatur. Sein in der Forschung immer wieder erwähntes Urteil, das im Grunde ältere Tendenzen der 1920er Jahre aufgreift und verstärkt, prägt die Rezeptionsgeschichte des deutschen Realismus über Jahrzehnte hinweg. Erst in letzter Zeit distanziert sich die Forschung zunehmend von dieser negativen Einschätzung. Dieser literarhistorische Aspekt einer negativen Einschätzung ist unter vielen anderen - prägnant zusammengefasst in: Jückstock-Kießling, Nathali: Ich-Erzählen. Anmerkungen zu Wilhelm Raabes Realismus, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2004, hier vor allem 90-107. <?page no="109"?> Formen realistischen Schreibens: Deutsche Provinzialität, französische Avantgarde? 109 1 Zeitlicher Rahmen: Wann beginnt, wann endet der Realismus? Das Revolutionsjahr 1848 markiert einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte, und die Forschung ist sich einig, dass sich nur kurze Zeit danach im deutschsprachigen Raum auf allen Ebenen des Denkens ein bedeutender Wandel bemerkbar mache. Der Beginn des Realismus wird allgemein auf das Jahr 1850 datiert, programmatische Schriften und fiktionale Texte folgen auf dem Fuße. Auch wenn immer wieder beiläufig erwähnt wird, dass punktuelle Ansätze zu einer realistischen Schreibweise früher schon feststellbar sind - wobei Georg Büchners Lenz oder Annette von Droste-Hülshoffs Judenbuche als Paradebeispiele herhalten müssen 6 - so bleibt die Jahrhundertmitte weiterhin der Zeitpunkt, an dem literaturgeschichtlich Realismus ansetzt. Wann er zu Ende geht, ist hingegen stark umstritten. Nimmt man den Tod der großen realistischen Schriftsteller - u. a. Storm (1888), Fontane (1898) oder Raabe (1910) - als Epochengrenze, so wird die Überschneidung des Realismus mit seiner ins Extreme gesteigerten Form, dem Naturalismus, wie mit der frühen Moderne sinnfällig (s. dazu den Beitrag von Sabine Schmitz zu diesem Band); wählt man eher historische Ereignisse wie den Krieg im Jahr 1870, so werden alle Romane des einzigen deutschen Autors des Realismus ausgeblendet, der es sehr schnell zu dauerhaftem internationalen Ansehen gebracht hat, beginnt Theodor Fontanes Romanproduktion doch erst 1878 mit dem historischen Roman Vor dem Sturm. Kurz: Statt ein willkürliches Datum festhalten zu wollen, ist eher von der Tatsache auszugehen, dass am Ende des 19. Jahrhunderts einerseits bestimmte Autoren im Großen und Ganzen weiterhin Werke nach realistischer Art schreiben, während andere Autoren (Gerhart Hauptmann, aber auch der junge Thomas Mann oder Arthur Schnitzler u. a. m.) diesen Schreibstil bereits hinter sich gelassen und neue Epochen eingeleitet haben. Aus heutiger, d. h. retrospektiver Sicht lässt sich sagen, dass der französische Realismus viel früher als der deutsche eingesetzt hat und dass er schon allein aus diesem Grund eine deutlichere und unmittelbarere Reaktion auf die Romantik gewesen ist. Auch wenn sich nicht leugnen lässt, dass realistische Kunst in Frankreich erst nach 1850, und ganz besonders nach den wiederholten Skandalen um Gustave Courbets Malerei in den frühen 1850er Jahren, zu einer systematisch durchdachten und organisierten Strömung wird, so findet eine erste Phase bereits zwischen 1830 und 1850 statt, die von zwei herausragenden Figuren getragen wird: Henri Beyle, bekannt unter dem Künstlernamen Stendhal, und Honoré de Balzac. Durch Stendhals „Erhebung der aktuellen gesellschaftlichen Wirklichkeit zum Objekt der 6 So neulich u. a. bei Aust, 2006, 9, nachzulesen, der noch andere Autoren wie Grabbe oder Gotthelf diesem Frührealismus zurechnet. <?page no="110"?> Louis Gerrekens 110 Literatur― 7 in seinen Romanen, und insbesondere in Le Rouge et le Noir (1830), wird er sozusagen zu dem Vater einer Bewegung, die er selber nicht bewusst als solche erleben wird. Auch hier bedeutet der Beginn der neuen Schreibweise allerdings nicht, dass die Produktion der vergangenen Epoche, also romantische Kunst, plötzlich aufhört; im Gegenteil werden auch hier verschiedene Kunstauffassungen nebeneinander, ja manchmal gegeneinander sich fortentwickeln, man denke nur an die äußerst produktive Gestalt Victor Hugos, der bis weit ins Jahrhundert hinein Werke verfassen wird, die - mit Ausnahme der Misérables vielleicht - kaum dem Realismus zuzurechnen sind. Ähnlich schwer fällt die Festlegung des Moments, in dem der Realismus sich aus der französischen Literatur verabschiedet haben soll - umso schwerer, als in Frankreich anders als in Deutschland der Naturalismus oft als eine besondere Form der realistischen Bewegung angesehen wird. 8 Somit wird Huysmans‘ epochemachender Roman À rebours aus dem Jahr 1884 von manchen Forschern als Grenzstein der Epoche gewertet, da durch ihn anschaulich wird, dass die sich seit einigen Jahren abzeichnende Abkehr von realistischer/ naturalistischer Ästhetik nun überhandgenommen hat. Dass aber auch dies keine endgültige Abkehr vom realistischen Schreiben bedeutet, sei nur dadurch belegt, dass die jüngere Forschung sogar Marcel Proust, den wohl bedeutendsten französischen Schriftsteller des frühen 20. Jahrhunderts, noch zu den „romanciers du réel― 9 rechnet, der sich zweifelsohne als Nachfolger von Balzac und Flaubert empfunden habe, „continuateur d‘une grande tradition―. 10 2 Zwischen Verklärung und Spiegeltheorie Einen Bund realistischer Autoren hat es in Deutschland oder Österreich nie gegeben, ebenso wenig wie eine geschlossene Realismustheorie, nach der sich die einzelnen Autoren gerichtet hätten. Vielmehr haben diese eher individuell oder dann in engerem Kontakt mit Schriftstellerkollegen - man denke z.B. an die über lange Jahre geführten Briefwechsel Fontane-Storm, Storm-Heyse, usw. - über ihre individuelle schriftstellerische Praxis nachgedacht. So kann es nicht verwundern, wenn es bei genauem Hinsehen kaum möglich ist, Realismus annähernd einheitlich zu definieren. Dennoch fallen einige Konstanten auf - wie, selbstverständlich, die von Gustav Freytag 1853 geforderte Beschäftigung der Schriftsteller mit dem alltäglichen Leben der 7 Klaus Heitmann: Der französische Realismus von Stendhal bis Flaubert, Wiesbaden, Athenaion, 1979, 22. 8 Siehe Larroux, 1995, 67-70. 9 Jacques Dubois: Les romanciers du réel (de Balzac à Simenon), Paris, Seuil, 2000. 10 Ibid., 272. <?page no="111"?> Formen realistischen Schreibens: Deutsche Provinzialität, französische Avantgarde? 111 Bürger, die „Präferenz für das ‚bürgerliche‘ Genre, für Stoffe also, die selbst schon die ‚Wirklichkeit der Idee‘ im sittlichen Wert von Arbeit und Bildung repräsentieren―. 11 Diese Forderung hat dem deutschen Realismus denn auch die Bezeichnung des Bürgerlichen Realismus eingetragen, was einer unter vielen Versuchen ist, ein adäquates Etikett für die fortan entstehende Literatur zu finden. 12 Dabei stellt Freytag seine Kunst von vornherein nicht in den Dienst einer sozial-kritischen Betrachtung der bürgerlichen Welt, sondern diese soll verklärt werden, um zu „verhindern, dass die widersprüchlichen, unwahrscheinlichen und zufälligen Seiten des Lebens das Verstehen in der ‚freien Welt‘ der Poesie kritisch herausfordern―. 13 Somit wird realistische Kunst zum „Bestätigungsritual, das nicht gestört werden darf und selbst nicht stört.― 14 Dieses Selbstverständnis von Kunst setzt auch dem Themenrepertoire enge Grenzen, wie u.a. die Polemiken gegen die Verarbeitung des Hässlichen oder des Kranken in Literatur zum Ausdruck bringen. Wie Hugo Aust unter Berufung u.a. auf David Jacksons Publikationen sehr treffend darstellt, darf in den Familienzeitschriften, in denen viele Werke aus finanziellen Gründen erstveröffentlicht werden, nicht geschrieben werden über „Alkoholismus, Ausbeutung (und zwar die „innerfamiliäre―, die Ausbeutung durch „Außenstehende― gehört zur Abgrenzungstopik), Bordellbesuch, Geschlechtskrankheiten, Hygiene, Inzest, Lust (voreheliche und nichtprokreative), Vergewaltigung und alle Verirrungen, die geeignet waren, gewohnte Grenzen zu verwischen oder in Frage zu stellen.― 15 So werden viele reale Aspekte des zeitgenössischen Lebens a priori ausgeblendet, was auch dazu führt, dass die deutschsprachigen Autoren allen Theorien zum Trotz ihre Texte erstaunlich oft in anderen Epochen oder Ländern spielen lassen. Es ist hier nicht der Ort, im Detail auf die vielbesprochene Mimesis- Debatte unter den Autoren des Realismus einzugehen; 16 die immer wieder 11 Claus-Michael Ort: „Was ist Realismus? ―, in: Realismus. Epoche - Autoren Ŕ Werke. Hg. von Christian Begemann, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellscaft, 2007, 11-26, 16. 12 Dass selbst diese minimale Forderung von zahlreichen Autoren nicht eingehalten wurde, hat die Forschung längst nachgewiesen. Logischerweise stellt Bernd Balzer dadurch die „Tauglichkeit [des Bürgerlichen Realismus] als übergeordnete Epochenbezeichnung― in Frage, vermerkt aber gleichzeitig, dass auf eine Kategorisierung nicht zu verzichten ist. Siehe Balzer, Bernd: Einführung in die Literatur des Bürgerlichen Realismus, Darmstadt, WBG, 2006, 12. 13 Aust, 2006, 70. 14 Ibid., 70, Hervorhebung im Original. 15 Ibid., 46. 16 Siehe unter vielen anderen Ort, 2007, 11-22 oder Korten, Lars: Poietischer Realismus. Zur Novelle der Jahre 1848-1888 Ŕ Stifter, Keller, Meyer, Storm, Tübingen, Niemeyer, 2009, 54- 59 . <?page no="112"?> Louis Gerrekens 112 verwendete, zumeist Otto Ludwig zugeschriebene Benennung „poetischer Realismus― drückt letztlich wohl am besten aus, dass Literatur unter den beschriebenen Umständen auch im Selbstverständnis der Autoren weiterhin dem Idealismus und den Idealen der Klassik verhaftet bleibt. Mit anderen Worten: Freilich soll Literatur sich mit der Realität auseinandersetzen, aber keineswegs unter Ausblendung einer aktiven Teilnahme des schreibenden Sujets; vielmehr soll dies so selektieren und arrangieren, dass sich zuletzt vor dem Leser eine verklärte Wirklichkeit ausbreitet, die mit dem „Ziel der Vermittlung sittlicher Ideale― 17 vereinbar ist. Ganz anders gestaltet sich der französische Realismus von Anfang an. In der vorhin erwähnten ersten Phase (etwa 1830-1850) erarbeiten Stendhal und anschließend Balzac eine theoretische Grundlage für die anvisierte neue Schreibweise, die als radikaler Bruch mit der in Frankreich weiter herrschenden Romantik konzipiert wird. Wie die Forschung immer wieder betont, gibt Stendhals berühmt gewordene Spiegelmetapher aus Le Rouge et le Noir (1830) am besten unmittelbaren Aufschluss über seine Ästhetik. Eh, monsieur, un roman est un miroir qui se promène sur une grande route. Tantôt il reflète à vos yeux l‘azur des cieux, tantôt la fange des bourbiers de la route. Et l‘homme qui porte le miroir dans sa hotte sera par vous accusé d'être immoral! Son miroir montre la fange, et vous accusez le miroir! Accusez bien plutôt le grand chemin où est le bourbier, et plus encore l'inspecteur des routes qui laisse l‘eau croupir et le bourbier se former. 18 Diese Metapher, die Stendhal mehrfach verwendet, unter anderem auch „im ersten Vorwort zu Lucien Leuwen von 1836― 19 kündigt bereits vieles von dem an, was den französischen Realismus dauerhaft prägen wird. Der Spiegel gibt die Wirklichkeit wieder, ohne die Elemente wegzusperren, die den guten Geschmack des Rezipienten bzw. Zuschauers stören - eine Kampfansage an alle, die, wie es im deutschsprachigen Raum immer wieder der Fall sein wird, aus moralischen Gründen das Unschöne („le bourbier―; „la fange―) aus der Kunst entfernen wollen. In diesem kurzen Einschub des Erzählers von Le Rouge et le Noir, der zugleich die Meinung des Autors ausdrückt, ist bereits in nuce das „principe d‘inclusion― 20 enthalten, das jede Form von Tabuisierung verwirft: „Principe en vertu duquel tout le réel, y compris les tabous sociaux comme l‘argent et le sexe, est à dire, principe en vertu duquel tous les sujets humains, toutes les classes sociales peuvent prétendre à la représentation―. 21 17 Dethloff Uwe: Französischer Realismus, Stuttgart/ Weimar, Metzler, 1997, 47. 18 Stendhal, La Pléiade, Band I, 557. 19 Dethloff, op. cit., 44. 20 Larroux, op. cit., 48. 21 Ibid., 48sq. <?page no="113"?> Formen realistischen Schreibens: Deutsche Provinzialität, französische Avantgarde? 113 Gleichzeitig weist die Metapher auf die spektakulären Prozesse voraus, die dem Maler Courbet oder Gustave Flaubert (und Charles Baudelaire) in den 1850er Jahren gemacht werden: Sie werden als „porteurs de miroir― tatsächlich der Immoralität angeklagt, „accusé[s] d‘être immoral― eben, aber ihre Kunst setzt sich dennoch dauerhaft durch. Ebenso bedeutend für den französischen Realismus ist die unterschwellige Idee der Objektivität des Künstlers, der ohne persönliche, sprich: subjektive Beteiligung an der Wirklichkeit diese so wiedergibt, wie sie nun ist - ein Verfahren, das in Flauberts Werken gipfelt, wenn der Autor sich systematisch bemüht, neutral zu bleiben, d. h. „laisser flotter le sens― 22 , was selbstverständlich voraussetzt, dass das literarische Werk auf jede Form von Moral oder Verbesserungswillen verzichtet. Freilich ohne dass er sich dessen bewusst sein könnte, formuliert Stendhal also auf Anhieb einige der wesentlichen ästhetischen Aspekte der kommenden Epoche, und zwar so, dass damit gleichzeitig Grundunterschiede zum deutschsprachigen Realismus förmlich ins Auge springen - nicht umsonst wird Otto Ludwig später die Stendhalsche Spiegelmetapher in seinem Sinne wiederverwenden und ihr dadurch eine ganz andere Bedeutung geben: „Die Kunstwelt des künstlerischen Realisten ist ein erhöhtes Spiegelbild des Gegenstandes, aber nach dem Gesetze der Malerei zu klarer Anordnung gediehen― (Hervorhebung LG). 23 Honoré de Balzac ist es allerdings als erstem beschieden, neben seinem Oeuvre auch eine bewusste, durchdachte „theoretische Begründung des literarischen Realismus― 24 bereitzustellen. Darin kommt ein weiteres Element zur Geltung, das beide hier untersuchten Literaturen deutlich unterscheidet: Es geht Balzac vorzüglich in der Comédie humaine um den Versuch, durch detailgenaue Beschreibungen die Welt in ihrer Gesamtheit zu erfassen, sozusagen als Schöpfer nach Gott eine vollständige fiktionale Welt entstehen zu lassen. 25 Diese Neigung zur Vollständigkeit findet anschließend in verschiedenen Romanzyklen des französischen Realismus und Naturalismus ihren Niederschlag - das wohl bekannteste Beispiel hierfür sind Zolas Les Rougon-Macquart, die vom Autor als künstlerische Auseinandersetzung mit dem hochgeschätzten Vorgänger konzipiert werden. Nach 1850 beginnt die zweite Phase des Realismus in Frankreich, und in dieser wird das Wort „Réalisme― bewusst - und oft auch polemisch eingesetzt. Als „Vater― dieser zweiten Phase gilt allgemein ein Maler, Gustave 22 Littérature française du XIXe siècle, Sous la direction d‘Arlette Michel et al. PUF, Paris, Presses Universitaires de France, 1993, 280. 23 Zitiert nach: Theorie des bürgerlichen Realismus, Hg. von Gerhard Plumpe, Stuttgart, Reclam, 1985, 150. 24 Dethloff, 1997, 38. 25 Siehe das Kapitel über Balzac in Heitmann, op. cit., besonders 48-51. <?page no="114"?> Louis Gerrekens 114 Courbet, 26 der seine Kunst als Protest gegen bestehende soziale Verhältnisse versteht und seiner eigenen Aussage nach „die Kunst in die Gosse führen― 27 will. Selbstverständlich stößt diese in Deutschland, in der Schweiz oder in Österreich im Grund undenkbare programmatische Radikalisierung auch in den guten Kreisen der französischen Gesellschaft auf heftigen Widerstand, was einen regelrechten Kampf für und wider den Realismus entfacht. Da die französische Gesellschaft aber liberaler als die deutsche oder die österreichische ist, werden die Werke letztlich nicht verboten, so dass sich allmählich die engagierte Form von Literatur entwickeln kann, die heute als Naturalismus in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Zeitgleich setzen andere französische Autoren ihre kunstästhetischen Reflexionen über Realismus fort, und sie versuchen auch, diese in ihrer Textproduktion umzusetzen. So etwa Jules Champfleury (eigentlich: Jules François Félix Husson, auch Fleury genannt), der in seinen nicht immer systematisch durchdachten theoretischen Bemühungen Streben nach „künstlerische[r] Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit― mit „Privilegierung der unteren Gesellschaftsschichten im Roman― 28 kombiniert. Dieses Programm führt er in der Novellen- und Romanpraxis in Beschreibungen aus, „sans aucune idéalisation, avec la vulgarité et les petitesses de la vie quotidienne―, wie A. Michel exemplarisch in Bezug auf Les Aventures de Mademoiselle Mariette schreibt. 29 Ferner arbeitet Champfleury an der Zeitschrift Réalisme mit, die allerdings hauptsächlich von Louis-Edmond Duranty geleitet wird. In dieser kurzlebigen Zeitschrift (1856-57) wird Champfleurys Ästhetik präzisiert. Dethloff fasst sie zusammen, und dieses Fazit darf wohl als Grundprogramm der zweiten Phase des Realismus angesehen werden: Mit réalisme assoziiert Duranty eine Literatur, die keiner Stoffbeschränkung unterliegt und die sich einer möglichst umfassenden, genauen, aufrichtigen Wiedergabe von zeitgenössischen, sozialen Milieus befleißigt. Des weiteren gesteht Duranty der realistischen Schreibweise keinen elitären ästhetischen Anspruch zu, denn der bevorzugte Adressat des realistischen Romans sei das Volk. Das Konzept einer Kunst für jedermann verbietet folglich jede Form stilistischer Perfektion oder Überhöhung […]. 30 Mit Champfleury und Duranty ist das theoretische Terrain des französischen Realismus weitgehend abgesteckt, und die Unterschiede zum poetischen oder bürgerlichen Realismus Freytags oder Ludwigs sind auf allen 26 Zu dieser signifikanten Verschränkung von Malerei und Literatur, die einen weiteren Unterschied zu der Produktion in Deutschland markiert, siehe: Dethloff, Uwe: „Programmatischer Realismus in Frankreich: Malerei und Literatur―, in: Dethloff, 2001, 205- 226. 27 Dethloff, 1997, 52. 28 Ibid., 64. 29 Michel, op. cit., 270. 30 Dethloff, 1997, 68. <?page no="115"?> Formen realistischen Schreibens: Deutsche Provinzialität, französische Avantgarde? 115 Gebieten sinnfällig, ja sie erstrecken sich hin bis zu dem beim Schreibprozess mitgedachten potenziellen Leser, der für die maßgeblich in Familienzeitschriften publizierten deutschsprachigen Autoren meistens ein Bürger und öfter noch eine anständige Bürgersfrau ist. Dennoch muss festgehalten werden, dass auch in Frankreich jeder Autor, der heute unter dem Etikett ‚réaliste‘ geführt wird, sich sein eigenes Programm zusammenzimmern und die verschiedenen Elemente daraus nach eigenem Gutdünken gewichten wird. Nur die Brüder Jules und Edmond de Goncourt werden sich einige Jahre lang - zwischen 1860 und 1870 - bemühen, das Programm gewissenhaft zu erfüllen und Romane zu verfassen, die „gemeinhin als ‚realistisch‘ bezeichnet― 31 werden. Danach geben sie diesen - wie man heute wohl einsehen muss - wenig gelungenen oder auch nur überzeugenden künstlerischen Versuch auf und bewegen sich in Richtung Moderne. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass die in Frankreich im Gegensatz zu Deutschland oder Österreich radikal geführte programmatische Schlacht um den Realismus zur Folge hatte, dass viele Künstler sich dagegen gewehrt haben, überhaupt Realisten zu sein oder genannt zu werden. Das frappierendste Beispiel hierfür liefert wohl die Tatsache, dass Flaubert, der heute als der französische Realist schlechthin anerkannt ist, einen seltsamen, abgrundtiefen Hass auf die Realität seiner Zeit und auf alles Bürgerliche hat, 32 infolge dessen er sich auch überdeutlich von denen distanziert, die diese Realität abzubilden vorhaben. So steht heute fest: „Nun ist die Aversion Flauberts gegen den Realismus notorisch, wie folgendes Selbstzeugnis stellvertretend für andere belegt: ‘Et notez [die Adressatin ist George Sand] que j‘exècre ce qu‘on est convenu d‘appeler le réalisme, bien qu‘on m‘en fasse un des pontifes‗― 33 . Auf diese Art und Weise entsteht das in der Einleitung angesprochene Paradox, dass alle drei Autoren, die heutzutage in keiner Arbeit oder Anthologie über den Realismus in Frankreich fehlen dürfen, sich nicht zu der Bewegung bekannt haben. Die ersten zwei - Stendhal und Balzac - haben sie gar nicht bewusst erlebt, der dritte, Flaubert, hat nichts mit ihr zu tun haben wollen. 31 J.S. Wood: „Die Goncourts und der Realismus―, in: Der französische Roman im 19. Jahrhundert, Hg. von Winfried Engler, Darmstadt, WBG, 1976, 359-383. Es handelt sich um die Übersetzung durch Walter Schleyer des Aufsatzes von Wood in The Romanic Review XL (1949), 359. 32 Sie u. a. Heitmann, 1979, 83-88. 33 Dethloff, 1997, 70, kursiv im Original. <?page no="116"?> Louis Gerrekens 116 3 Die Epoche der Prosa: Roman und Novelle Bei allen Unterschieden in den theoretischen Ansätzen lässt sich für den Realismus insgesamt feststellen, dass er die Zeit der Prosa und insbesondere des Romans und der Novelle ist. Andere Genres geraten in den Hintergrund, und sie werden in manchen Werken, die dem Realismus in dem einen oder anderen Land gewidmet sind, nur noch ganz am Rande oder sogar überhaupt nicht mehr evoziert. Das Drama verliert sehr an Bedeutung, und der Lyrik ergeht es womöglich noch schlechter. „Die Literaturwissenschaft hat die Lyrik der Epoche kaum zur Kenntnis genommen― 34 - mit diesem lapidaren Urteil kann man im Grunde nur einverstanden sein, die beanstandete Tatsache hängt aber sehr damit zusammen, dass die Produktion von Lyrik nach 1848 drastisch zurückgeht und das nicht zuletzt, weil Lyrik nach der gescheiterten Revolution als nicht mehr zeitgemäß empfunden wird. An keinem Schriftsteller lässt sich diese Zäsur exemplarischer aufzeigen als am Husumer Autor Theodor Storm. Bis 1848 ist er fast ausschließlich als Lyriker aufgetreten und er hat sich bekanntlich auch als solcher verstanden, ja definiert. Die 1848er Revolution und das grundlegend gewandelte Gesellschaftsbild, das sich ihm danach bietet, zwingt ihn dann förmlich zu einem zunächst nur widerwillig vollzogenen „Paradigmenwechsel― 35 : Da sich der literarische Markt ohnehin von der Lyrik abwendet, verfasst Storm kaum noch Gedichte; tut er dies dennoch, dann handelt es sich oft um Texte, die in ihrer Direktheit „weder dem Lesepublikum noch dem Zensor zumutbar― 36 sind und daher lange Zeit ungelesen im Nachlass des Autors liegen bleiben. Stattdessen verfasst und veröffentlicht er Novellen in Zeitschriften, und bereits sein erster längerer Prosatext beschert ihm einen gewaltigen - auch finanziellen - Erfolg: Die Novelle Immensee aus dem Jahr 1849, die immerhin noch mehrere Gedichte enthält, wird gleich zu einem Bestseller. Storm erarbeitet sich in den folgenden Jahren in einem oft mühsamen Prozess einen neuen, den veränderten sozialen Prämissen angepassten künstlerischen Weg, der sich in den vielen Erzählungen und Novellen, die er bis zu seinem Tod 1888 verfasst, verfolgen lässt. Immensee behandelt das Leben der Bürger, ob sie nun Bildungsbürger wie Reinhard oder kleine Industrielle wie Erich sind; insofern entspricht die Novelle, die von der Sprache und dem Bildervorrat her noch sehr den vorangegangenen Epochen verpflichtet ist, bereits dem, was im Realismus - auch in Frankreich - zum Standard wird und was Gustav Freytags Roman 34 Rolf Sebmann: „Die Lyrik des Realismus―, in: Begemann, 2007, 189-206, 190. 35 Louis Gerrekens: „Der Wandel nach der Wende. Theodor Storm nach den Ereignissen von 1848-51. Vom verlorenen Glauben an gesellschaftlichen Fortschritt zu der Erarbeitung fortschrittlicher Schreibstrategien―, in: Tournants et (ré)écritures littéraires. Hg. von André Combes, Alain Cozic und Nadia Lapchine, Paris, Lharmattan, 2010, 89-102, 92. 36 Ibid. <?page no="117"?> Formen realistischen Schreibens: Deutsche Provinzialität, französische Avantgarde? 117 Soll und Haben (1855) erstmals mustergültig umsetzt. 37 Der Aufstieg des Bürgertums lässt dieses zum Hauptthema auch von Literatur werden, der früher geringgeschätzte Roman wird mehr noch als die Novelle zum literarischen Genre schlechthin, und zwar gesamteuropäisch. „Der Triumph des Romans ist der literarische Aspekt des Triumphs der Bourgeoisie― 38 schreibt Heitmann in einem „Die Hegemonie des Romans― betitelten Kapitel seiner Studie zum französischen Realismus. Selbst wenn allein schon Charles Baudelaires Fleurs du mal, die 1855 veröffentlicht werden, allerdings ab 1840 verfasst worden sind, belegen, dass auch in Frankreich Lyrik weiterhin eine Rolle spielt 39 , so erlebt der Roman auch dort dieselbe Aufwertung wie im deutschsprachigen Raum. Kurz: Trotz der vielen Unterschiede in der jeweiligen historischen und ästhetischen Genese der neuen Richtung bedienen sich Autoren der beiden Sprachen desselben Kunstmediums, um sich mit der Wirklichkeit ihrer Zeit auseinanderzusetzen. Der Roman ist nämlich bestens geeignet, um ein breites Publikum anzusprechen, und er ermöglicht - für erfolgreiche Autoren - hohe Auflagen, und also auch bessere finanzielle Aussichten. Solche materiellen Aspekte haben eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt. Konvergenz des Mediums bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass die Autoren sich gegenseitig beeinflusst oder auch nur gekannt bzw. geschätzt hätten. Da der deutsche Realismus später einsetzt als der französische und Fontane, der berühmteste deutsche Realist, eigentlich kurz vor, wenn nicht sogar erst nach Ablauf des französischen Realismus seine Romane verfasst, ist es nicht verwunderlich, wenn sich die französischen Realisten kaum damit auseinandersetzen. Überraschenderweise setzen sich die deutschsprachigen Kollegen ebenso wenig mit den berühmten Franzosen auseinander, selbst nicht mit den Vorreitern Stendhal oder Balzac. Während Literaturgeschichten oder literaturgeschichtliche Arbeiten immer wieder Konvergenzen zwischen dem englischen und dem deutschen Realismus hervorheben, kommen sie nicht selten ohne jede Analyse von Interaktionen zwischen dem französischen und dem deutschen aus. Wenn sie sich dennoch bemühen, solche aufzudecken, dann läuft die Gegenüberstellung meistens darauf hinaus, dass die deutschen Autoren den französischen Realismus zwar wahrgenommen, aber einfach abgelehnt hätten. Dies trifft insbesondere zu auf die „Erfolgsromane von Eugène Scribe, Paul de Kock und Eugène Sue. Ihre 37 Siehe Aust, 2006, 173-176. 38 Heitmann, 1979, 11. 39 Neben Baudelaire sind in der französischen Lyrik selbstverständlich auch Rimbaud oder Verlaine u. a. m. zu erwähnen, sodass es schlichtweg falsch wäre zu behaupten, dass Lyrik in der Zeit verstummt. Allerdings lassen sich diese genialen Autoren nur schwer in die Kategorie ‚Realismus‘ einordnen; als poètes maudits weisen sie viel eher schon auf die nachrealistische Zeit der Moderne hinaus. <?page no="118"?> Louis Gerrekens 118 Namen vor allem prägen das Profil eines abgelehnten Realismus―, 40 weil ausgerechnet diese heute minder gelesenen Autoren die ungeschönte Realität wiedergeben, noch dazu ohne auf das Sittliche zu achten - mit anderen Worten: das Gegenteil vom poetischen Realismus einlösen. Ablehnung einerseits, Nicht-Wahrnehmung andererseits sind die zwei immer wieder erwähnten Fassetten des Verhältnisses zwischen deutschsprachigen und französischen Realisten. Daran ändert sich bis zuletzt nichts, hat doch selbst der späte deutsche Realist Theodor Fontane allem Anschein nach die großen französischen Schriftsteller nicht gelesen: Für einen Romancier von europäischem Format scheint er eine Reihe von wichtigen „Lektionen― versäumt zu haben: Keine Spur von Stendhal, d.i. Marie Henri Beyle, Honoré de Balzac, Gustave Flaubert […], Fjodor Dostoevskij […] 41 Auch die anderen kanonisierten deutschsprachigen Realisten haben sich kaum an den Franzosen orientiert: „Die Namen Balzacs, Stendhals, Flauberts tauchen gelegentlich bei Storm, Keller, Raabe, Meyer […] und Fontane […] auf, hinterlassen aber keine deutliche Spur―. 42 Dass diese „rigide Abgrenzung― 43 zwischen beiden Realismen besteht und in beiden dennoch Novellen und Romane zu den Hauptvertretern von Literatur werden, zeigt überdeutlich, dass diese künstlerischen Formen der Zeit inhärent sind. Darin wenigstens sind sich die Autoren (und der jeweilige Büchermarkt) einig. Diese Hinwendung zu früher geächteten Genres, die dadurch eine radikale Aufwertung erfahren, bedeutet für viele Autoren eine Abkehr von dem Drama, wobei allerdings nicht vergessen werden darf, dass viele dramatische Aufbau- und Handlungselemente von den Werken des Realismus einfach übernommen, wenn nicht sogar absorbiert werden. 4 Die Verschränkung von Kunst und Wissenschaft Literatur in deutscher Sprache entsteht im 19. Jahrhundert weiterhin vorwiegend noch in einer vorindustriellen Welt, in der die großen sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen noch nicht stattgefunden haben, die in England bereits im 18. Jahrhundert, aber auch in Frankreich deutlich früher im 19. Jahrhundert begonnen haben. Daher muss an dieser Stelle betont werden, dass auch die Wirklichkeit, die beschrieben werden soll, in Deutschland, Österreich oder der Schweiz nicht dieselbe sein kann wie die französische oder die englische. Viele Autoren sind bei weitem nicht als Großstädter 40 Aust, 2006, 78. 41 Fontane-Handbuch. Hg. von Christian Grawe und Helmuth Nürnberger, Tübingen, Kröner, 2000, 306. 42 Aust, 2006, 78. 43 Ibid. Hervorhebung im Original. <?page no="119"?> Formen realistischen Schreibens: Deutsche Provinzialität, französische Avantgarde? 119 geboren, und sie verbringen auch nicht alle ihr Leben in der Großstadt. Heute noch erinnert man sich in literaturwissenschaftlichen Studien gern mit einem Schmunzeln an die Opposition zwischen Theodor Storms vermeintlicher ‚Husumerei‘ einerseits und Theodor Fontanes weltgewandtem Leben in Berlin andererseits. Wie sehr man damit Storm Unrecht getan hat, hat die neuere Forschung nachgewiesen; zugleich vergisst man aber nur allzu leicht, dass Berlin erst nach der Errichtung des 2. Deutschen Reichs zu einer echten Metropole wird, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass nur Fontanes späte Romane systematisch in Städten spielen. Der österreichische Autor Adalbert Stifter wächst „in ärmlichen ländlichen Verhältnissen― 44 auf und lebt nur zeitweilig in Wien; die Schweizer Gottfried Keller oder Conrad Ferdinand Meyer, um nur zwei andere Beispiele zu erwähnen, leben ebenfalls nicht in einer Welt, wie sie Autoren wie Dickens oder Zola kennen und beschreiben. Kein Wunder also, wenn unterschiedliche Lebenserfahrung auch unterschiedliche Werke hervorbringen lässt. Dennoch muss das ab und an begegnende Urteil einer schlichtweg defizitären realistischen Kunst in Deutschland relativiert werden, das neulich noch äußerst abrupt als „Problem der weltlosen deutschen Literatur― 45 hingestellt worden ist. Dass diese Annahme die tatsächliche Lage viel zu grob vereinfacht, sei an einigen auffallenden Beispielen für die Auseinandersetzung von Autoren mit zeitgenössischer Wissenschaft dargestellt. In der Forschungsliteratur zum französischen Realismus wird immer wieder hervorgehoben, dass dieser deshalb als eine moderne Bewegung einzustufen sei, weil sich die Autoren in vielerlei Hinsicht gedanklich auf die Wissenschaft der Zeit berufen hätten, um die in ihren Romanen geschaffenen Figuren und Welten zu konzipieren. In diesem Kontext werden dann vorzüglich der wissenschaftliche Positivismus Auguste Comtes und seine Anwendung auf dem Gebiet von Geschichte und Kritik durch Hippolyte Taine erwähnt - wobei der historische Positivismus Ernest Renans nicht zu unterschätzen ist. Diesen drei bedeutenden Figuren der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wird dann auch meistens das eine oder das andere Kapitel in den Realismus-Monographien gewidmet. 46 Über solche enge Verschränkung von Literatur und Wissenschaft meint Eckhard Höfner: 44 Christian Begemann: „Adalbert Stifter und die Ordnung des Wirklichen―, in: Begemann, 2007, 63-84, 64. 45 Ingo Meyer: Im „Banne der Wirklichkeit“ ? Studien zum Problem des deutschen Realismus und seinen narrativ-symbolistischen Strategien, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2009, 9. Insgesamt fallen Meyers pauschale Urteile (etwa: „Raabe ist nicht zu retten―, 498) weit hinter den aktuellen Forschungsstand zurück und zeugen oft von einer allzu voreingenommenen und oberflächlichen Lektüre. 46 Siehe z.B. Michel, 1993, 239sqq: „Le positivisme et son influence―. Der bereits erwähnte Sammelband von Engler (1973) enthält den übersetzten Aufsatz von Amiel, Henri: „Realismus und Positivismus―, 249-258, der zunächst 1942 veröffentlicht worden ist. <?page no="120"?> Louis Gerrekens 120 Zu den Grundmerkmalen des literarischen ‚Realismus‘ in Frankreich - und in der Folge auch in Italien und zum Teil Spanien - zählt die Tatsache, daß er, gerade in seinen „kanonisierten― Autoren, ohne Referenz auf die (Natur-) Wissenschaften und deren Rezeption nicht zu behandeln ist. Für die realistische Literatur anderer europäischer Länder - Deutschlands, Englands, vor allem Rußlands - gilt das nicht in gleicher Weise. 47 Höfner zeigt in seiner Studie auf, dass der wissenschaftliche Diskurs auch bei Balzac, also vor der Zeit Comtes, schon Spuren hinterlässt; allerdings stellt er auch fest: Wie die Poetik, ist auf der anderen Seite auch das Wissen(schaft)ssystem, von dem Balzac ausgeht, keineswegs so ‚neuheits‘-orientiert wie es den Anschein haben könnte […]. Es tendiert dazu, konservativ und metaphysisch wie es ist (wozu Goethe angeführt wird), wissenschaftlichen Fortschritt eher zu negieren […]. 48 Andererseits spielt er auch die Rolle, die Comtes Theorien gespielt haben, deutlich herunter, denn für ihn ist Zola „einer der wenigen französischen Autoren, die von Comte tatsächlich beeinflußt sind― 49 , und er schließt ausdrücklich aus, dass dies der Fall Flauberts gewesen sei, was andere Forscher hingegen als selbstverständlich erachten. 50 Mit anderen Worten: Auch wenn die zeitgenössische Wissenschaft auf französische Autoren eine nicht geringe Anziehungskraft ausgeübt hat, lässt sich nicht immer mit Sicherheit feststellen, inwiefern diese wirklich ihre Kunstproduktion mitbestimmt hat - spielt doch auch Taines Theorie, der Mensch sei durch die drei Faktoren race, milieu, moment determiniert, eher eine Rolle im Naturalismus als im Realismus. Ferner muss betont werden, dass Literatur den wissenschaftlichen Diskurs, der ohnehin alles andere als eindeutig ist, oft so verwendet, dass er nur noch schwer zu erkennen ist, ja dass seine Verarbeitung letztlich manchmal kaum noch etwas mit der ursprünglichen Theorie gemeinsam hat. 51 In dieser Hinsicht unterscheiden die Autoren sich nicht immer von den komischen Titelhelden des Fragment gebliebenen und posthum veröffentlichten Romans Bouvard et Pécuchet (1881) von Flaubert, und man darf sich die Frage 47 Eckhard Höfner: „Wissenschaftsrezeption und Erzähler-Strategien im realistischen Roman des französischen und italienischen 19. Jahrhunderts―, in: Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert, Tübingen, Niemeyer, 2002, 190-219, 190. 48 Ibid., 203. 49 Ibid., 198. 50 So in Heitmann, 1979, 108: „Eine der praktischen Konsequenzen dieser dem positivistischen Denken gemäßen Verwissenschaftlichung des Romans für Flauberts literarisches Vorgehen haben wir in der bereits besprochenen Selbstverleugnung des Autors zu sehen.― 51 Michel, 1993, 239. <?page no="121"?> Formen realistischen Schreibens: Deutsche Provinzialität, französische Avantgarde? 121 erlauben, ob der ironisierende Schriftsteller durch seine an den Figuren vollzogene Entblößung der Unfähigkeit seiner Zeitgenossen, adäquat mit Wissenschaft umzugehen, nicht zugleich die Unübersichtlichkeit der Wissenschaften selber aufs Korn nimmt. Dass Bouvard und Pécuchet, nachdem sie alle Varianten der Wissenschaften durchprobiert haben und immer wieder gescheitert sind, am Ende wieder da ankommen, wo sie am Anfang waren, plädiert jedenfalls nicht gerade für den wissenschaftlichen Fortschrittsoptimismus des Menschen - vielmehr hat eine „Semantik des Scheiterns― 52 hier das letzte Wort. Mit dem Vorangehenden soll beispielhaft gezeigt werden, dass, sieht man ab vom Naturalismus, die Auseinandersetzung des französischen Realismus mit der Wissenschaft zwar nicht zu leugnen, dafür aber auch nicht leicht genau festzulegen ist. Freilich wird wiederholt dargelegt, dass sie auf der Ebene der Figuren wie auf derjenigen der Texte ausgetragen wird, aber von einem Konsens kann nicht die Rede sein, wenn es darum geht zu beurteilen, bis zu welchem Grad die jeweiligen Autoren in ihren einzelnen Werken auch um die Umsetzung von wissenschaftlichen Kategorien bemüht sind. Sieht man sich so gezwungen, die eingangs postulierte absolute Verschränkung von Wissenschaft und französischem Realismus doch einigermaßen zu begrenzen, so lässt sich andererseits feststellen, dass Wissenschaften im deutschen Realismus ebenfalls Spuren hinterlassen haben - auch wenn dieses Phänomen vielleicht noch ungenügend oder nicht übergreifend herausgearbeitet worden ist. 53 Dass ein solches Unternehmen aber durchaus zu Ergebnissen führen kann, die gar nicht so anders als in Frankreich ausfallen, sei an ein paar Beispielen gezeigt. Wissenschaft und ihrer industriellen Anwendung kommt in Raabes Pfisters Mühle (1884) eine hochrangige Funktion zu; wie bei Flaubert wird sie zweifelsohne in ihrer ganzen Ambivalenz dargestellt. In diesem Sommerferienheft - so der Untertitel -, das sich jeglicher moralischer Botschaft enthält, zeigt sich, wie die Entwicklung der Chemie und anderer Wissenschaften allmählich zu neuen Formen des Zusammenlebens führt, die allerdings nur auf Kosten der Aufgabe alter, oft liebgewonnener sozialer Gewohnheiten und Bräuche ermöglicht werden. Das Alte ist in diesem merkwürdigen Roman symbolisiert in der gemütlichen, längst zum Wirtshaus verkommenen Mühle, die nun abgerissen wird. Der industrielle Aufstieg des Dr. A. A. Asche, der statt seine Griechischkenntnisse weiter zu verbessern auf das Studium der Chemie gesetzt hat, beginnt in einem armseligen Vorort, einer „vorstädtischen Mietskaserne― (PM 60). 54 In einer Szene, die durch ihre un- 52 Höfner, 2002, 197. 53 Siehe aber Aust, 2006, 34sqq. 54 Zitate aus Pfisters Mühle (Sigle: PM) werden im Text angegeben; sie stammen aus: Wilhelm Raabe: Pfisters Mühle Ŕ Ein Sommerferienheft. Hg. von Karl Hoppe, Stuttgart, Reclam, 2005. <?page no="122"?> Louis Gerrekens 122 verblümte Beschreibung von Armut, Gestank oder Promiskuität naturalistische Tendenzen aufweist, kommt es zu der fast schon programmatisch zu nennenden Erklärung, wie Wissenschaft das moderne Leben verändert: Das „Mysterium― (PM 60) der chemischen Transformation ist der Weg, auf dem man „im zweiten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts zur Wahrheit― (PM 60) gelangt! Aber bereits auf Figurenebene wird das Ambivalente dieser Entwicklung hervorgehoben, sowohl durch den weiterhin den Traditionen verpflichteten Erzähler als auch durch Asche selber: „Als ob ich etwas dafür könnte, daß die Wissenschaft in ihrer Verbindung mit der Industrie nicht zum besten duftet.― (PM 62) Raabe zeigt in diesem Text, der sich jeder eindeutigen Interpretation verweigert und dadurch gleichzeitig jeden deterministischen Diskurs unterläuft, die Gefahren und Notwendigkeiten auf, die modernes, auf wissenschaftliche Errungenschaften gegründetes Leben nach sich ziehen. So wandern die Menschen in Pfisters Mühle immer mehr in die große Stadt Berlin ab, dafür aber müssen sie auf die Sonne verzichten und sich mit den schattigen Straßen zufriedengeben. Dass der zum Großindustriellen gewordene Asche, der seine Familie komfortabel leben lassen will, sich vornimmt, den Fluss „nach Kräften [zu] verunreinigen― (PM 187), aber gleichzeitig „das Griechische wieder ein bißchen wieder aufgefärbt― (PM 187) hat, zeigt einerseits bis in den Wortlaut hinein - „aufgefärbt― - wie sehr Wissenschaft und Kulturleben ineinander aufgehen, und kündigt andererseits bereits an, was aus dieser unauflöslichen Verzahnung werden muss. Denn es ist bewundernswert, wie präzise Raabe formuliert, dass eine Welt, in der Kirchtürme und sonstige althergebrachte Kulturformen (darunter auch die Poesie) in den Hintergrund, ausgerechnet Fabrikschornsteine dafür in den Vordergrund geraten, bald vor gravierende ökologische Fragen gestellt sein wird. Aber nicht nur Raabe setzt sich ganz konkret mit Wissenschaft auseinander. Pfisters Mühle ließe sich durchaus mit einem kleineren Text Theodor Storms vergleichen, der wirklich jede interpretatorische Mühe lohnt. In der Novelle Im Brauer-Hause (1879) stellt Storm nämlich dar, wie der tradierte religiöse Diskurs vordergründig weiter beibehalten bleibt, die in der unerbittlichen Konkurrenzgesellschaft befangenen Bürger sich aber versteckt nach ganz anderen Kriterien richten. Als es darum geht, den Brauerei- Betrieb vor dem Bankrott zu retten, wendet der Brauer sich von der Kirche ab und dem Wissensträger der modernen Zeit zu, dem Apotheker nämlich. Die Lösung des bedrohlichen Rätsels kommt denn auch von der Wissenschaft, die die „besondere[n] Zufälligkeiten― 55 , die zu der Krise geführt haben, richtig zu deuten versteht. Wie das „Mysterium― der chemischen Transformation bei Raabe zu Wahrheit führt, so ersetzt „Spiritus― aus der 55 „Im Brauer-Hause―, 667, in: Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Hg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier, Frankfurt a.M., DKV, 1987, hier Bd. 2. <?page no="123"?> Formen realistischen Schreibens: Deutsche Provinzialität, französische Avantgarde? 123 Apotheke bei Storm fortan den Heiligen Geist, wenn es um die Erkenntnis des Wahren geht - aber es ist schon bezeichnend, dass seine Novelle ebenso wenig wie Bouvard et Pécuchet oder Pfisters Mühle die neue Zeit wirklich als Fortschritt hinstellt. Verdankt die Brauerfamilie ihre Rettung doch viel eher einem entschlossenen, moralisch unvertretbaren kapitalistischen Handeln als der besagten Erkenntnis. So behält auch in Storms Novelle letztlich Pessimismus die Oberhand. Hier können selbstverständlich nur Beispiele für die Aufnahme von wissenschaftlichen Entdeckungen, Theorien, usw. in die realistische Literatur deutscher Sprache angegeben werden. In den letzten Jahren hat die Forschung belegt, dass selbst der lange Zeit wegen seiner ‚Husumerei‘ leise bespöttelte Theodor Storm sich schon früh mit der Evolutionslehre wie Ludwig Büchner sie verbreitete - hat vertraut machen können. Diese spielt dann in seinem Alterswerk eine nicht zu unterschätzende Rolle, so u. a. in der meisterhaften Novelle John Riew’ (1885), in der die bange Frage den gesamten Novellentext durchzieht, ob der Mensch denn letztlich nur eine dem Autor verhasste Form der Determiniertheit, nämlich die Religion, gegen eine andere, nicht weniger schreckliche ausgetauscht habe: die Vererbung. Allerdings fällt auf, dass solche Problemstellungen vor allem im Spätwerk der betreffenden Autoren zu finden sind, d.h. in einer Zeit, in der der französische Naturalismus längst begonnen hat. Ähnliches scheint auch auf Conrad Ferdinand Meyer zuzutreffen, über den Wolfgang Lukas schreibt: In Meyers Spätwerk, etwa in Angela Borgia, weist die[] experimentelle Konstellation eine unverkennbare Nähe zu neuen naturalistischen Modellen auf. So wird die gefährliche Wandlung der heimlichen Heldin Lucrezia Borgia unter verschiedenen kausalen Determinanten konzipiert, ganz gemäß der von Hippolyte Taine formulierten Trias von race, milieu und temps (Histoire de la littérature anglaise, 1864)[…]. 56 Die Zahl der Beispiele ließe sich beliebig erweitern. Aus dem oben Skizzierten ergibt sich aber vor allem, dass französische Autoren des Realismus sich zwar zweifelsohne mit den theoretischen wissenschaftlichen Ansätzen ihrer Zeit auseinandergesetzt haben und diese wohl auch in ihren Werken verarbeitet haben, dass es aber oft schwerfällt, zu eruieren, inwiefern sich die postulierte Verwissenschaftlichung nun genau in den Werken niedergeschlagen hat - was dann oft zum Gebrauch letztlich recht vage bleibender Termini wie „Orientierung an naturwissenschaftlichen Methoden― führt. Für den deutschen Realismus hingegen scheint das noch oft vorhandene Vorurteil zu revidieren zu sein, dass er sich kaum mit dem Wissen seiner Zeit auseinandergesetzt habe. Vielmehr hat vor allem die jüngere Forschung nachgewiesen, dass verschiedene Hauptvertreter der Bewegung sich zu- 56 Wolfgang Lukas: „Conrad Ferdinand Meyers historische Novellen―, in: Begemann 2007, 139-155, 143. <?page no="124"?> Louis Gerrekens 124 nehmend - und also hauptsächlich im späten Realismus - mit den herrschenden Theorien beschäftigen, und zwar ebenso wohl auf Figurenebene als auch auf Textebene. 5 Flaubert und Fontane : Realismus als bewusste formale Illusion Die wohl berühmtesten Vertreter des Realismus in Deutschland und Frankreich schreiben unabhängig voneinander, und dennoch sind ihre Werke und theoretischen Überlegungen in mancher Hinsicht vergleichbar. Wie seine Korrespondenz zeigt, entwickelt Gustave Flaubert in den frühen 1850iger Jahren eine Poetik, die sich stark von derjenigen jener Schriftstellerkollegen unterscheidet, die primär auf eine Nachahmung der Wirklichkeit aus sind. 57 Flaubert will weder einen streng wissenschaftlichen Roman schreiben, da dies einer Verneinung von Kunst schlechthin gleichkomme, noch sich literarisch für die eine oder andere Sache engagieren. Vielmehr betrachtet er den Stil als das Mittel schlechthin, die Wirklichkeit zu erfassen; dieser habe überaus präzise und durchdacht zu sein, „was Sainte-Beuve zu dem zum geflügelten Wort avancierten Spruch inspiriert hat, ‚Gustave Flaubert führe die Feder wie andere das Seziermesser.‘― 58 Gleichzeitig definiert der akribische Schriftsteller in Bezug auf Madame Bovary sein Romanideal, das mit seiner eigenen, berühmt gewordenen Formel zusammengefasst werden kann, er wolle ein livre sur rien schreiben, d. h. ein Buch, in dem es im Grunde um nichts geht, das so wenig Stoff enthält wie nur möglich - was ihm in Madame Bovary auch weitestgehend gelingt: „Ni action véritable, ni aventure, ni héros, la vie n‘est qu‘usure progressive.― 59 Nicht auf den Inhalt, sondern auf den Modus der Darstellung kommt es an. Um dieses Ideal zu erreichen, darf der Autor, und mit ihm seine Erzählerfiguren, unter keinen Umständen Partei ergreifen; stattdessen soll er sich aus dem Erzählten zurückziehen und seine Texte durch unpersönliche, objektive Wiedergabe so verfassen, dass der Leser seine Schlüsse dann selber daraus ziehen kann und sogar muss, was eine entscheidende Neudefinierung des Rezipienten zur Folge hat, die bereits die Moderne ankündigt. 60 Es ist sinnfällig, dass diese sehr hohen Ansprüche an Kunst weit von der Spiegeltheorie Stendhals entfernt sind: Flaubert ist sich von vornherein bewusst, dass die von ihm geschaffene Welt auf einer Illusion beruht, die nun mal 57 Nachzulesen u.a. bei Heitmann, 1979, 103sqq. und Dethloff, 1997, 69sqq. 58 Dethloff, 1997, 73. 59 Michel, 1993, 279. 60 Heitmann kommentiert die Rolle des Flaubertschen Lesers so: „Es fängt vielmehr mit Madame Bovary jene Aktivierung des zum Nachvollzug genötigten, mit der gedanklichen Vervollständigung und Bilanzierung des Erzählten beauftragten Lesers an, die diesen dann im 20. Jahrhundert zum Nach- oder Mitschöpfer, zum Ko-autor der Literatur befördert hat― (Heitmann, 1979, 104). <?page no="125"?> Formen realistischen Schreibens: Deutsche Provinzialität, französische Avantgarde? 125 von dem Medium ‚Kunst‘ produziert wird. Die Unpersönlichkeit des Werks, die einen Verzicht auf auktoriales Erzählen voraussetzt, wird bei Flaubert zu einem Markenzeichen, das spätere Erzählformen vorwegnimmt; der Totalitätsanspruch, der so oft im französischen Realismus erhoben wird, scheint sich bei ihm weniger in einer Darstellung der gesamten Gesellschaft der Zeit als in dem Versuch auszudrücken, alle, auch die unscheinbarsten Details der Romanszenen zu beschreiben: „Flaubert est fasciné par le détail, il veut tout dire.― 61 Flauberts Oeuvre wird heute allgemein anerkannt als der Gipfel des französischen Realismus schlechthin, der in mancher Hinsicht den Naturalismus eingeleitet hat; allerdings hat der Autor sich die Befreiung von der Romantik, aus der er letztlich unmittelbar hervorgegangen ist, schwer erkämpft. Seine asketische Auffassung des Schriftstellers als einer Art Schöpfer nach Gott, der in Fiktion Moral aus Schönheit entstehen lasse, scheint wohl bis zuletzt eher eine Weiterführung romantischer Vorstellungen zu sein als eine Absage an sie: Flaubert est un grand novateur: par son travail sur la description, il prépare le Naturalisme. Par son exigence absolue de beauté devenue seule forme possible de la quête du sacré, Flaubert, avec Baudelaire (qui l‘a si bien compris), réalise la subversion de la métaphysique par l‘esthétique que le Romantisme avait pressentie. 62 Der späte deutsche Realist Theodor Fontane ist ebenfalls zum Teil Kind der Romantik, oder zumindest bricht auch er nie ganz mit dieser literarischen Bewegung, aus der er vieles lernt: Für Fontanes Realismus-Verständnis bleibt die Verhältnisbestimmung zur Romantik konstitutiv. Die Abgrenzung führt in keinem Fall zum Abbruch der Bemühungen um kritische und differenzierte Aneignung. […] [I]hm schwebte eine Art Synthese vor, die er theoretisch wie praktisch zu begründen suchte. 63 Während der bis zuletzt als Bürger denkende Autor Flaubert die Wirklichkeit über den weiten Umweg des verabsolutierten Stils letztlich doch „schönt― (und damit die Forderung des poetischen Realismus nach Verklärung einlöst), kann der gutbürgerliche Fontane sich von vornherein Literatur nicht ohne Beschönigung des Realen unter Ausblendung des Hässlichen vorstellen, wie u. a. seine wiederholte Kritik am englischen Realismus deutlich macht: Er vermisst „bei den Engländern die Auswirkung der Verklärung― 64 , das bei diesen vorhandene soziale Engagement sowie ihr direkter 61 Michel, 1993, 280. 62 Ibid., 281. Siehe auch Heitmann, 1979, 89sqq.: „Flaubert und das Erbe der Romantik― 63 Fontane-Handbuch, op. cit., 315. 64 Ibid. <?page no="126"?> Louis Gerrekens 126 Darstellungsmodus, dem es an der übergeordneten Idee fehle, sind ihm fremd. Bei genauem Hinsehen fällt auf, wie verwandt seine poetologischen Positionen mit denen Flauberts sind. So gehört auch er „zu jener Gruppe der realistischen Romanciers, die ‚objektiv‘ erzählen, die Einmischung eines auktorialen Erzählers vermeiden und alle übrigen Eingriffe verbergen―. 65 Zum einen belegt dies, dass auch Fontane die wissenschaftliche Methode des genauen Beobachtens anwendet, was ebenso minutiöse Beschreibungen in seinem Werk wie in dem Flauberts zur Folge hat und das enzyklopädische Wissen des Autors voraussetzt, das bei dem französischen Kollegen ebenso markant ist. Zum anderen führt die Zurückhaltung des Autors zu einem perspektivischen Erzählen, das durchaus mit Flauberts Erzähltechniken verglichen werden kann und Fontane ebenfalls zu einem „Autor der Früh-Moderne― 66 macht. Hier können nicht alle Berührungspunkte zwischen den künstlerischen Konzeptionen der beiden Autoren dargelegt werden, aber dass es so viele davon gibt, ist vielleicht auch einer der Gründe, warum Fontane im Gegensatz zu den anderen deutschsprachigen Realisten eine immerhin bemerkenswerte internationale Anerkennung geschafft hat. Andererseits sind auch Differenzen nicht zu leugnen. Selbst wenn Fontane sicherlich kein Weltverbesserer genannt werden kann, so erweist er sich immerhin als gesellschaftskritisch, und er hofft auf eine fortschrittliche Evolution des sozialen Lebens, zu der er durch sein Schreiben beitragen will, während Flaubert als „Künstler wie als Mensch […] jeglicher Form des politischen Engagements, ja mehr noch: jeglicher politischen Überzeugung― 67 absagt: „Indifférent à la politique, moquant toutes les idéologies, il répugne à l‘idée de démocratie et n‘aura que mépris pour la Commune de Paris.― 68 Andererseits ist Fontane weniger rigide in der Umsetzung seiner theoretischen Forderungen an realistische Kunst, wie es die Tatsache belegt, dass er seine Zurückhaltung doch ab und an aufgibt - wie die berühmte, völlig überraschende Mitleidsbekundung des Erzählers mit der Titelheldin von Effi Briest („Arme Effi, du…―) kurz vor Ende des Romans zeigt. 69 Da die Nähe von Effi Briest zu Madame Bovary aber bereits des öfteren hervorgehoben worden ist, 70 soll nun anhand eines weniger bekannten Romans - Cécile - der Versuch unternommen werden, die festgestellten Übereinstimmungen anschaulich zu machen. 65 Aust, 2006, 126, Hervorhebung im Original. 66 Ibid., 127. 67 Heitmann, 1979, 83. 68 Dubois, 2000, 215. 69 Hier möchte ich ausdrücklich die Lektüre von Aust, 2006, 124sqq. empfehlen. Wer Austs Erörterungen vor dem Hintergrund der vorliegenden Flaubert-Darstellung liest, merkt die Konvergenz sofort. 70 Siehe Fontane-Handbuch, op. cit., 635. <?page no="127"?> Formen realistischen Schreibens: Deutsche Provinzialität, französische Avantgarde? 127 Wie Emma Bovary ist Cécile eine junge Frau, die sich als deklassiert vorkommt und mit ihrem jetzigen Leben nicht zufrieden ist, wenngleich aus anderen Gründen als Flauberts Titelheldin. Literatur, existentiell rezipiert, stärkt sie in dem krampfhaft aufrecht erhaltenen Glauben, dass sie den erträumten sozialen Rang wieder erlangen wird - eine Fehldeutung von Literatur, wie sie bekanntlich auch in Madame Bovary verheerende Folgen hat. Wie Emma, so stirbt Cécile zuletzt auch durch Selbstmord, und es ist kaum übertrieben zu sagen, dass in frappanter Analogie zu Flauberts Schreibkunst auch in Fontanes Gesellschaftsroman nur wenig Nennenswertes passiert, braucht es doch nicht einmal zu einem Ehebruch zu kommen, um die Katastrophe einzuleiten und das Duell auszulösen, das Céciles Ende nach sich zieht. In diesem an langen Beschreibungen sehr reichen Roman reihen sich Anekdoten an kleinere Peripetien, und manche Passage lässt sich durchaus als selbstreflexiver Kommentar lesen, auch dies eine Parallele zu der „forte spécularité interne― 71 von Flauberts Texten. Als besonders aussagekräftig erweist sich in der Hinsicht die seitenlange Darstellung der Schlossbesichtigung, die Cécile, ihr Mann und Gordon, ihr Verehrer und potenzieller Liebhaber, gemeinsam unternehmen. Da in dem Schloss - „eine wahre Musterniete― 72 - eigentlich nichts mehr zu sehen ist, redet der Kastellan über das Nicht-Vorhandene, was der Erzähler mit einem wertenden Kommentar versieht, der auf den Roman gleichermaßen zutrifft: Voll richtigen Instinkts ersah er hierbei den Wert der historischen Anekdote, die denn auch beständig aus der Verlegenheit helfen mußte. Als selbst Cécile wegen der absoluten Leere eines Raumes „verlegen― wird, bemüht der Schlossführer sich dann „durch Erzählkunst den absoluten Mangel an Sehenswürdigkeiten auszugleichen.― Auf den Roman Cécile übertragen, lädt dieser Satz förmlich zu einem Vergleich mit Flauberts roman sur rien ein: Auf die „Erzählkunst―, das Wie also, kommt es an, nicht auf Inhalte, die ohnehin kaum noch vorhanden zu sein scheinen. Dieser Gedanke einer Selbstreflexivität des Textes kann umso weniger als abwegig abgetan werden als ausgerechnet als Nächstes „die Hauptsehenswürdigkeit des Schlosses, der Spiegel aus Bergkristall― erwähnt wird; allerdings ist von ihm nur noch der „leere Goldrahmen― zu bewundern und die merkwürdige Geschichte von seinem Verkauf zu vernehmen, was im Kontext eines selbstreferentiellen realistischen Schreibens aufhorchen lässt. Denn Cécile, die überhaupt nicht differenziert wahrnehmen kann, möchte sich gern darin erblicken, wodurch sie unbewusst das Desiderat eines abbildenden Realis- 71 Dubois, 2000, 225. 72 Alle Cécile-Zitate stammen aus Kapitel 8 des Romans. <?page no="128"?> Louis Gerrekens 128 mus in Goldrahmen, sprich: Verklärung erfüllt, während ihrem Mann und Gordon „die Geschichte lieber als der Spiegel― ist. Kurz: Ohne dieses Kapitel des Romans überstrapazieren zu wollen, kann dennoch daraus geschlossen werden, dass Fontane eine Poetik zur Entfaltung bringt, die tiefgehende Konvergenzen zu derjenigen Flauberts aufweist, wie sie oben dargelegt worden ist. Es kann hier nicht detailliert erörtert werden, wie die raffiniert in den Roman eingelegten selbstreflexiven Kommentare sowohl den erzählerischen Duktus begleiten als auch die Rezeption steuern; dennoch sei abschließend hervorgehoben, dass diese Form der Systematik Fontanes Romankunst gleichfalls in die Nähe von derjenigen Flauberts bringt; als „Réalistes de talent― verdienen beide Autoren es, „Illusionnistes― genannt zu werden - um es mit der treffenden Formulierung Guy de Maupassants in seinem programmatischen Vorwort zu Pierre et Jean (1888) zu sagen. 6 Zensur und doppelspuriges Schreiben Der Vergleich des französischen mit dem deutschen Realismus, wie er in diesem Kapitel vorgenommen wird, führt notwendigerweise dazu, dass einige Autoren stiefmütterlich behandelt werden - andere werden nicht einmal erwähnt. Um nur zwei Namen unter vielen zu nennen: Der Schweizer Keller, dessen „Veredelung― der Fontaneschen Verklärung ähnlich sieht, 73 gehört zweifelsohne zu den markanten Autoren der Zeit, sowie der Österreicher Adalbert Stifter, auch wenn dessen Platz in der Literaturgeschichte weniger eindeutig auszumachen ist. 74 Da hier jedoch keine umfassende Darstellung angestrebt wird, sondern die beispielhafte Veranschaulichung von Konvergenzen und Divergenzen, lässt sich dies kaum vermeiden. Auch die für den Realismus typischen literarischen Phänomene können hier nicht alle gleichermaßen belichtet werden - so könnte allein schon dem im vorigen Abschnitt kurz umrissenen Aspekt der ‚spécularité‘ oder Selbstreflexivität von realistischer Literatur sicherlich ein hochinteressanter Vergleich gewidmet werden. 75 73 Siehe die Einleitung des hochinteressanten Bandes: Gottfried Keller und Theodor Fontane. Vom Realismus zur Moderne. Hg. von Ursula Amrein und Regina Dieterle, Berlin, New York, Walter de Gruyter, 2008, 2. 74 Dazu noch Begemann, 2007, 66: „Es ist nicht selbstverständlich, dass Adalbert Stifter in einem Band über den Realismus auftaucht.― Darüber hinaus hatte Stifter „nur wenige Kontakte― (ibid.) zu seinen Kollegen. 75 Siehe Timothy Unwin: Textes réfléchissant. Réalisme et réflexivité au dix-neuvième siècle, Bern, Peter Lang, 2000. Darin zeigt Unwin, dass - allen Theorien zum Trotz - alle realistische französische Literatur immer auch „une réflexion sur elle-même, sur son statut ontologique, commercial, esthétique ou autre― (10) enthält - eine Feststellung, die sicherlich auch auf die Werke eines Raabe, Storm oder Fontane u. a. zutrifft. Siehe hierzu Ort, 2007, 23. <?page no="129"?> Formen realistischen Schreibens: Deutsche Provinzialität, französische Avantgarde? 129 Im Laufe des im Vorangehenden Skizzierten hat sich gezeigt, dass die jeweiligen programmatischen Überlegungen (Freytags oder Ludwigs, Balzacs oder Champfleurys z.B.) zwar eine bedeutende Rolle gespielt haben, dafür aber noch lange nicht systematisch umgesetzt worden sind. Der Bruch mit vorangegangenen Epochen ist in Frankreich weit weniger deutlich als angekündigt, selbst Stendhal und Flaubert bleiben der Romantik verhaftet (und verklären also! ), und die „basses classes―, die vermeintlich zum Sujet des Romanciers werden sollen, fehlen meistens in der tatsächlichen Darstellung: „Le peuple n‘apparaît pas véritablement, sauf à de rares exceptions.― 76 Kurz: Trotz der schlagkräftigen Parolen haben die französischen Autoren, die ja meistens adligen oder bürgerlichen Ursprungs sind und die bürgerliche Perspektive kaum je aufgeben, nicht unbedingt mit einer Art Zurückhaltung gebrochen, die dem deutschen ‚Poetisieren‘ letztlich nicht unähnlich ist - zumal das Bewusstsein um das Illusionäre am realistischen Text die Autoren beider Sprachen dazu führt, Literatur schließlich doch ebenso sehr aus der bestehenden Literatur wie aus dem Leben zu schöpfen. 77 Mit anderen Worten: Trotz aller Divergenzen in den programmatischen Schriften stellen sich bei genauem Lesen erstaunlich viele Konvergenzen in der ästhetischen und - letztlich auch - thematischen Bearbeitung durch die Hauptvertreter des Realismus heraus. So halten sich die deutschsprachigen Autoren beileibe nicht immer an die streng aufgelegten Tabus. Immerhin hat Fontane L’Adultera verfasst, und Effi Briest oder Cécile handeln auch von Ehebruch - um nur dieses Thema zu erwähnen. Dadurch gewinnt die Frage neue Relevanz, warum die internationale Rezeption beider Realismen so divergierend (und so sehr zum Nachteil des deutschen) verlaufen ist. Dafür sei abschließend ein möglicher Erklärungsansatz vorgeschlagen. Nach 1848 werden die Hoffnungen auf freiere Meinungsäußerung in Deutschland oder Österreich schnell enttäuscht. Theodor Storm, der sich offen für die fortschrittlichen Ideen eingesetzt hat, wird beruflich zurückgestellt und muss eine Zeitlang ohne Gehalt auskommen, was ihn zu größerer Vorsicht zwingt. Ähnlich stehen alle „Schriftsteller, die das alte System kritisiert hatten und oft in revolutionäre Tätigkeiten verwickelt gewesen waren, […] vor schweren Entscheidungen― 78 : Entweder sie tragen dem wachsenden Konservatismus der Behörden, der Zeitschriftenverleger und des Lesepublikums Rechnung und können weiterhin schreiben, oder aber sie werden 76 Larroux, 1995, 50. 77 Intertextualität im Realismus kann hier nicht weiter besprochen werden, da dieses Phänomen ja eigentlich an jedem einzelnen Text zu erörtern ist; allerdings genügt ein flüchtiger Blick in die Literatur der letzten Jahre, um feststellen zu können, dass sich die hier besprochenen Hauptrepräsentanten des Realismus sämtlich in ihren Werken mit anderen literarischen Texten auseinandersetzen. 78 David A. Jackson: Theodor Storm Ŕ Dichter und demokratischer Humanist. Eine Biographie, Berlin, Erich Schmidt Verlag, 2001, 97. <?page no="130"?> Louis Gerrekens 130 nicht mehr veröffentlicht. In seiner Storm-Biographie schildert Jackson, wie einige Autoren „sich von ihrer Vergangenheit― 79 distanzieren, und seine Erörterung des Briefwechsels zwischen Storm und Fontane in den frühen 50er Jahren belegt, wie vorsichtig weiterhin fortschrittlich gesinnte Autoren fortan schreiben müssen. 80 Das hat zu der Erarbeitung von subversiven Schreibstrategien geführt, die oftmals erst in neuerer Zeit von der Forschung bemerkt worden sind und heute noch großenteils zu dechiffrieren sind. Bezeichnenderweise steht in der Einleitung zu dem kürzlich erschienenen Band Gottfried Keller und Theodor Fontane: Bei allen Differenzen im Stil und im Stoff ergeben sich dabei überraschende Parallelen in der Tiefenstruktur der Texte, insbesondere in der Inszenierung von Tabus und Regelverstößen, die mit dem Geschlechterverhältnis und der Generationenfolge das für die Imaginationsgeschichte des 19. Jahrhunderts zentrale Thema der Familie zum Gegenstand haben. Erst in der literarischen Moderne werden skandalöse Vorgänge explizit, wie sie Keller und Fontane bloß verdeckt ansprechen und für deren Fixierung sie unterschiedliche Verfahrensweisen entwickelt haben. 81 Obwohl Keller und Fontane sich, wenn überhaupt, höchstens einmal im Leben begegnet sind, 82 findet sich das Kritische und Heikle bei beiden in der „Tiefenstruktur― des Textes - d. h. aber auch: dem Durchschnittsleser ist diese Ebene zumeist unzugänglich. Ähnliche Verfahrensweisen begegnen bei Raabe, so zum Beispiel wenn er in Drei Federn „die Erzählerposition in drei gegensätzliche Ich-Erzähler aufspaltet und so zu drei nicht nur unterschiedlichen, sondern geradezu widersprüchlichen Bildern der erzählten Geschichte gelangt―. 83 Solche erzähltechnischen Kunstgriffe erlauben es dem jeweiligen Autor, alle tabuisierten Themen doch noch zu verhandeln, aber so, dass nur geschulte Leser darauf aufmerksam werden können. Während jeder, der Maupassants Boule de suif (1880) oder Bel-Ami (1885) liest, sofort merkt, dass es um Geld, Macht, Sexualität, bürgerliche Feigheit, usw. geht, läuft auch der akribischste Leser von in der gleichen Zeit verfassten Novellen Theodor Storms Gefahr, die schlimmen inzestuösen und pädophilen Neigungen in John Riew’ (1885), die brutale Aneignung der Frauen durch adlige wie bürgerliche Männer in Zur Chronik von Grieshuus (1884), die immer wieder im Subtext laut werdende radikale Kritik am Kapitalismus usw. einfach zu überlesen. Denn bei Storm muss ab der meisterhaften Novelle Auf 79 Ibid., 98. 80 Wie repressiv der preußische Staat war, ist ibid. nachzulesen, 96sqq. Über die Auseinandersetzung zwischen Fontane, dessen „preußischer Patriotismus sich nach 1848 festigte― und Storm, dem Preußen verhasst war, siehe 98-102. 81 Amrein/ Dieterle, 2008, 8. 82 Ibid., 6. 83 Dirk Göttsche: „Wilhelm Raabes Erzählungen und Romane―, in: Begemann, 2007, 121- 138, 126. <?page no="131"?> Formen realistischen Schreibens: Deutsche Provinzialität, französische Avantgarde? 131 dem Staatshof (1856) mehr noch als bei seinen Schriftstellerkollegen systematisch gegen den Strich, und zwar gegen die Intention der auftretenden bürgerlichen Erzählerfiguren gelesen werden. Diese werden mit ihrer Vergangenheit nicht fertig, sie verdrängen das Geschehene, fühlen sich dennoch gezwungen, darüber zu berichten, oder aber sie verschweigen das eigentlich Wichtige so, dass gerade das Verschwiegene zum Wesentlichen der Erzählung wird und seine bruchstückhafte Rekonstruktion im Leseprozess in Abgründe blicken lässt, die denen bei Maupassant in nichts nachstehen - die aber von der zeitgenössischen Leserschaft (und lange danach) nicht bemerkt worden sind. Flauberts Forderung, dass der Leser das Wahre im Text zu entdecken habe, trifft daher potenziert auf die Romane und Novellen der deutschen Realisten zu; bei diesen gilt es nämlich oft zunächst, die Tiefenstruktur der Texte überhaupt zu entdecken und - soweit möglich - zu entwirren. Diese zusätzliche Schwierigkeit hat dazu geführt, dass das Bild, das das Lesepublikum von Texten eines Raabe oder Storm hat, auch heute noch kaum etwas zu tun hat mit dem, was die Forschung inzwischen über diese Autoren schreibt. Ob etwa durch unzuverlässiges Erzählen oder frühe Psychologisierung der Erzählerfiguren, die Autoren drücken ihre je subversiven Ideen meistens indirekt aus, was oft nicht einmal ihre nächsten Freunde gemerkt haben. Auch wenn sich heute herausgestellt hat, wie zeitkritisch verschiedene deutsche Realisten sind, können diese Verschleierungstechniken wohl als einer der Gründe betrachtet werden, warum ihre Werke im Ausland so wenig Anklang gefunden haben. Um überhaupt schreiben und veröffentlicht werden zu können, haben die Autoren in der Oberflächenstruktur derart große Konzessionen an den Zensor - und an das bürgerliche Lespublikum der Zeitschriften als schlimmsten Zensor - gemacht, dass es sehr lange gedauert hat, bis ein gerechteres Bild ihrer Schreibkunst entstanden ist. Allerdings kann man von einem so impliziten Schreiben kaum erwarten, dass es von fremdsprachigen Lesern erkannt wird, und das ist bekanntlich nicht geschehen. Der seit Auerbach immer wieder proklamierten Provinzialität des deutschen Realismus kann daher nur zugestimmt werden, wenn man bei dem ersten Eindruck oder der ersten Textebene verbleibt. Hat man sich jedoch einmal intensiv mit der Tiefenstruktur befasst, so sieht man sich gezwungen, seine Meinung grundlegend zu ändern. Die heikle Frage, ob die Realisten deutscher Sprache es trotzdem anders hätten machen können, lässt sich ansatzweise durch einen Hinweis auf das beantworten, was sich am Ende des Jahrhunderts und also beim Übergang zur Moderne abspielt. Als Frank Wedekind explizit eine Satire schreibt, muss er zunächst in die Schweiz fliehen und dann 1899 sechs Monate in Haft verbringen. <?page no="132"?> Louis Gerrekens 132 Weiterführende Literatur Button Tim: Limits of realism, Oxford University Press, 2015. Fabry Geneviève, Roland Hubert e.a. (ed.): Les frontières du réalisme dans la littérature narrative du 20e siècle/ The borders of realism in 20 th century narrative literature, Université catholique de Louvain, 2006; online: http: / / dial.uclouvain.be/ pr/ boreal/ object/ boreal: 81491 [12.7.2016]. Göttsche Dirk, Saul Nicholas (ed.): Realism and Romanticism in German literature/ Realismus und Romantik in der deutschsprachigen Literatur, Bielefeld, Aisthesis, 213. Moussa Brahim: Heterotopien im poetischen Realismus: andere Räume, andere Texte, Bielefeld, Aistheis, 2012. Müller Hans-Joachim: Der Roman des Realismus-Naturalismus in Frankreich. Eine erkenntnistheoretische Studie, Athenaion, Wiesbaden, 1977. Muray Philippe: Le XIXe siècle à travers les âges, Paris, Gallimard, 1999. Pavel Thomas: La pensée du roman, Paris, Gallimard, 2003. Swales Martin: Epochenbuch Realismus. Romane und Erzählungen, ESV, Berlin, 1997. Titzmann Michael: Realismus und Frühe Moderne. Interpretationen und Systematisierungsversuche. Hg. von Lutz Hagestedt, belleville Verlag, München (Sammelband der Aufsätze des Autors; s.d.). <?page no="133"?> Sabine Schmitz Kapitel 5 Naturalisme und Naturalismus: Vom Aufbruch in die Moderne? Den Naturalismus in Deutschland und Frankreich einer vergleichenden Darlegung zu unterziehen ist ein Unterfangen, dessen Interesse und zugleich Komplexität vielfach formuliert wurde, da in der Regel dem komparativen Impetus das Ansinnen zugrunde liegt, den Naturalismus als ein europäisches Phänomen, ja die erste gesamteuropäische Bewegung der (historischen) Moderne auszuweisen. 1 Diese Zielsetzung ist in doppelter Hinsicht heikel, denn einerseits relativiert sich der Anspruch über ein gesamteuropäisches Phänomen Naturalismus zu befinden, wenn der Blick z.B. nach England oder Portugal schweift. Andererseits wird ein programmatisch festgeschriebener Modernebezug des Naturalismus bereits für einen Vergleich der Ausprägung dieser Strömung in Frankreich und Deutschland zu einer problematischen Größe. So wurde zwar der Naturalismus in Deutschland schon während seiner Entstehungsphase als Bestandteil der Moderne, mit Julius Hillebrand als das erste Literaturparadigma der Moderne gekennzeichnet, das zudem auf internationaler Ebene Wirkmächtigkeit zeigt, 2 doch in Frankreich wurde er gleich zu Beginn seines Erscheinens und bis in die unmittelbare Gegenwart als Endpunkt der realistischen Epoche gesehen. Diese Zuordnungen bilden in der Forschungsliteratur vielfach das Koordinatensystem, in dem der Naturalismus in Deutschland und Frankreich in einer vergleichenden Perspektive aber auch in Einzeldarstellungen verortet 1 Dieses Unterfangen verfolgt Yves Chevrel seit den 1970er Jahren und hat in diesem Kontext zahlreiche Studien verfasst. S. dazu die Liste weiterführender Literatur. 2 Cf. Julius Hillebrand: „Naturalismus schlechtweg! ―, in: Die Gesellschaft, 4, 1886, 232- 237. Verfügbar auch in: Manfred Brauneck/ Christine Müller (ed.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880-1890, Stuttgart, Metzler, 1987, 36-43, hier 38/ 39. <?page no="134"?> Sabine Schmitz 134 wird, d.h. es geht entweder um die Hervorhebung der den Naturalismus eignenden Elemente der Moderne oder des Realismus. 3 In der Folge stehen im Zentrum vergleichender Studien des deutschen und französischen Naturalismus vielfach die sie unterscheidenden Merkmale oder die Einebnung derselben, die Gemeinsamkeiten der beiden Strömungen jenseits dieser forcierten Annäherungen bleiben jedoch ebenso unbestimmt wie die Motivationen der aufgezeigten Fokussierungen des Naturalismus. Gleichwohl handelt es sich um zentrale Aspekte, die die komparative Sicht auf den Naturalismus in Deutschland und Frankreich erweitern. Daher wird im Folgenden in einem ersten Schritt das Koordinatensystem zu ermitteln sein, das die Einordnung des Naturalismus in die unterschiedlichen Epochenzusammenhänge in Frankreich und Deutschland bestimmt. Zudem gilt es, die durch diese Sichtweise verstellten Gemeinsamkeiten in den Blick zu nehmen, um ferner nach der Motivation des programmatischen Modernebezug in Deutschland und des Vormodernebezugs in Frankreich bzw. der in deutsch-französischer Perspektive proklamierten Andersartigkeiten und im europäischen Panorama hervorgehobenen Gemeinsamkeiten zu fragen. 1 Zum Modernebezug des Naturalismus in Deutschland und zum Realismusbezug des Naturalismus in Frankreich Der Naturalismus in Deutschland wird gegenwärtig von der germanistischen Forschung als Beginn und damit integrativer Bestandteil der - literarischen - Moderne gehandelt. 4 So hat Bunzel dem Naturalismus in einer Überblicksdarstellung eine „historische Scharnierfunktion― zugeeignet, da 3 Seit einigen Jahren finden sich jedoch im Folgenden zu berücksichtigende erste Ansätze, die darauf zielen, den französischen Naturalismus und insbesondere das Werk von Émile Zola dezidiert als Teil der Moderne zu verstehen. 4 Cf. z.B. Walter Fähnders: Avantgarde und Moderne 1890Ŕ1933, Stuttgart/ Weimar, Metzler, 1998, 20sqq.; besonders 33; Wolfgang Bunzel: Einführung in die Literatur des Naturalismus, Darmstadt, WBG, 2008, 11sqq.; Ingo Stöckmann: Naturalismus, Lehrbuch Germanistik, Stuttgart/ Weimar, Metzler, 2011. Walter Fähnders verweist in diesem Zusammenhang treffend auf das „Nebeneinander und [die] Gleichzeitigkeit der Ismen― (Fähnders, 1998, 9), die trotz ihrer unterschiedlichen Selbstentwürfe und Programmatiken als Reaktion auf das herrschende gesellschaftliche und kulturelle System zu lesen sind. Nach Fähnders stehen daher die folgenden Themen - die ohne Frage auch zentral für den Naturalismus sind - im Fokus der Jahrhundertwendeliteratur: „[…] die Auseinandersetzung mit Entwicklungen von Bürgertum und bürgerlicher Kunst, aber auch von Proletariat und Arbeiterbewegung; zudem geht es um die massiven Veränderungen der literarischen Öffentlichkeit, des Dichter- und Intellektuellenstatus, und schließlich um den enormen Legitimationsdruck, dem Kunst und Literatur, Künstler und Dichter gegenüber der unaufhaltsamen fortschreitenden Wissenschaft ausgesetzt sind― (Fähnders, 1998, 10). <?page no="135"?> Naturalisme und Naturalismus: Vom Aufbruch in die Moderne? 135 er „präzise die Nahtstelle zwischen der ersten und zweiten Phase der Makroperiode Moderne markiert― 5 . Diese positive Bewertung ist erst jüngeren Datums, galt der Naturalismus doch lange Zeit als ein Übergangsphänomen, das daher kaum um seiner eigenen Verfasstheit willen Gegenstand der Forschung war, sondern vielmehr nur in seiner Eigenschaft als Durchgangszone in die Moderne Beachtung fand. 6 Im Folgenden muss die von der aktuellen germanistischen Forschung favorisierte Kennzeichnung des Naturalismus als Ausgangspunkt der literarischen Moderne jedoch darauf befragt werden, ob diese Einordnung auch aus einer weiteren, auf die europäische Moderne geöffneten Perspektive Bestand hat. 7 Denn in der französischen Literaturgeschichtsschreibung dominiert bis heute eine andere Sicht auf den Naturalismus: Hier wird traditionell der in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts sich ausbildende Naturalisme in der Regel als ‚Vorläufer‘ der Moderne gesehen und nicht als ein integraler Bestandteil derselben. Dessen ungeachtet votierte Yves Chevrel bereits seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts für eine Aufhebung dieser Periodisierung, da sie die Option verstelle, den französischen Naturalismus als Teil einer gesamteuropäischen Bewegung zu betrachten und nicht nur als seine Gründungsbewegung. 8 Eine supranationale Sichtweise hat sich in der französischen Forschung dennoch bisher weder etabliert noch zeichnete sich bis in die unmittelbare Gegenwart eine literaturgeschichtlich argumentierende explizite Inbeziehungsetzung des Naturalismus mit der Moderne in 5 Bunzel, 2008, 11. Diese Einordnung impliziert die inzwischen in der Germanistik wohl weitgehend etablierte Unterscheidung in Frühe Moderne und die auf sie folgende Klassische Moderne, ab etwas 1900. Eine vergleichbare Stufung der Moderne findet sich in der französische Literaturgeschichtsschreibung nicht. 6 Fähnders benennt eine aus dieser Perspektive resultierende Zwischenstation der Naturalismusforschung, wenn er darauf hinweist „[d]er besonderen Forschungskonstellation und dem großen Nachholbedarf überhaupt ist es geschuldet, dass der Naturalismus zumeist als eigenständige, separate Bewegung die er zweifellos ist - analysiert worden ist, nicht auch in seinen Verflechtungen und Berührungen mit den zeitlich parallelen Gegenströmungen―, Fähnders, op. cit, 34. S. zu dieser Thematik auch York-Gothart Mix (ed.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Vol. 7., Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus: 1890Ŕ1918, Stuttgart/ Weimar, Metzler, 2000. Chevrel konstatierte diese Tendenz in der deutschen Germanistik, ohne sich auf konkrete Namen zu beziehen, bereits ab den 1970er Jahren. Cf. Yves Chevrel, „Les relations de Zola avec le monde germanique―, in: Cahiers Naturalistes, 46, 1973, 227-247 ; Yves Chevrel, „Réception des textes naturalistes : France/ Allemagne―, in H. Van Gorp, R. Guerquier, R.T. Segers (ed.), Receptie ŔOnderzoek. Mogelijkheden en grenzen, Leuven, Acco, 1981, 65-80. 7 Einen wichtigen Beitrag zu dieser Diskussion leistet Ingo Stöckmann: Der Wille zum Willen: der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880 Ŕ 1900, Berlin/ New York, De Gruyter, 2009, da er auf einer breiten Textbasis die Beziehung des deutschen Naturalismus zur Moderne überzeugend fundiert. 8 Siehe hierzu die Arbeiten von Chevrel 1992, 1993, 2002. <?page no="136"?> Sabine Schmitz 136 Frankreich ab. 9 Doch seit wenigen Jahren wird eine Veränderung dieser Fokussierung greifbar, da sich die Stimmen mehren, die dafür eintreten das Werk Zolas als Bestandteil der Moderne zu lesen, seine Modernität hervorheben. 10 Eine damit einhergehende Neuverortung des französischen Naturalismus als Bestandteil der Moderne wird in einem allgemeinen literarhistorischen oder auch epochendefinitorischen Zusammenhang bisher jedoch nicht diskutiert. Die bisher gängige unterschiedliche literarhistorische Einordnung des Naturalismus in Frankreich und in Deutschland kann auf die zeitliche Phasenverschiebung zurückgeführt werden, mit der sich der Naturalismus inbeiden Ländern ausprägte. Denn während in Frankreich bereits seit den 1870er Jahren Zola mit seinem Werk im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, gleichzeitig Stéphane Mallarmé den Symbolismus lancierte, dann in den achtziger Jahren neben Zolas Germinal auch Joris-Karl Huysmans A rebours die europäische Décadence und Lemonnier sowie Eekhoud in Belgien naturalistische Romane verfaßten, war die zeitliche Etablierung in Deutschland anders gelagert. So begann sich der Naturalismus als literarische Bewegung erst in den 1880er Jahren zu etablieren und erstreckte sich bis weit in die 1890er Jahre. Gleichwohl deklarierte Hermann Bahr bereits 1891 die Überwindung des Naturalismus, 11 was mit Blick auf Frankreich auch durchaus seine Berechtigung hat, jedoch im deutschen Kontext unberücksichtigt lässt, dass z.B. 1892 noch wichtige naturalistische Werke publiziert werden, wie Gerhart Hauptmanns Die Weber und Johannes Schlafs Meister Oelze. Ferner ist der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die im Folgenden noch genauer zu betrachtende, divergente Verortung des französischen und deutschen Naturalismus in ihrem Verhältnis zur Moderne maßgeblich darauf gründet, dass sich die naturalistischen Bewegungen jeweils auf unterschiedliches wissenschaftliches Referenzwissen beziehen. Ebenso ist es von Interesse, die ambivalenten Bezüge des deutschen Naturalismus zum französischen Vorläufer zu betrachten, da sie wichtige Motivationen der strukturellen und thematischen Divergenzen im deutschen und französischen Naturalismus sichtbar machen. Sollte es dennoch, jenseits von diesen unterschiedlichen national- und kulturgeschichtlichen Voraussetzungen, Analogien in den Ausprägungen der beiden naturalistischen Strömungen geben, 9 Colette Becker: Lire le réalisme et le naturalisme, Paris, Nathan, 2000; Henri Mitterand: Passion Émile Zola: les délires de la vérité, Paris, Textuel, 2002. 10 Jean-Pierre Leduc-Adine, Jean-Pierre, Henri Mitterand: Lire/ dé-lire Zola, Paris, Nouveau Monde, 2004 ; Henri Mitterand: Zola tel qu'en lui-même, Paris, PUF, 2009; Susan Harrow: Zola, the body modern: pressures and prospects of representation, London, Legenda, 2010. 11 Hermann Bahr: „Die Überwindung des Naturalismus―, in: H. Bahr, Die Überwindung des Naturalismus, Dresden, E. Pierson, 2 1891, 152-158. Verfügbar in: Hermann Bahr: Die Überwindung des Naturalismus, Kritische Schriften in Einzelausgaben. Hrsg. von Claus Pias, vol. 2, Weimar, VDG, 2004, 128-126. <?page no="137"?> Naturalisme und Naturalismus: Vom Aufbruch in die Moderne? 137 dann wären diese als mögliche Kennzeichen des Profils eines europäischen, supranationalen Naturalismus zu werten. 2 Die Referenzsysteme des französischen und deutschen Naturalismus Da der französische Naturalisme den Bezugs- und Abgrenzungspunkt für die deutsche Bewegung des Naturalismus bildet, ist zunächst der Naturalismus in Frankreich und dann in Deutschland vorzustellen. Um zudem den Modernebezug dieser literarischen Strömung in den Blick zu bekommen, werden im Folgenden die in Frankreich und Deutschland sehr unterschiedlichen Bezüge auf die Naturwissenschaft und die aufkommende Soziologie zu betrachten sein. Denn bis in die Gegenwart hat sich besonders der Blick auf den französischen Naturalismus auf eine Perspektive verengt, die für den Naturalismus eine Nobilitierung, ein undefiniertes ‚Modernes‘ aufgrund der in Anschlag gebrachten engen Bezugnahmen bzw. Inanspruchnahme der Autoren auf die sich soeben erst ausprägende naturwissenschaftlichen Leitwissenschaften und ihre Erkenntnisse in Anspruch nimmt. Im Reflex auf den großen Erfolg Zolas haben die deutschen naturalistischen Autoren die Strömung in Deutschland zunächst profiliert, indem sie sich zu der werbewirksamen naturwissenschaftlichen Folie des Naturalisme positioniert bzw. auf die Suche nach Alternativen begeben haben. Dieser Findungsprozess folgte vielfach einer politischen Logik, deren nationalistische Züge bisher kaum Gegenstand der Forschung waren, die jedoch im vorliegenden Kontext zu gegenwärtigen sind. Denn ohne Frage ist einem expliziten Modernebezug am Ende des 19. Jahrhunderts auch in eine politische Dimension inhärent. 2.1 Das Referenzsystem des Naturalisme Die enge Beziehung von Kunst und Wissenschaft und die hieraus resultierende Verwissenschaftlichung von Literatur ist in Frankreich seit den 1830er Jahren ein wichtiger Ausgangspunkt für neue literarische Strömungen. Bereits im Realismus von Jules und Edmond Goncourt und auch in dem Balzacs spielt der Bezug auf wissenschaftliches Referenzwissen eine wichtige Rolle, ebenso bei Flaubert. Denn das Interesse der Autoren gilt vor allem der sich rasant entwickelnden Medizin, die die Diskurse der zeitgenössischen Romane prägt, wobei zunächst die Referenz auf einen medizinischen Erzähldiskurs zentral ist. Einige Jahrzehnte später, im Jahr 1879, publiziert Émile Zola dann seine programmatische Schrift, Le Roman expérimental 12 und 12 Die ersten theoretischen Überlegungen Zolas zum Naturalismus finden sich deutlich früher, so in Mes Haines (1866), Mon Salon (1866) und in dem Vorwort zur zweiten <?page no="138"?> Sabine Schmitz 138 referiert nicht nur, wie der Titel bereits anzeigt, auf die Experimentalmedizin von Claude Bernard sondern auch auf den Positivismus Auguste Comtes und eine an Hippolyte Taine angelehnte Theorie des Determinismus von race, milieu und moment historique sowie die Vererbungslehre von Prosper Lucas 13 . Die Biologie wird somit als Referenzwissenschaft wichtig und verändert den medizinischen Diskurs im Roman. Zola war der herausragende Theoretiker, Kommunikator 14 und Autor des Naturalismus, daher stehen seine Ausführungen im Folgenden im Mittelpunkt der Betrachtung. In seinen zahlreichen Kommentaren und Erläuterungen zum Naturalismus hat er stets darauf hingewiesen, dass der Naturalismus eine Methode und nicht eine Rhetorik, ein Stil oder eine Thema sei. In der Folge wurden seine literarischen Werke immer wieder darauf befragt, ob sie einer Umsetzung seiner theoretischen Ausführungen zum Naturalismus bzw. eines pseudo-wissenschaftlichen Diskurs entsprechen. Henri Mitterand hat in zahlreichen Studien aufgezeigt, wie wenig diese Lesart dazu geeignet ist, die Literarizität der Zolaschen Erzähltexte zu erfassen. 15 Diese Feststellung impliziert jedoch keine Absage an das von Zola in die Romane des Rougon-Macquart-Zyklus eingeschriebene wissenschaftliche Referenzwis- Ausgabe von Thérèse Raquin (1868), wo er klarstellt „Dans Thérèse Raquin, j‗ai voulu étudier des tempéraments et non des caractères. Là est le livre entier. J‘ai choisi des personnages souverainement dominés par leurs nerfs et leur sang, dépourvus de libre arbitre, entraînés à chaque acte de leur vie par les fatalités de leur chair. Thérèse et Laurent sont des brutes humaines, rien de plus. […]. J‘ai simplement fait sur deux corps vivants le travail analytique que les chirurgiens font sur des cadavres‖. Émile Zola : Thérèse Raquin, Paris, Gallimard, 1979, 24-25. 13 Zola hat umfangreich aus dem Werk Lucas exzerpiert, die Exzerpte sind in der Gesamtausgabe des Zola‘schen Werkes verfügbar, Émile Zola: Les Rougon-Macquart: histoire naturelle et sociale d'une famille sous le Second Empire. Texte intégral établi, annoté et présenté par Armand Lanoux et Henri Mitterand, Bibliothèque de la Pléiade, Paris, Gallimard, 1960sqq., vol. V, 1692sqq. 14 Nach Chevrel nimmt Zola nicht zuletzt deshalb eine besondere Rolle im Zusammenhang mit der Etablierung des ‚Naturalismus‘ ein, weil er ein hervorragender Vermittler dieses Konzepts war, das er vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen als ehemaliger Werbechef des Verlagshauses Hachette effizient zu vermarkten wusste. Von diesem Duktus zeigten sich zahlreiche Zeitgenossen Zolas, wie z.B. Flaubert, deutlich irritiert. 15 So erläutert Mitterand in einem an eine breite Öffentlichkeit gerichteten Interview in Le Monde „Deux erreurs sont communément commises: croire Zola sur parole en étouffant ses récits sous le discours (pseudo) scientifique qui les accompagne, ou ne s‘intéresser qu‘aux bouffées d‘imaginaire qui fissurent ce carcan scientiste et déportent les romans du côté du mythe. Une troisième voie existe: elle consiste à explorer la puissance fictionnelle que recèle le projet zolien à son origine même. Mais Les Rougon-Macquart ont ceci de plus singulier encore que le schéma de l‘hérédité emprunté au docteur Lucas y a servi de ‗modèle génératif de récits‘, autrement dit que la science elle-même y est devenue une source inépuisable de fictions―. Interview mit Henri Mitterand in: Jean-Louis Jeannelle, „Zola, tel qu'en lui-même―, d‘Henri Mitterand: apprendre à ‗dé-lire‘ Zola―, in: Le Monde des livres, 20.03.2009; http: / / www.lemonde.fr/ livres/ article/ 2009/ 03/ 20/ zola-tel-qu-enlui-meme-d-henri-mitterand_1170413_3260.html [11.07.2016]. <?page no="139"?> Naturalisme und Naturalismus: Vom Aufbruch in die Moderne? 139 sen seiner Zeit. Jedoch tritt neben den Positivismus und die Hinwendung zu Wissenskonfigurationen der Zeit eine neue Metaphysik, mit Foucault eine Tiefenmetaphysik. Nach Irene Albers antwortet Zola auf die sich hieraus ergebende Dichotomie, indem er versucht, „den Roman zugleich als Resultat einer reinen ‚Beobachtung‘ von Wirklichkeit und als Inszenierung eines Wissens über deterministisch gedachte Kausalzusammenhänge zwischen Milieu und Vererbung auf der einen Seite und individuellen bzw. sozialen Pathologien auf der anderen Seite zu begründen―. 16 Von der französischen Forschung wurde die in Frankreich seit den 1860er Jahren sehr breit rezipierte Theorie der biologisch-medizinischen dégénérescence bisher kaum als aufschlussreicher Bestandteil dieser Wissenskonfiguration zu Milieu und Vererbung in Betracht gezogen. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, ist sie aber gerade in Hinblick auf die Modellierung von Narrativen zur Vermittlung wissenschaftlicher Inhalte wichtig. Diese Theorie der Entartung geht auf den in seiner Zeit stark verbreiteten Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l’espèce humaine et des causes qui produisent ces variétés maladives (1857) des Arztes und Psychiaters Bénédict Augustin Morel zurück. Morel beschreibt hierin seine Beobachtungen aus jahrelanger Tätigkeit in der ‚Nervenheilanstalt‘ von Saint Yon (Rouen), während der er viele Patienten betreute, die der Arbeiterschicht von Rouen angehörten und als Gerber oder im Bergbau arbeiteten. In seinem Traité stellt er die These auf, dass die mit der Industrialisierung entstandenen schlechten Arbeitsbedingungen den Menschen verändern. Diese Transformation präge sich in der Gegenwart besonders nachhaltig aus, weil neben diese Bedingungen noch der demoralisierende Einfluss von Armut, Bildungsmangel, Alkoholismus, sexuelle Ausschweifungen und unzureichende Ernährung träten. Das Temperament, gemeint ist hier das Verhalten der Menschen, sowie die psychophysische Konstitution erleide somit grundlegende Schädigung, d.h. er werde krank. Morel zeigt hier deutliche Anleihen, an zeitgenössische physiologische Konzepte, die davon ausgehen, dass der Mensch sich erfolgreich oder erfolglos körperlich an seine Umwelt anpassen kann. Tritt der letztgenannte Fall ein, dann reagiere der Organismus mit Krankheit. In seinen Krankengeschichten hat Morel die von ihm diagnostizierten Erkrankungen immer wieder narrativ mit der vielfach manifesten Kriminalität seiner Patienten verknüpft. Ferner hat er die These aufgestellt, dass diese grundlegende Schädigung des Menschen, seine Krankheit, vererbbar sei und sich über vier Generationen soweit steigere, dass die letzte Generation zeugungsunfähig wird und damit die Familie ausstirbt. Wobei er einräumt, dass dieser Degenerationsprozess durch Umwelteinflüsse verzögert oder be- 16 Irene Albers: Sehen und Wissen. Das Photographische im Romanwerk Émile Zolas, München, Fink, 2002, 190. <?page no="140"?> Sabine Schmitz 140 schleunigt werden könne. Wie ersichtlich, ist Morels Prinzip der Vererbung eng auf Lucas Vererbungslehre bezogen, nach der sich der körperliche Verfall über Generationen vererbt bzw. fortsetzt. Morel weist jedoch der Psychiatrie im Verbund mit der Medizin die Möglichkeit zu, den durch die Industrialisierung hervorgerufenen Degenerationsprozess durch Präventionsmaßnahmen aufzuhalten und ihn wissenschaftlich erklärbar zu machen. 17 Aus diesem Anspruch erklärt sich nicht nur die Wirkmächtigkeit des Morelschen Traité, sondern auch seine Breitenwirkung. Morels Werk findet sich selbstverständlich auch auf der Liste der Bücher, die Zola als Vorbereitungslektüre für den Rougon-Macquart-Zyklus‘ aufgeführt hat. 18 Marc Föcking hat in einer umfassenden Studie vor dem Hintergrund der Zentralität der Morelschen Theorie ab den 1860er Jahren angeführt, dass im Frankreich der zweiten Jahrhunderthälfte der auf Cuvier zurückgehende „biologische Artenfixismus― und die von Morel lancierte „biologisch-medizinische dégénérescence― in ihrer Kombination als das „diskursive Leitmodell― des Zolaschen Naturalismus zu betrachten seien. 19 Denn beide sind als Organisationsprinzipien des Stammbaums der Rougon-Macquart sichtbar und begründen die Beschränkung Zolas auf die Erzählung einer famille physiologique, die an die Stelle eines Gesellschaftspanoramas à la Balzac tritt, deren Geschichte über vier Generationen bzw. knapp hundert Jahre erzählt wird. Bereits ab 1869 arbeitet Zola mit einem Stammbaum - den er im Anschluss mehrfach modifizierte - in den er die Genealogie dieser Familie und ihre Krankheiten einträgt, um ihre ‚Entartung‘ und ihr épuisement aufzuschlüsseln, die sich aus der sich akkumulierenden Vererbung der „névrose originelle― der Stammmutter der Rougon-Macquart, Adélaïde Fouque bzw. Tante Dide, sowie weiteren morbiden, vererbten Krankheiten ergibt. Ein Ausweis dieses Niedergangs sind in Zolas Rougon-Macquart-Zyklus Alkoholmissbrauch, Armut, Prostitution sowie Raffgier und das rücksichtslose Streben nach Reichtum der Protagonisten. Diesen Verfall der Familien Rougon-Macquart, gilt es für Zola zu erzählen, denn die Familie steht stellvertretend für den Niedergang des Menschen, seiner Art. Bereits in dem ersten Roman des Zyklus, La fortune des Rougon (1871), in dessen Vorwort er 17 Da Morel selbst ein gläubiger Katholik war, setzte er sich für die Einrichtung von sozialen Wohlfahrts- und Hygieneeinrichtungen ein, um die Menschen wieder auf den rechten Weg zu bringen. 18 Émile Zola: Les Rougon-Macquart: histoire naturelle et sociale d'une famille sous le Second Empire. Texte intégral établi, annoté et présenté par Armand Lanoux et Henri Mitterand, Bibliothèque de la Pléiade, Paris, Gallimard, 1960-1967, vol. V, 1675. 19 Mark Föcking: Pathologia litteralis. Erzählte Wissenschaft und wissenschaftliches Erzählen im französischen 19.Jahrhundert, Tübingen, Narr, 200, 312-314. In der französischen Naturalismusforschung und insbesondere in der Forschung zu Zola findet sich kaum ein Hinweis auf Morels Traité des dégénérescence als wichtigen wissenschaftlichen Text der Epoche des Naturalismus. So findet sich z.B. in Colette Beckers Arbeit, Lire le réalisme et naturalisme, Paris, Armand Collin 2000, ein kurzer Hinweis auf Morels Arbeit. <?page no="141"?> Naturalisme und Naturalismus: Vom Aufbruch in die Moderne? 141 die von ihm intendierte Hinwendung zu einer biologisch-genetischen Betrachtung der Gesellschaft explizit formuliert, wird dieser Anspruch deutlich. So wird hier das Schicksal der Protagonistin Adélaïde Fouquet und ihrer drei Kinder sowie eines Enkelkindindes geschildert, das entsprechend dem Cuvier‘schen Gesetz des Artenfixismus, von der Annahme geleitet wird, dass sich die Arten - und somit auch eine bestimmte Gruppe von Menschen, nicht untereinander vermischen, sondern getrennt von einander entwickeln und dann, wenn sie sich nicht mehr der Umwelt hinreichend anpassen können, nicht weiter existieren. Der Mensch ist somit dem Untergang geweiht und die Natur ist nicht mehr die ihn erhaltende, gütige Mutter Natur, sondern die Arten sind dem Verfall und Untergang preisgegeben, ohne Ausnahme, um neuen, besser angepassten Menschen Platz zu machen. Im Verlauf seines Romanzyklus‘ beschreibt Zola, wie der Familienzweig der Rougon während der kurzen Zeit des Zweiten Kaiserreiches diesem Untergang entgegenstrebt, um schließlich aufgrund seiner ‚Entartung‘ ganz ausgelöscht zu sein. Ein wichtiges Strukturprinzip, das die fatale Unausweichlichkeit des Verderbens der Familie erst plausibel macht, ist die auf Lucas zurückgehende Vererbungslehre sowie die Milieutheorie von Taine und der Anspruch positivistischer Beschreibung. Erst das Zusammenspiel der Konzepte bzw. Kategorien eines komplexen wissenschaftlichen Referenzsystems versetzen Zola in die Lage sein biologistisch fundiertes Untergangsszenario überzeugend ins Bild bzw. in Metaphern zu ‚übersetzen‘ und damit erzähl- und verstehbar werden zu lassen. Warning liest vor diesem Hintergrund den Romanzyklus als „Zolas ‚contre-discours‘ gegen die Wissenschaftsdiskurse der Zeit―. 20 Diese Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit diesen Wissenschaftsdiskursen der Zeit und insbesondere der Biologie erschließt sich nicht zuletzt aus dem von Michel Foucault betonten Einschnitt, den das Aufkommen der Biologie im 19. Jahrhundert markiert. Um diesen Bruch zu begreifen, ist nach Foucault zu gegenwärtigen, dass im 18. Jahrhundert „die Biologie nicht existierte und dass die Aufteilung des Wissens, die uns seit mehr als hundertfünfzig Jahren vertraut ist, für eine vorausgehende Epoche keine Geltung haben kann; dass, wenn die Biologie unbekannt war, es dafür einen ziemlich einfachen Grund gab: das Leben selbst existierte nicht. Es existierten lediglich Lebewesen, die durch einen von der Naturgeschichte gebildeten Denkraster erschienen.― 21 Verstärkt wird das Untergangsszenario der Familie Rougon-Macquart noch durch den negativen Einfluß des bereits von Taine nachhaltig in die Diskussion um Vererbung und Krankheit gebrachten moment historique. 20 Rainer Warning, „Kompensatorische Bilder einer ‚wilden Ontologie‘: Zolas Les Rougon- Macquart―, in: R. Warning, Die Phantasie der Realisten, München, Fink, 1999, 240-269, 242. 21 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 1971, 168. <?page no="142"?> Sabine Schmitz 142 Denn bei Zola hat konkret das zweite Kaiserreich einen negativen Einfluss auf die Entwicklung der Figuren bzw. der Familie Rougon-Macquart. Der Romanzyklus ist daher auch eine Schilderung der Gesellschaft des zweiten Kaiserreichs als Verfallsgeschichte, die dem Gesetz der dégénérescence folgt. 22 Aber dennoch geht die Familie letztendlich nicht unter, denn die Erbmasse wird ständig durch neue von außen kommende Familienmitglieder modifiziert. Infolgedessen wird in dem zwanzigsten und letzten Roman des Zyklus, Le docteur Pascal (1893), anders als von Zola zu Beginn seines Schreibens geplant, nicht der endgültige Untergang der Familie Rougon-Macquart erzählt. Vielmehr werden zwei Kinder Jean Macquarts als vitale junge Menschen beschrieben, denen die Zukunft offen steht. Sie sind somit von den negativen Vererbungsphänomen und dem schicksalhaften moment historique ausgenommen. Zugleich wird aber auch in diesem letzten Roman, wie in allen vorangegangenen, deutlich, dass Zola den Menschen als soziales Wesen beschreibt, das in einem konkreten Milieu verortet ist, denn, so sein Argument in Le roman expérimental (1879): „L'homme n'est pas seul, il vit dans une société, dans un milieu social et dès lors, pour nous, romanciers, ce milieu social modifie sans cesse les phénomènes. Même notre grande étude est là, dans le travail réciproque de la société sur l'individu et de l'individu sur la société―. 23 Zolas zentrales Projekt besteht somit darin, individuelle Verhaltensweisen sowie soziale Prozesse im Zusammenspiel von biologischen und sozialen Faktoren zu erzählen. 24 Hierauf verweist Zola bereits 1871, wenn er seinem Romanzyklus den Untertitel „Histoire naturelle et sociale d'une famille sous le Second Empire― gibt und damit den Anspruch unterstreicht, gleichermaßen wissenschaftlichen und sozialen Implikationen Rechnung zu tragen. Es steht außer Frage, dass Zolas Auseinandersetzung mit dem biologisch-medizinischen Referenzsystem zu einer Veränderung oder Neuerung narrativer Inhalte und Strukturen führen muss. Medizinisch-biologische Erzählmodelle sind für diese zu Beginn negativ gedachte Fortschrittsgeschichte die Bezugsfolie und verändern nicht nur die Modellierung der Realität sondern auch die der Erzählmodi. So ist Zolas Romanzyklus besonders zu Beginn von einem starken auktorialen Erzähler gekennzeichnet, der zunächst die (wissenschaftliche) Erklärbarkeit der Welt absichert und zugleich 22 Zola, 1960sqq., vol. V, 1738sq. 23 Émile Zola : Le Roman expérimental. Présentation, notes et dossier de François-Marie Mourad, Paris, Flammarion, 2006, 10. 24 Cf. hierzu Hans Ulrich Gumbrecht: Zola im historischen Kontext. Für eine neue Lektüre des Rougon-Macquart-Zyklus, München, Fink, 1978, 41. Denn genau hierin besteht nach Gumbrecht „Zolas Innovationsbeitrag zur Romanentwicklung―, in der „Umsetzung wissenschaftlicher Erfahrungsschemata des 19. Jahrhunderts in einen neuen Typ des Romans―, Gumbrecht 1978, 91. <?page no="143"?> Naturalisme und Naturalismus: Vom Aufbruch in die Moderne? 143 eine wichtige Vermittlungsinstanz für die komplexe Metapherndichte des Romanzyklus ist. Diese steht wiederum als Ausweis für die besondere Verflechtung von Imaginärem und Wissenschaft, wobei gerade das Imaginäre den Dispositiven der Macht, in diesem Fall der Erklärungs- und Erzählmacht der Wissenschaften, entgegengestellt wird. 25 Diese Sichtweise der Zola‘schen Romane macht nicht nur den Weg frei, zu der von Henri Mitterand geforderten dritten Lesart des Werkes, die darin bestehe „la puissance fictionnelle que recèle le projet zolien à son origine même― aufzudecken, 26 sondern sie rückt Zola zudem an die Moderne heran bzw. macht sein Werk zu einem Teil von ihr. 27 Susan Harrow hat diese Anregung Mitterands aufgegriffen und sie in einer umfassenden Studie fruchtbar gemacht, deren Ziel es ist „the particular twentieth-century sense of the concept of modernism in Zolas Rougon-Macquart― aufzuzeigen. 28 Neben Zola gibt es weitere Autoren deren Werke immer wieder mit dem französischen Naturalismus in Zusammenhang gebracht werden, diese Zuordnung ist aber niemals eindeutig. So werden die Brüder Goncourt, Alphonse Daudet und Flaubert zu den Mitbegründern des Naturalismus gezählt, aber die genannten Autoren selbst haben dies vielfach als Vereinnahmung zurückgewiesen. Eine weitere „Generation― von Naturalisten bilden dann, nach dem Tod von Flaubert und Jules de Goncourt, die Mitglieder der Soirées de Médan, zu Ihnen zählen Zola, Guy de Maupassant besonders sein Roman Une vie - gelegentlich auch sein Werk Pierre et Jean, sowie Joris-Karl Huysmans, dessen Frühwerk immer wieder dem Naturalismus zugerechnet wird, ferner Henry Céard, Léon Hennique, Paul Alexis und Octave Mirbeau. Gemeinsam haben sie die vielbeachtete Novellensammlung Les Soirées de Médan (1880) publiziert. Jedoch distanzierten sich die Mitglieder nach der Publikation bald vom Naturalismus und vor allem von Zola. Einen Höhepunkt erfuhr diese Distanznahme zu Zola, zu seinem Werk und dem Naturalismus im Jahr 1887 mit der Publikation des „Manifeste des Cinq― im Le 25 Warning, op. cit.; Jacques Dubois: „Zola et les sciences humaines ―, in: Excavatio, 19, 1- 2, 2004, 171-184. 26 Mitterands Ziel ist hierbei: „libérer des commentaires stéréotypés qui l‘ [i.e. das Werk Zolas] ont dépeint en positiviste appliqué―, Mittérand, op. cit. 27 Daher stelle Mitterand fest, dass es an der Zeit sei, „donne[r] à voir un Zola formaliste là où nous avions l‘habitude de le juger naïvement positiviste. […] voir l‘imaginaire le plus débridé naître de la connaissance en apparence la plus aride, suivre le déploiement d‘une violence archaïque, sous-jacente aux péripéties romanesques, s‘attacher aux ‗crises d'irrationalité‘ qui perturbent l'ordre du Second Empire, ou encore repérer dans Les Rougon-Macquart ces ‚faits-glissades‗ dont parlait André Breton. Car, si Zola n'est pas connu comme précurseur du surréalisme, il n‘en pousse pas moins le naturalisme au-delà de ses limites. Il en explore les marges, il l‘ouvre à l‘érotisme, au rêve, à la révolution. Bref à tout ce qui réfute le procès que Breton instruisait au roman dans son Manifeste du surréalisme en 1924― (Mitterand, op. cit.). 28 Harrow, op. cit., 8 <?page no="144"?> Sabine Schmitz 144 Figaro, in dem Paul Bonnet, J.-H. Rosny, Lucien Descaves, Paul Margueritte und Gustave Guiches Zolas Roman La Terre kritisierten und ihn als recueil de scatologie bezeichneten und am Naturalismus als litterarische Strömung harsche Kritik übten. Eine Diskussion über Ausprägungen des Naturalismus oder den Modernebezug in den Werken der dem französischen Naturalismus bis heute sehr uneindeutig zugerechneten Autoren liefert im vorliegenden Zusammenhang daher weder für die Profilierung des Naturalismus in Frankreich selbst noch zur Erhellung seines Modernebezug maßgebliche Erkenntnisse. 2.2 Das Referenzsystem des Naturalismus Die republikanische Neupositionierung Frankreichs nach dem verlorenen Deutsch-Französischen Krieg 1870/ 71 und nach der nationalen Reichsgründung Deutschlands spielt eine bisher kaum untersuchte gewichtige Rolle für die Konfiguration des Naturalismus in Deutschland. Konditioniert diese politische Matrix doch das Anliegen, dass der Naturalismus nicht als eine an einem französischen Vorbild orientierte Strömung wahrgenommen werden soll, sondern dass es sich vielmehr um etwas „genuin Deutsches― und nicht nur um eine anverwandelte Literaturbewegung handelt. Daher sollte die besonders von den so genannten Jüngstdeutschen wahrgenommene literarische Unterlegenheit Deutschlands gegenüber der führenden europäischen Kulturnation Frankreich und der hieraus resultierende starke Einfluss der französischen Literatur auf die deutsche aufgehoben werden und sich eine eigene, nationale deutsche Literatur ausprägen. Dieser Anspruch erklärt, warum sich in den programmatischen Schriften des Naturalismus immer wieder eine dezidierte Abgrenzung vom französischen Naturalisme findet. Trotz dieser vielfach nationalistisch geprägten Zurückweisung blieb die französische Kultur eine wichtige Bezugsgröße, so galt die schon 1829 gegründete französische La Revue des Deux Mondes als Vorbild für die erste repräsentative Kulturzeitschrift des neuen Reichs, die den programmatischen Titel Deutsche Rundschau trug. Ferner unterband der auf Abgrenzung und Alterität ausgerichtete Anspruch auch keineswegs die Rezeption Zolas zu einer Zeit, d.h. zu Beginn der 1880er Jahre, zu der der französische Autor bereits zentrale theoretische bzw. programmatische Schriften zum naturalisme sowie neun von zwanzig Romanen des Rougon-Macquart-Zyklus veröffentlich hatte. Vielmehr ist Zolas Werk eine wichtige Bezugsfolie für die Profilierung des Naturalismus in Deutschland. So finden sich in den Jahren 1880/ 1881 erste Übersetzungen seiner Werke ins Deutsche, wobei es durchaus von Interesse ist, dass die deutschen Übersetzung en der Romane des Rougon-Macquart-Zyklus nicht in Deutschland erschienen sind, sondern <?page no="145"?> Naturalisme und Naturalismus: Vom Aufbruch in die Moderne? 145 beim Grimm-Verlag in Budapest. 29 Die in Deutschland zwischen 1871-1890 in deutscher Übersetzung publizierten zwölf Werke von Zola umfassen, wohl aus diesem Grund, hauptsächlich Romane, die nicht Teil des Rougon- Macquart-Zyklus sind. In deutschen Literaturzeitschriften wurde seit den 1880er Jahren eine umfassende Debatte über den französischen Naturalismus geführt, in der ‚Jüngstdeutsche‘ wie z.B. Karl Bleibtreu sowie der dieser Gruppe nicht direkt zugehörige Michael Georg Conrad für den französischen Naturalismus als wichtige neue Literaturströmung und ästhetische Alternative zum Realismus eintreten und sich damit gegen die Gründergeneration, der z.B. Paul Lindau und Julius Rodenberg angehörten, wenden, die den Naturalismus, ebenso wie insgesamt die französische Literatur, ablehnen und vielmehr für einen Realismus deutscher Prägung votieren. Die Zurückweisung des Naturalismus ist hierbei vielfach nationalistisch begründet, so wird die als materialistisch, atheistisch sowie darwinistisch verurteilte Ästhetik Zolas zum Teil als spezifisch französisch bezeichnet und in den 1880er Jahren als Hinweis auf einen Sittenverfall gewertet, der die französische Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/ 71 erkläre. Aber auch die Jüngstdeutschen argumentieren politisch, wenn sie in der Etablierung eines von Zola deutlich unterschiedenen Naturalismus in Deutschland die Möglichkeit sehen, deutscher Literatur in Deutschland und in der Welt endlich Anerkennung zu verschaffen. Dementsprechend wurde vor allem in der ersten Phase des Naturalismus auf deutschsprachige Vorbilder bzw. Gruppierungen verwiesen, die sich dadurch auszeichneten, dass sie sich als Jugendbewegung inszenierten, die einen ästhetischen Paradigmenwechsel einforderten; ja, zum Teil in der Forschung heute an den Beginn der Moderne gestellt werden. Dies war zunächst der Sturm und Drang, dessen Programmatik der Erneuerung das Interesse junger Naturalisten wie Wilhelm Arent, Karl Bleibtreu und Heinrich Hart weckte und dessen Inanspruchnahme mit der eigenen Ambition verbunden werden konnte, ebenfalls den Beginn einer neuen Ära zu markieren Ebenso wie die Autoren der Epoche des Sturm und Drang votierten viele junge Schriftsteller wie Hart und Bleibtreu daher um 1885 zunächst für die Lyrik als naturalistische Ausdrucksform. So erhielt die von Wilhelm Arent herausgegebene frühnaturalistische Lyrikanthologie den programmatischen Titel Moderne Dichter-Charaktere (1885). Nur mit wenig Verzögerung wurde dann, ebenfalls durch Bleibtreu, ein zweiter Referenzpunkt für den deutschen Naturalismus lanciert, dies war die Bezugnahme 29 Cf. Nathalie Mälzer-Semlinger: Die Vermittlung französischer Literatur nach Deutschland zwischen 1871 und 1933, 2009, Diss. Univ. Duisburg-Essen, 2009, verfügbar unter http: / / duepublico.uni-duisburg-essen.de/ servlets/ DocumentServlet? id=20084 [11.07.2016], hier S. 40. Zur Rezeption des Naturalimus in deutschen Zeitschriften cf. auch Joseph Jurt: „The Reception of Naturalism in Germany―, in: Brian Nelson (ed.): Naturalism in the European Novel, New York/ Oxford, 1992, 99-119. <?page no="146"?> Sabine Schmitz 146 auf den Vormärz durch die Einführung der Bezeichnung ‚Junges Deutschland‗ für eine Gruppe frühnaturalistischer Autoren. 30 Folgerichtig wurde dann die zweite Ausgabe des Bandes Moderne Dichter-Charaktere (1886) mit dem Titel Jungdeutschland versehen. Der Bezug auf die literarische Bewegung das ‚Junge Deutschland‘, die um 1830 durch ihre liberalen Ideen und ästhetischen Neuerungen bald ein Verbot auf sich zog, war bei den Frühnaturalisten ebenfalls dem Anspruch auf ästhetische und politische Neuerung und Innovation geschuldet. Doch um eine klare Abgrenzung zu markieren, kam bald der Begriff vom ‚Jüngsten Deutschland‘ für die naturalistisch ausgerichtete Neuerungsbewegung auf. Diese Umorientierung führte auch zur Favorisierung einer neuen Gattung, der Prosa, die als Textform der Moderne galt, denn nach Bleibtreu machte „die Enge der lyrischen Form sie untauglich […], den ungeheueren Zeitfragen zu dienen―. 31 Die Hinwendung zur Prosa wurde zunächst besonders durch die von Michael Georg Conrad 32 in München herausgegebene Zeitschrift Gesellschaft, die in erster Linie den Münchner Naturalisten als Sprachrohr diente, ebenso favorisiert wie Zolas Romane und seine Romanästhetik. Aber auch aus der Berliner Gruppe wandten sich dann bald zahlreiche Naturalisten der Prosa zu. Programmatisch führte diese genealogische Verortung aber kaum zu konkreten Anknüpfungspunkten, es ging bei diesen plakativen Vereinahmungen vielmehr um eine öffentlichkeitswirksame künstlerische Positionierung. Wie sich bereits in den komplex gelagerten nationalphilologischen Bezügen andeutet, weist der Naturalismus in Deutschland, anders als in Frankreich, ausgeprägte, geographisch an zwei Standorte gebundene Gruppenbildungsprozesse auf. So kommt es seit den 1880er Jahren bis weit in die 1890er Jahre in München und in Berlin zur Bildung von lokalen Gruppierungen, die ihre eigenen Zeitschriften herausgaben und für unterschiedliche ästhetische und auch sozio-politische Positionen fochten. Neben dieser räumlichen Verortung hat die Forschung zum Naturalismus zudem die Periodisierung des deutschen Naturalismus in einen Früh- (1880 bzw. 1885-1889) und Hochnaturalismus (1890-1895) sowie einen ‚konsequenten Naturalismus‘ etabliert. Dieser Periodisierung liegt implizit das Schema eines mehr oder weniger starken Bezugs auf einen Wissenschaftsdiskurs zu Grunde bzw. auf das von den Autoren selbst oder von der Forschung anerkannte „szientifische― Selbstverständnis der Autoren. Dahinter stehen vielfach Bemühungen den Naturalismus insgesamt als verfehlten Beginn der Moderne in Deutschland 30 Cf. Karl Bleibtreu: „Andere Zeiten, andere Lieder! ―, in: Die Gesellschaft 1, 1885, 891-893, 892. 31 Karl Bleibtreu, Revolution der Literatur [1886]. Mit erläuternden Anmerkungen und einem Nachwort. Johannes J. Braakenburg, Tübingen, Niemeyer, 1973, 67. 32 Conrad war in der Zeit von 1878-82 Frankreichkorrespondent für den Feuilletonteil der Frankfurter Zeitung und stand in dieser Zeit mit Zola in persönlichem Kontakt, später dann veröffentlichte er verschiedene Sammlungen seiner Artikel aus der Pariser Zeit. <?page no="147"?> Naturalisme und Naturalismus: Vom Aufbruch in die Moderne? 147 zu kennzeichnen. Jedoch erweist sich, ebenso wie für den französischen Naturalismus, gerade die Auseinanderzetung mit den aufkommenden Naturwissenschaften und der sich soeben erst als Wissenschaft etablierenden Soziologie auch im Kontext des deutschen Naturalismus als ebenso komplex, wie in Frankreich. Denn in Deutschland nehmen naturalistische Autoren wie Hermann Conradi oder Arno Holz anders als in Frankreich Bezug auf monistische Theorien, hierbei stehen zunächst Arbeiten von Ernst Haeckel im Vordergrund. Zugleich gewinnt die Psychologie Wilhelm Wundts an Bedeutung, um die besonders vom ‚konsquenten‘ Naturalismus angestrebte Darstellung von ‚Realitäts‘ausschnitten mit aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu stützen bzw. zu legitimieren. 33 In den naturalistischen Texten finden sich hingegen kaum, wenngleich dies lange Zeit einer geglaubten Wahrheit in der germanistischen Forschung entsprochen hat, 34 direkte Referenzen auf den Positivismus. Denn anders als im französischen Naturalismus spielt stattdessen die Auseinandersetzung mit den Ideen Darwins im deutschen Naturalismus eine zentrale Rolle. 35 Ingo Stöckmann hat in einer umfassenden Studie diese Zentralität einer biologisch begründeten Determiniertheitsthese für den deutschen Naturalismus aufgezeigt und sie vor dem Hintergrund der breiten Rezeption der dem struggle of life bzw. struggle for existence inhärenten mythischen Erzählstruktur erläutert. 36 Ergänzend stellt Stöckmann die These auf, „dass es eine Koinzidenz zwischen dem naturalistischen Roman und der Willensmetaphysik Schopenhauers gibt―, die wiede- 33 Die Naturalismusforschung in Deutschland war lange Zeit auf das Werk von Gerhart Hauptmann, Arno Holz und Johannes Schlaf fokussiert, die als Vertreter eines ‚konsquenten Naturalismus‗ ein besonders großes Interesse auf sich zogen. Viele weitere wichtige Autoren des deutschen Naturalismus wurden erst in den letzten Jahren wiederentdeckt, cf. Stöckmann, 2009. 34 Cf. z.B. Hanno Möbius: Der Positivismus in der Literatur des Naturalismus. Wissenschaft, Kunst und soziale Frage bei Arno Holz, München, 1980. 35 Ingo Stöckmann führt hierzu aus: „Vor allem im deutschen Naturalismus wirkt das darwinistische Motiv des struggle for existence geradezu strukturbildend, wie die zyklischen Erzählprojekte des Naturalismus (Conrad Alberti, Michael Georg Conrad), aber auch Einzeltexte (Max Kretzer) belegen, die sich den dramatischen Veränderungen der Lebens- und Arbeitswelt im ausgehenden 19. Jahrhundert widmen―, Stöckmann, 2009, 54. Zur Zentralität Darwins in der deutschsprachigen Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts, s. auch Peter Sprengel: Darwin in der Poesie. Spuren der Evolutionslehre in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Würzburg, Könighausen & Neumann, 1998; Karl Eibl: Animal poeta. Bausteine zur biologischen Kultur- und Literaturtheorie, Mentis, Paderborn, 2004. 36 Stöckmann erläutert, dass sich diese Zentralität Darwins konkret in der von dem Naturforscher selbst anerkannten, mythischen Bildlichkeit des ‚Kampfes ums Dasein‘, begründet, den er 1859 in The Origin of Species by Means of Natural Selection beschrieben habe, Stöckmann, 2009, 51. <?page no="148"?> Sabine Schmitz 148 rum mit den darwinistischen Theorien der natural selection und des survival of the fittest in enger Verbindung stehen. 37 Eine komparative Perspektivierung des Naturalismus eröffnet in diesem Zusammenhang durch Föckings Hervorhebung der dégénérescence den Blick auf ein weiteres Element des aktualisierten Wissenschaftsdiskurses, dessen Relevanz, auch im Kontext des sich in Deutschland ausprägenden Naturalismus, ebenso eine Rolle zukommen könnte, wie sie der Vererbungslehre zugeeignet wird, die bei Zola auf der Lektüre von Lucas‗ Traité philosophique et physiologique de l’hérédité naturelle dans les états de santé et de maladie du système nerveux (1847-1850) fußt und im deutschen Naturalismus dann auf Darwin. Denn in diesem Kontext ist zu gegenwärtigen, dass Bénédict Augustin Morel, der Verfasser des Traité des dégénérescences nicht nur mit Claude Bernard befreundet war sondern auch ein Anhänger und Bewunderer Darwins war. 3 Zum problematischen Modernebezug des Naturalisme/ Naturalismus: Weder Ausgang des Realismus noch Aufbruch in die Moderne ? Die vorangehende Betrachtung hat gezeigt, dass die Verhältnisbestimmung von Naturalismus und Moderne in Frankreich und Deutschland eng mit der sehr unterschiedlichen Kanonisierung der literarischen Bewegung in den beiden Ländern zusammenhängt. Denn während in Frankreich der Naturalisme im 20. Jahrhundert zunehmend zum Gegenstand einer umfassenden Aufwertung und wissenschaftlichen Erforschung wurde, die ihn bis in die unmittelbare Gegenwart noch als Ausgang der realistischen Epoche verhandelte, hat es in Deutschland sehr viel länger gedauert, bis der Naturalismus ein kanonisierter Gegenstand von wissenschaftlichen Untersuchungen und einer ausführlichen literarhistorischen Darstellung wurde. In Frankreich steht jedoch, fast stellvertretend für den Naturalismus, das Werk Émile Zolas im Mittelpunkt des Interesses. Dies hat zugleich vielfach dazu geführt, dass zahlreiche weitere naturalistische Autoren kaum wahrgenommen wurden; als Ausnahmen könnten hier selbstverständlich Maupassant und Daudet angeführt werden, aber beide sind kaum zum engeren Kreis der französischen Naturalisten zu zählen. In Deutschland hingegen richtet sich das Interesse seit den 1970er Jahren nicht mehr in erster Linie auf die Werke von Hauptmann, Holz und Schlaf, sondern auf eine Vielzahl von Autoren sowie auf die Ausprägungen des Naturalismus in unterschiedlichen Gattungen. In der Forschung wurden vor dem Hintergrund der Verschiebungen im wissenschaftlichen Bezugssystem und der hieraus resultierenden ästheti- 37 Stöckmann, 2009, 42. <?page no="149"?> Naturalisme und Naturalismus: Vom Aufbruch in die Moderne? 149 schen und poetologischen Umwertungen des französischen und deutschen Naturalismus sowie der unterschiedlich ausprägten Gattungsvielfalt lange Zeit vor allem die Divergenzen zwischen den beiden nationalen Konfigurationen des Naturalismus hervorgehoben. Dennoch zeigt sich in beiden Ausprägungen des Naturalismus immer wieder die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, so z.B. in thematischen Konstellationen oder Schreib- und Verfahrensweisen, die vielfach einer Radikalisierung der Ästhetik dienen und von der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Wissenschaftsdiskursen geprägt sind. Zudem finden sich in beiden naturalistischen Bewegungen eine deutliche Stärkung eines auktorialen Erzählers und übereinstimmende thematische Konstanten, wie z.B. das Interesse an der Arbeiterschicht und Milieubeschreibungen bei Hauptmann und Zola, sowie die Notwendigkeit, Modernisierungsnarrative zu entwerfen, die auch mit Referenz auf die gerade erst aufkommenden Soziologie Modernisierung als Verlust von Gemeinschaft, von sozialen Zusammenhängen erzählen. Es handelt sich somit um ästhetische und poetologische Verhandlungen, literarische Verfahrensweisen und thematologischen Festlegungen, die eine gesamteuropäische Strömung kennzeichnen, deren besondere Verfasstheit erst durch eine supranationale Perspektivierung in den Blick kommt. Auf das Interesse einer europäischen Fokussierung des Naturalismus weist ferner die Tatsache hin, dass im deutschen Naturalismus eine umfassende Auseinandersetzung mit der Psychophysik und Psychophysiologie Wundts, z.B. in dem Roman Adam Mensch (1889) des früh verstorbenen Hermann Conradi, sowie mit dem Monismus Haeckels als auch mit Theorien der aufkommenden Soziologie stattfindet, die sich fast zeitgleich ebenfalls im spanischen Naturalismus, besonders in den Werken von Benito Pérez Galdós, findet. 38 Die Analyse dieser Parallelen stellt ein weiteres Element für die Lektüre des Bauplans eines als internationales Phänomen begriffenen Naturalismus in Aussicht. Eine explizite Inbeziehungsetzung von Realismus, Naturalismus und Moderne in Frankreich und Deutschland, sowie in zahlreichen weiteren europäischen Ländern, erweist sich somit als aussichtsreiche Option, denn sie autorisiert einen neuen Zugang zu der Literatur der letzten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts jenseits der vielfach episodisch angelegten Gegenüberstellungen dieser literarischen Bewegungen bzw. Epochen. Durch eine europäisch ausgerichtete Fokussierung kommt ein Naturalismus jenseits der ihm zugeeigneten negativen Konnotationen und der im Reflex hierauf lancierten Nobilitierungsdiskurse in den Blick, der vielfach einflussreiche Narrative über den Verlaufssinn der Moderne und die Verhandlung von Dispositiven der Moderne, wie die Erklärungs- und Erzählmacht der 38 S. Sabine Schmitz: Spanischer Naturalismus. Entwurf eines Epochenprofils im Kontext des Krausopositivismo, Tübingen, Niemeyer, 2000 <?page no="150"?> Sabine Schmitz 150 Wissenschaften, angestoßen hat. Zu erweitern ist diese Perspektive um die sich zum Teil in beiden Ländern parallel zum Naturalismus ausprägenden ‚Ismen‘ und Teilströmungen wie Symbolismus, Impressionismus, Dekadenz, Jugendstil und Fin de Siècle, die im Verbund das Jahrhundertende und den Aufbruch in die Moderne prägen, wobei gleichwohl dem Naturalismus eine besondere Rolle zukommt: Er markiert den Ausgangspunkt der Moderne. Weiterführende Literatur Baguley David: Le naturalisme et ses genres, Paris, Nathan, 1995. Barjonet Aurélie: Zola d'Ouest en Est. Le naturalisme en France et dans les deux Allemagnes, Rennes, Presses universitaires de Rennes, 2010. Bender Niklas: La Lutte des paradigmes: la littérature entre histoire, biologie et médecine (Flaubert, Zola, Fontane), Amsterdam/ New York, Rodopi, 2010. Chevrel Yves: Le naturalisme étude d’un mouvement littéraire international, Paris, PUF, 2 1993. Chevrel Yves : „Le naturalisme peut-il être considéré comme un mouvement moderniste ? ―, in: Revue de littérature comparée, 66, 4, 1992, 387-395. Chevrel Yves : „Le modernisme et l‘héritage du naturalisme―, in: Neohelicon, 29, 2002, 1, 45-55. Colin René-Pierre: Dictionnaire du naturalisme, Tusson Charente, Lérot, 2012. Cowen Roy C. (ed.): Dramen des deutschen Naturalismus von Hauptmann bis Schönherr, Anthologie in zwei Bänden, München, Winkler, 1981. Gengembre Gérard: Le réalisme et le naturalisme en France et en Europe, Paris, Pocket, 2004. Krämer Birgit: Abenteuer Steinzeit und Mythos Evolution: die „romans préhistoriques“ von J.-H. Rosny Aîné, Frankfurt/ M., Peter Lang, 2003. Stöckmann Ingo: Naturalismus. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart/ Weimar, Metzler, 2011. <?page no="151"?> Achim Küpper Kapitel 6 Fin de siècle / Jahrhundertwende: Eine Tendenzgeschichte 1 Einleitung und Chronologie Die Notwendigkeit einer Sprach- und Nationalitätengrenzen überschreitenden Perspektive der Literaturgeschichte wird im Kapitel zum deutschsprachigen ‚Fin de siècle‘ außerordentlich sinnfällig. „Insbesondere die deutsche Literatur der Jahrhundertwende wird aus sich heraus kaum verständlich. Zu eng ist sie z.B. mit der zeitgenössischen Literatur Frankreichs, Skandinaviens und Rußlands verbunden.― 1 Dass dabei auch und gerade dem Französischen eine herausragende Stellung zukommt, darauf deuten auf rein sprachlicher Ebene schon die verwendeten Begriffe aus dem Umfeld der ‚Décadence‘ hin: „Die zahlreichen fremden Namen weisen, wie das Wort ‚Décadence‘ selbst, auf die französische Herkunft des neuen Schlagwortes. Es sind zumeist Autoren und Romanhelden aus dem französischsprachigen Bereich, die hier als Kronzeugen genannt werden.― 2 Damit ist die prinzipielle Impulsrichtung bereits angegeben. Grundsätzlich ist in diesem Abschnitt der deutsch-französischen Literaturgeschichte eine ganz ähnliche Phasenverschiebung zu beobachten wie beim Naturalismus. In Frankreich setzen die literarischen Strömungen im Umfeld von Symbolismus und Décadence hauptsächlich ab den 1870er Jahren ein, Paul Verlaine veröffentlicht seine Poèmes saturniens bereits im Jahr 1866 und macht sich damit zum eigentlichen Wegbereiter des Symbolismus. 3 Im deutschsprachigen Raum zeichnet sich so etwas wie eine Dekadenzlitera- 1 Franz Norbert Mennemeier: Literatur der Jahrhundertwende. Europäisch-deutsche Literaturtendenzen 1870-1910, Bd. 1, Bern u.a., Lang, 1985, 5. 2 Gotthart Wunberg unter Mitarb. von Johannes J. Braakenburg (ed.): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Suttgart, Reclam, 1981, 216. 3 Dazu etwa auch John Charpentier: Le Symbolisme (suivi d’un florilège des meilleurs écrivains du Symbolisme), Paris, Les Arts et le livre, 1927, 12: „Verlaine, en tout cas, quand il croit faire œuvre parnassienne, en publiant en 1866 les Poèmes Saturniens, rompt, le premier, avec le matérialisme ou le positivisme des disciples de Leconte de Lisle―. <?page no="152"?> Achim Küpper 152 tur erst deutlich später ab, im Grunde erst ab den 1890er Jahren. Die deutschsprachige folgt der französischen Literatur also mit einem Abstand von etwa 20 Jahren. Die Zusammenhänge dieser Importgeschichte beschreibt Auguste Dupouy in seiner frühen komparatistischen Studie zu Frankreich und Deutschland und bringt sie in vielerlei Hinsicht mit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870-1871 in Verbindung. Laut Dupouy dient Deutschland nach 1870 nicht mehr als Exempel für die französische Literatur, sondern Frankreich wird umgekehrt zum Modell für die deutschsprachigen Schriftsteller; nach 1880 schließlich importiert Frankreich von Deutschland nur noch den Spiritualismus, Deutschland von Frankreich dagegen den Naturalismus. 4 Weiter aufgedröselt wird die Geschichte eines Deutschlandbilds in Frankreich und insbesondere der Stellung Deutschlands bei den französischen Literaten zwischen 1870 und 1914 in Claude Digeons opulenter Studie zur deutschen Krise des französischen Denkens. 5 Dort wird die Kriegsniederlage Frankreichs von 1871 als ein tiefer Einschnitt im französischen Denken hinsichtlich Deutschlands beschrieben. Die ideengeschichtliche Krise des Deutschlandgedankens in Frankreich resümiert Digeon wie folgt: Entre 1870 et 1914, l‘Allemagne évolue rapidement et l‘idée que la France se fait de ce pays se transforme parallèlement. Entre l‘Allemagne de 1869, temple de l‘intelligence, et l‘Allemagne de 1871 brusquement jaillie dans l‘horreur et la gloire, il y a un abîme. Mais quelle différence aussi entre l‘Allemagne incertaine, séduisante ou furieuse des débuts du règne de Guillaume II, patrie de Wagner, de Marx et de Nietzsche, et l‘énorme empire commercial, industriel, guerrier de 1905, plein de menaces, et agressif, et formidable! 6 Eben jene Krisenzeit des französischen Denkens bildet auch den Hintergrund für die Geschichte des literarischen Fin de siècle und der Jahrhundertwende, wie sie in diesem Kapitel beschrieben werden. Sie fallen in eine Sonderphase der deutsch-französischen Beziehungen. Daraus mag sich die augenscheinliche Deutlichkeit der Impulsrichtung erklären. Jedoch kann eine Literaturgeschichte der Zeit sich nicht in einem deutsch-französischen Erklärungsmodell erschöpfen, dafür sind die Zusammenhänge viel zu komplex, das Bezugsnetz zu verwoben. Wo beginnt eine bilinguale bzw. bikulturelle Transfergeschichte und wo endet sie? Wenn die deutschsprachige Literatur der Jahrhundertwende etwa bestimmte Impulse von den französischsprachigen Vorgängern bezieht, diese sich 4 Vgl. Auguste Dupouy: „Une fin de siècle―, in: ders.: France et Allemagne. Littératures comparées, Paris, Paul Delaplane, 1913, 220-246. 5 Claude Digeon: La crise allemande de la pensée française (1870-1914), Paris, Presses Universitaires de France, 1959. 6 Ibid., 8. <?page no="153"?> Fin de siècle/ Jahrhundertwende: Eine Tendenzgeschichte 153 ihrerseits aber gerade auch an der deutschen Romantik und der literarischen Goethezeit orientieren (die ja wiederum andere Bezüge enthält), lässt sich dann überhaupt von einer eigentlichen ‚Transfergeschichte‘, von einer tatsächlichen deutsch-französischen Einflussnahme reden? Und damit wäre lediglich auf die Probleme der diachronen Zeit, d.h. der historischen Einflussketten, und noch nicht auf die des synchronen Raums, also der hybriden Entitäten, verwiesen, die letztlich noch komplexer wären, weil sie jedes Gebilde an sich bereits als vielfach durchdrungen und heterogen ausweisen würden. Dieses Kapitel konzentriert sich vielmehr auf das, was ihm möglich scheint: Nicht eine enzyklopädische Kaleidoskopie der unzähligen und nicht zu schematisierenden literarischen Einzelphänomene wird hier erfolgen, sondern eine Seismographie der Zeit und ihrer Erschütterungen; nicht eine bikulturelle Transfergeschichte im eigentlichen Sinn, sondern eine Art ‚Tendenzgeschichte‘ soll im Folgenden geschrieben werden. So versucht das Kapitel, die generelleren Zeitphänomene und -tendenzen von Fin de siècle und Jahrhundertwende zusammenzutragen und diese jeweils mit Rücksicht auf das bikulturelle deutsch-französische Modell darzustellen. Nun ergeben sich bei einer chronologischen Einteilung, wie sie oben angeschnitten wurde, vor allem in Hinblick auf den Symbolismus und die Décadence in Frankreich allerdings einige terminologische Schwierigkeiten. Diese gilt es zunächst zu klären, bevor die Epochentendenzen im Einzelnen behandelt werden können. 2 Terminologische Abgrenzungen Eine gewisse Unklarheit besteht bei der Verwendung der Begriffe Symbolismus und Décadence, insbesondere bei ihrer historischen Einordnung in das literarische Frankreich. Für Ernest Raynaud beginnt der französische Symbolismus ab dem Kriegsjahr 1870, 7 laut Louis Marquèze-Pouey setzt sich die Literaturströmung der Décadents dann vor allem ab den 1880er Jahren durch, wobei die neue Strömung im Jahr 1886 - mit der Einführung des Begriffs „Décadisme― durch Anatole Baju 8 - auch einen neuen Namen erhielt. 9 Auch Noël Richard geht in seiner etwas früher erschienenen Darstellung des Mouvement décadent von dem Jahr 1885-1886 als einem Scheidepunkt zwischen Décadence und Symbolismus aus, jedoch diesmal genau in umgekehrter Richtung: Ihm zufolge erscheint die Décadence gerade als eine 7 Vgl. Ernest Raynaud: La mêlée symboliste (1870-1910). Portraits et souvenirs, Paris, Nizet, 1971. 8 Anatole Baju: „Le décadisme―, in: Le Décadent, 1, 10.4.1886. 9 Vgl. dazu Louis Marquèze-Pouey: Le mouvement décadent en France, Paris, Presses Universitaires de France, 1986, hier v.a. 16. <?page no="154"?> Achim Küpper 154 ‚Vorstufe‘ des Symbolismus; hier steht dasselbe Jahr 1886 nicht im Zeichen des Décadisme, sondern der Symbolisten: als das Jahr, in dem Jean Moréas sein Manifest des Symbolismus publiziert, - eine Paradoxie, auf die auch Richard selbst bereits hinweist. 10 Ebenso nimmt André Barre in seinem - allerdings recht normativen - Werk das Jahr 1885 als Beginn der symbolistischen Bewegung. 11 Es gibt mithin zwei gegensätzliche historische Modelle: Das eine setzt den Symbolismus in Frankreich ab dem Jahr 1870 an und die Décadence in etwa ab den 1880ern; das andere geht umgekehrt von der Décadence als einer Vorstufe des Symbolismus aus, der dann seinerseits ab Mitte der 1880er Jahre zu verorten sei. Gegenüber diesen zeitlichen Einordnungen soll hier der Versuch unternommen werden, die Phänomene Symbolismus und Dekadismus weniger von einer chronologischen als vielmehr von einer formalen Seite her zu definieren. Dabei lässt sich zunächst auf der Abgrenzung zwischen den beiden Begriffen aufbauen, die Erwin Koppen in seiner wegweisenden Fin de siècle- Studie vornimmt. Dort wird die Décadence als eine inhaltliche Kategorie aufgefasst, die mit ihrer Untergangsstimmung eine bestimmte Grundmentalität bezeichnet, sie erscheint als eine ästhetische Abwehrhaltung gegenüber der bürgerlichen Industriegesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts; den Symbolismus dagegen versteht Koppen als eine formale Kategorie, als einen sprachlich-stilistischen Nebenzweig der Décadence-Bewegung. 12 In einer modifizierenden Weiterführung dieses Ansatzes sei hier noch ein etwas anderes Modell aufgestellt, nach dem beide Begriffe über ihre formale Ebene zu bestimmen wären. Inhaltlich sind Symbolismus wie Décadence von ihrem Grundgehalt her - freilich in verschiedensten Abstufungen und Schattierungen - als ästhetische Abwehrreaktionen gegen das industrialisierte Bürgertum zu fassen, die von einer Endzeitstimmung gekennzeichnet sind. Das hat Koppen bereits einsichtig gemacht. Darüber hinaus ließe sich auf formal-struktureller Ebene eine andere Definition erstellen: Der Symbolismus ist eine tendenziell lyrische Kategorie, der Dekadismus tendiert prinzipiell zu den erzählenden (‚epischen‘) Formen. 13 Zur Fundierung dieser Definition lässt sich auf eben jene Dokumente verweisen, die am Ursprung der jeweiligen Begriffsgeschichte stehen, nämlich auf die beiden Manifeste aus ein und demselben Jahr 1886, deren paral- 10 Siehe dazu Noël Richard: Le mouvement décadent. Dandys, Esthètes et Quintessents, Paris, Nizet, 1968, 8. 11 Vgl. André Barre: Le Symbolisme. Essai historique sur le mouvement poétique en France de 1885 à 1900, 2 Bde, Paris, Jouve, 1912 [Reprint Genf, Slatkine, 1970]. 12 Vgl. Erwin Koppen: Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des Fin de siècle, Berlin und New York, de Gruyter, 1973, 63-66. 13 In nuce klingt dies bereits bei Koppen an, ibid., 64: „Mallarmé war ebensowenig Décadent wie Huysmans Symbolist; eine poetica del decadentismo ist ein Unding.― <?page no="155"?> Fin de siècle/ Jahrhundertwende: Eine Tendenzgeschichte 155 leles Erscheinen an sich schon gegen eine chronologische und für eine gattungstypologisch-formale Definition der beiden Kategorien spricht: „Le Symbolisme― von Jean Moréas und „Le décadisme― von Anatole Baju. In „Le Symbolisme― grenzt sich Moréas zunächst vom Begriff der Dekadenz ab und verweist auf den des Symbolismus als den einzigen Begriff, der geeignet sei, die Tendenz des schaffenden Geistes in der Kunst der Zeit zu kennzeichnen, bevor Moréas eine Definition der symbolischen Poesie erstellt. Diese suche die Idee in eine mit den Sinnen wahrnehmbare Form zu kleiden, die jedoch nicht zum Selbstzweck werde; dabei bestehe der Wesenszug der symbolischen Kunst darin, niemals zur Verdichtung der Idee an sich vorzudringen. 14 Wie bereits aus der Gleichsetzung von symbolischer Poesie und symbolischer Kunst in dieser Definition hervorgeht, ist Moréas‘ Perspektive vor allen Dingen eine lyrische. Das zeigt sich ferner auch am Aufbau seines Manifests: Moréas geht zwar auf alle drei Literaturgattungen ein, doch steht an allererster Stelle die Poesie, das Drama folgt nur indirekt in Form eines eingeschalteten theatralen ‚Zwischenspiels‘, und auf die Prosa kommt Moréas erst ganz am Ende, ausschließlich in Bezug auf den „symbolisch-impressionistischen Roman― und ausdrücklich nur im Zeichen einer ‚subjektiven Umformung‘ zu sprechen. 15 Damit ist ein Spektrum entworfen, das sich tatsächlich durch die gesamte Symbolismus-Diskussion verfolgen ließe: Der symbolistische Grundgedanke ist ein tendenziell lyrischer Gedanke, der in der Bewegung zu den anderen Literaturgattungen bis hin zur Prosa graduell abgeschattet wird, wobei das Drama als Zwischenstation erscheint und insgesamt deutlichere Affinitäten zur Lyrik aufweist als die Prosa. Dass dieser letzte Gedanke überdies auch eine generellere Gültigkeit für die Zeit besitzt, wird schon aus dem Aufleben der Gattung des lyrischen Dramas im Fin de siècle ersichtlich, wie es Peter Szondi beschrieben hat und hier später noch ausführlicher zur Sprache kommen wird (siehe dazu Punkt 9). Demgegenüber wird in Anatole Bajus „Le décadisme― recht schnell deutlich, dass es im Dekadismus vielmehr darum geht, ein Bild als Abspiegelung der Welt zu liefern: „La littérature décadente se propose de refléter l‘image de ce monde spleenétique.― 16 Zwar verwehrt sich auch Baju gegen die de- 14 Vgl. Jean Moréas: „Le Symbolisme―, in: Le Figaro. Supplément littéraire, 18.9.1886, 1-2, hier 1: „Nous avons déjà proposé la dénomination de symbolisme comme la seule capable de désigner raisonnablement la tendance actuelle de l‘esprit créateur en art.― Und ibid.: „la poésie symbolique cherche à vêtir l‘Idée d‘une forme sensible qui, néanmoins, ne serait pas son but à elle-même, […] le caractère essentiel de l‘art symbolique consiste à ne jamais aller jusqu‘à la concentration de l‘Idée en soi.― 15 Vgl. ibid., 2: „le roman symbolique-impressionniste édifiera son œuvre de déformation subjective―. 16 Zit. Anatole Baju: „Le décadisme―, in: ders.: L’École décadente, Paris, Léon Vanier, 1887, 9-11, 10. <?page no="156"?> Achim Küpper 156 skriptive Dimension von Literatur - „Pas de descriptions― 17 -, zwar geht es auch hier nicht um das Äußere, sondern um das Innere, doch wird im Manifest des „Décadisme― von Baju - anders als in dem des „Symbolisme― von Moréas - der Schwerpunkt gerade auf den narrativen Aspekt gelegt. Baju sieht die Hauptaufgabe der Schriftsteller des „Décadisme― ausdrücklich darin, die inneren Kämpfe des Herzens bündig zu ‚erzählen‘: „Les écrivains pénétrés de l‘esprit de cette fin de siècle doivent être brefs et narrer [! ] les luttes intimes du Cœur―. 18 Damit ist der genaue Gegenentwurf zum symbolistischen Manifest Moréas‘ geliefert: Im „Décadisme― erscheint gerade das im „Symbolisme― am stärksten abgedrängte Element, nämlich die Narration, und zwar vor allem die kurze Narration, als die eigentliche, wesentliche Form. Diese begrifflich-kategorialen Unterscheidungen haben insofern mit dem vorliegenden Projekt zu tun, als sich daraus auch Konsequenzen in Bezug auf die jeweiligen Literaturen in den beiden Sprach- und Kulturräumen ergeben. Als eine sehr allgemeine Tendenz der Zeit lässt sich nämlich vermerken, dass die französischsprachige Literatur des Fin de siècle vorwiegend an der Lyrik orientiert ist (neben den bereits Genannten ließe sich etwa noch Tristan Corbière oder auch der Comte de Lautréamont erwähnen, dessen 1869 gedruckte Chants de Maldoror später einen bedeutenden Einfluss auf die Surrealisten ausgeübt haben, etc.) und nur wenige Beispiele narrativer Dekadenz aufweist (paradigmatisch dann allerdings die Romane von Joris- Karl Huysmans oder des Belgiers Georges Rodenbach, siehe zu beiden weiter unten), während die Literatur der deutschsprachigen Jahrhundertwende viel stärker in den erzählenden Formen ausgeprägt ist und nur vereinzelte Exempel ‚symbolistischer‘ Lyrik kennt (etwa die Gedichte des frühen Hugo von Hofmannsthal, der sich überdies - bezeichnenderweise - in seinem lyrischen Frühwerk selbst wiederum am französischen Symbolismus orientiert, später dann zu anderen Formen findet). Auf der Grundlage einer solchen formalen Begriffsbestimmung ließe sich daher eine zweite Definition formulieren: Der Symbolismus ist ein tendenziell französischsprachiges bzw. von der französischsprachigen Lyrik geprägtes Phänomen, der Dekadismus ist als narrative Erscheinung in beiden Literaturräumen zu finden, die deutschsprachige Jahrhundertwende weist jedoch einen wesentlich höheren Anteil narrativer Werke auf als das französischsprachige Fin de siècle. Womöglich ließe sich diese Behauptung auch genereller auf den romanischen und den germanischen Raum ausdehnen. Eine besondere Stellung kommt dabei dem Drama zu, das in beiden Literaturräumen präsent ist und sozusagen zwischen der Lyrik und der Prosa steht. Dabei kann es je unterschiedlich gefärbt oder geprägt sein. Nicht von 17 Ibid. 18 Ibid., 11. <?page no="157"?> Fin de siècle/ Jahrhundertwende: Eine Tendenzgeschichte 157 ungefähr liegt im Fin de siècle und der Jahrhundertwende ein Konjunkturraum sowohl des lyrischen Dramas als auch des episierten Dramas (siehe dazu Punkt 9). Neben den recht strikten kategorialen Trennungen, wie sie oben vorgenommen wurden, lässt sich allerdings zuletzt noch auf eine andere, ältere Grunddefinition verweisen, die wiederum deutlich mehr Raum für Offenheit und Überschneidungsbzw. Überschreitungsmöglichkeiten lässt. In seinen 1857 erschienenen Notes nouvelles sur Edgar Poe nimmt Charles Baudelaire bereits eine grundlegende Neubewertung des Begriffs „Littérature de décadence― gegenüber früheren Gebrauchsweisen vor. Statt wie zuvor als bloßes Negativurteil über ein Werk wie das von Edgar Allan Poe verhängt zu werden, wird die Formel bei Baudelaire gerade umgekehrt zum Zeichen der eigentlichen, echten Dichtung. Der Anfang der Baudelaireschen Poe- Notizen weist schon die neue Richtung: Littérature de décadence ! - Paroles vides que nous entendons souvent tomber, avec la sonorité d‘un bâillement emphatique, de la bouche de ces sphinx sans énigme qui veillent devant les portes saintes de l‘Esthétique classique. À chaque fois que l‘irréfutable oracle retentit, on peut affirmer qu‘il s‘agit d‘un ouvrage plus amusant que l’Iliade. Il est évidemment question d‘un poème ou d‘un roman dont toutes les parties sont habilement disposées pour la surprise, dont le style est magnifiquement orné, où toutes les ressources du langage et de la prosodie sont utilisées par une main impeccable. 19 Damit ist nicht nur eine Aufwertung des amerikanischen Autors geleistet, auf den Baudelaire sich selbst beruft (und auf den sich auch für den Symbolismus zentrale Figuren wie Auguste de Villiers de L‘Isle-Adam stützen), damit ist zugleich eine Neudefinition der „Literatur des Niedergangs― auf den Weg gebracht, die gerade als das eigentlich Moderne erscheint. 20 Auf diese Weise wird das Jahr 1857 zu einem entscheidenden Datum des Dekadenzbegriffs; es ist übrigens dasselbe Jahr, in dem auch die Erstausgabe von Baudelaires Les fleurs du mal erscheint und das somit praktisch den Beginn der modernen Lyrik markiert. Mit seinen Ausführungen zur „Littérature de décadence― wird aber nicht nur der französische Autor zu einem zentralen Referenzpunkt in der Begriffsgeschichte, sondern damit zugleich auch der Amerikaner Edgar Allan Poe, was neben der weit größeren gattungsformalen Offenheit bei Baudelaire - immerhin ist dort ausdrücklich unter dem Stichwort „Littérature de décadence― sowohl von einem Gedicht als auch von einem Roman („d‘un poème ou d‘un roman―) die Rede - zudem auch noch einmal den vielschichtig-verflochtenen, übernationalen und latent überzeit- 19 Charles Baudelaire: „Notes nouvelles sur Edgar Poe―, in: ders.: Œuvres complètes, Bd. 2, éd. Claude Pichois, Paris, Gallimard, 1976, 319-337, 319. 20 Dazu auch Roger Bauer: Die schöne Décadence. Geschichte eines literarischen Paradoxons, Frankfurt a.M., Klostermann, 2001, 7. <?page no="158"?> Achim Küpper 158 lichen Charakter der literarischen Gesamterscheinung unterstreicht: Antizipationen einer „Literatur des Niedergangs― finden sich ebenso bei dem Amerikaner Edgar Allan Poe - man denke nur an The Fall of the House of Usher (1839) - wie bereits bei dem Engländer Lord Byron, dem Gestalter des literarischen Dandysmus, dem seinerseits aber wiederum in gewisser Weise der französische Dichter François-René de Chateaubriand als Erfinder des literarischen Dandysmus „avant la lettre― vorausgeht. 21 Später lassen sich markante Signaturen der Dekadenz etwa bei dem Iren Oscar Wilde (The Picture of Dorian Gray, 1890), aber auch bei dem Italiener Gabriele d‘Annunzio erkennen, usw. Die Literatur der Dekadenz im weitesten Sinne ist ein Phänomen von internationalem, ja ansatzweise sogar interkontinentalem, von sprachlich, aber im Keim auch zeitlich übergreifendem Charakter. 3 Jahrhundertende und Jahrhundertwende als Schwellenräume: Zwischen Endzeitbewusstsein und Erneuerung In diesem Kapitel werden die Begriffe Jahrhundertende (also wörtlich Fin de siècle) und Jahrhundertwende als ein Minimalpaar verwendet, das sich mit der Polarisierung von Ende und Wende in einem geistigen Spannungsfeld zwischen Endzeitbewusstsein und Zukunftshoffnung, zwischen Niedergang und Erneuerung bewegt. Diese Polarität ist in der Tat ein wesentliches, allgemeines Charakteristikum des Fin de siècle und seiner epochalen Konstruktionen. Sie konzentriert sich am prägnantesten in dem Gegensatzpaar von Tod und neuem Leben, das der Literatur der Zeit an vielen Stellen eingeschrieben ist; in diesen Zusammenhang gehört etwa auch die Verdichtung bestimmter Übergangsmotive, beispielsweise der Bildbestände Wasser, Brücke oder Insel, in der Literatur und Kunst um 1900. 22 Vor allem in Bezug auf die Jahre um 1900 hat Wolfdietrich Rasch das Fin de siècle als „Ende― und „Neubeginn― definiert und nachgewiesen, inwiefern im literarischen, künstlerischen und öffentlichen Bewusstsein der Zeit - über die Nationen- und Sprachengrenzen hinweg - die Furcht des Endes und die Hoffnung auf einen sowohl künstlerisch als auch gesellschaftlich zu verstehenden Wandel oder Neuanfang in einer beinahe paradoxen Gleichzeitigkeit artikuliert werden. 23 Dabei erscheint das Jahr der Jahrhundert- 21 So Karin Becker: Le dandysme littéraire en France au XIX e siècle, Orléans, Paradigme, 2010, 53. 22 Vgl. dazu, ausgehend von der negativen Variante dieser Übergangsmotive bei Arthur Schnitzler, im Einzelnen Achim Küpper: „Übergang als Grenzerfahrung: Arthur Schnitzler. Wasser, Brücke und Insel in drei Erzählungen vom Jahrhundertende (mit einem Blick auf die Kunst um 1900)―, in: Sprachkunst, 39.2, 2008, 219-249. 23 Wolfdietrich Rasch: „Fin de siècle als Ende und Neubeginn―, in: Roger Bauer, Eckhard Heftrich, Helmut Koopmann, Wolfdietrich Rasch, Willibald Sauerländer und J. Adolf <?page no="159"?> Fin de siècle/ Jahrhundertwende: Eine Tendenzgeschichte 159 wende 1900 als ein symbolisches Datum, als eine Grenzlinie, um die herum sich die Gegenwartsängste und Zukunftshoffnungen lagern. Im französischen Raum haben sich das „Bewußtsein der Décadence und ihre literarische Motivik― freilich bereits wesentlich früher hervorgetan; hier geht die französischsprachige der deutschsprachigen Literatur in der Tat voraus. 24 In Richard Hamanns und Jost Hermands Darstellung des deutschen Impressionismus wird der „aus Frankreich importierte Begriff des ‚Fin de siècle‘― zu einem „Stichwort― der behandelten Epoche: „Das Gefühl, am Ende eines Jahrhunderts zu stehen, erweckte in den Literatenkreisen dieser Jahre eine ‚Lust am Untergang‘, die trotz mancher echten Angstsymptome einen recht genüßlichen und zugleich blasierten Beigeschmack hat.― 25 Das Stichwort „Fin de siècle― - hauptsächlich durch Francis de Jouvenot und H. Micards 1888 aufgeführtes und seinerzeit sehr erfolgreiches Lustspiel Fin de siècle popularisiert - wird zu einem allgemeingültigen, auch im deutschsprachigen Raum verbreiteten Leitbegriff der Zeit und tritt damit neben andere „Merkworte der Epoche― wie sie Gotthart Wunberg - unter Rückverweis auf eine Bezeichnung Hugo von Hofmannsthals und auf die Zeugnisse anderer Intellektueller der Zeit - bilanzartig zusammenstellt: Décadence, Synästhesie, Dilettantismus, Neurose, Symbolismus, Renaissancismus, 26 Impressionismus, Fin de siècle, Tod, Satanismus usw. 27 Hofmannsthal ist es auch, der - in seinem programmatischen Artikel über das italienische Vorbild Gabriele d‘Annunzio - von seiner eigenen Generation als einer Generation der ‚Spätgeborenen‗ spricht, denen die „Väter, die Zeitgenossen des jüngeren Offenbach―, und die „Großväter, die Zeitgenossen Leopardis―, „nur zwei Dinge hinterlassen― haben: „hübsche Möbel und überfeine Nerven―. 28 Damit gewinnt das Spätzeitbzw. Endzeitbewusstsein der Epoche eine symptomatische Qualität. In diesem Bewusstsein klingt zugleich jene „Ästhetik des Sterbens― an, der Alfred Gold zu symptomatischer Diagnostik verholfen hat 29 und die sich Schmoll gen. Eisenwerth (ed.): Fin de siècle. Zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, Frankfurt a.M., Klostermann, 1977, 30-49. 24 Ibid., zit. 32. 25 Richard Hamann und Jost Hermand: Impressionismus, München, Nymphenburger Verlagshandlung, 1972, 136. 26 Zu dieser Dimension Hans Richard Brittnacher: „Die Erfindung und Verabschiedung eines Zeitalters. Zur Renaissance bei Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke und Heinrich Mann―, in: Zagreber Germanistische Beiträge, 20, 2011, 3-17; genereller auch Gerd Ueckermann: Renaissancismus und Fin de siècle. Die italienische Renaissance in der deutschen Dramatik der Jahrhundertwende, Berlin und New York, de Gruyter, 1985. 27 Vgl. Wunberg und Braakenburg (ed.): Die Wiener Moderne, op. cit., 215-277. 28 Hugo von Hofmannsthal: „Gabriele d‘Annunzio―, in: ders.: Reden und Aufsätze I: 1891- 1913, ed. Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch, Frankfurt a.M., Fischer, 1979, 174-184, 174. 29 Alfred Gold: „Ästhetik des Sterbens―, in: Die Zeit, 22.262, 24.2.1900, 121sq. <?page no="160"?> Achim Küpper 160 schon durch die bloßen Titel der Literatur des Jahrhundertendes zieht: Arthur Schnitzlers Sterben (1894), Richard Beer-Hofmanns Roman Der Tod Georgs (1900), Thomas Manns allerdings selbst schon wieder aus einer Abwehr- oder Spätzeit der Dekadenz stammende Novelle Der Tod in Venedig (1912), um nur einige wenige große Paradigmen zu nennen. Sie und viele andere machen die beinahe manisch anmutende Beschäftigung einer literarischen Epoche mit dem Tod als einem Thema deutlich, das dem Zuendegehen, dem ‚Sterben‘ des Jahrhunderts ein inhaltliches Äquivalent zu bieten scheint. Eine solche Ästhetisierung des Sterbens hat ihr Vorbild und ihre Vorprägung ohne jeden Zweifel in der französischsprachigen Poesie eines Baudelaire, eines Mallarmé, eines Rimbaud. Doch ganz so einfach und so einseitig gestaltet sich die Lage wieder nicht. Schließlich ließen sich ebenso gut in der deutschsprachigen Lyrik Vorläufer einer Poesie des Sterbens finden, die vom Barock bis ins 19. Jahrhundert reichen. Nikolaus Lenau verdichtete in den 1830er und 1840er Jahren das Gefühl einer (Lebens-)Müdigkeit, einer Todesahnung und eines unübersehbaren ästhetischen Genusses an der Gleichgültigkeit des Sterbens zum lyrischen Manifest einer beinahe schon banalen Allgegenwart des Todes. Die erste Strophe des „9.― der „Waldlieder― (1844) endet mit dem Vers „Ich liebe dieses milde Sterben―, 30 das Gedicht „Herbst― (1834) mit „Mein Herz dem Tod entgegenträumt―, 31 die letzte Strophe von „Herbstgefühl― (1832) schließlich mit dem Entschluss oder zumindest mit dem Schluss: „Gleich am Orte hier zu sterben―. 32 Auf dem Gebiet der französischsprachigen Literatur finden sich jedoch nicht nur - mit Baudelaire u.a. - bestimmte Vorbilder einer Poesie des Endes, sondern zugleich auch ein frühes Paradigma jener anderen Seite der bipolaren Epochenkonstruktion von Ende und Erneuerung: der Zukunftserwartung, die mancherorts hinter den moribunden Formen spürbar wird. Am 26.5.1883 erscheint Paul Verlaines Gedicht „Langueur― in der im Jahr zuvor gegründeten Wochenzeitschrift Le Chat noir, die von dem berühmten Pariser Fin de siècle- und Boheme-Kabarett gleichen Namens ausgeht. Mit diesem Gedicht liefert Verlaine zugleich eine Art lyrische Dichtungspoetik oder ein früheres, poetisches Manifest des von Jean Moréas konzeptualisierten „Symbolisme―, ein Grunddokument, in dem das Spannungsverhältnis zwischen Altem und Neuem, zwischen Zuendegehendem und Neubeginnendem gleichermaßen Gestalt annimmt. Die erste Strophe des Gedichts lautet: 30 Nikolaus Lenau: „Waldlieder―, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, auf der Grundlage der historisch-kritischen Ausg. von Eduard Castle mit einem Nachwort ed. von Walter Dietze, Bd. 1, Leipzig und Frankfurt a.M., Insel, 1970, 423-432, 431. 31 Nikolaus Lenau: „Herbst―, in: ibid., 53. 32 Nikolaus Lenau: „Herbstgefühl―, in: ibid., 49. <?page no="161"?> Fin de siècle/ Jahrhundertwende: Eine Tendenzgeschichte 161 Je suis l‘Empire à la fin de la décadence, Qui regarde passer les grands Barbares blancs En composant des acrostiches indolents D‘un style d‘or où la langueur du soleil danse. 33 Ausgehend von diesem Gedicht heißt es bei Yves-Gérard Le Dantec über den Autor Verlaine - als ersten Vertreter des Symbolismus - in einer Anmerkung, die zugleich eine äußerst griffige Beschreibung der neuen Strömung, des Symbolismus bietet: Il se sait assurément à l‘origine d‘une tentative poétique qui, se détournant à sa suite du Naturalisme et du Parnasse, s‘oriente vers l‘intime et le secret de l‘être, rejette la description pour la suggestion, ne tend plus à exprimer des choses que la sensation ou l‘impression que le poète en reçoit. 34 Damit ist der Symbolismus in seiner Natur als eine künstlerische Gegenbewegung definiert, als Versuch einer Abgrenzung von dem Alten, von Naturalismus und Parnasse, hin zu neuen Ufern, einer neuen Ausdrucksweise, einem neuen Stil und zugleich auch neuen künstlerischen Gegenständen: dem Geheimnis und seiner Suggestivkraft wie genereller hin zu einer Poesie der Impression und des Symbols, zu Impressionismus und Symbolismus in ihrer Wortbedeutung. Nun wird den aus dem Jahrhundertende generational vererbten 35 Auflösungsprozessen in den Jahren um und nach 1900 allerdings ein Regulativ gegenübergestellt, das den Verfallserscheinungen im anbrechenden neuen Jahrhundert entgegenzuwirken verspricht: Es verdichtet sich im Bild des „Kindes―, das in der Literatur der Zeit ebenfalls eine heimliche Blüte erlebt. Das Regulativ des Kindes steht dabei im sinnbildlichen Zusammenhang auch für das noch junge 20. Jahrhundert. Im symbolischen Jahr der Jahrhundertwende veröffentlicht die schwedische Reformpädagogin Ellen Key ihr epocheschreibendes Buch Das Jahrhundert des Kindes (Barnets århundrade, 1900, dt. 1902), das gleichzeitig dem neu beginnenden Jahrhundert einen Namen gibt. Bereits in Maurice Maeterlincks 1893 uraufgeführtem Schauspiel Pelléas et Mélisande, quasi dem symbolistischen Drama par excellence, 33 Paul Verlaine: „Langueur―, in: ders.: Œuvres poétiques complètes, ed. Yves-Gérard Le Dantec, édition révisée, complétée et présentée par Jacques Borel, Paris, Gallimard, 1962, 370sq., S370. 34 Ibid., 1158. 35 Carl E. Schorske beschreibt die gesellschaftlichen und künstlerischen Bewegungen des Jahrhundertendes, die mit der Vergangenheit und den bestehenden Normen brechen, als eine „Generationsrevolte gegen die Väter―, als eine „Art kollektiver Ödipusrevolte― der jungen Generation (‚Jung Wien‘, ‚Jugendstil‘, etc.) „gegen die Autorität der väterlichen Kultur, die ihr Erbe war―. Carl E. Schorske: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siècle, Deutsch von Horst Günther, 2. Aufl., Frankfurt a.M., Fischer, 1982, zit. IX, XVII. Diese Generationsmetaphorik kennzeichnet noch einmal nachdrücklich den Übergangs- und Schwellencharakter von Jahrhundertende wie Jahrhundertwende. <?page no="162"?> Achim Küpper 162 wird das Regulativ des Kindes zumindest in Aussicht gestellt, wenn es am Ende des Stücks heißt, dass Mélisandes neugeborenes Kind „an ihrer Stelle― leben soll. 36 In seiner Geschichte der deutschen Novelle liefert Hellmuth Himmel eine Erklärung für die auffällige „Vorliebe für die eigentlichen Kindergeschichten― in der „Novelle um die Jahrhundertwende―: „Das Kind wird so zum Gleichnis für den Künstler wie für eine potentielle Ganzheit des Menschen überhaupt―. 37 Klaus Lindemann und Norbert Micke machen anhand des Eros/ Thanatos-Motivs einsichtig, dass die Kindheitserzählungen aus jener Krisenepoche, die Egon Friedell in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele noch als die Zeit der „Lücke― bezeichnet, 38 letzthin auch von den Schwierigkeiten erzählen, denen der Mensch auf der Schwelle zu einem neuen, noch jungen Jahrhundert begegnet. 39 Auch ein späterer Autor wie Stefan Zweig steht noch in dieser Tradition und lässt sich aus dem neuromantischen Zusammenhang letztlich in eine Entwicklungslinie einbeziehen, die von einem ausgesprochen modernen Epochen- und Generationenbewusstsein zeugt und keineswegs mit dem endenden Jahrhundert ausgestorben ist, sondern sich in abwandelnden Weiterführungen fortschreibt. 40 4 Metaphysische Erschütterung und impressionistische Auflösung In seinem Aufsatz Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse von 1917 identifiziert Sigmund Freud im Rückblick auf Teile seines eigenen Schaffens drei schwere durch die wissenschaftliche Forschung herbeigeführte Kränkungen des 36 Maurice Maeterlinck: Pelléas et Mélisande, pièce et livret, Saint-Didier, l‘Escalier, 2010, 56: „il ne faut pas que l‘enfant reste dans cette chambre… Il faut qu‘il vive, maintenant, à sa place…―. 37 Hellmuth Himmel: Geschichte der deutschen Novelle, Bern und München, Francke, 1963, 358. 38 Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg, ungek. Sonderausg. in einem Bd., München, Beck, 1969, 1477-1479. 39 Klaus Lindemann und Norbert Micke: „Vorwort―, in: dies.: Eros und Thanatos. Erzählungen zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg, Paderborn u.a., Schöningh, 1996, 7-11, hier 10: „Neben der Schilderung des Zeitkolorits kann es als besonderes Verdienst der Autoren gelten, daß die Schwellensituation und der noch unsicher ausgreifende Schritt in das neue Jahrhundert im Spiegel anthropologischer Konstanten ein sprachliches Profil erhalten hat, welchem als Folie das Motiv des die Kindheit verlassenden und zum Erwachsenen heranreifenden Adoleszenten zugrundegelegt wurde―. 40 Siehe dazu wie bereits zu den vorangehenden Ausführungen und Zitaten Achim Küpper: „‚Eine Fährte, die ins Dunkel läuft‘. Das Scheitern epochaler Übergänge und die Dehumanisation des Menschen: Stefan Zweigs: ‚Brennendes Geheimnis‗―, in: Modern Austrian Literature, 42.2, 2009, 17-39. <?page no="163"?> Fin de siècle/ Jahrhundertwende: Eine Tendenzgeschichte 163 Narzissmus des Menschen: erstens eine kosmologische, auf Nikolaus Kopernikus zurückgehende; zweitens eine biologische, durch Charles Darwin bewirkte; drittens eine psychologische, durch Freuds eigene Arbeit hervorgerufene, aber etwa auch mit dem Denken Arthur Schopenhauers verknüpfte Kränkung. 41 Im Anschluss daran ließe sich für die Zeit von Fin de siècle und Jahrhundertwende zugleich so etwas wie eine metaphysische Kränkung oder Erschütterung verzeichnen. Schopenhauers Werk Die Welt als Wille und Vorstellung von 1819 legt einen frühen Grundstein des europäischen Nihilismus, den man wohl als eine ebenso starke Erschütterung des Menschen betrachten könnte und der in der Zeit des Jahrhundertendes schließlich in einer Diagnose wie Friedrich Nietzsches berühmtem Aphorismus vom Tod Gottes (1882) gipfelt. 42 Unvermindert aktuell in der Zeit bleiben neben dieser metaphysischen Erschütterung die biologische bzw. evolutionsbiologische (Charles Darwins On the Origin of Species erscheint 1859, die positivistischen Forschungen des späteren 19. Jahrhunderts, vor allem der 1880er Jahre, verlagern sich später, in der Wissenschaft der Jahrhundertwende, zugleich hin zu einem neuen „Subjektivismus―, „Vitalismus―, „Relativismus― etc. 43 ) sowie die psychologische Erschütterung (Freuds Traumdeutung trägt das symbolische Erscheinungsjahr 1900). Durch diese Erschütterungen wird der Mensch aus den tradierten Zusammenhängen mit der Welt und mit sich selbst gerissen. Einen allgemeinen Ausdruck findet die veränderte Stellung des Ich in der Zeit etwa in dem berühmten Satz, den Arthur Rimbaud in seinem „Seherbrief― an Paul Demeny vom 15.5.1871 zu einer Grunderkenntnis des modernen Menschen ausbuchstabiert hat: „Je est un autre―. 44 Gotthart Wunberg sieht die „zentrale Erfahrung des Jahrhundertendes― in der „sukzessive[n] Auflösung stabiler Systeme―. 45 Die Epoche kennzeichnet ein Zerfall von Einheiten. Georg Simmel verweist in seiner im Jahr 1900 erschienenen Philosophie des Geldes auf die negative Freiheit der Geldwirtschaft, die bei allem Gewinn an individueller Freiheit auch als Loslösung von Bindungen ohne Zubewegung auf einen neuen feststehenden Eigenwert 41 Vgl. Sigmund Freud: „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse―, in: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, 5, 1917, 1-7. 42 Vgl. Friedrich Nietzsche: „Der tolle Mensch―, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, ed. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 3: Morgenröte, Idyllen aus Messina, Die fröhliche Wissenschaft, München/ Berlin u.a., DTV/ de Gruyter, 1988, 480-482 [= Die fröhliche Wissenschaft, Buch 3, Aph. 125]. 43 Hamann und Hermand: Impressionismus, op. cit., 70sqq. 44 Arthur Rimbaud: Lettres du voyant, ed. Gérald Schaeffer, Genf und Paris, Droz und Minard, 1975, 135. 45 Gotthart Wunberg: „Fin de siècle in Wien. Zum bewußtseinsgeschichtlichen Horizont von Schnitzlers Zeitgenossenschaft―, in: Text + Kritik [Arthur Schnitzler], 138/ 139, 1998, 3-23, 7. <?page no="164"?> Achim Küpper 164 und damit als Entwurzelung erscheint. 46 In seinem berühmten Text „Ein Brief― (1902), dem so genannten „Chandos-Brief―, zeigt Hugo von Hofmannsthal eine für die Zeit charakteristische Sprachkrise an, die er in ein Bild des Verfalls packt: „[D]ie abstrakten Worte […] zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze―. 47 Ein epochales Äquivalent findet die Auflösung der Zeit schließlich in dem Konzept und der künstlerischen Bewegung des Impressionismus. 48 Im Zeitalter der Photographie (siehe dazu Punkt 5), durch die die Phantome der Kontinuität und Bewegung in partikulare, zusammenhanglose Augenblicksfragmente zerlegt werden, kommt es am europäischen Jahrhundertende zu einem unübersehbaren Zerfall von Entitäten auf allen Ebenen. Kaum ein Leitwort könnte diesen Prozess besser illustrieren als dasjenige des Physikers Ernst Mach aus den „Antimetaphysischen Vorbemerkungen― zu seiner Analyse der Empfindungen von 1885, das seinerseits zum Symptom einer Epoche wurde: „Das Ich ist unrettbar―. 49 Der österreichische Schriftsteller und Kritiker Hermann Bahr, der das öffentliche Bewusstsein für die Theorien Machs erst schärfte, greift in seinem Beitrag „Das unrettbare Ich― aus dem Dialog vom Tragischen von 1904 Machs Gedanken auf: Hier habe ich ausgesprochen gefunden, was mich die ganzen drei Jahre her quält: „Das Ich ist unrettbar.― Es ist nur ein Name. Es ist nur eine Illusion. […] Es gibt nichts als Verbindungen von Farben, Tönen, Wärmen, Drücken, Räumen, Zeiten, und an diese Verknüpfungen sind Stimmungen, Gefühle und Willen gebunden. Alles ist in ewiger Veränderung. […] Es gibt aber nichts als dieses Werden. Es gibt kein Ding, das zurückbleiben würde, wenn man die Farben, Töne, Wärmen von ihm abzieht. Das Ding ist nichts außer dem Zusammenhange der Farben, Töne, Wärmen. 50 In „Impressionismus―, einem zweiten Beitrag aus dem Dialog vom Tragischen, stellt Bahr einen Zusammenhang her zwischen dieser Bewusstseinserfahrung auf der einen Seite und den spezifischen Darstellungsmitteln der impressionistischen Malerei bzw. der „Technik des Impressionismus― - der 46 Siehe Georg Simmel: Gesamtausgabe, ed. Otthein Rammstedt, Bd. 6: Philosophie des Geldes, ed. David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1989. 47 Zit. Hugo von Hofmannsthal: Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. 2: Erzählungen und Aufsätze, ed. Rudolf Hirsch, Frankfurt a.M., Fischer, 1957, 342. 48 Dies habe ich an anderer Stelle schon einmal dargelegt, vgl. dazu wie zum Folgenden Küpper: „‚Eine Fährte, die ins Dunkel läuft‘. Das Scheitern epochaler Übergänge und die Dehumanisation des Menschen: Stefan Zweigs ‚Brennendes Geheimnis‘―, op. cit. 49 Ernst Mach: „Antimetaphysische Vorbemerkungen―, in: ders.: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, 3. verm. Aufl., Jena, Gustav Fischer, 1902, 1-29, 19. 50 Hermann Bahr: „Das unrettbare Ich―, in: ders.: Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887-1904, ausgew., eingel. und erl. von Gotthart Wunberg, Stuttgart u.a., Kohlhammer, 1968, 183-192, hier 190sq. <?page no="165"?> Fin de siècle/ Jahrhundertwende: Eine Tendenzgeschichte 165 Auflösung in einzelne Segmente, in isolierte Farbflecken - auf der anderen. 51 Noch einmal fällt hier die Rede auf Machs Werk: Seine „Analyse der Empfindungen― […] ist wohl das Buch, das unser Gefühl der Welt, die Lebensstimmung der neuen Generation auf das größte ausspricht. Alle Trennungen sind hier aufgehoben, das Physikalische und das Psychologische rinnt zusammen, Element und Empfindung sind eins, das Ich löst sich auf und alles ist nur eine ewige Flut, die hier zu stocken scheint, dort eiliger fließt […]. 52 Die Verbindung mit dem Impressionismus in der Malerei - als originär französischer Bewegung (ausgehend von Édouard Manet, Claude Monet u.a.), aber auch als europäischem Phänomen - macht trotz der spezifischen Verknüpfung mit dem französischsprachigen Raum noch einmal deutlich, dass die hier beobachtete Tendenz sich nicht auf ein Gebiet und auch nicht auf einen Bereich beschränkt, sondern eine Grundhaltung und Gesamtstimmung des Jahrhundertendes repräsentiert. Eine Rückbeziehung allein auf Frankreich als Ursprungsland des Impressionismus wäre aufgrund der vielen anderen Verflechtungen kaum sinnvoll. 5 Gesellschaftliche Hintergründe: Industrialisierung und Medien(r)evolution Die literarischen wie künstlerischen Bewegungen von Jahrhundertende und Jahrhundertwende werden erst aus den gesellschaftlichen Konstellationen der Zeit verständlich. Daraus ergibt sich eine grundlegende Paradoxie: Die Literatur des Fin de siècle ist weitestgehend apolitisch, gesellschaftlich kaum interessiert, geschweige denn engagiert, aber ohne den industriellen, technischen und ökonomischen Fortschritt sowie ein entsprechendes Entwicklungsgefälle im Europa des 19. Jahrhunderts wären die ästhetizistischen Gegenbewegungen in der Kunst kaum erklärbar. Eine entscheidende Bedeutung kommt dabei gerade den jeweiligen nationalspezifischen Unterschieden zu. Auf die politischen Verhältnisse sowie auf die industriellen und ökonomischen Bedingungen der betreffenden Länder ist deshalb etwas näher einzugehen. In Frankreich schreitet der Prozess der Industrialisierung im 19. Jahrhundert langsamer voran als etwa im Deutschen Reich. Mit Beginn der Troisième République (1870-1940) setzt in Frankreich eine Zeit der inneren und äußeren Konflikte ein. Nach der Kriegsniederlage von 1870-1871 gerät Frankreich in eine prekäre Situation: Das Land verliert zusehends an wirtschaftlicher Macht, was zum Teil auch durch die hohen Reparationsforde- 51 Hermann Bahr: „Impressionismus―, in: ibid., 192-198, 196. 52 Ibid., 197. <?page no="166"?> Achim Küpper 166 rungen Deutschlands bedingt ist; nach außen steht Frankreich als eine der wenigen Republiken in Europa zunehmend isoliert da; im Inneren ist eine gewisse Verlangsamung politischer Prozesse zu beobachten; dazu wird das Land von einer Reihe von Krisen und Skandalen erschüttert, unter denen - gerade auch im Hinblick auf das deutsch-französische Verhältnis - als die wohl größte und wichtigste die Dreyfus-Affäre zu nennen ist, bei der es 1894 zur Verurteilung des französischen Hauptmanns Alfred Dreyfus wegen angeblichen Landesverrats an Deutschland kam, wobei das gesamte Gerichtsverfahren gegen den jüdischen Offizier aus dem Elsass zweifelhaft war und an ihm machtpolitische, -militaristische und scheinjuristische ebenso wie antisemitische Tendenzen in der gesellschaftlichen Organisation der Troisième République offenkundig werden (1898 klagt Émile Zola in dem Beitrag „J‘accuse… ! ―, 53 einem offenen Brief an den Präsidenten der Republik, Félix Faure, den Umstand an, dass der eigentliche Schuldige in der Affäre freigesprochen worden sei). 54 Dagegen beginnt in Deutschland eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, der weltpolitischen Macht und der äußeren Prosperität. Mit der Gründung des Deutschen Reiches und der Proklamation Wilhelms I. zum Deutschen Kaiser 1871 geht zugleich eine Phase des ökonomischen und industriellen Booms einher. Die Kehrseite dieses äußerlichen Fortschritts ist jedoch das heimliche Gefühl einer inneren Stagnation und Leere, das für das Verständnis der Literatur der Zeit entscheidend ist und das weiter unten (Punkt 6) ausführlicher zur Sprache kommt. Ähnliches gilt auch für die k. u. k. Doppelmonarchie in Österreich-Ungarn (1867-1918), die beinahe über die gesamte Dauer ihres Fortbestands unter der Regentschaft des Kaisers Franz Joseph I. stand (bis 1916). Auch die österreichisch-ungarische Donaumonarchie erlebte in diesen Jahren parallel zum soeben entstehenden Deutschen Reich eine Zeit der wirtschaftlichen und politischen Blüte, die als „Gründerzeit― oder „Gründerjahre― - bezogen auf die emporschießenden bürgerlichen Unternehmensgründer - in die Geschichte einging. Allerdings muss, was die technisch-industrielle Entwicklung im Einzelnen angeht, recht stark zwischen der Lage in Deutschland und der in Österreich-Ungarn unterschieden werden. In der Donaumonarchie verläuft der Industrialisierungsprozess langsamer und gedämmter als in Deutschland. Darin könnten auch mehr oder weniger direkte Auswirkungen auf die Literatur vermutet werden. So ist etwa der Naturalismus vor allem ein Produkt des industrialisierten Deutschland, nicht des teils ländlicher geprägten und nicht in demselben Ausmaß der Industrialisierung unterworfenen Österreich. Rolf-Peter Janz und Klaus 53 In: L’Aurore. Littéraire, artistique, sociale, 13.1.1898. 54 Zum weiteren Umfeld der Affäre etwa Julius H. Schoeps und Hermann Simon (ed.): Dreyfus und die Folgen, Berlin, Hentrich, 1995. <?page no="167"?> Fin de siècle/ Jahrhundertwende: Eine Tendenzgeschichte 167 Laermann schreiben über die literarischen Bewegungen der „Sezession― als „Abkehr von der Gründerzeit―: Daß der Bruch der Naturalisten mit den Gründerjahren radikaler ausfällt als der des „Jungen Wien―, deutet u.a. auf den historischen Vorsprung der Industrialisierung in Deutschland. Die unübersehbaren Fabrikanlagen und das Elend des großstädtischen Industrieproletariats wie die Deklassierung des Kleinbürgertums aufgrund der Kapitalkonzentration haben die Intellektuellen in Berlin früher und nachhaltiger erfahren können als in Wien, wo der technische Fortschritt langsamer vonstatten ging und kleinbetriebliche Strukturen dominierten. 55 Tatsächlich ist die Kunst der deutschsprachigen Dekadenz mit ihrer Tendenz zum Ästhetizismus als Kritik an der Wesenlosigkeit der Zeit primär - so könnte man leicht zugespitzt formulieren - ein österreichisches und erst sekundär ein deutsches Phänomen: Schon rein zeitlich stehen Autoren wie die Wiener Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal an erster Stelle. Über den „morbus Fin de siècle― sowie über das Verhältnis von Naturalismus und Dekadenz schreibt Gotthart Wunberg: Die Unfähigkeit des Zeitgenossen, sich selbst zu definieren, die Unfähigkeit, sich und seine Welt mit Sinn zu füllen, man muß sagen: die objektive Unmöglichkeit, das zu tun, dieser morbus Fin de siècle reflektiert sich in der Inhaltslosigkeit der Kunst der Zeit, speziell der Wiener. Die ist schön, aber nicht ethisch; ästhetisch organisiert, aber ohne Gehalt und Werte, die sich transportieren, auch nur wiedergeben, geschweige denn verwenden ließen. Darauf besteht sie, und das unterscheidet sie vom Naturalismus (den es in Wien übrigens bezeichnenderweise so gut wie nie gegeben hat; Naturalismus war - im deutschsprachigen Raum - eine „preußische― Angelegenheit). 56 Die unterschiedlichen nationalen Entwicklungen spielen daher eine ebenso große Rolle wie das allgemeinere Gefühl in einer ‚kranken‘ Zeit, in einem zu Ende gehenden, ‚sterbenden‘ Jahrhundert zu leben. Hinzu kommt allerdings ein anderes grenzüberschreitendes Ereignis. Die Epoche ist von einer Medienevolution geprägt, die sich zu einer ganzen Medienrevolution auswächst. Neue mediale Techniken und Kommunikationsmittel entstehen. Über das 19. Jahrhundert hin entwickelt sich die Photographie. 1840 lässt Samuel Morse den elektronischen Telegraphen patentieren. 1876 erhält Alexander Graham Bell ein Patent für das Telefon. 1877 erfindet Thomas Alva Edison den Phonographen. 1887 folgt Emile Berliner mit seinem Patent für das Grammophon. 1895 führen die Brüder 55 Rolf-Peter Janz/ Klaus Laermann: „Einleitung―, in: dies.: Arthur Schnitzler: Zur Diagnose des Wiener Bürgertums im Fin de siècle, Stuttgart, Metzler, 1977, VIII-XVII, VIII, X. 56 Gotthart Wunberg: „Fin de siècle in Wien. Zum bewußtseinsgeschichtlichen Horizont von Schnitzlers Zeitgenossenschaft―, in: Text + Kritik [Arthur Schnitzler], 138/ 139, 1998, 3-23, 15. <?page no="168"?> Achim Küpper 168 Lumière den Kinematographen vor, der bewegliche Bilder projiziert und damit das Medium Film einführt. In dieser Situation entwickelt sich das Medium Buch wie überhaupt die Printmedien insgesamt (Zeitung, Feuilleton etc.) bis zum Ende des 19. Jahrhunderts auf rasante Weise. Es kommt zu einer regelrechten Explosion des Buchmarkts, die sich wohl auch durch die neuen technischen Erfindungen in den Schriftdruckverfahren auf dem Weg zu den Massenmedien erklärt, so etwa durch die auch von Werner Faulstich angeführte „Rotationsdruckpresse von W.A. Bullock (1863), die Zeilengieß- und Setzmaschine (Linotype) von Ottmar Mergenthaler (1884), die neue Setzmaschine (Monotype) von Tolbert Lanston (1897) und die neue Zeilengußmaschine (1899).― 57 Auch der medientechnische Konnex macht deutlich, in welchem Maß die Literaturgeschichte der Zeit nicht als bi-, sondern als transkulturelles Ereignis zu betrachten und zu beschreiben ist: Die technologischen und medienhistorischen Entwicklungen wirken sich sprach- und nationalitätenübergreifend auf die Literaturen aus und sind als ein generellerer Hintergrund der Epoche mitzudenken. 6 Dekor, Ästhetizismus, Langeweile „Le bilan d‘un siècle― - unter diesem Motto fand in Paris die Weltausstellung des Jahres 1900 statt, die insgesamt fünfte in der französischen Hauptstadt. Mit dem Motto stellt dieses Ereignis, das Ernest Raynaud als ein Spektakel der Attraktionen, des Dekors und der Oberflächlichkeit, als ein pompöses und tosendes Begräbnis des ausgehenden Jahrhunderts beschreibt, 58 einen für Fin de siècle und Jahrhundertwende symbolischen Ort zu einer symbolischen Zeit dar: Das Jahr der Jahrhundertwende zieht Bilanz über das, was dort zu Ende geht. Ein Jahrhundert feiert seinen Untergang. Das Dekor stellt ein allgemeineres Merkmal der Kunst und Kultur des Fin de siècle dar. Auch in der Architektur oder in der Malerei der Zeit spiegelt sich diese Tendenz wider, als dekorative Ornamente im Jugendstil etwa. Paradoxerweise verbindet sich diese dekorative Tendenz nicht allein mit einem gesellschaftlichen Hang zur Oberflächlichkeit, sondern ebenso mit einem gegenläufigen Zug zur Innerlichkeit und Psychologisierung (siehe auch Punkt 7). 57 Vgl. zum weiteren medienhistorischen Kontext etwa Werner Faulstich: Medienwandel im Industrie- und Massenzeitalter (1830-1900), Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2004, zit. 25. 58 Siehe Raynaud: La mêlée symboliste (1870-1910), op. cit., bes. 358: „Le siècle se meurt. On lui fait de joyeuses funérailles. On l‘enterre au fracas des pétarades et des musiques de cette foire mondiale qu‘est l‘Exposition universelle―. <?page no="169"?> Fin de siècle/ Jahrhundertwende: Eine Tendenzgeschichte 169 Die Epoche von Fin de siècle und Jahrhundertwende erscheint zugleich als das große Zeitalter der Langeweile. In Zusammenhang damit steht das Zeitgefühl einer gesellschaftlichen Stagnation und Ereignislosigkeit, das insbesondere vor dem Hintergrund der industriellen und politischen Entwicklungen im neu gegründeten Deutschen Reich paradox anmutet. Es ist die Hochblüte des westeuropäischen Imperialismus. Eine auf koloniale Ausweitung und innereuropäische Machtsicherung bedachte Außenpolitik verbindet sich mit einer vor allem auf Kontinuität und die Erhaltung bestehender Verhältnisse zielende Innenpolitik. In demselben Maße verstärkt sich im Bereich von Literatur und Kunst der ästhetische Rückzug in die Innerlichkeit. Dies gilt nicht nur, aber im Besonderen auch für das neu entstandene Deutsche Reich: „Je mehr sich das wilhelminische Reich einem aggressiven Imperialismus zuwendet, um so seelenhafter wird die Stimmung im künstlerischen Innenbereich―, wodurch der „gründerzeitliche Ichkult― in der Trivialnachfolge Nietzsches als „aristokratische― Innerlichkeit schließlich „auf eine geheime Weise mit den imperialistischen Neigungen dieser Epoche verbunden ist―. 59 Dabei sind auch die Repräsentationsformen von Politik und Öffentlichkeit streng geregelt, militärisch hierarchisiert, ritualisiert, das öffentliche Auftreten ist damit gleichfalls auf die Inszenierung von Ordnung und Stabilität hin ausgerichtet. Insgesamt schafft dies ein Klima scheinbarer Sicherheit und Gleichmäßigkeit in einer Gesellschaft, die - zumindest nach außen hin, an der Oberfläche - von traditionellen Vorstellungen und einem konservativen Moral- und Wertekodex geprägt ist. Doch diese Ruhe ist in höchstem Maße trügerisch. Sowohl in weltpolitischer als auch in gesellschaftlichmoralischer Hinsicht hat unter der Oberfläche ein Auflösungsprozess eingesetzt. Auf weltpolitischer Ebene bereiten sich Dinge vor, die von historischen Ausmaßen sind und die letztlich zu dem Großereignis führen werden, das als Erster Weltkrieg in die Geschichtsbücher eingegangen ist und das schließlich alles dekandente Spiel, alle Prunksucht, alle Verliebtheit in den Glanz des eigenen Untergangs und das ästhetische Dekor ein für alle Mal als Tändeleien von der Bühne des gesellschaftspolitischen wie des kulturellen Geschehens fegen wird. Auf gesellschaftlich-moralischer Ebene hat der „Verfall―, für den die „Dekadenz― ja immerhin auch wörtlich steht, im Inneren schon begonnen, bevor es zur offen ausgetragenen Barbarei und Bestialität des Krieges kommt. Die Gesellschaften des Fin de siècle sind von einer tiefen Doppelmoral geprägt, die auf dem Gebiet der Sexualität als „Parallelität von Tabuisie- 59 Hamann und Hermand: Impressionismus, op. cit., 20, 25. <?page no="170"?> Achim Küpper 170 rung und Schrankenlosigkeit― 60 prägend für die gesamte Epoche war: Nach außen hin, an der Oberfläche des gesellschaftlichen Lebens herrscht ein rigider, traditionell-konservativer Werte- und Verhaltenskodex, der dem Einzelnen kaum Ausbrüche aus den festgefügten sozialen Rollen wie aus den vorgeschriebenen Benehmensmustern zugesteht; unterhalb der Oberfläche aber, jenseits der gesellschaftlichen Maskerade, herrschen die Triebhaftigkeit, Rastlosigkeit, Unverbindlichkeit und „Animalität―, die genereller eine Epoche bezeichnen, deren „Dekadenz hier nicht etwa als moralisches Werturteil missverstanden werden darf, sondern als Diagnose und Zeichen der Zeit zu deuten ist. Jahrhundertende und Jahrhundertwende sind von einem tiefen Widerspruch zwischen moralischem Schein im Oberbau der Gesellschaft und „unmoralischer― oder amoralischer Getriebenheit in ihrem Unterbau, in den psychologischen Verästelungen und dem pulsierenden Nervensystem ihrer Tiefenstruktur gezeichnet. 7 Chroniken der Korrosion: Der Blick ins Innere All dies spiegelt sich indirekt auch in der Literatur der Epoche wider. Im deutschsprachigen Raum ist allen voran der Wiener Arthur Schnitzler derjenige, der die gesellschaftlichen Zwänge und Unfreiheiten dekuvriert und darunter die Nervensysteme der Zeit freigelegt hat. Die berühmte Novelle Leutnant Gustl (1900) führt die Absurdität des militärischen Ehrenkodex und der Gefangenheit des Menschen in festgefahrenen Gesellschaftsmustern als Zeitphänomene vor Augen. Der Text ist auch in Hinblick auf die Erzählperspektive relevant: Er ist in der Form des inneren Monologs gehalten und führt damit ein neues Erzählverfahren in die deutschsprachige Literaturgeschichte ein, nach dem die Darstellung möglichst unmittelbar die Gedanken und Empfindungen der Hauptperson aus der Innensicht wiederzugeben versucht, also quasi einen direkten Blick in das Innenleben der Figur wirft. Dieses literarische Verfahren hat seinen Ursprung im französischsprachigen Raum: Bereits Édouard Dujardins 1887 veröffentlichte Novelle Les lauriers sont coupés ist von einem solchen inneren Monolog geprägt und kann damit als Prototyp eines Verfahrens angesehen werden, das später - bei Virginia Woolf etwa - auch als ‚Stream of consciousness‘ bekannt wurde. Als eine wesentliche Neuerung des Fin de siècle ist der innere Monolog allgemeiner bezeichnend für eine Epoche, die eine starke Fokussierung auf das Interieur, eine Konzentration auf das Innenleben, ein ausgeprägtes Interesse nicht nur am Wohnungsinnenraum, an Möbeln, Einrichtungsgegenständen des häuslichen Interieurs, sondern auch am Innern des Menschen, an der Psychologie 60 Rainer Metzger: „Wien um 1900. Die Dauer der Dementis―, in: Christian Brandstätter (ed.): Wien 1900. Kunst und Kultur. Fokus der europäischen Moderne, München, DTV, 2005, 19-32, 29. <?page no="171"?> Fin de siècle/ Jahrhundertwende: Eine Tendenzgeschichte 171 und der neu aufkommenden Psychoanalyse entwickelte (noch einmal ist hier an Sigmund Freuds Traumdeutung mit dem symbolischen Erscheinungsjahr 1900 zu erinnern). Die Tendenz zur Verinnerlichung und zur Psychologisierung wird zu einem weiteren wichtigen Kennzeichen des Fin de siècle. Dies ist auch vor dem Hintergrund des Konfliktes zwischen äußerer Moral- und Wertefassade einerseits und innerer Trieb- und Nervenwelt andererseits zu sehen. In Leutnant Gustl gelingt es Schnitzler, die krisenhaften Vorgänge im Inneren einer Figur zu beleuchten, die in den äußeren Kategorien der Dekadenzgesellschaft gefangen bleibt und nicht aus den verkrusteten Verhaltenswie Denkmustern auszubrechen vermag. 8 Literatur und Libido Die verborgene oder verdrängte Sexualität der Dekadenz bildet den Kern einer späten Novelle Arthur Schnitzlers, der Traumnovelle (1925), die ebenfalls zu seinen bekanntesten gehört und deren Handlung in jüngerer Zeit auch durch die filmische Bearbeitung von Stanley Kubrick in Eyes Wide Shut (1999) weltberühmt wurde, worin sich zugleich ein überzeitlicher Charakter der Thematik andeutet. Auch in seinen Dramen hat Schnitzler die sexuelle Substanz und die Getriebenheit der Zeit zur Anschauung gebracht, am prominentesten in seinem Einakterzyklus Anatol (1893) und dem 1903 erschienenen, aber erst 1920 uraufgeführten Bühnenstück Reigen, das in zehn Einzeldialogen um die rastlose Verkettung wie um die natürliche Ereignislosigkeit des sexuellen Aktes kreist und damit den animalischen Grundgehalt einer moralischen Ordnung vor Augen führt. Das Stück provozierte einen der größten Theaterskandale der jüngeren Geschichte; in dem Prozess um das „Saustück― des Juden Schnitzler kreuzen sich zugleich scheinethisch-sittenpflegende und antisemitische Vehemenz. Ein weiteres prominentes Beispiel für die Verflechtung von Literatur und Libido im deutschsprachigen Fin de siècle wäre das Werk Frank Wedekinds, etwa seine „Kindertragödie― Frühlings Erwachen (1891), die Elemente sexueller Neugier inszeniert. Ohne jeden Zweifel hat die offenere Darstellung erotischer Sujets und Komponenten ihre Vorgänger auch in der französischsprachigen Literatur. Neben Baudelaire, Huysmans oder auch dem in Gent geborenen Pierre Louÿs wäre in diesem Zusammenhang vor allem Jules Barbey d‘Aurevilly zu nennen, etwa mit seiner berühmten Novellensammlung Les diaboliques (1874). Ein konkreter intertextueller Bezug besteht zwischen Georges Feydeaus 1908 uraufgeführtem Bühnenstück Occupe-toi d’Amélie und Stefan Zweigs Novelle Angst (1913), die die situativen Ängste einer Ehebrecherin beschreibt und ein spätes Enthüllungszeugnis bürgerlicher Moral und ihrer <?page no="172"?> Achim Küpper 172 Zwänge in der Gesellschaft der Jahrhundertwende ist: Wie Jean-Paul Bier aufzeigt, liegt bei Zweig eine deutliche „Anspielung― auf Feydeaus Stück vor. 61 Allerdings lässt sich von Zweigs Text gleichzeitig ein Bezug zu Schnitzlers Ehebruchsnovelle Die Toten schweigen (1897) herstellen. 62 Diese wiederum weist ihrerseits auffällige Flaubertsche Motive auf und rekurriert mit der Geschichte der Hauptfigur Emma insgesamt auf die berühmte Madame Bovary (1856/ 1857). 63 Die Bezüge und Beziehungen sind also abermals komplex und nicht auf einseitige Linearitäten zu reduzieren. 9 Episierung / Lyrisierung des Dramas, Theatralisierung der Narration: Gattungsverhältnisse in Fin de siècle und Jahrhundertwende Literaturhistorisch bedeutsam ist die im Theater von Jahrhundertende und Jahrhundertwende festzustellende Tendenz zur Entdramatisierung. Wie von Peter Szondi 64 und anderen 65 beschrieben wurde, erfährt das Drama gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen sehr tiefgreifenden Wandel. Etwa ab 1880 treten am gesamteuropäischen Drama Züge hervor, die dem eigentlich dramatischen Charakter zuwiderlaufen und als Entdramatisierung bzw. als Episierung des Dramas bezeichnet werden können. Folgende Kennzeichen lassen sich insgesamt beobachten: Hang zur Reduktion bis hin zur Einaktigkeit, Schwinden des zwischenmenschlichen Bezugs, Isolation und Vereinzelung der Figuren, Dialogverknappung, Absage an Handlung und Intrige, Statik, Auflösung der Zielgerichtetheit des Stücks, strukturelle Fragmentierung, Zug zum Situativen (Ersetzung der zwischenmenschlichen Aktion durch Situation) usw. Prominente Vertreter dieses neuen, modernen Dramas sind, abgesehen von dem Norweger Henrik Ibsen, dem Russen Anton Tschechow und dem Schweden August Strindberg, im französischsprachigen und deutschsprachigen Raum insbesondere der Belgier Maurice Maeterlinck, vor allem mit 61 Jean-Paul Bier: „Stefan Zweig: Angst―, in: Erzählungen des 20. Jahrhunderts [ohne ed.], Bd. 1, Stuttgart, Reclam, 1996, 160-177, 176. 62 Siehe dazu Bruce Thompson: „Two Adulteresses in Vienna. Stefan Zweig‘s Angst and Schnitzler‘s Die Toten schweigen―, in: Modern Austrian Literature, 32.2, 1999, 1-14. 63 Vgl. dazu Barbara Surowska: „Flaubertsche Motive in Schnitzlers Novelle ‚Die Toten schweigen‘―, in: Orbis Litterarum, 40, 1985, 372-379. 64 Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas. 1880-1950, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1963 [zuerst 1956]. 65 Marianne Kesting: Das epische Theater. Zur Struktur des modernen Dramas, Stuttgart, Kohlhammer, 1959; Fritz Martini: „Soziale Thematik und Formwandlungen des Dramas―, in: Reinhold Grimm (ed.): Episches Theater, Köln u.a., Kiepenheuer & Witsch, 1966, 246-278; auch Peter Haida: Komödie um 1900. Wandlungen des Gattungsschemas von Hauptmann bis Sternheim, München, Fink, 1973. <?page no="173"?> Fin de siècle/ Jahrhundertwende: Eine Tendenzgeschichte 173 den einaktigen „Drames statiques― Les Aveugles (1890), L’Intruse (1890) oder L’Intérieur (1895), sowie - neben Arthur Schnitzler etwa mit dem bereits genannten Anatol-Zyklus - vor allem auch der Wiener Hugo von Hofmannsthal, beispielsweise mit dem Dramenfragment Der Tod des Tizian (1892) oder dem Stück Der Tor und der Tod (1894), an deren bloßen Titeln zudem noch einmal die thematische Herrschaft des Todes in der Literatur des Fin de siècle offensichtlich wird. Mit den letzten Beispielen ist aber bereits ein anderer großer Bereich in der Literatur des europäischen Jahrhundertendes betreten, nämlich derjenige des lyrischen Dramas, der demjenigen des epischen oder episierten Dramas folgt, aber auch manigfache Überschneidungen mit ihm aufweist. In seiner Vorlesung Das lyrische Drama des Fin de siècle beschreibt Peter Szondi diese Gattung aus dem „Spannungsverhältnis zu den Gesetzen der dramatischen Form― heraus, „einer Form, die noch das lyrische Drama intendiert, obwohl es sich ihrem Scheitern verdankt―, sodass „das lyrische Drama wesentlich als Reaktion auf das Drama oder auf die Schwierigkeiten des Dramas seiner Zeit zu begreifen ist.― 66 Das lyrische Drama des Fin de siècle „verlegt […] die Entwicklung aus der Handlung ins Innere des Menschen, dessen Gefühlsregungen, Impressionen die Literatur dieser Zeit genauer wiedergeben möchte als es in früheren Epochen geschah.― 67 Dies ist auch im Zusammenhang mit den bereits besprochenen Tendenzen zur Verinnerlichung, zur Introspektion, zur Psychologisierung und dem Interesse am Intérieur zu betrachten, wie sie genereller charakteristisch für die Epoche sind. Als großes Paradigma des lyrischen Dramas des Fin de siècle bespricht Szondi an erster Stelle Stéphane Mallarmés bereits ab dem Herbst 1864 entstandene Dramenfragmente Hérodiade, die den Auftakt dieser Gattung im Jahrhundertende bilden. Am Beginn steht also das französische Exempel, erst später folgen mit Hofmannsthals lyrischen Dramen - neben den oben schon genannten u.a. auch das frühe Drama Gestern (1891) - Beispiele aus dem deutschen Sprachraum; hinzu kommen weitere Werke aus der französischsprachigen Literatur, so Henri de Régniers dramatisches Gedicht La Gardienne (publ. 1892) oder Maeterlincks frühe Dramen. Die Entwicklungsrichtung scheint zunächst also klar zu sein: Der Impuls geht offenbar von der französischen Literatur aus. Doch ganz so einfach ist der Fall in Wahrheit wieder nicht, das Beziehungsgeflecht ist im Grunde wesentlich komplexer, wie auch bereits aus Szondis Ausführungen hervorgeht. Denn einerseits lassen sich ebenfalls Verbindungen innerhalb der deutschsprachigen Literatur herstellen - so der Verweis etwa von Hof- 66 Peter Szondi: Das lyrische Drama des Fin de siècle, Ed. Henriette Beese, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1975, 19, 21. 67 Ibid., 21. <?page no="174"?> Achim Küpper 174 mannsthal auf Nikolaus Lenau, der, wie bereits in Bezug auf die Todesthematik (Punkt 3), im lyrisch-dramatischen Bereich abermals als Referenzfigur erscheint 68 -, andererseits „entsteht das lyrische Drama des Symbolismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts― - und darin folgt Szondi zugleich Friedrich Wilhelm Wodtke - „aus dem Gegensatz zu den naturalistischen Milieudramen im Rückgriff auf die lyrischen Dramen der deutschen, englischen und französischen Romantik.― 69 Hier gilt mithin im Einzelnen ein ähnlicher Befund wie für dieses Kapitel insgesamt: Eine einfache Entwicklungslinie ist nicht herzustellen, obwohl die Verhältnisse zunächst recht klar wirken und der französische auf den deutschen Sprachraum auszustrahlen scheint, kann von einem Transfer im eigentlichen Sinne nicht gesprochen werden, zu verflochten sind die Bezüge und Beziehungen (etwa mit der europäischen Romantik), zu vielseitig die Einflussnahmen, zu komplex die historische wie kulturelle Verwachsenheit. Die hier beschriebene Krise der dramatischen Form jedenfalls - so viel lässt sich festhalten - wirkt sich in Fin de siècle und Jahrhundertwende in zwei verschiedene Richtungen aus: Auf der einen Seite tendiert das Drama zur Episierung, auf der anderen zur Lyrisierung; die Dramatik verharrt sozusagen nicht mehr in der eigenen Form, da diese problematisch geworden ist, sondern bewegt sich auf die beiden anderen Literaturgattungen, die Epik und die Lyrik, zu. Dies ist ein wesentliches Kennzeichen der behandelten Zeit, und zwar ein erneut sprachen- und kulturenübergreifendes. Umgekehrt lassen sich jedoch speziell in der Literatur des Fin de siècle und der Jahrhundertwende ebenso Tendenzen ausmachen, die auf eine Theatralisierung der narrativen Formen zielen. Hier ist also die Umkehrbewegung zu beobachten: Neben der Episierung und Lyrisierung des Dramas der Zeit findet zugleich eine Dramatisierung bzw. Theatralisierung der ‚epischen‘ Gattungen, d.h. des Romans und der Erzählung, statt. Zu den Merkmalen dieser Theatralisierung der erzählerischen Formen gehören u.a. der Einsatz spezifisch theatraler Mittel in Erzählung und Roman, die häufigere Verwendung von direkter Rede, monologischen oder dialogischen Partien, die Bühnenhaftigkeit der Figurendarstellung, der Figurenauftritte oder Figurenrede, die Plastizität des Schauplatzes, eine szenische Erzählabfolge, Licht- und Raumregie sowie auch genereller das Problem der Inszeniertheit des Erzählens, der „Performativität―, der Konstruiertheit von Handlungen, Äußerungen, Gesten, der Produziertheit des kulturellen Geschehens in seiner narrativen Vermittlung, usw. Dieser Zug zur Theatralisierung der Narration um 1900 ist weit weniger prominent und weit weniger extensiv behandelt worden als die Episierung des Dramas; überdies lassen sich wohl nicht nur um 1900, sondern auch zu anderen Zeiten Tendenzen zur Theatra- 68 Siehe dazu ibid., 19. 69 Ibid., 21. <?page no="175"?> Fin de siècle/ Jahrhundertwende: Eine Tendenzgeschichte 175 lisierung der Narration beobachten, etwa um die Jahrhundertwende 1800. 70 Doch eine Fokussierung des Fin de siècle unter diesem Gesichtspunkt liefert recht deutliche Befunde dafür, dass die deutschsprachige Literatur der Zeit so etwas wie einen Verdichtungsraum theatralisierender Tendenzen in den erzählenden Formen darstellt, so unter anderem bei Arthur Schnitzler, beim frühen Heinrich Mann (der ebenfalls in das breitere Umfeld der Jahrhundertwende-Literatur, wenn auch unter gleichzeitiger Distanznahme, einzubeziehen ist 71 ) oder auch bei Thomas Mann. 72 Allerdings ist auch dies kein rein deutschsprachiges Phänomen. Im Horizont einer deutsch-französischen Literaturgeschichte ließe sich beispielsweise auf den Roman Bruges-la-Morte (1892) des Belgiers Georges Rodenbach verweisen, an dem deutliche dramatisch-theatrale Muster nachzuweisen sind 73 und der möglicherweise auf einen Roman wie Heinrich Manns Professor Unrat (1905), der sich an der Scharnierstelle von Dekadenz und politischem Aktivismus im Wirken des Autors ansiedelt, intertextuell ausgestrahlt hat. 74 Die Überschreitung und Durchdringung literarischer Gattungsgrenzen ist ein wichtiges Gesamtphänomen von Fin de siècle und Jahrhundertwende. Dabei vollzieht sich diese Bewegung offenbar in beide Richtungen: von der Dramatik hin zur Episierung bzw. Lyrisierung sowie umgekehrt auch von der Narration hin zur Theatralisierung. Genereller zeugt dieses Phänomen nicht nur von einem komplexeren Verhältnis literarischer Gattungen zueinander, sondern darin wohl auch von einem problematischeren Verhältnis des Individuellen zum Gesamten, des Einzelnen zur Gattung, des Ich zur Welt. Das Phänomen ist - als eine weitaus allgemeinere Zeittendenz - weder auf ein bilinguales oder bikulturelles Modell noch auf eine einzelne Impulsrichtung zu beschränken. Eine zusätzliche Erklärung für eine Theatralisierung der Narration bestünde schließlich - gerade in der Zusammenschau der beiden Bewegungen - in einer möglichen Verlagerung des theatralen „Bedürfnisses― in den nar- 70 Vgl. dazu Martin Huber: Der Text als Bühne. Theatrales Erzählen um 1800, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2003. 71 Vgl. Hans Richard Brittnacher: „Artistik und Zynismus der Dekadenz - Heinrich Mann als Autor des Fin de siècle―, in: Johannes G. Pankau (ed.): Fin de Siècle. Epoche Ŕ Autoren Ŕ Werke, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2013, 107-124. 72 Siehe dazu die Beiträge in Achim Küpper (ed.): Theatralisches Erzählen um 1900. Narrative Inszenierungsweisen der Jahrhundertwende [= Germanistische Mitteilungen 37.1], Heidelberg, Winter, 2011; sowie auch die Einleitung zu dem Band (Achim Küpper: „Einleitung. Zum theatralischen Erzählen um 1900―, in: ibid., 5-19). 73 Vgl. Hans Hinterhäuser: „Tote Städte―, in: ders.: Fin de siècle. Gestalten und Mythen, München, Fink, 1977, 45-76, 47-50. 74 Siehe zu einem intertextuellen Bezug zwischen Rodenbachs und Manns Roman Achim Küpper: „Professor Unrat oder ‚Die Komödie der Dinge‘. Gesellschaft und Theatralität in Heinrich Manns Roman über die Diktatur der Inszenierungen―, in: Küpper (ed.): Theatralisches Erzählen um 1900, op. cit., 73-91, v.a. 86-89. <?page no="176"?> Achim Küpper 176 rativen Raum, nachdem das Drama diesem keinen eigentlichen Ort mehr bietet. 10 Der städtische Raum und die Flaneure Die andere, komplementäre Seite der oben dargestellten libidinösen „Getriebenheit―, des ruhelosen Reigens sexueller Verkettungen, bildet die ebenso ruhelose Bewegung des Flanierens durch den urbanen Raum, die der Décadent in der Figur des Dandy prototypisch vollzieht. Tatsächlich wird die Stadt zum Hauptschauplatz des Fin de siècle. Mehr noch als für die deutschsprachige gilt dies für die französischsprachige Literatur. Zwar streift auch noch die Titelfigur von Rainer Maria Rilkes Roman Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910), einem Nachwerk der Jahrhundertwende, durch den großstädtischen Raum und gibt fragmentierte Eindrücke oder Impressionen der technisierten und anonymisierten Welt von Paris im Fin de siècle wieder. Doch handelt es sich dabei bezeichnenderweise eben nicht um einen deutschsprachigen Ort, sondern um die französische Hauptstadt. Zudem bleibt die Stadt hier stets in einer gewissen Distanz zum Beobachter. Gerade in der Gleichzeitigkeit von erfahrener Nähe und erlebter Distanz liegt dabei ein übergreifendes Charakteristikum des Verhältnisses vom Ich zur Stadt im Fin de siècle. Das Urbild einer literarischen Begegnung mit der Großstadt ist zweifelsohne in der Lyrik Charles Baudelaires zu finden, der auch hierin als Vorreiter und als Referenzpunkt des Symbolismus und der Dekadenz erscheint. Das Gedicht Les sept vieillards aus seinen Tableaux parisiens (Les fleurs du mal, 1857) etwa hebt mit der folgenden Strophe über den Großstadtraum Paris an: Fourmillante cité, cité pleine de rêves, Où le spectre en plein jour raccroche le passant ! Les mystères partout coulent comme des sèves Dans les canaux étroits du colosse puissant. 75 Diese neue Art der Stadtwahrnehmung hat Walter Benjamin in seinen berühmten Baudelaire-Studien in Zusammenhang gebracht mit der Mechanik und Automation in der industrialisierten Arbeitswelt wie mit dem modernen „Chockerlebnis, das der Passant in der Menge hat―. 76 Die im Laufe des 19. Jahrhunderts stetig wachsende Urbanisierung stellt zwar in gewisser Weise eine zentripetale Kraft dar, weil sie Menschen in 75 Charles Baudelaire: „Les sept vieillards―, in: Œuvres complètes, Bd. 1, ed. Claude Pichois, Paris, Gallimard, 1975, 87sq., 87. 76 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, Bd. 1.2, ed. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1974, 632. <?page no="177"?> Fin de siècle/ Jahrhundertwende: Eine Tendenzgeschichte 177 Ballungszentren konzentriert, aber die neu entstandenen Städte sind großenteils heterogene, kernlose Räume der Anonymität, der Säkularität und der Auflösung in der Masse. Auch darin wäre die gesellschaftliche Entwicklung - noch einmal - der formalen Auflösung des Impressionismus in der Kunst vergleichbar. Die Städte versammeln Personen mit ähnlichen Aufgaben und ähnlichen Zielen, aber der Mensch ist aus dem großen Zusammenhang gelöst. Das Individuum verschwindet in der Masse und wird immer deutlicher zum bloß partikularen Funktionsträger: Durch die Errungenschaften der Technik und der Industrie, durch die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt und in der Kapitalverwaltung, durch die zunehmende Arbeitsteilung, durch die Spezialisierung der Aufgabenbereiche und die Automatisierung von Fabrikationsprozessen werden die Arbeitskräfte in den großen Unternehmen immer mehr aus dem Gesamtzusammenhang herausgelöst und auf Teilfunktionen reduziert. Die Segmentierung der Arbeitswelt bewirkt eine Isolierung des Einzelnen, der nicht mehr an der Entstehung des Gesamtproduktes, sondern lediglich an Teiletappen des Herstellungsvorgangs beteiligt ist. Wie bereits bei Baudelaire bildet die im Zuge der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts angewachsene Großstadt einerseits den Hintergrund und den Erfahrungsraum der Literatur des Fin de siècle und der Jahrhundertwende, andererseits wird hierbei jedoch stets eine gewisse Distanz zur Stadt an sich gewahrt. Der Dandy und der Flaneur nehmen keineswegs aktiv am Stadtleben oder am Alltag ihrer Bewohner teil, sondern treten als zynischkühle, distanzierte, oft desillusionierte Beobachter ihrer Umwelt auf. Dementsprechend haftet auch dem Stadtbild etwas Entrücktes oder Entferntes, etwas Verschwommenes, Nebulöses an. So etwa erscheint die beschauliche Stadt Brügge in dem bereits erwähnten Roman Bruges-la-Morte von Georges Rodenbach als ein wie durch Nebel verschleierter, toter Ort, der zugleich so etwas wie die Titelfigur des Romans und einen eher kleinstädtischen Flucht- und Rückzugsraum für seinen Protagonisten Hugues Viane darstellt. Auch in Joris-Karl Huysmans paradigmatischem Décadence-Roman À rebours (1884) bleibt die Großstadt zwar da, aber auf Distanz. Die Hauptfigur des Esseintes richtet sich - wie in der vorangestellten „Notice― zum Roman ausdrücklich und sehr umständlich berichtet wird - in einem abgelegenen Pariser Vorort ein, der weit genug entfernt ist, um dort Verlassenheit und Einsamkeit zu finden, aber wiederum nah genug, um die Hauptstadt doch erreichen zu können. 77 Diese paradox anmutende Gleichzeitigkeit von Nähe 77 Vgl. Joris-Karl Huysmans: À rebours, ed. Daniel Grojnowski, Paris, Flammarion, 2004, 46: „Il fouilla les environs de la capitale, et découvrit une bicoque à vendre, en haut de Fontenay-aux-Roses, dans un endroit écarté, sans voisins, près du fort : son rêve était exaucé ; dans ce pays peu ravagé par les Parisiens, il était certain d‘être à l‘abri […]. En songeant à la nouvelle existence qu‘il voulait organiser, il éprouvait une allégresse d‘autant plus vive qu‘il se voyait retiré assez loin déjà, sur la berge, pour que le flot de <?page no="178"?> Achim Küpper 178 und Distanz der Großstadt ist tatsächlich symptomatisch für die Literatur des Fin de siècle. Die industrialisierte Stadt ist der Erfahrungsraum, ohne den auch die literarische Produktion kaum erklärbar wäre, doch ist die Industrielandschaft nicht direkt gegenwärtig, sondern nur als ein indirektes, teils ästhetisiertes Abbild. In dieser Hinsicht könnte eine Differenzierung zwischen „Erfahrungsraum― und „Erlebnisraum― sinnvoll sein: Als Erfahrungsraum steht die (Groß-)Stadt tatsächlich im Hintergrund der Werke; als Erlebnisraum dagegen müsste sie im Sinne eines Aktions- und Interaktionsschauplatzes im Handlungsvordergrund präsent sein, das ist jedoch kaum der Fall. Diese Disposition unterscheidet die Strömung zugleich noch einmal vom Naturalismus. 11 Die neue Einsamkeit und die Suche nach Gemeinschaft Ein quasi internationales, kultur- und sprachenübergreifendes Phänomen von Jahrhundertende und Jahrhundertwende ist das Erscheinen eines neuen Einsamkeitsgefühls, das auch die französisch- und deutschsprachige Literatur der Zeit verbindet. Walther Rehm beobachtet in „Der Dichter und die neue Einsamkeit―, einem seiner Aufsätze zur Literatur um 1900, dass zum Ende des 19. Jahrhunderts hin ein neues Einsamkeitsempfinden unter den Dichtern und in der Literatur entsteht: 78 Wo vorher das Alleinsein als wohltuend und als Einkehr gesucht wurde und völlige Einsamkeit eigentlich nicht möglich war, da sie sich immer schon im Zwiegespräch mit Gott auflöste, da ist nach dem Individualitätsstreben und dem Ichkult der romantischen Epoche mit ihrer Suche nach dem großen, schöpferischen Genie als Einzelnem und Einzigem der Zusammenhang mit dem Göttlichen zerrissen, indem sich der menschliche vom göttlichen Schöpfer emanzipiert hat, und da hat das Alleinsein plötzlich eine neue, fürchterliche Qualität erhalten. Es ist der qualvolle Rückzug des schöpferischen Individuums in einen leeren Kosmos der Größe und der Einsamkeit. Die neue Dichtergeneration steht frei schaffend unter einem verlassenen Himmel, keine göttliche Geborgenheit trennt sie mehr von dem allgegenwärtigen Tod. Es ist, wie Oskar Seidlin mit Blick auf Arthur Schnitzler schreibt, „ein Geschlecht, so gründlich ‚befreit‘ und emanzipiert, daß keine Bindung ihm mehr Halt geben kann, eine Menschheit, über der ‚kein Gott mehr wacht‘.― 79 Paris ne l‘atteignît plus et assez près cependant pour que cette proximité de la capitale le confirmât dans sa solitude―. 78 Vgl. Walther Rehm: „Der Dichter und die neue Einsamkeit―, in: ders.: Der Dichter und die neue Einsamkeit. Aufsätze zur Literatur um 1900, Ed. Reinhardt Habel, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1969, 7-33. 79 Oskar Seidlin: „Einleitung―, in: ders. (ed.): Der Briefwechsel Arthur Schnitzler Ŕ Otto Brahm, Berlin, Selbstverlag der Gesellschaft für Theatergeschichte, 1953, 9-32, 32. <?page no="179"?> Fin de siècle/ Jahrhundertwende: Eine Tendenzgeschichte 179 Walter Rehm sieht dieses neue Einsamkeitsgefühl im Grunde bereits bei Petrarca vorgebildet und bezieht es in der Folge auf eine Reihe europäischer Dichter: Der „oft selbstquälerische Genuß der Einsamkeit, dem sich der moderne egoistisch-ästhetische Künstlermensch hingibt―, ist für ihn ebenso bereits „bei Stendhal― wie „bei Leopardi, bei Gautier, Flaubert, Baudelaire, Verlaine, Huysmans, Barrès, Wilde, d‘Annunzio― zu entdecken; die neue Einsamkeit erscheint als übergreifendes Charakteristikum des Jahrhundertendes. 80 Dieses neue Einsamkeitserlebnis findet sich schon bei Richard Wagner, der zum gemeinsamen Referenzpunkt sämtlicher Dekadenzströmungen wird. Über Wagners moderne, tragische Romantik (Romantik im musikalischen Sinne) und ihren stillen Grundton, die Einsamkeit, schreibt Paul Arthur Loos: „Es ist die Tragik Wagners, die Tragik darüberhinaus des modernen Künstlers, der zwangsläufig auf sich selbst zurückgewiesen wird, je mehr er danach strebt, den verlorenen Zusammenhang mit dem ‚Ganzen‘ zurückzugewinnen―. 81 Als ein prototypisches Beispiel für das Einsamkeitserlebnis des Jahrhundertendes lässt sich im Bereich der musikalischen Romantik etwa die F.A.E.- Sonate aus dem Jahr 1853 nennen, die Robert Schumann, Johannes Brahms und Schumanns Schüler Albert Dietrich gemeinsam für den Violinisten Joseph Joachim komponiert haben und die für die hier behandelte Thematik antizipierenden Stellenwert gewinnt. Die Sonate basiert auf dem titelgebenden musikalischen Grundthema der Notenfolge F, A und E. Dieses Schema strukturiert das gesamte Stück. Zugleich ist in den Titel ein in diesem Zusammenhang bedeutsames Kryptogramm mit eingeschrieben. In dem Kürzel F.A.E. spiegeln sich nämlich gleichzeitig die Initialen eines Leitsatzes wider, den Joseph Joachim zu seinem persönlichen Lebensmotto auserkoren hatte und der ebenso zur Leitidee der Sonate wie zur Losung der Epoche wird: F.A.E. steht auch für das Motto „Frei aber einsam― als Grundgedanken des Stücks wie genereller auch des Schaffens und Wirkens der Künstler. Möglicherweise könnte eine Art von Gegenbewegung angesichts dieser Vereinsamungstendenzen in der um die Jahrhundertwende auflebenden Kultur der Künstlerzusammenschlüsse, -gemeinschaften und -treffen gesehen werden, die für das europäische Fin de siècle überhaupt prägend sind. So erleben die Kaffeehauskultur und die so genannte Kaffeehausliteratur eine Hochblüte in der Moderne um 1900, insbesondere der österreichischungarischen und speziell der Wiener. Besonders berühmt wird hierfür etwa Peter Altenberg, der seine Texte hauptsächlich am Kaffeehaustisch in Gegenwart anderer Schriftsteller, Künstler und Intellektueller der Zeit verfasst. 80 Rehm: „Der Dichter und die neue Einsamkeit―, op. cit., 18. 81 Paul Arthur Loos: Richard Wagner. Vollendung und Tragik der deutschen Romantik, Bern und München, Lehnenen, 1952, 57. <?page no="180"?> Achim Küpper 180 Insgesamt scheint es, als werde in der Gemeinschaft mit anderen Künstlern auch ein mögliches Gegenmittel gegen die neue Einsamkeit des modernen Schaffenden gesucht. In einem ganz ähnlichen Licht ließen sich auch die Künstlergruppierungen der Zeit betrachten. So wäre an prominenter Stelle etwa an die Dichter im Umkreis Stefan Georges, den bekannten George- Kreis zu denken, der ebenfalls eine Art von künstlerischer Gemeinschaft herstellt, der aber in seinen späteren Vertretern zugleich über das vorliegende Kapitel bereits hinausweist. 82 Weiterführende Literatur Brogniez Laurence: Préraphaélisme et symbolisme: peinture littéraire et image poétique, Paris, Champion, 2003. Corbineau-Hoffmann Angelika/ Gier Albert (ed.): Aspekte der Literatur des fin-de-siècle in der Romania, Tübingen, Niemeyer, 1983. Didier Sophie/ Garcin Étienne: Le symbolisme, Paris, Ellipses, 2000. 82 Mit seinen prägenden Paris-Aufenthalten in den Jahren zwischen 1889 und 1892 und seinen Übertragungen aus Baudelaires Fleurs du mal ins Deutsche (Blumen des Bösen, publ. 1901 mit dem Untertitel Umdichtungen) kann George selbst dabei als ein letztes Beispiel literarischer Vermittlung zwischen Symbolismus/ Décadence in Frankreich und deutscher Dichtung der Jahrhundertwende angeführt werden. Doch trotz aller Affinitäten und Anknüpfungspunkte - ggf. auch unter Betonung der okkulten Dimension bei George und unter Rückbindung der Symbolisten etwa an den französischen Begründer des modernen Okkultismus Éliphas Lévi (dazu auch Werner Paul Sohnle: „Vorwort―, in: ders.: Stefan George und der Symbolismus. Eine Ausstellung der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, 1983, 7-9) - kann auch hier von einer einfachen Vermittlung oder Übertragung nicht die Rede sein, insofern bei George der französische Symbolismus an sich wiederum auf ganz andere Ursprünge zurückgeführt wird, auf Novalis und die deutsche Romantik nämlich, während Georges eigener Symbolbegriff weit eher auf Goethe als auf die französischen Symbolisten verweist und sich seine Poetologie möglicherweise eher von Poe als von Baudelaire oder Mallarmé herleitet, was erneut die eigentliche Komplexität der Verflechtungen unterstreicht. Vgl. dazu bes. Friedmar Apel: „Rezeption der französischen und italienischen Dichtung―, in: Achim Aurnhammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer und Ute Oelmann in Zusammenarbeit mit Kai Kauffmann (ed.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Bd. 2., Berlin und Boston, de Gruyter, 2012, 628-636. Auch Bernhard Böschenstein geht auf die Beeinflussung Stefan Georges durch die französischen Dichter, allen voran durch Francis Vielé-Griffin, ein und stellt dabei ebenso erhebliche Differenzen wie Parallelen fest; abgesehen davon, dass Vielé- Griffin womöglich selbst wiederum von starken Einflüssen aus der deutschen Dichtungstradition geprägt ist, steht George gleichfalls in vielfältigen Entwicklungslinien und überdies in mancher Hinsicht etwa dem Parnasse geistig näher als dem Symbolismus, was sich auch an einer Aufzeichnung Albert Mockels, seines „belgischen Gefährten der frühren Pariser Zeit―, belegen lässt. Dazu Bernhard Böschenstein: „Wirkungen des französischen Symbolismus auf die deutsche Lyrik der Jahrhundertwende―, in: Euphorion, 58, 1964, 375-395, bes. 375-386, zit. 380. <?page no="181"?> Fin de siècle/ Jahrhundertwende: Eine Tendenzgeschichte 181 Frick Werner/ Mölk, Ulrich (ed.): Europäische Jahrhundertwende: Literatur, Künste, Wissenschaften um 1900 in grenzüberschreitender Wahrnehmung, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2003. Kafitz Dieter (ed.): Dekadenz in Deutschland: Beiträge zur Erforschung der Romanliteratur um die Jahrhundertwende, Frankfurt/ M. (u.a.), Peter Lang, 1987. Kimmich Dorothee/ Wilke, Tobias: Einführung in die Literatur der Jahrhundertwende, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2006. Le Rider Jacques: Modernité viennoise et crises de l’identité, Paris, Presses Universitaires de France, 1990. Marshall Gail: The Cambridge companion to the fin de siècle, Cambridge University Press, 2007. Peylet Gérard: La littérature fin de siècle de 1884 à 1898: entre décadentisme et modernité, Paris, Vuibert, 1994. Stauffer Isabelle: Weibliche Dandys, blickmächtige Femmes fragiles: ironische Inszenierungen des Geschlechts im Fin de Siècle, Köln, Böhlau, 2008. Zanucchi Mario: Transfer und Modifikation. Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890-1923), Berlin/ Boston, Walter de Gruyter, 2016. <?page no="183"?> Monique Boussart Kapitel 7 Die vernetzten Avantgarden: Konvergenzen und Spezifizitäten Zur Einführung Wie im vorigen Kapitel ausgeführt wurde, herrscht seit Anfang des 20. Jahrhunderts eine tiefe geistige Verunsicherung. Trotz der weltanschaulichen und ästhetischen Errungenschaften des Symbolismus und der Jahrhundertwende werden in den folgenden Jahrzehnten die traditionellen Werte und die ästhetischen Normen wieder in Frage gestellt, diesmal mit gröβerer Radikalität und Aggressivität. Nun ist es sogar die bürgerliche „Institution Kunst― insgesamt, die zum Gegenstand der Kritik wird, wie Peter Bürger betont. 1 Der Ruf nach einer neuen und zeitgemäβen Dichtung wird überall laut; die Verwerfung sowohl der Mimesis als auch des Ästhetizismus, die Bevorzugung überraschender Bilder, die Fragmentierung und die Montage erweisen sich als die Grundlagen der angestrebten Erneuerung. Guillaume Apollinaire verkündet 1912: À la fin tu es las de ce monde ancien/ Tu en as assez de vivre dans l‘antiquité grecque et romaine. 2 Um die gleiche Zeit proklamiert Ernst Stadler, freilich in einem ganz anderen Ton und in gereimten Langversen: Form und Riegel mussten erst zerspringen/ Welt durch aufgeschlossene Röhren dringen […]. Form will mich verschnüren und verengen/ Doch ich will mein Sein in alle Weiten drängen. 3 Das Spektrum der Avantgarde ist breit gefächert. Wenn einige gegen das Abgehobensein von der Lebenspraxis rebellieren und sogar Materialien der 1 Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt, 1974, 29. 2 Guillaume Apollinaire: „Zone―, in: Alcools, Paris, 1959, 7. 3 Ernst Stadler: „Form ist Wollust―, in: Der Aufbruch, in: E. Stadler: Dichtungen, Bd. 1, Hamburg s.d., 127. <?page no="184"?> Monique Boussart 184 modernen Welt in das Kunstwerk einfügen 4 , befürworten andere die Autonomie der Sprache und der Kunst, die sich vom Realen befreien. Auf jeden Fall ist der Traditionsbruch kaum zu leugnen. In Deutschland hängt die Revolte gegen die bestehende Ordnung nicht nur mit dem Hass auf den Bourgeois zusammen, sondern auch mit einer schroffen Ablehnung des autoritären, durch Nationalismus und Militarismus geprägten Systems der wilhelminischen Gesellschaft. Die „neue― Dichtung ist durch einen scharf satirischen Einschlag und ein tragisches Lebensgefühl gekennzeichnet. Im Frankreich der Dritten Republik ist dies vor dem Ersten Weltkrieg weniger ausgeprägt. Ungeachtet dieser Unterschiede sind die Kontakte zwischen deutschen und französischen Künstlern bis 1914 intensiv, selbstverständlich verflüchtigen sie sich in den Kriegsjahren. 5 Im Rahmen des Züricher Dadaismus aber, in der neutralen Schweiz wird ab 1916 ungefähr die internationale Zusammenarbeit wieder möglich. In Frankreich wie in Deutschland steht die literarische Erneuerung in enger Verbindung mit derjenigen der bildenden Künste. Zu Apollinaires Kreis gehören Maler wie Pablo Picasso, Georges Braque, Umberto Boccioni, Robert Delaunay, usw. Pariser Dichter und Maler kommen im „Bateau-Lavoir― zusammen. Ähnliches gilt für den Berliner Zirkel um Herwarth Walden, der ab 1912 Bilder der „Brücke―, des „Blauen Reiters―, der Kubisten und Futuristen in seiner Galerie ausstellt. Guillaume Apollinaire macht sogar die kubistische Malerei zum Vorbild der ästhetischen Erneuerung (Les Peintres cubistes. Méditations esthétiques, 1913). Wassily Kandinskys Essay Vom Geistigen in der Kunst (1912), von dem ein wichtiges Kapitel in der Zeitschrift Der Sturm erscheint 6 und der den Nachdruck auf die Absage an die Nachbildung der äußeren Wirklichkeit zugunsten der „inneren Notwendigkeit― legt, beeindruckt deutsche und österreichische Schriftsteller. Außerdem betätigen sich mehrere Künstler, u.a. Wassily Kandinsky, Oskar Kokoschka, Ernst Barlach, Francis Picabia, Hans Arp, Max Ernst, usw. sowohl als Maler oder Bildhauer wie auch als Dichter. 1 Zwischen Romantik und Moderne: ein gemeinsames geistiges Erbe und eine Rezeption mit unterschiedlichen Akzenten Trotz ihrer allgemeinen Ablehnung der Tradition zeigen sich viele Vertreter der Avantgarden empfänglich für die Errungenschaften der Romantiker. Vor allem der Platz, den sie dem Irrationalen und dem Traum zuerkennen, die Faszination der Nacht und des Todes haben sie tief geprägt. Manche 4 Siehe diesbezüglich Peter Bürger, op. cit., 29, 95, 97. 5 Siehe Kapitel 8 in diesem Band: Philippe Beck, „Die Literatur des Ersten Weltkriegs―. 6 Wassily Kandinsky: „Form und Farbensprache―, Der Sturm, 1912, Heft 106. <?page no="185"?> Die vernetzten Avantgarden: Konvergenzen und Spezifizitäten 185 Expressionisten sehen sich als Fortsetzer der Romantik. René Schickele meint 1916: Vielfach nennen wir heute expressionistisch was früher romantisch hieß. 7 Und André Breton erklärt später: Le gilet rouge, parfait mais à condition que derrière lui batte le cœur d‘Aloysius Bertrand, de Gérard de Nerval et derrière eux, ceux de Novalis, de Hölderlin […]. 8 Novalis insbesondere zieht die Avantgardisten an. Sie fühlen sich durch die Gleichsetzung der Poesie und der Magie, durch die Hervorhebung der Autonomie der Sprache angesprochen. „Der Weg nach innen―, den Novalis als Weg nach dem wahren Leben empfiehlt, seine Auffassung vom Dichter als Seher, dessen Imagination die Grenzen des Ich überwindet und eine tiefere Kenntnis der Wirklichkeit ermöglicht, sind von entscheidender Bedeutung für die Expressionisten und die Dadaisten. Der Wortführer des Surrealismus, André Breton, erkennt in ihm einen Geistesverwandten. 9 Außer dem Autor der Hymnen an die Nacht üben auch E.T.A Hoffmann, Heinrich von Kleist und Friedrich Hölderlin eine groβe Wirkung auf die Expressionisten und auf Breton aus, der sich ebenfalls für Achim von Arnims Darstellung des Magnetismus und des Wunderbaren („le merveilleux―) begeistert. Eine Sphäre, die manche deutsche und französische Avantgardedichter auch in den Texten von Gérard de Nerval und Victor Hugo wiederfinden. Zudem bilden Victor Hugos Theorie des Grotesken sowie seine Vorstellung vom Selbstwert der Dissonanz und des Hässlichen wichtige Anregungsquellen. Ebenso stark ist die Faszination, die von Charles Baudelaire ausgeht. Er gilt zurecht als der wahre Initiator einer Ästhetik der Modernität. Die Nachwirkung seiner Evokation der Großstadt mit ihren positiven und negativen Aspekten in den „Tableaux parisiens― soll nicht unterschätzt werden. Nach Baudelaires Vorbild geben die sogenannten französischen „Kubisten― um Apollinaire sowie die Expressionisten Georg Heym, Gottfried Benn und Alfred Döblin, usw. die Dynamik und den Wirbel heterogener Eindrücke in Paris oder Berlin wieder. Außerdem findet die Ästhetik des Hässlichen und Befremdenden, wie sie sich u.a. in „La Charogne― manifestiert, einen Nachklang in ihrem Schaffen, während die berühmten „correspondances― in der auf Analogien beruhenden Gedichtstruktur eine Fortsetzung finden. Die deutschen Intellektuellen sind vor allem seit Stefan Georges (1891, 1901) und 7 Paul Pörtner: Literatur-Revolution 1910-1925, Neuwied-Berlin, 1961, 189. 8 André Breton: „Entretiens―, zitiert nach Michel Sanouillet: Dada à Paris, Paris, 1993, 206. Siehe auch zu diesem Kapitel Maurice Godé: ‗Der Sturm’ de Herwarth Walden ou l’utopie d’un art autonome, Nancy, 1990 und L’Expressionnisme, Paris, 1999. 9 Maurice Maeterlincks Novalis-Übersetzungen sollen die Surrealisten beeinflusst haben. <?page no="186"?> Monique Boussart 186 Stefan Zweigs (1902) Übersetzungen mit Baudelaires Werken vertraut. Diese bleiben im Mittelpunkt des Interesses dank den späteren Übertragungen von Erich Oesterheld und Friedrich Hardekopf, von denen einige zwischen 1911 und 1916 in der expressionistischen Zeitschrift Die Aktion erscheinen. Noch größer ist der Rimbaud-Kult in den Avantgarde-Kreisen. Die Lyrik von Georg Heym, Georg Trakl und Gottfried Benn trägt deutliche Spuren ihrer Rimbaud-Lektüre im Hinblick auf die Motivik, die Metaphorik und die irreale Farbensprache. 10 Offensichtlich ist z.B. die Nähe zwischen Rimbauds „Ophélie― einerseits, Heyms „Ophelia― (1910/ 11) und Benns „Schöne Jugend― (1912) andrerseits, wobei die Verdüsterung und die brutalere Behandlung des Themas durch die deutschen Dichter nicht zu übersehen sind. Ähnliches gilt für die Stadtthematik: Das Visionäre von Rimbauds Stadtbildern kennzeichnet zwar auch die Verse von Heym, Trakl oder Benn. Allerdings wird Rimbauds Klage „Ô cité douloureuse, ô cité quasi morte― 11 zum Alptraum vom „Moloch―-Stadt oder vom Zerstörergott Baal. Selbstverständlich haben die Radikalität von Rimbauds Revolte gegen die bürgerliche Gesellschaft und sein „dérèglement raisonné de tous les sens― Franzosen und Deutsche fasziniert. Rimbaud wird zum Symbol der Freiheit. Hugo Ball übersetzt seine Gedichte, sie werden bei den Züricher Dada-Soiréen vorgelesen. Die Surrealisten ihrerseits (André Breton, Robert Desnos, Louis Aragon, Paul Eluard) werden insbesondere durch den Begriff der „Voyance― angezogen. Wie ihr großer Vorgänger entwerfen viele der oben Genannten unerwartete Bilder, sie brechen mit der traditionellen Metrik und mit der logischen Kontinuität der Verse. In der Verbreitung von Rimbauds Texten im deutschsprachigen Raum haben die Übersetzungen von Stefan George, Stefan Zweig, Paul Zech und vor allem von Karl Klammer alias K.L. Ammer 12 eine wesentliche Rolle gespielt. Mehrere von ihnen sind in den expressionistischen Zeitschriften Die Aktion und Die weiβen Blätter veröffentlicht worden. Auch die Ausstrahlung des belgischen Lyrikers Émile Verhaeren ist hier zu erwähnen. Seine visionäre Evokation der „villes tentaculaires―, der Industrie und der Dynamik des modernen Zeitalters prägt manche französische und deutsche Dichter. In Österreich und Deutschland, wo Verhaeren 1912 Vorträge hält, werden seine von George, Rilke, Zech und Zweig übertragenen und in den bereits genannten Zeitschriften publizierten Dichtungen besonders geschätzt, vor allem von den Expressionisten. 10 Zur Bedeutung von Baudelaire und Rimbaud für die Expressionisten siehe Jean-Michel Gliksohn: L’Expressionnisme littéraire, Paris, 1990, 60sqq. 11 A. Rimbaud: „L‘Orgie parisienne ou Paris se repeuple―, in: Œuvres complètes, Paris, 1972, 48. Siehe diesbezüglich Jean-Michel Palmier: L’Expressionnisme et les arts. Portrait d’une génération, Paris, 1979, 330sq. 12 K. L. Ammer: Arthur Rimbaud. Leben und Dichtung, Leipzig, 1907. <?page no="187"?> Die vernetzten Avantgarden: Konvergenzen und Spezifizitäten 187 Auf weltanschaulichem Gebiet erscheint Nietzsche als der Mentor jener Generation. Die Verwerfung jeder Transzendenz und die „Umwertung aller Werte― gehören zu den intellektuellen Leitlinien vieler Autoren. Nietzsches Einsicht in die Grenzen der Sprache und der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten, seine Bezeichnung des Subjekts als „eine Fiktion― hinterlassen tiefe Spuren bei den Expressionisten, Dadaisten und Surrealisten. Andererseits findet das Nietzschesche Streben nach einer Erneuerung des Menschen ein starkes Echo im sogenannten messianischen Expressionismus, in Franz Werfels Dichtung, und in den Stationendramen von Georg Kaiser und Ernst Toller, während die Vorstellungen vom „Willen zur Macht― und vom „Übermenschen―, verbunden mit der Apologie des Kampfes, nicht ohne Einfluss auf den Futuristen F. T. Marinetti geblieben sind. Zu den irrationalen Momenten und dem Vitalismus, die Nietzsches Weltbetrachtung kennzeichnen, kommt im Gedankenspektrum des Jahrhundertanfangs der Anti- Intellektualismus Henri Bergsons hinzu. Der französische Philosoph verwirft in der Tat die Alleinherrschaft der Vernunft und der naturwissenschaftlichen Methode, er legt den Nachdruck auf die Rolle der Intuition in der Erfassung des Lebensstroms. Bergsons Erkenntnisse gewinnen nicht nur in Frankreich eine groβe Bedeutung, sondern auch, seit der Übersetzung von Matière et Mémoire (Materie und Gedächtnis 1908), für die Expressionisten und die Züricher Dadaisten. Ein dritter großer Anreger soll zum Schluss noch berücksichtigt werden: Sigmund Freud. Von der Auslotung des Unbewussten, des Triebhaften und von der Entdeckung des schöpferischen Potentials des Traums geht eine wahre Faszination aus, die sich auf die ganze Avantgarde auswirkt. 2 Die Vermittlungsinstanzen Einen wesentlichen Anteil an der Vermittlung der künstlerischen Innovationen zwischen Frankreich und Deutschland haben, außer den Übersetzern, sowohl Zeitschriften und Anthologien wie auch tonangebende zweisprachige Persönlichkeiten. 2.1 Die Zeitschriften In erster Linie sind die drei führenden expressionistischen Zeitschriften zu berücksichtigen: Der Sturm, Die Aktion und Die weißen Blätter. 2.1.1 Der Sturm Die 1910 von Herwarth Walden in Berlin gegründete „Wochenschrift für Kultur und die Künste― widmet sich nicht nur der Literatur, sondern auch den bildenden Künsten. Walden kann als wahrer Entdecker im Bereich der <?page no="188"?> Monique Boussart 188 europäischen Kunst angesehen werden, er lässt in seiner Zeitschrift Bilder der „Brücke―, des „Blauen Reiters―, der Kubisten und Futuristen reproduzieren. Der Sturm behauptet sich als eine apolitische Zeitschrift, konzentriert sich auf ästhetische Fragen und befürwortet die Autonomie der Kunst, die innere Geschlossenheit des Kunstwerks. Schon in den ersten Jahrgängen ist das Interesse an der französischen Dichtung bemerkbar, es erreicht einen Höhepunkt in den Jahren 1912-1914. Vielsagend ist, dass von Mai 1913 bis August 1914 Paris nach Berlin als Publikationsort erwähnt wird. Im Sturm erscheinen in jenen Jahren, auf Französisch, Gedichte von Guillaume Apollinaire 13 und Blaise Cendrars 14 sowie Beiträge der Maler Robert Delaunay und Fernand Léger, die für die Kunsttheorie des Sturm-Kreises von Bedeutung sind. Mitinitiator dieser deutsch-französischen Beziehungen ist der Lyriker und Kritiker Apollinaire. Er ist es, der Cendrars und Delaunay, den Hauptvertreter des Orphismus und des Simultaneismus, in Waldens Kreis einführt und 1912/ 1913 die deutschen Leser über die Pariser Neuerscheinungen und die jüngsten Trends der französischen Kunst informiert. Im Januar 1913 suchen sogar Apollinaire und Delaunay zusammen Walden in Berlin auf. Außer Apollinaire berichten René Schickele (1911-12) sowie der Kritiker und NRF-Redaktionssekretär Jacques Rivière (1912-13) über das Kulturleben in Paris und über literarische Zeitschriften wie Les Marges und die Nouvelle Revue française. 15 Nach der Unterbrechung des Ersten Weltkriegs erscheinen 1918 wieder Aufsätze und Gedichte von Cendrars im Sturm und 1919 sogar sein Kriegsbericht J’ai tué auf Französisch. Drei Jahre später wird ein ganzes Heft den französischen Dadaisten 16 gewidmet. Für den Austausch zwischen Berlin und Paris spielt zweifellos Waldens Zeitschrift eine Schlüsselrolle. 2.1.2 Die Aktion Eine ähnliche Aufgeschlossenheit gegenüber der französischen Literatur kennzeichnet die politisch sehr engagierte, 1911 von Franz Pfemfert in Berlin gegründete Aktion. Der Pazifist, antinationalistisch und links orientierte Pfemfert sowie seine Mitarbeiter Franz Blei, René Schickele, Ernst Stadler, 13 Guillaume Apollinaire: „Zone, „Rotsoge―, „Au peintre Chagall―, „Le Los du Douanier―. 14 Texte aus Prose du Transsibérien, dem ersten simultanen Buch nach dem Autor, und aus Poèmes élastiques: „La Tour―, „Contrastes―, „Portrait―. 15 Siehe Maurice Godé: ‘Der Sturm’ de Herwarth Walden ou l’utopie d’un art autonome, Nancy, 1990, 113 und Lothar Jordan: „‗À travers l‘Europe‘. Französische Literatur in der Zeitschrift ‗Der Sturm‘ 1910-20. Ein Abriss―, in: L. Jordan, B. Kortländer, F. Nies (ed.), Interferenzen Deutschland und Frankreich, Düsseldorf, 1983, 104-110. Jacques Rivière publiziert auch 1912 Aufsätze über Baudelaire und 1913 Gedichte von Rimbaud in der Berliner Zeitschrift. 16 Mit Texten von Tristan Tzara, Philippe Soupault, André Breton, Benjamin Péret, Louis Aragon, Georges Ribemont-Dessaignes und Paul Eluard. <?page no="189"?> Die vernetzten Avantgarden: Konvergenzen und Spezifizitäten 189 Yvan Goll, Carl Einstein und Ludwig Rubiner sind alle gute Kenner der französischen Poesie und Belletristik. Manche von ihnen waren vor dem Krieg in Paris u.a. Rubiner, der dort Cendrars trifft und 1913/ 14 theoretische Aufsätze von ihm für die Zeitschrift erhält. Außerdem lässt sich Pfemfert auf diesem Gebiet vom Schriftsteller und Übersetzer Ferdinand Hardekopf beraten, der schon 1911 Chroniken über die französische Literatur verfasst. Cendrars ist nicht der einzige, von dem Texte in Pfemferts Wochenschrift erscheinen, das Gleiche gilt für André Salmon (1914) und Léon Bloy, dem noch im Oktober 1914 ein Nachruf gewidmet wird. Besonders erwähnenswert sind zwei Sonderhefte über die französische Dichtung. Während im ersten, am 13. September 1913 der Fokus auf der „neuen― Dichtung (Cendrars, Henri-Martin Barzun, Nicolas Beauduin, Fernand Divoire) liegt, bringt das zweite, am 4. Dezember 1915, trotz der Kriegslage, eine Hommage an frühere Dichter und Denker wie Baudelaire und Bergson. 17 2.1.3 Die weißen Blätter Eine dritte expressionistische Zeitschrift fördert die deutsch-französischen Beziehungen: Die weißen Blätter. 1913 von Ernst Schwabach nach dem Vorbild der Nouvelle Revue française gegründet, wird sie zuerst von Franz Blei in Leipzig herausgegeben, ab 1915 vom Elsässer René Schickele in Zürich und Bern und 1919-20 von Paul Cassirer in Berlin. Die weißen Blätter propagieren den Pazifismus, sie enthalten eine Rubrik über französische Bücher und Zeitschriften und veröffentlichen Verse von Rimbaud, Jules Laforgue und Verhaeren. Ein Zeichen des Spürsinns des Herausgebers René Schickele für die bahnbrechende Kühnheit eines literarischen Werks ist die Erstveröffentlichung im Oktoberheft 1915 der schon 1912 entstandenen „Geschichte―, „Die Verwandlung―, von Kafka, die eine phantastische Welt eigener Art, der Logik des Traums entsprechend, erschafft. Auf französischer Seite sind ähnliche, wenn auch weniger zahlreiche Initiativen zu erwähnen, unter welchen die des Mercure de France und der Nouvelle Revue française, die eine „Chronique allemande― beinhalten. Einige kurzlebige Zeitschriften übernehmen ebenfalls eine Vermittlungsrolle u. a. die 1917-18 in Namur (Belgien) von Carl Sternheims Sekretär, Clément Pansaers, herausgegebene Résurrection. Dort erscheinen in Pansaers‘ Übersetzungen Texte von Expressionisten wie Stadler, Goll, Walden, Lothar Schreyer und Carl Einstein. Andererseits bringt 1920 die von Florent Fels in Paris veröffentlichte Action Übertragungen von Gedichten aus Kurt Pinthus‘ berühmter Anthologie expressionistischer Lyrik Menschheitsdämmerung. Die dadaistischen Zeitschriften sind auch Treffpunkte von deutsch- und französischsprachigen Schriftstellern. Die einzige Nummer des Cabaret Vol- 17 Siehe dazu Jean-Pierre Meylan: „Les expressionnistes allemands et la littérature française―, Études littéraires, vol. 3, 3, Québec, 1970. <?page no="190"?> Monique Boussart 190 taire (Zürich, 1916) nimmt Beiträge in der Originalsprache von Cendrars, Hans Arp, Tristan Tzara und Richard Huelsenbeck auf. Und Dada (Zürich 1917-1919) zählt, außer den schon Genannten, André Salmon, Pierre Albert- Birot, Francis Picabia, Guillaume Apollinaire, Pierre Reverdy, Philippe Soupault, Georges Ribemont-Dessaignes, Louis Aragon und André Breton zu seinen Mitarbeitern. Das Gleiche gilt für die Berliner Dada-Organe und für Die schammade in Köln. 2.2 Die Anthologien Unter den vielen Anthologien französischer Lyrik, die zwischen 1910 und 1913 in Deutschland im Umlauf sind, ist wohl die meist verbreitete Gustave Lansons Anthologie des poètes nouveaux (1913), die Verse von Apollinaire, Barzun, Beauduin, Divoire und Salmon enthält. In Frankreich sind um die gleiche Zeit die Sammlungen zeitgenössischer deutscher Lyrik weniger zahlreich. Die berühmteste, die Anthologie des lyriques allemands contemporains depuis Nietzsche (1913) von Henri Guilbeaux bringt u. a. Texte der Expressionisten Franz Werfel und Paul Zech. Die Anthologie Dada ihrerseits erscheint 1919 als zweisprachige Ausgabe mit Beiträgen von deutschen und französischen Dadaisten. 2.3 Zweisprachige Dichter als Vermittler Zu den wichtigsten Vermittlern auf der deutsch-französischen Bühne gehören, außer Apollinaire, der schon 1901/ 1902 im Rheinland tätig war und über Deutschkenntnisse verfügt, zweisprachige, meistens elsässische oder schweizerische Schriftsteller, frankophile Idealisten und Pazifisten, die oft in Paris weilen oder sich dort niederlassen. Der Elsässer René Schickele hält sich mehrmals als Korrespondent deutschsprachiger Presseorgane 18 in Paris auf, um über die französische Kultur zu berichten. Sein Landsmann, der frühexpressionistische und „deutschlandmüde― 19 Lyriker Ernst Stadler ist ein regelmäßiger Leser der Cahiers de la quinzaine und der NRF und übersetzt Werke von Francis Jammes und Charles Péguy, die in Die Aktion erscheinen. Der Schweizer Blaise Cendrars seinerseits lässt sich 1912 in Paris nieder, publiziert sowohl in Berlin als auch in der französischen Hauptstadt und gründet 1912 eine deutsch-französische Zeitschrift Les Hommes nouveaux, in deren einziger Nummer er in beiden Sprachen schreibt. Besonders interessant ist der Fall des Elsässers Yvan Goll. 1912 nimmt er als Lyriker an Manifestationen des Expressionismus in Berlin teil und veröffentlicht dort seine ersten Verse. Von mehreren seiner Gedichte hat er zwei 18 Nord und Süd und Die Straßburger Neue Zeitung. 19 Ernst Stadler: Brief vom 24. April 1914 an Schickele, in: Nina Schneider (ed.), Ernst Stadler und seine Freundeskreise, Hamburg, 1993, 229. <?page no="191"?> Die vernetzten Avantgarden: Konvergenzen und Spezifizitäten 191 Fassungen gegeben, eine deutsche und eine französische, dies gilt z.B. für „Der Panamakanal― (1912), von dem 1918 eine zweite Version „Le Canal― entsteht. Die Texte weichen erheblich voneinander ab, der erste steht unterm Zeichen des expressionistischen Utopismus und verherrlicht die Brüderschaft aller Wesen, während der spätere, wahrscheinlich unter dem Einfluss von Cendrars, kondensierter, nüchterner und düsterer ist, ohne aber auf die expressionistische Syntax und Metaphorik ganz zu verzichten. 20 Ab 1919 in Paris ansässig, informiert Yvan Goll die Franzosen über die deutsche Literatur, er schreibt in der Frühphase des Surrealismus über das deutsche Drama in Paul Dermées L’Esprit nouveau. Zwischen 1918 und 1920 widmet er sich mit seiner Frau Claire Goll einer intensiven Übersetzungsarbeit. Sie übertragen einerseits deutsche Gedichte, die unterm Titel Le Cœur de l’ennemi in Paris veröffentlicht werden, andererseits französische Lyrik: Das Herz Frankreichs. In dadaistischen Kreisen sind auch solche Persönlichkeiten tätig. Der elsässische Dichter, Maler und Bildhauer Hans Arp schreibt seine ersten Verse auf Deutsch (Die Wolkenpumpe 1917), sie werden von Breton und Aragon begeistert aufgenommen und adaptiert (Pompe des nuages). Anfang der 1920er Jahre lässt sich Arp in Paris nieder, er schreibt nun auf Französisch und wird zum Bindeglied zwischen dem Züricher und dem Pariser Dadaismus, zu dessen Entwicklung er entscheidend beiträgt. Eine ähnliche Rolle spielen der Propagandist Dadas, der Rumäne Tristan Tzara, der in Zürich studiert hat und meistens auf Französisch schreibt, und der deutsche Schriftsteller, Maler und Bildhauer Max Ernst. Nach seinen Anfängen im Rahmen des Kölner Dadaismus siedelt sich M. Ernst 1922 in Paris an. Dort geht er zur französischen Sprache über und nimmt einen regen Anteil an den Aktivitäten der Surrealisten um André Breton. Sowohl biographische Umstände als auch ihre intellektuelle Flexibilität und kosmopolitische Gesinnung haben die eben genannten Künstler geradezu prädestiniert, Vermittler zwischen zwei Kulturen zu werden. 3 Ein Deutscher und ein Französischer Futurismus. Zwischen Begeisterung und Zurückhaltung Kein Wunder, dass F. T. Marinetti, der „Papst― der futuristischen Bewegung, die Aufmerksamkeit der Erneuerer erregte. Sein Kampf um eine Kunst, die der Dynamik und dem Rhythmus des technischen Zeitalters entsprechen würde, sowie sein Plädoyer für eine „ununterbrochene Folge neuer Bilder― sprechen sie an. Allerdings stellt sich heraus, dass die futuristische Strömung sich stärker in Deutschland als in Frankreich entwickelt, obwohl ihr 20 Siehe diesbezüglich Egon Menz: „Iwan Goll. Der Panama-Kanal―, in: Horst Denkler, Gedichte der Menschheitsdämmerung, München, 1971, 219sqq. <?page no="192"?> Monique Boussart 192 italienischer Gründer in Frankreich studiert und dort Beziehungen zu manchen Vertretern des literarischen Lebens (im Mercure de France) unterhalten hat. Er betrachtete sich übrigens bis 1909 als französischer Dichter und veröffentlichte sein erstes Manifest im Februar 1909 in der französischen Zeitung Le Figaro. Dieses „Manifest des Futurismus―, nach Gottfried Benn „das Gründungsereignis der modernen Kunst in Europa― 21 , erscheint 1912 in Der Sturm, der noch im selben Jahr das „Technische Manifest der futuristischen Literatur― und 1913 das „Supplement zum technischen Manifest― sowie das Fragment zu dessen Illustration „Bataille Poids + Odeur― aufnimmt. Die Aktion, die den Futurismus zuerst abgelehnt hat, veröffentlicht doch 1913 Texte von Marinetti und von französischen Futuristen. Marinettis Grundsätze wirken vor allem in der ‚Wortkunst‗ des Sturm-Kreises nach. Die Dekonstruktion der traditionellen Sprache, die Konzentration auf das Einzelwort, die „Parole in libertà― sind wahrscheinlich entscheidende Inspirationsquellen für den repräsentativsten Lyriker dieses Kreises, August Stramm, gewesen. Seine Verse huldigen zwischen 1913 und 1915 dem Wort als Klangkörper; das Gedicht wird zu einer Folge von Substantiven und Verben, von eigentümlichen Zusammensetzungen und Wortschöpfungen, in der Rhythmus und Klang eine Vorrangstellung gewinnen: Tode schlurren / Sterben rattert / Einsam / Mauert / Welttiefhohe / Einsamkeiten. 22 Die Tendenz zur Reduktion auf das Wesentliche, sogar zur Abstraktion, die sich hier abzeichnet, wird dann von den Wortkunst-Theoretikern Herwarth Walden, Lothar Schreyer und Rudolf Blümner fortgesetzt und führt schlieβlich zur sogenannten „absoluten Dichtung― bzw. zu phonetischen Gedichten, während bei Stramm das Wort noch Bedeutungsträger bleibt. Unter den Prosaautoren erweisen sich Paul Scheerbart, Kasimir Edschmid und Alfred Döblin nicht unempfänglich für Marinettis Empfehlungen. Der Fall Döblin ist in dieser Hinsicht vielsagend: Der Romancier stimmt anfänglich Marinetti in manchem zu, insbesondere was den Antipsychologismus und die Verwerfung der Ausschmückungen angeht; bald aber äußert er Bedenken gegen Marinettis „Monomanie― und Radikalität. Die Destruktion der Syntax und den Ostrazismus gegen bestimmte Wortarten - Marinetti verordnet, Adjektive, Artikel und Adverbien wegzulassen, Verben nur im Infinitiv zu gebrauchen - nennt er „Amputationen― der Sprache. Bekannt sind seine stolzen Worte: „Pflegen Sie Ihren Futurismus. Ich pflege meinen Döblinismus―. 23 Trotzdem lassen sich manche Spuren von 21 Gottfried Benn: Gesammelte Werke, Wiesbaden, 1968, 1062. 22 August Stramm: „Im Feuer― (1915), in: A. Stramm, Dramen und Gedichte, Stuttgart, 1979, 73. 23 Alfred Döblin: „Futuristische Worttechnik. Offener Brief an Marinetti―, Der Sturm, März 1913, 150/ 151, 282. <?page no="193"?> Die vernetzten Avantgarden: Konvergenzen und Spezifizitäten 193 oder Übereinstimmungen mit Marinettis Darstellungsmethoden in Döblins frühen Romanen erkennen, von Die drei Sprünge des Wang-lun (1915) und Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine (1918) bis Berge, Meere und Giganten (1924); nicht nur die Faszination der Technik und der Massenbewegungen, die Vorliebe für das Extreme und Dynamische, sondern auch Stilmerkmale wie die Montage, der häufige Gebrauch von Onomatopöien und Kampfmetaphern sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Im Bereich des Dramas sind Marinettis Manifeste von 1913 und 1916, mit ihrem Plädoyer für den Simultaneismus und die Einführung von Zirkus- und Music-Hall- Elementen, mit ihrer Befürwortung der Kürze und eines „synthetischen Theaters― für die Vertreter der Sturm-Bühne, August Stramm und Lothar Schreyer, sicherlich von Belang gewesen. Ihre Dramen sind eher „Bühnenkompositionen― aus Ton, Licht, Bild und Gebärde mit wenigen Sprachteilen, was sich schon vor 1910 bei Kandinsky und Kokoschka ankündigt. In Frankreich ist die Resonanz des Futurismus schwächer, vor allem Marinettis totale Absage an die Vergangenheit scheint die Franzosen abzuschrecken. Zwar hat Apollinaire im Juli 1913 mit Max Jacob und André Salmon „L‘antitradition futuriste. Manifeste synthèse― unterzeichnet, womit er sich scheinbar den Prinzipien des Futurismus anschließt 24 , wahrscheinlich groβenteils aus Spiellust. Grundsätzlich misstraut er aber dem Radikalismus der Bewegung. Obwohl er die typographischen Experimente, die Anfänge eines „lyrisme visuel― und einer „poésie polyphonique― als vielversprechend ansieht, redet er doch 1917, in „L‘Esprit nouveau et les poètes― und in Bezug auf die „paroles en liberté―, von „surenchères―, denen die Franzosen fern blieben, weil sie das Chaos und die Unordnung verabscheuten. 25 Trotz allem aber weisen Gedichte wie „Zone― (1912), „Lettre-Océan―, „Les Fenêtres― (1913) oder der „poème-conversation― „Lundi Rue Christine―(1913) eine gewisse Verwandtschaft mit futuristischen Texten auf. Sie konkretisieren nämlich die Begriffe der Simultaneität und der Montage, indem Gesprächsfetzen und Werbungsfragmente durcheinander wirbeln. Das Weglassen der Interpunktion und die Fragmentierung sollen das schnelle Tempo des von der Technik regierten modernen Lebens, das „merveilleux moderne― widerspiegeln. Der Gedichtband Calligrammes (1918) führt eine besondere Typographie ein, wobei die Texte zu graphischen Gebilden werden. Außer Apollinaire zeigt auch der kühnere Blaise Cendrars Affinitäten zum Futurismus, was die Thematik, - viele seiner Gedichte kreisen um die Technik, die Großstadt oder den Eiffel-Turm 26 - die Struktur und den Stil betrifft ; die Isolierung des Einzelworts und der Simultaneismus, von dem 24 „L‘Antitradition futuriste― wurde in Mailand herausgegeben und von der dortigen Zentrale des Futurismus verbreitet. 25 G. Apollinaire: „L‘Esprit nouveau et les poètes―, in: Œuvres en prose, Paris, 1991, 944sq. 26 Siehe Blaise Cendrars: Prose du Transsibérien (1913) und Dix-neuf poèmes élastiques (1919), von denen mehrere 1913/ 14 entstanden sind. <?page no="194"?> Monique Boussart 194 Cendrars übrigens die Urheberschaft beansprucht, sind in dieser Hinsicht charakteristisch: Tu es tout/ Tour / Dieu antique/ Bête moderne/ Spectre solaire/ Sujet de mon poème/ Tour/ Tour du monde/ Tour en mouvement. 27 Einige heute weniger bekannte Autoren, Nicolas Beauduin, Henri-Martin Barzun, A. F. M. Delmarle, Fernand Divoire und Valentine de Saint Point, greifen zu drei von Marinetti empfohlenen Strategien: dem Simultaneismus, typographischen Experimenten und einer onomatopoetischen Schreibweise, was übrigens auch für Pierre Albert-Birot, den Herausgeber der Zeitschrift Sic (1916-19) der Fall ist. Aber in der Praxis bleiben sie den Outrancen des Bewegungsgründers fern. Barzun z.B. setzt sich für den „simultanéisme poétique―, die „polyphonie des voix simultanées du monde― 28 ein. Außerdem sind die Absage an die übliche Syntax zugunsten der Freiheit des Wortes, sowie die vorherrschende Rolle von Bildern und Rhythmen wichtige Bestandteile ihrer Poesie. Diese wird eine Inspirationsquelle für manche Züricher Dadaisten sein, insbesondere für Hugo Ball, der schon vor 1914 Barzun, Beauduin und Divoire gelesen hat. 29 Die Expressionisten Herwarth Walden und Ludwig Rubiner unterhalten ebenfalls Beziehungen zu ihnen, sie nehmen 1913 an den „Lundis du Grenier de Montjoie― in Paris teil, Zusammenkünften, denen der Kriegsausbruch ein jähes Ende setzt. 30 4 Der Expressionismus und der sogenannte literarische Kubismus in Frankreich 31 Der Expressionismus (1910-25) wird meistens als eine spezifisch deutschösterreichische Erscheinung angesehen. Die Bewegung hat als solche nur ein schwaches Echo in Frankreich gefunden. Die damaligen französischen Zeitschriften haben, bis auf einige Ausnahmen und punktuelle Hinweise auf Die Aktion, den Sturm und Die weiβen Blätter in der Nouvelle Revue Française u.a., kaum oder sehr spät auf den Expressionismus reagiert. 32 Dieser Mangel 27 Blaise Cendrars: „Tour―, in: Bl. Cendrars, Du monde entier au coeur du monde. Poésies complètes, Paris, 2006, 93. 28 H.M. Barzun: Poème et drame, Paris, 1913, 98; L’Ère du drame. Essai de synthèse poétique moderne (1912); Siehe auch N. Beauduin: Manifeste du paroxysme (1911). 29 Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit, Luzern, 1946, 79sq. 30 Im „Grenier de Montjoie―, dem Büro einer Avantgarde-Zeitschrift, Chaussée d‘Antin in Paris kommen zwischen 1913 und 1914 Avantgarde-Schriftsteller, Maler und Musiker regelmäßig zusammen. 31 Die Benennung „literarischer Kubismus― bezeichnet die Gruppe um Apollinaire, zu der Cendrars, Max Jacob, André Salmon und Pierre Reverdy gehören. 32 Pierre Albert-Birot ist sich 1916 der innovativen Tendenzen in der deutschen Literatur bewusst, und die Surrealisten, insbesondere Louis Aragon im November 1922 in Littérature, würdigen die Errungenschaften des Sturm-Kreises und Richard Huelsen- <?page no="195"?> Die vernetzten Avantgarden: Konvergenzen und Spezifizitäten 195 an Resonanz lässt sich nicht nur durch die Kriegsereignisse erklären, sondern auch durch die Tatsache, dass der Expressionismus sich aus einer Vielfalt von individuellen Tendenzen zusammensetzt. Für manche von ihnen jedoch gibt es sehr wohl ein Pendant in Frankreich. Wie schon gesagt sind 1912-1914 die Beziehungen zwischen Mitarbeitern des Sturm und der Aktion einerseits und französischen Avantgardisten andererseits sehr rege gewesen. Zwischen diesen Künstlern sind zweifellos die Affinitäten groß, daher gemeinsame Kennzeichen ihres Schaffens: ähnliche Motive, die selbstverständlich im Zusammenhang mit den Lebens- und Umwelt-Bedingungen jener Zeit stehen, ähnliche Formexperimente. Zu den Grundsätzen der einen und der anderen gehören an erster Stelle der Wille zur subjektiven Erfassung der Wirklichkeit, sowie die Bevorzugung der Vision und einer assoziativen, analogischen Vorgehensweise. Wie man weiß, ist dies am Gebrauch der Farbadjektive besonders augenfällig - man denke hier an Trakl oder Apollinaire. Was Themen und Motive angeht, ist die Faszination der modernen Züge wohlbekannt; sie kommt nicht nur bei Stadler und Benn zum Ausdruck, sondern auch bei Cendrars. Jean-Michel Gliksohn hebt die Übereinstimmungen zwischen Benns „D- Zug― (1912) und Cendrars‘ längerer „Prose du Transsibérien et de la petite Jehanne de France― (1913) hervor 33 : In beiden Fällen besteht der Text aus einer Folge von Bildern und Assoziationen, wobei die häufige Verwendung des Nominalstils und die zahlreichen strukturierenden Wiederholungen auffallen. Allerdings sind die individuellen Nuancen ebenso deutlich wie die Gemeinsamkeiten: Betonung der Hinfälligkeit von Mensch und Natur, krude Sinnenlust in Benns Gedicht, Angst, Fernweh und eine sanftere, von Melancholie durchtränkte Erotik in der „Prose du Transsibérien―. Im Bereich der Ausdrucksmittel schaffen sowohl die Expressionisten als auch Apollinaires Mitkämpfer ungewöhnliche Bilder und Wortkombinationen. Sie zeigen eine Vorliebe für das isolierte Wort und die Reihungstechnik, eine Syntax, die bei manchen von ihnen im Dienste des Simultaneismus und der Wiedergabe des Stadtrhythmus steht. So Jakob van Hoddis und Alfred Lichtenstein: An einem Fenster klebt ein fetter Mann./ Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen./ Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an./ Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen. 34 und Apollinaire: becks, sowie das Schaffen des Frühexpressionisten Jakob van Hoddis. Siehe diesbezüglich Lionel Richard: D’une apocalypse à l’autre, Paris, 1976, 58-69, 174-224. 33 Jean-Michel Gliksohn: L’expressionnisme littéraire, Paris, 1990, 90-94. 34 Alfred Lichtenstein: „Die Dämmerung― (1911), in: Horst Denkler (ed.), op. cit., 70. <?page no="196"?> Monique Boussart 196 Ô Paris/ Du rouge au vert tout le jaune se meurt/ Paris Vancouver Hyères Maintenon New-York et les/ Antilles/ La fenêtre s‘ouvre comme une orange/ Le beau fruit de la lumière. 35 Cendrars drückt sich ähnlich aus: L‘enseigne de la Samaritaine laboure par contre la Seine/ et du côté de Saint- Séverin/ J‘entends/ Les sonnettes acharnées des tramways/ Il pleut les globes électriques/ Montrouge Gare de l‘Est Métro Nord-Sud bateauxmouches/ monde/ Tout est halo/ Profondeur/ Rue de Buci on crie l’Intransigeant et Paris-Sports. 36 Kennzeichnend ist die Dynamik dieses Stils. Zwar bleiben die meisten Expressionisten im Unterschied zu ihren französischen Zeitgenossen dem traditionellen Reim und Versbau treu, manche behalten die Interpunktion bei, allerdings ist auch bei ihnen eine Tendenz zur Lockerung der Rhythmik und des metrischen Gefüges feststellbar, z.B. bei Stadler, der ab 1911 die flexiblere Langzeile verwendet. 37 Die vitalistische Einstellung, die die „neue― Kunst charakterisiert, nimmt in der deutschen häufiger als in der französischen Lyrik ekstatische, dionysische Akzente an, sie schlägt oft eine soziale, ethische Richtung ein wie etwa bei Stadler oder Werfel. Trotz der genannten Konvergenzen sind die Unterschiede zwischen dem Expressionismus und der französischen Avantgarde nicht zu leugnen. Wir haben schon die unheimlichen Visionen von Heym, Benn oder Trakl hervorgehoben, für welche die Sekundärliteratur die Formeln „Weltendstimmung―, „Nachtseiten der Existenz―, „existentielles Pathos― geprägt hat. Bei Apollinaire, Cendrars und Max Jacob nehmen zwar die Melancholie, die metaphysische Unruhe und das Leiden an der Einsamkeit, an der Gewalt einen wichtigen Platz ein, aber daneben kommen auch die positiven Aspekte und die Vielseitigkeit des modernen Lebens zum Tragen. 38 Außerdem ist das Spielerische eine bedeutende Komponente ihres Schreibens. Cendrars und Max Jacob z.B. spielen insbesondere mit phonetischen Analogien: Les manèges déménagent/ Manège, ménageries, où ? ... et pour/ Quels voyages ? / Moi qui suis en ménage/ Depuis… ah ! il y a bel âge! / De vous goûter, manèges,/ Je n‘ai plus… que n‘ai-je ? / L‘âge. 39 35 Guillaume Apollinaire: „Les Fenêtres―, in : Calligrammes, Paris, 1958, 16. 36 Blaise Cendrars: „Contrastes― (1913), op. cit., 95. 37 Siehe diesbezüglich Karl Ludwig Schneider, op. cit., 66sqq. 38 André Salmon jedoch, einer der Vertreter des „Esprit nouveau―, steht mit seinem epischen Gedicht über die russische Revolution „Prikaz― (1918/ 19) dem Geist und der düsteren Stimmungslage der Expressionisten näher. 39 Max Jacob: Œuvres de Frère Matorel (1912), zitiert nach Henri Lemaitre: L’Aventure littéraire du XXe siècle 1840-1930, Paris, 1984, 439sq. <?page no="197"?> Die vernetzten Avantgarden: Konvergenzen und Spezifizitäten 197 Freilich fehlt das Spielerische nicht ganz in der deutschen Avantgarde, es ist jedoch nicht so dominant und kennzeichnet vor allem die Kurzprosa. Allgemein gesprochen, werden in dieser Prosa die Grundsätze des herkömmlichen Erzählens aufgelöst: kein Kontinuum mehr in der Handlung, eher eine Folge kurzer Szenen, kein traditioneller Held in deren Mittelpunkt. Die Figuren von Döblin, Heym und Benn sind vorwiegend psychopathologische Fälle und an Identitätsproblemen Leidende. 40 Während eine Entwicklungslinie zu einer vom Realen losgelösten und der Abstraktion nahen, „absoluten― Prosa führt, die mit dem Roman Bebuquin (1912) von Carl Einstein, einem Bewunderer Alfred Jarrys, einen Höhepunkt erreicht, baut eine andere Linie eindeutiger auf dem Spielerischen in enger Verbindung mit der Phantastik und dem Grotesken. Sie ist u.a. durch die phantastischen Erzählungen des Prädadaisten Paul Scheerbart und die satirischen Grotesken Mynonas (Rosa, die schöne Schutzmannsfrau 1913) vertreten. In Frankreich prägen ähnliche Merkmale den Irrealismus von Pierre Albert-Birot und vor allem von Raymond Roussel, insbesondere in Locus solus (1914). Als Erben Alfred Jarrys erfinden sie Gestalten, die dessen Pataphysiker, Dr. Faustroll 41 , verwandt sind. Ein solcher Trend ist auch auf der Avantgarde-Bühne zu beobachten, wo die Erneuerer sich ebenfalls auf Alfred Jarry berufen. So Apollinaire mit seinem Stück Les Mamelles de Tirésias (1917). Das expressionistische Theater dagegen greift eher auf Strindberg und Wedekind zurück. Die originellsten Leistungen in diesem Bereich, das Stationendrama oder das Denkspiel eines Georg Kaiser, das politische Verkündigungsdrama eines Ernst Toller oder die kritische und ambivalente Darstellung des bürgerlichen Philisters in den von Molière inspirierten Lustspielen Carl Sternheims haben kaum ihresgleichen in der französischen Avantgarde. Dies gilt überhaupt für den messianischen Aspekt des Expressionismus, für die „O-Mensch-Dichtung― und die Utopie vom „neuen Menschen―. Freilich wird der Unanimismus von Jules Romains manchmal als expressionistisch bezeichnet, die vitalistischutopische Grundlage und das Thema der Vereinigung mit den anderen sind wohl präsent, wie bei Werfel, jedoch sind Ton und Kontext verschieden: Jules Romains verherrlicht die kollektive Seele der Menschenmasse in der modernen Stadt als ein lebendes Wesen, er feiert dessen Kraft und Dynamik, aber ohne allzu pathetisch zu werden. Welchen Anteil die spezifischen kulturellen Voraussetzungen und die sozalpolitischen Verhältnisse an den oben genannten Divergenzen haben, lässt sich schwer ermessen. Tatsache ist, dass die deutschen Künstler mit einer Aufeinanderfolge von dramatischen Ereignissen konfrontiert worden 40 A. Döblin: Die Ermordung einer Butterblume, G. Heym, Der Dieb, G. Benn, Gehirne. 41 A. Jarry: Gestes et Opinions du Dr. Faustroll, pataphysicien, 1898 geschrieben, 1911 postum erschienen. <?page no="198"?> Monique Boussart 198 sind. Auf die Missstände des Wilhelminischen Regimes folgten ja die Unruhen nach der Niederlage von 1918, das Scheitern der Novemberrevolution und die schwierigen Anfänge der Weimarer Republik, die zum tragischen Lebensgefühl mancher Expressionisten beigetragen haben mögen. Die schon beschriebenen Schreibtechniken der deutschen und französischen Avantgarde-Dichter erweisen sich auch besonders geeignet zur Wiedergabe der Erlebnisse im Krieg, dem übrigens viele von ihnen zum Opfer fielen. Die Rhythmisierung der Sprache, die zerrissene Syntax und der häufige Gebrauch von Onomatopöien sind angemessene Ausdrucksmittel zur Veranschaulichung des Waffenlärms und der Brutalität der Schlachten. Während Marinetti den Kampf als Manifestation der Lebensenergie verherrlicht, dominieren bei den meisten Vertretern der „neuen― Kunst trotz anfänglicher „affirmativer― Töne und gelegentlicher patriotischer Akzente 42 Ekel und Trauer. Dies gilt u.a. für Georg Trakls Visionen von „sterbende(n) Krieger(n)― und „schwarzer Verwesung― in „Grodek― (1914) und für die 1914/ 15 entstandenen Verse der Sammlung Tropfblut des Sturm-Dichters August Stramm; seine komprimierte Sprache, die dem „freien Wort― und der Klangmalerei einen wesentlichen Platz einräumt, vergegenwärtigt die Qualen des Frontlebens. Viele andere wären in diesem Zusammenhang zu nennen z.B. die Expressionisten Wilhelm Klemm („Schlacht an der Marne― 1914), Hugo Ball („Totentanz― 1915/ 16), Paul Zech und Erwin Piscator, sowie Albert Ehrenstein, der pazifistische Töne anschlägt und ab 1917 zur Revolte aufruft. 43 Auf französischer Seite sind vor allem die zahlreichen 1915/ 16 geschriebenen Kriegsgedichte in Apollinaires Sammlung Calligrammes (1918) repräsentativ, z.B. „Chant de l‘horizon en Champagne― (1915). 44 Überraschende Bilder beschwören die Schützengräbenroutine herauf, manche aber wie „obus couleur de lune― u.a. lassen eine gewisse Ästhetisierung erkennen oder legen den Nachdruck auf die Vaterlandsliebe und den Hass gegen den Feind, gegen die „Boches―. Paradigmatisch sind ebenfalls der Reihungsstil und die Klangwiederholungen in Cendrars‘ Evokation der Kämpfe an der Marne („Shrapnells― 1914), sowie seine den gefallenen Kameraden gewidmete „Enfantine―: „La Guerre au Luxembourg― (1916), in der die Grausamkeit und das Absurde des Kriegsgeschehens auf ironisierende und subtile Weise angeprangert werden. Pierre Reverdy seinerseits widmet zwischen 1915 und 1918 dem Kriegsalltag der Soldaten und Zivilisten elegische, aber 42 Siehe diesbezüglich Hermann Korte: Der Krieg in der Lyrik des Expressionismus. Studien zur Evolution eines literarischen Themas, Bonn, 1981. H. Korte insistiert auf dem kriegsaffirmativen Beitrag von manchen Expressionisten. 43 Herman Korte ist in der schon erwähnten Studie darauf eingegangen, sowie Georg Philipp Rehage in „Wo sind Worte für das Erleben“. Die lyrische Darstellung des Ersten Weltkriegs in der französischen und deutschen Avantgarde, Heidelberg, 2003. 44 Guillaume Apollinaire: Calligrammes, op. cit., 136. <?page no="199"?> Die vernetzten Avantgarden: Konvergenzen und Spezifizitäten 199 unpathetische Verse, während Jean Cocteau in seiner Kriegslyrik 1914 und 1916 avantgardistische Kennzeichen mit einer traditionelleren und realistischeren Ausdrucksform verbindet. 45 5 Die Revolte des DADA Der Dadaismus entwickelt sich in mehreren Zentren. Er entsteht 1916 in Zürich, breitet sich allmählich aus und erreicht dann Berlin, Köln, Hannover und Paris. In diesen Kreisen bahnen sich Beziehungen zwischen französischen und deutschen Künstlern wieder an. Bekanntlich distanziert sich die Dada-Bewegung energisch von der ästhetischen und ethischen Einstellung der Expressionisten. Sie kultiviert die Provokation und die Subversivität. Die Verhöhnung der bürgerlichen Kunst und die Parodie auf die traditionellen Gattungen 46 nehmen besonders aggressive Formen an. Im Mittelpunkt der dadaistischen Experimente, die sich gegen die herkömmlichen Vorstellungen des Schönen richten, steht die Verwerfung des Logischen und Rationalen zugunsten des Grotesken und des Un-sinns. Unter dem Eindruck der tragischen Zeitereignisse betont Dada die Absurdität der Existenz. Das Manifest eines der aktivsten Mitarbeiter des Cabaret Voltaire, Tristan Tzara, ist in dieser Hinsicht vielsagend. Er setzt Dada mit Freiheit und Spontaneität, mit dem Leben gleich und fordert: Chaque page doit exploser […]. Nous déchirons […] et préparons le grand spectacle du désastre, l‘incendie, la décomposition. 47 Außer jenen allgemeinen Merkmalen hat jedes dadaistische Zentrum seine Eigenart. Zürich Der deutsche Gründer des Züricher Dadaismus, Hugo Ball, ein früherer Mitarbeiter der Aktion, ist mit der französischen Lyrik der Zeit bestens vertraut. Im Juli 1914 treffen noch Gedichte von Barzun und mehrere Bände der Vie des Lettres sowie einige Hefte der Soirées de Paris bei ihm ein. 48 Zum Repertoire des von ihm im Februar 1916 gegründeten Cabaret Voltaire gehören Lieder von Aristide Bruant, Verse von Blaise Cendrars, Max Jacob, André 45 Siehe dazu die bereits genannte Untersuchung von G.P. Rehage, die eine gründliche Analyse der Kriegsgedichte von Apollinaire, Cocteau, Stramm und Klemm enthält. 46 Parodie auf das Gebet (Richard Huelsenbeck), auf das Liebesgedicht (Kurt Schwitters), auf die Elegie (Hans Arp). Siehe diesbezüglich R. Huelsenbeck: Dada. Eine literarische Dokumentation, Reinbek, 1964. 47 Tristan Tzara: „Dada-Manifest― (März 1918), in: T. Tzara, Sept manifestes Dada. Lampisteries, Paris, 1979, 26. 48 Hugo Ball, op. cit., 13. <?page no="200"?> Monique Boussart 200 Salmon und Jules Laforgue sowie Auszüge aus Alfred Jarrys Ubu Roi 49 ; im folgenden Jahr werden übersetzte Auszüge aus Henri Barbusses Roman Le Feu, Gedichte von Apollinaire und Cendrars vorgetragen. 50 Die Dadaisten übernehmen Verfahrensweisen, die schon Futuristen bzw. Expressionisten verwendet haben, sie werden aber radikalisiert oder umfunktioniert zur Hervorhebung der Eitelkeit aller ästhetischen Bemühungen. 51 So spielt der Simultaneismus im Züricher Kreis wieder eine zentrale Rolle. Hugo Ball interessiert sich intensiv für das ‚Simultangedicht‗, das er 1916, und zwar unter Bezug auf Henri Barzun und Fernand Divoire, wie folgt, definiert: Das ist ein kontrapunktisches Rezitativ, in dem drei oder mehrere Stimmen gleichzeitig sprechen, singen, pfeifen oder dergleichen, so zwar, dass ihre Begegnungen den elegischen, lustigen oder bizarren Gehalt der Sache ausmachen […]. In typischer Verkürzung zeigt es (das Gedicht) den Widerstreit der vox humana mit einer sie bedrohenden, verstrickenden und zerstörenden Welt, deren Takt und Geräuschablauf unentrinnbar sind. 52 Wie weit der Simultaneismus gehen kann, zeigt u. a. „L‘amiral cherche une maison à louer―, das Huelsenbeck auf Deutsch, Marcel Janco in Englisch und Tristan Tzara in Französisch gleichzeitig aufsagen. Eine zweite Grundtendenz der „neuen― Dichtung, die Preisgabe des Satzes zugunsten des Wortes wird verstärkt und mit einer ungewöhnlichen Aura versehen: Die Züricher Kabarettisten wollen nämlich dem Wort „etwas Magisches―, „die Fülle einer Beschwörung― verleihen. Hinzu kommt, dass eines ihrer beliebtesten Stilmittel, die Wiederholung, dazu beiträgt, den Rhythmus des Gebets und der Litanei nachzuahmen. Huelsenbeck betitelt übrigens seine Gedichtsammlung Phantastische Gebete (1916), diese bestehen aus unzusammenhängenden, parataktischen Sätzen oder aus einer Folge von Lauten und Onomatopöien: O du Metallvogel der du im Zeichen des Krebses flatterst/ O du Transparentherz und Kaffekanne über den blauen/ Zinnen meiner Burg/ O du Metallvogel und Lämmergeier o du Aufstieg meiner/ Seele aus einem 49 Ibid., 72sq., 78. 50 Ibid., 142-144, 147. Cendrars‘ „Sonnets dénaturés― (1916) entsprechen genau den Intentionen Dadas: Sie verhöhnen die klassische Poesie durch Deformierung des Wortes, Klangspiele, typographische Experimente und münden in Nonsense. Halten wir übrigens fest, dass die Pariser Zeitschriften Nord-Sud und Sic die Entstehung Dadas signalisieren. 51 In den ersten Monaten des Züricher Dada steht Hugo Balls Streben nach einer Synthese der modernen literarischen Tendenzen im Vordergrund. Die Radikalisierung scheint mit Richard Huelsenbecks und Tristan Tzaras größerer Rolle im Cabaret Voltaire verbunden zu sein. 52 H. Ball, op. cit., 79sq. <?page no="201"?> Die vernetzten Avantgarden: Konvergenzen und Spezifizitäten 201 Cnuckabout/ Awu Awu burrubuh burrubuh die Irren sind los und der/ Papst geht hoch […]. 53 Nicht nur das Wort, sogar der Klang gewinnt ein Eigengewicht. Das Lautgedicht wird von Hugo Ball („Karawane―), Huelsenbeck („Schalaben, Schalabai, Schalamezomai―), später von Kurt Schwitters („Urlautsonate―) gepflegt: jolifanto bambla ô falli bambla/ grossiga m‘pfa habla horem/ égiga goramen/ higo bloiko russula huju/ hollaka hollala/ anlogo bung/ blago bung/ blago bung […]. 54 Logische Wortverbindungen haben ausgedient, Lautassoziationen treten an ihre Stelle. Was das poetische Bild betrifft, empfiehlt Dadas Propagandist Tristan Tzara 55 neue Bilder durch das Zusammenbringen von heterogenen Elementen zu schaffen, eine Strategie, zu der sich auch Pierre Albert-Birot, Pierre Reverdy und später die Surrealisten bekennen, wie vor ihnen Lautréamont mit seiner berühmten Evokation des Zusammentreffens einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch. Die Techniken der Montage und der Collage von vorgefertigten Materialien, z.B. von Werbeslogans und Zeitungsausschnitten, werden häufig angewendet, etwa bei Francis Picabia und Hans Arp („Weltwunder― 1917). 56 Das Groteske und Spielerische kann den düsteren Hintergrund der Züricher Veranstaltungen nicht verschleiern. Hugo Ball nennt sie ein „Narrenspiel aus dem Nichts― und einen Kampf „gegen die Agonie und den Todestaumel der Zeit―. 57 Nach ihm ist „die vollendete Freiheit―, die sie manifestieren, die Konsequenz einer „vollendete(n) Skepsis―. 58 Berlin Diese Geisteshaltung ist ebenfalls in Berlin anzutreffen, jedoch mit anderen Nuancen und nicht ohne positive Nebentöne. Ende 1917 kommt Huelsenbeck von Zürich nach Berlin. Im April 1918 gründet er dort den Club Dada, er definiert dabei Dada als Anti-Kunst. Sein 1919 herausgegebenes „Dadaistisches Manifest― wird von den meisten Züricher und Berliner Dadaisten, sowie von H. Arp und P. Albert-Birot unterzeichnet. In der deutschen Hauptstadt erregen nicht nur die Aktionen des Oberdada Johannes Baader 53 R. Huelsenbeck: „Hymne―, in: Phantastische Gebete, Zürich, 1960, 40sq. 54 Hugo Ball: „Karawane―, in: R. Huelsenbeck (ed.), Dada. Eine literarische Dokumentation, Reinbek, 1964, 209. 55 Tristan Tzara: „Note sur la poésie―, in : Dada, 4. Mai 1919. 56 Siehe diesbezüglich Peter Bürger, op. cit., 95. P. Bürger betont, dass der aus Fragmenten montierte Text sich als ‚Artefakt‗ erkennen lässt und einer abstrakten Komposition ähnelt. 57 H. Ball, op. cit., 91sq. 58 Ibid., 83. <?page no="202"?> Monique Boussart 202 Aufsehen, sondern auch die Publikationen in der 1919/ 20 von Raoul Hausmann geleiteten Zeitschrift Der Dada und dem von Huelsenbeck herausgegebenen Dada-Almanach, an denen auch Tzara und Arp mitarbeiten. 59 Die Texte der Berliner Dadaisten weisen Merkmale auf, die denen der Züricher Abenteurer verwandt sind. Bruitismus, das von Raoul Hausmann erfundene optophonetische Gedicht und das Plakatgedicht, d.h. ein lettristischer, auf großen Plakaten gedruckter Text, sowie Montage und Collage gehören zu ihren bevorzugten Ausdrucksmitteln. Eine wichtige Komponente unterscheidet aber die Berliner Schriftsteller von ihren Vorgängern: die Politisierung. Die eben angeführten Schreibmethoden werden in den Dienst der Satire und des Engagements für die Linke gestellt. Huelsenbeck, Franz Jung und vor allem Hausmann greifen mit äußerster Schärfe die Weimarer Republik und die S.P.D. an 60 , sie unterstützen Spartakus und verurteilen die unerbittliche Repression der Novemberrevolution. Hausmanns Satiren Hurra ! Hurra ! Hurra (1919) und Huelsenbecks Deutschland muss untergehen (1920) sind diesbezüglich vielsagend. Beide, sowie Walter Mehring, George Grosz, Walter Serner und Wieland Herzfelde, der Gründer des Malik- Verlags, verspotten die Stützen des Systems, Kirche, Reichswehr und Regierung, Ebert und Ludendorff. Das gleiche Ziel verfolgen die Collagen und Fotomontagen von John Heartfield und Hannah Höch sowie die Dada- Messe, eine politische Provokation, an der Picabia und Arp teilnehmen und die 1920 zugleich den Höhepunkt und das Ende der Berliner Dada- Bewegung markiert. Die oben genannten Ausdrucksformen prägen das Schaffen des Einzelgängers aus Hannover, Kurt Schwitters, der aber keine politischen Intentionen verfolgt und dessen „Merz-Kuns― konstruktivistische Aspekte aufweist. Sein berühmtes Gedicht „An Anna Blume― (1919) ist ein grotesk wirkendes Spiel mit Klängen, grammatischen Formen und unsinnigen Behauptungen: O du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich/ liebe dir! - Du deiner dich dir, ich dir, du mir./ - Wir ? / […] Blau ist die Farbe deines gelben Haares. 61 In Köln spielen 1920 neben den Hauptfiguren, Max Ernst, Johannes Theodor Baargeld und Hans Arp, auch französische Künstler eine Rolle. Außer der anarchistischen Tendenz ist der bedeutende Platz, der dem Zufall überlassen, der Sphäre des Traums und des Unbewussten zuerkannt wird, ein wichtiges Charakteristikum ihrer Leistungen. Dies wird ebenfalls in Paris der Fall sein, wo sich Max Ernst am Anfang der 1920er Jahre niederlässt. 59 Eine Reihe von kurzlebigen polemischen und sarkastischen Zeitschriften entstehen in jenen Jahren z.B. Jedermann sein eigener Fußball, Die Pleite, Der blutige Ernst, usw. 60 Raoul Hausmann: „Pamphlet gegen die Weimarische Lebensauffassung―, in: Der Dada 2, 1919. 61 K. Schwitters: „An Anna Blume―, zitiert nach R. Huelsenbeck, op. cit., 174. <?page no="203"?> Die vernetzten Avantgarden: Konvergenzen und Spezifizitäten 203 Paris Die Entstehung des Pariser Dadaismus ist mit der Gründung der Zeitschrift Littérature im Jahre 1919 durch Aragon, Breton und Soupault verbunden, drei Schriftsteller, die schon gelegentlich am Züricher und am Kölner Dada teilgenommen haben. Die Bewegung wird von Tzara und Picabia mitgetragen. Beide kommen 1919 nach Paris und schließen sich der Gruppe an, die sich regelmäβig in ihrem Hauptquartier, der Buchhandlung „Au sans pareil― zusammenfindet. Auch in der französischen Hauptstadt kommen Französisch- und Deutschsprachige zusammen. H. Arp, M. Ernst, W. Serner, W. Mehring und Huelsenbeck beteiligen sich an den Happenings und liefern 1920-22 Beiträge für Littérature. 1920 ist das große Dada-Jahr in Paris. Tzara veröffentlicht zwei Manifeste, „Manifeste de Monsieur aa l‘antiphilosophe―, dessen Titel schon Bände spricht 62 , und „Dada manifeste sur l‘amour faible et l‘amour amer―, in dem er das Rezept des dadaistischen Schreibens gibt: Pour faire un poème dadaïste Prenez un journal./ Prenez des ciseaux/ […] Découpez l‘article/ Découpez ensuite avec soin chacun des mots qui forment cet/ article et mettez-les dans un sac./ Agitez doucement./ Sortez ensuite chaque coupure l‘une après l‘autre./ Copiez consciencieusement/ dans l‘ordre où elles ont quitté le sac./ […]. 63 Die Pariser Dadaisten bleiben den bereits beschriebenen Schreibtechniken treu, eine ihrer bevorzugten Methoden ist die sogenannte „écriture automatique―, die sie dem „Penser dirigé― entgegenstellen und durch die sie das Unbewusste unverfälscht erfassen wollen. So entsteht 1919 der erste Teil der Champs magnétiques von Breton und Soupault. Tzara vor allem sorgt für Schlagzeilen, ab 1920 veranstaltet er provokative Vorstellungen, die Spannungen innerhalb der Gruppe auslösen und von denen sich Breton und die Seinen bald distanzieren. Sie werfen Tzara und Picabia ihren Nihilismus und zerstörerischen Anarchismus vor. 1922 kommt es zum Bruch, der Übergang zum Surrealismus bahnt sich an. 6 Der Surrealismus Breton und seine Mitkämpfer wünschen mehr als Negation und Antibürgertum, sie verlangen eine systematischere Auslotung des Un- und Unterbewussten. Das Nicht-Rationale, der Traum, der Wahnsinn und die Halluzination sind für sie Quellen von neuen Erkenntnissen. Die Surrealisten streben danach, das Wunderbare („le merveilleux―) zu erschließen, und zwar durch 62 Tristan Tzara: „Manifeste de Monsieur AA l‘antiphilosophe―, Littérature, 1920, 13. 63 T. Tzara: „Dada manifeste sur l‘amour faible et l‘amour amer―, in: Tristan Tzara, Sept manifestes Dada. Lampisteries, Paris, 1979, 64. <?page no="204"?> Monique Boussart 204 die Befreiung der Imagination und eine Zusammenfügung von Traum und Denken. Im ersten surrealistischen Manifest verkündet Breton 1924 : Je crois à la résolution future de ces deux états, en apparence si contradictoires, que sont le rêve et la réalité, en une sorte de réalité absolue, de surréalité […]. 64 Die Surrealisten glauben an eine magische Kunst, die auf Assoziationen und überraschenden Bildern beruhen soll. Durch verschiedene Mittel versuchen sie, diese herzustellen, zuallererst durch das Zusammenbringen disparater Elemente. In seinem Manifest bezieht sich Breton auf die Definition, die Pierre Reverdy im März 1918 vom Bild gegeben hatte: L‘image est une création pure de l‘esprit. Elle ne peut naître d‘une comparaison mais du rapprochement de deux réalités plus ou moins éloignées. Plus les rapports des deux réalités rapprochées seront lointains et justes, plus l‘image sera forte […]. 65 Breton fügt aber hinzu, dass es sich um ein ungewolltes, zufälliges („fortuit―) Zusammentreffen handeln solle. Daraus wird ersichtlich, welche schöpferische Rolle dem Zufall zuerkannt wird, eine Rolle, die auch die „écriture automatique― nach den Surrealisten erfüllen kann. In dieser Hinsicht ist Bretons Definition des Surrealismus aufschlussreich: Automatisme psychique pur par lequel on se propose d‘exprimer […] le fonctionnement réel de la pensée. Dictée de la pensée, en l‘absence de tout contrôle exercé par la raison, en dehors de toute préoccupation esthétique ou morale. 66 Das Hauptforum der Surrealisten ist in den 1920er Jahren die Zeitschrift La Révolution surréaliste und das erste große surrealistische Werk, nach Breton selbst, Les Champs magnétiques, das er mit Soupault schreibt und dessen zweiter Teil 1922 erscheint. In dieser Sammlung von kurzen Vers- oder Prosa-Sequenzen, die von Phantastik zu Nonsense reichen, fallen der Mangel an logischer Kohärenz, die vielen ungewohnten und evokativen Bilder, die zahlreichen Oxymora, Wortschöpfungen und Wortspiele auf. 67 Die beiden Autoren fügen ebenfalls Gesprächsfetzen oder leicht verfremdete stehende Ausdrücke der Alltagssprache in den Text ein. 68 Im Unterschied zum Dada- 64 André Breton: „Manifeste du Surréalisme―, in: A. Breton, Manifestes du Surréalisme, Paris, 1963, 23. Die Vereinigung der Gegensätze erweist sich als Grundprinzip der Surrealisten. Im zweiten Manifest (1929) bleibt Breton ihm treu. 65 A. Breton, Ibid., 31. Reverdy hat diese Definition in seiner Zeitschrift Nord-Sud veröffentlicht. 66 André Breton, Ibid., 37. 67 Siehe insbesondere A. Breton, Ph. Soupault: „Eclipses―, „En 80 jours―, in: Les Champs magnétiques, Paris, 1990, 45, 58. 68 Breton, Soupault: „Barrières‖, Ibid., 61. <?page no="205"?> Die vernetzten Avantgarden: Konvergenzen und Spezifizitäten 205 ismus ist hier keine Verzerrung der Syntax, wohl aber eine Vorliebe für die Parataxe und für das Spiel mit der Polysemie festzustellen. Das poetische Bild, der einzelne Eindruck gewinnt Autonomie, die Sinnkohärenz des Ganzen bleibt unerkennbar. Bald breitet sich der Surrealismuus auch in Belgien aus und in den folgenden Jahren nimmt er sogar internationale Ausmaße an. Immer deutlicher wird seit Mitte der 1920er Jahre die marxistische Ausrichtung der Bewegung und ab 1927 die Hinwendung zur kommunistischen Partei, was nicht ohne innere Spannungen vor sich geht. Trotzdem zeichnet sich der Surrealismus durch eine erstaunlich lange Existenz aus. Im deutschsprachigen Raum entwickelt sich keine mit der französischen Bewegung vergleichbare Strömung. Jedoch weisen schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Werke einzelner Autoren wie Alfred Kubin, Paul Scheerbart oder Mynona surrealistische Züge auf. Sie schaffen imaginäre Welten, in denen die Logik des Traums vorherrscht. Zum Schluss Die Innovationen der verschiedenen Avantgarden, zwischen denen, wie gesehen, die Grenzen fließend sind, erweisen sich auf thematischer wie formaler Ebene von großer Tragweite, insbesondere in der Lyrik, dem Drama und der Kurzprosa, und dies sowohl in Deutschland als auch in Frankreich. Im Fokus ihrer Experimente stehen das Bild und der Rhythmus. Der Vers wird freier und flexibler, das poetische Bild wandelt sich bis zur Chiffre, es wird mit typographischen Neuerungen und Klangspielen experimentiert, und die Sprache befreit sich von der traditionellen Syntax. Zwischen der deutschen und der französischen Literatur sind die Konvergenzen zahlreich. Sie lassen sich zum Teil durch den Zeitgeist, durch die gleichen objektiven Gegebenheiten erklären, zum Teil durch direkte oder indirekte Kontakte, die schon vorhandene Neigungen präzisiert oder verstärkt haben mögen. Die Wechselwirkungen sind m.E. eher auf der Ebene der Anregungen zu situieren, genaue Einflüsse sind wie immer schwer zu beweisen. Trotz der Übereinstimmungen sollen die Spezifizitäten nicht übersehen werden. Sie sind selbstverständlich mit kulturellen, sozalpolitischen, nicht zuletzt mit höchst individuellen Komponenten verbunden, die im Rahmen dieses Beitrags nur angedeutet werden konnten. Die ersten Jahre der Avantgarde sind eine Zeit des Kosmopolitismus, eine Zeit außergewöhnlicher Offenheit und Aufnahmebereitschaft vor allem seitens der deutschen Künstler, die sich insbesondere für die von Apollinaire und Cendrars ausgehende Ausstrahlung empfänglich zeigen. Nach der großen Kluft, die der Erste Weltkrieg bedeutete, wird trotz allem im Rahmen des Dadaismus und Surrealismus, gewissermaßen gerade <?page no="206"?> Monique Boussart 206 auf Grund der Kriegserlebnisse, eine Annäherung bzw. eine Zusammenarbeit wieder möglich. Weiterführende Literatur Bertrand Jean-Pierre et Durand Pascal: Les Poètes de la modernité, Paris, 2006. Bruera Franca et Meazzi Barbara (ed.): Plurilinguisme et Avant-gardes, Bruxelles (e.a.), PIE-Peter Lang, 2011. Bürger Peter: Theorie der Avantgarde, Frankfurt, 1974. Europa! Europa? : the avant-garde, modernism and the fate of the continent; edited by Sascha Bru, Jan Baetens, Benedikt Hjartarson, ...[et al.], Berlin/ New York, Walter de Gruyter, 2009. Fauchereau Serge: Expressionnisme dada surréalisme et autres ismes, Paris, 1976. Kemper Hans-Georg: Vom Expressionismus zum Dadaismus, Kronberg/ Taunus, 1974. Kühnel Anita, Lailach Michael & Weber Jutta (ed.): Avantgarde! Die Welt von gestern: Deutschland und die Moderne, 1890-1914: Worte in Freiheit: Rebellion der Avantgarde, 1909-1918, Dortmund, Kettler, 2014. Lemaitre Henri: L’Aventure littéraire du XXe siècle. 1890-1930, Paris, 1984. Philipp Eckhard: Dadaismus, München, 1980. Pörtner Paul: Literatur-Revolution 1910-1925. Dokumente. Manifeste, Programme, Neuwied-Berlin, 1961. Raabe, Paul: Die Zeitschriften und Sammlungen des literarischen Expressionismus 1910- 1921, Stuttgart, 1964. Richard Lionel: D’une Apocalypse à l’autre, Paris, 1976. Van den Berg Hubert & Fähnders Walter: Metzler Lexikon Avantgarde, Metzler, Stuttgart, 2009. Weisgerber Jean (ed.): Les Avant-gardes littéraires au XXe siècle, Budapest, 1986. <?page no="207"?> Philippe Beck Kapitel 8 Die Literatur des Ersten Weltkriegs (1914-1939) 1 Eine Literatur, die der Krieg gebar Schlachten und militärische Konflikte sind seit der Antike ein beliebtes Thema der Literatur. Doch ruft der Erste Weltkrieg eine literarische Produktion hervor, die es in dieser Form und Menge zuvor nicht gegeben hat. Allein in den ersten Jahren übertreffen die Anzahl Gedichte, Zeugenberichte oder Romane in deutscher und französischer Sprache sogar die Millionengrenze. Manche der Autoren sind schon vor 1914 etablierte Schriftsteller. Die meisten greifen jedoch erst in den Schützengräben oder nach 1918 zur Feder. Dieses Phänomen lässt sich durch verschiedene Gründe erklären: (1) Durch das Ausmaß der Katastrophe sind alle Bevölkerungsschichten direkt vom Krieg betroffen. (2) Die weitgehende Alphabetisierung hat dazu geführt, dass nun auch der einfache Soldat im Schützengraben dazu im Stande ist, das Erlebte niederzuschreiben. (3) Eine solche literarische Verarbeitung hat ebenfalls eine kathartische Funktion, indem sie dem Massenmorden und Sterben einen Sinn verleiht. So wird das Schreiben fast zu einer Notwendigkeit, die es ermöglicht „durchzuhalten―. (4) Die Bedeutung dieser Sinnstiftung für die Familien und das Lesepublikum bleibt von den Verlagen nicht ungenutzt, die fortan Anthologien und Sonderreihen veröffentlichen (z. B. „Ullstein Kriegsbücher― oder „La guerre - Les récits des témoins― bei Berger-Levrault). (5) So wird die Kriegserfahrung durch die Texte erst verfügbar. Damit sind sie in gewissem Sinne Teil des Kriegserlebnisses und tragen zu einer Erinnerungskultur bei, 1 die erstmals dem „kleinen Menschen― zugänglich ist. Denn zuvor waren Denkmäler, Lobgesänge und Heldengeschichten hauptsächlich militärischen oder politischen Führern vorbehalten und wurden 1 Cf. Paul Fussel: The Great War and Modern Memory, New York/ London, Oxford University Press, 1975. <?page no="208"?> Philippe Beck 208 von einer intellektuellen Elite initiiert bzw. verfasst. Diese Demokratisierung des Gedenkens findet schon 1914 ihren Niederschlag und nimmt nach dem Waffenstillstand eine besondere Stellung ein, die sich im Laufe der Zeit verändert, anpasst oder auch politisch vereinnahmt wird. In Anlehnung an den vom Historiker Pierre Nora geprägten Begriff ‚Erinnerungsorte‗, kann man in diesem Kontext von „Erinnerungstexten― reden. 2 Die Kriegsbücher sind damit auch Teil der Kriegskulturen. Sie vermitteln Kriegsbilder sowie prononcierte Darstellungen des Eigenen und des Anderen. Denn eine culture de guerre besteht aus Praktiken, Darstellungen und Verhaltensweisen im Krieg sowie aus den Gedenkdiskursen und -ritualen der Nachkriegszeit. 3 Der Erste Weltkrieg gebärt damit eine Literatur, die sich gattungstechnisch nicht immer einordnen lässt. Die meisten Prosatexte kennzeichnet vielmehr eine Verflechtung der Genres, die von einer ständigen Suche nach einer adäquaten Ausdrucksform für das Erlebte und gegebenenfalls die daran gebundenen Überlegungen zeugt. 4 Vor allem Prosatexte sind oft eine Mischung aus Tagebuchnotizen/ carnet, Roman und Zeugenbericht/ témoignage. Dabei erheben Autor und/ oder Verleger nicht selten einen Anspruch auf Authentizität. 5 All diese Aspekte sind unabhängig von Sprache und Kultur. Frontschriftsteller hat es in beiden Sprachräumen gegeben, die uns hier interessieren - und dies ohne regelrechte Kulturtransfers 6 - zumindest für die Kriegszeit selbst. Daher bezeichnet Nicolas Beaupré letztere als „Sonderzeit―, in der „un seul grand récit de la guerre― 7 hervortritt, das die nationalen Grenzen überschreitet. Dies bedeutet aber nicht, dass es keine kontextbedingten nationalen oder sprachlichen Spezifitäten gegeben hat, die eine komparatistische Studie in gewisse Schranken verweist. Darüber hinaus zeigt der 1914 aufgekommene deutsche Begriff Frontdichter, dass lyrische Texte in der Literatur deutscher Sprache während des 2 Astrid Erll schlägt ihrerseits für die in ihrem Corpus behandelten Texte den Begriff „Gedächtnisromane― vor. Astrid Erll: Gedächtnisromane: Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren, Trier, WVT Wissenschaftlicher Verlag, 2003. 3 Cf. Thierry Lemoine, „Chapitre VII - ‗Cultures de guerre‘, évolution d‘un concept―, in: Laurence Van Ypersele (ed.), Questions d’histoire contemporaine: conflits, mémoires et identités, Paris, PUF, 2006 (Quadrige, Manuels), 133-147, sowie Stéphane Audoin-Rouzeau & Annette Becker: 14-18, retrouver la Guerre, Paris, Gallimard, 2000. 4 Cf. Maurice Rieuneau: Guerre et révolution dans le roman français de 1919 à 1939, Paris, Klincksieck, 1974, 558. 5 Cf. Jörg Lehmann: Imaginäre Schlachtfelder. Kriegsliteratur in der Weimarer Republik, s.l., Books on Demand, 2014. 6 Nicolas Beaupré, Écrire en guerre, écrire la guerre, France, Allemagne 1914-1920, Paris, CNRS éditions, 2006, 256. 7 Ibid., 16. <?page no="209"?> Die Literatur des Ersten Weltkriegs (1914-1939) 209 Krieges eine bedeutende Stellung einnehmen. Diese Tatsache beruht auf der Tradition der deutsch-nationalen Kriegsdichtung, die in den sogenannten ‚Befreiungskriegen‗ gegen die napoleonische Armee entstanden war. Im französischen Sprachraum entsteht 1914 mit „écrivains combattants― ein ähnlicher Begriff und die Bezeichnung „témoins― wird zum von den Verlagen popularisierten Schlagwort, das infolge der literaturwissenschaftlichen Studie von Jean Norton Cru noch 1929 zu erhitzten Debatten führt. 8 Die vorliegenden Inventare der Kriegsliteratur sind angesichts der Fülle der Publikationen notgedrungen unvollständig. Für die Literatur deutscher Sprache liegt ein Autoren und Bucher zum 1. Weltkrieg betiteltes umfangreiches bio-bibliographisches Handbuch mit über 6500 Einträgen vor, das eine exzellente Grundlage für jede Forschung in dem Bereich bietet. 9 Ein Pendant für die französischsprachige Literatur liegt leider noch nicht vor. Die bereits erwähnte Studie Témoins von Jean Norton Cru bleibt, auch wenn Inhalt und Methode kritisiert werden können, ein hilfreiches Nachschlagewerk. 10 In diesen Quellen sind auch vereinzelte belgische, österreichische und Schweizer Autoren vorzufinden. Ein vollständiges Inventar der belgischen Literatur französischer, flämischer und deutscher Sprache wird derzeit an der Universität Löwen (KUL) angestrebt. 11 2 Kriegsvorstellungen vor 1914 In weiten Intellektuellen- und Künstlerkreisen wird der Krieg als vitalistische Alternative zu einer langweiligen und verlogenen Friedenswelt 12 mehr oder weniger ersehnt. Die „junge Generation― Frankreichs hofft auf eine Erneuerung durch die Kunst, 13 während sich die Helvetiker eine Redynami- 8 Cf. Jean Norton Cru, Témoins. Essai d’analyse et de critique des souvenirs de combattants édités en français de 1915 à 1928, Paris, Les Étincelles, 1929, réimpression avec une préface et une postface de Frédéric Rousseau, Nancy, Presses universitaires de Nancy, 2006. 9 Thomas F. Schneider et al. (ed.): Autoren und Bücher zum 1. Weltkrieg 1914-1939: Ein biobibliographisches Handbuch, Osnabrück/ Göttingen, Universitätsverlag Osnabrück/ V&R unipress, 2008 (Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs, 22). 10 Cf. auch die Statistiken bei Nicolas Beaupré, op. cit., 232-233. 11 Im Rahmen der Doktorarbeit von Myrthel Van Etterbeeck. Ansätze sind zu finden in Philippe Beck: „Écrivains du front belges. Groupements, revues, littérature de guerre et antimilitarisme―, in: Écrivains et conflits s. dir. François-Xavier Lavenne & Olivier Odaert, Interférences littéraires, 3, novembre 2009, online: http: / / sites.uclouvain.be/ interferences/ index.php? option=com_content&view=frontpage&Itemid=53 [11.07.2016] . 12 Cf. Peter Sprengel: Literatur im Kaiserreich. Studien zur Moderne, Berlin, Erich Schmidt, 1993, 268. 13 Cf. Christophe Prochasson & Anne Rassmussen: Au nom de la patrie. Les intellectuels et la Première Guerre mondiale (1910-1919), Paris, La Découverte, 1996, 77 . <?page no="210"?> Philippe Beck 210 sierung der Nation herbeiwünschen. 14 Und auch in der expressionistischen Literatur werden Aufbruchsstimmung und Krieg schon vor 1914 zu Vorreiterthemen. Es gibt aber auch eine regelrechte littérature d’anticipation, die Vorstellungen von einem kommenden Krieg vermittelt. Hierzu gehören Danrits Romanzyklus La guerre de demain (1888-1893), das Theaterstück La guerre (1912) des Brüsselers Albert Bailly oder Adolf Sommerfelds Novelle Frankreichs Ende im Jahr 19… (1912), denen allesamt die deutsch-französische Rivalität zugrunde liegt. 15 Die industriell geführte Massentötung wird aber vor allem im Roman Das Menschenschlachthaus (1912) von Wilhelm Lamszus angekündigt. Mit der zwischen ‚ich‗ und ‚wir‗ wechselnden persönlichen Perspektive und der episodischen Erzählstruktur sind schon hier jene Darstellungsstandards gegeben, die einen bedeutenden Teil der Kriegsromane der kommenden Jahrzehnte kennzeichnen werden. Dies gilt auch für stilistische Elemente, wie ironisch-zynische Darstellungen von militaristischen Aufzügen und nationalistischer Ergriffenheit, die Verinnerlichung des Feindes, die quasi Abwesenheit von ausgeprägten auto- und hetero-images, die Entmenschlichung der Hauptprotagonisten sowie ausführliche Beschreibungen von grauenvollen Schlachtszenen, durchgedrehten Soldaten und zerfetzten Menschenleibern. Aufgrund dieser Darstellungen löst das antimilitaristische Buch im deutschen Kaiserreich einen Skandal aus. Es wird kurzzeitig verboten und sein Verfasser vom Schuldienst entlassen. 16 Die 1914 druckfertige Fortsetzung, Das Irrenhaus, kann erst 1919 erscheinen. 3 Schreiben im Krieg (1914-1918) 3.1 Stellungnahmen von Intellektuellen Eine bedeutende Gruppe pazifistischer Intellektueller, zu denen Stefan Zweig und der in Paris ansässige deutsche Journalist Hermann Fernau gehören, begeben sich schon 1914 ins Schweizer Exil. Hauptakteur des internationalen Pazifismus ist dort der französische Schriftsteller Romain Rolland, der in seiner Artikelreihe Au-dessus de la mêlée (1914) den deutschen Imperia- 14 Alain Clavien: Les Helvétistes: intellectuels et politique en Suisse romande au début du siècle, Lausanne, Société d‘Histoire de la Suisse romande et Éditions d‘en bas, 1993, 291. 15 Für weitere Fälle cf. Pierre Schoentjes: Fictions de la Grande Guerre. Variations littéraires sur 14-18, s.l., Classiques Garnier, 2008 sowie Nicolas Mignon: „Imaginer la guerre en Belgique avant 1914―, online: https: / / www.rtbf.be/ 14-18/ thematiques/ detail_imaginerla-guerre-en-belgique-avant-1914? id=8286048 [11.07.2016]. 16 Zur Erfolgs- und Repressionsgeschichte des Romans cf. Andreas Pehnke: „Vorbemerkung des Herausgebers― in Wilhelm Lamszus: Das Menschenschlachthaus. Visionen vom Krieg. Erster und zweiter Teil, Bremen, Donat, 2014 (Geschichte & Frieden 23), 7-22. <?page no="211"?> Die Literatur des Ersten Weltkriegs (1914-1939) 211 lismus als größte Gefahr für Europa erkennt. 17 Thomas Mann und andere hingegen verteidigen zu diesem Zeitpunkt den Militarismus und das ‚Deutschtum‗ gegen den Europäismus Rollands. 18 Im Oktober 1914 veröffentlichen 93 Intellektuelle sogar einen „Aufruf an die Kulturwelt―, in dem sie den Überfall auf Belgien legitimieren und den Krieg als deutsche Kulturmission willkommen heißen. Dazu gesellt sich kurz darauf ein gleichgesinntes, von 3000 deutschen Wissenschaftlern und Professoren ratifiziertes Manifest. Der pazifistische „Aufruf an die Europäer― des deutschen Medizinern Georg Friedrich Nicolai hingegen kann lediglich vier Unterschriften verbuchen. 19 Die Publizistik nationalgesinnter Intellektueller wird schon bald von den „Ideen von 1914― geprägt, die eine Aufhebung der Werte der Französischen Revolution und eine politische Neuordnung Deutschlands mit antidemokratischen Tendenzen umfassen. Der Großteil der Intellektuellen verteidigt im durch die Politik der Union sacrée bestimmten Frankreich die demokratischen „Ideen von 1789―, und im fast gänzlich besetzten Belgien reagiert man mit starkem Patriotismus gegenüber der Bedrohung des „deutschen Barbarismus―. Hier spielen vor allem das arglose Vorgehen der deutschen Truppen gegen die belgische Zivilbevölkerung und die Zerstörung historischer Städte und der Universitätsbibliothek von Löwen eine ausschlaggebende Rolle. Der sonst zurückhaltende französische Philosoph Henri Bergson bezieht am 8. August unmissverständlich Stellung: „La lutte engagée contre l‘Allemagne est la lutte même de la civilisation contre la barbarie.― 20 Und auch in Belgien entsteht ein lang anhaltender, bisweilen von anti-deutschen Tiraden begleiteter Patriotismus, wie in Émile Verhaerens Gedicht L’Allemagne, exterminatrice des races (1915) oder bei Maurice Maeterlinck, der die sein ganzes Werk durchziehende Opfertod-Thematik in den Dienst der Kriegskultur setzt. 21 Ebenso werden in der neutralen Schweiz, wo die Kriegssituation für Spannungen zwischen den zwei großen Sprachgruppen sorgt, „Barbarismus― und men- 17 Romain Rolland: „Au-dessus de la mêlée―, in: L’Esprit libre, Paris, Albin Michel, 1953, 85. 18 Cf. Chantal Edet-Ghomari: „La polémique Romain Rolland-Thomas Mann face à la guerre―, in: Annamaria Laserra, Nicole Leclercq & Marc Quaghebeur (ed.), Mémoires et Antimémoires littéraires au XXe siècle. La Première Guerre mondiale, Colloque de Cerisy-la- Salle, Bruxelles, P.I.E.-Peter Lang, 2005, vol. 1, 33-49. 19 Wolfgang Benz: Pazifismus in Deutschland. Dokumente zur Friedensbewegung 1890-1939, Frankfurt a. M., Fischer Taschenbuchverlag, 1988, 24. 20 Zitiert nach Christophe Prochasson: „Les intellectuels français et la Grande Guerre―, in: Bulletin des bibliothèques de France, 3, 2014, online: http: / / bbf.enssib.fr/ consulter/ bbf- 2014-03-0038-003 [11.07.2016], s. ibid. für eine kurze Übersicht der Problematik. 21 Christian Lutaud: „Maeterlinck, la Grande Guerre et ‚la puissance des morts‗―, in: Annamaria Laserra, Nicole Leclercq & Marc Quaghebeur (ed.), Mémoires et Antimémoires, 51-64. <?page no="212"?> Philippe Beck 212 schenverachtender Militarismus geächtet - allerdings meist ohne antideutsche Äußerungen. 22 Eine französisch-patriotische Haltung ergreifen auch die Schweizer Cahiers vaudois 23 , und vor allem den in Paris lebenden Louis Dumur, der in Culture française et culture allemande (1915) 24 darauf abzielt, die Minderwertigkeit deutscher Kultur zu beweisen. Anatole France und Henri Barbusse hingegen gehören zu jenen Intellektuellen, die zu Kriegsbeginn einen gemäßigten Patriotismus an den Tag legen. So erhofft sich Barbusse einen entscheidenden Fortschritt und sieht den Krieg als Kampf gegen Militarismus, Imperialismus und Monarchie. 25 3.2 Frontschriftsteller und Kriegskultur Die Kriegstexte von 1914 bis 1918 sind ein Paradebeispiel der ‚Kriegskultur‗. 26 Hier finden sämtliche Aspekte des Kriegsbeginns Niederschlag: patriotische Begeisterung, Pflichtgefühle, Abenteuerlust, Ehrgefühl oder Vorstellungen von Männlichkeit. Ein negatives Feindbild geht generell mit einem Selbstbild des Zivilisationsverteidigers einher, wodurch der Krieg rechtfertigt wird. Das Feindbild ‚der Deutschen‗ als Barbaren, Hunnen, Teutonen oder boches zieht sich leitmotivisch durch die frankophonen Texte. Die starke Ausprägung dieser Darstellungen im Vergleich zu deutschen Texten kann mit der Präsenz des Feindes und dem Ablauf der Kriegshandlung im eigenen Land erklärt werden. 27 Hinzu kommt das Ausmaß der Gräueltaten der ersten Kriegsmonate. Die Feindbilder in der deutschen Literatur sind vergleichsweise von weniger Gewalt gekennzeichnet und darüber hinaus weitaus heterogener, weil der Krieg an mehreren Fronten geführt wird. 28 In diesem Kontext richtet sich der belgische Patriotismus vor allem gegen den grausamen Eindringling und preist den „heroischen Widerstand― der Soldaten. „[L]e 3 août, notre frontière fut violée par les hordes de Guillaume 22 Daniel Maggetti: „Ramuz, les écrivains suisses et la Grande Guerre‖, in: Annamaria Laserra, Nicole Leclercq & Marc Quaghebeur (ed.), Mémoires et Antimémoires, 111-125, 119sq. 23 Daniel Maggetti, ibid., 122sq. 24 Louis Dumur: Culture française et culture allemande, Lausanne, C. Tarin, 1915 (11 e Cahier vaudois). 25 Henri Barbusse: Paroles d’un combattant, Paris, Flammarion, 1920, 7-8. 26 Annette Becker & Stéphane Audoin-Rouzeau: „Violence et consentement: la ‚culture de guerre‗ du premier conflit mondial―, in: Jean-Pierre Rioux, Jean-François Sirinelli (ed.): Pour une histoire culturelle, Paris, Le Seuil, 1997, 251-271. 27 Gerd Krumeich: „Les objets insolites de l‘Historial de la Grande Guerre―, in: Petites Histoires de la Grande Guerre, Péronne, Historial de la Grande Guerre, catalogue d‘exposition, 2001, 27. 28 Cf. Nicolas Beaupré, op. cit., 162. <?page no="213"?> Die Literatur des Ersten Weltkriegs (1914-1939) 213 II le Sanguinaire,― 29 heißt es in De la Meuse à l’Yser, dem ersten Buch von Maurice Gauchez (Pseud. für Maurice Gilles), in dem unter anderem die Massaker von Zivilisten und die Zerstörungen von Löwen und Mecheln evoziert werden. In Gegenüberstellung betont der Autor wiederholt die „défense admirable― und „héroïque― der belgischen Armee. In diesem Sinn vereint der Sammelband La Belgique héroïque et vaillante (1916) weitere patriotische Texte, wie auch Fernand-Hubert Grimauty, Jacques Pirenne oder Pierre Tasnier gegen die verräterischen boches schreiben. Auf der anderen Seite rechtfertigt man das arglose Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung. In An der Spitze meiner Kompagnie (1914) stellt Paul Oskar Höcke sich und seine Männer als Opfer dar, die sich vor belgischen Partisanen in Acht nehmen müssen. Erschießungen von Zivilisten werden mit Stolz und größter Grausamkeit beschrieben, die deutschen Soldaten glorifiziert. Höckers Erzählung ist ein prägnantes Beispiel, das zeigt, wie die im Text dargestellte Rechtfertigung von Gewalttaten - hier als „Vergeltungsmaßnahme― - die wahren Erklärungen verdeckt. Denn die Historiographie hat mittlerweile bewiesen, dass es Freischärler während des Ersten Weltkriegs kaum gegeben hat, und dass die deutschen Reaktionen auf zuvor vermittelten Feindbildern und Erzählungen beruhten. 30 Die größten Erfolge der ersten Kriegsjahre sind allesamt kriegsidealisierende Bücher, die den Publikumserwartungen eines frischfröhlichen Krieges entgegenkommen. In Gaspard (1915) erzählt René Benjamin in nahezu pikareskem Stil die abenteuerlichen Erlebnisse eines stets gut gelaunten, loyalen und mutigen Pariser Kochs, der selbst nach einer Beinamputation gelassen ins Zivilleben zurückkehrt. 31 Genau diese beruhigende Darstellung will das Publikum lesen. So wird das Buch zum Bestseller und mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Ähnlich idealisierend und ästhetisierend gibt sich Walter Flex‘ Novelle Der Wanderer zwischen beiden Welten (1916), die ein „Idealbild des deutschen Kriegsfreiwilligen und Frontoffiziers, aber auch des neuen Menschen und Menschenführers― liefert. 32 Damit kündigt er eine Apologetik an, die von den Repräsentanten des „soldatischen Nationalismus― (cf. infra) fortgeführt und in der gesamten Zwischenkriegszeit beliebt bleiben wird. Zum Idealbild des Kriegers gehört des Weiteren die Bereitschaft zum Opfertod, wie in Flex‘ Vom großen Abendmahl (1915), und das Überwinden 29 Maurice Gauchez: De la Meuse à l’Yser. Ce que j'ai vu, Paris, Arthème Fayard et Cie, 1915, 23. 30 Cf. John Horne & Alan Kramer: German Atrocities 1914. A History of Denial, New Haven & London, Yale University Press, 2001. 31 Pierre Schoentjes: Fictions de la Grande Guerre, 24, 54. 32 Walter Flex: „Der Wanderer zwischen beiden Welten. Ein Kriegserlebnis― in: Kindlers Literatur Lexikon, Kindler, München, 1989, Bd. 5, 634. Über die Rezeption der schon 1916 veröffentlichten Übersetzung ins Französische ist mir nichts bekannt. <?page no="214"?> Philippe Beck 214 der Angst, auf dem Schlachtfeld zu sterben, wie in Maurice Genevoix‘ Sous Verdun (1916). Diese wird nicht selten als Ausdruck von Männlichkeit gewertet: „Et ils auront peur dans toute leur chair ; ils auront peur, c‘est certain, c‘est fatal ; mais ayant peur, ils resteront. Et ils se battront, corps dociles, parce qu‘ils éprouveront que cela est dû, et aussi, parbleu! parce qu'ils sont des hommes.― 33 Verdun und die Somme werden mit ihren Schlachten in den Texten beider Sprachen zu Metonymien eines Verteidigungskrieges, bevor sie letztendlich ein Paradigma für den gesamten Krieg werden und synekdochisch an jeden Gefallenen erinnern - sei es als Opfer oder als Held. 34 3.3 Desillusion und Ernüchterung Müdigkeit und Ernüchterung sind bereits im Dezember 1914 verfassten Gedicht Les Caissons von dem Kriegsfreiwilligen Paul Verlet festzustellen: On a voulu sauver la France : on ne peut plus ! Nos pieds sont en lambeaux comme ceux de Jésus Quand pour la paix du monde il montait son calvaire... 35 Gleichzeitig stellt er den Vergleich mit dem Kreuzweg Christi auf, der die gesamte Kriegsliteratur durchzieht. Diese Analogie ist sowohl in kriegsbejahenden als auch kriegskritischen Texte vorzufinden. Denn die Soldaten können für das Vaterland oder für den Frieden sterben, oder aber keinen Sinn im Opfertod finden. Einer der ersten kommerziellen Erfolge, der das Leben in den Schützengräben jenseits kriegsverherrlichender patriotischer Romantik darstellt und der erste internationale Erfolg eines Kriegsbuches ist Le Feu (1916, Prix Goncourt) von Henri Barbusse. Die eine Deckung mit dem Autor suggerierende Ich-Perspektive, der Untertitel Journal d’une escouade und die Widmung an die gefallenen Kameraden verleihen dem Werk den gewünschten Authentizitätsanspruch. Als Anklage gegen die industriellen Vernichtungsmaßnahmen im Rahmen politischer Konflikte ist die Botschaft unmissverständlich: „Il ne faut plus qu‘il y ait de guerre après celle-là! ― 36 , mahnt einer der wenigen Überlebenden am Ende des Buches. Selbst wenn die Soldaten stets von „boches― reden, schwindet letztendlich die Gegenüberstellung mit dem Feind: „Deux armées qui se battent, c‘est comme une grande armée qui se 33 Maurice Genevoix: Sous Verdun, août-octobre 1914, Paris, Hachette, 1916, 154. 34 Nicolas Beaupré: Écrire en guerre, op. cit., 192. Cf. auch Krieg im Frieden. Die umkämpfte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg: Quellen und Dokumente, hrsg. v. Bernd Ulrich & Benjamin Ziemann, Frankfurt a. Main, Fischer, 1997. 35 Paul Verlet: De la boue sous le ciel, esquisses d'un blessé, Paris, Plon-Nourrit, 1919. 36 Henri Barbusse: Le Feu. Journal d’une escouade, Paris, Flammarion, 1965, 359. <?page no="215"?> Die Literatur des Ersten Weltkriegs (1914-1939) 215 suicide! ― 37 Und als ein Soldat den deutschen Militarismus anklagt, entgegnet ihm ein anderer: „Oui. Aujourd‘hui, le militarisme s‘appelle Allemagne. — Oui; mais demain, comment qu‘il s‘appellera? ― 38 Die Desillusion ist schließlich offensichtlich: „la gloire du soldat est un mensonge, comme tout ce qui a l‘air d‘être beau dans la guerre.― 39 Explizit pazifistische Texte sind aufgrund der Zensur zu diesem Zeitpunkt selten; viele Gesinnungsänderungen finden erst nach 1918 statt. Umso bemerkenswerter ist in diesem Kontext die Gegenüberstellung der Kriegsbegeisterung von 1914 und des Horrors der Materialschlachten in Fritz von Unruhs Opfergang (1916 verfasst) und Léon Werths Clavel Soldat (1916/ 17 verfasst), wodurch der Krieg kritisch hinterfragt und Ernüchterung offengelegt wird. 40 Beide Werke können durch die Zensur erst 1919 erscheinen. Spielen in der deutschen Literatur auch der britische und der russische Feind eine bedeutende Rolle, so steht bei den frankophonen Autoren vor allem der deutsch-französische Antagonismus Pate für den ‚Großen Krieg‗. Die anhand der Bajonette zusammenhaltenden Leichen eines deutschen und eines französischen Soldaten sind daher für Werths Protagnisten Clavel ein entsprechendes Symbol: Ils étaient là depuis le mois d‘octobre, embrochés, le Français et l‘Allemand… On ne voit que les capotes. Ça tient par les baïonnettes et les fusils. L‘homme raconte avec calme… Clavel se présente par l‘imagination les deux squelettes couverts de capotes, tenus en équilibre par le poids des fusils. Parfait symbole de la guerre. 41 Ab der zweiten Hälfte des Kriegs tritt in den kriegskritischen Werken, die trotz Zensur erscheinen können, eine gewisse Empathie hervor, wie in dem nüchternen Jusqu’à l’Yser (1917) von Max Deauville, dem ironischen Mémoires d’un rat (1917) von Pierre Chaine, dem Kriegstagebuch (1916) von Siegfried Jacobsohn, oder der von den französischen Pazifisten viel beachteten Textsammlung Menschen im Krieg 42 (1917) von Andreas Latzko. Sie stellen den Krieg als dreckig, langweilig oder sinnlos und den Soldaten als Opfer dar. Das Feindbild wird dabei generell abgeschwächt. Aus dem „sale boche― 37 Ibid., 361. 38 Ibid., 362. 39 Ibid., 374. Eine erste deutsche Übersetzung veröffentlicht 1918 der Züricher Max Rascher Verlag. Zur Rezeption in Deutschland cf. Horst E. Müller: Studien und Miszellen zu Henri Barbusse und seiner Rezeption in Deutschland, Frankfurt a. M., Peter Lang, 2010. 40 Nicolas Beaupré, op. cit., 40sqq. 41 Léon Werth: Clavel soldat, Paris, Viviane Hamy, 1993 [1919], 219. 42 Cf. Andreas Latzko: Les Hommes en guerre..., Frz. von Magdeleine Marx, Paris, Flammarion, 1920. <?page no="216"?> Philippe Beck 216 wird nunmehr ein „boche― oder einfach neutral ein „Allemand―. Diese Tendenzen werden vor allem nach dem Waffenstillstand fortgesetzt. 43 3.4 Ästhetisierung des Krieges: Abenteuer und ritterliches Verhalten Ein wichtiger Beitrag zur Kriegskultur sind auch jene Texte, die den Krieg als Abenteuer bzw. erbauendes Erlebnis ästhetisieren und eine Spannung zwischen Schönheit und Risikoliebe aufbauen. 44 Hier werden die Protagonisten als heldenhafte Ritter und das Morden als Jagdsport dargestellt. 45 Daher stehen solche Kriegsbilder oft in enger Verbindung mit Autoren der oberen Führungsschichten oder adeliger Abstammung und können auf die hierarchischen Strukturen einer Ständegesellschaft zurückgeführt werden. In diesem Kontext ist der an der Somme gefallene Jagdflieger Manfred von Richthofen ein Paradebeispiel. 46 Nicht nur für den ritterlichen Kämpfer, der in Duellen den Feind respektiert, sondern auch für die Erwartungen und Wunschvorstellungen des Publikums sowie für die damit einhergehende Politik der Verlage, die neben dem Vorreiterthema Schützengraben/ Verdun 47 auch zielstrebig nach „exotischen― Erlebnisberichten, wie zum Beispiel vom U-Boot-, See- oder Luftkrieg Ausschau hält. Letztere nehmen mit ihren heroischen Kampfdarstellungen oft die Funktion eines positiven Gegenbildes zum Ermattungskrieg am Boden ein. 48 Richthofens als autobiographisch ausgewiesene Erzählung Der rote Kampfflieger (1917) ist daher in der gesamten Zwischenkriegszeit das auflagenstärkste Werk. 49 Aber nicht nur in Deutschland, auch in Großbritannien (Übersetzung 1918) und Frankreich (Übersetzung 1932) 50 ist der „Rote Baron― 51 als „Ritter der Lüfte― ein populärer Held der jüngsten literarisierten Geschichte. 43 Cf. auch Nicolas Beaupré, op. cit., 150sq. 44 Jörg Lehmann: Imaginäre Schlachtfelder, 36sq. 45 Jörg Bernig: „Anachronistisches Kriegsbild, Selbstinszenierung und posthume Heroisierung. Manfred von Richthofen: Der rote Kampfflieger (1917)―, in: Thomas F. Schneider & Hans Wagener (ed.), Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg, New York/ Amsterdam, Rodopi, 2003 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 53), 97-111, 105. 46 Für eine kritische Biographie cf. Joachim Castan: Der Rote Baron: Die ganze Geschichte des Manfred von Richthofen, Klett-Cotta, 2008. 47 Cf. Nicolas Beaupré, op. cit. 48 Jörg Lehmann, op. cit., 21. 49 Thomas F. Schneider: „Einleitung―, in: Id. et al. (ed.): Autoren und Bucher zum 1. Weltkrieg 1914-1939, 7-14, 10-12. 50 Capitaine aviateur de Richthofen, Le Corsaire Rouge, 1914-1918, Journal de guerre traduit de l‘allemand par Ed. Sifferlen, Paris, Payot, 1932. 51 Diese Bezeichnung geht auf eine englische Publikation und die fehlerhafte Übersetzung des Titels „Freiherr― zurück: Floyd Gibbons: The Red Knight of Germany. The Story of Baron Manfred von Richthofen (1927). <?page no="217"?> Die Literatur des Ersten Weltkriegs (1914-1939) 217 4 Deutungskampf nach dem Waffenstillstand, 1918-1925 Durch den Waffenstillstand untergehen die Kriegskulturen einen Wandel, weil die Möglichkeit des eigenen Todes aus dem Alltag der Soldaten weicht und der Ausgang des Krieges nun bekannt ist. Vor allem ab 1920 kommt es zu wichtigen Unterschieden in den Interpretierungen des Konflikts. 52 In Frankreich und Belgien geben Verteidigung des Vaterlands und Sieg dem Opfer der Soldaten einen Sinn. In Deutschland hingegen bleiben die Gefallenen unbesiegte Helden, deren angedachte Bravur letztendlich dazu dient, den Wehrwillen aufrecht zu erhalten. 53 In der Literatur beider Sprachen gibt es jedoch auch Vertreter, die einen Übergang vom Krieg in eine Revolution ersehnen, 54 oder deren Engagement explizit pazifistisch ist. 4.1 Gruppeninitiativen Ausgesprochen pazifistisch engagiert ist die ab 1916/ 17 unter dem Impuls von Romain Rolland gebildete Protestbewegung Intellektueller, die 1919 in die Bildung der auf eine internationale Verständigung ausgerichteten Gruppe Clarté mündet. Zu ihren Mitbegründern gehören auch die Frontschriftsteller Henri Barbusse, Paul Vaillant-Couturier und Raymond Lefebvre. 55 Das Manifest, das an die „große Erzieher- und Führerpflicht― der Schriftsteller und Künstler erinnert, wird sowohl von dem Literatur- und Kulturhistoriker Wilhelm Herzog als auch von René Schickele übersetzt. 56 Der ursprüngliche Plan, die Zeitschrift Clarté (1919-1928) in mehreren Sprachen erscheinen zu lassen, scheitert zwar. Doch können sich die frankophonen Autoren einer weiten Rezeption in zahlreichen deutschen und österreichischen Zeitschriften erfreuen. 57 In der eher auf politische Publizistik ausgerichteten französischen Literaturlandschaft hingegen setzt sich ein entsprechendes Interesse für deutschsprachige Autoren vorerst nicht durch. 58 In diesem Kontext tritt Paul Colin als Vermittler zwischen deutschen und fran- 52 Nicolas Beaupré, op. cit., 7. 53 Susanne Brandt: Vom Kriegsschauplatz zum Gedächtnisraum: Die Westfront 1914-1940, Baden-Baden, Nomos, 2000. 54 Nicolas Beaupré, op. cit., 209. 55 Zum Kontext cf. Alain Cuénot: „Clarté (1919-1928): du refus de la guerre à la révolution―, in: Cahiers d’histoire. Revue d’histoire critique [En ligne], 123, 2014, online: http: / / chrhc.revues.org/ 3522 [11.07.2016]. 56 Cf. Ernst Leonardy: „Die internationale Debatte um den Pazifismus der Clarté- Bewegung 1919-1921. Beiträge aus Frankreich, Deutschland und Belgien―, in: Id. & Hubert Roland (ed.), Deutsch-belgische Beziehungen im kulturellen und literarischen Bereich 1890-1940, Frankfurt a. M., Peter Lang, 1999, 155-189, 172. 57 Für Beispiele ibid., 174. 58 Ibid. <?page no="218"?> Philippe Beck 218 zösischen Künstlern auf und setzt sich für die Verbreitung der Clarté-Ideale ein. Mit seiner in Brüssel erscheinenden Zeitschrift L’Art libre stellt er den europäischen Künstlern von 1919 bis 1923 ein Forum zur Verfügung, in dem deutsche expressionistische Lyrik sowie politische Theoretiker wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht besprochen werden. 59 Darüber hinaus reist Colin zu Aufklärungszwecken und zur Internationalisierung von Clarté durch Deutschland. 60 Auch die Deutsche Friedensgesellschaft (DFG), der Bund Neues Vaterland, die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit, der Bund der Kriegsdienstgegner, der Rat geistiger Arbeiter sowie der Friedensbund der Kriegsteilnehmer (FdK) zielen auf eine deutsch-französische Verständigung ab. 61 Doch wie bei der Clarté-Bewegung sind es letztendlich Uneinigkeiten und Divergenzen ideologischer oder persönlicher Art, die zum Scheitern der disparaten Friedensbewegung führen. 62 Mit dem Ziel, die toten Kameraden zu ehren und den kameradschaftlichen Geist aufrecht zu erhalten, werden 1919 in Frankreich die Association des écrivains combattants (AEC) und in Belgien die Association des écrivains combattants belges (AECb) gegründet. 63 Diese Frontschriftstellervereinigungen verfolgen keine parteipolitischen Ziele und vereinen ein breites politisches Spektrum. 64 Ihrem Programm getreu publizieren AEC und AECb sowie die neu gegründeten Verlage La Renaissance d’Occident und Renaissance du Livre verschiedene Sammelwerke. 65 Renaissance d’Occident ist aber auch der Name einer von Maurice Gauchez gegründeten literarischen Zeitschrift (1920-1931, 1938-1940), die einen Teil der belgischen Frontschriftsteller vereint und zum Wiederaufleben der literarischen Milieus in Brüssel beiträgt. 66 Eine Frontschriftstellervereinigung gibt es in der Weimarer Republik nicht. Hier sind es die expressionistischen Zeitschriften, die Werke gefallener Frontdichter publizieren. Darüber hinaus bieten antimilitaristische Zeitschriften wie Das Tage-Buch (1920-1933), Das andere Deutschland (1925-1933) oder Die Weltbühne (1905-1933) entsprechend gesinnten Autoren ein Forum. Aber vor allem der im Dezember 1918 gegründete „Stahlhelm - Bund der 59 Ibid., 175. 60 Ibid., 176. 61 Cf. Philippe Beck, „Im Westen was Neues. Eine Einleitung zum Roman Golgatha―, in: Peter Schmitz: Golgatha. Ein Kriegsroman, hg. und eingeleitet von Philippe Beck, Bremen, Donat, 2014, 9-50, 26sqq. 62 Dieter Riesenberger, Geschichte der Friedensbewegung in Deutschland von den Anfängen bis 1933, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1985, 136. 63 Für die AEC cf. Nicolas Beaupré, op. cit., 236sqq; für die AECb cf. Philippe Beck: „Écrivains du front belges―. 64 Nicolas Beaupré, op. cit., 236. 65 Cf. Philippe Beck, op. cit., 165. 66 Ibid., 166. <?page no="219"?> Die Literatur des Ersten Weltkriegs (1914-1939) 219 Frontsoldaten― und nicht zuletzt auch die Verlage selbst üben großen Einfluss auf die Schriftsteller aus, indem sie dem Kriegskult und den Büchern von Vertretern des sogenannten ‚Soldatischen Nationalismus‗ wie Ernst Jünger, Friedrich Georg Jünger, Edwin Dwinger, Werner Beumelburg oder Ernst von Salomon zur weiten Verbreitung verhelfen. Zentrale Themen des „Stahlhelms― sind von Beginn an das Kriegserlebnis und seine Erinnerung. Dazu gehört ein verklärender Frontkämpfermythos ebenso wie der Kampf gegen jegliche „Weichheit― und „Feigheit―. 67 4.2 Ressentiments und Fortsetzung des Krieges Während der Sieg in Frankreich und Belgien das Sinnbild einer Erneuerung sein kann, wird die Niederlage in der deutschen Kriegsliteratur vor 1925 nicht thematisiert. 68 Der Krieg wird vielmehr auf literarischer Ebene fortgesetzt und die Fronterfahrung als erbauendes Erlebnis idealisiert. Die höchsten Führungsschichten publizieren Rechtfertigungsschriften, zu denen die Memoiren von Erich Ludendorff und Paul von Hindenburg gehören. Und wie auch die von Gustaf von Dickhuth-Harrach und anderen herausgegebene fünfbändige Textsammlung Im Felde unbesiegt (1923) schon im Titel andeutet, ist die ‚Dolchstoßlegende‗ Hauptutensil, um die militärische und nationale Ehre aufrechtzuerhalten. In diesem Kontext fällt auf, dass die deutschen Erzählungen der Nachkriegsjahre generell mit einer gewonnenen Schlacht oder einer Auszeichnung enden. Dies ist beispielsweise der Fall bei den offiziellen Regimentsgeschichten 69 und bei Ernst Jünger, der sein literarisch verarbeitetes Tagebuch In Stahlgewittern (1920) mit der Auszeichnung mit dem „Ordre pour le Mérite― abschließt. Auch in seinen späteren Schriften, wie Das Wäldchen 125 (1924) oder Feuer und Blut (1925), wird stets auf das Jahr 1918 unter Ausklammerung der letzten Kriegsmonate eingegangen. 70 Im Zuge der Radikalisierung des literarischen Deutungskampfes gestaltet Jünger In Stahlgewittern mehrmals um und fügt 1924 folgenden Schlusssatz hinzu: „Wenn auch von außen Gewalt und von innen Barbarei sich in finsteren Wolken zusammenballen, - solange noch im Dunkel die Klingen blitzen und flammen, soll 67 Sönke Neitzel & Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Berlin, Fischer, 2011. 68 Jörg Lehmann, op. cit., 172. 69 Cf. Markus Pöhlmann: Kriegsgeschichte und Geschichtspolitik. Der Erste Weltkrieg. Die Amtliche deutsche Militärgeschichtschreibung, 1914-1956, Paderborn/ München/ Wien, Schöningh, 2002. 70 Cf. Gilbert Merlio: „Ernst Jünger écrivain de la Grande Guerre―, in: Jean-Jacques Pollet & Anne-Marie Saint-Gille (ed.), Écritures franco-allemandes de la Grande Guerre, Arras, Artois Presse Université, 1996, 191-207. <?page no="220"?> Philippe Beck 220 es heißen: Deutschland lebt und Deutschland soll nicht untergehen! ― 71 Damit sucht er Anschluss an die Bewegung einer nationalen Erneuerung Deutschlands, 72 zu der Franz Schauwecker und sein Buch Im Todesrachen. Die deutsche Seele im Weltkriege (1919) gehören. Auch hier wird die Niederlage nur implizit erwähnt. Explizit hingegen werden das Durchhaltevermögen des „deutschen Soldaten―, seine unaufhörliche Siegesreihe und die Verantwortung der Heimat und der Revolutionäre für das letztendliche Scheitern dargelegt. 73 In den Siegerstaaten bedeutet das Ende des Krieges jedoch nicht das Ende der Kriegskulturen. Lucien Christophes während der ‚Wacht am Rhein‗ überarbeiteten und 1921 veröffentlichten Kriegsnotizen Aux lueurs du brasier (1917-1920) oder Fernand-Hubert Grimautys Les six derniers mois de guerre en Belgique (1922) zeigen, wie sich das belgische Publikum zu dieser Zeit vor allem für Darstellungen des besiegten Deutschlands interessiert. 74 Die Erklärungen hierfür sind in dem aus belgischer Sicht unverständlichen Verhalten des deutschen Staates ersichtlich: Zum einen ist da die Dolchstoßlegende, anhand derer die Niederlage verworfen wird, zum anderen ist es die Abwesenheit von Schuld- und Reuegefühlen, die die Soldaten des einst neutralen Staates brüskiert. 75 Auch der Schweizer Louis Dumur ändert seine Position nach dem Krieg nicht und nährt mit seinen revanchistischen Romanen Nach Paris! (1919) und Le Boucher de Verdun (1921) Ressentiments und Feindbilder. Und Maurice Laurentin sieht sich hin und her gerissen zwischen christlicher Vergebung und dem Aufrechterhalten der Erinnerung an die deutschen „Verbrechen―. 76 In Belgien und Frankreich setzt aber auch allmählich eine „démobilisation des esprits― ein, so dass das ideologische Spektrum der Kriegsliteratur zwischen Pazifismus und Nationalismus schwingt. Das mit Gaspard etablierte Bild des „poilus débrouillard― zerbröckelt allmählich. 77 Dennoch gibt es auch in der frankophonen Literatur Darstellungen vom Krieg als Prüfstein 71 Die nationalistisch-patriotische Passage wird 1934 erneut gestrichen. Die Gründe hierfür bleiben fadenscheinig. Entweder distanziert sich Jünger damit vom Nationalsozialismus, oder aber er sieht eben in den neuen Machthabern, jene, die die 1924 formulierte Mission erfüllen (cf. Nicolas Beaupré, Écrire en guerre, 207, Anm. 57). 72 S. Helmuth Kiesel: „Nachwort―, in: Ernst Jünger: In Stahlgewittern, Stuttgart, Klett- Cotta, 2014, 297-307, 305. 73 Franz Schauwecker: Im Todesrachen. Die deutsche Seele im Weltkriege, Halle, Diekmann, 1919, z.B. 8-10. 74 Nicolas Mignon: Les Grandes Guerres de Robert Vivier (1894-1989). Mémoires et écritures du premier conflit mondial en Belgique, Paris, L‘Harmattan, 2008, 42. 75 Nicolas Mignon, op. cit., 44. 76 Nicolas Beaupré, op. cit., 210. 77 Martin Hurcombe: Novelists in Conflict. Ideology and the Absurd in the French Combat Novel of the Great War, Amsterdam/ New York, Rodopi, 2004, apppendix. <?page no="221"?> Die Literatur des Ersten Weltkriegs (1914-1939) 221 der Männlichkeit. So versucht Henry de Montherlants Protagonist dem Bild des durch den Krieg erhärteten, virilen Kämpfers gerecht zu werden: „Ma raison me dit d‘être dur; et j‘ai la pitié en moi comme un cancer.― 78 Eine Minderheit nährt auch eine gewisse Nostalgie des heroischen Abenteuers und der als männliche Tugend dargestellten Kameradschaft. 79 Und auch ritterliche Darstellungen in Form tradierter populärer Kultur sind im französischen Sprachraum von Erfolg gekrönt, wie es Mes cloîtres dans la tempête (1922) 80 belegt. Der autobiographisch angelegte mystisch-religiöse Mantelund-Degen-Roman des belgischen Kriegsfreiwilligen und Franziskanerbruders Martial Lekeux wird in den 1920er Jahren europaweit zur populärsten Kriegserzählung französischer Sprache. 81 Nach einer Zeit der Unruhen (Freikorpskämpfe, Putschversuche, Attentate) setzt Mitte der 1920er Jahre eine zunehmende Politisierung der deutschen Kriegsliteratur ein, die aufgrund der ideologisch unterschiedlichen Wirkung der Kriegstexte in der frankophonen Welt nicht zu beobachten ist. Diese Politisierung ist allgemein präsent in der Erinnerungskultur der Weimarer Republik: So ist einerseits das ‚Antikriegsjahr‗ 1924 das letzte Aufbäumen der Friedensbewegung; andererseits proklamiert die Regierung im Rahmen einer patriotischen Feier einen offiziellen ‚Opfertag‗, der auf weitaus mehr Resonanz stößt als die Parole „Nie-wieder-Krieg! ―. 82 Das folgende Jahr ist dann ein symbolischer Wendepunkt im literarischen Deutungskampf des Kriegsendes, der die Texte „in einen eschatologischen Kontext überführt― 83 und von zwei politisch antagonistischen Werken markiert wird: Während Adolf Hitler die Niederlage in Mein Kampf erstmals explizit formuliert und sein persönliches Sendungsbewusstsein mit einer nationalsozialistischen Erneuerung der Nation verbindet, schwebt Albert Daudistel in seiner sozialistischen Gesellschaftsutopie Das Opfer eine klassenlose Gesellschaft vor. 84 4.3 Pazifistische Sinngebungen Die seltenen pazifistischen Werke der Weimarer Republik fallen in ihren Darstellungen weitaus radikaler aus, als ihre frankophonen Pendants, weil 78 Nach Nicolas Beaupré, op. cit., 169. 79 Maurice Rieuneau, op. cit., 137sqq. 80 Cf. Paul Aron: „Le R. P. Martial Lekeux, Franciscain, artilleur et écrivain―, in: Littératures en contact Ŕ Mélanges offerts à Vic Nachtergaele, Louvain, Presses universitaires de Louvain, 2003, 97-111. 81 Jean Norton Cru, op. cit., 349. 82 Wolfgang Benz: ―Von Bertha Suttner bis Carl von Ossietzky: die deutsche Friedensbewegung 1890-1939‖, in: ders. (ed.), Pazifismus in Deutschland, 7-51, 35. 83 Jörg Lehmann, op. cit., 185. 84 Jörg Lehmann, op. cit., 189sqq. <?page no="222"?> Philippe Beck 222 sie auf die vorherrschende militaristische Sinngebung kriegsbejahender Texte reagieren. Dies wiederum wird mit Prozessen und Verboten beantwortet. Der vor dem Krieg in Paris als Journalist tätige Heinrich Wandt, z. B., veröffentlicht 1920 mit Etappe Gent seine Tagebuchnotizen, die Korruption, Kriminalität und sexuelle Vergehen der namentlich erwähnten Führungskräfte anprangert. Der Autor wird daraufhin mit mehr als fünfzig Prozessen überzogen und inhaftiert, während das Buch sowohl in Belgien - die Übersetzung ins Französische erfolgt noch im selben Jahr 85 - und den Niederlanden als auch in Deutschland großes Aufsehen erregt. Der in Der Gefangene von Potsdam 86 dokumentierte Fall zeigt, welche Konsequenzen die „Nicht-Demobilisierung― in Deutschland hat, und wie das ausführliche Beschreiben von Gewalt an der Front auch dazu dienen kann, andere Taten zu vertuschen. 87 Genauso wird dem Pazifisten, Anarchisten und Homosexuellenrechtler Bruno Vogel 88 seine Textsammlung mit dem ironischen Titel Es lebe der Krieg! (1924) zum Verhängnis. 89 Aufgrund einer Klage werden die ersten beiden Auflagen beschlagnahmt, das Buch bis 1926 als „unzüchtige Schrift― verboten und schließlich in einer gekürzten Fassung neu heraus gebracht. 90 Hier wird der Krieg unverblümt in seinem Grauen dargestellt. Doch der Verwendung von Horror-Elementen in der kriegskritischen Literatur liegt nicht das Stillenwollen einer Angstlust beim Leser zugrunde, 91 sondern vielmehr das Bedürfnis, den Krieg nicht zu euphemisieren und den Wahnsinn durch Ekel und Schrecken bloßzustellen. Was dem Leser bei Vogel explizite Textstellen näherbringen, übernehmen in Ernst Friedrichs viersprachiger Dokumentation Krieg dem Kriege! Guerre à la Guerre! War against War! 85 Heinrich Wandt: Vie d’étape à Gand. En marge de l’effondrement allemand, Gand, H. Janssens, vol. 1, 1920, vol. 2, 1921. 86 Heinrich Wandt: Der Gefangene von Potsdam, 2 Bd., Wien/ Berlin, Agis-Verlag, 1927; Philippe Beck: Umstrittenes Grenzland. Selbst- und Fremdbilder bei Josef Ponten und Peter Schmitz, 1918-1940, Brüssel, P.I.E. Peter Lang, 2013 (Comparatism & Society 21), 267sqq. 87 Nicolas Beaupré, op. cit., 265. 88 Cf. Raimund Wolfert: Nirgendwo daheim. Das bewegte Leben des Bruno Vogel, Leipzig, Leipziger Universitätsverlag, 2012. 89 S. Martin Baumeister, „Ästhetik der Abschreckung. Der Versuch einer pazifistischen Kriegsdarstellung. Bruno Vogel: Es lebe der Krieg! Ein Brief (1925)―, in: Thomas F. Schneider & Hans Wagner (ed.), Von Richthofen bis Remarque, 165-179. 90 S. Bruno Vogel: Es lebe der Krieg! Ein Brief, 3. Aufl., Leipzig Plagwitz, Die Wölfe, 1926, Vorwort. 91 Cf. Karl Heinz Bohrer: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jungers Frühwerk, München/ Wien, Carl Hanser, 1978. <?page no="223"?> Die Literatur des Ersten Weltkriegs (1914-1939) 223 Oorlog aan den Oorlog! (1924) Fotos von entstellten Gesichtern. Auch er wird aufgrund seines pazifistischen Engagements verfolgt. 92 Der Pazifismus der frankophonen Literatur ist weitaus diffuser und zugleich auch weiter verbreitet. Oft wird ein gewisser Patriotismus beibehalten, wenn auch in abgeschwächter Form. Diese Situation erklärt, warum Frontschriftsteller wie Roland Dorgelès oder Maurice Gauchez sowohl als Pazifisten als auch als Patrioten gelten können. Dorgelès‘ Les Croix de bois (1919), noch während des Krieges geschrieben, ist ein bekanntes Beispiel, das die Ambivalenz pazifistischer Texte aufzeigt. Der Erzähler Jacques Larcher führt den Leser durch den Alltag im Schützengraben, wobei vor allem das Leiden, das Sterben und die Kameradschaft der jungen Männer beleuchtet wird. Einen Sinn für den Krieg finden die Protagonisten nicht, auch wenn sie ihren Kampf als ‚Kreuzweg‗ zum ‚Kalvarienberg‗ beschreiben. 93 Angesichts der feldinternen Spannungen tritt diese Sinnstiftung durch das Motiv der Gemeinschaft der aufgeopferten Frontsoldaten 94 in der deutschsprachigen Literatur erst Ende der 1920er hervor. Ein deutsch-französisches Versöhnungsprojekt entwirft der Protagonist in Paul Reboux‘ Roman Les Drapeaux (1921), dessen Form lediglich ein Gewand für ein Plädoyer gegen übersteigerten Patriotismus, Nationalismus und Krieg sowie für den Abbau der Vorurteile als Voraussetzung einer deutsch-französischen Annäherung ist. 95 Andere Texte charakterisieren sich durch die Abwesenheit von Feindbildern, wie La plaine étrange (1923) von Robert Vivier, wo die Soldaten nicht mehr aktiv am Krieg teilzunehmen scheinen; sie durchleben ihn nur noch wie triste und müde Schatten. 96 Unabhängig von Sprache und Kultur ist Ironie eines der beliebtesten Stilmittel, um die Absurdität des Krieges, des Patriotismus und des Militärsystems in Worten zu fassen. Schon bei Lamszus präsent, entfaltet sie sich beispielsweise in Mémoires d’un rat, womit der Autor Pierre Chaine die Gattung der témoignages persifliert. Denn, wie der Titel bereits verrät, handelt es sich um die fiktiven Erinnerungen der Ratte Ferdinand, die den Krieg in den Schützengräben Nordfrankreichs erlebt und beschreibt. 97 Mit Ironie entmystifizieren auch Joseph Jolinon in Le valet de gloire (1923) 98 und der eben erwähnte Bruno Vogel den Krieg. Max Deauvilles satirische Darstellungen 92 S. Tommy Spree: Ich kenn keine „Feinde“. Der Pazifist Ernst Friedrich. Ein Lebensbild, Berlin, Anti-Kriegs-Museum, 2000. 93 Roland Dorgelès: Les Croix de bois, Paris, Albin Michel, 1919, Kapitel „Mont calvaire―. 94 Cf. Modris Eksteins: Rites of Spring. The Great War and the Birth of the Modern Age, London, Macmillan, 2000, 290sq. 95 Maurice Rieuneau, op. cit., 183-184. 96 Nicolas Mignon, op. cit., 92. 97 Cf. hierzu Pierre Schoentjes, op. cit. 98 Maurice Rieuneau, op. cit., 184-193. <?page no="224"?> Philippe Beck 224 von La Boue des Flandres (1922) und Introduction à la vie militaire (1923) betreffen schließlich vor allem das Militärsystem in all seinen Facetten. Diese bissige Kritik sorgt 1917 sogar für Spannung mit seinem Verleger Calmann. 99 5 Der Aufschwung Ende der 1920er Jahre Spätestens Ende der 1920er Jahre wird der Roman zum vornehmlichen Medium der Neu-Interpretierung des Konflikts und die Autoren gehören meist einer Generation an, die mit der Schriftstellerkarriere nach dem Krieg begonnen hat. Diese Aufarbeitungsarbeit setzt in der deutschen Literatur rund zehn Jahre später ein als in der frankophonen Literatur. 100 So bemerkt Kurt Tucholsky in einer Besprechung von Arnold Zweigs Der Streit um den Sergeanten Grischa (1927): „Es ist merkwürdig genug: nach neun Jahren stößt den Deutschen der Krieg sauer auf. In Frankreich ist das längst vorüber; [...] nun kommen die Soldaten, die den Krieg am eignen Leibe erlebt haben, und wagen sich hervor und sagen die Wahrheit. Es war höchste Zeit.― 101 Die Literatur entwickelt sich sogar zum Leitmedium im Deutungskampf um das Kriegserlebnis. Ausgelöst wird er durch Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1928/ 29) und in der frankophonen Welt ebenfalls durch die literaturwissenschaftliche Studie Témoins (1929) von Jean Norton Cru. Kriegskritische Romane wie Arnold Zweigs Zyklus mit dem ironischen Titel Der große Krieg der weißen Männer (1927-1954), Ludwig Renns Krieg (1928) - eines der wenigen Bücher, das die Freischärler-Angst der deutschen Soldaten beim Einmarsch in Belgien kritisch darstellt - Theodor Pliviers antimilitaristische Des Kaisers Kulis (1929) und Der Kaiser ging, die Generäle blieben (1932), Ernst Johannsens Vier von der Infanterie (1929) 102 oder Fronterinnerungen eines Pferdes (1929) und schließlich Im Westen nichts Neues sind auch heute noch bekannt. Doch täuschen sie über die Tatsache hinweg, dass die militaristisch-nationalistische Erinnerung in der deutschen Literatur auch zu diesem Zeitpunkt vorherrschend ist. Die Statistiken belegen, dass 99 Philippe Beck, „Calme sur le Front de l‘Yser. Intertextualité littéraire et images de l‘ennemi dans le ‗témoignage‘ de Max Deauville―, in: Nord’. Revue de critique et de création littéraire du nord/ Pas-de-Calais, 64, décembre 2014, „La guerre 14-18―, Lille, Septentrion Presses universitaires, 49-65, 51. 100 Karl Prümm: „Tendenzen des deutschen Kriegsromans― in: Klaus Vondung (ed.), Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1980, 215-217. 101 Peter Panter (Pseud. für Kurt Tucholsky): „Der Streit um den Sergeanten Grischa―, in: Die Weltbühne, 13.12.1927, 50, 892. 102 Wird noch im selben Jahr verfilmt und unter dem Titel Brigadevermittlung als Hörspiel (ein in der deutsch- und englischsprachigen Welt beliebtes Medium, das im französischsprachigen Raum kaum verbreitet ist) vermarktet. <?page no="225"?> Die Literatur des Ersten Weltkriegs (1914-1939) 225 von den Kriegsbüchern, die 1919-1939 in deutscher Sprache erschienen sind, lediglich 5% (! ) eine kriegskritische Haltung einnehmen. 103 Im Bereich der kriegskritischen Texte sind allerdings Gemeinsamkeiten in den beiden Sprachräumen festzustellen. Dies ist beispielsweise der Fall für das in den erwähnten Texten beliebte Stilmittel der Vertierung der Soldaten, das in Le grand troupeau (1931) von Jean Giono das Leitmotiv ist. Hier wechseln sich Szenen von auf dem Lande sterbenden Tieren und Frontsoldaten ab. Bei Gabriel Chevallier werden das Sterben und der Wahn in ähnlicher Gesinnung zur Banalität. La peur (1930) lautet der Titel seines antiheroischen, den Darstellungen Jüngers oder Beumelburgs entgegenarbeitenden Romans. Der Roman Die Katrin wird Soldat (1930) der Elsässerin Adrienne Thomas (Pseudonym für Hertha Strauch) ist einer der wenigen, der den Krieg aus der Sicht einer Frau schildert und zusätzlich die Perspektive aus einem umstrittenen Grenzland einnimmt. Beeinflusst von der eigenen Erfahrung als Krankenschwester am Grenzbahnhof Metz, wo sie junge Männer begeisterungstrunken an die Front ziehen sieht und später mit deren Leiden im Lazarett konfrontiert wird, schafft die Autorin eine junge, jüdische Protagonistin, die sich zur Kriegsgegnerin entwickelt. Die Grenznähe veranlasst auch Rudolf Franks jungen deutsch-polnischen Protagonisten in Der Schädel des Negerhäuptlings Makaua (1931) zu ironischen Stellungnahmen. 104 Mit dem Untertitel Kriegsroman für die junge Generation will der Autor die aufklärerische Nachricht für die jugendlichen Leser vertuschen und der dominanten radikalnationalistischen Literatur entgegenwirken. Der titelstiftende „Schädel des Sultans Makaua― war von Deutsch-Ostafrika nach Deutschland gebracht worden und soll laut Friedensvertrag von Versailles der britischen Regierung übergeben werden. Allerdings ist er nie wieder aufgetaucht und die Protagonisten des Buches stellen sich die Frage, ob er je existiert hat. Damit steht er stellvertretend für die ideologischen Konstrukte, die zum Krieg geführt haben und wird zum Symbol für die Sinnlosigkeit des Krieges. Wenngleich die Absurdität des Kriegs schon ein Merkmal früherer kriegskritischer Texte war, wird sie nun zu einem weit verbreiteten Phänomen der pazifistischen Welle gegen Ende der 1920er Jahre. Neu für die deutsche Literatur ist allerdings die Verinnerlichung der gegnerischen Perspektive, wie sie in Der Schädel des Negerhäuptlings Makaua oder Im Westen nichts Neues zu beobachten ist. 105 Aus letzterem sei hier jene Szene angeführt, in der Paul Bäumer einen Buchdrucker namens Gérard Duval tötet. Über längere Passagen hinweg unterhält sich Remarques Protagonist mit dem toten Franzosen und bittet ihn um Verzeihung: 103 Thomas F. Schneider: „Einleitung―, 8. 104 1979 neu veröffentlicht unter dem Titel: Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß. 105 Cf. Jörg Lehmann, op. cit. <?page no="226"?> Philippe Beck 226 Vergib mir, Kamerad! Wir sehen es immer zu spät. Warum sagt man uns nicht immer wieder, daß ihr ebenso arme Hunde seid wie wir, daß eure Mütter sich ebenso ängstigen wie unsere und daß wir die gleiche Furcht vor dem Tode haben und das gleiche Sterben und den gleichen Schmerz -. Vergib mir, Kamerad, wie konntest du mein Feind sein. 106 Der in der Schlussszene implizit erwähnte Titel - „Er fiel im Oktober 1918, an einem Tage, der so ruhig und still war an der ganzen Front, daß der Heeresbericht sich nur auf den Satz beschränkte, im Westen sei nichts Neues zu melden― - spielt mit Ironie auf die Diskrepanz zwischen dem nüchternen Kriegsbild der Heeresberichte und der schrecklichen Realität an der Front an, ein Stilmittel, das bereits 1917 Deauvilles Tagebuch Jusqu’à l’Yser abschließt und auch von anderen Autoren aufgegriffen wird. 107 Die bereits 1929 veröffentlichte Übersetzung von Im Westen nichts Neues bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die frankophonen Leser, die den Roman mit seiner Episodenstruktur in die unmittelbare Nähe von Le Feu und Les croix de bois rücken und in ihm einen Hoffnungsträger des Friedens erkennen. 108 Im selben Jahr noch erscheint Jean Norton Crus umfassende Studie Témoins, 109 die eine hohe Wogen schlagende Polemik um den sogenannten „Wahrheitsgehalt― der Kriegsbücher auslöst. Das Buch wirft letztendlich die Frage auf, inwiefern eine literarische Verarbeitung von Tagebuchnotizen und Erinnerungen „erlaubt― ist, um der Gefallenen angemessen zu gedenken. Der Literaturwissenschaftler, der als französischer Soldat in Verdun gekämpft und anschließend rund zehn Jahre für seine Forschungsarbeit in Anspruch genommen hat, tritt nämlich als „témoin moral― 110 auf und urteilt mit scheinbarer Objektivität über die bisher erschienenen Publikationen. Doch betrachtet Cru diese Autoren ausschließlich als Zeitzeugen, obwohl die meisten bewusst als Schriftsteller auftreten, wie Roland Dorgelès 1930 in einem Protestschreiben betont. 111 106 Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues, Berlin, Propyläen, 1929, 222. 107 S. Philippe Beck: „Calme sur le front de l‘Yser―, 57sq. 108 Jean Rieuneau, op. cit., 257sq. 109 Cf. Frédéric Rousseau: Le procès des témoins de la Grande Guerre. „L’affaire Norton Cru“, Paris, Seuil, 2003; Charlotte Lacoste, „L‘invention d‘un genre littéraire. Témoins de Jean Norton Cru―, in: Texto! , Juillet 2007, vol. XII, n° 3; sowie die bald erscheinende Doktorarbeit von Benjamin Gilles. 110 Jay Winter: „Le témoin moral et les deux guerres mondiales‖, in: Histoire & sociétés. Revue européenne d’histoire sociale, n° 8, octobre 2003, 99-115. 111 Nicolas Beaupré: „Literature (France)― in: Ute Daniel et al. (ed.): 1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War, Berlin, Freie Universität Berlin, 2014, http: / / dx.doi.org/ 10.15463/ ie1418.10390 [11.07.2016]. In diesem Sinn stellt auch Paul Fussel die Frage nach dem literarischen Statut der „Memoiren―, The Great War and Modern Memory, 310-315. <?page no="227"?> Die Literatur des Ersten Weltkriegs (1914-1939) 227 Ein in der Forschungsliteratur bisher kaum berücksichtigter Aspekt ist die rege Übersetzungstätigkeit, die auf die Erfolgswelle der kriegskritischen Bücher und Filme sowie auch auf den Einfluss von Norton Crus Studie zurückzuführen ist. Vor 1929 liegen mit Das Feuer (1917) und Klarheit (1920) von Barbusse nur wenige Übersetzungen eines französischen Autors ins Deutsche vor. Und auch auf frankophoner Seite schien sich das Interesse in dieser Hinsicht stark in Grenzen gehalten zu haben. Abgesehen von den in Clément Pansaers‗ Zeitschrift Résurrection publizierten expressionistischen Texten, kamen lediglich Latzkos Menschen im Krieg, Wandts Etappe Gent und von Unruhs Opfergang in den Genuss einer Übertragung ins Französische. Man schien vorerst mit der eigenen Erinnerungsarbeit beschäftigt zu sein. 1929 ändert sich diese Lage - zumindest in Frankreich, wo nicht nur die erfolgreichen kriegskritischen Werke von Remarque, Renn, Zweig, Johannsen, Adam Scharrer oder Adrienne Thomas übersetzt werden. Auch die heroisch, militaristischen Werke Manfred von Richthofens, Ernst Jüngers und Ernst von Salomons werden ins Französische übertragen, von namhaften Verlagen publiziert und vom Publikum wohlwollend rezipiert. Ein ähnlich reges Interesse für die frankophone Literatur ist im deutschen Sprachraum nicht festzustellen. Lediglich die Werke von Roland Dorgelès, Jean Giono und Louis-Ferdinand Céline können sich hier einer Übertragung erfreuen. Wenn Dorgelès und Gionos Werke noch 1930 bzw. 1932 erscheinen, so wird die deutsche Fassung von Célines antiheroischem Le voyage au bout de la nuit (1932) aufgrund schwerwiegender Probleme zwischen Verlag und Übersetzer in entstellter Form publiziert. 112 6 Neue Sinngebungen und Deutungen (1930-1939) 6.1 Faschismus, Patriotismus und Internationalismus Angesichts des auftreibenden Faschismus entstehen zu Beginn der 1930er Jahre neue internationalistische Bewegungen, wie die in Paris gegründete Ligue internationale des combattants de la paix (1931-1939), deren radikale Losung „Non à toutes les guerres! ― an das „Nie wieder Krieg! ― von einst erinnert und die die Frontschriftsteller Andreas Latzko, Ernst Toller, Jean Giono, Joseph Jolinon, Jules Romains und Charles Vildrac in ihrem Ehrenkomitee zählt. Henri Barbusse und Romain Rolland ihrerseits organisieren in Amsterdam und Paris zwei internationale Kongresse gegen Krieg und Faschismus, woraufhin 1933 die Amsterdam-Pleyel-Bewegung entsteht. 113 112 Nachwort in Louis-Ferdinand Céline: Reise ans Ende der Nacht, Dt. v. Hinrich Schmidt- Henkel, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt Verlag, 2003. 113 Eva Oberloskamp: Fremde neue Welten: Reisen deutscher und französischer Linksintellektueller in die Sowjetunion 1917-1939, München, Oldenbourg, 2011, 65. <?page no="228"?> Philippe Beck 228 Die meisten deutschen pazifistischen Autoren sehen sich infolge der Machtübernahme der NSDAP und der Bücherverbrennungen 114 gezwungen, das Land zu verlassen. Die im ‚Dritten Reich‗ verbleibenden Frontschriftsteller verfassen fast allesamt kriegsverherrlichende Werke und nehmen damit aktiv an einer literarischen Wiederaufrüstung und am Bilden nationaler Mythen teil. Das politisch symbolische Jahr 1933 stellt in diesem Kontext nur bedingt eine Zäsur für die Literatur dar. Die Behinderung oder Verfolgung militant kriegskritischer Autoren ist bereits für die Weimarer Zeit festzustellen, wie die oben angeführten Beispiele es zeigen. Weitere Fälle sind der vielbeachtete Weltbühne-Prozess, in dem Carl von Ossietzky „wegen Beleidigung des Militärs― verurteilt wird, 115 und die Verfolgung und Verurteilung Ernst Friedrichs, der 1936 nach Belgien flüchtet. 116 Schließlich ist das bereits 1930 erzielte Verbot der Verfilmung von Im Westen nichts Neues signifikant für die militaristische Stimmung und den zunehmenden Einfluss der NSDAP in der Weimarer Republik. 117 Als Reaktion auf den Faschismus beobachtet man ab 1934 auch in Belgien und Frankreich ein Wiederaufflammen des Patriotismus, der die neue Generation mobilisieren soll. Die spürbare Spannung veranlasst Jules Romains, der sich schon in den 1920er Jahren für eine „Partei Europa― eingesetzt hat, zur Publikation seines Essay Le couple FranceŔAllemagne (1934), in dem er an die deutsch-französische Verständigung als Bedingung für den Frieden erinnert und vor einem weiteren Krieg warnt. Ein weiteres kosmopolitisches Projekt, das sich gegen den Faschismus richtet, ist der im Juni 1935 in Paris organisierte Congrès international des écrivains pour la défense de la culture. 118 Um dieser Stimmung entgegenzuwirken, wird der deutsche Botschafter in Frankreich noch im selben Jahr damit beauftragt das Comité- France-Allemagne (CFA) zu gründen - eine zu Hitlers Beschwichtigungspolitik gehörende Propagandaorganisation, die unter dem Deckmantel der Völkerverständigung Frankreichs Faschisierung anstrebt. 114 Verbrannt wurden u. a. die Werke von Remarque, Adrienne Thomas, Tucholsky, Rudolf Frank, Renn, Johannsen, Arnold Zweig, Latzko, Plivier, Barbusse (http: / / verbrannte-und-verbannte.de, [11.07.2016]). 115 Cf. Ingo Müller: „Carl von Ossietzky―, in: Helmut Donat & Karl Holl (ed.): Die Friedensbewegung. Organisierter Pazifismus in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Hermes Handlexikon, Düsseldorf, ECON Taschenbuch Verlag, 1983, 294-296. 116 Tommy Spree: Ich kenn keine „Feinde“, op. cit. 117 Cf. Tagebucheinträge Josef Goebbels, abgedruckt in Wolfgang Benz: Pazifismus in Deutschland, 42 sowie Philippe Beck, Umstrittenes Grenzland, 285sq. 118 Sandra Teroni & Wolfgang Klein (ed.): Pour la défense de la culture: les textes du Congrès international des écrivains, Paris, juin 1935, Dijon, Éditions universitaires de Dijon, 2005. <?page no="229"?> Die Literatur des Ersten Weltkriegs (1914-1939) 229 6.2 Aufbruch der Nation Zusätzlich zu der weiterhin dominierenden kriegsverherrlichenden Literatur bildet sich in Reaktion auf die kriegskritischen und entheroisierenden Texte eine „radikalnationale― Front. 119 Fortan wird im literarischen Kampf unter dem fortwirkenden Einfluss sozialdarwinistischer Theorien ein neues Frontsoldatenbild aufgebaut, das an den „Neuen Menschen―-Prototypen anknüpft und Schmerz als literarisches Attraktionspotential umwertet in Ausdruck von Männlichkeit. Im Gegensatz zu den Texten der Nachkriegszeit wird das Leiden nicht mehr verschwiegen oder negiert, sondern integriert und valorisiert. Darüber hinaus findet ein Perspektivenwechsel in Hinblick auf das Kriegsende statt. Wurde dieses von den Frontsoldaten der Nachkriegszeit ausgeblendet, so wird es nun mit einbezogen und mit einer Sinngebung bedacht. 120 Dementsprechend erklärt Otto Paust in Volk im Feuer (1934) die Niederlage durch politisches Chaos und durch die Abwesenheit eines „großen Führers―. 121 Bei Hans Zöberlein wird mit dem Untergang des alten Reiches nun „der Glaube an ein besseres Deutschland geboren― 122 und bei Schauwecker der Aufbruch der Nation gefeiert. 123 Zu den nationalen Mythen gehört Manfred von Richthofen, der als Heldenfigur nun zur „soldatische[n] Führungspersönlichkeit― 124 stilisiert wird. In ähnlicher Gesinnung werden Walter Flex‘ Wanderer zwischen beiden Welten und der dazugehörige Erinnerungsort „Wandervögel― mythisiert. 125 Neue Verwendung findet auch Zerkaulens Gedicht Wandlung (1915), das 1933 in seinem Schauspiel Jugend vor Langemarck (1933) integriert wird, um die Erinnerung an Langemarck und an den „stählernen Soldaten― aufrecht zu erhalten. In dieser Gesinnung werden auch Heinrich Lerschs Verse „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben mussen! ― auf verschiedenen Soldatenfriedhöfe, darunter auch Langemarck, angebracht. 126 Spuren von Resistenz gegen diese Weltanschauung im ‚Dritten Reich‗ sind lediglich in vereinzel- 119 Jörg Lehmann, op. cit., 212. 120 Ibid., 218sqq., 224sq. 121 Karl Prümm, op. cit., 158. 122 Hans Zöberlein: Der Glaube an Deutschland. Ein Kriegserleben von Verdun bis zum Umsturz, München Eher, 1931, 9. 123 Franz Schauwecker: Aufbruch der Nation, Berlin, Frundsberg, 1930, 403. 124 Jörg Bernig, „Anachronistisches Kriegsbild―, 110. 125 Cf. Ulrich Linse: „Der Wandervogel―, in: Étienne François & Hagen Schulze (ed.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. III, München C.H, Beck, 2002, 531-548. 126 Cf. Gerd Krumeich: „Langemarck―, in: Etienne François & Hagen Schulze (ed.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. III, 291-309. <?page no="230"?> Philippe Beck 230 ten Werken, wie Quartier an der Mosel (1936) von Karl Friedrich Borée zu finden, just zu dem Moment, als die Wehrpflicht wieder eingeführt wird. 127 1936 wird auch die vom ehemaligen Kriegsfreiwilligen und Propagandaschriftsteller Otto Paust präsidierte Vereinigung Die Mannschaft. Kameradschaft der Frontdichter in der NSDAP gegründet, die sich als Ziel setzt, die nationalistische Erinnerung an den Krieg aufrechtzuerhalten und die junge Generation zu mobilisieren. Zu diesem Zweck veröffentlicht sie von 1936 bis 1938 entsprechende Bücher und Anthologien, 128 wie zum Beispiel jene mit dem verlogenen Titel Frontsoldaten wollen den Frieden. 129 6.3 Vom Erfahrungsbericht zum Geschichtsroman Erfahrungsberichte oder engagierte Texte erscheinen auch weiterhin, wie z. B. Arthur Pasquiers Carnets de campagne 1914-1918 (1939), Max Deauvilles Textsammlung Dernières fumées (1937) oder der im deutschsprachigen Belgien erschienene Antikriegsroman Golgatha (1937) von Peter Schmitz. 130 Doch schwindet das Interesse des frankophonen Publikums für diese Literatur im Laufe der 1930er Jahre. Hier kommt dem Ersten Weltkrieg vor allem eine neue Stellung zu, indem er in Entwicklungsromanen zu einer Etappe im Leben des Protagonisten 131 oder zur Bühne in Geschichtsromanen mit Einzelhelden wird, die ihn interpretieren und deuten. 132 Beispiele hierfür sind Célines Voyage au bout de la nuit (1932), Arnold Zweigs im Exil erschienener Roman Erziehung vor Verdun (1935) oder Jules Romains‗ Prélude à Verdun (1938) und Verdun (1938) aus der 27bändigen Reihe Les Hommes de Bonne Volonté (1932-46), deren Handlungsspielraum zwischen 1908 und 1933 angesiedelt ist und mit der der Autor die große Geschichte mit der Geschichte einzelner Personen verschiedener sozialer Provenienz vereinen möchte. Lucien Christophes Gedichtsammlung Le Pilier d’airain (1934) zeigt, dass rückwendende philosophische Überlegungen auch in die Lyrik einfließen. Das Weltbild, demzufolge Mut und Intelligenz den Krieg zum noblen Abenteuer und Prüfstein der Männlichkeit machten, ist durch das 14/ 18-Erlebnis 127 Cf. Günter Scholdt: „Ein Kriegsroman zwischen den Fronten. Karl Friedrich Borée, Quartier an der Mosel (1936)―, in: Ulrich Kittstein & Regine Zeller (ed.): „Friede, Freiheit, Brot! “. Romane zur deutschen Novemberrevolution, Amsterdam/ New York, Rodopi, 2009, 291-306. 128 Nicolas Beaupré, op. cit., 248. 129 Die Mannschaft. Kameradschaft der Frontdichter, Frontsoldaten wollen den Frieden, Berlin, Safari, 1937. 130 Cf. Philippe Beck, Umstrittenes Grenzland sowie Peter Schmitz: Golgatha. 131 Maurice Rieuneau, op. cit., 552sq. 132 So bezeichnet Rieuneau in diesem Kontext „une philosophie de l‘histoire― als „la signification essentielle de la fiction―, Guerre et révolution, 552 f. <?page no="231"?> Die Literatur des Ersten Weltkriegs (1914-1939) 231 erschüttert worden, was sich Rieuneaus Studie zufolge nun in einer „crise de la raison―spiegelt. 133 7 Schlussfolgerungen Schlussfolgernd können hinsichtlich einer interkulturellen Annäherung folgende Thesen festgehalten werden: 1. Die einschlagende, im Französischen passend genannte littérature d’anticipation, die zwischen 1871 und 1914 Vorstellungen vom nächsten Krieg verbreitet, verdient es, unter Rücksicht der deutsch-französischen Beziehungen genauer analysiert zu werden. 2. Der Zeitraum 1914-1918 weist, wie von Nicolas Beaupré gezeigt, tatsächlich viele Gemeinsamkeiten in den Kriegskulturen auf. Dennoch dürfen wichtige Unterschiede wie der schon zuvor und auch bis ins ‚Dritte Reich‗ hinein omnipräsente preußisch-deutsche Militarismus nicht unterbeleuchtet bleiben. 3. In der Zwischenkriegszeit gehen die Gedenkkulturen aufgrund von Sieg und Niederlage unterschiedliche Wege. Dabei ist vor allem die ungebrochene Hegemonie der deutschen nationalistisch-militaristischen Literatur zu beachten. 4. Die Kriegsliteratur ist ein interkulturelles Phänomen, unabhängig von Kulturtransfers. Die Bezeichnungen „Frontdichter― und „écrivains combattants― verweisen letztendlich auf dieselben Phänomene. Um die anfängliche Vormachtstellung der deutschen Lyrik nicht zu sehr in den Vordergrund zu rücken, sollten im Deutschen die neutraleren Begriffe „Frontschriftsteller― oder „Kriegsschriftsteller― bevorzugt werden. Die Möglichkeit von interkulturellem Austausch aufgrund von Übersetzungen bleibt ein Forschungsdesiderat. 5. Den Verlagen kommt eine maßgebende Rolle zu: während des Krieges in der Bekanntmachung und Förderung der Frontliteratur und anschließend - vor allem in der Weimarer Republik und im ‚Dritten Reich‗ - hinsichtlich der literarischen Mobilisierung. 6. Dieses literarische Rüsten im Deutschland der 1930er Jahre kennt kein Gegenstück in der frankophonen Literatur, wo lediglich ein leichtes Aufflammen des Patriotismus als Reaktion auf den Nationalsozialismus festgestellt werden kann. 134 Der ausgeprägte Militarismus zieht sich wie ein roter Faden durch die deutsche Literatur vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. So ist auch die politische Zäsur von 1933 kein Bruch in der Literaturgeschichtsschreibung. 133 Ibid., 555. 134 Und Rieuneau stellt vorsichtig die Frage: „Après la dénonciation du mal, au sortir du cyclone historique de 1914-1918, ne retrouve-t-on pas une mystique de la guerre et l‘exaltation de ses valeurs? ―, Guerre et révolution, 551. <?page no="232"?> Philippe Beck 232 7. Eine Gemeinsamkeit in der patriotischen Kriegsliteratur beider Sprachen ist die Tatsache, dass militärische Misserfolge (dazu gehören Stillstand der Front sowie Niederlagen) nur selten thematisiert werden - auch nach dem Entfallen der Militärzensur. 8. Gemeinsamkeiten lassen sich vor allem in kriegskritischen Werken finden. Hierzu gehören Ironie und narrative Techniken, wie Stellungnahmen und Aufrufe der Protagonisten, anhand derer die Sinnlosigkeit des Krieges gezeigt wird. 9. Darüber hinaus lässt sich eine Kontinuität zwischen pazifistischen Werken der Vorkriegszeit und jenen um 1929 feststellen. 10. Die Kriegsliteratur kennzeichnet sich durch eine hohe Intertextualität aus. Jean Giono und Ege Tilmns haben Max Deauville gelesen, Peter Schmitz Renn, und nahezu jeder Barbusse und Remarque. Diese Lektüren können Erklärungen für Einflüsse und Reminiszenzen sein. 11. Verdun hat sowohl in der französischen als auch in der deutschen Literatur einen hohen symbolischen Stellenwert. Schon in der Kriegsliteratur kann man daher von einem gemeinsamen Erinnerungsort reden. Weiterführende Literatur Anz Thomas u. Vogl Joseph (ed.): Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914-1918, Stuttgart, Reclam, 2014. Buelens Geert: Europas Dichter und der Erste Weltkrieg, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2014. Campa Laurence: Poètes de la Grande Guerre. Expérience combattante et activité poétique, Paris, Classiques Garnier, 2010. De Schaepdrijver Sophie: „Death is Elsewhere. The Shifting Locus of Tragedy in Belgian Great War Literature―, in: Yale French Studies, Alyson Waters (ed.), New Haven, Yale University Press, 2002, n° 102, „Belgian Memories―, 94-114. Hüppauf Bernd (ed.): Ansichten von Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft, Königstein/ Ts., Forum Academicum in d. Verlagsgruppe Athenäum, 1984. Müller Hans-Harald: Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik, Stuttgart, Metzler, 1986. Natter Wolfgang G.: Literature at war, 1914-1940: representing the „time of greatness“ in Germany, New Haven, Conn./ London, Yale University Press, 1999. Roland Hubert, Schoentjes Pierre (ed.) : 14-18: Une mémoire littéraire; n°32 (2007) de Textyles. Revue des lettres belges de langue française. Online : https: / / textyles.revues.org/ 276 [12.7.2016] Schneider Uwe u. Schumann Andreas (ed.): Krieg der Geister: Erster Weltkrieg und literarische Moderne, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2000. Steinbach Matthias (ed.): Mobilmachung 1914: Ein literarisches Echolot, Stuttgart, Reclam, 2014. <?page no="233"?> Resümees Kapitel 1: Aufklärung und Lumières im Kontext des 18. Jahrhunderts Das Kapitel umfasst die Zeit vom Ende des Spanischen Erbfolgekriegs (1714) bis zum Beginn der Französischen Revolution (1789). Dabei geht es ausdrücklich nicht um die Histoire parallèle zweier Nationalliteraturen, sondern um die Erhellung übergreifender Strukturen im Spannungsfeld von Nähe, Distanz und Kontrasterfahrung, von imitatio, aemulatio und translatio. Die Neuvermessung der Erde im Zeichen der Aufklärung und des Enzyklopädismus beschäftigt beide Literaturen ebenso wie die Debatte um Shakespeare, Winckelmann oder die in beiden Sprachen vorliegenden Reiseberichte. Hinzu kommen übersetzungs- und rezeptionsgeschichtliche Fragen, wie sie u. a. das Verhältnis des französischen Quietismus zum deutschen Protestantismus betreffen. Am Ende werden die Adepten der in statu nascendi befindlichen deutschen Kulturnation den (geglaubten) Modellcharakter und den universalen Anspruch des grand siècle in Frankreich als nationale Herausforderung begreifen und hinterfragen. Ihre zuweilen rabiate Deutschtümelei richtet sich vor Allem gegen die international vernetzte Europe française und die gallophilen Eliten im Reich mit ihrem als Entfremdung vom eigenen Volk interpretierten Bekenntnis zu Transkulturalität und Mehrsprachigkeit. Nicht wenige Literatur-Patrioten bejubeln den preußischen Sieg im 7jährigen Krieg (1756-1763) als deutschen Sieg über die Welschen und antizipieren damit eine nationalistische Wende, die am Ende auch der Französischen Revolution nicht erspart bleibt. Ce chapitre englobe la période qui s‘étend de la fin de la Guerre de Succession espagnole (1714) au commencement de la Révolution Française (1789). De ce fait, il ne s‘agit pas ici uniquement d‘aborder l’histoire parallèle de deux littératures nationales, mais bien d‘éclaircir les grandes structures de cette zone de tension du point de vue de la proximité, de la distance et de la découverte de contrastes intellectuels (imitatio, aemulatio et translatio). La nouvelle vision du monde émanant des Lumières et de l‘Encyclopédisme s‘intéresse aux deux littératures aussi bien qu‘aux discussions concernant Shakespeare et Winckelmann ou encore aux récits de voyages rédigés dans les deux langues. À cela viennent s‘ajouter des questions de traduction et de réception historiques et la manière dont celles-ci affectent entre autre les relations du Quiétisme français avec le Protestantisme allemand. Finalement, les adeptes d‘une nation culturelle allemande en devenir considèreront et remettront en question le (présumé) modèle et le droit universel du <?page no="234"?> Resümees 234 grand siècle en France comme un défi national. La culture allemande se positionnera, de manière parfois brutale, principalement contre l‘Europe française internationalement connectée et contre les élites ‗gallophiles‘ au sein même du Reich, dont l‘adhésion à l‘interculturalité et au plurilinguisme est interprétée comme une aliénation face à son propre peuple. Bon nombre de patriotes de la littérature fêtent la victoire prusse de la Guerre de Sept ans (1756-1763) comme une victoire allemande contre l‘ennemi français et anticipent de ce fait un tournant nationaliste qui ne restera pas dans l‘ombre à la fin de la Révolution Française. Kapitel 2: Classicisme / ’Klassik’. Begriffsgeschichte und deutschfranzösische Wechselwirkungen um 1800 In diesem Kapitel wird die Bildung ‚klassischer‘ Perioden der Literatur als Gipfelpunkte der verschiedenen europäischen Nationalliteraturen als historiographische Konstruktion im Kontext der politischen Konkurrenz der Nationen und der Legitimation des jeweiligen kollektiven Selbstbewusstseins in Betracht gezogen. Als Reaktion gegen die europäische Ausstrahlung und die ‚Vorbildlichkeit‗ der französischen Kultur und Literatur des 17. Jahrhunderts fragen sich die deutschen Autoren, wie sie ihrerseits die Idee einer deutschen Nationalliteratur begründen können. Die deutschfranzösischen Wechselwirkungen um 1800 werden anhand der Begriffsgeschichte des ‚Klassischen‗ in Frankreich und Deutschland, dann der Auseinandersetzung mit dem französischen Vorbild im Umfeld der Weimarer Klassik dargestellt. Es war Goethe und Schiller nur deshalb möglich, sich mit einem an der Antike geschulten symbolischen Kapital programmatisch zu positionieren, weil sie dabei auf den Kontext einer kulturgeschichtlichen Entwicklung, in der in Deutschland seit der Entdeckung Homers dem Kulturmodell der griechischen Antike eine überragende Bedeutung zugeschrieben worden war, zurückgreifen konnten. Bereits darin lässt sich eine deutliche Distanzierung vom französischen Klassizismus erkennen. Diese ambivalente Annäherung an den französischen Klassizismus wird durch das Beispiel von Goethes Voltaire-Bearbeitung illustriert. Dans ce chapitre, la constitution de périodes ‗classiques‗ de la littérature comme moments d‘apogée des différentes littératures nationales est envisagée comme construction historiographique dans un contexte de concurrence politique des nations et de légitimation des consciences collectives de l‘époque. En réaction au rayonnement européen et à „l‘exemplarité― de la culture et de la littérature françaises du 17 ème siècle, les auteurs allemands se demandent comment ils peuvent fonder de leur côté l‘idée d‘une littérature nationale allemande. Les interactions franco-allemandes vers 1800 sont représentées <?page no="235"?> Resümees 235 d‘une part par l‘histoire du terme ‗classique‘ en France et en Allemagne, et d‘autre part par la prise en compte du modèle français dans l‘environnement du Classicisme de Weimar. Ce dernier facteur a donc permis à Goethe et à Schiller de se positionner de façon programmatique via un capital symbolique défini au regard du monde antique, en ceci qu‘ils pouvaient dès lors avoir recours au modèle culturel de la Grèce Antique compris comme une évolution historico-culturelle, à laquelle l‘Allemagne avait attribué une grande importance depuis la découverte des textes d‘Homère. Une claire distanciation vis-àvis du classicisme français se fait en même temps déjà ressentir à ce moment. Ce rapprochement ambivalent du classicisme français est illustré par le remaniement de l‘œuvre de Voltaire proposé par Goethe. Kapitel 3: Deutsch-französische Verflechtungen um die Romantik. Kulturtransfer und Missverständnis Die Positionierung dieses Kapitels bezieht sich auf eine erweiterte Auffassung der Romantik, die sich als Suche nach einem Modell, das in Europa vielfältige Formen der Weltdeutung und der ästhetischen Gestaltung der Wirklichkeit genommen hat, charakterisiere. Im Sinne einer deutschfranzösischen transfergeschichtlichen Darstellung wird in der Zeitspanne von 1750 bis 1850 die Romantik als permanente Transformation früherer Konzepte unter sich stets ändernden politisch-gesellschaftlichen Bedingungen erörtert. Das in den Kulturtransferprozessen entscheidende Prinzip des Missverständnisses (das selbstverständlich von Madame de Staëls Tragweite exemplarisch verkörpert wird) wird als konstituierendes Element der Vermittlung der deutschen Romantik, ihrer Integration und Aneignung durch die entstehende französische Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts berücksichtigt. Im deutsch-französischen Verhältnis lieferte die Verwechslung zwischen romantisme politique und „politischer Romantik― viel Stoff für ideologische Konvergenzen und Divergenzen. Im Widerstandsgeist gegen Napoleon kam es bei Intellektuellen der deutschen Spätromantik zu einem übersteigerten Nationalismus und zur Umdeutung des schon vorhandenen ‚Volks‗-Begriffes, der in diesem Kontext mythisiert wurde. Die Julirevolution von 1830 bedeutete aber mit einem Schlag für Dichter wie Heine, Börne oder Büchner die Rückkehr zu den ursprünglichen, längst verratenen, aber nicht vergessenen Idealen von 1789. Ce chapitre sous-entend une conception élargie du romantisme se caractérisant par la recherche d‘un modèle qui, en Europe, se met en quête de diverses formes d‘interprétation du monde et de conceptions esthétiques de la réalité. Au sens d‘une présentation des transferts franco-allemands, le romantisme est considéré entre 1750 et 1850 comme une transformation per- <?page no="236"?> Resümees 236 manente des concepts, redéfinis sur base de conditions politico-sociales constamment en mouvement . Le principe du malentendu, décisif au cœur des processus de transferts culturels (et naturellement incarné par la portée exemplaire de Madame de Staël dans le contexte franco-allemand) est considéré comme élément constituant de la transmission du romantisme allemand, de son intégration et de son appropriation par le romantisme français naissant au début du 19 ème siècle. La confusion entre romantisme politique et „politischer Romantik― dans le rapport franco-allemand alimentera par ailleurs les convergences et divergences idéologiques. Dans un esprit de résistance à Napoléon, les intellectuels du romantisme allemand tardif en arrivèrent à un nationalisme exacerbé et à la réinterprétation du terme ‗Volk‘, qui existait déjà et qui fut mythifié dans ce contexte. La révolution de Juillet de 1830 signifia cependant un retour aux idéaux initiaux de 1789 (abandonnés depuis longtemps sans pour autant être oubliés) dans le chef de certains poètes comme Heine, Börne ou Büchner. Kapitel 4: Formen realistischen Schreibens: Deutsche Provinzialität, französische Avantgarde? Die in diesem Kapitel behandelte Epoche des Realismus erstreckt sich sowohl in Frankreich als auch im deutschsprachigen Gebiet von ca. 1850 bis kurz vor 1900. Während die französischen Autoren sich in dem bereits industriellen Zeitalter vorrangig um die Denunzierung sozialer Verhältnisse ohne ästhetische Konzessionen bemühen, geht es den deutschsprachigen Autoren eher um die verklärte oder poetisierte Wiedergabe einer Realität, die ohnehin von der technologischen Entwicklung noch weitgehend verschont bleibt, und um die Vermittlung moralischer Ideale. Dieses vordergründige Postulat soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die von den Autoren ausdrücklich vorausgesetzte genaue Lektüre der Werke auch maßgebliche konvergierende Interessen an den Tag bringt: Der deutsche Realismus bringt aus Zensurgründen oft versteckt in der Tiefenstruktur die Diskurse unter, die Zola oder Balzac offen ansprechen dürfen, und die realistischen Autoren beider Sprachen beschäftigen sich unabhängig voneinander mit ähnlichen Themen, wie z. B. der Bedeutung der wissenschaftlichen Errungenschaften für das individuelle und soziale Leben. Diese Ähnlichkeiten gipfeln darin, dass die zwei Leitfiguren Flaubert und Fontane jeden Realismus als bewusste formale Illusion erfahren, wodurch sie den Realismus auf die Spitze treiben und überwinden. La période du réalisme mise en avant dans ce chapitre couvre la France aussi bien que le territoire germanophone d‘environ 1850 à la veille du 20 ème siècle. Alors que les auteurs français s‘efforcent de dénoncer les rapports <?page no="237"?> Resümees 237 sociaux sans concession esthétique dans l‘ère déjà industrielle, les auteurs germanophones se concentrent plutôt sur la transmission d‘un idéal moral et sur la reproduction d‘une réalité enjolivée ou poétisée, telle qu‘elle reste de toute façon encore considérablement épargnée par l‘évolution technologique. Ce postulat de prime abord n‘empêche cependant pas que les lectures formelles des ouvrages par leurs auteurs révèlent de nombreux intérêts convergents: le réalisme allemand tait bien souvent (pour cause de censure) les débats que Zola ou Balzac abordent ouvertement et les auteurs réalistes des deux langues se préoccupent de thèmes semblables, indépendamment les uns des autres, comme par exemple la signification de l‘avancée scientifique pour le bien individuel et social. Ces ressemblances atteignent leur apogée dans le fait que les deux grandes figures Flaubert et Fontane conçoivent leur réalisme comme une illusion formelle et consciente, qu‘ils poussent à l‘extrême pour mieux s‘en affranchir. Kapitel 5: Naturalisme und Naturalismus: Vom Aufbruch in die Moderne? Der Naturalismus ist eingelassen zwischen Realismus und der Literatur des Fin de siècle. Diese Zwischenstellung führt in Frankreich und Deutschland zu einer sehr unterschiedlichen Zuordnung in den Epochenzusammenhang des 19. Jahrhunderts und stellt daher für eine komparative Perspektive eine besondere Herausforderung dar. So wird der Naturalismus in Frankreich bis in die unmittelbare Gegenwart stets als Verlängerung des Realismus betrachtet und in Deutschland als direkter Vorläufer oder Bestandteil der Moderne. Doch die Interpretationen sind derzeit im Wandel begriffen. Dies führt nicht nur zu einer chronologischen sondern auch inhaltlich-strukturellen Annäherung der Ausprägungen des Naturalismus in Deutschland und Frankreich. Das Kapitel zeigt nicht nur wichtige Elemente dieser Neubestimmung der Epoche auf, sondern auch die hieraus resultierenden Konsequenz in Hinblick auf die Anerkennung der maßgeblichen Teilhabe des Naturalismus an der Gestaltung der Moderne. In der Folge weitet sich der Blick auf diese Epoche und es wird deutlich, dass die Betrachtung des Naturalismus als gesamteuropäische Literaturbewegung ein lohnenswertes Unterfangen ist. Le naturalisme est imbriqué entre le réalisme et la littérature de la Fin de siècle. Cette position d‘entre-deux a conduit en France et en Allemagne à un classement très différent du 19 ème siècle dans le contexte de ces époques et représente un certain défi pour une perspective comparative. Sur le plan historiographique, le naturalisme était considéré jusqu‘il y a peu en France comme une prolongation du réalisme, tandis qu‘en Allemagne on y voyait le <?page no="238"?> Resümees 238 précurseur, voire un élément constitutif de la modernité. Ces interprétations ont cependant été modifiées avec le temps pour être plus correctes aujourd‘hui. Ceci passe nécessairement par un rapprochement des manifestations du naturalisme en Allemagne et en France, non seulement du point de vue chronologique, mais aussi de la forme et du contenu des idées. Ce chapitre ne démontre pas uniquement les éléments importants de cette redéfinition de l‘époque, mais également les conséquences qui en résultent, compte tenu de la reconnaissance de l‘importante participation du naturalisme dans la configuration de la modernité. À partir de là, l‘intérêt pour cette époque s‘accroît et il est clair que la prise en considération du naturalisme comme mouvement littéraire paneuropéen est une entreprise digne d‘intérêt. Kapitel 6: Fin de siècle / Jahrhundertwende: Eine Tendenzgeschichte Das Kapitel entwickelt eine „Tendenzgeschichte― der deutsch-französischen Literatur von Fin de siècle und Jahrhundertwende unter Berücksichtigung ihrer übergreifenden Verwoben- und Verflochtenheiten. Insgesamt lassen sich deutliche Impulse von der französischsprachigen auf die deutschsprachige Literatur verzeichnen. Zugleich macht die Untersuchung interne Komplexitäten deutlich, die eine allzu lineare Sichtweise unterbinden. Es wird auf zahlreiche Autoren und Einzelwerke in beiden Sprachräumen eingegangen. Dabei werden insbesondere die generelleren, epochalen Zeittendenzen hervorgehoben. Hierzu gehören unter anderem: die Schwellensituation zwischen Endzeitbewusstsein und Erneuerung, metaphysische Erschütterung und impressionistische Auflösung, die gesellschaftlichen Hintergründe der Industrialisierung und Medien(r)evolution, epochentypische Charakteristika wie Dekor, Ästhetizismus und Langeweile, das Interesse für Interieur und Psychologisierung, literarische Libido, formale Spezifika wie die Episierung und Lyrisierung des Dramas sowie die Theatralisierung der Narration, die Stadt als typischer Schauplatz der Literatur und die sie bevölkernden Flaneure sowie schließlich die Diagnose einer neuen Einsamkeit und die Suche nach Gemeinschaft auch in Künstler- und Literatenkreisen. Ce chapitre développe une „histoire des tendances― de la littérature francoallemande de la Fin de siècle ainsi que les manifestations du passage au 20 ème siècle à la lumière de leurs interconnexions et imbrications. Dans l‘ensemble, on répertorie des impulsions claires en provenance des littératures francophones sur la littérature germanophone. Dans le même temps, l‘étude de ces littératures révèle des complexités internes qui permettent de couper court à une telle optique par trop linéaire. De nombreux auteurs et ouvrages dans les deux langues sont abordés. Et de ce fait, les principales tendances de l‘époque qui font date sont soulignées. On y retrouve notamment la con- <?page no="239"?> Resümees 239 science d‘une situation de transition entre la fin du siècle et son renouvellement, l‘ébranlement métaphysique et la dissipation impressionniste, les arrière-fonds sociaux de l‘industrialisation et de la (r)évolution médiatique, des caractéristiques typiques de l‘époque comme le sens du décor, l‘esthéticisme et l‘ennui, l‘intérêt pour le for intérieur et la psychologie, la libido littéraire, des spécifications formelles relatives à l‘épique et au lyrique de la poésie tout comme à la théâtralisation de la narration, la ville comme scène typique de la littérature et les flâneurs qui s‘y promènent et enfin le diagnostic d‘une nouvelle solitude, de même que la recherche d‘une communauté à travers les cercles littéraires et artistiques. Kapitel 7: Die vernetzten Avantgarden: Konvergenzen und Spezifizitäten Zwischen 1910 und 1920 werden in Deutschland wie in Frankreich die ästhetischen Normen in Frage gestellt und grundlegende Neuerungen in die Dichtung eingeführt, vor allem was Bild und Rhythmus betrifft. Vom Futurismus zum Dadaismus lassen sich zwischen der deutschen und der französischen Avantgarde thematische und formale Konvergenzen feststellen, die im Verlauf des Kapitels näher bestimmt werden. Im Versuch, diese Übereinstimmungen zu erklären, wird zuerst auf das gemeinsame geistige Erbe eingegangen, anschließend werden die wichtigsten Vermittlungsinstanzen identifiziert: Zeitschriften, Anthologien, zweisprachige Persönlichkeiten. Dabei werden auch die spezifischen Akzente der deutschen und der französischen Avantgarden untersucht, insbesondere was den Expressionismus und den sogenannten „literarischen Kubismus― in Frankreich angeht. Das Kapitel zeichnet die Entwicklung der Kontakte zwischen deutschen und französischen Künstlern nach und zeigt, wie nach den intensiven Beziehungen zwischen 1912 und 1914 diese logischerweise in den Kriegsjahren nachlassen und zur Zeit des Dadaismus allmählich wieder möglich werden. Entre 1910 et 1920, les normes esthétiques sont fondamentalement remises en question en France et en Allemagne et des innovations essentielles sont mises en place, particulièrement en ce qui concerne l‘image et le rythme. Depuis le futurisme et jusqu‘au dadaïsme, on constate des convergences thématiques et formelles entre les avant-gardes allemande et française qui sont analysées de près dans ce chapitre. Dans la recherche d‘une tentative d‘explication à ces formes d‘homogénéité, on abordera tout d‘abord la question d‘un héritage intellectuel commun avant d‘identifier les principales instances de médiation (revues, anthologies, personnalités bilingues). Mais les accents spécifiques des avant-gardes allemande et française sont ensuite analysés par la même occasion, particulièrement en ce qui concerne <?page no="240"?> Resümees 240 l‘expressionisme allemand et le „cubisme littéraire― en France. Ce chapitre dépeint l‘évolution des relations entre artistes allemands et français et montre comment elles s‘intensifièrent dans les années 1912-1914, avant d‘être logiquement mises en sourdine durant la guerre, tout en redevenant possibles à l‘époque du dadaïsme, et ce déjà pendant le conflit mondial. Kapitel 8: Die Literatur des Ersten Weltkriegs (1914-1939) Dieses Kapitel befasst sich mit der Literatur des Ersten Weltkriegs, die zwischen 1914 und 1939 in deutscher und französischer Sprache erschienen ist. Hierzu gehören nicht nur patriotische Gedichte oder bekannte Romane wie Barbusses Le Feu (1916) oder Remarques Im Westen nichts Neues (1929). Das interkulturelle Phänomen der Kriegsliteratur ist vielmehr durch eine breitgefächerte Gattungsheterogenität gekennzeichnet. So wird zuerst ein Überblick über die allgemeinen Charakteristika dieser Texte gegeben. Anschließend werden die Schwerpunkte in chronologischer Reihenfolge auf die verschiedenen Entstehungsphasen gelegt. Es wird daher ein kurzer Einblick in die vor 1914 verfassten Vorstellungen eines großen Kriegs gegeben, bevor man sich den zwischen 1914 und 1918 verfassten Werken widmet. Dann steht der nach dem Waffenstillstand einsetzende Deutungskampf um die Erinnerung des Krieges im Mittelpunkt. Dieser erlebt seinen Höhenpunkt um 1929/ 1930. Schließlich wird gezeigt, wie sich die Kriegstexte im Laufe der 1930er Jahre positionieren. Zusammenfassende Thesen über Form, Inhalt und die politischgesellschaftliche Orientierungen der Kriegsliteratur werden abschließend skizziert. Ce chapitre se concentre sur la littérature de la Première Guerre Mondiale publiée entre 1914 et 1939, aussi bien en allemand qu‘en français. On n‘y retrouve pas que des poèmes patriotiques ou des romans célèbres tels que Le Feu de Barbusse (1916) ou Im Westen nichts Neues de Remarque (1929). Ce phénomène interculturel de la littérature de guerre se distingue bien plus par une considérable hétérogénéité des genres. Dans ce contexte, on commence par esquisser les caractéristiques générales de ces textes. Les différentes phases de cette littérature sont ensuite replacées dans un ordre chronologique. Un bref aperçu des représentations de la guerre idées imaginées avant 1914 est d‘abord donné, avant de se consacrer aux ouvrages rédigés entre 1914 et 1918. La lutte pour la signification de la mémoire de la guerre constitue une question décisive sous un angle franco-allemand après l‘Armistice, dont on situe l‘apogée vers 1929/ 1930. Une dernière partie porte sur le positionnement des textes de guerre dans les années 1930. En forme de bilan, une ébauche des thèses concernant la forme, le contenu et l‘orientation politico-sociale de cette littérature de guerre conclut ce chapitre. <?page no="241"?> Namensverzeichnis A Albani, Alessandro 37 Albert-Birot, Pierre 190, 194, 197, 201 Alexander d. Gr. 37 Alexis, Paul 143 Algarotti, Francesco, comte d' 33 Alsted, Johann Heinrich 27 Altenberg, Peter 179 Ancillon, Jean-Pierre-Frédéric 33 Apollinaire, Guillaume 183, 184, 185, 188, 190, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 205 Aragon, Louis 186, 188, 190, 191, 194, 203 Arent, Wilhelm 145 Aristoteles 38 Arndt, Ernst Moritz 89, 90 Arp, Hans 184, 190, 191, 199, 201, 202, 203 Auerbach, Erich 108, 131 Ayrenhoff, Cornelius Hermann von 39 B Baader, Johannes 201 Baargeld, Johannes Theodor 202 Baculard, Arnaud de 23 Bahr, Hermann 136, 164, 165 Bailly, Albert 210 Baju, Anatole 153, 155, 156 Ball, Hugo 194, 199, 200, 201 Balzac, Honoré de 88, 100, 102, 108, 109, 110, 112, 113, 115, 117, 118, 120, 129, 137, 140, 236, 237 Barbey d‘Aurevilly, Jules 171 Barbusse, Henri 200, 212, 214, 215, 217, 227, 228, 232, 240 Barlach, Ernst 184 Barrès, Maurice 179 Barthélémy, Jean-Jacques 38 Barzun, Henri-Martin 189, 190, 194, 199, 200 Batteux, Charles 19 Baudelaire, Charles 113, 117, 125, 157, 160, 171, 176, 177, 179, 180, 185, 186, 188, 189 Baumgarten, Alexander Gottlieb 19 Bayle, Pierre 27 Beauduin, Nicolas 189, 190, 194 Beaumarchais, Pierre 17, 21, 31 Beccaria, Cesare Bonesano de 29 Beckmann, Max 75 Beer-Hofmann, Richard 160 Béguin, Albert 76, 77 Bell, Alexander Graham 167 Benjamin, René 213 Benjamin, Walter 176 Benn, Gottfried 185, 186, 192, 195, 196, 197 Béranger, Pierre Jean de 91, 93, 99 Bergson, Henri 187, 189, 211 Berliner, Emile 167 Bernard, Claude 138, 148 Bernard, Jean-Frédéric 18 Bernardin de Saint-Pierre, Jacques- Henri 17 Bernouilli, Daniel 16 Bernritter 17 Beumelburg, Werner 219 Beuys, Josef 42 Blei, Franz 188, 189 Bleibtreu, Karl 145, 146 Bloy, Léon 189 Boccioni, Umberto 184 Bodmer, Johann Jacob 38 Boileau, Nicolas 50 Bonnet, Paul 144 Bonneville, Nicolas de 24 <?page no="242"?> Namensverzeichnis 242 Borée, Karl Friedrich 230 Börne, Ludwig 91, 94, 95, 96, 97, 101, 103, 235, 236 Bougainville, Louis-Antoine de 16 Brahms, Johannes 179 Braque, Georges 184 Breton, André 28, 29, 143, 185, 186, 188, 190, 191, 203, 204 Bruant, Aristide 199 Brutus, Marcus Junius 37 Büchner, Georg 94, 95, 96, 97, 101, 109, 235, 236 Büchner, Ludwig 123 Buffon, Georges Louis Leclerc de 18, 29 Bullock, W.A. 168 Bürger, Gottfried August 86 Bürger, Peter 183 Byron, George Gordon (Lord) 158 C Caesar, Caius Julius 37 Campe, Johann Heinrich 25 Carl August von Weimar 64 Carré, Jean-Marie 77 Casanova, Giacomo 14 Cassirer, Paul 189 Cazotte, Jacques 25 Céard, Henry 143 Céline, Louis-Ferdinand 227, 230 Cendrars, Blaise 188, 189, 190, 191, 193, 194, 195, 196, 198, 199, 200, 205 Cervantes 45 Chaine, Pierre 215, 223 Chamberlain, H.S. 77 Chambers, Ephraim 28 Chamfort, Nicolas de 97 Champfleury, Jules 114 Chateaubriand, François-René de 82, 85, 158 Chénier, André 38, 41, 82 Chénier, Marie-Joseph 42 Chevallier, Gabriel 225 Chevrel, Yves 133, 135, 138 Christophe, Lucien 220, 230 Cloots, Jean-Baptiste 'Anarchasis' 42, 43 Cocteau, Jean 199 Colin, Paul 217, 218 Collini, Cosimo Alessandro 31 Comte, Auguste 119, 120, 138 Condillac, Abbé de 18 Étienne Bonot 18, 29 Conrad, Michael Georg 145, 146 Conradi, Hermann 147, 149 Constant, Benjamin 82, 85, 86 Cook, James 16 Corbière, Tristan 156 Corday, Charlotte de 38 Corneille, Pierre 22, 52 Courbet, Gustave 109, 113, 114 Crébillon, Claude-Prosper Jolyot de 25 Creuzer, Georg Friedrich 78 Cuvier, Georges 140 D D‘Alembert, Jean le Rond 28, 29 D‘Annunzio, Gabriele 158, 159, 179 D‘Argens, Jean Baptiste Boyer 33 Dancourt, Florent 20 Danrit (Capitaine) 210 Darwin, Charles 147, 148, 163 Daubenton, Louis Jean Marie 29 Daudet, Alphonse 143, 148 Daudistel, Albert 221 Daumer, Georg Friedrich 77 de Charrière, Isabelle 14 De Jouvenot, Francis 159 De Kock, Paul 117 de La Mothe-Guyon, Jeanne Marie Bouvier 26 De Pauw, Cornelis 33, 42 De Régnier, Henri 173 De Saint Point, Valentine 194 <?page no="243"?> Namensverzeichnis 243 de Staël-Holstein, Anne Louise Germaine 10, 24, 70, 74, 75, 81, 82, 83, 84, 85, 87, 91, 94, 235, 236 De Villers, Charles 85, 87 Deauville, Max 215, 223, 224, 226, 230, 232 Defoe, Daniel 17 Delacroix, Eugène 91 Delaunay, Robert 184, 188 Delmarle, A.F.M. 194 Demeny, Paul 163 Demosthenes 38 Denina, Carlo Giovanni Maria 33, 34, 35 Dermée, Paul 191 Descartes, René 18 Descaves, Lucien 144 Desnos, Robert 186 Dickhuth-Harrach, Gustaf von 219 Diderot, Denis 16, 17, 21, 24, 27, 28, 29, 41, 52, 68 Dietrich, Albert 179 Digeon, Claude 152 Divoire, Fernand 189, 190, 194, 200 Döblin, Alfred 185, 192, 197 Dorgelès, Roland 223, 226, 227 Dreyfus, Alfred 166 Droste-Hülshoff, Annette von 109 Dubos, Jean-Baptiste 19 Dujardin, Édouard 170 Dumas, Alexandre (fils) 102 Dumas, Alexandre (père) 102 Dumur, Louis 212, 220 Dupouy, Auguste 152 Duranty, Louis-Edmond 114 Dwinger, Edwin 219 E Ebert, Friedrich 202 Eckart, Meister 77 Edison, Thomas Alva 167 Edschmid, Kasimir 192 Ehrenstein, Albert 198 Einstein, Carl 189, 197 Elias, Norbert 20 Eluard, Paul 186, 188 Enfantin, Barthélémy Prosper 100 Engels, Friedrich 98, 100, 102 Ernst, Max 184, 191, 202, 203 Euler, Leonhard 16, 33 F Fassmann, David 17 Fauche, Samuel 29 Faulstich, Werner 168 Faure, Félix 166 Fels, Florent 189 Fénelon, François de Salignac de la Mothe 18 Fernau, Hermann 210 Feydeau, Georges 171 Fichte, Johann Gottlieb 89, 91 Fielding, Henry 25 Flaubert, Gustave 11, 108, 110, 113, 115, 118, 120, 121, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 131, 137, 138, 143, 172, 179, 236, 237 Flex, Walter 213, 229 Fontane, Theodor 11, 109, 110, 117, 118, 119, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 236, 237 Formey, Jean Henri Samuel 33 Forster, Georg 16, 101 Foucault, Michel 139, 141 Fourier, Charles 100 Fragonard, Jean Honoré 31 France, Anatole 212 Francke, August Hermann 18, 19 Frank, Rudolf 225 Franz Joseph I. (Kaiser) 166 Freiligrath, Ferdinand 92, 97, 99, 100, 101 Fréron, Élie 15 Freud, Sigmund 162, 163, 171, 187 Freytag, Gustav 110, 111, 114, 116, 129 Friedrich II. (der Große, König von Preußen) 14, 33, 34, 35, 36, 37, 64 <?page no="244"?> Namensverzeichnis 244 Friedrich, Caspar David 75 Friedrich, Ernst 222, 228 Furetière, Antoine 27 Furst, Lilian R. 84 G Gauchez, Maurice Pseud. für Maurice Gilles 213, 218, 223 Gautier, Théophile 91, 179 Gellert, Christian Fürchtegott 23 Gellius, Aulus 49 Genevoix, Maurice 214 George, Stefan 180, 185, 186 Gerhardt, Paul 25 Gessner, Salomon 24 Giono, Jean 225, 227, 232 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 40, 41 Gluck, Christoph Willibald 31, 38 Gmelin, Johann Georg 17 Goethe, Johann Wolfgang von 10, 15, 17, 20, 21, 24, 25, 38, 45, 48, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 82, 83, 84, 86, 120, 180, 234, 235 Goll, Claire 191 Goll, Yvan 189, 190, 191 Goncourt, Jules de 143 Goncourt, Jules u. Edmond de 115, 137, 143 Görres, Joseph 78, 90 Gottsched, Johann Christoph 22, 23, 33, 38, 39, 48, 53, 65 Grabbe, Dietrich Christian 94, 109 Graffigny, Madame de 17, 20 Graun, Karl Heinrich 36 Grimauty, Fernand-Hubert 213, 220 Grimm, Friedrich Melchior 15, 24, 29, 33 Grimm, Jacob und Wilhelm 86 Grosz, George 202 Guiches, Gustave 144 Guilbeaux, Henri 190 Gutzkow, Karl Ferdinand 96, 100, 101, 102 H Haeckel, Ernst 147 Hardekopf, Friedrich 186, 189 Hart, Heinrich 145 Hauptmann, Gerhart 109, 136, 147, 148, 149, 166, 172 Hausmann, Raoul 202 Heartfield, John 202 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 91 Heine, Heinrich 10, 74, 79, 90, 91, 93, 94, 95, 96, 97, 99, 100, 102, 103, 235, 236 Helvétius, Claude Adrien 29 Hemsterhuis, François 14 Hennique, Léon 143 Herder, Johann Gottfried 16, 20, 32, 60, 77, 90 Hérissart, Louis-Théodore 24 Herwegh, Georg 97, 98, 100 Herzfelde, Wieland 202 Herzog, Wilhelm 217 Hesiod 61 Heym, Georg 185, 186, 196, 197 Heyse, Paul Johann Ludwig von 110 Hindenburg, Paul von 219 Hitler, Adolf 221, 228 Höch, Hannah 202 Höcke, Paul Oskar 213 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 76, 88, 185 Hofmannsthal, Hugo von 156, 159, 164, 167, 173, 174 Holbach, Paul Heinrich Dietrich von 29 Hölderlin, Friedrich 37, 76, 185 Hollande, François Präsident 75 Hölty, Ludwig Heinrich Christoph 32 <?page no="245"?> Namensverzeichnis 245 Holz, Arno 147, 148 Homer 38, 59, 62, 234 Hrabanus Maurus 27 Huber, Michael 24 Huelsenbeck, Richard 190, 199, 200, 201, 202, 203 Hugo, Victor 82, 86, 91, 92, 93, 99, 101, 102, 107, 108, 110, 111, 159, 164, 185, 186, 194, 198, 199, 200, 201 Humboldt, Wilhelm von 61, 68, 84 Huysmans, Joris-Karl 110, 136, 143, 154, 156, 171, 177, 179 I Ibsen, Hendrik 172 J Jackson, David 111 Jacob, Max 193, 196, 199 Jacobi, Friedrich Heinrich 25 Jacobsohn, Siegfried 215 Jahn, Friedrich Ludwig 90 Jammes, Francis 190 Janco, Marcel 200 Jarry, Alfred 197, 200 Jaucourt, Louis de 29 Jean Paul (Richter, Jean Paul) 19, 70, 76, 83, 87, 97 Jesus 26, 64 Joachim, Joseph 179 Johannsen, Ernst 224, 227 Jolinon, Joseph 223, 227 Jordan, Charles Étienne 33 Jünger, Ernst 219, 227 Jünger, Friedrich Georg 219 K Kafka, Franz 189 Kaiser, Georg 187, 197 Kandinsky, Wassily 184, 193 Kant, Immanuel 16, 30, 35, 84 Karl-Theodor Kurfürst von Pfalz-Bayern 27 Katharina II. (die Große, Tzarin von Russland) 14, 38 Keith, George 33 Keller, Gottfried 111, 118, 119, 128, 130 Key, Ellen 161 Klammer, Karl K.L. Ammer 186 Kleist, Heinrich von 18, 39, 41, 76, 90, 185 Klemm, Wilhelm 198 Klopstock, Friedrich Gottlieb 25, 32, 36, 39, 40, 84 Kokoschka, Oskar 184, 193 Kopernikus, Nikolaus 163 Koppen, Erwin 154 Körner, Josef 81 Kotzebue, August von 17 Kubin, Alfred 205 Kubrick, Stanley 171 L La Chalotais, Louis René de Caradeuc de 18 La Condamine, Charles Marie 29 La Fontaine, Jean de 24 La Mettrie, Julien Offray de 18, 33 La Motte-Fouqué, Ernst-Heinrich August de 33 Laclos, Pierre Ambroise François Choderlos de 25 Laforgue, Jules 189, 200 Lamartine, Alphonse de 82, 91, 92, 93, 99, 101 Lamszus, Wilhelm 210, 223 Lanson, Gustave 190 Lanston, Tolbert 168 Laroche, Sophie 32 Latzko, Andreas 215, 227, 228 Laurentin, Maurice 220 Lautréamont, Comte de Isidore Lucien Ducasse 156, 201 <?page no="246"?> Namensverzeichnis 246 Le Breton, André François 28, 29 Le Cat, Claude Nicolas 16 Le Sueur, Blaise Pascal 33 Lefebvre, Raymond 217 Léger, Fernand 188 Leibniz, Gottfried Wilhelm von 18 Lekeux, Martial 221 Lenau, Nikolaus 160, 174 Lenz, Jacon Michael Reinhold 32, 41 Leonardy, Ernst 89 Leopardi, Giacomo 179 Lersch, Walter 229 Lesage, Alain René 20, 25 Lesbroussart, Jean-Baptiste 18 Lessing, Gotthold Ephraim 17, 19, 21, 23, 24, 30, 35, 37, 46, 47, 48, 53, 60, 65, 97 Lichtenberg, Georg Christoph von 97 Lichtenstein, Alfred 195 Liebknecht, Karl 218 Ligne, Charles Joseph de 17, 20, 21, 38 Lindau, Paul 145 Linguet, Simon-Nicolas Henri 15 Longolius, Paul Daniel 27 Louis Philippe, König 91 Louÿs, Pierre 171 Lucas, Prosper 138, 148 Ludendorff, Erich Friedrich Wilhelm (General) 202, 219 Ludwig XIV. 13, 18, 26, 47, 48, 50, 51, 52, 53, 57, 66, 86 Ludwig XVI. 38, 57 Ludwig, Otto 112, 113, 114 Lumière, Auguste u. Louis 168 Luther, Martin 25, 30 Luxemburg, Rosa 218 M Mach, Ernst 164 Machiavelli, Niccolò 35 Maeterlinck, Maurice 161, 162, 172, 173, 185, 211 Mallarmé, Stéphane 136, 154, 160, 173, 180 Manet, Édouard 165 Mann, Heinrich 103, 175 Mann, Thomas 109, 160, 175, 211 Mannlich, Christian von 31 Margueritte, Paul 144 Maria-Theresia, römisch-deutsche Kaiserin 14 Marinetti, Filippo Tommaso 187, 191, 192, 193, 194, 198 Marivaux (Pierre Carlet de Chamblain) 17, 20, 24, 25 Marmontel, Jean-François 25 Marx, Karl 98, 100, 102, 152 Maupassant, Guy de 128, 130, 131, 143, 148 Maupertuis, Pierre Louis Moreau de 18, 33, 34 Mauvillon, Jacob Éléazar 29 Mehring, Walter 202, 203 Mengs, Anton Raphael 37 Mercier, Louis Sébastien 21, 25 Mergenthaler, Ottmar 168 Merkel, Angela Bundeskanzlerin 75 Meyer, Conrad Ferdinand 118, 119, 123 Micards, H. 159 Mirabeau, Honoré Gabriel Riqueti 30 Mirbeau, Octave 143 Mitterand, Henri 138, 143 Mockel, Albert 180 Moeller van den Bruck, Arthur 77 Mohammed 64, 65 Molière (Jean-Baptiste Poquelin) 22, 36, 50, 197 Monet, Claude 165 Montesquieu (Charles de Secondat) 14, 17, 29, 30, 84 Montherlant, Henry de 221 Moréas, Jean 154, 155, 156, 160 <?page no="247"?> Namensverzeichnis 247 Morel, Bénédict Augustin 139, 140, 148 Morellet, André 29 Moréri, Louis 27 Moritz, Karl Philipp 19 Morse, Samuel 167 Moser, Friedrich Karl von 22 Möser, Justus 22, 39 Moses 64 Mozart, Wolfgang Amadeus 17 Münchhausen, Freiherr von 17 Mynona (Salomo Friedländer) 197, 205 N Napoleon 10, 37, 69, 82, 83, 89, 94, 235 Napoleon III. 100 Necker de Saussure, Albertine- Adrienne 81 Nerval, Gérard de 75, 86, 87, 91, 185 Neuber, Friederike 22 Newton, Isaac 18 Nicolai, Georg Friedrich 211 Nietzsche, Friedrich 77, 78, 152, 163, 169, 187, 190 Noël, André L. 33 Nora, Pierre 208 Norton Cru, Jean 209, 221, 224, 226, 227 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 76, 77, 78, 80, 81, 180, 185 O Oesterheld, Erich 186 Ossietzky, Carl von 221, 228 Ovid 38 P Pansaers, Clément 189, 227 Pascal, Blaise 26, 75 Pasquier, Arthur 230 Paust, Otto 229, 230 Péguy, Charles 190 Pérez Galdós, Benito 149 Perrault, Charles 25, 48, 50, 52 Pesne, Antoine 33 Pezzl, Johann 17 Pfemfert, Franz 188, 189 Philippe d‘Orléans 14 Picabia, Francis 184, 190, 201, 202, 203 Picasso, Pablo 184 Pilati di Tassulo, Carlo Antonio 31 Pinthus, Kurt 189 Pirenne, Jacques 213 Piscator, Erwin 198 Platon 38 Plivier, Theodor 224 Poe, Edgar Allan 157, 180 Pöllnitz, Karl Ludwig von 31 Prades, Jean Martin de 33 Prévost, Antoine François (Abbé) 16, 18, 25 Proudhon, Pierre-Joseph 100 Proust, Marcel 110 Q Quesnay, François 29 R Raabe, Wilhelm 109, 118, 119, 121, 122, 128, 130, 131 Racine, Jean Baptiste 22, 24, 38, 68, 85, 86 Rameau, Jean-Philippe 17 Raynal (Guillaume Thomas François) 15 Reboux, Paul 223 Régnard, Jean-François 24 Remarque, Erich Maria 209, 216, 222, 224, 225, 226, 227, 228, 232, 240 <?page no="248"?> Namensverzeichnis 248 Renan, Ernest 119 Renn, Ludwig 224, 227, 232 Restif de La Bretonne, Nicolas Edme 25 Reverdy, Pierre 190, 194, 198, 201, 204 Ribemont-Dessaignes, Georges 188, 190 Richardson, Samuel 25 Richelieu, Kardinal 81 Richthofen, Manfred von 216, 227, 229 Riesbeck, Johann Kaspar 30 Rilke, Rainer Maria 159, 176, 186 Rimbaud, Arthur 117, 160, 163, 186, 188, 189 Rivarol, Antoine de 14 Rivière, Jacques 188 Robespierre 43, 57 Rodenbach, Georges 156, 175, 177 Rodenberg, Julius 145 Rolland, Romain 210, 211, 217, 227 Romains, Jules 197, 227, 228, 230 Rosny, J.H. Joseph Henri Honoré Boex 144 Rousseau, Jean-Jacques 16, 25, 29, 37, 79, 82, 209, 226 Roussel, Raymond 197 Rubiner, Ludwig 189, 194 Ruge, Arnold 100 S Safranski, Rüdiger 78 Saint-Simon (Claude Henry de Rouvroy) 100 Salmon, André 189, 190, 193, 194, 196, 200 Salomon, Ernst von 219, 227 Sand, George 99, 102, 115 Scaevola, Caius Mucius 37 Scharrer, Adam 227 Schauwecker, Franz 220, 229 Scheerbart, Paul 192, 197, 205 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 77, 84 Schickele, René 185, 188, 189, 190, 217 Schiller, Friedrich 24, 25, 37, 48, 55, 57, 58, 59, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 82, 83, 84, 86, 234, 235 Schlaf, Johannes 136, 148 Schlegel, August-Wilhelm 81, 84, 85 Schlegel, August-Wilhelm u. Friedrich 82, 84 Schlegel, Friedrich 45, 46, 47, 48, 54, 61, 67, 76 Schlegel, Johann Ch. Elias 39 Schlözer, August Ludwig von 18 Schmitt, Carl 88 Schmitz, Peter 230, 232 Schnitzler, Arthur 109, 158, 160, 163, 167, 170, 171, 172, 173, 175, 178 Schönaich, Christoph Otto von 25, 39 Schopenhauer, Arthur 147, 163 Schreyer, Lothar 189, 192, 193 Schumann, Robert 179 Schwabach, Ernst 189 Schwitters, Kurt 199, 201, 202 Scipio, Publius Cornelius 37 Scribe, Eugène 102, 117 Sebillet, Thomas 51 Senancour, Etienne Pivert de 82, 85 Serner, Walter 202, 203 Seume, Johann Gottfried 101 Shakespeare, William 20, 23, 24, 36, 45, 66, 80, 85, 86, 233 Simmel, Georg 163, 164 Sommerfeld, Adolf 210 Sonnenfels, Josef von 31 Soupault, Philippe 188, 190, 203, 204 Stadler, Ernst 183, 188, 189, 190, 195, 196 <?page no="249"?> Namensverzeichnis 249 Stendhal (Henri Beyle) 86, 101, 102, 108, 109, 110, 112, 113, 115, 117, 118, 124, 129, 179 Sternheim, Carl 189, 197 Stifter, Adalbert 119, 128 Storm, Theodor 109, 110, 111, 116, 118, 119, 122, 123, 128, 129, 130, 131 Stramm, August 192, 193, 198, 199 Strindberg, August 172, 197 Sue, Eugène 93, 102, 117 Swift, Jonathan 17 Szondi, Peter 155 T Tacitus 30 Taine, Hippolyte 119, 123, 138, 141 Tasnier, Pierre 213 Tassaert, Jean Pierre Antoine 33 Tersteegen, Gerhard 25, 26, 27 Thomas, Adrienne Pseud. für Hertha Strauch 225, 227 Thomasius, Christian 18 Tieck, Ludwig 76 Tilmns, Ege 232 Toller, Ernst 187, 197, 227 Trakl, Georg 186, 195, 196, 198 Tschechow, Anton 172 Tucholsky, Kurt 224, 228 Turgot, Anne-Robert-Jacques 29 Tzara, Tristan 188, 190, 191, 199, 200, 201, 202, 203 U Unruh, Fritz von 215 V Vaillant, Alain 6, 7, 73, 74, 78, 80, 89, 90 Vaillant-Couturier, Paul 217 Van Hoddis, Jakob 195 Vergil 50 Verhaeren, Émile 186, 189, 211 Verlaine, Paul 117, 151, 160, 161, 179 Verlet, Paul 214 Victorie, Luise Adelgunde 22 Vielé-Griffin, Francis 180 Vigny, Alfred de 87, 91, 93 Vildrac, Charles 227 Villiers de L‘Isle-Adam, Auguste de 157 Vincent de Beauvais 27 Vivier, Robert 223 Vogel, Bruno 222, 223 Volney, Comte de 17 Voltaire (François-Marie Arouet) 10, 17, 18, 20, 22, 23, 24, 29, 30, 34, 36, 37, 39, 46, 51, 52, 53, 54, 57, 63, 64, 65, 66, 68, 81, 190, 199, 200, 234, 235 von Stein, Fritz 57 W Wagner, Richard 77, 78, 152, 179, 222 Walden, Herwarth 184, 185, 187, 188, 189, 192, 194 Wandt, Heinrich 222 Watteau, Antoine 33 Wedekind, Frank 131, 171, 197 Weerth, Georg 98, 99 Wekhrlin, Wilhelm Ludwig 33 Werfel, Franz 190, 196, 197 Werth, Léon 215 White, Hayden 6 Wieland, Christoph Martin 25, 39, 84 Wilde, Oscar 17, 158, 179 Wilhelm I. (Kaiser) 166 Wille, Johann Georg 31 Winckelmann, Johann Joachim 35, 37, 48, 60, 61, 233 Wolff, Christian 19, 28, 35 Woolf, Virginia 170 <?page no="250"?> Namensverzeichnis 250 Wundt, Wilhelm 147, 149 Z Zech, Paul 186, 190, 198 Zedler, Johann Heinrich 28 Zerkaulen 229 Zöberlein, Hans 229 Zola, Émile 113, 119, 120, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 148, 149, 166, 236, 237 Zweig, Arnold 224, 227, 230 Zweig, Stefan 162, 171, 186, 210 <?page no="252"?> edition lendemains herausgegeben von Wolfgang Asholt, Hans Manfred Bock, Andreas Gelz und Christian Papilloud Bisher sind erschienen: Frühere Bände finden Sie unter: http: / / www.narr-starter.de/ magento/ index.php/ / reihen/ edition-lendemains.html Band 11 Isabella von Treskow / Christian von Tschilschke (Hrsg.) 1968/ 2008 Revision einer kulturellen Formation 2008, XXIV, 271 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6463-4 Band 12 Roswitha Böhm / Stephanie Bung / Andrea Grewe (Hrsg.) Observatoire de l’extrême contemporain Studien zur französischsprachigen Gegenwartsliteratur 2009, XX, 414 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-6494-8 Band 13 Frank Estelmann / Olaf Müller (Hrsg.) Exildiskurse der Romantik in der europäischen und lateinamerikanischen Literatur 2011, 279 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6514-3 Band 14 Gesine Müller / Susanne Stemmler (Hrsg.) Raum - Bewegung - Passage Postkoloniale frankophone Literaturen 2009, 243 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6515-0 Band 15 Till R. Kuhnle / Carmen Oszi / Saskia Wiedner(éds.) Orient lointain - proche Orient La présence d’Israël dans la littérature francophone 2011, 160 Seiten €[D] 39,- ISBN 978-3-8233-6516-7 Band 16 Monika Haberer / Christoph Vatter (éds.) Le cyberespace francophone Perspectives culturelles et médiatiques 2011, 198 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6517-4 Band 17 Wolfgang Asholt / Marie-Claire Hoock-Demarle / Linda Koiran / Katja Schubert (Hrsg.) Littérature(s) sans domicile fixe / Literatur(en) ohne festen Wohnsitz 2010, 184 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6541-9 Band 18 Hans Manfred Bock Topographie deutscher Kulturvertretung im Paris des 20. Jahrhunderts 2010, 400 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6551-8 Band 19 Andreas Linsenmann Musik als politischer Faktor Konzepte, Intentionen und Praxis französischer Umerziehungs- und Kulturpolitik in Deutschland 1945-1949/ 50 2010, 286 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6545-7 <?page no="253"?> Band 20 Wolfgang Asholt / Ottmar Ette (Hrsg.) Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft Programm - Projekte - Perspektiven 2009, 290 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6540-2 Band 21 Thomas Stauder (éd.) L’Identité féminine dans l’œuvre d’Elsa Triolet 2010, 439 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6563-1 Band 22 Niklas Bender / Steffen Schneider (Hrsg.) Objektivität und literarische Objektivierung seit 1750 2010, 241 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6583-9 Band 23 Lothar Albertin (Hrsg.) Deutschland und Frankreich in der Europäischen Union Partner auf dem Prüfstand 2010, IV, 225 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6598-3 Band 24 Didier Alexandre / Wolfgang Asholt (éds.) France - Allemagne, regards et objets croisés La littérature allemande vue de France/ La littérature française vue d’Allemagne 2011, XVIII, 277 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6660-7 Band 25 Walburga Hülk / Gregor Schuhen (Hrsg.) Haussmann und die Folgen Vom Boulevard zur Boulevardisierung 2012, 218 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6661-4 Band 26 Ursula Bähler / Peter Fröhlicher / Patrick Labarthe / Christina Vogel (éds.) Figurations de la ville-palimpseste 2012, 159 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6662-1 Band 27 Franziska Sick (Hrsg.) Stadtraum, Stadtlandschaft, Karte Literarische Räume vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2012, 243 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6698-0 Band 28 Nicole Colin / Corine Defrance / Ulrich Pfeil / Joachim Umlauf Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2015 542 Seiten, €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6882-3 Band 29 Barbara Berzel Die französische Literatur im Zeichen von Kollaboration und Faschismus Alphonse de Châteaubriant, Robert Brasillach und Jacques Chardonne 2012, 444 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6746-8 Band 30 Hans Manfred Bock Versöhnung oder Subversion? Deutsch-französische Verständigungs- Organisationen und -Netzwerke der Zwischenkriegszeit 2014, 675 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-6728-4 Band 31 Thomas Amos / Christian Grünnagel (Hrsg.) Bruxelles surréaliste Positionen und Perspektiven amimetischer Literatur 2013, 138 Seiten €[D] 49,- ISBN 978-3-8233-6729-1 <?page no="254"?> Band 32 Annette Keilhauer / Lieselotte Steinbrügge (éds.) Pour une histoire genrée des littératures romanes 2013, 139 Seiten €[D] 54,- ISBN 978-3-8233-6784-0 Band 33 Béatrice Costa Elfriede Jelinek und das französische Vaudeville 2014, 248 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6872-4 Band 34 Anja Hagemann Les Interactions entre le texte et l’image dans le ‹‹Livre de dialogue›› allemand et français de 1980 à 2004 2013, VI, 261 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6808-3 Band 35 Theresa Maierhofer-Lischka Gewaltperzeption im französischen Rap Diskursanalytische Untersuchung einer missverständlichen Kommunikation 2013, 438 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6835-9 Band 36 Margarete Zimmermann (éd.) Après le Mur: Berlin dans la littérature francophone 2014, 268 Seiten €[D] 48,- ISBN 978-3-8233-6879-3 Band 37 Hans-Jürgen Lüsebrink / Sylvère Mbondobari (éds.) Villes coloniales/ Métropoles postcoloniales Représentations littéraires, images médiatiques et regards croisés 2015, 285 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-6940-0 Band 38 Roswitha Böhm / Cécile Kovacshazy (éds.) Précarité Littérature et cinéma de la crise au XXI e siècle 2015, 186 Seiten €[D] 28,- ISBN 978-3-8233-6936-3 Band 39 Julia Borst Gewalt und Trauma im haitianischen Gegenwartsroman Die Post-Duvalier-Ära in der Literatur 2015, XI, 289 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-6916-5 <?page no="255"?> Die „kleine deutsch-französische Literaturgeschichte“ vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts überwindet und relativiert die nationalen Standpunkte, um gemeinsame Epochen und Thematiken zu erzählen: Aufklärung, Klassik/ Classicisme, Romantik, Realismus, Naturalismus, Fin de Siècle/ Jahrhundertwende, Avantgarden, Literatur des Ersten Weltkriegs. Sie ist der Versuch einer Pragmatik der Literaturgeschichtsschreibung, die auf der Grundlage von zwei benachbarten, zum Teil historisch verflochtenen Kulturräumen beruht, zwischen denen seit dem Mittelalter ein intensiver Austausch stattgefunden hat. Auch in Konflikt- und Krisenzeiten hat sich diese Tradition fortgesetzt. Jedes Kapitel skizziert eine gegenstandsbezogene Fragestellung, die unterschiedliche Gewichtungen zwischen den Prinzipien der histoire parallèle und der histoire comparée geltend macht. Im Vordergrund steht eine resolute komparatistische Perspektive, die sich einer gründlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte deutsch-französischer Kulturtransfers, Wechselwirkungen, Vermittlungsprozesse und Berührungszonen widmet. ISBN 978-3-8233-8043-6