Nachtdenken
Maurice Blanchots „Thomas l’Obscur“
0115
2018
978-3-8233-9045-9
Gunter Narr Verlag
Martina Bengert
Nachtdenken heißt die Welt zerdenken. Es ist ein Nachdenken <i>über</i> die Nacht, vor allem aber ein Denken <i>von</i> einer unbegreiflichen Nacht <i>aus</i>, die zutiefst vom Tode geprägt ist. Die vorliegende Studie ist eine Lektüre zweier Texte Maurice Blanchots, die beide unter dem Titel "Thomas l'Obscur" veröffentlicht wurden und zu den hermetischsten Werken der neueren französischen Literaturgeschichte zählen. Sie verbindet Philologie und Philosophie, indem sie mit der Denkfigur der <i>anderen</i> Nacht Blanchots Versuch, den Tod zu schreiben, in einem textnahen und philosophisch verortenden Kommentar nachzeichnet.
<?page no="0"?> Nachtdenken heißt die Welt zerdenken. Es ist ein Nachdenken über die Nacht, vor allem aber ein Denken von einer unbegreiflichen Nacht aus, die zutiefst vom Tode geprägt ist. Die vorliegende Studie ist eine Lektüre zweier Texte Maurice Blanchots, die beide unter dem Titel „Thomas l’Obscur“ veröffentlicht wurden und zu den hermetischsten Werken der neueren französischen Literaturgeschichte zählen. Sie verbindet Philologie und Philosophie, indem sie mit der Denkfigur der anderen Nacht Blanchots Versuch, den Tod zu schreiben, in einem textnahen und philosophisch verortenden Kommentar nachzeichnet. ISBN 978-3-8233-8045-0 Bengert Nachtdenken Anna Marcos Nickol Nachtdenken Maurice Blanchots „Thomas l’Obscur“ Martina Bengert <?page no="3"?> Nachtdenken <?page no="4"?> Studia philologica Monacensia Edunt Andreas Dufter et Bernhard Teuber Volumen 6 · 2017 Comité scientifique - Advisory Board - Wissenschaftlicher Beirat Lina Bolzoni (Scuola Normale Superiore di Pisa) Anthony Cascardi (University of California at Berkeley) Pedro Cátedra (Universidad de Salamanca) Victoria Cirlot (Universitat Pompeu Fabra, Barcelona) Marie-Luce Démonet (Université François Rabelais, CESR, Tours) Carlos Garatea Grau (Pontificia Universidad Católica del Perú, Lima) Barbara Kuhn (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) Frank Lestringant (Université Paris-Sorbonne) María Jesús Mancho Duque (Universidad de Salamanca) Wolfgang Matzat (Eberhard-Karls-Universität Tübingen) Paulo de Sousa Aguiar de Medeiros (University of Warwick) Wolfram Nitsch (Universität zu Köln) Uli Reich (Freie Universität Berlin) Maria Selig (Universität Regensburg) Elisabeth Stark (Universität Zürich) Collegium consultorum <?page no="5"?> Martina Bengert Nachtdenken Maurice Blanchots „Thomas l’Obscur“ <?page no="6"?> Die Dissertation wurde 2015 unter dem Titel „Nachtdenken. Maurice Blanchots Thomas l’Obscur“ von der Philosophischen Fakultät der LMU München angenommen. Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG · Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 2365-3094 ISBN 978-3-8233- 9045 - 9 Umschlagabbildung: Ralph Ammer: dunkel (2017) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. <?page no="7"?> Für meine Mutter - Le pas au-delà <?page no="9"?> A. 11 A. 1 13 A. 2 22 A. 3 28 B. 33 0. 35 0.1 35 0.2 40 0.3 42 0.4 44 1. 47 1.1 47 1.2 53 1.3 55 2. 66 2.1 67 2.2 72 2.3 75 2.4 78 3. 86 3.1 87 3.2 88 3.3 91 Inhalt Präliminarien: Tag und Nacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dunkle Nacht - andere Nacht - Nachtdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorgehen, Methode, Forschungsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wahrnehmung und Tod als Leitbegriffe der Nachtspur - Soma, Selbstimplikation und Affizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hauptteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die zwei Versionen von Thomas l’Obscur. Abzweigungen . . . . . . . . Der Kern als beigefügtes Zentrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differenzen zweier Bücher selben Titels . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fokussierung: Thomas l’Obscur. Nouvelle version . . . . . . . . . Makrostrukturelles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mikroskope - Berührung auf Entfernung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Il y a und es gibt (Blanchot zwischen Heidegger und Levinas) Durchkreuzte Initiation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Innere Erfahrung und Transgression (Gleiten) . . . . . . . . . . . . . Kryptologie - Der Weg in den Ungrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überlegungen zum Grund (Aushöhlungen) . . . . . . . . . . . . . . . Der Einfall der Nacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Krypta (Phantasma und Verschiebung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas’ Gang in die Krypta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Licht-Blick - Berührung des Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der leere Blick - Faszination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischenleiblichkeit: Blicken und Berühren (Merleau-Ponty) 3.4 97 Eigennamen: Anne und Thomas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="10"?> 4. 112 4.1 112 4.2 116 4.3 127 4.4 130 4.5 133 5. 136 5.1 137 5.2 155 5.3 157 6. 166 6.1 167 6.2 171 6.3 176 6.4 182 7. 187 7.1 187 7.2 192 7.3 194 7.4 198 8. 202 8.1 202 8.2 212 8.3 214 9. 226 9.1 226 9.2 230 9.3 234 Lesen (bestialischer Worte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die absolute Einsamkeit oder Eine monastische Leseszene unter Beobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lesen als Verschlingen (Tiere I: Mantis religiosa) . . . . . . . . . . Tiere II: Die Ratte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mise en abyme des Lesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom punctum überwältigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katze, Seher, Medium - Zwischen Mumifizierung und Wiederauferstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tiere III: Die Katze - ägyptischer Totenkult . . . . . . . . . . . . . . . Versiegelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ach - Lazarus - Mumie. Die Rückkehr des Todes . . . . . . . . . . Das gleißende Licht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mittagssonne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nietzsche - ewige Wiederkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wiederholung, Stillstand und Kontinuität ( Josua) . . . . . . . . . . Tiere IV: Die Spinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beziehungsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frage und Antwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entmachtung und Entgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragen: Der versuchte Kontakt mit dem Unmöglichen . . . . . . Enttäuschungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sich vom Aussagen befreien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schreien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Récit - Erzählen, ohne etwas zu sagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jenseits von Pascal: Die Sogmaschine des Denkens . . . . . . . . . Leiche-Werden: Selbstähnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Imaginäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die zwei Fassungen des Imaginären . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbotener Anblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 8 <?page no="11"?> 10. 242 10.1 243 10.2 245 10.3 249 10.4 254 11. 258 11.1 258 11.2 266 11.3 269 11.4 273 11.5 275 11.6 278 12. 284 12.1 285 12.2 297 12.3 302 C. 311 C. 1 313 C. 2 315 318 D. 321 323 339 340 Sterben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Anziehung der Nacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sich Hin-Geben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Unsagbare sagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Todesfalle: Eurydike und der Blick zurück . . . . . . . . . . . . . . . . Sprechen und gesprochen werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Rede des Neutrums. Blanchot - Novalis - Schlegel . . . . . Das Sprechen im Modus des ‚als ob‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anführungsstriche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lupe und Spiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ich denke, also bin ich nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hymnen an die Nacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bilderflut: Genesis und Apokalypse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schreiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedächtnis: Warten - Vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kein Ende in Sicht: Kafkas Spur der Scham . . . . . . . . . . . . . . . Schlussgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas l’Obscur lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über Thomas l’Obscur schreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . DANKSAGUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 9 <?page no="13"?> A. Präliminarien: Tag und Nacht <?page no="15"?> 1 Elisabeth Bronfen: Tiefer als der Tag gedacht - Eine Kulturgeschichte der Nacht, Mün‐ chen: Carl Hanser 2008. 2 Heinz-Gerhard Friese: Die Ästhetik der Nacht - Eine Kulturgeschichte, Reinbek bei Ham‐ burg, Rowohlt 2011. 3 Als ältere Studien, oftmals als einschlägige Werke zur Nacht in der Literatur und Kultur zitiert, seien exemplarisch genannt: Ernst Thomas Reimbold: Die Nacht im Mythos, Kultus und Volksglauben - Eine religionsphänomenologische Untersuchung, Köln: Wison 1970 und Walter Seitter: Geschichte der Nacht, Berlin / Bodenheim bei Mainz: Philo 1999. Eine sehr umfangreiche und über den im Titel angegebenen Zeitraum des Mit‐ telalters hinausgehende Nacht-Studie existiert mit Tzotcho Boiadjiev: Die Nacht im Mittelalter, transt. Barbara Müller, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. A. 1 Dunkle Nacht - andere Nacht - Nachtdenken Mit dem 2008 erschienenen Buch Tiefer als der Tag gedacht - Eine Kulturge‐ schichte der Nacht der Anglistin Elisabeth Bronfen 1 sowie dem 2011 publizierten Buch Die Ästhetik der Nacht - Eine Kulturgeschichte 2 von Heinz-Gerhard Friese liegen zwei umfangreiche aktuelle Studien vor, die einen kenntnisreichen Ein‐ blick in zahlreiche Stationen der Nacht von der Antike bis in die Moderne geben. 3 Obwohl Bronfen sich in ihren Nachtbetrachtungen stark auf die eng‐ lischsprachige Literatur fokussiert, umfasst ihre Kulturgeschichte auch die Be‐ reiche des Kinos (film noir) und der europäischen Malerei. Frieses Nachtwerk widmet sich auf der Basis von Hesiods Theogonie ausgiebig den Nachtkonzepten im alten Griechenland, um sich sodann dem „Nachtleib“ und seinen Inszenie‐ rungen, z. B. in Form von Monstern und dem Motiv des literarischen Nacht‐ mahls, zuzuwenden. Das vorliegende Buch ist keine weitere Kulturgeschichte der Nacht, sondern konzentriert sich im Gegensatz zu motivgeschichtlichen Nachtbüchern auf die philosophisch-literarische Denkfigur der anderen Nacht in Maurice Blanchots Thomas l’Obscur. Eine solche Konzentration entspricht dem, was Blanchot in der Verschränkung von philosophischem und literarischem Schreiben als Ge‐ genentwurf zu einem Denken über die Nacht in Gestalt eines Denkens der Nacht entwickelt. Durch die Entfaltung dieses Nachtdenkens wird Blanchots Versuch, den Tod zu schreiben, in Form eines Textkommentars nachgezeichnet. Dunkle Nacht Kein anderer hat wohl wie der Mystiker Johannes vom Kreuz (1542-1591) den Topos der noche oscura in der spanischen, aber auch der europäischen Literatur <?page no="16"?> 4 Eine äußerst aufschlussreiche Studie zum heiligen Johannes vom Kreuz mit einer de‐ taillierten Analyse des Gedichts „Noche oscura“ als allegorisches Liebesopfer hat Bern‐ hard Teuber verfasst: Bernhard Teuber: Sacrificium litterae - Allegorische Rede und mystische Erfahrung in der Dichtung des heiligen Johannes vom Kreuz, München: Fink 2003. 5 Maurice Blanchot / Pierre Madaule: Correspondance 1953-2002, ed. Pierre Madaule, Paris: Gallimard 2012, p. 70. 6 Jacques Lacan: Les écrits téchniques de Freud (Le Séminaire I), Paris: Seuil 1975, p. 258. 7 „Nel mezzo del cammin di nostra vita mi ritrovai per una selva oscura, che la diritta via era smarrita.“ [Dante Alighieri: La divina commedia, ed. Natalino Sapegno, Mailand: Ricciardi 1957, p. 3]. 8 Die Titel dieser Kommentare lauten: Subida del monte Carmelo und Noche oscura. geprägt. Ist in einem literarischen Werk von der dunklen Nacht die Rede, ver‐ weisen die Kommentatoren bis heute zumeist auf sein Bild der noche oscura. 4 Die Rezeption seiner Schriften war unter den französischen Intellektuellen Mitte des 20. Jahrhunderts weit verbreitet. Blanchot weist in seinem Briefwechsel mit Pierre Madaule darauf hin, dass er von den Gedichten des Heiligen Johannes vom Kreuz (San Juan de la Cruz im Spanischen) sogar eigene Übersetzungen angefertigt habe. 5 Aber auch Jacques Lacan zählt zu den Lesern San Juans, wenn er in seinem séminaire die noche oscura eine nennt, „que tout le monde lit et personne ne comprend.“ 6 Dieses Nicht-Verstehen-Können begründet sich ganz wesentlich in San Juans Versuch, das Unsagbare zu umkreisen und damit in einen Raum der (mystischen) Erfahrung vorzudringen, der sich dem logischen Erkennen entzieht. Auf Basis einer solchen grundlegenden Unmöglichkeit des Begreifens wird sich meine Arbeit in die dunkle Nacht und mit dieser in die andere Nacht wagen. Dabei gäbe es scheinbar einen einfacheren und geführten Zugang zum Dunklen: In Dante Alighieris Divina Commedia findet sich der Ich-Erzähler zu Beginn des 1. Gesangs inmitten eines dunklen Waldes (selva oscura) wieder. 7 Diese Metapher wurde meist als Beschreibung eines Krisenzustandes geistiger und intellektueller Dunkelheit und Orientierungslosigkeit interpretiert. Der Protagonist steht am Anfang eines Läuterungsweges, der ihn durch die ver‐ schiedenen Kreise der Hölle, des Fegefeuers bis hin ins Empyreum führen wird. Anders als bei Dante, doch auch mit einem Läuterungsweg verbunden, ver‐ hält es sich mit der Thematik der noche oscura des heiligen Johannes vom Kreuz. In dem gleichnamigen Gedicht, vor allem in den von Johannes vom Kreuz selbst verfassten Prosakommentaren, 8 ist der Weg eine Flucht, die in Überschreitung etlicher literarischer wie gesellschaftlicher Konventionen von einem weibli‐ chen, sehnsuchtsvoll liebenden Subjekt ausgeführt wird. Die selva oscura wird ersetzt durch eine noche oscura, welche gleich mehrmals (im Sinne einer Um‐ A. 1 Dunkle Nacht - andere Nacht - Nachtdenken 14 <?page no="17"?> 9 Alois M. Haas: „Die dunkle Nacht der Sinne und des Geistes - Mystische Leiderfahrung nach Johannes vom Kreuz“, in: Die dunkle Nacht der Sinne - Leiderfahrung und christliche Mystik, ed. Gotthard Fuchs, Düsseldorf: Patmos 1989, pp. 108-125, hier p. 117. 10 Wiewohl Teresa de Ávila sowohl als Mensch, wie auch über ihre Schriften sehr prägend für San Juans Figur der noche oscura war, wird bei ihr die Nacht nicht als solche the‐ matisiert, sondern in der Regel umschrieben. nachtung der Sinne und des Geistes) durchschritten werden muss, um zur Ver‐ einigung mit dem Geliebten zu finden. Bemerkenswert vor dem Hintergrund der abendländischen Theologie und Philosophie ist die Anerkennung der Nacht als Erkenntnisgrund bzw. Erkenntnismöglichkeit, die sich gerade aus ihrem Ne‐ gations- und Subversionscharakter ergibt. Aus diesem Grund scheint es ange‐ bracht, mit Bezug auf die noche oscura von einer „Nachterfahrung sui generis“ zu sprechen. 9 Wie schon beispielsweise Teresa de Ávila oder Fray Luis de León vor ihm, stellt Johannes vom Kreuz den Weg hin zu Gott und die Vereinigung mit Gott als einen Stufenweg dar, der von jedem Menschen allein bewältigt werden muss und der vor allem aus einem schmerzhaften Entwerden des Ichs besteht. Doch deutlicher als bei allen anderen vor ihm und nach ihm steht die Nacht explizit im Zentrum dieses Weges. 10 Das Gedicht „Noche oscura“, 1577 während einer neunmonatigen Kerkerhaft in Toledo verfasst, ist die Beschreibung eines Hinaustretens der Gott suchenden Seele in vollkommene Dunkelheit, Unwissenheit und Verlorenheit. Es schildert die Überwindung einer ersten, ‚gewöhnlichen‘ Nacht, die Johannes vom Kreuz in der Subida del Monte Carmelo, einem Prosakommentar zum Gedicht, als Fins‐ ternis identifiziert, in der die weltlichen Dingen verhaftete menschliche Seele lebt. Das Durchleben der zweiten Nacht hingegen, der dunklen Nacht, bildet eine weitaus extremere Nachterfahrung der Seele, die einem Gefühl der vollkom‐ menen Geworfenheit und Einsamkeit entspricht. Sie ist nicht als romantisch zu verstehen, d. h. nicht als erstrebter Einsamkeitszustand, der Erhabenes ver‐ spricht, sondern als (dreifache) absolute Negation der Sinne und des Geistes, die in ihrer Gewaltigkeit und Präsenz den erlebenden Menschen mit Angst erfüllt. Das weitere Durchschreiten dieser Negation bis zu ihrem Höhepunkt in der absoluten Leere, führt in ein Oxymoron: zur Erfahrung von Präsenz Gottes ge‐ rade in der absoluten Abwesenheit. Als eine mögliche Spur einer unbeschreiblichen göttlichen Präsenz könnte die unerklärte plötzliche Wunde der Sprecherin des Gedichts betrachtet werden, A. 1 Dunkle Nacht - andere Nacht - Nachtdenken 15 <?page no="18"?> 11 San Juan de la Cruz: „Noche oscura“, in: id.: Obra completa, Band 1 / 2, edd. Luce López-Baralt, Eulogio Pacho, Madrid: Alianza 2 2010, p. 72: „El aire de la almena, / cuando yo sus cabellos esparcía, / con su mano serena / en mi cuello hería, / y todos mis sentidos suspendía.“ 12 Martin Heidegger: Briefwechsel 1918-1969, ed. Joachim W. Storck, Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 2 1990, p. 32. 13 Blanchot / Madaule 2012: 70. die ihr paradoxerweise ein Windhauch zufügt und all ihre Sinne suspendiert. 11 In der Kulmination des Gedichts klafft sie unvermittelt am Hals des lyrischen Ichs und manifestiert sich als Spur eines Geschehens, das selbst nicht dargestellt wird. Der Text zeigt hierin möglicherweise - in Anlehnung an Paul de Mans Auslegung der Allegorie als ein selbstreferentielles Zeichen, das auf das Schei‐ tern jeglicher sprachlicher Ausdrucksform verweist - seine eigene Verletzlich‐ keit, nämlich die der Uneinholbarkeit des Sinns durch die (Nachträglichkeit und Begrenztheit der) Sprache. Johannes vom Kreuz hat als erster spanischer Schriftsteller und Philosoph den grundlegend allegorischen Charakter der Nacht (und der Schrift) quasi als Vordenker der (Post)moderne literarisch umgesetzt, indem er in der Rede seines Gedichtes „Noche oscura“ durch mystisches Sprachspiel, wie auch in Korrela‐ tion mit dem Textkommentar, mannigfaltige Allegorien auf eine unsichtbare und unbegreifliche Nacht kreiert. Die dunkle Nacht des Johannes vom Kreuz scheint in Martin Heideggers Begriff des Existenzials wiederzukehren. Er be‐ schreibt die Erfahrung des In-der-Welt-Seins als eine Erfahrung des „Hineinge‐ haltenseins der Existenz in die Nacht“, 12 die, so meine These, in der französischen Rezeption Heideggers und ganz besonders in Blanchots Thomas l’Obscur um‐ gedeutet wird in ein Hinausgehaltensein der Existenz in die Nacht. In der Be‐ tonung der Nacht als gänzlich andere, jenseits einer möglichen Innerlichkeit und oppositionellen Beziehung zum Tag, denkt Maurice Blanchot die andere Nacht. Die andere Nacht Wie eingangs erwähnt, kannte Blanchot die Texte des Heiligen Johannes vom Kreuz. Die Tatsache, dass er San Juans Gedichte sogar selbst übersetzte, lässt sich nicht nur als Nachweis seiner profunden Textkenntnisse lesen, sondern als Zeichen größter Anerkennung: Aminadab m’a été donné par saint Jean de la Croix que j’ai beaucoup lu jadis, tradui‐ sant même ses admirables poèmes. Aminadab est comme le gardien de l’énigme de la ‚Nuit obscure‘. J’en dirais plus, si les écrits de S t Jean étaient ici pour réveiller ma mémoire. Mais tous mes livres sont dispersés comme mes textes du reste. 13 A. 1 Dunkle Nacht - andere Nacht - Nachtdenken 16 <?page no="19"?> 14 Teuber 2003: 453; Cf. auch ibid., pp. 421-461. 15 Cf. Blanchot / Madaule 2012: 70. Der Verweis auf Aminadab zu Beginn des oben zitierten Briefausschnitts deutet in zwei Richtungen, zum einen auf Blanchots 1942 veröffentlichten Roman Aminadab, zum anderen auf die Herkunft dieses Titels als Effekt der Lektüren mystischer Texte San Juans - Aminadab tritt als Figur in der letzten Strophe des Cántico espiritual auf. Wer er ist und ob er überhaupt eine wesenhafte Erschei‐ nung bezeichnet, ist nicht mit Eindeutigkeit festzumachen. Wie Bernhard Teu‐ ber in seiner Auslegung des Lexems ‚Aminadab‘ zeigt, bewegen sich die Deu‐ tungsmöglichkeiten vom „Wagenlenker“ der Braut des biblischen Hohelieds, über „Satan“ und „Christus“ bis hin zu Zergliederung der Signifikanten in „a mí nada“ 14 . Wenn Blanchot in seinem Brief an Pierre Madaule schreibt, dass Ami‐ nadab ihm von San Juan de la Cruz „gegeben“ wurde, dessen Werk er darüber hinaus aufgrund eigener Übersetzungen der - von Blanchot mit dem Adjektiv „admirables“ bewerteten - Gedichte bestens zu kennen betont, dann verdeut‐ licht er damit auch, dass er sich der Vielschichtigkeit dieses Namens und seiner Einbettung in eine besondere Form der christlichen Mystik bewusst ist. Dabei handelt es sich um eine Mystik, die sich sehr affirmativ der Nacht zuwendet und sie insbesondere im Gedicht „Noche oscura“ - von Blanchot in der französischen Form „Nuit obscure“ erwähnt - als Erkenntnisgrund setzt. In Aminadab sieht Blanchot den Türhüter dieser „Dunklen Nacht“ des Heiligen Johannes vom Kreuz, wobei auch an dieser Stelle die Trennung zwischen Blanchots Aminadab und der im Cántico espiritual vorkommenden Lautkette ‚Aminadab‘ nicht streng vollzogen, ja vielmehr gerade als Dopplung und Ambiguität sehr deutlich offen gelassen wird. Blanchots Verweis auf seine intensive Auseinandersetzung mit San Juan ist zudem zu entnehmen, dass sie in der Vergangenheit liegt. Da der Brief zeitlich entweder dem 30. 12. 1985 (Blanchots eigene Datierung auf dem Brief) oder dem 30. 12. 1989 (Poststempel) zuzuordnen ist 15 und der Roman Aminadab 1942 ein Jahr nach der Erstfassung von Thomas l’Obscur erschien, lässt sich folgern, dass Blanchot sich schon in den Jahren vor 1942 intensiv mit der Denkfigur der noche oscura beschäftigt hat und seine denkerische Leiden‐ schaft für die Nacht in Thomas l’Obscur, ebenso wie in Aminadab und insbe‐ sondere den frühen literaturkritischen Essays ihren Ausgang von der frühneu‐ zeitlichen spanischen Mystik nimmt. Blanchots Denken bekennt sich zur Nacht, nicht jedoch zu Gott. In der dunklen, gottlosen Nacht aber, aus der es kein Ent‐ kommen gibt, die fasziniert ohne zu bergen, findet Blanchot eine Denkfigur, die sein Werk bis in die späten Texte durchzieht. A. 1 Dunkle Nacht - andere Nacht - Nachtdenken 17 <?page no="20"?> 16 „[L]a nuit n’est que l’autre du jour, ou encore […] son envers.“ [Gérard Genette: „Le jour, la nuit“, Langages 12 (1968), 28-42, hier 31; Hervorhebungen im Original]. 17 Systemtheoretisch betrachtet könnte man sagen, dass Blanchot die vormalige Unter‐ scheidung von Tag und Nacht in die Nacht wieder einführt (re-entry), um dann zwei Formen der Nacht zu unterscheiden: erste (Entsprechung zum Tag) und andere Nacht (Nacht der Nacht oder das Andere der Nacht). 18 Maurice Blanchot: „Le dehors, la nuit“, in: id.: L’espace littéraire, Paris: Gallimard 1955, pp. 213-224, hier p. 220. L’espace littéraire ist fortan mit der Sigle EL abgekürzt. Denn der Tag ist für Blanchot verbunden mit Ordnung, Licht und Rationalität, mit gesetzten Aussagen und allzu festen Strukturen, wohingegen die Literatur, und insbesondere die Dichtung, ihren Ort in der Nacht als Raum des Unkon‐ trollierbaren und Kreativen hat. Der Tag bricht an, die Nacht bricht ein. Jedoch läuft die Nacht Gefahr, gebändigt und als dichotomisches Gegenstück des Tages gedacht zu werden: sei es als ein Zustand der zu überwindenden Orientierungs‐ losigkeit, Passivität oder Ausgesetztheit, sei es als romantischer Zufluchtsort des nach Verschmelzung mit sich und dem Universum strebenden Ichs. Eine weitere Möglichkeit der Abschwächung besteht darin, die Nacht mit Gespens‐ tern, Monstern, Gewalt und Verdammnis zu bevölkern und dadurch ihre Leere anhand von abschreckenden Gestalten zu überdecken. All diese Aspekte versucht Blanchot zu überschreiten, indem er die Nacht, die er auch als première nuit, als erste Nacht, bezeichnet, von einer radikaleren und absoluteren Nacht, der ‚autre‘ nuit, abgrenzt. Die andere Nacht Blanchots bezeichnet damit explizit nicht, wie etwa bei Gérard Genette 16 , das Andere des Tages, sondern vielmehr das Andere der Nacht. 17 Die ‚autre‘ nuit ist folglich als eine Nacht aufzufassen, die keine Opposition im Sinne einer Dialektik zulässt und somit als radikales Außen und radikales Anderes (der Schrift oder auch des Erkennens), das kein Innen determiniert, zu verstehen ist. Nur das Tagesdenken maßt sich an, die andere Nacht, die man sich gerade nicht aneignen kann, vereinnahmen zu wollen. Das Nachtdenken hingegen weiß um dieses Unbegreifliche und Uneinholbare der anderen Nacht. Quand on oppose la nuit et le jour et les mouvements qui s’accomplissent, c’est encore à la nuit du jour qu’il est fait allusion, cette nuit qui est sa nuit […]. Mais l’autre nuit est toujours autre. C’est dans le jour seulement qu’on croit l’entendre, la saisir. […] Mais, dans la nuit, elle est ce avec quoi l’on ne s’unit pas, la répétition qui n’en finit pas […] la scintillation de ce qui est sans fondement et sans profondeur. 18 In L’espace littéraire benennt Blanchot das, was jede Bewegung überschreitet bzw. fundiert, mit der ‚autre‘ nuit. Er setzt das ‚autre‘ durchgängig kursiv und verweist derart von der Ebene der Signifikanten auf eine Metaebene, die die A. 1 Dunkle Nacht - andere Nacht - Nachtdenken 18 <?page no="21"?> 19 In Thomas l’Obscur findet sich kaum eine solche Hervorhebung. Vielmehr vollzieht sich die andere Nacht als infiniter Regress, was ich später weiter spezifizieren werde. 20 Zur Geschichte des negativ-theologischen Denkens siehe die beeindruckende Studie von Dirk Westerkamp: Dirk Westerkamp: Via negativa - Sprache und Methode der ne‐ gativen Theologie, München: Fink 2006. 21 San Juan de la Cruz: Subida del Monte Carmelo, in: id.: Obra completa, Band 1 / 2, edd. Luce López-Baralt, Eulogio Pacho, Madrid: Alianza 2 2010, pp. 115-434, hier p. 176. andere Nacht als infinite Verschiebung ausmacht. 19 Die andere Nacht ist immer anders als alles, was bezeichnet werden kann, und referiert als Aufflackern des Ungrunds auf ein sich stets entziehendes und verschiebendes A / anderes. Diese radikale Negativität und Alterität rückt Blanchots Konzeption der an‐ deren Nacht in deutliche Nähe zu jenen Formen der Annäherung an Gott, wie sie in der Tradition der negativen Theologie seit Proklos’ Deutung der ersten Hypothese des platonischen Parmenides, über den dreistufigen Weg der Nega‐ tion des Dionysius Areopagita und insbesondere seit Nikolaus von Kues bekannt sind. 20 San Juans noche oscura und vor allem die von ihm in ihrer gesteigerten Nächtlichkeit noch einmal gegen die „Nacht der Sinne“ abgegrenzte „Nacht des Geistes“ steht nicht nur in dieser Tradition, sondern scheint mir auch den zen‐ tralen Nexus zu Blanchots ‚autre‘ nuit herzustellen: Es [der zweite, tiefere Teil des Glaubens bzw. der Nacht bzw. das dritte Durchschreiten der Nacht; Anm. der Verfasserin] también más oscura que la primera, porque ésta pertenece a la parte inferior del hombre, que es la sensitiva y, por consiguiente, más exterior; y esta segunda de la fe pertence a la parte superior del hombre, que es la racional, y por el consiguiente, más interior y más oscura […]. Y así, es bien comparada a la media noche, que es lo más adentro y más oscuro de la noche. Pues esta segunda parte de la fe habemos ahora de probar cómo es noche para el espíritu, así como la primera lo es para el sentido. 21 Die zweite Nacht ist dunkler und verstörender als die erste. Von ihr wird we‐ sentlich das weiter innen und damit im Dunkleren liegende Denken des Men‐ schen erfasst. Sofern sie als Nacht der Nacht verstanden wird und damit die Dunkelheit als Abwesenheit des Lichts verdoppelt, bezeichnet die noche oscura jene existenzielle Entzogenheit und Differenz, die im 20. Jahrhundert in der ‚autre‘ nuit unter anderen Vorzeichen wiederkehrt. Die andere Nacht ist das radikal A / andere, das für einen die Innerlichkeit invadierenden Prozess steht. Statt einer Letztbegründungsebene setzt Blanchot die Denkfigur der ‚autre‘ nuit, die weniger Gott, als dem Tod zugewandt ist. Während der Gang durch die dunkle Nacht ein notwendiger Prozess des Ich-Sterbens hin zu Gott ist, wird die A. 1 Dunkle Nacht - andere Nacht - Nachtdenken 19 <?page no="22"?> 22 Friedrich Hölderlin: „Chiron“, in: id.: Gesammelte Werke, ed. Hans Jürgen Balmes, Frankfurt a. M.: Fischer 2 2014, p. 156. Für den Hinweis auf Hölderlins Begriff des Nach‐ denklichen sowie unsere Gespräche darüber danke ich Joseph Albernaz. 23 Maurice Blanchot: „Rilke et l’exigence de la mort“, in: EL, pp. 151-209, hier p. 152. andere Nacht Blanchots zur Fährte, den Tod zu schreiben, zu lesen und als Grenze auswegslos zu erfahren. Nachtdenken Wo bist du, Nachdenkliches! das immer muß Zur Seite gehn, zu Zeiten, wo bist du, Licht? Wohl ist das Herz wach, doch mir zürnt, mich Hemmt die erstaunende Nacht nun immer. 22 Friedrich Hölderlin Das Nachtdenken ist ein Nachdenken über die Nacht, ein Die-Nacht-Denken und Denken der Nacht. Letzteres sucht in der Nacht eine eigene Form der Logik, die anders funktioniert als die binäre Logik und bis zu einem gewissen Grad mit der Traumlogik vergleichbar ist. Nachtdenken heißt die Welt zerdenken. Das Nachtdenken Blanchots ist ein Denken, das die andere Nacht als Unvordenkli‐ ches umkreist und ihrer Differenz zur (ersten) Nacht Rechnung trägt. Nacht‐ denken ist ein Denken, das vom Tod herrührt und zum Tod führt. So wie die ‚autre‘ nuit Tag und Nacht bedingt, bedingt der Tod das Leben als dessen einzige Sicherheit. Man darf jenseits jeglicher Religiosität davon ausgehen, dass das Leben mit Sicherheit in den Tod mündet. Der Weg vom Tod ins Leben oder in einen anderen Zustand obliegt dagegen nicht mehr der rationalen Erkenntnis, sondern ist Sache des Glaubens. Blanchots Verschränkung der ‚autre‘ nuit mit dem Tod ist die Verschränkung einer absoluten Unbegreifbarkeit mit einer gewissen Er‐ fahrbarkeit. Beide können aus Sicht der Lebenden nicht unmittelbar, sondern nur über hinterlassene Spuren erfahren werden. Eine solche Spur ist beispiels‐ weise der Tod anderer Menschen, der Affekte wie Schmerz, Verlorenheit, Leere und Trauer bei den Angehörigen verursacht. Man kann der anderen Nacht im Sinne einer Nachträglichkeit immer nur nachdenken. Wenn Blanchot über Rilke sagt: „Lorsque Rilke médite sur le suicide du jeune comte Wolf Kalckreuth, médi‐ tation qui prend la forme d’un poème […]“, dann ist Blanchots Nach(t)denken eines, das in Thomas l’Obscur seine literarisch-philosophische Form sucht. 23 Ein zentraler Aspekt dieser Form ist die Perspektivlosigkeit bzw. Überperspekti‐ viertheit, welche Emmanuel Levinas als Effekt der Erfahrung des nächtlichen Raumes bezeichnet: A. 1 Dunkle Nacht - andere Nacht - Nachtdenken 20 <?page no="23"?> 24 Emmanuel Levinas: De l’existence à l’existant, Paris: Vrin 1963, hier p. 96. Für den Namen Levinas gibt es zwei Schreibweisen, eine mit Akzent (Lévinas) und eine ohne. Ich ver‐ wende durchgängig diejenige ohne Akzent. [L]es points de l’espace nocturne ne se réfèrent pas les uns aux autres, comme dans l’espace éclairé; il n’y a pas de perspective, ils ne sont pas situés. C’est un grouillement de points. […] L’absence de perspective n’est pas purement négative. Elle devient insécurité. […] L’insécurité ne vient pas des choses du monde diurne que la nuit recèle, elle tient précisément au fait que rien n’approche, que rien ne vient, que rien ne menace; ce silence, cette tranquillité, ce néant de sensations constituent une sourde menace indéterminée, absolument. 24 Das Nachtdenken in Thomas l’Obscur versucht nicht, dieses „Punktegewimmel“ zu bändigen, sondern es als widersprüchliches Kraftfeld zu erschreiben und die Verunsicherung auf allen Ebenen der Sprache gegenwärtig werden zu lassen. In der Folge soll nachgezeichnet werden, wie die Dynamik der Sprache in Thomas l’Obscur in ein Nachtdenken mündet. Die Schärfung der Konturen seines Nacht‐ denkens soll über unterschiedliche Ähnlichkeitsbeziehungen zu anderen Formen der Annäherung an Undenkbares - oder zumindest schwer Denkbares - geschehen. A. 1 Dunkle Nacht - andere Nacht - Nachtdenken 21 <?page no="24"?> A. 2 Vorgehen, Methode, Forschungsziel Eine Studie zu Blanchot, insbesondere aber eine über Thomas l’Obscur, wird sich aufgrund der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes immer auf der Grenze zur Unverständlichkeit bewegen müssen. Dabei selbst ins Unverständ‐ liche abzugleiten, stellt keine geringe Problematik dar. Der Anspruch des vor‐ liegenden Buches liegt nicht zuletzt darin, sich dem Unverständlichen über eine Dynamik von Verständlichem und Komplexem zu nähern, die das Nachtpoten‐ tial von Blanchots Text(en) in seinen Paradoxien und logischen Abgründen zu‐ mindest in einigen Facetten nachvollziehbar wiederzugeben vermag. Die Grenze zwischen Komplexem und Unverständlichem ist dünn und die zwischen Ver‐ ständlichem und Unverständlichem ebenso. Vielleicht könnte man dieses Ver‐ hältnis sogar so denken, dass die Komplexität eine Grenze zwischen Verständ‐ lichem und Unverständlichem bildet. Verständliches ist in Thomas l’Obscur eine Rarität, auch weil es immer eine Reduktion bedeutet: vom Virtuellen des Un‐ verständlichen in die Aktualisierung des Verständlichen, des Realisierten, des Ausgesagten. In anderen Worten formuliert, ist die Verständlichmachung des Unverständlichen eine Reduktion des Nachtdenkens auf ein Tagdenken. Dieses Nachtdenken nachzuzeichnen, ohne von ihm schreibend gänzlich ergriffen zu werden, aber auch ohne der analytischen Ordnung des Tages zu verfallen, wird bedeuten, immer an der Grenze zwischen den beiden Logiken zu arbeiten. Der Leser dieser Arbeit wird selbst entscheiden müssen, wo sich meine Ausfüh‐ rungen über das Nachtdenken bewegen. Im Idealfall sind sie in regelmäßigen Abständen klare und pointierte Gedanken zu bisweilen doch recht anspruchs‐ vollen theoretischen und literarischen Figurationen, wie z. B. der Höhle, des Abgrunds, der Wiederkehr vom Tod oder der Nacht. Meine Studie stellt dabei keine Motivgeschichte der Nacht dar, sondern vielmehr eine Lektüre von Thomas l’Obscur, die unter dem Stern der Nacht steht. Dies bewirkt unter an‐ derem, dass in manchen Kapiteln Textstellen analysiert werden, in denen es vordergründig gar nicht um die Nacht geht, wohl aber um ihre Spuren und Konsequenzen. Mit dem Nachtdenken sollen Prozesse und Bewegungen des Textes umfasst werden, die dem Begreifen stets vorhalten, dass die erkannte Bedeutung oder der gefolgerte Zusammenhang nur relativ ist und immer eine metonymische, metaphorische, analogische (die Reihe könnte um einige weitere Adjektive an‐ <?page no="25"?> 1 Jacques Derrida: „Passages - du traumatisme à la promesse“, in: id.: Points de suspension - Entretiens, Paris: Galilée 1992, pp. 385-409, hier p. 387. 2 Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie - Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten, transt. Joachim Schulte, Frankfurt a. M.: Suhr‐ kamp 2003, p. 85. gereichert werden) Dimension dahinter liegt, die den Wahrheitsgehalt des Ge‐ lesenen ins Wanken bringt. Wenn Literaturwissenschaft bedeutet - wie ich schon in meinen romanisti‐ schen Studienjahren gelernt habe - nicht nur festzustellen, dass ein Text be‐ stimmte Effekte beim Leser erzeugt, sondern nach den Operationen des Textes zu forschen, die diese Effekte hervorbringen, so soll die vorliegende Arbeit über die Hinzunahme verschiedener philosophischer, psychoanalytischer und kul‐ tursemiotischer Konzepte genau eine solche Lektüre versuchen. Meinen Textzugang kann man als philologisch-philosophischen Ansatz be‐ zeichnen, der unter dem Zeichen eines Close Readings steht und strukturell die Form eines Textkommentars hat. Er ist eine Verbindung von Philologie und Philosophie, die der Tatsache Rechnung trägt, dass die Trennung zwischen phi‐ losophischem Denken und literarischem Schreiben bei Blanchot nicht leicht‐ fertig zu machen ist. Beide sind über eine Erfahrung der Sprache verbunden, die Jacques Derrida wie folgt beschreibt: „Faire l’expérience, c’est avancer en navi‐ guant, marcher en traversant. Et en traversant par conséquent une limite ou une frontière. L’expérience de la langue devrait être une expérience comme à la poésie et à la philosophie, à la littérature et à la philosophie.“ 1 Derridas Wunsch, Philosophie und Literatur zu vereinen, ist in Thomas l’Obscur realisiert über eine Erfahrung der Sprache, die eine Erfahrung der anderen Nacht darstellt. Sofern es mir weniger um Blanchot-Exegese, als vielmehr um den Versuch geht, Blanchots mikropoetischer Sprache in Thomas l’Obscur zu folgen, rücke ich meine Methodik ganz bewusst in eine dekonstruktive Praxis des Kommen‐ tars als eine Praxis des Ränder-Vollschreibens. Hans Ulrich Gumbrecht, der in seinem 2003 ins Deutsche übersetzten Werk Die Macht der Philologie die De‐ konstruktion als „philosophische Verkörperung des textuellen Prinzips des Kommentars“ 2 bezeichnet, betont dort auch: Kommentare sollten der Traum eines jeden Dekonstruktivisten sein. […] Eine de‐ konstruktive Lektüre wird immer an einem Primärtext ‚entlang‘ lesen, und das ist zugleich eine Form der Lektüre, deren textuelle Äußerung notwendig von diesem Verhältnis zu dem betreffenden Primärtext geprägt sein wird. Es ist eine Lektüre, die sich der eigenen ‚Supplementarität‘ ebenso ständig bewußt ist wie der des Primärtexts, A. 2 Vorgehen, Methode, Forschungsziel 23 <?page no="26"?> 3 Ibid., pp. 82-83. 4 Anzumerken sei hier zudem, dass die Kapiteleinteilung in der ersten Version zwar vor‐ handen, aber nicht so klar wie in der zweiten Fassung ist. Während in der Fassung von 1941 Kapitelanfänge nur über einen Absatz und die entsprechende römische Ziffer ge‐ kennzeichnet sind, beginnt in der Version von 1950 mit jedem Kapitel eine neue Seite. Im Kontext all der großen und kleinen Änderungen und Kürzungen, die Blanchot für die Fassung der nouvelle version vorgenommen hat, ist die deutliche Abgrenzung der einzelnen Kapitel keine nebensächliche formale Neuerung. d. h. der in jedem Augenblick gegebenen Möglichkeit, dem Primärtext oder der de‐ konstruktiven Lesart weitere Worte hinzuzufügen. 3 So ist sich meine Vorgehensweise des Eingreifens in den Text bewusst und be‐ trachtet - mit Derrida und Roland Barthes gedacht - den Text als Textur, deren Auftrennung und Ausbreitung viel Zeit in Anspruch nimmt. Bei diesem Prozess wird indessen nicht einfach etwas bereits Vorhandenes freigelegt, sondern über‐ haupt der Text erst erschaffen, neue Fäden in den Text eingezogen und das Ge‐ webe mit anderen verknüpft. Der Begriff des Kommentars wird gezielt dem der Analyse vorgezogen, weil er schon in seinem Selbstverständnis weniger gewaltsam vorgeht, indem er den Text nicht mutwillig zerstückelt und Sequenzen aus seinen narrativen Zusam‐ menhängen reißt, welche gerade bei Blanchot äußerst wichtig sind. Im Sinne des dekonstruktiven Kommentars ist dabei ein wesentlicher Anspruch, nicht von außen Theoreme über den Text zu stülpen, sondern aus dem Geschriebenen heraus Bewegungen des Textes nachzuzeichnen und diese in einem zweiten Schritt mit literarischen, philosophischen oder anderen Subtexten zu ver‐ knüpfen. Dabei verschiebt sich automatisch jedes Mal der Zugang entsprechend und muss neu gesucht werden. Dies bedeutet konkret ein Schreiben an den Kapiteln von Thomas l’Obscur entlang: Zum einen sind die Kapitel eine von der Textstruktur selbst vorgegebene Ordnung, die so im Sinne des Respekts vor dem Text beibehalten wird. Ein nicht zu vernachlässigender anderer Grund ist zudem, dass Thomas l’Obscur ein Text ist, der mit allen Mitteln und auf allen Wegen versucht, von innen heraus das Gesagte stetig zu relativieren, umzu‐ kehren oder zwischen Bezugsebenen gleiten zu lassen. Die Kapitelstruktur bildet daher auf diesem unsicheren Textboden eine der wenigen klaren Markierungen, die Blanchot dem Leser als Orientierungshilfe zugesteht. 4 Darüber hinaus gibt es in der mittlerweile üppigen Blanchot-Forschung bis‐ lang keine derartige Lektüre. Viele Forschungsansätze sind eher dadurch ge‐ kennzeichnet, dass sie aus dem Kontext gerissene Sätze aus Blanchots Thomas l’Obscur relativ isoliert interpretieren, ohne dabei den Nebenspuren und dem jeweiligen Kontext in seinem Verlauf zu folgen, was jedoch meines Erachtens A. 2 Vorgehen, Methode, Forschungsziel 24 <?page no="27"?> 5 Auf meinen Umgang mit den beiden Fassungen des Textes geht das Kapitel 0. Die zwei Versionen von Thomas l’Obscur - Abzweigungen ein. für die omnipräsente Doppelbödigkeit der Sprache Blanchots äußerst wichtig wäre und was sich meine Untersuchung folglich zum Ziel gesetzt hat. So ent‐ spricht jede Kapitelziffer meines Buches chronologisch einem Kapitel von Thomas l’Obscur. Die Anzahl der insgesamt 12 Kapitel ist infolgedessen das Re‐ sultat der 12 Kapitel des von Thomas l’Obscur in seiner Fassung von 1950. 5 Thomas l’Obscur dient dabei als Plateau, von dem ausgehend Fluchtlinien und Querverbindungen gezogen werden. Dies impliziert auch, dass Thomas l’Obscur eine Art Basisstation formt, von der aus und zu der hin stetig gedacht wird. In Anlehnung an den Begriff des Plateaus von Gilles Deleuze und Félix Guattari soll auch die Kapitelstruktur der Studie funktionieren: als Plateaus, die tenden‐ ziell unendlich weitergeschrieben werden können, die nicht hierarchisch ge‐ ordnet, sondern in ihrer Abfolge Konsequenz des untersuchten Textes, und deren Relationen zueinander beweglich und verschiebbar sind. Das wesentliche Ordnungsprinzip der Arbeit geht dabei vom Untersuchungsgegenstand selbst aus: Es sind dies die mehrmaligen Durchgänge durch die Nacht, die ein wichtiges Strukturelement des Textes formen. Sie verlaufen auf der Ebene der Kapitel durchaus in einer gewissen Chronologie, als zyklische Sukzession von mittags, nachmittags, abends und nachts. Dieser Bewegung folgt meine Lektüre. Sie nimmt das Segmentierungsangebot des Textes ernst, indem sozusagen an den Kapiteln von Thomas l’Obscur ‚entlang geschrieben‘ wird, sie verfolgt sodann aber auch die Brüche dieser Makrostruktur, von denen es unzählige gibt. Diese Brüche verlaufen teilweise quer durch die Kapitel und kreieren eine Art Un‐ grund des Textes. Im Zentrum meiner Überlegungen steht der Text Thomas l’Obscur in seiner zweiten Fassung von 1950. Im Sinne der Einheit von Gegenstand und Methode wird von ihm ausgegangen und anderes Textmaterial mit einbezogen, um ihn zu lesen und ein bestimmtes Nachtdenken herauszuarbeiten, das ich in ihm do‐ minant verhandelt sehe. Das zusätzliche Material setzt sich aus anderen Texten Blanchots zusammen - sowohl literaturkritisch-philosophischen (darunter Texte aus den Sammlungen L’espace littéraire, Faux Pas, De Kafka à Kafka, L’entretien infini) wie auch literarischen Schriften (darunter La folie du jour, Aminadab oder L’instant de ma mort), Texten von Autoren, die er rezipiert hat (Pascal, Hegel, Heidegger, Husserl, Rilke, Novalis, die Gebrüder Schlegel, Nietzsche, Thomas Mann, Kafka), Texten von Zeitgenossen, mit denen er im Austausch stand (Levinas, Sartre, Derrida, Bataille, Merleau-Ponty), Autoren, A. 2 Vorgehen, Methode, Forschungsziel 25 <?page no="28"?> die über ihn geschrieben haben (Foucault, Deleuze) und schließlich der Bibel, die einen wesentlichen Referenztext bildet. Thomas l’Obscur mit diesen anderen Texten zu lesen, bedeutet, die Lektüre mit den aus dieser Annäherung entstehenden Resonanz- oder Dissonanzef‐ fekten anzureichern und im Nachvollzug eines Nachtdenkens zentrale Theo‐ reme Blanchots in einem größeren Denkraum zu verorten. An einigen wenigen Stellen wird weiteres Gedankengut hinzugefügt, bei dem ich, von Thomas l’Obscur ausgehend, historischen oder systematischen Klärungsbedarf hinsicht‐ lich bestimmter Motive oder Denkfiguren gesehen habe. Die Theorien werden nicht um ihrer selbst willen, sondern funktional in die Lektüre einbezogen, was mitunter eine methodische Konsequenz des Anreißens einiger großer Denkge‐ bäude, die für sich genommen jede schon einer eigenen umfassenden Untersu‐ chung würdig wären, bewirkt. Jedoch: Um mit einem Text sorgfältig und be‐ hutsam umzugehen, muss notwendigerweise anderen Texten Raum vorenthalten werden. Elemente werden ihnen entnommen und - bezogen auf Thomas l’Obscur - in einen neuen Kontext gebracht. Der Grund einer Vielfalt unterschiedlichster Theorien entspringt zum einen der unglaublichen Belesen‐ heit Blanchots, die sich in einem gewaltigen Œuvre ausdrückt und insbesondere in Thomas l’Obscur vielerorts zum Vorschein kommt, ja hier geradezu eine Keimzelle der späteren literaturtheoretischen Texte bildet. Zum anderen sind die Fluchtlinien zu anderen Philosophen und Theoretikern darin begründet, dass bei Blanchot literarisches und philosophisches Schreiben stetig ineinander über‐ gehen bzw. in ihrer Verschmelzung einen ganz eigenen Duktus entwickeln. Thomas l’Obscur wird in der Folge auch als ein Zeugnis diverser Auseinan‐ dersetzungen Blanchots mit seiner Zeit gelesen. Diese Zeit - von den Anfängen der Arbeiten an der ersten Version des Textes Anfang der 1930er Jahre bis hin zur Veröffentlichung der zweiten Fassung 1950 - umfasst historisch die Phase des 2. Weltkrieges und seine unmittelbaren Nachwirkungen. Die in Thomas l’Obscur verhandelte Erfahrung des Todes lässt sich meines Erachtens nicht ohne das Wissen um die Gräuel des Nationalsozialismus, das Faktum der Massen‐ gräber und das kollektive Trauma des Holokausts nachvollziehen. Ein Bewusst‐ sein ob dieser unverarbeitbaren Ereignisse muss jeder Lektüre des Textes an‐ haften, zumal einer, in der es darum geht, die existentialphilosophischen, phänomenologischen, mystischen, religionskritischen, psychoanalytischen und verantwortungsethischen Einflüsse anderer Denker in die Auseinandersetzung mit Thomas l’Obscur einzubeziehen. Der Text entscheidet sich nicht für einen dieser Einflüsse, den man folglich als Haupteinwirkung lesen könnte. Er ent‐ wickelt sich vielmehr an den für den Tod bzw. die damit aufs Engste verbundene Struktur der anderen Nacht relevanten Punkten dieser Theorien entlang, deren A. 2 Vorgehen, Methode, Forschungsziel 26 <?page no="29"?> gemeinsamer Nenner eine bestimmte Form der Leiblichkeit zu sein scheint, ein Wiederbeleben des Somatischen und eine Kritik am Subjektdenken der abendländischen Philosophie. Es ist angesichts der geschichtlichen Zäsur durch den 2. Weltkrieg kein Zufall, dass Maurice Blanchot, Maurice Merleau-Ponty, Martin Heidegger, Jacques Lacan, Ernst Cassirer, aber auch Elias Canetti sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts vermehrt mit der Wahrnehmung als Wirklich‐ keitszugang auseinandersetzen. Mit dieser Wiederentdeckung der Sinne und des Körpers erfolgt eine Neuauflage der Nacht als Erfahrungsraum, in dem die vi‐ suelle Wahrnehmung zu Gunsten anderer Kanäle, vor allem aber zu Gunsten des Imaginären, eingeschränkt ist und neue Wege, die zerstörte und aus den Angeln gerissene Welt zu erfassen, gesucht werden. A. 2 Vorgehen, Methode, Forschungsziel 27 <?page no="30"?> 1 Thomas Macho: „Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich“, in: Jan Ass‐ mann ed.: Der Tod als Thema der Kulturtheorie - Todesbilder und Totenriten im Alten Ägypten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, pp. 89-120. 2 François de La Rochefoucauld: Réflexions ou sentences et maximes morales (1678), in: id.: Œuvres complètes, edd. Louis Martin-Chauffier, Jean Marchand, Paris: Gallimard 1957, pp. 389-475, hier p. 410. A. 3 Wahrnehmung und Tod als Leitbegriffe der Nachtspur - Soma, Selbstimplikation und Affizierung Der Tod ist ein widerspenstiges Thema. 1 Thomas Macho Wie kann man über den Tod sprechen ohne ihn diskursiv zu vereinfachen? Diese Frage lässt sich möglicherweise in Analogie zur Frage des Sprechens über Gott beantworten: gar nicht oder wenn, dann nur unzulänglich. Schon François de La Rochefoucauld schrieb in seinen Maximes: „Le soleil ni la mort ne se peuvent regarder fixement.“ 2 Maurice Blanchot hat dennoch das Unmögliche gewagt: Sein Werk kann man als unendlichen Versuch lesen, sich der Erfahrung des Todes über die Sprache zu nähern. Sein Denken widmet sich dabei weniger der Betrachtung des hellen Sonnenlichts, als vielmehr der dunklen Nacht, die sich jedoch ebenso unmöglich direkt anblicken lässt wie Sonne und Tod in der eben genannten Sentenz La Rochefoucaulds. Die beiden Fassungen von Thomas l’Obscur nehmen dabei eine Sonderrolle innerhalb des Werkes von Blanchot und der Behandlung des Todes ein, denn in ihnen wird nicht nur über den Tod reflektiert. Der literarische Text wird selbst zur Todeserfahrung. Die Todeserfahrung im Speziellen und mit ihr in etwas abgeschwächter Form diverse Grenz-, und Transgressionserlebnisse sind nicht nur inhaltlich zentral in Thomas l’Obscur, sondern sprachlich perfor‐ mativ angelegt, insofern als sich erzählte Erfahrungen auf die discours-Ebene auswirken und so eine Erzählweise generieren, deren Verortbarkeit sich äußerst schwierig gestaltet. Die Erfahrung der Figuren wird zur Form des discours und dieser zum affizierten Eintrittstor des Lesers, was wiederum von Letzterem ver‐ langt, dass er sich auf diese Performanzästhetik auf verschiedenen Wahrneh‐ <?page no="31"?> 3 Ich verwende den Begriff Performanzästhetik in Anlehnung an Erika Fischer Lichtes „Ästhetik des Performativen“, mit der sie ausgehend von Inszenierungen des Theaters und der Sprechakttheorie „den Wechsel vom Werk […] zum Ereignis“ bezeichnet, bei dem die Zuschauer zu Teilhabenden werden. [Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Perfor‐ mativen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, p. 30]. Zum Verhältnis von Körper, Perfor‐ manz und Literatur siehe Elisabeth Strowick: Sprechende Körper. Poetik der Ansteckung - Performativa in Literatur und Rhetorik, München: Fink 2009. 4 Michel Foucault: „La pensée du dehors“, in: id.: Dits et écrits, Bd. 1, edd. Daniel Defert, François Ewald, Paris: Gallimard 1994, pp. 518-539 sowie Michel Foucault: Raymond Roussel, Paris: Gallimard 1963. Zur Selbstimplikation siehe auch Kapitel 8.3 meiner Un‐ tersuchung. mungsebenen einlässt und dabei Abschied nimmt von jeglicher Mimesis‐ ästhetik. 3 Hinter vielen zunächst schwer verständlichen, von Jean-Paul Sartre als phan‐ tastisch bezeichneten, Satzkonstruktionen hochfiktiven Charakters in Thomas l’Obscur stecken selbstreferentielle Äußerungen der Sprache. Sofern der Inhalt unmittelbar auf die Vermittlungsebene übergreift, wird diese sichtbar, stellt sich als Sichtbares vor den dadurch verdeckten Inhalt und erfordert gerade in ihrer Ausstellung der Selbstbezüglichkeit die permanente Wachsamkeit des Lesers. Selbstimplikation Die Sprache Blanchots ist jedoch nicht nur performativ und selbstreferentiell, sondern selbstimplikativ, wie Michel Foucault 1966 in seinem bekannten Artikel „La pensée du dehors“ andeutet und in seinem Buch über Roussel weiterver‐ folgt. 4 Selbstimplikatives Sprechen baut nicht auf einem Zeichenzusammenhang auf, sondern entwirft Bedeutungen als reine Möglichkeiten, ohne sie ganz zu‐ zulassen. Die Äußerung sagt primär nicht etwas aus, sondern nur dass sie eine Äußerung ist. Sie dreht sich auf sich selbst zurück und lässt sich dadurch nicht einfach entziffern oder deuten. Die Selbstimplikation ist ein Verfahren der Sprache, was unterhalb der Zeichen im Bereich des Nicht-Signifikativen statt‐ findet. Im Denken des frühen Foucaults geht das Nicht-Signifikative sprachonto‐ logisch dem Signifikativen voraus. Wenn selbstreferentielles Sprechen das Zeigen der Zeichen zeigt, dann wiederholt es sich selbst als Gleiches. Wenn das selbstimplikative Sprechen das Nicht-Zeigen zeigt, dann wiederholt es sich selbst als Ähnliches und nicht mehr als Gleiches, um auf eine unaufhebbare Differenz allen Sprechens hinzuweisen. Dieses Zeigen des Nicht-Zeigens nimmt zahlreiche Formen in Thomas l’Obscur an. In allen Fällen kollabiert dabei die Ebene des Zeichens. Dieses Kol‐ labieren und Zerschreiben der Sprache durch die Sprache lese ich in meiner Arbeit als Nachtdenken, d. h. als Denken der anderen Nacht, wie ich sie zu Beginn A. 3 Wahrnehmung und Tod als Leitbegriffe der Nachtspur 29 <?page no="32"?> erklärt habe. Der Vorteil der Denkfigur der anderen Nacht im Gegensatz zum Begriff der Selbstimplikation ist, dass sie in der Anordnung dieser beiden Worte, ‚autre‘ und nuit, schon zeigt, was selbstimplikatives Sprechen ist. Soma und Affizierung Mit zunehmender Vertiefung in Blanchots Werk kristallisierte sich ein Zugang zu Thomas l’Obscur heraus, der das Somatische, das Materielle, aber auch das Mediale und die Affizierung immer wieder als Ausgangs-, oder Zielpunkte der Lektüren der einzelnen Kapitel in den Blick nahm. Mein Ansatz ist insofern als phänomenologisch-konstruktivistisch zu bezeichnen, als er die Erfahrung und Variabilität von Welt als Resultat der Wahrnehmung in den Vordergrund setzt. Indessen gehen damit keinerlei ontologische Setzungen einher. Die Wahrneh‐ mungstheorie Maurice Merleau-Pontys bildet in meiner Lesart von Thomas l’Obscur eine wichtige Grundlage, insbesondere bezüglich der verhandelten Blickkonzeption, wenngleich dies nur einer von diversen Textzugängen ist. Denn Blanchot geht, mit Edmund Husserl gesprochen, in Thomas l’Obscur seinen ganz eigenen Weg „zu den Sachen selbst“. In Thomas l’Obscur haben wir es mit einem Text über Leiblichkeit im Angesicht des Todes als Abstoßung vom geistfixierten Subjektdenken der abendländischen Philosophie zu tun. Der Tod ist das Ereignis des Unfassbaren schlechthin. Das Schreiben über den Tod, d. h. Blanchots Art, den Tod zu schreiben, ist ein Denken der anderen Nacht, die als als Medium und Unvordenkliches, d. h. als etwas, was Ermöglichungs‐ grund und Ermöglichungsraum ist, zwischen Leib und Bewusstsein gesetzt wird. Die andere Nacht Blanchots generiert sich aus dem ewigen Aufschub des Den‐ kens und auch des Schreibens, den der Tod provoziert. Konzepte wie das Offene, das Außen, il y a, die psychoanalytische Krypta, mystische sowie neomystische Denkfiguren, lassen sich alle über die andere Nacht in ihrer radikalen Exterio‐ rität verbinden. Mit ihr verweisen sie im Falle Blanchots, den qua Unsichtbares insbesondere die Nacht hinter der Nacht interessiert, die ‚autre‘ nuit, auf eine ganz spezielle Art, das Verhältnis von Körper und Geist, von Buchstaben und Bedeutungen zu lesen. Entscheidend ist dabei, dass dies eine Absage an jedwede Geschlossenheit und fixierbare Ordnung bedeutet, sofern jedes Gefühl und jeder Gedanke als Wahrnehmung vermittelt Veränderungen evozieren, die sich nur partiell an der sprachlichen Oberfläche zeigen. Ein nicht geringer Teil geschieht unter der sichtbaren Textstruktur und zeitigt Effekte der Selbstaffizierung an unvorhergesehenen Orten und Stellen. Dies ermöglicht es, eine oder mehrere Verbindungslinien zwischen Blanchots Nachtdenken in Thomas l’Obscur und Affizierungstheorien zu ziehen. Letztere hat Michaela Ott in bemerkenswerter Weise in ihrem Buch Affizierung - Zu A. 3 Wahrnehmung und Tod als Leitbegriffe der Nachtspur 30 <?page no="33"?> 5 Michaela Ott: Affizierung - Zu einer ästhetisch-epistemologischen Figur, München: edi‐ tion text + kritik 2010, hier p. 16. 6 Ibid., p. 17. einer ästhetisch-epistemischen Figur gebündelt. Sie profiliert darin mit starker Gewichtung des Affizierungsdenkens von Gilles Deleuze und Félix Guattari Affizierungsprozesse als Basis jedweden Denkens oder Handelns. Unter‐ schieden wird das Affektive in Affekte, Affektion „als körperlich-seelische Ver‐ mittlung“ und Affizierung „als subjektkonstituierender Vorgang“. 5 Eine grund‐ legende Eigenschaft des Affektiven ist es nach Ott, auf zweierlei Ebenen zu wirken, nämlich auf der Ebene der „Repräsentation“ sowie der Ebene der „Per‐ formanz“. Dieses doppelte Operationsfeld des Affektiven, das von „nicht-sicht‐ baren, aber zu erschließenden dynamischen Vorgängen Zeugnis ablegt“, 6 wird auch in meinem Kommentar zu Thomas l’Obscur herangezogen, um unter‐ schiedliche Wirkweisen und Erscheinungsformen der Sprache zu benennen und sie als Effekte der anderen Nacht auszuweisen. Diese Effekte resultieren aus dem permanenten Versuch Blanchots, sich via Sprache dem Tod zu nähern bzw. die Sprache dem Tod zu nähern. Er spielt in Thomas l’Obscur unzählige Varianten durch, um mit der Sprache die Sprache in ihrem Bedeuten zu zerschreiben, z. B. indem er metaleptisch Vorder-, und Hin‐ tergrund vertauscht, Perspektiven so überschneidet, dass sie ihre Zuordnung verlieren, indem er das Ursache-Wirkungs-Prinzip verunklart, Subjekt-Ob‐ jekt-Besetzungen in ihrer Konstruiertheit und Kontextabhängigkeit zusammen‐ brechen sowie in Abundanz Motive in den Text einfließen lässt, nur um sie wieder zerstückelt fallen zu lassen und mit anderen zu überschreiben. Das Zu‐ sammenspiel dieser Strukturen bewirkt eine Bewegung infiniten Regresses, die in die ewige Differenz der anderen Nacht führt oder ihr entspringt, je nachdem wie man sich dieser zyklischen Struktur ohne Anfang und Ende unzureichend zu nähern gedenkt. Mit Sätzen, die ein ständiges Anhalten, Überlegen und Wieder-Lesen erzwingen, erweist sich Thomas l’Obscur in seinen beiden Fas‐ sungen als ein Text, der nicht aufhört von sich zu sagen, dass man ihn in all seiner Buchstäblichkeit und Körperhaftigkeit lesen und ihn beim Wort nehmen muss, um von dort aus der sprachlichen Affektlogik zu folgen, die ihresgleichen sucht. Inspiriert hat sie viele, nicht zuletzt Michel Foucault, Gilles Deleuze und Jacques Derrida. Möge nun der Leser des vorliegenden Textes sich auch dazu inspirieren lassen, einer gemeinsamen Lektüre von Thomas l’Obscur mit Genuss zu folgen: A. 3 Wahrnehmung und Tod als Leitbegriffe der Nachtspur 31 <?page no="34"?> „M e i n e m L e s e r. Ein gut Gebiss und einen guten Magen - Diess wünsch’ ich dir! Und hast du erst mein Buch vertragen, Verträgst du dich gewiss mit mir! “ Friedrich Nietzsche A. 3 Wahrnehmung und Tod als Leitbegriffe der Nachtspur 32 <?page no="35"?> B. Hauptteil <?page no="37"?> 1 Maurice Blanchot: Thomas l’Obscur, Paris: Gallimard 1950 [Deutsche Übersetzung: Maurice Blanchot: Thomas der Dunkle, transt. Jürg Laederach, Frankfurt a. M.: Suhr‐ kamp 1987]. Im Folgenden mit den Siglen TO2 und TD abgekürzt. 2 Brief Blanchots an Georges Bataille aus dem Januar 1948, zitiert nach Christophe Bident: Maurice Blanchot. Partenaire invisible - Essai biographique, Seyssel: Champ Vallon 1998, p. 287 (Fußnote 1). 0. Die zwei Versionen von Thomas l’Obscur. Abzweigungen 0.1 Der Kern als beigefügtes Zentrum Die vorliegende Studie wird sich dem mit Thomas l’Obscur betitelten Text von Maurice Blanchot widmen. 1 Dem Text? Schon hier muss eine Präzisierung statt‐ finden, denn streng genommen wird es vor allem um Blanchots vierten Roman gehen, um die zweite Version von Thomas l’Obscur, die Blanchot 1950, neun Jahre nach der ersten, veröffentlicht hat. Zwischen der ersten Version des Ro‐ mans aus dem Jahre 1941 und der zweiten, der „Nouvelle version“, erschienen die Romane Aminadab (1942) und Le Très-haut (1948). Was hat Blanchot dazu bewogen, seinen mit „Roman“ untertitelten Text von 1941 zu überarbeiten, massiv zu kürzen und unter fast demselben Titel neu herauszugeben? Eine mögliche Antwort darauf findet sich in einem Brief an seinen langjährigen Freund und Denkgefährten Georges Bataille aus dem Jahr 1948: J’ai mis au point ces jours-ci une version autre de ‚Thomas l’obscur‘. Autre: en ce sens qu’elle réduit des deux tiers la première édition. C’est cependant un livre véritable et non des morceaux de livre; je puis même dire que ce projet n’est pas un projet de circonstance ou inspiré par des complaisances d’édition, mais j’y ai souvent pensé, ayant toujours eu le désir de voir à travers l’épaisseur des premiers livres, comme on voit dans une lorgnette l’image très petite et très lointaine du dehors, le livre très petit et très lointain qui m’en paraissait le noyau. 2 Blanchot betont, dass der Grund für diese neue Version ein bereits länger be‐ stehender Wunsch nach Distanzierung oder Verkürzung war, um aus der Tiefe oder auch Dichte seiner ersten Romane heraussehen oder durch sie hindurch sehen zu können. Das über lange Zeit nur angedachte kleine Buch ist der Kern seines Frühwerks, nur dass die Ursprungslogik von Kern und daraus entsteh‐ ender Pflanze invertiert ist, da Blanchot den Kern im Umkehrprozess aus dem <?page no="38"?> 3 Maurice Blanchot: Thomas l’Obscur - Roman, Paris: Gallimard 2005 / 1941; im Folgenden mit der Sigle TO1 abgekürzt. Diese Wiederauflage ist im Wesentlichen Pierre Madaule zu verdanken, der über einen regen Briefkontakt mit Blanchot bis zu dessen Tod kom‐ munizierte. Dieser Briefwechsel ist 2012 bei Gallimard erschienen: Maurice Blan‐ chot / Pierre Madaule: Correspondance 1953-2002, ed. Pierre Madaule, Paris: Gallimard 2012. Ich unterscheide die beiden Fassungen des Textes Thomas l’Obscur mit den Siglen TO1 und TO2. Wenn von Thomas l’Obscur die Rede ist, treffe ich Aussagen, die sich auf beide Fassungen beziehen. 4 Éric Hoppenot, einer der wichtigsten französischen Blanchot-Forscher, schreibt kurz nach der Neuauflage der Fassung von 1941 in einer Rezension: „À la lecture, on comprend qu’un roman comme celui-là ne pourrait être édité tel quel aujourd’hui, parce que trop exigeant, franchement indéchiffrable.“ [Éric Hoppenot: „Maurice Blanchot, Thomas l’Obscur, version de 1941“: http: / / www.mauriceblanchot.net/ blog/ index.php? post/ 2005/ 11/ 15/ 108-maurice-blan‐ chot-thomas-lobscur-version-de-1941 (letzter Aufruf: 25.07.2017)]. bereits Geschriebenen kreiert. Die ‚andere‘ Version von Thomas l’Obscur ist demnach sowohl im romanesken Frühwerk bereits enthalten als auch dessen Destillat. Sie stellt ein „wahrhaftes Buch“ dar und kein mangelhaftes Stückwerk des Originals. Das Faszinosum der beiden Versionen des Romans besteht in ihrer Gleich-Gültigkeit, die Blanchot in seinem Vorwort zur zweiten Version betont. Allerdings wurde lange Zeit vor allem letztere rezipiert, wenn von Thomas l’Obscur die Rede war. Erst 2005 wurde die Erstfassung von 1941, welche schnell nach dem Erscheinen der zweiten vergriffen war, neu verlegt. 3 Die Vermutung liegt nahe, dass ihre Länge und Dunkelheit (diskursiv wie semantisch) gewich‐ tige Gründe für die mäßige Rezeption waren. 4 Mittlerweile steigt das Interesse für die ältere Version wieder. In der gegenwärtigen Rezeption zeigt sich ein zunehmendes Bewusstsein für den Sonderfall einer Koexistenz zweier Fas‐ sungen, sodass neuere Arbeiten zu Thomas l’Obscur in der Regel herausstellen, welche Version des Textes der Analyse zu Grunde liegt. Durch die Präsenz der beiden Versionen - nicht zuletzt im Sinne eines Drehens oder Umstülpens - stellt sich die Frage nach dem Original neu. Handelt es sich doch bei der zweiten Fassung, die Blanchot „nouvelle version“ nennt, ausdrücklich um eine gleichberechtigte Fassung in Bezug auf die erste, nicht jedoch um eine Version, die leichtfertig die erste ersetzen solle. So schreibt Blanchot in der Gallimard-Ausgabe von 1950 vor dem Beginn des eigentlichen Romantextes: Il y a, pour tout ouvrage, une infinité de variantes possibles. Aux pages intitulées Thomas l’Obscur, écrites à partir de 1932, remises à l’éditeur en mai 1940, publiées en 1941, la présente version n’ajoute rien, mais comme elle leur ôte beaucoup, on peut la dire autre et même toute nouvelle, mais aussi toute pareille, si, entre la figure et ce qui en est ou s’en 0. Die zwei Versionen von Thomas l’Obscur. Abzweigungen 36 <?page no="39"?> 5 „Es gibt, für jedes Werk, eine Unendlichkeit an möglichen Varianten. Zu den mit Thomas l’Obscur betitelten Seiten, geschrieben von 1932 an, eingereicht beim Verleger im Mai 1940, 1941 veröffentlicht, fügt die vorliegende Version nichts hinzu, aber da sie ihnen viel wegnimmt, kann man sie anders und gleichsam ganz neu nennen, aber auch ganz ähnlich, wenn man, zwischen der Figur und dem, was ihr Zentrum ist oder was man für ihr Zentrum hält, Grund hat nicht zu unterscheiden, dann zumal, wenn die ganze Figur nichts anderes als die Suche nach einem imaginären Zentrum ausdrückt.“ [Über‐ setzung MB]. Die Übersetzung ist hier ausnahmsweise eingefügt, da es keine Überset‐ zung dieser Passage in TD gibt. [Die Kursivierung im Französischen entspricht dem Originaltext]. 6 Cf. den unmittelbar einsetzenden Textanfang in TD. 7 Anca Calin bemerkt in einem Artikel über Thomas l’Obscur, dass es neben diesen zwei Versionen noch 7-8 nichtpublizierte Varianten des Textes gebe. [Anca Calin: „Le pouvoir des mots - autour de Thomas l’Obscur“, in: Alain Milon ed.: Maurice Blanchot, entre roman et récit, Paris: Presses universitaires de Paris Ouest, pp. 75-92, hier p. 77. 8 Zur Koexistenz der beiden Fassungen siehe Punkt 0. Die zwei Versionen von Thomas l’Obscur - Abzweigungen. croit le centre, l’on a raison de ne pas distinguer, chaque fois que la figure complète n’exprime elle-même que la recherche d’un centre imaginaire. 5 Bemerkenswerterweise ist in der deutschen Übersetzung der neuen Version (die erste gibt es noch nicht in übersetzter Form) dieses Vorwort oder vielmehr dieser Vorsatz nicht abgedruckt, wodurch wichtige Aspekte der Beziehung von erster und zweiter Fassung nicht berücksichtigt werden können. 6 Denn die Position der ersten Fassung wird von Blanchot, wie über die beiden Zitate ersichtlich, nicht unter die der zweiten, der neuen gesetzt. Die Tatsache, dass der Text in zwei Fassungen existiert, ist für Blanchots Schaffen an sich nichts Ungewöhnliches, sondern stellt eher ein erprobtes Ver‐ fahren dar: Blanchot hat viele seiner Texte mehrfach überarbeitet und nach einer Erstveröffentlichung zahlreiche Artikel in neuen Kontexten oder Textsamm‐ lungen in anderer Form publiziert - nicht zuletzt zeigt sich darin eine tiefe Skepsis Blanchots gegenüber Ursprungslogiken und eindeutigen Zuordnungen. Dass jedoch wie im Falle von Thomas l’Obscur beide Fassungen 7 als gleich-gültig gelten und folglich unter demselben Titel koexistieren sollen, ist schon bemer‐ kenswerter und schreibt ihnen auf diese Art eine Sonderrolle im Gesamtwerk zu. 8 Blanchot verweist darauf, dass die zweite Version nichts hinzufüge, sondern der ersten sogar viel (weg)nehme. Die beiden Versionen sind gleich-gültig oder ebenbürtig, ohne gleich zu sein. Denn je nach Betrachtung oder Bedingung ist die neue Version gänzlich neu, anders als die frühe Version oder ihr sehr ähn‐ 0.1 Der Kern als beigefügtes Zentrum 37 <?page no="40"?> 9 Angeregt durch die Tatsache, dass der aus dem Aramäischen stammende Name Thomas ‚Zwilling‘ bedeutet, könnte man auch sagen, sie seien zweieiige Zwillinge. Auf den Namen ‚Thomas‘ wird das Kapitel 3.4 detailliert eingehen. 10 Bident 1998: 287. 11 Cf. EL, vorangestellter Paratext. lich. 9 Die Ähnlichkeitsbeziehung konstituiert sich durch die Suche nach einem imaginären Zentrum, welches nach Blanchots Biographen Christophe Bident der Tod der Protagonistin Anne ist. 10 Liest man nun den Abschnitt aus dem Brief an Georges Bataille und den Paratext zusammen, so ergibt sich die Möglichkeit, das doppeldeutige Bild des nachträglichen Kerns als anderen Ausdruck für die Suche nach einem azentrischen Zentrum zu begreifen. Diese Struktur eines Fluchtpunktes - oftmals artikuliert über vorangestellte Paratexte - kehrt an vielen Stellen in Blanchots Werk wieder, unter anderem in einer kleinen Notiz zu Beginn von L’espace littéraire, in der das Kapitel zu Orpheus, „Le regard d’Orphée“, als das bewegliche Zentrum benannt wird, zu dem alle Seiten des Buches hinlaufen: Un livre, même fragmentaire, a un centre qui l’attire: centre non pas fixe, mais qui se déplace par la pression du livre et les circonstances de sa composition. Centre fixe aussi, qui se déplace, s’il est véritable, en restant le même et en devenir plus central, plus dérobé, plus incertain et plus impérieux. […] quand il s’agit d’un livre d’éclaircissements, il y a une sorte de loyauté méthodique à dire vers quel point il semble que le livre se dirige; ici vers les pages intitulées Le regard d’Orphée. 11 In dieser Konzeption des Fluchtpunktes wird selbiger zu einem Kraftpunkt, der den Text zusammenhält und ihn sich übersteigen lässt. In L’espace littéraire, einer Sammlung früher literaturtheoretischer Texte Blanchots, auf die ich kon‐ tinuierlich Bezug nehmen werde, ist das Zentrum eines, das sich in Richtung der Seiten befindet, die mit „Le regard d’Orphée“ überschrieben sind. Das Zentrum ist folglich nicht leicht auffindbar, sondern eine Metapher für die zum Scheitern verurteilte Suche nach einem Zentrum. Wenn es in L’espace litteraire ein Zentrum gibt, dann das sich verschiebende Zentrum, in das man nicht gelangen kann. Der Tod Annes, der in der ersten Version bereits sehr wichtig ist, jedoch noch durch andere Handlungen und Figuren überlagert wird, rückt in der zweiten Version deutlich in den Vordergrund und wird, hier stimme ich Bident zu, dessen meditatives Zentrum - sofern man dies wiederum als ein soeben skizziertes Zentrum im Sinne Blanchots versteht. Analog dazu macht sich der récit als Textform mit der späteren Fassung zum nachträglichen Zentrum des Romans, als welcher die erste Fassung von Thomas l’Obscur untertitelt wird. Von diesem Zeitpunkt an wird Blanchot keine Romane mehr schreiben, sondern 0. Die zwei Versionen von Thomas l’Obscur. Abzweigungen 38 <?page no="41"?> 12 „Je ne suis ni savant ni ignorant. J’ai connu des joies.“ [Maurice Blanchot: La folie du jour, Paris: Gallimard 2002 / 1973, hier pp. 9 und 29; im Folgenden mit der Sigle FJ abgekürzt]. 13 Jacques Derrida: „La loi du genre“, in: id.: Parages, Paris: Galilée 1986, pp. 249-287, hier p. 271. Eine weitere Einfaltung bildet die Wiederholung des Titels „La folie du jour“, was zunächst als nichts für Texte Unübliches erscheint. Im Falle der in den Vordergrund gestellten Selbstreflexion des Textes liegt die Folgerung jedoch nahe, dies als weitere Maßnahme der Durchbrechung der Textstruktur zu lesen. 14 FJ: 30. 15 Die 2005 erschienene Neuauflage von TO1 durch Pierre Madaule erweitert den Unter‐ titel um den Zusatz „Première version, 1941“. neben seiner journalistischen Tätigkeit zahlreiche récits verfassen, die sich in ihrer Fähigkeit, etwas zu erzählen, stetig selbst hinterfragen. Récit Blanchot hat nicht nur récits verfasst, er hat auch innerhalb seiner récits über diese reflektiert. Das insbesondere in der deutschen Literaturwissenschaft be‐ kannteste Beispiel hierfür bildet La folie du jour, meist zusammen mit Jacques Derridas „La loi du genre“, einer Interpretation von La folie du jour, rezipiert. Kernpunkt des Blanchotschen récit ist es, seine eigenen Entstehungsbedin‐ gungen als konstitutive Unerzählbarkeit wieder in sich eintreten zu lassen. Ob‐ schon erzählt werden muss, kann die Erzählung eigentlich keinen Inhalt, son‐ dern einzig die Tatsache vermitteln, dass trotz aller Unmöglichkeit das Erzählen erzählt werden muss. Der Anfangssatz von La folie du jour kehrt metaleptisch als Aufforderung an den Ich-Erzähler, seine „eigentliche“ Geschichte zu er‐ zählen, in der Geschichte wieder. 12 Dabei ist diese Wiederholung des Anfangs der Erzählung nicht als Zitat über Anführungszeichen markiert, wodurch in‐ nerhalb der Erzählung diese erneut beginnt. Somit wird die Erzählung sowohl mit Blick auf ihren Status als geschlossener Text als auch als Gattung dekonst‐ ruiert, indem sich der Anfang oder Rand der Erzählung in einem Akt der „in‐ vagination inocclusive“ in den Binnenraum des Textes faltet. 13 Diese Einfaltung, die Innen und Außen narratologisch kollabieren lässt, verhandelt der Text eben‐ falls auf semantischer Ebene. Der letzte Satz, „Un récit? Non, pas de récit, plus jamais.“, wird angesichts des unendlich fortsetzbaren Wiedereintritts des récit zur Antriebsbewegung eines Erzählens zwischen Konstativ und Performativ, das sich zwar nicht mehr unter den Begriff des récit fassen lässt, jedoch als Narration fortgesetzt werden muss. 14 Die zweite Fassung von Thomas l’Obscur trägt wie La folie du jour den récit nicht im Untertitel. Stattdessen findet sich der Zusatz „nouvelle version“, der an die Stelle des Untertitels „roman“ der ersten Fassung gesetzt wird. 15 Das Fehlen 0.1 Der Kern als beigefügtes Zentrum 39 <?page no="42"?> 16 Eine Begründung dieser Streichung konnte nicht gefunden werden. In den späteren Auflagen ist keinerlei Vermerk zur Änderung des Titels ersichtlich. 17 Im 2. Kapitel werde ich dies als Struktur der Krypta lesen. 18 Weiteres zu Blanchots Begriff des récit siehe Kapitel 8.2 sowie: Maurice Blanchot: Le livre à venir, Paris: Gallimard 1959, pp. 12-18. dieses Teils des Untertitels wird in der Blanchot-Forschung meist als Hinweis auf den Übergang von Blanchots Romanschaffen hin zu den wesentlich kürzeren récits gewertet. Die „nouvelle version“ trägt jedoch in der ersten Auflage der Gallimard-Ausgabe von April 1950 noch den Untertitel „roman“, der sodann verschwindet und in der heute erhältlichen Fassung nicht mehr abgedruckt ist. 16 Einerseits hat Blanchot folglich nach der ersten Auflage eine Änderung vorgenommen, indem er den Zusatz „roman“ nicht mehr für gültig erklärte, andererseits wurde der roman nicht einfach durch den récit ersetzt. Daraus lässt sich schließen, dass TO 2 weder das Eine noch das Andere ist und sich einer Gattungszuordnung entzieht. Sofern TO 2 über den vorangestellten Paratext auf seinen Vorgänger TO 1 verweist und die Beziehung zu diesem als eine zwischen Andersheit und Fremdheit erklärt, nimmt TO 2 die erste Fassung fragmentiert in sich auf und faltet sie in sich ein. 17 1962 erscheint L’attente l’oubli - das letzte fiktionale Buch, das unter den Blanchotschen Begriff des récit fällt, und so den endgültigen Übergang Blanchots von den Erzählungen hin zum Fragmentarischen einleitet. Sein Schreiben durch‐ läuft folglich stetige Zersetzungsprozesse: vom Roman zum récit, vom récit zum Fragmentarischen und von den Fragmenten in die Mikrosphäre begrifflicher Konstrukte. Anzumerken sei aber, dass diese Auflösungsbewegung des Erzäh‐ lens zwar über den Wandel der Textform zu beobachten ist, gleichzeitig sind aber schon die ersten Romane von philosophischen Denkfiguren durchsetzt. Narrative Elemente bilden zudem Rezidive im literaturkritischen Spätwerk. 18 0.2 Differenzen zweier Bücher selben Titels Bei einer ersten Betrachtung der beiden Texte mit dem Titel Thomas l’Obscur fällt die unterschiedliche Erscheinung der Kapiteleinteilung ins Auge. Die Ka‐ pitel in TO 1 beginnen nicht mit einer neuen Seite, während in TO 2 die struk‐ turierende und trennende Funktion der einzelnen Kapiteleinheiten deutlicher ist und somit ein wichtiges Textmerkmal bildet, an dem sich meine Interpreta‐ tion orientiert und worauf ich in den Präliminarien bereits hingewiesen habe. Neben der Kapiteleinteilung unterscheidet TO 2 von TO 1 die Textlänge, denn 0. Die zwei Versionen von Thomas l’Obscur. Abzweigungen 40 <?page no="43"?> 19 Rainer Stillers ermittelt ein Verhältnis von 3,8 (TO1): 1 (TO2). [Cf. Rainer Stillers: Maurice Blanchot: Thomas l’Obscur - Erst-und Zweitfassungen als Paradigmen des Ge‐ samtwerks, in: Eberhard Mannack ed.: Beiträge zur Literatur und Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts, Bd. 1, Frankfurt a. M.: Peter Lang 1979, p. 34]. Stillers hat die einzige mir bekannte Arbeit über die beiden Versionen von Thomas l’Obscur geschrieben und sie einem sorgfältigen Textvergleich unterzogen. Er macht sich die Mühe, die Quantität des Vorkommens einzelner Lexeme und Motive zu ermitteln und die beiden Fassungen neben eines solchen Vergleichs der Textgestalt auch einem Strukturvergleich sowie einem thematischen Vergleich zu unterziehen. Seine Arbeit wird insbesondere für das vorliegende Kapitel zu den makrostrukturellen Unterschieden von TO1 und TO2 als wertvolle Basis herangezogen. Mein philosophisch-literaturwissenschaftlicher Kom‐ mentar unterscheidet sich jedoch deutlich von Stillers Ansatz eines äquivalenten Ver‐ gleichs der beiden Versionen. 20 So z. B. die Homer zugeschriebenen Epen Odyssee und Ilias, die beide 24 Gesänge bzw. Bücher umfassen. 21 Eine genaue Übersicht der Streichungen findet sich in Stillers 1979: 35-36. TO 2 umfasst nur etwas mehr als ein Viertel des Textvolumens von TO 1. 19 Eine auffällige Differenz zwischen den beiden Fassungen des Textes Thomas l’Obscur ist die Reduktion der 15 Kapitel der ersten Version auf 12 Kapitel in der zweiten Fassung. Die Zahl 12 scheint bei dieser Reduktion der Kapitel kein Zufall zu sein. Zum einen verweist sie auf eine Anlehnung an die großen epischen Texte, vor allem aber erscheint sie als eine Hinterfragung derselben, die entweder 12 Ka‐ pitel oder als Verdopplung der 12 eine Anzahl von 24 Kapiteln umfassen. 20 TO 2 schreibt sich aufgrund seiner Kürze wie seiner metaliterarischen Hinterfragung des Erzählens als andere Art des Erzählens jenseits der Ausschmückung in den Diskurs ein. Darüber hinaus ist, wie im 3. Kapitel meiner Untersuchung näher ausgeführt wird, Thomas einer der 12 Apostel Jesu, was sich ebenfalls hinsicht‐ lich der Zahl 12 als nicht kontingent darstellt. Zudem erschließt sich ein weiterer Bibelbezug über die 12 Stämme Israels des Alten Testaments, worauf mein 5. Kapitel eingehen wird. Schließlich aber ist die 12 in der Tag / Nacht-Rhythmi‐ sierung als Zäsur von Tag und Nacht sowie abermals in ihrer Verdopplung als Einheit eines Tages von 24 Stunden wichtig. Einen letzten Zusammenhang der 12er-Rhythmisierung wird das 12. Kapitel durch Referenzen auf Franz Kafkas Romanfragment Der Proceß erfahren: Das Handlungsgeschehen dieses Romans erstreckt sich zeitlich vom Morgen des 30. Geburtstag Josef K.s bis zum Vor‐ abend seines 31. Geburtstages. Daraus folgt, dass vom Beginn des Prozesses gegen K. bis zu seiner Tötung genau 12 Monate vergehen. Das erheblich reduzierte Textvolumen von TO 2 resultiert hauptsächlich aus Kürzungen der mittleren Passagen von TO 1. Hier finden, anders als in den ersten und den letzten Kapiteln, umfangreiche Streichungen und Umordnungen statt. 21 Die Streichungen in TO 2 reichen von ganzen Kapiteln bis hin zu ein‐ 0.2 Differenzen zweier Bücher selben Titels 41 <?page no="44"?> 22 „Man erkennt, daß die Streichungen und Umgruppierungen zusammenhängender nar‐ rativer Einheiten […] mit gleicher Stringenz die Umbildung einzelner Satzzusammen‐ hänge nach sich ziehen. […] So vermeidet die Version B z. B. Wiederholungen und Re‐ tardationen nicht nur bei den narrativen Strängen - durch Verzicht auf Ausmalung von Situationen, Rückblicke der Personen usw. -, sondern ebenso innerhalb von Szenen und bei einander benachbarten Wörtern.“ [Stillers 1979: 40]. 23 Cf. ibid., p. 43. 24 Ibid., p. 47. 25 Leslie Hill nennt sie „a detailed reading or interpretation of the earlier work [er bezieht sich auf TO1, Anm. der Verfasserin]“. [Leslie Hill: Blanchot - Extreme Contemporary, in: Warwick Studies in European Philosophy, ed. Andreas Benjamin, London / New York: Routledge 1997, p. 68]. zelnen Lexemen, wodurch die Sorgfalt, mit der Blanchot an TO 2 gearbeitet hat, klar zum Vorschein kommt. 22 TO 1 weist deutlich mehr Weltreferenz als TO 2 auf. Dies äußert sich z. B. in konkreten Ortsangaben (Paris, ein Museum, ein Café etc.), die in TO 2 zu generischen Orten werden. In TO 1 werden Geschehnisse zumindest teilweise erklärt, während der Text von TO 2 diese Explikationen kürzt und ins Implizite überführt. 23 Ein wichtiges Beispiel ist die in Ansätzen vorhandene Tiefenschärfe der Protagonisten in TO 1, die in TO 2 zu einer trans‐ personalen Oberfläche von Wahrnehmungen und Beobachtungen einer neu‐ tralen Erzählstimme wird. Eine allgemeine Folgerung Stillers zu den Unterschieden der beiden Versio‐ nen sei noch erwähnt. Diese betrifft das Verhältnis von Änderungen auf der Wortebene: „Insgesamt lassen sich 187 Fälle registrieren, in denen in B ein ein‐ zelnes Wort gegenüber dem Text von A getilgt ist, während die benachbarten Ausdrücke beibehalten oder allenfalls modifiziert sind.“ 24 Unter anderem anhand solcher Streichungen soll meine Lektüre den Nachvollzug des Nachtdenkens als entgrenzendes, Differenzen verschiebendes oder neutralisierendes Sprach‐ walten ermöglichen, das in TO 2 von Blanchot in den Vordergrund gerückt wird. 0.3 Fokussierung: Thomas l’Obscur. Nouvelle version Die zweite Fassung von Thomas l’Obscur (= TO 2) bildet die Basis meiner Über‐ legungen, da sich in ihr im Vergleich zur älteren Version eine Radikalisierung des Nachtdenkens abzeichnet. 25 Radikalisierung meint hier, dass die struktur- und handlungsbeeinflussende Gewalt der anderen Nacht in der jüngeren Version des Textes greifbarer, weil von Blanchot daraufhin zugespitzt, ist. Die implizite Dunkelheit von TO 1 wird in TO 2 auf der Ebene der Darstellung verstärkt. Dies bedeutet, dass der Text von TO 2 nicht nur inhaltlich und durch schwere Les‐ 0. Die zwei Versionen von Thomas l’Obscur. Abzweigungen 42 <?page no="45"?> 26 Martin Heidegger: Heraklit - Der Anfang des abendländischen Denkens. Logik. Heraklits Lehre vom Logos, in: id.: Gesamtausgabe - II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944, Bd. 55, ed. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M.: Klostermann 3 1994, pp. 39-40. barkeit als Nachtdenken zu bezeichnen ist, sondern sich fast emphatisch meta‐ sprachlich dazu bekennt. Es findet eine Verdichtung und Verschiebung als Grundstruktur der Radikalisierung der anderen Nacht insbesondere auf der Ebene des discours statt. Die metasprachlichen Eingriffe werden durch die Über‐ arbeitung der ersten Version umso deutlicher, da die Kürzungen hauptsächlich Weltbezüge betreffen, die in TO 2 einer verstärkten Performanz des Diskursiven weichen. Daher wird von TO 2 ausgegangen und - wo es für meine Thesen notwendig ist oder andere Bezüge ermöglicht - die ältere Version kontrastierend sowie erweiternd zur Sprache gebracht. Hinsichtlich des Nachtdenkens als eines wiederkehrenden Bezugspunkts meiner Lektüre von Thomas l’Obscur kann so auch ein strukturelles Moment fruchtbar gemacht werden. Das 50-jährige Ver‐ schwinden der ersten Fassung hinter der zweiten aufgrund der schon angedeu‐ teten schwierigen Rezeptionsgeschichte, die Blanchot nolens volens vielleicht auch mit der Alternative einer Kurzfassung beflügelt hat, soll als Ausdruck einer der wichtigsten Verschiebungsbewegungen im Schreiben Blanchots gelesen werden: der Selbstverdunklung der Nacht hin zur anderen Nacht. In einem Vor‐ griff auf das 2. Kapitel kann man daher von einer Bewegung der Kryptierung sprechen, mit der sich die Rezeption von TO 2 entgegen der paratextuellen Le‐ seanweisung Blanchots über TO 1 gelegt und TO 1 in sich eingeschlossen hat. Mein Ansatz, von TO 2 auszugehen und TO 1 dennoch in den Textkommentar einzubeziehen, weiß um diese 50-jährige Verdeckung. Es kann jedoch nicht im Sinne eines Ursprungsdenkens um eine Rehabilitierung der vernachlässigten älteren Fassung gehen, sondern stattdessen um die Bezugnahme von TO 2 auf TO 1 als Ausdruck einer verdoppelten Dunkelheit des Titels Thomas l’Obscur. Die Wiederholung des Titels unter Beibehaltung beider Fassungen wird zur Meta-Dunkelheit, deren begriffliche Fassung Blanchots ‚autre‘ nuit ist. Der Beiname „der Dunkle“ verbindet Thomas mit dem Beinamen „ho skoteinos“ (der Dunkle) des Vorsokratikers Heraklit. Ob dessen Beiname von seiner Vorliebe für Paradoxa und Fragmentarisches herrührt oder von seiner Methode, bereits Gedachtes neu zu perspektivieren, ist nicht geklärt. Martin Heidegger setzt in seinen Vorlesungen über Heraklit gegen Hegel wie auch Ci‐ cero eine ganz eigene Interpretation dieses Beinamens: „Er [Heraklit, Anmer‐ kung der Verfasserin] ist der ‚dunkle‘ Denker, weil er, anfänglicher als die an‐ deren, in dem Zu-denkenden dasjenige denkt, was darin das ‚Dunkle‘ genannt werden kann, insofern er den Grundzug hat, sich zu verbergen.“ 26 Heraklit wird von Heidegger in seiner Dunkelheit an den Anfang der abendländischen Phi‐ 0.3 Fokussierung: Thomas l’Obscur. Nouvelle version 43 <?page no="46"?> 27 Stillers 1979: 77. losophie gesetzt. Während Heidegger einerseits den verbergenden Aspekt des Heraklit’schen Denkens so weit wie möglich ergründen will - auf das Problem der Gründung werde ich im 2. Kapitel eingehen -, scheint Blanchot mit den beiden gleich-gültigen Fassungen unter dem Namen Thomas l’Obscur der Frage nach Ursprung und Originalität eine Absage zu erteilen. Er führt diese Frage in die unendliche Bewegung zwischen den beiden Fassungen - eine Bewegung, die jedoch erst mit dem Paratext von TO 2 auf eine metatextuelle Ebene gebracht wird. 0.4 Makrostrukturelles Den Inhalt der 2. Version von Thomas l’Obscur wiederzugeben, ist beinahe un‐ möglich und muss sich den Vorwurf einer Reduktion, aber auch der Verfäl‐ schung gefallen lassen. Rainer Stillers hat dennoch versucht, die Handlung von TO 2 mit den folgenden Worten zu beschreiben: Thomas, ein Mann unbestimmten Alters und unbekannter Herkunft, lebt, augen‐ scheinlich isoliert und unter der Kommunikationslosigkeit der Umwelt leidend, in einem Hotel an der Küste. Dort lernt er Anne kennen, eine junge Frau, deren Ver‐ gangenheit ebenfalls nicht erzählt wird. Anne versucht bei ihren Begegnungen, Spa‐ ziergängen und Unterhaltungen mit Thomas dessen ‚Dunkelheit‘ zu durchbrechen und zu erfahren, wer und was für ein Mensch er ist. Bei diesem Versuch scheitert sie jedoch. Sie erkrankt und stirbt schließlich. Thomas bleibt allein zurück; in Annes Tod aber versucht er seine eigene Existenz zu begreifen. 27 Dazu ist anzufügen, dass Thomas nicht grundlos an der Kommunikationslosig‐ keit seiner Mitmenschen leidet, sondern geprägt ist von Grenzerfahrungen, die ihm das Weiterleben unter Menschen erheblich erschweren. Ob er Anne erst im Hotel kennenlernt, ist nicht mit Eindeutigkeit zu behaupten. Anne versucht in der Tat zu begreifen, wer Thomas ist, doch hängt dies meines Erachtens mit ihrer schon bestehenden Krankheit zusammen, die sie erst mit der Möglichkeit und dann mit der Realität des Todes konfrontiert. Die Kapitelanfänge bieten als Koordinaten einer Handlung, die man als äu‐ ßere Handlung bezeichnen kann, eine Minimalorientierung. Den Beginn des 8. und 9. Kapitels ausgenommen - hier wird eine nicht beendete Erfahrung der Nacht weitererzählt und somit eine starke Verbindung zum vorangegangenen Kapitel hergestellt, wodurch die Kapitelgrenze aufweicht -, bewegt sich der 0. Die zwei Versionen von Thomas l’Obscur. Abzweigungen 44 <?page no="47"?> erste Satz in allen anderen Kapiteln noch auf einer Ebene der Aussage, d. h. noch nicht auf der Ebene der Wahrnehmung einer ortlosen Erzählstimme. Das zeigt sich auch an der Kürze der Anfangssätze der Kapitel 1-5 sowie 10-12. Die Ge‐ schichte, nur anhand des jeweils ersten Satzes eines jeden Kapitels erzählt, läse sich wie folgt: Thomas s’assit et regarda la mer. […] Il se décida pourtant à tourner le dos à la mer et s’engagea dans un petit bois où il s’étendit après avoir fait quelque pas. […] Il revint à l’hôtel pour dîner. […] Thomas demeura à lire dans sa chambre. […] Vers le milieu de la deuxième nuit, Thomas se leva et descendit sans bruit. […] Anne le vit s’approcher sans surprise, cet être inévitable en qui elle reconnaissait celui qu’elle aurait vainement cherché à fuir, qu’elle rencontrerait tous les jours. […] Anne vécut quelques jours de grand bonheur. […] C’est dans cet état nouveau que, se sentant devenir elle-même une réalité énorme et incommensurable dont elle nourrissait son espérance, à la manière d’un monstre dont personne, pas même elle, n’aurait eu la révélation, elle s’enhardit encore et, tournant autour de Thomas, finit par attribuer à des motifs de plus en plus faciles à pénétrer les difficultés de ses relations avec lui, pensant par exemple que ce qui était anormal, c’est qu’on ne pût rien savoir de sa vie et qu’il restât, en toutes circonstances, anonyme et privé d’histoire. […] Quand elle revint au jour, cette fois tout à fait privée de paroles, refusant une expression aussi bien à ses yeux qu’à ses lèvres, toujours étendue sur le sol, le silence la montra à ce point unie au silence qu’elle l’embrassait furieusement comme une autre nature dont l’intimité l’aurait soulevée de dégoût. […] Quand on la découvrit étendue sur un banc du jardin, on la crut évanouie. […] Lorsque Anne fut morte, Thomas ne quitta pas la chambre et il parut profondément affligé. […] Thomas s’avança dans la campagne et il vit que le printemps commençait. Inhaltlich kann man an diesen 12 Kapitelanfängen erkennen, dass die Bewegung von Thomas und Anne im Raum eine Verbindung zwischen den Kapiteln schafft, wenngleich die Kapitel durch den jeweiligen Raumwechsel zu differenzieren sind. Zu Beginn sitzt Thomas am Meer, dann kehrt er diesem den Rücken zu, um in ein Wäldchen zu gehen. Von dort geht er zurück ins Hotel, sodann befindet er sich in seinem Zimmer, um dann im nächsten Kapitel hinunterzugehen und sich schließlich Anne zu nähern. Die Kapitel 7 bis 10 rücken Anne und ihren Todeskampf ins Zentrum und bilden, so meine These, eine eigene Einheit in‐ nerhalb der 12 Kapitel des Textes. Im 11. Kapitel bleibt Thomas nach Annes Tod im Zimmer der Verstorbenen, bevor er im letzten Kapitel zu einem Marsch auf‐ bricht, der ihn nicht nur über das Meer mit dem Geschehen des 1. Kapitels ver‐ bindet. 0.4 Makrostrukturelles 45 <?page no="48"?> Die wichtigste Makrostruktur von TO 2 ist die Nacht. Die bezeichenbare Nacht fungiert als Struktur, die andere Nacht als Bewegung infiniter Regresse und unabschließbarer Entfremdung und Entwerdung. Während die Abläufe der Kapitel 1-3 noch mit einer Abfolge von Tag und Nacht kompatibel sind, bricht spätestens mit dem 4. Kapitel von TO 2 über die andere Nacht eine andere Zeit‐ schicht in den Text und überlagert fortan das Erzählen, welches sich dann nicht mehr als ein lineares Geschehen zusammenhalten lässt. Neben der Nacht bzw. der anderen Nacht formt sich eine weitere Makro‐ struktur über den Rhythmus von Eintritt und Austritt. Jedoch stellt diese eine Bewegung dar, die gerade die Konnotation von Innen und Außen sowie von ‚geschlossen‘ und ‚offen‘ durchkreuzt. Eine Bewegung von Eintritt und Austritt zeigt sich in jedem Kapitel auf eine andere Weise: im 1. Kapitel als Eintauchen ins Meer und Eingang in einen „heiligen Raum“ und dem Wiederaustritt nach der Grenzerfahrung, im 2. Kapitel als Abstieg in die Krypta, aus der der Austritt nicht ebenso deutlich vollzogen wird. Dies spricht dafür, diese Erfahrung der anderen Nacht als eine zu lesen, die sich über das gesamte Buch erstreckt. Das 3. Kapitel beginnt mit dem Eintritt in den Speisesaal des Hotels und endet mit dem Verlassen desselben. Zu Beginn des 4. Kapitels hat Thomas bereits sein Zimmer betreten, begibt sich aber sodann in die Matrix der Wörter. Gleich zu Beginn des 5. Kapitels wird ein Abstieg in die Nacht beschrieben, der sich später im Kapitel als Sturz in das selbst geschaufelte Grab wiederholt, aus dem Thomas wieder aufersteht. Auch in den anderen sieben Kapiteln wird diese Struktur beibehalten. Neben dem stets damit verbundenen Zustandswechsel ist es die Struktur des Diesseits (Oberwelt) und Jenseits (Unterwelt), zwischen Innen und Außen, zwischen Selbst und Anderem, die wiederkehrend verhandelt wird. Dabei gerät jedoch die binäre topologische Ordnung ins Schwanken, wodurch sich die etablierten Unterscheidungen invertieren und wechselseitig durch‐ dringen. Auf die inhaltlichen Makrostrukturen wird im Laufe der Arbeit über Blanchots Bezugnahme auf andere Texte in den entsprechenden Kapiteln ein‐ gegangen. Dabei soll es wesentlich um die Deklination wiederkehrender Motive und Denkfiguren wie unter anderem des Meeres, des Abgrunds, des Blicks, des Begreifens, der Unterwelt, des Weges, der Begegnung, der Ähnlichkeit und der Wiederholung sowie der Wunde gehen. 0. Die zwei Versionen von Thomas l’Obscur. Abzweigungen 46 <?page no="49"?> 1 Emmanuel Levinas: De l’existence à l’existant, Paris: Libraire Philosophique J. Vrin 1963, pp. 93-94. 1. Mikroskope - Berührung auf Entfernung Das 1. Kapitel meiner Arbeit widmet sich zunächst noch einmal dem Paratext, der TO 2 vorangestellt ist, und auf den bereits eingegangen wurde. Der Fokus wird zunächst auf den ersten drei Worten, „il y a“, liegen, die mehr als eine einfache Bezeichnung von etwas Vorhandenem ausdrücken. Der Begriff il y a kann als französische Lesart von Heideggers es gibt verstanden werden. Daher wird die Klärung der Positionierung und Bedeutung dieses existenzialphiloso‐ phisch und phänomenologisch geprägten Begriffs, der vor den eigentlichen Textanfang von TO 2 gesetzt ist, Aufschlüsse über die Verortung Blanchots zwi‐ schen Levinas und Heidegger geben. Im Anschluss lese ich das Kapitel als eine Initiationserfahrung, die von transgressiven Bewegungen des Textes durch‐ kreuzt wird. Die Erfahrung des Protagonisten Thomas soll dabei als eine innere Entgrenzungserfahrung im Sinne Georges Batailles nachvollzogen werden. 1.1 Il y a und es gibt (Blanchot zwischen Heidegger und Levinas) Imaginons le retour au néant de tous les êtres: choses et personnes. Il est impossible de placer ce retour au néant en dehors de tout événement. Mais ce néant lui-même? Quelque chose se passe, fût-ce la nuit et le silence du néant. L’indétermination de ce „quelque chose se passe“, n’est pas l’indétermination du sujet, ne se réfère pas à un substantif. Elle désigne comme le pronom de la troisième personne dans la forme impersonnelle du verbe, non point un auteur mal connu de l’action, mais le caractère de cette action elle-même qui, en quelque matière, n’a pas d’auteur, qui est anonyme. Cette „consumation“ imperson‐ nelle, anonyme, mais inextinguible de l’être, celle qui murmure au fond du néant lui-même, nous la fixons par le terme d’il y a. 1 Emmanuel Levinas Zu Beginn meines 1. Kapitels möchte ich auf den Anfang von TO 2 eingehen. Dieser Anfang der nouvelle version markiert gleichzeitig eine Mitte zwischen zwei Versionen, in die sich der Paratext schiebt, wie es in Punkt 0 erläutert wurde. Bevor also der ‚eigentliche‘ Text einsetzt, kündigt sich ein Paratext an, <?page no="50"?> 2 Zum besseren Verständnis sei hier noch einmal der vollständige Anfangssatz zitiert: „Il y a, pour tout ouvrage, une infinité de variantes possibles.“, TO2: Vorwort. 3 Levinas 1963: 103. der mit den Worten „Il y a […]“ 2 beginnt und den Leser der zweiten Version darauf hinweist, dass der Anfang des Textes Thomas l’Obscur woanders liegt bzw., dass die Frage des Anfangs sich unentschlossen zwischen den beiden Ver‐ sionen bewegen muss. Il y a - drei Lexeme, die man leicht überliest oder in ihrer Einfachheit nicht ernst nimmt. Als Incipit gesetzt, verdienen sie jedoch mehr Aufmerksamkeit. So schreibt Emmanuel Levinas über das il y a: „Thomas l’Obscur […] s’ouvre sur la description de l’il y a […]. La présence de l’absence, la nuit, la dissolution du sujet dans la nuit, l’horreur d’être, le retour d’être au sein de tous les mouvements négatifs, la réalité de l’irréalité, y sont admirablement dits.“ 3 Le‐ vinas zieht hier eine Verbindung zu dem in der Blanchot-Rezeption recht be‐ liebten 2. Kapitel von Thomas l’Obscur, das für ihn wie kein anderes literarisch ausdrückt, was das il y a sein kann und was es heißt, es zu erfahren. Ich möchte seine Aussage jedoch auch auf den Begriff des il y a selbst anwenden, der als Beginn des Paratextes vor alle anderen Worte der zweiten Version gestellt ist. Die „Anwesenheit der Abwesenheit“ ist eine der am häufigsten verwendeten Formulierungen, um Blanchots Sprachkonzept oder seine Gedanken zur Bild‐ lichkeit zu beschreiben. Was dies konkret bedeutet, darauf gehen viele Unter‐ suchungen nicht genauer ein. In den oben zitierten Worten Levinas’ steht die Präsenz der Absenz in einer Reihung von Ausdrücken, die er mit dem il y a verknüpft und anhand derer er Thomas l’Obscur beschreibt. Die Kommata dieser Reihung könnte man auch durch Gleichheitszeichen ersetzen: Das il y a ist die Anwesenheit der Abwesenheit, ist die Nacht, ist die Auflösung des Subjekts in der Nacht, ist der Horror des S / seins usw. Die Form, in der das il y a in TO 2 erscheint, ist eine unaufhaltsame Metamorphose von Zuständen, die ohnehin bereits nur Spuren von Auslöschungsbewegungen sind und in ihrem Erscheinen die Möglichkeit, dass überhaupt etwas erscheinen kann, radikal hinterfragen. Zur Anwesenheit von Abwesenheit wird die neue Version von Thomas l’Obscur aber auch als ‚Ganze‘ dadurch, dass sie auch auf einer Makroebene die andere Version des Textes in sich trägt. TO 2 ist auch TO 1, jedoch nicht in Form einer identitären oder umfangslogischen Beziehung, sondern als Relation der Ähnlichkeit, d. h. als ein Erscheinen des Abwesenden in den wiederholten, aber auch veränderten Worten der nouvelle version. Damit entsprechen TO 1 und TO 2 in dieser Relationalität dem Verhältnis von Nacht und anderer Nacht. Wenn sich TO 2 in den Worten Levinas’ auf eine Beschreibung des il y a hin öffnet, so kann daraus gefolgert werden, dass diese Öffnung alle Schichten des Textes ergreift. 1. Mikroskope - Berührung auf Entfernung 48 <?page no="51"?> 4 Emmanuel Levinas: Éthique et infini - Dialogues avec Philippe Nemo, Paris: Fayard / Radio-France 1982, p. 40. 5 „Grâce à Emmanuel Lévinas, sans qui, dès 1927 ou 1928, je n’aurais pu commencer à entendre Sein und Zeit, c’est un véritable choc intellectuel que la lecture de ce livre provoqua en moi. Un événement de première grandeur venait de se produire: impossible de l’atténuer, même aujourd’hui, même dans mon souvenir.“ [Maurice Blanchot: „Penser l’Apocalypse“, zuerst erschienen in Le Nouvel Observateur, 22.-28. Januar 1988, neu verlegt in: id.: Écrits politiques 1953-1993, ed. Éric Hoppenot, Paris: Gallimard 2008, pp. 230-231]. 6 Unter anderem stellt der soeben skizzierte Beginn von TO2 mit dem Ausdruck il y a solch eine Antwort auf Levinas dar. Zur textuellen reziproken Verweisungsstruktur zwischen Levinas und Blanchot siehe: Andreas Gelhard: Das Denken des Unmöglichen - Sprache, Tod und Inspiration in den Schriften Maurice Blanchots, München: Fink 2005a, p. 103 (Fußnote 66). 7 Maurice Blanchot: „Notre Compagne clandestine“, in: François Laruelle ed.: Textes pour Emmanuel Lévinas, Paris: Jean-Michel Place 1980, p. 86. Il y a und es gibt In seinem 1982 erschienen Werk Ethique et Infini sagt Emmanuel Levinas über die Wichtigkeit Martin Heideggers „qu’un homme qui, au XX e siècle, entreprend de philosopher, ne peut pas ne pas avoir traversé la philosophie de Heidegger, même pour en sortir.“ 4 An Heidegger, und damit an einer bestimmten Ausprä‐ gung der Phänomenologie und des Existenzialismus, geht demnach kein Weg vorbei, sofern man sich im 20. Jahrhundert in Frankreich mit Philosophie be‐ schäftigen oder gar welche hervorbringen will. Blanchot findet seinen Weg zu Heidegger über Levinas. 5 Die beiden Straßburger Studienkollegen vollziehen diese Art der Begegnung mit Heidegger als Abstoßung von Heidegger an ihrem schriftlich geführten Dialog über den Begriff des il y a und dessen Abgrenzung zu Heideggers es gibt. Dieser Dialog besteht aus einem jahrelangen, kontinuier‐ lichen Wiederaufgreifen des il y a, während dessen sie nicht müde werden, an‐ dere Terme ihres Denkens in den Horizont des il y a zu stellen und einander die gegenseitige Freundschaft und geistige Verbundenheit zu versichern. 6 Einer dieser Begriffe ist die Nacht - sei es in ihrer radikalen Form der Selbstverdunk‐ lung als ‚autre‘ nuit, sei es in Umschreibungen des Nächtlichen und Dunklen. So schreibt Blanchot beispielsweise von einem „nächtlichen Rauschen des Ano‐ nymen“, um seine Auslegung des il y a zu verdeutlichen: L’il y a est une des propositions les plus fascinantes de Lévinas: sa tentation aussi, comme l’envers de la transcendance, donc indistincte d’elle, qu’on peut décrire en termes d’être, mais comme ‚impossibilité‘ de ne pas être, l’insistance incessante du neutre, le bruissement nocturne de l’anonyme, ce qui ne commence jamais […], l’absolu mais comme indétermination absolue: cela ensorcelle, c’est-à-dire attire vers le dehors incertain. 7 1.1 Il y a und es gibt (Blanchot zwischen Heidegger und Levinas) 49 <?page no="52"?> 8 Levinas verfasste De l’existance à l’existant im Kriegsgefangenenlager der Deutschen - ein Umstand, der bezüglich seiner Fassung der Begriffe des Seins und des Seienden nicht unerheblich ist. 9 Levinas 1982: 47. 10 Cf. Levinas 1982: 48-49. Auf die Unterschiede zwischen Blanchot und Sartre werde ich insbesondere im 5. Kapitel eingehen. 11 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Max Niemeyer 12 1972, p. 7 [Hervorhebung im Originaltext]. 12 Cf. Gelhard 2005a: 105-107. Ob Levinas mit seiner Interpretation und Kritik Heideggers Recht hat, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Es soll jedoch darauf hingewiesen werden, dass Heidegger insbesondere in seinen späteren Schriften durchaus versucht hat, über das es bzw. Es eine anonyme, d. h. subjektunabhängige und subjektvorgängige Gabe zu denken: In Heideggers Vortrag „Zeit und Sein“ aus dem Jahr 1962 beispielsweise wird die Dimension des Gebens des es gibt noch deutlicher herausgearbeitet und das Es als Kraft des Neutralen stärker konturiert. [Cf. Martin Heidegger: Zeit und Sein, in: id.: Von der Sache des Denkens, Tübingen: Max Niemeyer 1962]. Zum Begriff der Jemeinig‐ keit bei Heidegger siehe z. B. Heidegger 12 1972: 43. 13 Emmanuel Levinas: Ausweg aus dem Sein, transt. Alexander Chucholowski, Hamburg: Meiner 2005, p. 8 (zweisprachige Ausgabe). Die Notionen „il y a“, „neutre“, „bruissement nocturne de l’anonyme“ und „de‐ hors“ aus diesem Zitat und das „désastre“, das an anderer Stelle genannt wird, bilden eine Sphäre von Denkfiguren, die um die Frage einer un(be)greifbaren Vorhandenheit als etwas Anwesendes ohne Form kreisen. Die wesentlichen Ge‐ danken Levinas’ zum il y a finden sich in seiner Schrift De l’existance à l’exis‐ tant 8 . Il y a im Levinasschen Sinne und mit Blick auf Blanchots Begriff davon ist weder Sein noch Nichts, „[n]i néant, ni être“ 9 , sondern das Rauschen oder Murmeln eines unpersönlichen Seins und grenzt sich von Heidegger wie wohl auch von Jean-Paul Sartre ab, wenn man hier dessen philosophisches Haupt‐ werk L’être et le néant erkennen möchte. 10 Elemente, die Levinas vornehmlich an Heideggers Philosophie beeinflusst haben, sind dessen bereits genannter Be‐ griff des es gibt und seine Unterscheidung von Sein und Seiendem. Das Seiende ist, während das Sein im „es gibt“ liegt. 11 Das es gibt ist apriori da und kann daher nicht von der Erfahrung erfasst werden. Levinas kritisiert, dass Heidegger das Sein trotz aller versuchten denkerischen Gegenmaßnahmen in einer „Jemeinig‐ keit“ denke und demnach das Sein in letzter Konsequenz doch stets von einem Seienden besessen oder vereinnahmt werde. 12 Das Sein, unabhängig von ir‐ gendeinem Seienden gedacht, wäre nach Levinas das il y a. Es lässt sich somit als eine fortgesetzte Anonymisierung von Heideggers Sein begreifen, als das, was wie eine unabänderliche, bedrohliche und leere Forderung bleiben würde, wenn alles vernichtet wäre. Wenn Levinas 1935 in „De l’évasion“ noch den Aus‐ druck „Il y a de l’être“ 13 gebraucht und diesen dann in späteren Schriften verkürzt auf das il y a, dann zieht sich bei ihm das Sein in das il y a zurück, bleibt aber 1. Mikroskope - Berührung auf Entfernung 50 <?page no="53"?> 14 Levinas 1982: 45. 15 Näheres zum Begriff des Anderen bei Levinas findet sich im 7. Kapitel meiner Unter‐ suchung. durch sein Fehlen auf der Oberfläche als eine Art Ruf bestehen. Das il y a als „phénomène de l’être impersonnel: ‚il‘“ 14 jenseits von Fülle und positiver Beset‐ zung stellt in seiner Anonymität etwas Bedrohliches und Verunsicherung Er‐ zeugendes dar, aus dem ein Ausweg oder eine Möglichkeit der Beherrschung gefunden werden muss. Die Beziehung zum Anderen (autrui) 15 als Verantwor‐ tung für den Anderen ist der Ausweg aus dem il y a für Levinas. In dieser Be‐ zogenheit auf den Anderen kann der Mensch der Kontingenz und dem ano‐ nymen Strom des Seins entkommen. Die Jemeinigkeit Heideggers wird, so könnte man folgern, zur ‚Jedeinigkeit‘ bei Levinas. Blanchot hingegen wird diesen Schritt zum menschlichen Anderen als Mög‐ lichkeit der Befreiung nicht mitvollziehen, sondern im anonymen Rauschen den Ungrund der Sprache finden und den Anderen gerade mit dieser anonymen Fremdheit durchsetzen. Deshalb wird er in Thomas l’Obscur in der uneinhol‐ baren Bewegung der ‚autre‘ nuit Erfahrungen evozieren, die das Inhaltliche wie das Diskursive überschreiten und die Ebene des Aussagens hinter sich lassen. Die eingangs zitierte Beschreibung des il y a in Thomas l’Obscur durch Levinas, in der er das il y a dem neutre annähert, ist als eine Erfahrung der Literatur überhaupt im Sinne Blanchots zu verstehen. TO 2 ist eine Erfahrung des il y a in seiner konsequentesten Form: dem Tod. Wenn TO 2 in jeder erdenklichen Weise versucht, Präsenz, Darstellung oder Konkretes zu verunmöglichen, zeigt sich darin die Präsenz des Todes umso deutlicher. Blanchots il y a Nun ist die Frage zu stellen, ob das so exponierte il y a zu Beginn des Paratextes der zweiten Version von TO 2 ein il y a sein könnte, wie Levinas es denkt oder, falls nicht, was die Differenz zu ihm darstellt. Zur Erinnerung sei hier noch einmal der erste Satz wiederholt: „Il y a, pour tout ouvrage, une infinité de va‐ riantes possibles.“ Durch den mit Kommata abgetrennten Einschub „pour tout ouvrage“ wird das „il y a“ separiert, hervorgehoben und als Auftakt an den Anfang gesetzt. Wenn es diesen Einschub als Einschnitt nicht gäbe, würde man weder das il y a vor dem Einschnitt, noch die Mannigfaltigkeiten danach derart deutlich wahr‐ nehmen. Ließe man den Einschub weg, käme der ontologische Charakter dieses Satzes deutlicher heraus. „Il y a […] une infinité de variantes possibles.“ Die Möglichkeitsdimension zeigt sich hier tautologisch mehrfach potenziert durch die „Unendlichkeit der möglichen Varianten“, die den nachfolgenden Text von 1.1 Il y a und es gibt (Blanchot zwischen Heidegger und Levinas) 51 <?page no="54"?> 16 Zum Begriff der Mannigfaltigkeit siehe Gilles Deleuze, Félix Guattari: Capitalisme et schizophrénie - Milles plateaux, Bd. 2, Paris: Minuit 1980, p. 51. 17 Näheres zum ‚als ob‘ bzw. zur französischen Entsprechung im ‚comme si‘ wird das 11. Kapitel meiner Untersuchung aufzeigen. TO 2 als Gesagtes aus dem Hintergrund des Ungesagten hervortreten lassen. Bevor der Leser den Text liest, wird er darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht nur für dieses, sondern für jedes Werk eine unbegrenzte Möglichkeit an Vari‐ anten oder Fassungen gibt, dass das, was er im Folgenden lesen wird, vergäng‐ lich, ersetzbar oder nur ein Glied in einer endlosen Kette ist. Auch bedeutet dies mit Blick auf Levinas möglicherweise, dass die jeweilige vorliegende Fassung immer in Beziehung steht zu anderen Fassungen, wodurch die aktuelle sich selbst in ihrer Souveränität in gewisser Form absetzt, indem sie über sich hinausweist auf eine ganz konkrete, bereits existierende andere Fassung. Und schließlich kann die Potentialität alternativer Versionen als Verweis auf die Kürzungen des ersten Textes gelesen werden, die auch Figuren das Leben ge‐ kostet hat, welche nun, wie die Selbstmörderin Irène, aus TO 1 in TO 2 ver‐ schwunden sind. Im systemtheoretischen wie auch phänomenologischen Sinne gedacht, bedeutet jede Aktualisierung Selektion, d. h. ein anders gewichtetes Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem. Jedes Werk ist eine von unendlich vielen Möglichkeiten. Es unterbricht für den Augenblick des gelesen Werdens den Strom des Möglichen und aktualisiert sich hypostatisch als ein durch Kom‐ mata eingefügter Einschub, um dann wieder im Strom des il y a unterzutauchen. Für Blanchot ist insbesondere die Literatur der angemessene Ausdruck des il y a, während es für Levinas vornehmlich der philosophische Diskurs ist. Le‐ vinas denkt das il y a von der Philosophie zu Blanchot und zur Literatur, während Blanchot in Thomas l’Obscur den entgegen gesetzten Weg beschreitet, indem er das il y a untrennbar mit dem Imaginären verknüpft denkt. Der Effekt des Ima‐ ginären ist nicht zuletzt seine ständige Verschiebung zwischen Denkfiguren des Unfassbaren. Blanchot schreibt die von Levinas an Heideggers es gibt kritisierte Fülle um, indem er sie durch Mannigfaltigkeiten ersetzt und damit gerade nicht das von der Aktualisierung aus gedachte Vielfältige meint, sondern das Virtu‐ elle. 16 Der Satz „Il y a, pour tout ouvrage, une infinité de variantes possibles“ vir‐ tualisiert die Aktualität der Fülle des es gibt Heideggers. Am Anfang von TO 2 steht folglich eine fiktionale Setzung und keine propositionale Aussage, wo‐ durch der literarische Raum als Erfahrungsraum geöffnet wird. Alle Aussagen, die im Raum des Imaginären von Thomas l’Obscur getätigt werden, ereignen sich unter der Bedingung eines ‚als ob‘, das somit keine Sicherheit, sondern nur eine äußerst kurzfristige Vorläufigkeit von Zuordnungen erlaubt. 17 1. Mikroskope - Berührung auf Entfernung 52 <?page no="55"?> 18 Mircea Eliade: Das Mysterium der Wiedergeburt - Versuch über einige Initiationsriten, transt. Eva Moldenhauer, Frankfurt a. M.: Insel 1988, p. 11. 19 Ibid., p. 14-19. 1.2 Durchkreuzte Initiation Mit dem Begriff der durchkreuzten Initiation soll eine Initiationserfahrung evo‐ ziert werden, die an mehrfache Transgressionen gekoppelt ist und die durch eine Todeserfahrung durchkreuzt wird. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist dabei keine enge Definition von Initiation, verstanden als rituell begleitete Einführung eines Menschen in eine besondere Gemeinschaft oder einen anderen Bewusstseinszustand, wohl aber spiele ich mit einigen Dimensionen, die Initi‐ ationen zugeschrieben werden. Die nun folgenden Überlegungen leiten die Vor‐ stellung von Initiation als Anfang und als Einführung bzw. Überführung her. Bei einer Initiation wird der Initiand durch Riten begleitet in einen höheren Seins-, bzw. Bewusstseinszustand geführt. So heißt es bei Mircea Eliade: Im allgemeinen versteht man unter Initiation eine Gesamtheit von Riten und münd‐ lichen Unterweisungen, die die grundlegende Änderung des religiösen und gesell‐ schaftlichen Status des Einzuweihenden zum Ziel haben. Philosophisch gesagt ent‐ spricht die Initiation einer ontologischen Veränderung der existentiellen Ordnung. Am Ende seiner Prüfungen erfreut sich der Neophyt einer ganz anderen Seinsweise als vor der Initiation: er ist ein anderer geworden. 18 Viele Initiationen sind mit einem Abstieg und einem daran anschließenden Auf‐ stieg verbunden. Darüber hinaus verweist Mircea Eliade auf den „Initiationstod“, der insbesondere in archaischen Kulturen ein symbolisches Sterben der alten Identität zu Gunsten der Geburt einer neuen Identität bedeutet. 19 Auch Thomas wird sich im 1. Kapitel von Thomas l’Obscur und der darin geschilderten Initia‐ tionserfahrung dem Tod nähern, jedoch ohne eine entsprechende rituelle Struk‐ turiertheit, wodurch die Initiation für Thomas zu einer existentiellen Erfahrung der Einsamkeit auf der Grenze zum Tod wird. Nimmt man den Textanfang ganz grundsätzlich als Anfang ernst, so sind die ersten Worte eines Textes als initiale Worte eine Initiation. Der Beginn des Textes führt den Leser sanft, brutal, langsam oder auch plötzlich in das Ge‐ schehen ein. Im Falle von Thomas l’Obscur ist es darüber hinaus, zumindest in der Fassung von 1941, der erste Roman des Autors und auf diese Weise ein Ein‐ tritt in das gesamte romaneske Werk, der durch die ersten Worte eröffnet wird. Thomas l’Obscur steht somit am Anfang von Blanchots literarischem Schaffen und kann auf einer rezeptionsästhetischen Ebene als Initiation in das Werk 1.2 Durchkreuzte Initiation 53 <?page no="56"?> 20 „[…] les premières lignes de Thomas l’obscur ne revêtent pas seulement une valeur inaugurale: elles ont un aspect emblématique, nous y reconnaissons le tracé anticipé de l’œuvre en progrès, l’exposition à la fois littérale et figurée des thèmes que l’auteur ne cessera d’interroger.“ [ Jean Starobinski: „Thomas l’Obscur - Chapitre premier“, Critique 229, Paris: Minuit 1966, pp. 498-513, hier p. 498]. 21 Cf. ibid., p. 512. 22 Meine topologische Strukturierung lehnt sich an Starobinskis Dreiteilung des 1. Kapi‐ tels an, setzt jedoch den Akzent mehr auf die Bewegung und die Momente des Über‐ gangs bzw. des Gleitens [Cf. ibid.]. 23 Siehe dazu Starobinski: „Le roman, dans son parcours complet, est l’image amplifiée d’un circuit dessiné dans le premier chapitre.“ [Ibid., p. 498]. 24 Ibid., p. 499. Starobinski bezieht sich auf TO2, verweist aber auch auf TO1. Er betrachtet TO2 als „mise en évidence de l’essentiel“ der ersten Version. [Ibid., p. 498, Fußnote 1]. Blanchots gelten. 20 Dies tut er jedoch nicht nur hinsichtlich der Publikations‐ chronologie, sondern auch bezüglich der in ihm paradigmatisch entfalteten und im Gesamtwerk rezidivierenden Gedankenfiguren. Im 1. Kapitel findet zudem auf inhaltlicher Ebene die Darstellung eines dreistufigen Initiationsprozesses 21 statt, der sich aus folgenden drei prägnanten topologischen Übergängen 22 zu‐ sammensetzt: 1. Ufer: Blick aufs Meer (Kontemplation I) 2. Übertritt ins Meer (Kampf und Ankunft im „lieu sacré“) 3. Rückkehr zum Ufer: Blick aufs Meer (Kontemplation II ) Diese kapitelimmanente Initiationsstruktur wird auf der makrokosmischen Ebene des Gesamttextes in Gestalt einer differentiellen Wiederholungsstruktur paradigmatisiert. Damit wird die Initiation als singuläres Ereignis unterminiert, weshalb ich von einer durchkreuzten Initiation sprechen möchte. Thomas wird in den anderen elf Kapiteln von TO 2 noch viele weitere initiationsartige Pro‐ zesse durchlaufen, wodurch die mit einer rituellen Initiation verbundene Illusion der Erreichbarkeit eines höchsten Zustandes oder eines Ankommens in einem höheren Bewusstsein durch die unabgeschlossene Serialität torpediert wird. 23 Incipit Der erste Satz des Binnentextes (in Abgrenzung zum Paratext) lautet in beiden Fassungen: „Thomas s’assit et regarda la mer.“ Jean Starobinski verweist in seinem 1966 erschienenen Artikel „Thomas l’Obscur. Chapitre premier“ auf die vermeintliche Einfachheit dieses Satzes, aber auch auf die damit verbundene Unbestimmtheit. 24 Einerseits scheint sich der Anfang mit der Beschreibung eines Mannes namens Thomas, der sich hinsetzt und das Meer betrachtet, umstandslos zu anderen Anfängen von récits zu gesellen, andererseits wird die Figur Thomas nicht näher im Hinblick auf ihre Herkunft, bestimmte Merkmale oder andere 1. Mikroskope - Berührung auf Entfernung 54 <?page no="57"?> 25 TO2: 9. Hintergründe charakterisiert. Dies wird auch im weiteren Verlauf von TO 2 nicht geschehen. In Thomas wird erzählerisch keine Tiefenschärfe gelegt. Er existiert nur im Rahmen der sprachlichen Äußerungen, die ihn, wie hier im 1. Kapitel, ins Zentrum setzen. Der Text fährt nach dem ersten Satz wie folgt fort: Pendant quelque temps il resta immobile, comme s’il était venu là pour suivre les mouvements des autres nageurs et, bien que la brume l’empêchât de voir très loin, il demeura, avec obstination, les yeux fixés sur ces corps qui flottaient difficilement. Puis une vague plus forte l’ayant touché, il descendit à son tour sur la pente de sable et glissa au milieu des remous qui le submergèrent aussitôt. 25 Mehrere wichtige syntaktische wie motivische Strukturen sind in diesem kurzen Abschnitt bereits enthalten. So wird zunächst Thomas’ unbewegte Haltung damit erklärt, dass er, möglicherweise durch die Beobachtung der anderen Schwimmer, enorm gebannt ist. Jedoch ist diese Erklärung eine rein hypotheti‐ sche, sofern sie mit dem Ausdruck „comme si“ eingeleitet wird. Zusätzlich wird die mögliche Begründung destabilisiert durch die Bemerkung, dass der Nebel bzw. der Dunst (evtl. ein Effekt der Gischt) eigentlich seine Sicht behindert. Bereits im zweiten Satz des Textes zeigt sich die virtualisierende Kraft des Blan‐ chotschen il y a in Form einer Verunsicherung auf der Ebene der erzählerisch vermittelten Kausalitätszusammenhänge. Wenn auch Beweggrund und Inhalt des Blicks unklar sind, bleibt der beharrlich fixierende Blick als solcher vom „comme si“ ausgespart. Thomas bleibt aber nicht in seiner kontemplativ‐ beobachtenden Haltung, sondern lässt sich durch den äußeren Impuls einer Welle, die ihn mit besonderer Intensität berührt, ins Meer gleiten. Seine Bewe‐ gung ist als eine Antwort auf die Wellenbewegung aufzufassen. Ihr vorweg geht sein Hinabgleiten an einem Sandhang, welches als Bewegung nach unten - in anderen Kapiteln konsequent mit dem Verb descendre bezeichnet - einen Wahr‐ nehmungswechsel einläutet, der im obigen Zitat durch die Bewegung des Glei‐ tens verstärkt wird. 1.3 Innere Erfahrung und Transgression (Gleiten) Starobinski kontrastiert die von außen kommende Aktivität des Wassers (die Wellen berühren, bewegen und ergreifen Thomas) und der anderen Naturge‐ walten mit der Passivität von Thomas, der sich einfach nur ins Wasser gleiten 1.3 Innere Erfahrung und Transgression (Gleiten) 55 <?page no="58"?> 26 „L’acte de descendre dans la mer n’est pas consécutive à une déliberation intérieure: il fait suite immédiatement à un événement du dehors - une vague plus forte l’ayant touché.“ [Ibid., p. 500]. 27 Er verweist in diesem Kontext auch auf die Bedeutung des Übertritts: „L’important toutefois est l’acte du passage: Thomas quitte le rivage et se livre à la mer, il devient un nageur, il s’immerge dans un nouveau milieu, dans un nouveau risque. Une limite est donc franchie, un front ou une frontière traverses, annonçant tant d’autres actes de franchissment: l’entrée dans la nuit, l’entrée dans la literature […].“ [Ibid.]. 28 Cf. Jacques Derrida: „De l’économie restreinte à l’économie générale - Un hegelianisme sans réserve“, in: id.: L’Écriture et la différence, Paris: Seuil 1967, pp. 369-407, hier p. 386 bzw. die entsprechende Stelle bei Bataille, auf die sich Derrida bezieht: Georges Bataille: L’expérience intérieure, Paris: Gallimard 2011, p. 28. lässt. 26 In genau diesem vermeintlich passiven glisser steckt aber möglicherweise mehr als die Gegenbewegung zur Aktion, nämlich eine philosophisch brisante Figur der Grenzüberschreitung 27 , wird damit doch der Übergang vom Ufer ins Wasser, vom Gekerbten ins Glatte (um mit Gilles Deleuze und Félix Guattari zu sprechen), nicht als komplizierter Prozess dargestellt, sondern vielmehr als ein kontingentes Ereignis. Da das glisser als Gleiten des Signifikanten in der fran‐ zösischen Philosophie, z. B. bei Jacques Lacan, Georges Bataille oder Jacques Derrida eine wichtige Metapher ist, lässt sich das Gleiten, neben dem inhaltli‐ chen Geschehen eines Mannes, der zum Schwimmen ins Meer taucht, als einen performanzästhetischen Hinweis auf eine nun folgende Sprachlichkeit lesen, deren Sinn nicht fixiert werden kann. 28 Anhand von Thomas’ Erfahrungen der Subjektentgrenzung im Wasser, seinem Taumeln und seiner Haltlosigkeit, ver‐ weist die Sprache zugleich auf sich selbst als eine gleitende Sprache, die sich zwischen Sinnzuschreibungen bewegt, ohne sich fixieren zu lassen. Ein Beispiel für dieses Gleiten wäre das bereits genannte „comme si“, aber auch das Ver‐ hältnis der Wellen zu Thomas, in dem sich bereits ein fließender Übergang zwi‐ schen Subjekt und Objekt bemerkbar macht. Das Gleiten ohne Haltepunkte stellt eine Kontinuitätserfahrung dar, in der Einheit nur über Entgrenzung möglich ist. Gleiten, Erfahrung, Überschreitung und Grenze bilden nicht nur wichtige Punkte im 1. Kapitel von TO 2, sondern durchziehen den Text bis zu seiner letzten Seite. Um das Gleiten Thomas’ von der Ebene der histoire auf die Ebene einer me‐ taliterarischen Leseanweisung für Thomas l’Obscur zu heben, möchte ich es nun mit den Begriffen der inneren Erfahrung, der Transgression und der Grenze bei Georges Bataille verknüpfen. 1. Mikroskope - Berührung auf Entfernung 56 <?page no="59"?> 29 Cf. Bataille 2011: 15-16. 30 Ibid., p.18 [Kursivierung im Originaltext]. 31 Maurice Blanchot: „L’expérience intérieure“, in: id.: Faux pas, Paris: Gallimard 1971 / 1943, pp. 47-52, hier p. 49-50. 32 Gerhard Poppenberg: „Inner Experience“, in: Mark Hewson, Marcus Coelen edd.: Georges Bataille - Key Concepts, London / New York: Routledge 2016, pp. 112-124, hier p. 117. 33 „La limite et la transgression se doivent l’une à l’autre la densité de leur être: inexistence d’une limite qui ne pourrait absolument pas être franchie; vanité en retour d’une transgression qui ne franchirait qu’une limite d’illusion ou d’ombre.“ [Michel Foucault: „Préface à la transgression (en hommage à Georges Bataille)“ , in: id.: Dits et écrits (1994), Bd. 1, edd. Daniel Defert, François Ewald, Paris: Gallimard 1963b, pp. 233-250, hier p. 237]. Innere Erfahrung als Transgression Mit der „expérience intérieure“ würde Bataille eine mystische Erfahrung be‐ zeichnen, wenn diese Art der Erfahrung nicht konfessionelle Bindungen in sich trüge. Die innere Erfahrung ist nach Georges Bataille ekstatisch und unsicheren Ausgangs. Sie untergräbt das Wissen wie das Sein an sich 29 , vor allem aber ver‐ langt sie von ihrem Ausdruck, dass er sie nicht abbilde (was sie verfehlen würde), sondern sie vollziehe: „L’expression de l’expérience intérieure doit de quelque façon répondre à son mouvement, ne peut être une sèche traduction verbale, exécutable en ordre.“ 30 Daraus kann man schließen, dass die innere Erfahrung dem Denken und der Sprache abverlangt, sich ihr gewissermaßen hinzugeben, d. h. feste Standpunkte aufzugeben und in ein Gleiten zu kommen, das eine innere Ent‐ grenzung ermöglicht. Analog zur mystischen Erfahrung, jedoch abzüglich all ihrer Glaubensprämissen, bedeutet die innere Erfahrung, wie Blanchot in seinem Artikel zu Batailles 1943 publiziertem Werk L’expérience intérieure for‐ muliert, einen „état de violence, d’arrachement, de rapt, de ravissement […] ‚perte de connaissance‘ extatique“. 31 Nur wenn Sprache und Denken auch vor sich selbst keinen Halt mehr machen und in ein unkontrollierbares Gleiten jen‐ seits der Innerlichkeit kommen, kann es über die Transgression zu einer Kon‐ tinuitätserfahrung, sprich zum Selbstverlust kommen. Im Gegensatz zur über‐ schreitenden Transzendenzerfahrung im religiösen Kontext, die zumeist mit einer gen Gott gerichteten Elevation korrespondiert, beschreibt Bataille jedoch ein „model of immanent transgression“ 32 , das folglich den Selbstverlust in der Immanenz und nicht in der Transzendenz sucht. Der Begriff der Transgression referiert auf eine Grenzüberschreitung, die erst durch das die Grenze festlegende Verbot der Überschreitung geschehen kann. Eine der wirkmächtigsten Interpretationen dieser von Bataille wesentlich etablierten Denkfigur liefert Michel Foucault in seinem 1963 erschienenen Ar‐ tikel „Préface à la transgression“. 33 Grenze und Überschreitung sind in seiner 1.3 Innere Erfahrung und Transgression (Gleiten) 57 <?page no="60"?> 34 Ulrich Briehler: Die Unerbittlichkeit der Historizität - Foucault als Historiker, Köln et al.: Böhlau 1998, p. 98. Lektüre Batailles unaufhaltbar miteinander verbunden und aufeinander ange‐ wiesen. Mich interessiert für den Gebrauch des Begriffs der Transgression die sprachphilosophische Dimension dessen, was hinter der Dialektik von Grenze und Überschreitung steckt und worauf Foucault in seiner Bataille-Lektüre be‐ ständig hinweist. Gesucht wird ein Denken der nicht-positiven Bejahung, wel‐ ches Foucault mit Blanchot und dessen Begriff der „Bestreitung“ (contestation) verbindet. Es geht Foucault um eine nicht-dialektische oder entdialektisierte Sprache, ein „Denken des Außen“, ein Denken an der äußersten Grenze, wie er dann 1966 in seinem Aufsatz „La pensée du dehors“ über Blanchot formulieren wird. Was ist darunter zu verstehen? Zunächst eine Sprache, die sich der Eindeu‐ tigkeit entzieht. Dieser Entzug kann und sollte auf verschiedenen Ebenen pas‐ sieren. Foucault findet dafür in Bezug auf Batailles Sprache den Term „Ent‐ kopplung“ (décrochage). Entkoppelt werden muss alles, was irgendwie hierarchisch-ordnungsbildend wirken könnte: die Einhaltung von bestimmten Textsorten- oder Gattungen, Ebenen des Sprechens, des Tempus oder der Refe‐ renz. In all diese Einteilungen und Bezüge werden Wechsel und Abbrüche ein‐ gelassen, die klare Zuordnungen und Interpretationen erschweren und damit stetig den Glauben an das philosophische Subjekt in dessen Aporie treiben. Die Paradoxie der Sprache ist und bleibt, dass sie der „einzige Kommunikations‐ modus der Grenzerfahrungen“ ist und zugleich auch die Unerreichbarkeit und Uneinholbarkeit des sich Entziehenden offenbaren muss. 34 Die von Thomas ausgeführte Bewegung des Gleitens kann in der Forderung einer sich, wie soeben beschrieben, performativ vollziehenden Sprache unter anderem bedeuten, dass der Text den Leser indirekt anspricht und ihm als Le‐ sehinweis für die Lektüre des Textes Thomas l’Obscur auferlegt, wie Thomas den sicheren Boden der Betrachtung zu verlassen, um sich in die Bilderflut des Textes mit all seinen Wirbeln und Abgründen zu begeben und sich folglich auf die eigene innere Erfahrung einzulassen. Der Übergang vom Ufer ins Meer, d. h. von der Erde ins Wasser, korrespondiert einer Transition von der Betrachtung und Bewegungslosigkeit in die Mobilität des Schwimmens und der Selbstexposition in der Berührung. Wie meine Lektüre zeigen wird, ist damit zudem ein Anfang für eine bestimmte Art von Grenzerfahrung in jeglicher Hinsicht gemacht, die der Roman paradigmatisch durchdekliniert. 1. Mikroskope - Berührung auf Entfernung 58 <?page no="61"?> 35 TO2: 9. 36 Cf. TO1: 24-25. 37 TO1: 23. Immersion und Offenes Initiatorisch empfangen wird Thomas vom Wasser mit einer Taufe, indem er sogleich von Strudeln untergetaucht wird. Abermals wird das Erzählte verun‐ klart, indem einerseits Thomas als guter Schwimmer dargestellt und vom Meer behauptet wird, dass es ruhig sei, während andererseits die „remous“ eine stürmische See evozieren. Dieser Gegensatz lässt sich nur erklären, wenn man berücksichtigt, dass Thomas an diesem Tag „einen neuen Weg gewählt hatte“. 35 Dieser neu eingeschlagene Weg verweist auf eine Kopplung von innerer Wahr‐ nehmung und äußerem Geschehen, durch die im Laufe des Kapitels eine zu‐ nehmende Überlagerung und Vermischung geschieht. Den neuen Weg lese ich als Entscheidung, sich einer ekstatischen Erfahrung des Offenen gänzlich aus‐ zusetzen. 36 In TO 1 ist Thomas’ Entschluss, die bekannten Regionen an diesem Tag zu verlassen und sich in das Unbekannte vorzuwagen, deutlicher ins Aktive ver‐ lagert. Dort heißt es nach der Feststellung, dass er ein guter Schwimmer ist: „Il n’avait donc pas à s’inquiéter […] quoique le but qu’il s’était fixé lui parût soudain très éloigné et qu’il éprouvât une sorte de gêne à aller vers une région dont les abords lui étaient inconnus.“ 37 Auch werden in TO 1 Objekte, die in Thomas’ Wahrnehmung geraten, benannt. Dabei handelt es sich z. B. unmit‐ telbar nach dem Eintauchen um einen anderen Schwimmer oder etwas später um ein Boot. Beides lässt Thomas in einer bewussten Entscheidung entgleiten, ebenso wie er nicht versucht, an das sichere Ufer zurückzukehren. In TO 2 ist die Gewalt des Wassers, das Thomas zum Objekt macht und ihn sich unterwirft, durch die Kürzungen der eben genannten Passagen sehr viel deutlicher in den Vordergrund gestellt, so dass das Gleiten zur unerklärlichen und fremdbe‐ stimmten Sogwirkung wird. Der Eintritt ins Offene zeigt sich unter anderem an der veränderten Blick‐ situation: Während Thomas am Ufer seinen Blick trotz des Nebels auf die Schwimmer im Wasser richten kann, verdeckt der Nebel von der anderen Seite aus betrachtet das begrenzende Ufer und Thomas’ Blicke (ses regards), nun im Plural, finden keine Haftung mehr. La brume cachait le rivage. […] La certitude que l’eau manquait, imposait même à son effort pour nager le caractère d’un exercice frivole dont il ne retirait que du dé‐ couragement. Peut-être lui eût-il suffi de se maîtriser pour chasser de telles pensées, 1.3 Innere Erfahrung und Transgression (Gleiten) 59 <?page no="62"?> 38 TO2: 9-10. 39 TO2: 10 [Hervorhebungen durch die Verfasserin]. 40 TO2: 11. mais ses regards ne pouvant s’accrocher à rien, il lui semblait qu’il contemplait le vide dans l’intention d’y trouver quelque secours. 38 An dieser Stelle wird anhand des fehlenden Wassers, in dem Thomas schwimmt, das inhaltlich fixierbare äußere Geschehen endgültig überführt in ein Wahr-nehmungsgeschehen, das zwar noch in einem subjektgebundenen Be‐ wusstsein verankerbar scheint, in dem sich jedoch bereits erste Risse andeuten. Die Selbstbeherrschung oder die Subjektsouveränität ist durch die fehlende äu‐ ßere Blickbegrenzung destabilisiert. Im Folgenden häuft sich die Isotopie der Bewegung und Dissoziation, die durch ein Deiktikum als unmittelbare Erfahrung präsentiert wird. War das Wasser eben noch abwesend, zeigt es sich nun aus dieser Abwesenheit umso bedrohlicher: „C’est alors que la mer, soulevée par le vent, se déchaîna. La tempête la troublait, la dispersait dans des régions inaccessibles, les rafales bouleversaient le ciel et, en même temps, il y avait un silence et un calme qui laissent penser que tout déjà était détruit.“ 39 Dagegen stehen gleichzeitig das Schweigen und die Ruhe, welche jedoch keinen beruhigenden Gegenpol bilden, sondern eher die gefährliche Ahnung des Ursprungs der tosenden Bewegung ankündigen. Im weiteren Textverlauf wird Thomas’ Kampf mit dem Wasser geschildert, das in ihn eindringt und den Prozess des Selbstverlustes und Selbstentfremdung vorantreibt. Mit zunehm‐ ender Kälte scheint er das Gefühl für seine Körperglieder und seine orientie‐ renden Sinneswahrnehmungen zu verlieren, sodass mit der steigenden Gewalt und Fremdheit des Wassers sich die Grenze zwischen innerer oder gedanklicher Bewegung und äußerem Kampf gegen das Ertrinken zu verwischen beginnt. Somatisches und Gedachtes gehen reziprok und unkontrollierbar ineinander über. Die Grenze zwischen Thomas und dem Meer, zwischen Subjekt und Objekt, scheint auf der Basis eines traumähnlichen Zustandes zur Vereinigung mit dem Meer zu führen: „Il poursuivait, en nageant, une sorte de rêverie dans laquelle il se confondait avec la mer. L’ivresse de sortir de soi, de glisser dans le vide, de se disperser dans la pensée de l’eau, lui faisait oublier tout malaise.“ 40 Dieses Sich-Vermengen mit dem Meer ist sprachlich ebenfalls performativ artikuliert über eine Verunklarung der Bezüge von innen und außen, in denen sich die inhaltlich ausgedrückte Auflösungsmetaphorik wiederholt. Denn „se disperser dans la pensée de l’eau“ lässt das vom Subjektstandpunkt ausgehende Denken an das Wasser zu einem Denken des Wassers werden - einem Denken, 1. Mikroskope - Berührung auf Entfernung 60 <?page no="63"?> 41 „[L]e passif et l’actif sont les variantes expressives d’un même événement dont l’initia‐ tive n’appartient jamais complètement au sujet conscient […].“ [Starobinski 1966: 507]. 42 TO2: 11. 43 TO2: 11. 44 Starobinski 1966: 506 [Hervorhebung im Originaltext]. das vom Wasser ausgeht und auf das Thomas sich in einer stetigen Transfor‐ mation einlässt. Es ist nicht mehr eindeutig zu entscheiden, wer aktiv oder wer passiv handelt, von wem überhaupt eine Handlung ihren Ausgang nimmt. 41 Darüber hinaus scheint in der „pensée de l’eau“ das Verhältnis von Medium und Ausgesagtem ineinander zu kippen. Der Wunsch nach Ekstase ist in der zitierten Textstelle gekoppelt an ein Gleiten in die Leere und schließt in der Wiederholung des „glisser“ an die Anfangsbewegung des Gleitens vom Ufer ins Wasser an. Die Bewegung der Transgression wird erneut vollzogen: nun als eine intensivierte Selbstaufgabe oder auch Hingabe an das weibliche Wasserelement, in das Thomas sich zerstreuen will. Konsequenz seiner Hingabe ist eine sich immer weiter beschleunigende Oszillation des discours zwischen den Kategorien ‚Re‐ alität‘ und ‚Vorstellung‘, sodass er in einem Satz erst zunehmend zum „mer idéale“ wird, welches wiederum abermals von der Idealität zurückkippt ins Ma‐ terielle bzw. „vraie mer“, das ihn wie einen leblosen Körper in sich trägt. 42 Dar‐ gestellte Realität und Vorstellung sind nicht mehr zu unterscheiden. Sie er‐ weisen sich in ihrer gegenseitigen Durchdringung als unbrauchbare Kategorien - nicht nur für Thomas, sondern auch für den Leser von Thomas l’Obscur. Sofern Thomas glaubt, in der Unentscheidbarkeit von innerer Vorstel‐ lung und äußerer Realität einen „Schlüssel der Situation“ gefunden zu haben und daraus die Erkenntnis einer doppelten Abwesenheit abzuleiten gedenkt, muss er diese samt des Schlüssels als Illusion analog zum Leser in die Tiefe der dunklen Meeresgrundes fallen lassen. 43 Alle Fragen nach einem Ausweg aus der Situation scheitern an Thomas’ un‐ bestimmten Willen fortzuschreiten und weiter in die Tiefe zu dringen. Starobinski interpretiert dies als „refus qu’oppose Blanchot à toute tentation de trouver l’apaisement dans une rêverie participante, dans une fusion sensible ou spirituelle où l’homme ne ferait plus qu’un avec la réalité environnante, qu’elle soit plénitude d’être ou vide, présence ou nullité universelles.“ 44 Er verbindet diese Gedanken einer unmöglichen dauerhaften Vereinigung mit allgemeinen Gedanken zu Blanchots kritischem Werk, das dazu einlädt, denkerisch stets einen Schritt über das Mögliche hinauszugehen. Ich möchte dem lediglich hin‐ zufügen, dass sich dies mit den Vorstellungen Batailles zur inneren Erfahrung als unabschließbare Transgression deckt, und dass diese den Leser mit ein‐ schließt. 1.3 Innere Erfahrung und Transgression (Gleiten) 61 <?page no="64"?> 45 TO2: 12. 46 TO2: 12. Unter dem Mikroskop In den Text wird nun in Form einer mikroskopischen Vergrößerung eine neue Perspektive eingeführt, so als ob es nicht schon komplex genug wäre, den stän‐ digen Metamorphosen zu folgen. Als weiteres Bild für die fortschreitende Ent-Selbstung oder Ent-Menschlichung verwandelt sich Thomas in ein Unge‐ heuer. Unter dem anonymen Blick durch ein „microscope géant“ stellt er sich als „amas entreprenant de cils et de vibrations“ dar. 45 Die Fokussierung durch das riesige Mikroskop bedingt oder bezeugt seine monströse Entfremdung. Es folgt die dritte Bewegung des „glisser“ weiter in die Tiefe, an eine Art heiligen Ort, der als solcher das religiös semantisierte Ziel der Initiation mar‐ kiert. Während das erste Gleiten sich vom Ufer ins Meer vollzog und das zweite Gleiten in die Leere führte, ereignet sich das dritte als eines durch den mikro‐ skopischen Blickwinkel „vom Wassertropfen weg“ an einen Ort der Indifferenz. [L]orsque de la goutte d’eau il chercha à se glisser dans une région vague et pourtant infiniment précise, quelque chose comme un lieu sacré, à lui-même si bien approprié qu’il lui suffisait d’être là, pour être; c’était comme un creux imaginaire où il s’enfonçait parce qu’avant qu’il y fût, son empreinte y était déjà marquée. […] il se confondait avec soi en s’installant dans ce lieu où nul autre ne pouvait pénétrer. 46 Dieser Ort lässt sich nur über Paradoxien und vergleichende Annäherungen in Worte umkreisen, ohne dabei erfasst werden zu können. Als „creux imaginaire“ wiederholt er das „centre imaginaire“ des Paratextes als a-zentrisches Zentrum. Die Selbstfindung ist nur qua zerfasertes und depersonalisiertes Materialge‐ misch möglich und verschließt sich als exklusiver Raum dem Nachvollzug einer Außeninstanz. Dieser markiert einen Endpunkt des Kampfes und der Suche und bildet eine Region der Begegnung von Thomas mit sich selbst am äußersten Punkt der Selbstentfremdung. Doch auch wenn an diesem Ort nicht verweilt werden kann, markiert er als Zone der Grenzerfahrung eine Grenze, sofern es im Text am Ende der Passage heißt: „Finalement il dût revenir.“ Thomas ist an einer inneren wie äußeren Grenze angekommen, jedoch nicht am Ende. Seine Ankunft wird vielmehr den Beginn der nächsten Wiederholung des Ähnlichen als Ausdruck der Entfremdung bilden, wie ich es nach meinen Überlegungen zum 1. Kapitel in den weiteren Kapiteln herauszuarbeiten gedenke. 1. Mikroskope - Berührung auf Entfernung 62 <?page no="65"?> 47 Levinas bemerkt in Sur Blanchot, einer großen Meditation über Blanchots Denken, dass dieser den Begriff der Transzendenz selbst nie gebrauche, indessen aber durchaus eine „bedingende Transzendenz“ fordere, durch die Dinge als Bilder und „die Sprache als Poesie“ wahrgenommen werden können. [Emmanuel Levinas: Sur Maurice Blanchot, Montpellier: Fata Morgana 1975, p. 13]. 48 Poppenberg 2016: 117. 49 TO2: 13. 50 TO2: 13. Rückkehr (hinter dem Mikroskop) Mit Blick auf den Begriff der Initiation kann man von einer immanenten Trans‐ zendenzerfahrung sprechen. 47 Denn Thomas überschreitet oder übersteigt sich zwar im Medium des Meeres, doch durch die reziproke Durchdringung seiner selbst und des Wassers, ebenso wie von Vorstellung und Materialität, ereignet sich die Überschreitung als Immersion sowohl in ihn hinein als auch aus ihm heraus. Er überschreitet sich und es überschreitet ihn, so dass die Erfahrung der Transzendenz zur Erfahrung der Alterität in Form einer, ich zitiere erneut Ger‐ hard Poppenberg, „immanenten Transgression“ wird. 48 Der so erreichte ‚Ein‐ heitszustand‘ ist folglich keine Begegnung mit der göttlichen Fülle, sondern mit einer anonymen Leere jenseits der Bedeutung. Nicht weiter überschreitbar, kann aus ihm nur zurückkehrt werden. Dies tut Thomas, gerade noch im Todeskampf, scheinbar mühelos und gelangt zurück ans Ufer. Seine Rückkehr führt ihn in‐ dessen nicht an den Ausgangsort seines Gleitens ins Wasser. Während der Ein‐ tritt in die Initiationserfahrung ein transgressiver Akt des Gleitens war, wird der Austritt nicht beschrieben. Er wird lediglich rückblickend als notwendige Tat‐ sache konstatiert, als wäre er qua Erfahrung der Erinnerung entzogen. Thomas’ Grenzerfahrung hat Spuren in seinem Hören (nämlich Summen), vor allem aber in seinem Blick hinterlassen: Die Augen brennen, seine Sicht ist vernebelt, die Fähigkeit, Dinge voneinander zu unterscheiden ist unsicher ge‐ worden. Der zu Beginn des Kapitels auf dem Wasser gewesene Nebel ist nun in seiner Sicht, ist als Erfahrung Teil von ihm. In der Folge kann der Nebel er‐ kenntnistheoretisch nicht mehr exkludiert werden: Thomas’ Sicht auf die Welt hat sich verändert: „À force d’épier, il découvrit un homme qui nageait très loin […]“. 49 Dass er diesen Mann sieht, ist direkt bedingt durch seine Wahrneh‐ mung. Thomas verfolgt den Schwimmer mit seinem Blick, an all seinen Zu‐ ständen teilhabend. Der Blick als Berührung auf Distanz ermöglicht ihm eine Nähe, die „n’aurait pu l’être davantage par aucun autre contact“. 50 Ich folge hier mit meinen Überlegungen weiter der Interpretation Jean Star‐ obinskis, der Thomas am Ende des Kapitels perspektivisch nun auf der anderen 1.3 Innere Erfahrung und Transgression (Gleiten) 63 <?page no="66"?> 51 Rainer Stillers stellt eine ähnliche Vermutung an, wenngleich er nur die äußere Rah‐ mung der Perspektive Strand-Schwimmer als gedoppelt interpretiert, dabei aber das „microscope géant“ nicht einbezieht. [Cf. Stillers 1979: 67]. 52 Gerhard Poppenberg: Ins Ungebundene - Über Literatur nach Blanchot, in: Rein‐ hold R. Grimm, Joseph Jurt, Friedrich Wolfzettel edd.: mimesis - Untersuchungen zu den romanischen Literaturen der Neuzeit, Bd. 20, Tübingen: Max Niemeyer 1993, hier pp. 57-58. 53 TO2: 13. Seite des „microscope géant“ verortet. 51 So gesehen betrachtet er sich selbst im Meer schwimmend und ist folglich Beobachter wie Beobachteter. Das Bild des Doppelgängers stellt sich ein, zumal diese Verdopplungsstruktur nur eine von vielen ist, die in den weiteren Kapiteln folgen werden. Der Doppelgänger, der Übergang vom Ich zum Er, hier sogar vom Er zum Er, kennzeichnet bei Blanchot auch immer den Vorgang des Schreibens. Diesbezüglich bemerkt Gerhard Poppenberg: Das Schreiben als Übergang vom Ich zum Er ist ein Grenzgang, ein Gang aber nicht so sehr an die Grenze und auch nicht ganz über sie hinaus, sondern ein Gang an der Grenze, deren Artikulation die Bewegung zwischen Ich und Er ist, den Gestalten des Innen und Außen. […] Der Übergang vom Ich zum Er ist zunächst Bruch mit dem Ich, Befreiung vom Ich, Eingang in das, was Kafka ‚die andere Welt‘ nennt und was Blan‐ chot […] die Welt der Freiheit nennt. 52 Am Ende des 1. Kapitels von Thomas l’Obscur ist von solch einer, durch den Bruch mit inneren und äußeren Bindungen bedingten, Befreiung die Rede: „Il y avait dans cette contemplation quelque chose de douloureux qui était comme la manifestation d’une liberté trop grande, d’une liberté obtenue par la rupture de tous les liens.“ 53 Diese zu große Freiheit ist Resultat der Loslösung von allen Bindungen. Sie ist der Preis der Transgressionserfahrung im Meer, die Thomas’ Subjekthaftigkeit als unkontrollierbare Überschreitung von Körper und Ge‐ danken, aber auch die repräsentierende Sprache an sich untergraben hat. Die andere Seite der Freiheit ist eine fortan unhintergehbare Einsamkeit, die Tho‐ mas’ Rückkehr in die Welt verhindert. Kreisschluss Die Ausgangsthese war, dass im 1. Kapitel von TO 2 ein Initiationsprozess statt‐ findet, der sich in drei Stufen gliedert. Thomas befindet sich am Anfang und am Ende am Meeresufer sitzend und betrachtet das Wasser. Dies entspricht dem, was ich Kontemplation I und Kontemplation II genannt habe. Dazwischen findet ein topologisch markierter Wechsel des Denk-und Erfahrungsmediums von der Erde ins Wasser statt, in dem sich die eigentliche Initiation in einem 1. Mikroskope - Berührung auf Entfernung 64 <?page no="67"?> 54 Stillers 1969: 69. ebenfalls dreistufigen Gleiten bis hin zum „lieu sacré“ als innere Erfahrung im Bataillschen Sinne vollzieht. Die strukturelle Initiation wird ermöglicht durch verschiedene Transgressio‐ nen: das Überschreiten der Grenze zwischen Ufer und Meer (gleitende Bewe‐ gung nach unten), das Überschreiten der Grenze zwischen dem Wasser und dem „lieu sacré“, das Überschreiten der Grenzen des eigenen Körpers sowie der Grenze von Subjekt und Objekt und der Grenze von Körper und Geist. Richtet man den Blick durch das „microscope géant“ auf die Ebene der sprachlichen Darstellung, finden sich diese Transgressionen des Textes auch auf der Wort-und Satzebene des Textes. Thomas l’Obscur ist folglich, wie Rainer Stillers in Anlehnung an Jean Pfeifer formuliert, neben einer „langage de l’expérience“ auch eine „expérience du langage“, die den Leser erfasst und von ihm eine aktive Teilhabe einfordert. 54 Exemplarisch habe ich versucht, dies am Beispiel der „pensée de l’eau“ zu zeigen. Die Selbsttransgressionen der Sprache ereignen sich jedoch auch in Oxymora, diversen Entkopplungen von Zusammenhängen, ei‐ nander überlagernden Isotopien sowie der Zirkularität der Sprache. Diese trans‐ gressiven Bewegungen bedingen die Initiation von Thomas und ermöglichen ihm am Ende des 1. Kapitels einen anderen Zustand. Sie unterlaufen aber auch das Konzept der Initiation als singuläres Ereignis, das normalerweise von Pries‐ tern begleitet und von Ritualen gerahmt ist. Im 2. Kapitel von TO 2 wird Thomas in einen höhlenartigen Ort im Wald hinabsteigen, im 4. Kapitel in die Wörter eines Buches, sodann in die Nacht selbst und dergleichen mehr. Am Ende des Textes wird er wieder auf das Meer blicken und sich schließlich abermals hineinstürzen. Das letzte Kapitel schließt an den Beginn des 1. Kapitels und das Bild des auf das Meer blickenden Thomas an, beschließt den Text mit diesem Bild und öffnet ihn gleichzeitig, denn es gibt keine Entwicklung Thomas’ im Sinne eines Entwicklungsromans, keine ein‐ fache Reifung oder gehobene Erkenntnis. Das Ende tritt wiederholend an den Anfang: Der Anfang wird damit rückwirkend seiner Originalität beraubt und in Serie geschaltet. Auf die Differenz in der Wiederholung wird das 12. Kapitel meiner Arbeit eingehen. Während Georges Bataille, wie ich zu Beginn des Ka‐ pitels ausgeführt habe, im Wesentlichen das 2. Kapitel von Thomas l’Obscur als literarische Ausformung des il y a versteht, möchte ich es im Folgenden als Erfahrung der ‚autre‘ nuit lesen, welche wiederum als Denkfigur des Unbegreif‐ lichen eine große Nähe zum il y a aufweist. 1.3 Innere Erfahrung und Transgression (Gleiten) 65 <?page no="68"?> 1 Maurice Blanchot: „Le dehors, la nuit“, in: EL, pp. 213-224, hier p. 213. 2 Zu bemerken ist, dass (noch) nicht, wie später beispielsweise in L’espace littéraire die Rede von der ‚autre‘ nuit ist. Meine diesbezügliche These ist, dass in Thomas l’Obscur literarisch etwas erprobt wird, was in Blanchots späteren literaturtheoretischen Essays den Namen ‚autre‘ nuit bekommt. 2. Kryptologie - Der Weg in den Ungrund „Dans la nuit, tout a disparu. C’est la première nuit. Là s’approche l’absence, le silence, le repos, la nuit. […] Mais quand tout a disparu dans la nuit, ‚tout a disparu‘ apparaît. C’est l’autre nuit. La nuit est apparition du ‚tout a disparu‘.“ 1 Nacht - Absenz - Verschwinden - andere Nacht - Erscheinen des Abwesenden: In diesem kurzen, dem Kapitel „Le dehors, la nuit“ entstammenden, Zitat aus L’espace littéraire unterscheidet Blanchot zwischen einer ersten Nacht (première nuit) und einer anderen Nacht (‚autre‘ nuit). Die andere Nacht ist als andere ernst zu nehmen, denn sie bildet nicht einfach das polare Gegenstück zum Tag, son‐ dern ist derart anders, dass sie eigentlich nicht beschreibbar wäre, hinterließe sie nicht in der ersten Nacht ihre Spuren. Sie stellt demnach ein Ereignis dar, welches Spuren hinterlässt. Diese Spuren soll der nun folgende Gang durch das 2. Kapitel von TO 2 nachzeichnen. Wesentliche Struktur in diesem Kapitel ist eine Abstiegsbewegung Thomas’ vom Waldgrund in den Ungrund eines höhlenartigen Raums. Dieser Abstieg in die tiefe Dunkelheit vollzieht sich jedoch nicht nur als äußere Bewegung, son‐ dern vielmehr als ein Zerschreiben der Möglichkeit, einen stabilen (denker‐ ischen oder epistemologischen) Grund zu finden. Daher möchte ich zunächst einige Überlegungen zum Grund anstellen bevor mit der Lektüre des Kapitels begonnen wird. Um die Raumbewegungen des Textes zu spiegeln, wird in der Lektüre das psychoanalytische Konzept der Krypta, wie Nicolas Abraham und Maria Torok bzw. Jacques Derrida es formulieren, ins Zentrum gerückt. Die Krypta lese ich als eine Möglichkeit, die unmögliche Erscheinung der nicht re‐ präsentierbaren anderen Nacht zu denken. Denn die andere Nacht kann sich nur als Spur, als Erscheinen des Verschwindens, um erneut mein Eingangszitat Blanchots aufzugreifen, manifestieren. 2 Die Krypta wäre sodann eine zeitliche, aber besonders auch räumliche Figuration eines Ungrundes, der im Verbergen seines Verbergens nur mehr eine Spur hinterlässt. <?page no="69"?> 3 Friedrich Nietzsche: Morgenröte, Idyllen aus Messina, Die fröhliche Wissenschaft, in: id.: Sämtliche Werke - Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 3, edd. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München et al.: dtv / de Gruyter 2005, p. 11. 4 Maurice Blanchot: „La littérature et le droit à la mort“, in: id.: La part du feu, Paris: Gallimard 1949, pp. 291-331, hier: p. 294; im Folgenden mit der Sigle LDM abgekürzt. 2.1 Überlegungen zum Grund (Aushöhlungen) In diesem Buche findet man einen „Unterirdischen“ an der Arbeit, einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden. Man sieht ihn, vorausgesetzt, dass man Augen für solche Arbeit der Tiefe hat -, wie er langsam, besonnen, mit sanfter Unerbittlichkeit vorwärts kommt, ohne dass die Noth sich allzusehr verriehthe, welche jede lange Entbehrung von Licht und Luft mit sich bringt; man könnte ihn selbst bei seiner dunklen Arbeit zufrieden nennen. Scheint es nicht, dass irgend ein Glaube ihn führt, ein Trost entschädigt? Dass er vielleicht seine eigne lange Finsterniss haben will, sein Unverständliches, Verborgenes, Räthselhaftes, weil er weiss, was er haben wird: seinen eignen Morgen, seine eigne Erlö‐ sung, seine eigne M o r g e n r ö t h e? … Gewiss, er wird zurückkehren: fragt ihn nicht, was er da unten will, er wird es Euch selbst schon sagen, dieser scheinbare Trophonios und Unterirdische, wenn er erst wieder „Mensch geworden“ ist. 3 Friedrich Nietzsche „La littérature s’édifie sur ses ruines“, schreibt Maurice Blanchot in seinem be‐ rühmten Essay „La littérature et le droit à la mort“ (1948 / 1949). 4 Das Fundament der Literatur oder ihre Entstehungsbedingungen sind demnach unweigerlich verbunden mit einer Zerstörung ihrer Herkunft, ihres Bodens, ihrer Vergan‐ genheit. Dies kann sowohl andere Literatur(en) meinen als auch möglicherweise die Ersetzung und Zerstörung von Welt durch den Eintritt in die Zeichen‐ struktur. Damit etwas Neues wachsen kann, muss zuerst Altes zerstört werden. Das Neue schafft sich seinen Platz und dieser Vorgang ist mit Gewalt verbunden, denn die alten Formen weichen nicht freiwillig von der Stelle. Das Neue braucht aber auch das Alte, um sich an ihm abzuarbeiten, um es wegzuarbeiten, es dem Erdboden gleich zu machen, um es zum Fundament zu machen. Bleibt die Frage, wie stabil ein Fundament ist, welches auf Zerstörung beruht, ob nicht die Ent‐ stehungsbedingungen eingeschrieben sind in das darauf Errichtete und ob sie nicht irgendwann von unten das darüber Liegende angreifen werden. Im Falle Blanchots würde ich sagen, ist genau dieser Nexus ein fruchtbarer und ein ge‐ wollter, denn er verhindert die Erstarrung und die Herausbildung von pseudo‐ soliden Etablissements (frz. établissement = Gründung, Bau, Errichtung). 2.1 Überlegungen zum Grund (Aushöhlungen) 67 <?page no="70"?> 5 Wilhelm Blum analysiert sie in seinem Buch Höhlengleichnisse - Thema mit Variationen. Als Autoren dieser Gleichnisse nennt er: Platon, Aristoteles, Maximos von Tyros, Ar‐ nobius, Gregor von Nyssa, Papst Gregor I. der Große, Symeon, der Neue Theologe. [Wilhelm Blum: Höhlengleichnisse - Thema mit Variationen, Bielefeld: Aisthesis 2004]. 6 Josef Kopperschmidt: „Heideggers Umweg in Platons Höhle oder Über einige Irritati‐ onen in Heideggers Aristoteles-Vorlesung von 1924“, in: id. ed.: Heidegger über Rhe‐ torik, München: Fink 2009, pp. 301-437, hier p. 303. 7 Wohl wissend, dass sich das platonische Höhlengleichnis in unterschiedlichen Hin‐ sichten (Erkenntnis, Bildung, Aufklärung, Wahrnehmung, Ideenlehre, Theo‐ rie-Praxis-Problematik) interpretieren lässt, werde ich mich in meinen Überlegungen auf eine Blanchot-bezogene Interpretation beschränken. Die Literatur findet am Übergang zwischen Alt und Neu statt. Sie bildet diesen Übergang, der letztlich bedeutet, dass es nie etwas gänzlich Neues gibt, nur Überschreibungen. So muss jeder Bruch mit dem Alten ebenso als Fortsetzung gedacht werden. Wenn die Literatur sich auf ihren Ruinen errichtet, dann er‐ öffnet dies zwei Fragedimensionen des Grundes, sowohl die nach dem Grund der Worte oder des Denkens als auch die nach dem materiellen Boden. Der Grund der Worte ist bei Blanchot alles andere als beständig. Er ist glitschig, voller Löcher, Abgründe und Irrwege. Auf ihm kann man sich allenfalls in einem Gleiten fortbewegen. Dieses Gleiten bedeutet, dass die Relation zwischen den Worten und den Dingen unzählige Möglichkeiten birgt. Gleiten bedeutet da‐ rüber hinaus, dass die Verbindung von Wort und Ding nicht stabil ist. Dies bein‐ haltet die Potentialität des Übergangs der Materialität des Dings in die Imma‐ terialität der Versprachlichung, ebenso wie umgekehrt der Entblößung des Wortes in seiner Materialität. Aushöhlungen des Grundes Historisch wurde die Frage des Grundes, der Erkenntnisbedingungen und der Wahrheitsfähigkeit der Erkenntnis bezeichnenderweise immer wieder über eine Figur der Aushöhlung des Grundes gestellt: die Höhlengleichnisse. Die den Grund untergrabende Höhle schafft einen von außen unsichtbaren Hohlraum der Geschlossenheit und Dunkelheit, der dem Unverborgenen und Offenen des Sichtbaren eine andere Ordnung entgegensetzt - sei es als Antiraum der Selbsterkenntnis, wie bei Platon, oder als Aufbewahrungsort für Phan‐ tasmen in Form des psychoanalytischen Kryptakonzeptes. Obwohl es allein sieben berühmte Höhlengleichnisse in der Geschichte der abendländischen Kultur gibt 5 , hat sich in der Rezeptionsgeschichte bis heute vor allem das pla‐ tonische Höhlengleichnis gehalten, welches man aus diesem Grund durchaus als „europäische[…] Fundamentalmetapher“ 6 bezeichnen darf oder als dunklen Gründungsort des abendländischen Wahrheitsbegriffes. 7 Lokalisiert ist es im 2. Kryptologie - Der Weg in den Ungrund 68 <?page no="71"?> 8 Platon: Politeia, Buch VII, in: id.: Sämtliche Werke, Bd. 2: Lysis, Symposion, Phaidon, Klei‐ tophon, Ploiteia, Phaidros, ed. Ursula Wolf, transt. Friedrich Schleiermacher, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1994, pp. 420-449 (514a-541b). 9 Cf. Blum 2004: 51 sqq. siebten Buch von Platons Politeia 8 , wo es nach dem Sonnengleichnis und dem Liniengleichnis, die im sechsten Buch beschrieben werden, die Dreiheit der Gleichnisse vollendet. Als wesentliches Strukturmoment lässt sich auch inner‐ halb des Höhlengleichnisses ein dreistufiger Aufbau beschreiben: die Schilde‐ rung des Höhleninnenraums, der Aufstieg und die Ereignisse außerhalb der Höhle, sowie die Rückkehr in die Höhle bis zum Tod dessen, der die Wahrheit und das Licht geschaut hat. 9 Der Schwerpunkt meiner Lektüre des Höhlen‐ gleichnisses soll vor allem auf der Topik der Höhle liegen. Insbesondere die Wände, der Boden sowie der Ein- und Ausgang der Höhle stehen dabei im Vor‐ dergrund der Betrachtungen. Des Weiteren wird es um die Verbindung der Topik mit entsprechenden Wahrheitssetzungen und Wahrnehmungsmöglichkeiten gehen. Denn die Grundannahme des platonischen Höhlengleichnisses ist eine Gegenüberstellung von Wahrnehmung und Dialektik hinsichtlich ihrer Wahr‐ heitsfähigkeit. Während die Wahrnehmung als trügerisch angesehen wird, weil sie verfälscht sein kann, verspricht die Dialektik hingegen die einzige Möglich‐ keit wahrer Erkenntnis. Daraus ergibt sich ein Erkenntnisweg, der vom Tiefsten und Dunkelsten (Boden der Höhle, Blick auf die Höhlenwand), über die Über‐ windung der in Gestalt von Schatten vermittelten Wahrnehmung schließlich hinaus und nach oben (draußen) ans Licht führt, d. h. vom Schein und den Er‐ scheinungen der Höhle ins Sonnenlicht der Wahrheit. Einer der wenigen Versuche der bildlichen Darstellung des platonischen Höhlengleichnisses ist das „Antrum Platonicum“ aus dem Jahr 1604, ein Stich des niederländischen Druckgrafikers Jan Saenredam nach einem Ölgemälde von Cornelius von Haarlem. 2.1 Überlegungen zum Grund (Aushöhlungen) 69 <?page no="72"?> 10 Platon 1994: 420 (514b). Jan Saenredam / Cornelius von Haarlem: Antrum Platonicum (1604) (Abb. 1) Erstaunlich an diesem Stich ist, dass die Höhlenwand eher einer Hauswand gleicht und eine sehr gute Einsicht in die Höhle besteht. Das Geschehen wirkt durch sein Menschengetümmel wie auf einem Marktplatz. Darüber hinaus han‐ delt es sich bei der Lichtquelle um eine künstliche Beleuchtung von oben in Gestalt einer Lampe. Während Platon die Gefangenen als an den Schenkeln und am Nacken gefesselt beschreibt, haben die Menschen in dieser Darstellung sehr viel mehr Bewegungsfreiheit. Was die Mauer betrifft, so stimmt sie jedoch durchaus überein mit Platons Bild: „Zwischen dem Feuer und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs diesem sieh eine Mauer aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler vor den Zuschauern sich erbauen, über welche herüber sie ihre Kunststücke zeigen.“ 10 Die Parallelisierung der Nicht-Gefan‐ genen mit Gauklern, die etwas inszenieren, und den Gefangenen mit Zu‐ schauern, die dem Spektakel folgen, verdeutlicht den Charakter einer Versuchs‐ anordnung, die Platon hier im Zentrum der Politeia einfügt. Man sollte bezüglich des Stichs des „Antrum Platonicum“ weniger von einer Höhle sprechen, sondern eher von einem Raum mit einem Ein-, und Ausgang auf der linken hinteren 2. Kryptologie - Der Weg in den Ungrund 70 <?page no="73"?> 11 Kopperschmidt 2009: 349. Bildhälfte und einer Trennwand, die vom rechten Bildrand in die Bildmitte ragt. Die Konstruktion der höhleninternen Wahrheit erfolgt sodann auf Grundlage der Deutung der Schatten, die durch die Lichtquelle, welche auf die vorbeige‐ tragenen Gegenstände hinter der Trennwand fällt, auf der Höhlenwand ent‐ stehen. Damit kommt der Höhlenwand der ontologische Status einer trügeri‐ schen Projektionsfläche zu. Aufgrund der Innen-Außen-Dichotomie und den entsprechenden eingangs genannten Zuschreibungen kann in der platonischen Auffassung der Mensch innerhalb der Höhle kein Bewusstsein für die Höhle qua Höhle erlangen, da er, in Ermangelung einer Erfahrung des Außen, dieses nicht im Verhältnis zu ihr zu denken vermag. Somit gibt es weder ein Bewusstsein des Mangels noch die Notwendigkeit eines Verlassens der Höhle. Der einzige Weg ins Außerhalb be‐ steht mit Hilfe des Eindringens externer Individuen, gegebenenfalls unter Zu‐ hilfenahme von Gewalt. Deshalb muss der befreite und zum Seher des Lichts aufgestiegene Gefangene - Inhaber des Wahrheitsmonopols - in die Höhle zu‐ rückkehren und sich erneut ihrer Topik aussetzen. Völlig zu Recht kritisiert Kopperschmidt die „intrinsische Gefährlichkeit einer […] Argumentationskette, mit deren Hilfe sich ein Projekt legimitieren lässt, das Menschen gegen ihren Willen mit Gewalt aus ihrer als scheinhaft denunzierten Existenz glaubt he‐ rausreißen zu dürfen.“ 11 Der Wahrheitsbegriff, der sich hiermit gründet oder der so begründet wird, nimmt eine Monopolstellung in Anspruch, die der mit dieser Befreiungs- und Erleuchtungslogik verbundenen Gewalt keine Grenzen mehr setzt. Dass das Licht der Welt und die scharfen Konturen des Tages auch schmerzhaft sein können, wird ausgeblendet oder bewusst als Nebenwirkung in Kauf genommen. Die Dialektik als Disziplin der Wahrheit braucht aber me‐ taphorisch-mythisches Material, um den Grund ihrer Selbstbegründung zu for‐ mulieren. Sie muss auf das (Höhlen-)Gleichnis als uneigentliche Form des Spre‐ chens zurückgreifen, da dem Grund mit der Logik allein nicht beizukommen ist. Im Folgenden soll nun anhand der Lektüre des 2. Kapitels von TO 2 Blanchots Verfahren, den Grund jenseits der Dialektik zu denken, skizziert werden. 2.1 Überlegungen zum Grund (Aushöhlungen) 71 <?page no="74"?> 12 Milo Sweedler: „La lecture honteuse - Lire Thomas l’obscur“, in: Bruno Chaouat ed.: Lire, écrire la honte - Actes du colloque de Cerisy-La-Salle, Lyon: Presses Universitaires de Lyon 2003, pp. 397-407, hier p. 399 [= Jean-Pierre Martin ed.: Passages]. 13 Cf. ibid.: Sweedler interpretiert den Roman sehr plausibel als gigantische Allegorie des Lesens, darauf kann aber an dieser Stelle aus Umfangsgründen nicht eingegangen werden. 14 TO2: 14. 15 Rainer Stillers verweist in seinem Aufsatz „Zur Präsenz Dantes in der Moderne - Danteske Strukturen bei Maurice Blanchot“ auf Konnexionsmöglichkeiten zwischen Thomas l’Obscur und Dantes Divina Commedia: „Der Rückblick aufs Meer, der Wald, das Ausruhen, der leuchtende Hügel - fast alle räumlichen Details der Passage sind Elemente, die in Inferno I auf engem Raum zusammentreffen […].“ [Rainer Stillers: „Zur Präsenz Dantes in der Moderne - Danteske Strukturen bei Maurice Blanchot“, Deutsches Dante-Jahrbuch 65 (1990), 53-75 hier 63]. 2.2 Der Einfall der Nacht „Thomas l’Obscur est un roman difficile à lire.“ 12 Solche oder ähnliche Urteile ergeben viele der Rezeptionen und Interpretationen von Thomas l’Obscur. Milo Sweedler sieht die Schwierigkeit dieses Textes unter anderem in einer Fallen‐ struktur, die den Leser im 1. Kapitel scheinbar unschuldig mit dem am Meer sitzenden Protagonisten Thomas in den Text lockt, um ihn dann an sich zu nehmen, zu manipulieren und sich selbst auszusetzen. 13 So eröffnet auch das 2. Kapitel scheinbar harmlos: Il se décida pourtant à tourner le dos à la mer et s’engagea dans un petit bois où il s’étendit après avoir fait quelques pas. La journée allait se terminer; il n’y avait presque plus lumière […] Comme la nuit tombait, il essaya de se redresser et, les deux mains appuyées sur le sol, il mit un genou à terre, tandis que son autre jambe se balançait; puis il fit un mouvement brusque et réussit à se tenir tout à fait droit. 14 Thomas wendet sich vom Meer des 1. Kapitels ab, indem er ihm den Rücken zudreht und sich in einem kleinen Wald niederlegt. Er wechselt vom Meer zur Erde, oder vom Glatten zum zunächst Gekerbten - gekerbt auch deshalb, weil im folgenden Satz ein frei stehender Hügel in all seiner Unschuld in den Vor‐ dergrund gestellt wird. 15 Die Räume (das Meer, der Wald, die Landschaft) werden von Beginn an in ihrer Deskription auf ein Minimum reduziert, bzw. abstrahiert, indem der Text durch sie lediglich als Verweisstrukturen oder Richtungsangaben evoziert. Zeitlich scheint die Abenddämmerung anzubrechen, was eine Reduk‐ tion des Lichtes impliziert und somit - bis auf einige Details der Landschaft, wie den genannten Hügel - die Sicht auf die Umgebung trübt. Der Hinweis auf das nahende Ende des Tages ist eminent wichtig, denn er bezeichnet den Beginn einer sodann statthabenden Erfahrung der anderen Nacht. Der bereits zwei Sätze 2. Kryptologie - Der Weg in den Ungrund 72 <?page no="75"?> 16 TO2: 14. 17 TO2: 15. 18 Andreas Gelhard 2005a: 141 [Hervorhebung im Original]. weiter folgende Übergang vom Tag zur Nacht ereignet sich nicht sanft, sondern eher überfallartig als ein Hereinbrechen, wenn es da heißt, „la nuit tombait“. 16 Im Französischen fällt oder stürzt die Nacht herein (tomber = fallen, stürzen), ebenso heißt es im Englischen „the night falls“, während man im Deutschen vom Hereinbrechen der Nacht spricht. Diesen Fall oder Einbruch der Nacht lese ich nicht einfach als Hinweis auf die Tageszeit zu Beginn des 2. Kapitels, sondern als ein Aufbrechen der Oberfläche des Symbolischen ins Semiotische (um mit Julia Kristeva zu sprechen) oder, um es im Vorgriff auf das Konzept der Krypta zu formulieren, als Einbruch in die Krypta, für den es immer irgendeinen Spalt, Riss oder Bruch geben muss. Dabei wird eine Bewegung nach unten evoziert, die sich auf der Ebene des Erzählten mit einer Abstiegsbewegung verknüpft. Doch zunächst reagiert Thomas auf das Hereinbrechen der Nacht, indem er sich gegen einen inneren Drang liegen zu bleiben, vom Boden aufrichtet. Mit Blick auf den Einbruch in die Krypta könnte man auch von einem Zwang spre‐ chen, der ihn sich erheben lässt. Schon hier ist die Wichtigkeit der Körperposi‐ tionen und Ausrichtungen nicht zu übersehen: Thomas verlässt das Meer, indem er ihm den Rücken zukehrt. Er geht in den Wald, wo er sich zunächst auf dem Boden liegend, daraufhin kniend und schließlich aufrecht stehend wiederfindet. Mit geschlossenen Augen stehend, ist sein Sehen dennoch nicht weniger ge‐ worden: „Ainsi, quoiqu’il eût les yeux fermés, il ne semblait pas qu’il eût renoncé à voir dans les ténèbres, c’était plutôt le contraire.“ 17 Dieses Bild des blinden Wachens formuliert Andreas Gelhard in seiner Dissertationsschrift über Mau‐ rice Blanchot wie folgt: „Thomas sieht ohne zu sehen. Sein Blick hat ebendie Struktur der Ausgesetztheit an das Gestaltlose, die Blanchot auch der literari‐ schen Rede zuschreibt, er ist aveugle vigilance.“ 18 Abstieg Als blinder Seher - und dies bedeutet auch, dass von nun an nicht mehr exakt zwischen Imagination und äußerem Geschehen unterschieden werden kann - steigt er in der Nacht / durch die Nacht in eine „Art Kellergewölbe“. Unent‐ scheidbar bleibt, was der Grund für diesen Abstieg ist. Festzuhalten ist aber, dass die Oberfläche verlassen und ein Gang in die Tiefe initiiert wird: Il descendit dans uns sorte de cave qu’il avait d’abord crue assez vaste, mais qui très vite lui parut d’une exiguïté extrême: en avant, en arrière, au-dessus de lui, partout où il portait les mains, il se heurtait brutalement à une paroi aussi solide qu’un mur 2.2 Der Einfall der Nacht 73 <?page no="76"?> 19 TO2: 15. 20 TO2: 15. 21 Die Neutralität des il als Aspekt des il y a, auf das ich im 1. Kapitel eingegangen bin, ist Resultat einer Entpersönlichungsbewegung des je. In verschiedenen Schriften Blan‐ chots wird die Nacht mit dem il y a verschränkt. 22 TO2: 15. de maçonnerie; de tous côtés la route lui était barrée, partout un mur infranchissable, et ce mur n’était pas le plus grand obstacle, il fallait aussi compter sur sa volonté qui était farouchement décidée à le laisser dormir là, dans une passivité pareille à la mort. 19 Nachdem der erste Eindruck des Raumes der der Weite war, erscheint das kel‐ lerartige Gebilde dann aber als so eng, dass Thomas zu allen Seiten dessen Wände spürt, wodurch ein klaustrophobisches Szenario entsteht. Auch in der Verengung der Weite stehen wieder Raumkoordinaten im Vordergrund: „[…] en avant, en arrière, au-dessus de lui, partout où il portait les mains […].“ 20 Thomas ist einerseits in seiner schmerzhaften Wahrnehmung gefangen, jedoch auch durch seinen eigenen Willen, der ihn in Passivität hält und ihn dort im Wald oder im kellerartigen Raum - die Örtlichkeit, an der das Geschehen stattfindet, ist nicht klar - übernachten lassen will. Im Anschluss daran bildet die aus Tho‐ mas’ Willen entspringende todesähnliche Passivität die Matrix der Nacht und ermöglicht einen Eintritt in die Krypta. Sie setzt das Subjekt aus und bewirkt, dass nach der Problematisierung des umliegenden Raumes die Abgeschlossen‐ heit des Körpers aufgegeben wird. Thomas, der in diesem Kapitel nur selten mit seinem Eigennamen bezeichnet wird, sondern fast durchweg mit der unpersön‐ lichen Form des „il“ 21 , legt auf der Suche nach den Grenzen des Raumes seinen Körper dicht an die Trennwand und wartet: „[I]l plaça son corps tout contre la cloison et attendit.“ 22 Die Grenzerfahrung wird als Begrenzungserfahrung zum Formgeber seines Körpers, der - zum Medium geworden - nun wartet. Bis zu dieser Textpassage wurden bereits diverse Bilder der Abgrenzung auf‐ gerufen, darunter „une sorte de cave“ (eine Art Keller[gewölbe]), „une paroi“ (Wand, Trennwand), „un mur de maçonnerie“ (Mauerwerk), „un mur infranchissable“ (eine unüberwindbare Mauer), „les limites“ (die Grenzen, Ab‐ grenzungen), „la fosse voutée“ (der überwölbte Graben oder das gewölbte Grab), „la cloison“ (die Wand, Zwischenwand). Dabei variiert das Spektrum von eher dünnen Wänden bis hin zu massivem Mauerwerk oder gar dem Vergleich mit einem Grab. Es handelt sich um Grenzfiguren, die keinen konstanten Raum umgeben, sondern lediglich augenblickliche subjektive und durch die Erzählin‐ stanz vermittelte Wahrnehmungsentwürfe bilden. Um diesen durch den Abstieg 2. Kryptologie - Der Weg in den Ungrund 74 <?page no="77"?> 23 Nicolas Abraham und Maria Torok: Cryptonymie. Le verbier de l’homme aux loups, Paris: Flammarion 1976. Erste Entwicklungen des im Folgenden ausgebreiteten Krypta-Kon‐ zeptes finden sich bereits in früheren Schriften der Autoren. 24 Sigmund Freud: „Aus der Geschichte einer infantilen Neurose“, in: id.: Studienausgabe, Bd. VIII, ed. Alexander Mitscherlich et al., Frankfurt a. M.: Fischer 1978, pp. 126-232. oder durch die Nacht eröffneten Raum zu denken bzw. zu entziffern, werde ich ihn mit dem psychoanalytischen Begriff der Krypta verknüpfen. 2.3 Krypta (Phantasma und Verschiebung) In Cryptonymie. Le verbier de l’homme aux loups 23 , unternehmen die Psycho‐ analytiker Nicolas Abraham und Maria Torok eine Neulektüre der berühmten „Wolfsmann-Texte“ 24 Sigmund Freuds. Eine Besonderheit dieser Neulektüre ist die Beschreibung der Ausbildung einer intrapsychischen Krypta als Resultat eines gescheiterten Trauerprozesses. Dabei werden die mit Lust und Scham be‐ setzten Objekte (meistens sind es mehrere) phantasmatisch inkorporiert und in einer inneren Krypta verwahrt. Die geschluckten Objekte (frz. fantasmes) sind dem Bewussten unzugänglich, steuern es vielmehr in Wiederholungshand‐ lungen fern und bedienen sich so des Subjektes. Diese Fernsteuerung ist der negative Aspekt der Krypta. Ausgebildet wird sie aber ursächlich, um die Sub‐ jektstabilität zu erhalten. Die Krypta bildet einen Ort im Bewussten, der sich wie ein künstliches Un‐ bewusstes zum Bewusstsein verhält. Künstlich ist dieses Unbewusste insofern als es nicht außerhalb des Bewussten liegt, sondern innerhalb und gleichzeitig dem Bewussten, dem Außerkryptischen unbewusst ist. Von außen gibt es kein Eindringen in die Krypta, es sei denn, man vermag es, über verschlüsselte Pfade die Wege der nach außen dringenden kryptophoren Objekte nachzuverfolgen. Abraham und Torok gehen davon aus, dass es immer wieder Risse an den Grenzzonen der Krypta gibt, durch die die eingeschlossenen Phantome nach außen dringen und sich in Handlungen des Subjektes niederschlagen, die diesem im Nachhinein teilweise völlig fremd sind. Die Doppelbödigkeit der Krypta be‐ steht darin, dass die inkorporierten phantasmatischen Objekte den Grund des Ichs begründen, d. h. Teil des Ich-Fundaments sind, auf dem Neues errichtet wird. Das Gefährliche dieses Grundes ist seine Eigendynamik, denn das ver‐ meintlich Besiegte (das Objekt, dem die Trauer ob seines Verlustes verweigert wurde) muss verwahrt werden, um so zwischen Leben und Tod, zwischen Rea‐ lität und Latenz, in der Schwebe zu bleiben: unverfügbar, aber da. 2.3 Krypta (Phantasma und Verschiebung) 75 <?page no="78"?> 25 Jacques Derrida: „FORS - Les mots anglés de Nicolas Abraham et Maria Torok“, in: Abraham / Torok 1976: 7-73. In einem Fragment aus L’écriture du désastre referiert Blanchot direkt auf Derridas Vorwort. Zwar sind sowohl L’écriture du désastre als auch Derridas „FORS“ viele Jahre nach Thomas l’Obscur erschienen, jedoch scheint es mir hilfreich, das Folgende als Resonanzraum der in Thomas l’Obscur eingefalteten Krypta zu zitieren: „C’est le langage qui serait ‚cryptique‘, non seulement dans sa totalité excédée et non théorisable, mais comme recélant des poches, des endroits caverneux où les mots se font choses, le dedans dehors, en ce sens indécryptable […]. „‚Je‘ ne sauve un for intérieur qu’en le mettant en ‚moi‘, à part moi, dehors. „(Derrida.)“ [Maurice Blanchot: L’écriture du désastre, Paris: Gallimard 1981, p. 206; Hervorhebungen im Ori‐ ginal. L’écriture du désastre ist im Folgenden mit der Sigle ED abgekürzt]. Schließlich sei noch anzumerken, dass im 2. Kapitel von TO1 der „for intérieur“ als solcher wörtlich genannt ist [TO1: 32], wohingegen TO2 die direkte Nennung eines solchen „for inté‐ rieur“ nicht mehr vollzieht, sondern in der Tilgung der Nennung performativ verbirgt. Um die Krypta als raum-zeitliches Gefüge in Hinblick auf die Tiefenerfahrung von Thomas im 2. Kapitel von TO 2 zu beschreiben, muss die Vorstellung der Krypta jedoch von der rein psychoanalytischen gelöst und in Richtung auf das hin gedacht werden, was Derrida in seinem, der Cryptonymie vorangestellten, Vorwort „Fors“ 25 beschreibt. Er geht darin gewissermaßen tiefer in die Topik der Krypta hinein und legt Verbindungen zu ihrem Ort-Sein zwischen Natur und Fremdkörper frei, indem er sie als verräumlichte différance liest und ihren me‐ taphorischen Ausdruck zurückbezieht auf die eigentliche architektonische Her‐ kunft als eine unter dem Altar befindliche Grab- oder Reliquienkammer, die aus einem System von Druck und Gegendruck besteht und daraus ihre ganz eigene Stabilität entfaltet. Auch das Moment der Gewalt als ein konstitutives Grün‐ dungsmoment ist in der Krypta somit vorhanden, nämlich als stumme Gewalt des Gegendrucks des Verbergens. Die Wand der Höhle, die Wand der Krypta Platons Höhle verfügt über zwei Wände, eine natürliche Höhlenwand und eine künstliche Trennwand. Hinter der künstlichen werden Gegenstände vorbei ge‐ tragen, von denen die Eingeschlossenen lediglich die Schattenwürfe auf der ihnen sichtbaren natürlichen Höhlenwand erblicken können. Ihr Wirklichkeits‐ bezug besteht in der Auslegung der Schattenzeichen auf der Wand. In der Krypta, wie Derrida sie liest, gibt es ein Verbergungssystem von unterschiedlichsten Trennwänden, Mauern und Abschirmungen, wodurch das Ich zu einem zer‐ sprungenen Symbol wird: La place-forte cryptique protège ce rebelle en provoquant la fracture symbolique. Elle brise le symbole en fragments anguleux, aménage des cloisons internes (intra‐ symboliques), des cavités, des enfoncements, des couloirs, des chicanes, des meurt‐ 2. Kryptologie - Der Weg in den Ungrund 76 <?page no="79"?> 26 Ibid., pp. 22-23. 27 Dies ließe sich als Master-Passwort des Traumas bezeichnen, welches tief im Inneresten der Krypta verborgen ist. 28 Nicolas Abraham und Maria Torok: „Deuil ou mélancholie - Introjecter, incorporer“, in: iid.: L’écorce et le noyau, Paris: Aubier Montaigne 1987, pp. 258-275, hier p. 268. Derrida spricht auch von „Demetaphorisierung“ und „Übermetaphorisierung“. [Derrida 1976: 44]. rières, des fortifications escarpées. Toujours des ‚anfractuosités‘ puisqu’elles sont l’effet de cassures : telles sont les ‚parois de la crypte‘. Dès lors la muraille à traverser ne sera pas seulement celle de l’Inconscient […] mais la paroi anguleuse à l’intérieur du Moi. 26 Das Ich, nicht mehr Herr im Haus, vermag die Innenseiten der Kryptawände nicht zu sehen und folglich genauso wenig zu deuten. Sie bleiben dem Ich ver‐ borgen und werden nicht Teil der Semiose. Die Krypta wird errichtet, kann je‐ doch nicht betreten werden. Das Wesentliche der Krypta ist dieser komplizierte Verbergungsmechanismus, an und in dem eine eindeutige Verortung scheitert, bei dem aber gleichzeitig strikte Trennwände existieren. Die Krypta als Anti-Metapher Zum Schutze der in der Krypta eingeschlossenen Objekte, welche sich ihrerseits um ein Ur-Wort oder Tabu-Wort 27 herum lagern, müssen alle Verbindungen ge‐ kappt werden - nicht nur die der Erinnerung, sondern auch metaphorische Be‐ züge, durch die ein Eindringen in die Krypta möglich wäre. Wie schon erwähnt, drängt es aber die Kryptaobjekte immer wieder an die Oberfläche. Dieses kryp‐ tische Sprechen bezeichnen Abraham und Torok als eine „Figur der aktiven Zerstörung der Bildhaftigkeit“ und schlagen vor, es als „Antimetapher“ zu lesen. 28 Sie unterstreichen dabei, dass das Ziel des kryptischen Sprechens nicht sei, mit dem Literalsinn der Worte zu agieren, sondern auf jeder Ebene ihre ver‐ bindende, übertragende Kraft zu zersetzen. Die Krypta als Figur des Bruches mit jedem referentiellen Grund der Eigentlichkeit und der radikalen Verschiebung wäre in dieser Lesart, die auch Derrida in seinem Vorwort in Teilen verfolgt, der Ungrund des Verstehens, auf Basis dessen jede Deutung ins Wanken gerät. Dieses Wanken erfasst auch die Handlungskontrolle des Kryptophoren (Träger der Krypta), denn die Krypta erfüllt ihre Funktion der Erhaltung der Subjekts‐ tabilität nur scheinbar: Die eingeschlossenen Wörter dringen unkontrollierbar aus ihrem Ungrund nach oben und walten nach ihrer eigenen Ordnung, der das Ich hilflos gegenüber steht. Die ursprüngliche Schutzfunktion der hermetischen Abriegelung einer übergroßen Trauer wird über kurz oder lang zur Gefahr für das Subjekt, dessen Wesenskern von fremden Gestalten besetzt ist. Das Beson‐ 2.3 Krypta (Phantasma und Verschiebung) 77 <?page no="80"?> 29 Ein Allosem ist eine kontextabhängige Bedeutungsvariante eines Semems. 30 Derrida 1976: 62. 31 Abraham / Torok 1976: 116. 32 „C’est en raison de la procédure anguleuse et zigzagante de cette cryptonymie, et surtout parce que les trajets allosémiques, dans cette étrange course de relais passent le témoin à des associations non-sémantiques, à des contaminations purement phonétiques; c’est parce que celles-ci constituent d’elles-mêmes les mots ou les fragments de mot en corps ou en chose sonore et / ou visuelle, que les auteurs du Verbier hésitent à parler ici de déplacement métonymique ou même à se fier au répertoire des rhétoriques.“ [Derrida 1976: 63]. dere liegt darin, dass diese Ketten des Krypta-Sprechens nicht mehr lediglich auf semantischen Verknüpfungen beruhen, sondern sich andere, verstecktere Kontakte der sprachlichen Fortpflanzung suchen, um das Ur-Wort der Krypta zu verdecken. Die Assoziationen, aufgrund derer Kontiguitätsketten gebildet werden, speisen sich also aus einer lexikologischen Quelle, die von der Ebene der Sache sowie des Wortes zu unterscheiden ist. Sie sind unberechenbarer und beweglicher als übliche Assoziationen, da sie quer durch die Ordnungsstruk‐ turen der Sprache schießen (man könnte auch mit Gilles Deleuze sagen: Trans‐ versalen bilden). Eine von den Autoren dabei vielfältig am Wolfsmann diagnos‐ tizierte Struktur ist das Verfahren, ein Wort durch ein Synonym bzw. Rebus eines Allosems 29 zu ersetzen. Bei dieser „kryptonymischen Transkription“ 30 handelt es sich folglich nicht mehr um einfache Ersetzungsvorgänge, sondern um „Verschiebungen zweiten Grades“ 31 , d. h. eine stark erweiterte assoziative Anschlussfähigkeit auf der pho‐ netischen Ebene. Derrida formuliert dies im Bild eines „befremdlichen Staffel‐ laufs“ 32 , bei dem der Stab nicht an eindeutig vorhersehbare und zurück verfolg‐ bare Anschlusspartner übergeben wird und somit die Regeln des Spiels nicht klar erkennbar sind. Die Objekte der Krypta zeigen sich, sie tun dies jedoch verschlüsselt. Ihnen auf die Schliche zu kommen hieße, mit dem Sichtbaren (dem Diskursiven) anzufangen, um zum Unsichtbaren zu gelangen (dem Ur-Wort, dem Ur-Trauma). 2.4 Thomas’ Gang in die Krypta Wenn sich Thomas im 2. Kapitel nun ein Raum eröffnet, den man als Krypta lesen kann, ist, so meine These, das Betreten der Krypta nicht wie das physische Betreten eines Raumes zu verstehen, sondern eher als ein Sich-Aussetzen einer Erfahrung all dessen, was die Stabilität gefährdet, d. h. einer Begegnung mit all den Wörtern, die aus dem Diskurs ausgeschlossen sind. In die Krypta zu steigen, 2. Kryptologie - Der Weg in den Ungrund 78 <?page no="81"?> 33 Zum Konzept des Außen bei Blanchot cf. auch Michel Foucault 1966: 518-539. 34 Derrida 1976: 63. heißt den Weg ins Außen zu beschreiten und auf der Suche nach dem Ausweg zu merken, dass das Außen ein Außen im Innen ist, also ein Außen, was die Innerlichkeit von innen zersetzt, weil es immer anders ist und sein wird als jedes mögliche Innen. 33 Dies manifestiert sich auf der topologischen Ebene in Gestalt diverser Grenzfiguren, die den Raum teilen, verwinkeln und unpassierbar ma‐ chen. Die unterschiedlichen Mauerwerke, Trennwände und Grenzen, die Thomas berührt, zeigen dies sehr plastisch. Es sind Grenzfiguren, die - wie be‐ reits erwähnt - keinen konstanten Raum schachtelartig umrahmen, sondern lediglich augenblickliche subjektive Wahrnehmungsentwürfe unterschiedlicher Grenzen darstellen, die durch die Erzählinstanz vermittelt werden. Die Krypta formt so einen Zwischenort zwischen dem Natürlichen und dem Gemachten, was für Thomas (und den Leser) vor allem eine Problematisierung der Räum‐ lichkeit über die Wahrnehmbarkeit impliziert. Man weiß nicht mehr, ob etwas existiert, ob es in Thomas oder außerhalb von ihm da ist oder in wie weit seine Wahrnehmung die räumlichen Gegebenheiten manipuliert und verformt. Die Krypta schreibt sich in den Raum ein und bildet somit ein abgeschottetes Außen im Innen. Dabei, und das ist zentral, verdeckt sie die Differenz zwischen sich und dem natürlichen Raum, in dem sie sich mit ihren Haltekräften aus Wider‐ ständen errichtet hat. Sie bildet ihre eigene A-Topik, sprich in ihr gelten andere Regeln des Verstehens und der Interpretation, die sich der Logik des Subjekts entziehen und zur Erhaltung dieses Nicht-Ortes dienen. Die Sprache der Krypta - ein „befremdlicher Staffellauf “ der auf Entdeutung abgerichteten As‐ soziationen 34 - bedeutet mit Blick auf Blanchots Kapitel ein performatives Durchspielen der Gewaltsamkeit der Sprache in ihren Repräsentationsbewe‐ gungen, in ihrer gestalterischen Kraft, die sich jedoch mittels der Ersetzungs‐ bewegungen entstaltet oder entdeutet und somit in einem negativen Schöp‐ fungsakt ihre Hervorbringungen unaufhaltsam überschreibt. Was dennoch lesbar bleibt, sind die Spuren dieser Vorgänge. Da es mir - anders als den Psy‐ choanalytikern Abraham und Torok - bei meiner Lektüre nicht um Heilung geht, sondern um das Nachzeichnen der Textbewegungen, möchte ich die schon begonnene Spur weiter verfolgen und an ihr exemplarisch zeigen, wie die Grün‐ dungsproblematik im Text verhandelt wird. Nacht-Sehen Thomas, der im Kryptaraum weiter fortschreitet - was bedeutet, dass er sich gerade nicht linear nach vorne bewegt, sondern physisch wie gedanklich durch 2.4 Thomas’ Gang in die Krypta 79 <?page no="82"?> 35 TO2: 16. 36 TO2: 17. seine Negation vorangetrieben wird - gelangt in einer Verdopplungsbewegung des Ortes an einen neuen Ort, der sich nicht vom vorherigen unterscheidet. In einem ereignishaften Augenblick ändert Thomas seine Wahrnehmung ein wenig, schwenkt vom Fortschreiten bzw. Starren zum Blicken. Dies eröffnet das Gewahrwerden der Nacht. A cet instant, Thomas commit l’imprudence de jeter un regard autour de lui. La nuit était plus sombre et plus pénible qu’il ne pouvait s’y attendre. L’obscurité submergeait tout, il n’y avait aucun espoir d’en traverser les ombres, mais on en atteignait la réalité dans une relation dont l’intimité était bouleversante. Sa première observation fut qu’il pouvait encore se servir de son corps, en particulier de ses yeux; ce n’était pas qu’il vît quelque chose, mais ce qu’il regardait, à la longue le mettait en rapport avec une masse nocturne qu’il percevait vaguement comme étant lui-même et dans laquelle il baignait. 35 Die Nacht zeigt sich in ihrer Omnipräsenz der Dunkelheit weitaus dunkler und schmerzhafter als gedacht. Das Vordringen zur Realität der Nacht geschieht über den Schmerz und die Dunkelheit. Je dunkler die Nacht wird, desto intensiver ist auch die Nähe zwischen Thomas und ihr bzw. ihren Repräsentationen. Thomas beobachtet, dass er nach wie vor mittels seines Bewusstseins Zugriff auf seinen Körper, insbesondere auf die Augen, hat. Er kann nicht sehen, aber über die Augen mit seiner Umgebung in Verbindung treten und über den Blick eine Be‐ rührung herbeiführen. Dabei wird zwischen „voir“, „regarder“ und „percevoir“ unterschieden: Nicht sehend, setzt ihn das Betrachtete mit einer „masse noc‐ turne“ über das Betrachten (regarder) in Verbindung, die er als sich selbst wahr‐ nimmt (percevoir) und in der er schwimmt. In einem Akt der Immersion kommt es zur Ununterscheidbarkeit zwischen dem Betrachter und der nächtlichen Masse. „[E]n dehors de lui se trouvait quelque chose de semblable à sa propre pensée que son regard ou sa main pourrait toucher.“ 36 Außerhalb von ihm gibt es etwas, eine Art Gedankenverkörperung, die er über den Blick oder die Hand taktil greifen kann. Eine Möglichkeit wäre, dieses Außerhalb schlichtweg als Realität zu bezeichnen, die nicht komplett deckungsgleich mit seinen Gedanken ist, ihnen jedoch gleicht, da sie, konstruktivistisch betrachtet, als Realität erst durch seinen Blick oder durch seine Berührung entsteht. Die Frage wäre hier, wie es um die anderen Sinneswahrnehmungen und ihren Stellenwert steht. Im zitierten Text gibt es jemanden (den man vielleicht als Thomas bezeichnen könnte) und etwas außerhalb von ihm, was in einer Beziehung zu ihm steht. Es 2. Kryptologie - Der Weg in den Ungrund 80 <?page no="83"?> 37 TO2: 17. 38 TO1 unterscheidet sich hier an einer Stelle von TO2. In seiner ersten Version des Textes schreibt Blanchot: „[…] plus terrible que n’importe quelle autre nuit […]“ (TO1: S. 33). In seiner früheren Fassung ist zur Kontrastierung der absoluten Nacht noch ein autre eingefügt. Dieses autre meint aber nicht das Konzept der ‚autre‘ nuit, was Blanchot in L’espace littéraire entwickeln wird, sondern ganz im Gegenteil die Verdeutlichung der abzählbaren, begreifbaren Nächte. Die radikale Nacht ist schrecklicher als jede andere vorstellbare Nacht. Die Tatsache dass Blanchot in TO2 das autre weglässt, würde ich als Beweis für die Entwicklung seiner Denkfigur der ‚autre‘ nuit lesen, von der er nicht will, dass sie an dieser Stelle verwechselt wird mit den diversen Formen erster Nächte. Ist sie doch gerade durch ihre Absenz gekennzeichnet, die lediglich Spuren hinterlässt. In aller Konsequenz heißt das auch, dass selbst die Signifikantenkette ‚autre nuit‘ nicht mehr direkt lesbar sein kann. 39 TO2: 17. ist hier von einer gewissen Innen-Außen-Differenz die Rede, wenngleich über eine Ähnlichkeitsbeziehung von Innen und Außen die Differenz sogleich wieder porös gemacht wird. Die Wunde des Denkens als Öffnung Diese Porösität nimmt textuell die Gestalt der Wunde an. Dies passiert durch einen zweifachen Bruch: einerseits durch einen Erzählerkommentar, der das zuvor geschilderte Differenzdenken als „rêverie répugnante“ 37 abstempelt, um dann andererseits über eine syntagmatische Wiederholung das Bild der sich verdunkelnden Nacht nochmals zu überschreiben. Als trace führt die Über‐ schreibung in die Krypta der anderen Nacht, in „la nuit même“: „Bientôt, la nuit lui parut plus sombre, plus terrible que n’importe quelle nuit 38 , comme si elle était réellement sortie d’une blessure de la pensée qui ne se pensait plus, de la pensée prise ironiquement comme objet par autre chose que la pensée. C’était la nuit même.“ 39 Das Denken versetzt sich hier über die Nacht eine Wunde, die über seine Differenzen von Innen und Außen hinausgeht und die Nacht nicht mehr als objektiv benennbare Situierung zulässt. Die zuvor repräsentierte Nacht tritt über die Wunde in Thomas und ins Denken ein, um das Denken nicht mehr im Reflektierenden zu belassen, sondern es körperlich und radikal nächtlich werden zu lassen. Das entscheidende Syntagma ist die Verbindung zwischen „terrible“ und der Virtualisierung der Nacht, die als Negation jedweder Nacht zur Nacht selbst übergeht. Man sollte hier „plus terrible que n’importe quelle nuit“ sehr wörtlich lesen, um den Übergang von der Nacht zur anderen Nacht transparent zu machen. Literal gelesen ereignet sich ein Ebenensprung von be‐ zeichenbarer und differenzierbarer Nacht, von „quelle nuit“ zur virtuellen Nacht der Nacht, für die die Aktualisierung keine Rolle spielt: „n’importe quelle nuit“, also zur „nuit même“. 2.4 Thomas’ Gang in die Krypta 81 <?page no="84"?> 40 TO2: 17. 41 TO2: 17-18. 42 TO2: 18. Der Wald im Auge In der absoluten Dunkelheit geschieht das Wahrnehmen der Dunkelheit aus‐ schließlich über das Auge, das zur allumfassenden Oberfläche transformiert, auf der es keine Distinktionen mehr gibt, da die Nacht jedes Unterscheiden ausge‐ löscht hat. Das Auge wird zum Horizont und in einer mise en abyme kippt die Dunkelheit ins Schwarze der Pupille bzw. ins Zentrum der Nacht. In diesem leeren Zentrum ist die Sehfähigkeit als radikales Nicht-Sehen verankert: Son œil, inutile pour voir, prenait des proportions extraordinaires, se développait d’une manière démesurée et, s’étendant sur l’horizon, laissait la nuit pénétrer en son centre pour en recevoir le jour. Par ce vide, c’était donc le regard et l’objet du regard qui se mélaient. Non seulement cet œil qui ne voyait rien appréhendait quelque chose, mais il appréhendait la cause de sa vision. Il voyait comme objet ce qui faisait qu’il ne voyait pas. 40 Ein zentrales Theorem der Phänomenologie, der blinde Fleck (= Pupille), eine Prämisse des Sehens, scheint mit in dieses Bild eingearbeitet. In diesem blinden Fleck wohnt die Möglichkeit des Empfangens des Tages. Der Tag bleibt aber an dieser Stelle reine Potentialität, d. h. er erscheint nicht. In einer paradoxal wir‐ kenden Figur nimmt das Auge seinen eigenen Erkenntnisgrund wahr. Die Ur‐ sache des Sehens ist das Nicht-Sehen, mehr noch: „Il voyait comme objet ce qui faisait qu’il ne voyait pas.“ 41 Das Dunkle wird in einer Weise objektiviert, die es nicht mehr zu einem Objekt des Sehens macht, das heißt, Sehen und Gesehenes trennt. Das Nicht-Sehen als Objekt tritt in der nächsten Textpassage gleichsam physisch ins Auge, wodurch eine physische Präsenz des eigentlich nicht Reprä‐ sentierbaren entsteht. Diese Art der Auflösung einer objektivierenden Distanz des Blickes verdeut‐ licht sich kurz darauf über das Einnisten des ‚eigentlichen‘ Objekts des Blickes im Auge selbst. In einer Passage, die dann zu Fragen der Gewaltsamkeit der Repräsentation sowie ihrer metonymischen oder metaphorischen Verschie‐ bungen und Verdichtungen überleitet, ist es der nicht nur erinnerte Wald des Kapitelauftaktes, der Thomas gegen jede Evidenz als „corps étranger“, 42 als Fremdkörper, schmerzhaft ins Auge tritt. Wie das Nicht-Sehen zur Bedingung des Sehens wird, entpuppt sich diese physische Realität im Auge zum Aus‐ gangspunkt eines imaginären Sehens, dass das Eindringen hypothetisch in Ge‐ 2. Kryptologie - Der Weg in den Ungrund 82 <?page no="85"?> 43 Zur Rolle, die das glisser als Bewegung einer Transgression in Thomas l’Obscur spielt, siehe Kapitel 1.3. 44 Ich werde auf diese Erzählermarkierungen stetig Bezug nehmen und sie, kontextuell eingebunden, in ihren Facetten darstellen. Eine der markantesten Erscheinungen ist dabei die Formulierung „comme si“, der sich das Kapitel 11.2 widmet. 45 Platon schreibt, dass es sich um eine schwierige und lang andauernde Anpassungsphase handele. Mit Bezug auf das Sehen formuliert er, dass „[…] auf zwiefache Weise das Gesicht gestört sein kann, wenn man aus dem Licht in die Dunkelheit versetzt wird, und wenn aus der Dunkelheit in das Licht.“ [Platon 1994: 424 (518a)]. 46 Ibid., p. 422 (516e). stalt eines Mannes personifiziert, der in Thomas gleitet. 43 Zuvor ist es jedoch der Erzähler, der auf diskursiver Ebene unter anderem über die Verwendung des conditionnel du passé den Raum des Hypothetischen eröffnet: Durch diesen Ir‐ realis der Vergangenheit werden Sätze konstruiert, die Alternativen formu‐ lieren, welche aber zugleich negiert werden. 44 Während die Gefangenen Platons zumindest noch Schatten haben, die sie wahrnehmen, bleibt Thomas nur mehr das Sehen im Dunkeln, welches ein Sehen des Dunkeln ist. Seine (Selbst-)Erkenntnis erfolgt nicht über das Licht, sondern über Steigerungen der Dunkelheit (Wald, Nacht, Höhle, Krypta). Die am Ende des Höhlengleichnisses beim erneuten Abstieg des Erleuchteten erfol‐ gende Anpassung an das Höhlendunkel 45 geschieht im Falle von Thomas nicht. Fast scheint es so, als würde Blanchot Platons Bild der „Augen […] voll von Dunkelheit“ 46 wörtlich nehmen. Das Nicht(s)sehen als Grund des Sehens wird gesehen, woraus sich ein neuer Absolutismus des Wirklichen ergibt: Das Nicht(s)-Sehen wird zum Alles-Sehen (= unterschiedslosem Sehen). Der uner‐ trägliche Grund dieser Wirklichkeit scheint zu sein, dass es alle Möglichkeiten gibt. Der literarische Diskurs lässt diese Bedingung seiner Repräsentation, den Grund seiner Worte, immer wieder in sich selbst eintreten und setzt dabei die Unterscheidung zwischen Eigentlichem und Uneigentlichem ebenso aus wie die nach dem Grund und dem Be-/ Gegründeten. Der Grund ergibt sich radikal aus seiner Gründung im kryptischen Text. Doch dieser Grund ist Effekt seiner Mög‐ lichkeiten eröffnenden Grundlosigkeit. Der Wald in den Händen Über das Problem des Hypothetischen und des Imaginären hinaus wird anhand des Waldes in der Pupille bis zum Ende des Kapitels die Unerbittlichkeit von Repräsentation wortwörtlich mit Händen greifbar. Noch immer unter der Prä‐ misse des Nacht-Sehens, also eines Sehens, bei dem zwischen Körperwahrneh‐ mung und Blick nicht zu unterscheiden ist, greifen die Hände den Wald wieder auf: „Il n’avait d’attention que pour ses mains, occupées à reconnaître les êtres 2.4 Thomas’ Gang in die Krypta 83 <?page no="86"?> 47 TO2: 19. 48 TO2: 19. 49 TO2: 19. 50 „Le désir […] remontait maladroitement jusque dans la bouche comme un animal avalé vivant.“ [TO2: 19]. 51 TO2: 19. mêlés à lui dont elles discernaient partiellement le caractère, chien représenté par une oreille, oiseau remplaçant l’arbre sur lequel il chantait.“ 47 Indem der Wald einerseits nur noch durch ‚Hund‘, ‚Vogel‘ und ‚Baum‘ vertreten ist, andererseits diese Vertreter sich wiederum vertreten, nimmt der Prozess der Repräsentation abermals seinen Ausgang. Synekdochisch ‚repräsentiert‘ das Ohr einen (auf‐ grund des fehlenden Artikels) generischen Hund, metonymisch ersetzt ein wie‐ derum generischer Vogel den „arbre sur lequel il chantait“. 48 Neben der meto‐ nymischen Verschiebung kommt es zudem zu einer Verdichtung, die das Ohr des Hundes mit dem Gesang des Vogels überblendet - all dies innerhalb einer hochkomplexen chiastischen Struktur. Auf diesen Repräsentationen gründend, genauer noch auf der kreativen Prozessualität des Ersetzungsvorgangs selbst, setzt hier eine Imagination ein, deren abgründige Realität betont wird. So werden „villes entières“ konstruiert, die „villes réelles faites de vide“ sind. Der derart erschaffene Raum ersetzt Konzepte der (philosophiegeschichtlichen) Ver‐ gangenheit. Die Violenz des Repräsentationsvorgangs zeigt sich zunächst im Repräsen‐ tierten der „créatures roulant dans le sang et parfois déchirant les artères“. 49 Im darauf folgenden Übergang von der Angst zur Leiche wird sie jedoch im reprä‐ sentationslogischen Verhältnis von Angst, Leiche und Begehren auch als Erset‐ zungsvorgang an sich sichtbar. Angst und Begehren inkorporieren sich beide in der Leiche, die somit zur toten Personifikation wird. In einer schwerfälligen Aufstiegsbewegung bewegt sich die gestorbene Lust an die Grenze des Außen, um im Mund gleichsam als Laut oder Sprache zu erscheinen. 50 Von dort aus frisst sie sich in den Körper und sorgt letztlich für die Auslöschung der ganzen Ima‐ ginationsszene. Die Inkorporierung der Angst und des Begehrens erscheint dabei als bedrückende Belagerung des Körpers, bevor diese Körperlichkeit zu‐ rückgeführt wird auf die Wunde des Nacht-Gedankens. Denn es ist nun „sa pensée, confondue avec la nuit“, 51 die Thomas heimsucht und von außen ver‐ sucht, sich in den Körper zu inkorporieren und eine „union monstrueuse“ her‐ zustellen. Anzumerken sei, dass sich diese monströse Vereinigung auch sprach‐ lich im Personalpronomen „elle“ zeigt, bei dem unentscheidbar ist, ob es „la nuit“, „la pensée“ oder eben beides bezeichnet. Diese Figur einer kryptischen Selbst‐ fundierung bewirkt unter den Augenlidern einen „regard nécessaire“, welcher 2. Kryptologie - Der Weg in den Ungrund 84 <?page no="87"?> 52 TO2: 20. im Kuss zur furiosen Auslöschung des „visage“ führt. 52 Visage kann zweierlei meinen in diesem Kontext: zum einen Thomas’ Gesicht, dessen Oberflächen grotesk geöffnet werden, zum anderen aber das Gesicht (das Gesehene) der Imagination. Die Szenerie wird abgeräumt und entleert. Von der Krypta bleiben am Ende des Kapitels nur mehr die Spur (des Textes), ein paar versetzte Bäume und Thomas’ sinnloser, gedankenvoller Körper. 2.4 Thomas’ Gang in die Krypta 85 <?page no="88"?> 1 Emanuel Alloa: „Berührung. Entblößung - Von der Pathik der Bilder bei Maurice Blan‐ chot“, in: Kathrin Busch, Iris Därmann edd.: pathos - Konturen eines kulturwissenschaft‐ lichen Grundbegriffs, Bielefeld: transcript 2007, pp. 75-91, hier p. 75. 2 „Pourquoi la fascination? Voir suppose la distance, la décision séparatrice […] Voir sig‐ nifie que cette séparation est devenue cependant rencontre. Mais qu’arrive-t-il quand ce qu’on voit, quoique à distance, semble vous toucher par un contact saisissant, quand la manière de voir est une sorte de touche, quand voir est un contact à distance? “ [Mau‐ rice Blanchot: „La solitude essentielle“, in: EL, pp. 12-32, hier p. 28]. 3. Licht-Blick - Berührung des Anderen Das 3. Kapitel meiner Untersuchung steht im Zeichen des Blicks und der Wahr‐ nehmung. Es enthält ein separates Unterkapitel zur Wahrnehmungstheorie Maurice Merleau-Pontys, auf dessen Trennung von Auge und Blick auch andere Kapitel immer wieder Bezug nehmen werden. Zudem liegt mein Augenmerk auf der Frage der taktilen Wahrnehmung, die Blanchot mit Merleau-Ponty dem Sehen annähert, sofern dem Blick - wenngleich auf Entfernung - ein taktiles Abtasten des erblickten Objektes zugeschrieben wird. Zum einen bedarf das Sehen eines physischen (übertragen auch eines den‐ kerischen) Abstandes zwischen Betrachter und Betrachtetem, zum anderen überwindet das Sehen die Entfernung in einer Berührung auf Distanz. 1 Während das analytisch begreifende Sehen auf der Unterscheidung von Subjekt (Be‐ trachter) und Objekt (Betrachtetem) basiert, wird in Thomas l’Obscur das Be‐ greifen zum Ergriffen-Werden durch das Objekt, wodurch sich die Subjekt-Ob‐ jekt-Relation nicht nur verkehrt, sondern völlig in sich zusammenbricht. Basis des Sehens ist, wie die Kryptaerfahrung des 2. Kapitels gezeigt hat, das Nicht-Sehen - eine Schwärze oder Leere, in der es keine Möglichkeit zur Un‐ terscheidung gibt bzw. jeder Versuch einer Differenzierung an der Unsichtbar‐ keit scheitert. Auch wenn das analytische Sehen Trennungen vollzieht, besteht über jeden Blick potentiell die Gefahr der Gegenreaktion des Erblickten, z. B. in Form des Zurückblickens, Blendens oder des Entzuges. Diese Umkehrbewegung betitelt Blanchot in seinen theoretischen Schriften in L’espace littéraire als Fas‐ zination. 2 Sie bildet eine durchgängige Makrostruktur der Begegnung in Thomas l’Obscur. Auf einen in Bezug auf das Subjekt sehr bedrohlichen Aspekt der Fas‐ zination wird das 4. Kapitel näher eingehen. Das vorliegende Kapitel wendet sich der Faszination als Grundlage einer we‐ sentlich phänomenologisch geprägten Blicktheorie zu. Welche Rolle dieses Bli‐ cken für die Begegnung von Thomas mit der zweiten Figur - Anne - einnimmt, <?page no="89"?> 3 TO2: 21. 4 Zur Sprachentwicklung cf. insbesondere Michael Eggers: Texte, die alles sagen - Erzäh‐ lende Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts und Theorien der Stimme, in: Torsten Hahn, Erich Kleinschmidt, Nicolas Pethes edd.: Studien zur Kulturpoetik, Bd. 1, Würzburg: Kö‐ nigshausen & Neumann 2003, p. 181. 5 TO2: 21. soll unter anderem anhand ihres Eigennamens untersucht werden, nicht zuletzt, weil über die Aussprache des Eigennamens eine unmittelbare Verbindung oder Berührung möglich ist, die dem Sehen das Hören beifügt. Im Falle von Thomas wird sein Name über die Frage der Berührung mit seinem biblischen Namens‐ genossen, Thomas dem Ungläubigen, sowie dem Thomas der apokryphen Thomas-Schriften verknüpft. 3.1 Annäherung Das 3. Kapitel von TO 2 ist gerahmt durch den Eintritt Thomas’ in ein Hotel und dessen Speisesaal mit dem Ziel der Nahrungsaufnahme in Form eines Abend‐ essens zu Beginn des Kapitels und dem Verlassen dieses Gesellschaftsraums am Ende des Kapitels. Man erfährt, dass Thomas am Nachmittag schwimmen war, wodurch eine etwas genauere zeitliche Fixierung des Schwimmens im 1. Kapitel möglich ist und ein Bezug des 3. Kapitels zum 1. Kapitel hergestellt wird, welcher strukturell zusätzlich in der Bewegung des Eintritts und Austritts das Wasser mit dem geschlossenen Raum verschränkt. Thomas trägt die Einschreibung der anderen Nacht als Spur der Krypta-Er‐ fahrung in sich und erprobt aus dieser „nouvelle manière d’être“ heraus, wie die anderen Hotelgäste auf ihn reagieren. 3 Seine neue Art des Seins bedeutet, dass er, so meine These, in der (Wieder-)Annäherung an die (Sprach-)Gemeinschaft alle Phasen der frühkindlichen Entwicklung der Sprache durchleben muss. Die erste dieser Phasen ist der akustische Kontakt, d. h. das Hören von zunächst undifferenzierten Geräuschen, die noch nicht an ein Objekt gekoppelt werden können. 4 Nachdem Thomas einige Schritte in den Raum gewagt hat, konzen‐ triert er sich zunächst auf seine auditive Wahrnehmung mit dem Ziel, auf diese Weise mit der Umwelt in Kontakt zu treten. Dieses genaue Hinhören ist jedoch nicht auf ein Objekt bezogen, sondern intransitiv: „D’abord il prêta l’oreille; il y avait un bruit confus, grossier, qui tantôt s’élevait avec force, tantôt s’atténuait et devenait imperceptible […] c’était un bruit de conversation […].“ 5 Aus dem lärmend-chaotischen Rauschen filtert Thomas langsam verständliche Laut‐ ketten heraus, die eine weitere physische Annäherung seinerseits bewirken. 3.1 Annäherung 87 <?page no="90"?> 6 Cf. TO2: 21-22. 7 Poppenberg 1998: 86. Auf den agonalen Aspekt dieser Auffassung von Kommunikation wird das 4. Kapitel meiner Studie Bezug nehmen. 8 TO2: 23. Isotopisch ist das Feld der Kommunikation in Ausdrücken wie „conversation“, „langage“, „des mots très simples qu’on semblait choisir pour qu’il pût les com‐ prendre“, „interpeller“, „dire“, „On lui fit signe“, „invitation“, „On l’appela plus fort“, „entretien“ innerhalb weniger Zeilen unübersehbar realisiert. 6 Mit anderen Menschen in Verbindung zu treten, d. h. zu interagieren, ist alles andere als selbstverständlich für Thomas. Es ist vielmehr ein Akt der ständigen Überwin‐ dung, Rücknahme, Korrektur und des Versuchens, denn die Kommunikation bedeutet eine Begegnung mit dem Anderen und als solche auch eine mit der anderen Nacht, sofern diese „die Leere des Zwischen“ von Ich und Anderem ist. 7 Sofern sie dies ist, verschieben sich in ihr alle Verhältnisse permanent. Nähe ist nur durch Entfernung möglich, da allein die Distanz eine Selbstwahrneh‐ mung wie eine Fremdwahrnehmung ohne sofortige Aneignung des Anderen ermöglicht. Wie der Text im Weiteren vorführt, benötigt Thomas für die Möglichkeit einer Begegnung mit den anderen Menschen im Raum deren Bereitschaft, ihm offen und positiv entgegen zu treten, wenngleich er ihnen eine gewisse Hinterhältig‐ keit unterstellt, die sein Vertrauen zügelt. Zunächst einmal muss Raum ge‐ schaffen werden, der es ihm rein physisch ermöglicht, auf einem von einer be‐ tagten Dame verlassenen Stuhl Platz zu nehmen, um einen Ausgangspunkt der Kommunikation zu schaffen. Der leere Stuhl, den er sehr schnell besetzt, mar‐ kiert auf der Ebene des Sprachlichen eine Lücke in der symbolischen Ordnung, in die Thomas als Fremder eindringt. Im Zuge seiner Selbstverortung und Ori‐ entierung am Tische wird Thomas seiner direkten Tischnachbarin gewahr, die er fasziniert betrachtet, zu der er jedoch auch im weiteren Verlauf nichts sagen wird, da er einen leeren, begehrenden Blick ohne Stimme verkörpert. 3.2 Der leere Blick - Faszination Sein Betrachten ist einnehmend und invasiv. Thomas fixiert seine unmittelbare Tischgenossin, da diese von einem prächtigen Licht umgeben ist: „Il continua cependant à la fixer, car toute sa personne, éclairée d’une lumière superbe, l’attirait.“ 8 Es ist nicht klar, welcher Natur dieses Licht ist, ob es von einer Licht‐ quelle außerhalb der Tischnachbarin stammt oder ihrem Innerem entspringt. In jedem Fall bewirkt es, dass Thomas in den Sog der Anziehungskraft der Frau 3. Licht-Blick - Berührung des Anderen 88 <?page no="91"?> 9 „Mit dem ersten, von einem anderen verstandenen Signal an die Außenwelt setzt ein Prozess wachsender Sprachkompetenz beim Menschen ein, der diesen schließlich zum Teilnehmer einer Sprachgemeinschaft werden lässt.“ [Eggers 2003: 181] Das Signal Thomas’ wird jedoch gerade nicht verstanden und er in der Folge weiterhin nicht in die Sprachgemeinschaft aufgenommen. 10 TO2: 24. gerät und auf diese Weise durch seinen Blick an sie gebunden ist. Das Faszi‐ niertsein ist eine exklusive Bindung, die keine Störung von außen duldet, welche potenziell die Begegnung unterbrechen oder gefährden könnte. Als jemand schließlich wagt, über die - eine Reaktion provozierende - Benennung der Frau mit dem Namen Anne in die Relation zwischen ihr und Thomas einzugreifen, muss dieser handeln, um Schlimmeres zu verhindern. Sein mächtiger Schlag auf den Tisch verschreckt die anderen Hotelgäste nicht nur aufgrund der impliziten Gewalt, die in ihm verborgen ist, sondern auch bedingt durch den Verstoß gegen die Struktur der symbolischen Ordnung, in die Thomas Zutritt zu erlangen sucht. 9 Der Schlag ist als nichtsprachlicher Akt eine Gefährdung dieser Ord‐ nung, deren Zugänge sich als Konsequenz aus dem Übergriff verschließen und Thomas, der die andere Nacht erfahren hat, isolieren. Um aus dieser Einsamkeit und Kommunikationslosigkeit herauszukommen, greift Thomas zu einem, den Schlag noch steigernden, leeren, dabei alles und nichts fixierenden invasiven Blicken: C’est alors que Thomas, pour brusquer les choses, se mit à les dévisager tous, même ceux qui se détournaient, même ceux qui, lorsque leurs regards croisaient les siens, le fixaient à ce moment moins que jamais. Personne n’aurait été d’humeur à supporter longtemps ce regard vide, exigeant, qui réclamait on ne savait quoi et qui errait sans contrôle […]. 10 Das Bedrohliche dieses Blickes scheint seine unerklärbare Absicht zu sein, die im unkontrollierten Suchen nach einem Objekt das Subjekt als Ursprung des Blickes verschwinden lässt, sodass der Blick als die reine Aufforderung des Kontaktes im Raum ist. Beantwortet wird diese Aufforderung mit einem wei‐ teren Rückzug der anderen Gäste, was synekdochisch an Anne gezeigt wird. Ihr Verhältnis zu Thomas ist über die Lichtkonstellation dargestellt: So bildet sie für Thomas einen Lichtblick im Sinne der Hoffnung auf Nähe sowie einen Blick, der durch ihr Licht eine gewisse Sichtbarkeit in Form von Fühlbarkeit bekommt. Thomas scheint aus der Unsichtbarkeit heraus zu agieren und Anne in seinem Blick als Wahrnehmung (und nicht als Realität) erscheinen zu lassen. Wie die Wahrnehmungen in seinem Blick erscheinen, werden sie auch wieder ausge‐ löscht und in Unsichtbares verwandelt. Es ist daher davon auszugehen, dass es 3.2 Der leere Blick - Faszination 89 <?page no="92"?> 11 TO2: 25. 12 EL: 30. einen Nexus zwischen Thomas’ Blick und den äußerlichen Lichtverhältnissen gibt, denn simultan zu seinem Blicken beginnt alles dämmrig zu werden, sodass ebenfalls Annes faszinierender Glanz verschwindet. Was bleibt, ist die Faszina‐ tion, welche Thomas’ Blick umso mehr erfasst, als er in Annes inneres Knochen‐ phosphoreszieren eindringt. „En s’acharnant avec indécence dans sa contem‐ plation, l’on ne pouvait que s’enfoncer dans un sentiment de solitude où, si loin qu’on voulût aller, l’on se perdrait et continuerait à se perdre.“ 11 Die Vertiefung bewirkt keine irgendwie geartete Form der inneren Versen‐ kung, sondern ein der Einsamkeit unaufhörliches Ausgesetztsein. Sowohl der auffällige Wechsel von der Beschreibung Thomas’ in die neutrale Person des „on“ in diesem Abschnitt, als auch die versenkende Betrachtung, wie der Weg in die unendliche Einsamkeit, findet sich in Blanchots Essay „La solitude essen‐ tielle“ als Beschreibung der Faszination. Dort heißt es: Le regard est entraîné, absorbé dans un mouvement immobile et un fond sans profondeur. […] La fascination est le regard de la solitude. […] Ce milieu de la fasci‐ nation, où ce que l’on voit saisit la vue et la rend interminable, où le regard se fige en lumière, où la lumière est le luisant absolue de l’œil qu’on ne voit pas, qu’on ne cesse pourtant de voir […] lumière où l’on s’abîme, effrayante et attrayante. 12 Der faszinierte Blick wird von seinem Spiegelblick in die grundlose Tiefe der Einsamkeit gezogen, welche der Ursprung des Lichts wie des Begreifens ist, und erfährt dadurch sein eigenes nichtendes Moment, sofern er sich auf diese Weise als Urheber und Resultat des Lichts erfährt. Für das Subjekt hat dies eine Auf‐ lösung seiner Machtbefugnisse zur Konsequenz, die erkenntnistheoretisch da‐ rauf hinauslaufen, dass es nicht mehr als Instanz eines Ichs aufzutreten vermag, sondern sich auf ein unpersönliches „on“ zurückzieht, welches, nebenbei be‐ merkt, den Anderen in der Alternative des „on“ zum „nous“ als konstitutiven Bestandteil des Eigenen in sich beherbergt, ohne dabei zum Plural der 1. Person werden zu können. Thomas trägt, wie bereits festgestellt, die Spuren der verstörenden Tiefener‐ fahrung der ‚autre‘ nuit in sich. Diese Dunkelheit, deren Aspekte sich im Laufe des Textes stetig weiter entfalten, offenbart sich auch in seinem Beinamen: ‚l’Obscur‘. Vieles an und in ihm ist und bleibt dunkel bis unsichtbar. Jedes Licht, das ihm entspringt oder von ihm wahrgenommen wird, fußt auf dem verbor‐ genen dunklen Aspekt seiner Person. Im 3. Kapitel wird der Versuch einer Rück‐ kehr in die Menschenwelt unternommen, der jedoch deutlich macht, wie groß 3. Licht-Blick - Berührung des Anderen 90 <?page no="93"?> 13 Heidegger 12 1972: 52-57. die Entfernung zwischen ihm und dem Rest der Welt ist. Doch gerade diese Entfernung aufgrund der Erfahrung der Einsamkeit ist es, die den Blick und mit ihm eine andere Form des Weltzugangs erst möglich macht. Sein alles durch‐ dringender Blick erweist sich als nichtend, da er nicht nur Blick, sondern selbst eine Art Licht zu sein scheint, das der Dunkelheit jenseits der Subjektivität ent‐ springt. Thomas der Dunkle ist der, der die Dinge durch seinen Blick auftauchen lässt. Da Thomas jedoch kein Subjekt ist, sondern ein literarischer Gegenent‐ wurf zum Subjektdenken, verliert sich die Spur der Rückführung des Blickes auf einen Ursprung in der Dunkelheit. Thomas gibt einerseits als der Dunkle Dinge oder Personen zu erkennen, verwandelt sie jedoch andererseits auch wieder in Unsichtbares, indem der Blick schwenkt und keine Erinnerung an gerade Be‐ leuchtetes erzählt wird. Das Gesehene wird dadurch ausgelöscht. Von ihm er‐ fasst zu werden bedeutet Auflösung durch den Übergang in ein Ge‐ sehen-Werden, das im Falle der Faszination wieder auf den Blickenden zurückfällt. Im Zustand der Faszination verbinden sich Sehen und Berühren, d. h. der Se‐ hende wird durch das Angesehene, das er mit seinem Blick berührt, selbst be‐ rührt und begriffen. Das neutre, welches sich in der Faszination zeigt, kann Um‐ kehrungen der Blickrichtung bewirken oder auch eine Unentscheidbarkeit darüber provozieren, wer wen anblickt oder ob überhaupt noch gesagt werden kann, dass jemand und nicht etwas blickt. In der Faszination befinden sich Sub‐ jekt und Objekt in einem beziehungsverschiebenden Zwischenraum, dessen Pa‐ rallelen zu Maurice Merleau-Pontys Begriff der Zwischenleiblichkeit im nächsten Punkt aufgezeigt werden soll. 3.3 Zwischenleiblichkeit: Blicken und Berühren (Merleau-Ponty) Eine der Grundannahmen der Phänomenologie ist, dass der Mensch stets in irgendeiner Form eine Verbindung oder Kontakt mit der ihn umgebenden Welt hat. Martin Heidegger verwendet dafür den Begriff „In-der-Welt-sein“ 13 , Maurice Merleau-Ponty spricht in Anlehnung an Heidegger von einem „être-au-monde“, welches als „Zur-Welt-sein“ übersetzt werden kann und dem‐ nach über die Gerichtetheit des Seins und die damit verbundene Intentionalität 3.3 Zwischenleiblichkeit: Blicken und Berühren (Merleau-Ponty) 91 <?page no="94"?> 14 Maurice Merleau-Ponty: Phénoménologie de la perception, Paris: Gallimard 1945, p. 93. Stefan Günzel bemerkt, dass Merleau-Pontys Phänomenologie bei aller Betonung des Weltbezuges für die Geschehnisse ihres Erscheinungsjahres 1945 „merkwürdig blind geblieben, gleichsam weltlos“ sei und erklärt die Frühschriften wohlwollend als „Sehn‐ suchtsfiguren“ mit „kompensatorische[r] Funktion“. [Stefan Günzel / Christof Windgätter: „Leib / Raum - Das Unbewusste bei Merleau-Ponty“, in: Michael B. Buch‐ holz, Günter Gödde edd.: Das Unbewusste in aktuellen Diskursen - Anschlüsse, Bd. 2, Gießen: Psychosozial 2005, pp. 585-616 (= Hans-Jürgen Wirth ed.: Bibliothek der Psy‐ choanalyse)]. 15 Maurice Merleau-Ponty: Le visible et l’invisible, ed. Claude Lefort, Paris: Gallimard 1986, p. 24. 16 Der Begriff ‚Leib‘ ist nicht gleichzusetzen mit dem Körper, sondern ein bewusst ge‐ wählter Ausdruck zwischen Körper und Bewusstsein, d. h. als das, was Bewusstsein im Sinne einer Distanzierung oder Unterscheidung von mir und der Welt ermöglicht und das, was die vorgegebene Einheit des Subjekts mit der Welt bedeutet. [Cf. Barbara Becker: „Leiblichkeit und Kognition - Anmerkungen zum Programm der Kognitions‐ wissenschaften“, in: id.: Taktile Wahrnehmung - Phänomenologie der Nahsinne, edd. Sebastian Ostermann, Kristin Wenzel, München: Fink 2011, pp. 43-56, hier p. 47]. einen feinen Unterschied zu Heideggers Weltbezug aufweist. 14 Der Mensch ist in beiden Fällen weder isoliert von der Welt, noch von seiner Umgebung zu betrachten, denn als Gemisch aus Eigenem und Fremden steht seine körperliche wie geistige Geschlossenheit spätestens seit Edmund Husserl in Frage. Daraus folgt für Merleau-Ponty, dass die phänomenologische Reduktion als Weg zu einem sauberen und vorurteilsfreien Beginn der Reflexion niemals gänzlich ge‐ lingen kann, sofern eben das Eigene immer schon mit dem Fremden beweglich verbunden ist, was unsichtbare Kräfte impliziert, die das erkennende Subjekt nicht steuern kann. Merleau-Ponty betont in der Weiterführung von Husserls Denken, dass es neben dem Sichtbaren auch noch Unsichtbares gebe, das unsere Wahrnehmung und infolgedessen unsere Vernunft beeinflusse. Dieses Unsicht‐ bare oder „Unreflektierte“ ist das, was eigentlich das Sehen bedingt oder sogar steuert. Letzteres entspringt dem Leib als eine von vielen Formen der Wahr‐ nehmung. So schreibt er in seinem, aufgrund des plötzlichen Todes Fragment gebliebenen, Hauptwerk Le visible et l’invisible, dass „la perception ne naît pas n’importe où, qu’elle émerge dans le recès d’un corps […].“ 15 Die Beziehung des Menschen zur Welt umfasst weit mehr, als es das Denken im Verhältnis zu seinem Gegenstand auszudrücken fähig wäre. Sie ist durch konkrete Erfah‐ rungen geprägt, die sich nach Merleau-Ponty noch vor der Arbeit des Verstandes in den Leib einschreiben. Der Leib Merleau-Pontys Phänomenologie verknüpft im Ausgang vom Leib 16 (im Fran‐ zösischen corps propre = Eigen-Körper oder eigener Körper) die von der Subjek‐ 3. Licht-Blick - Berührung des Anderen 92 <?page no="95"?> 17 Becker 2011: 48. 18 In Le visible et l’invisible kritisiert Merleau-Ponty sein Frühwerk, welches von solch einer Bevorzugung des Leibes geprägt war. Aus dekonstruktivistischer Sicht erscheint eine derartige Überbetonung des bis dahin eher vernachlässigten Leibes mittels einer Herabsetzung des starken Subjekts durchaus nachvollziehbar, ebenso wie die spätere Relativierung einen notwendigen Schritt in der Neutralisierung der Machtverhältnisse innerhalb der Opposition ausdrückt. 19 Frank Vogelsang: Offene Wirklichkeit - Ansatz eines phänomenologischen Realismus nach Merleau-Ponty, Freiburg i. Br./ München: Karl Alber 2011, p. 172. 20 Merleau-Ponty 1986: 183. 21 Ibid., p. 318. tivität ausgehende Bewusstseinsphilosophie mit der Objektivität anstrebenden Naturwissenschaft, denn der Leib ist für ihn sowohl höchstsubjektive Inner‐ lichkeit (phänomenaler Leib) als auch eine von außen wahrnehmbare Materia‐ lität (objektiver Leib). „Der Leib hat damit einen Doppelcharakter und eine Zwi‐ schenstellung, die gleichermaßen eine Beziehung zur Welt als auch ein eigenes Erleben gewährleistet.“ 17 Auf diese Weise ist der Leib als Medium und Aus‐ gangspunkt Merleau-Pontys Versuch, den Subjekt-Objekt-Dualismus mit all seinen Semantisierungen zu unterlaufen. Chiasmus und Zwischenleiblichkeit In seinem Spätwerk findet Merleau-Ponty für diesen Zwischencharakter des Leibes den Begriff des Chiasmus, der die Reziprozität von Subjekt und Umwelt berücksichtigend dem Vorwurf einer ontologischen Hierarchisierung von Leib und Subjekt zu Gunsten des Ersteren entgegenzuwirken intendiert. 18 Auch be‐ wirkt die Beschreibung der Relation von Subjekt und Umwelt als Chiasmus, dass dieses Verhältnis nicht statisch oder dualistisch zu sehen ist, sondern in stetiger Bewegtheit durch wechselseitige Überkreuzungen und Überlagerungen: „Der Leib wird zu einem Ort der Überkreuzung von Beobachter und Beobach‐ tetem.“ 19 Merleau-Ponty formuliert diese Besonderheit des Leibes als „in‐ tercorporéité“ (Zwischenleiblichkeit). 20 Die Grenze zwischen Leib und Welt ist weniger als Begrenzung, denn als „surface de contact“ zu verstehen, d. h. als eine Oberfläche der Berührungen von Vertrautem und Fremdem, Sichtbarem und Unsichtbarem. 21 Für das wahrneh‐ mende Ich hat dies eine gewisse Gespaltenheit zur Folge. Es nimmt Dinge wahr und kann sich darüber hinaus beim Wahrnehmen wie von außen sehen, d. h. mit Niklas Luhmann gesprochen, die Position eines Beobachters zweiter Ordnung einnehmen, dabei aber naturgemäß nicht die eigene Leiblichkeit verlassen. Der Medienwissenschaftler Georg Christoph Tholen formuliert diese Problematik der Zwischenleiblichkeit als „Aufklaffen des Leibes in eine Nicht-Koinzidenz 3.3 Zwischenleiblichkeit: Blicken und Berühren (Merleau-Ponty) 93 <?page no="96"?> 22 Georg Christoph Tholen: Die Zäsur der Medien - Kulturphilosophische Konturen, Frank‐ furt a. M.: Suhrkamp 2002, p. 69. 23 Becker 2011: 50. 24 Merleau-Ponty 1986: 191. 25 Ibid., p. 182. 26 Das Fleisch hängt eng zusammen mit dem Begriff der Zwischenleiblichkeit, die sich in vielen Aspekten kaum von ihm unterscheiden lässt. Möglicherweise ist es kein Zufall, dass auch auf der Ebene der Definition eine geminderte Trennschärfe zwischen den Begrifflichkeiten vorherrscht und die Übergänge fließend sind. Zur Analogie der Be‐ griffe Fleisch (Merleau-Ponty) und Faszination (Blanchot) siehe: Jean-Luc Lannoy: Langage, perception, mouvement - Blanchot et Merleau-Ponty, Grenoble: Millon 2008, pp. 169-170. mit sich selbst“. 22 Dieser Blick auf sich selbst von außen ist nur möglich auf der Basis der eigenen Physis, die so eine Art „Vor-Ich“ oder auch „Selbstvorgege‐ benheit“ für das Subjekt bildet. 23 Man könnte sagen, dass Merleau-Ponty im Zuge seiner philosophischen Entwicklung des Leib-Begriffes das von Tholen be‐ schriebene Aufklaffen radikalisiert, sodass schließlich das vermittelnde ebenso wie das unterbrechende Moment des Leibes im Begriff des Fleisches seine Be‐ zeichnung findet. Selbstfindung und Erkenntnis sind nur im Prozess eines zu‐ mindest partiellen Selbstverlustes und in der Akzeptanz der Abhängigkeit vom Anderen möglich. Deshalb muss die Bindung an das Eigene, gespiegelt im Begriff des corps propre, ins Fleisch hinein erweitert oder zerfasert werden. Fleisch Das Fleisch dient Merleau-Ponty dazu, von Strömen zu sprechen, die Fassungen des Dualen oder Identischen überspülen. Es ist eine „[m]asse formateur de l’objet et du sujet […]“ 24 und demnach einerseits der Subjekt-Objekt-Unter‐ scheidung vorgängig, andererseits jedoch immer räumlich und zeitlich ge‐ bunden, sofern das Fleisch nötig ist, um Wahrnehmung stattfinden zu lassen. 25 Das Fleisch wird als ein anonymer vordinglicher Ermöglichungsgrund oder als eine Matrix konzipiert, in die sich die Dinge einschreiben. Auf der Ebene des Fleisches wird die Unterscheidung von Leib, Welt und Anderem in einer vor‐ gestalteten ontologischen Dimension reiner Übergänge dissoziiert. So be‐ trachtet rückt das, was Merleau-Ponty mit dem Fleisch zu fassen versucht, in der Unterlaufung dichotomischen Denkens in die Nähe der Faszination, aber auch der ‚autre‘ nuit Blanchots. 26 Das Fleisch wie die andere Nacht sind Exis‐ tenzialien, sofern mit ihnen der Annahme des Menschen als etwas sich For‐ mendes und Geformtes Folge geleistet wird. Im Vorgriff auf das 4. Kapitel von TO 2 lässt sich das dortige Eindringen des Wortes in Thomas als ein solcher Einschreibungsvorgang übersetzen, in dem 3. Licht-Blick - Berührung des Anderen 94 <?page no="97"?> 27 Sie stimmen hierin mit Sartres Auffassung des Blicks überein, teilen jedoch nicht die von Sartre damit verbundene intentionale Subjektivität hinter dem Blick (des Anderen, der mich zerstören will). [Cf. Anna Orlikowski: Merleau-Pontys Weg zur Welt der rohen Wahrnehmung, in: Bernhard Waldenfels ed.: Phänomenologische Untersuchungen, Bd. 29, München: Fink 2012, pp. 36-37]. 28 Wie bedrohlich diese Rückwirkungen sein können, zeige ich ihm Punkt 4.5 mit Hilfe von Roland Barthes’ Begriff des punctum. sich die Gewalt des Verstehens manifestiert, denn der Wille zum Verstehen des vor ihm liegenden Textes führt den lesenden Thomas über seinen Blick tief hi‐ nein in den Raum des Imaginären. Dieser Raum, so habe ich bereits angedeutet, ebnet alle hierarchischen Beziehungen ein und bewirkt den für Thomas so ge‐ fährlichen Aneignungsversuch durch die Wörter, die er in seiner Lektüre zu verstehen versuchte. In TO 2 ist es also der Text, der sich über die Textur ge‐ waltsam in Thomas’ Fleisch einprägt, wobei der Begriff des Fleisches hier so‐ wohl als Leiblichkeit oder Materialität als auch in der soeben aufgezeigten Lesart des späten Merleau-Pontys im Sinne einer Matrix gemeint ist. Bedingung des Einschreibungsprozesses ist der unsichtbar durch den Raum des Sichtbaren bre‐ chende Blick. Der phänomenologische Blick - Trennung von Auge und Blick Merleau-Ponty wie Blanchot denken den Blick als etwas Eigenständiges, d. h. als etwas Unsichtbares, das eine imaginäre Funktion hat, die nicht auf das se‐ hende Auge zurückgeführt werden muss. 27 Durch den Blick entsteht ein imagi‐ närer Raum, in dem es keine Hierarchien mehr gibt, wo sich folglich Sehender und Gesehenes treffen bzw. erst reziprok entstehen. Insofern muss der Begriff des Augen-Blicks hier an die Stelle des blickenden Auges als Einbruch des An‐ deren gesetzt werden. Sehen heißt demnach immer auch gesehen und begriffen werden, wobei hinzugefügt werden sollte, dass dies auch durch eine reine Pro‐ jektion geschehen kann und nicht notwendigerweise auf Personen beschränkt bleibt. Blanchot wie Merleau-Ponty denken den Blick als etwas theoretisch ‚von-allem-ausgehen-könnendes‘ Vorhandenes in der Welt. Er ist eine unsicht‐ bare Kraft, die Sichtbares bedingt, d. h. zum Erscheinen bringt. Blanchot hat dafür den Begriff der Faszination eingebracht, über den ich im Vorangegangen bezüglich der Beziehung von Thomas und Anne bereits reflek‐ tiert habe. Für den Betrachter hat dies zur Folge, dass er angesichts der Eigen‐ ständigkeit der Dinge oder Personen, die ihm im Blick nicht nur als Objekte entgegen treten, als sehendes Subjekt durch sie verformt wird. 28 Diese Verfor‐ mung hängt mit Merleau-Pontys Vorstellung des Sehens als gerichtetes Tasten mit dem Blick zusammen, welcher den Anderen braucht, um überhaupt Blick 3.3 Zwischenleiblichkeit: Blicken und Berühren (Merleau-Ponty) 95 <?page no="98"?> 29 Tholen 2002: 62. 30 Ibid., p. 61 sowie p. 63 (Fußnote Nr. 6). sein zu können. Die Antwort des Anderen auf meinen Blick (und das kann z. B. bedeuten, den Anderen als Instanz, die zurückblicken könnte, überhaupt zu be‐ greifen) ist, hinsichtlich seiner Stabilität und Geschlossenheit, ein gewaltsamer und bedrohlicher Akt für das sehende Subjekt. Als wirklich Anderer und nicht als Assimilierter bricht der Andere in das wahrnehmende Subjekt ohne große Vorankündigung ein. Der Andere birgt in sich das Wissen, dass das Ich niemals ohne den Anderen möglich wäre sowie das Wissen um die Konsequenz, dass der Zugang zum Sein in ganz unterschiedlicher Weise möglich ist. Über die re‐ ziproke Verbindung von Betrachter und Betrachtetem im Blick, der selbst un‐ sichtbar ist, weist Merleau-Ponty zusammen mit Jacques Lacan auf die „mediale Spaltung von Auge und Blick“ hin. 29 Innerhalb des „Dispositiv[s] des Sehens“ hat sich der Blick langsam vom „Solipsismus des Auges als monozentrischen Sehpunkt“ 30 gelöst und zu philosophisch-erkenntnistheoretischer Autonomie gefunden, deren literarische Ausprägung in Thomas l’Obscur wir am deut‐ lichsten in Form der zuvor beschriebenen Faszination wiedererkennen können. Zurückgeführt auf die Auflösung Annes unter Thomas’ Blick, wird dort die in jeder Anwesenheit unausweichlich vorhandene Abwesenheit durch den Blick ausformuliert, der beide in sich kreuzt. Das, was im Blick wahrgenommen wird, ist etwas zutiefst Imaginäres. Bedeutsam an der skizzierten Blickkonzeption ist die Differenz zu den meisten Wahrnehmungstheorien, da dort das Sehen einen Fernsinn darstellt, der ganz grundsätzlich von der taktilen Berührung, die die notwendige Distanz des Sehens mit dem berührenden Kontakt überschreitet, zu unterscheiden ist. Blanchot bringt vor dem Hintergrund Merleau-Pontys und dessen kurz skiz‐ zierten Formen der Zwischenleiblichkeit sowie des Fleisches, insbesondere aber mit der Auffassung des Blicks, die Berührung in den Blick. Visuelle Wahrneh‐ mung ist damit nicht mehr isolierter sinnlicher Zugang zur Welt. Vor allem aber wird mit der Illusion der Objektivität der visuellen Wahrnehmung gebrochen, da das Subjekt immer schon durch das gebannt und verändert wird, was in seinen Blick gerät. 3. Licht-Blick - Berührung des Anderen 96 <?page no="99"?> 31 Sebastian Ostermann / Kristin Wenzel: „Im unaufhörlichen Kontakt mit der Welt“, in: Barbara Becker: Taktile Wahrnehmung - Phänomenologie der Nahsinne, Sebastian Ostermann, Kristin Wenzel edd., München: Fink 2011, pp. 11-21. 32 Zur Entgrenzung des Subjekts über die Frage, die sich auf die Antwort hin öffnet, siehe Kapitel 7. 33 Ostermann / Wenzel 2011: 14. 34 Auf diesen blinden Fleck bin ich bereits im 2. Kapitel bzgl. der Pupille eingegangen. 35 Walter Benjamin: „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, in: id.: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, ed. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, pp. 140-157, hier p. 149. Taktile Berührung „Leibliche Affiziertheit, Berührung, jeder Blick - auch wenn er sich abwendet - ist immer als Reaktion auf eine fragende Atmosphäre, als ein Fluidum zwischen Selbst und Welt […] zu verstehen.“ 31 Wie man berührt oder berührt wird, ob man gesehen wird oder sieht, ob man physisch-taktil berührt wird oder selbst in dieser Form jemanden oder etwas berührt, macht einen Unterschied. In der taktilen Berührung ereignet sich eine kurzfristige Aufhebung der Grenze zwischen mir und dem anderen. Diese Ent‐ grenzung des Subjekts 32 beinhaltet aber auch eine Gefährdung der Subjekt‐ stabilität in ihrer Geschlossenheit. Gleichzeitig öffnet die taktile Berührung ge‐ genüber dem Sehen eine zusätzliche Absicherung des Wahrgenommenen ob seines Realitätsstatus. „Nur das ist für uns real, was wir auch tasten können. Denn das Sichtbare ist immer dem Verdacht ausgeliefert, bloßer Schein, bloße Simulation zu sein.“ 33 Ein anderes Problem des Sehens ist, dass es sich nicht selbst sehen kann, d. h. dass der Sehende alles Mögliche um sich herum zu sehen vermag, seinen eigenen Körper jedoch nur ausschnittsweise visuell wahr‐ nehmen wird. 34 Wie wir nun im letzten Punkt dieses Kapitels im Rahmen der Eigennamen sehen, oder besser: nachvollziehen werden, zweifelt der biblische ungläubige Thomas so lange an der Wahrhaftigkeit Jesu, bis er die Aufforderung erhält, mit seinem Finger die Wundmale zu berühren, auf dass dem blinden Fleck des Sehens und des Glaubens die taktile Überprüfung als Beweis hinzugefügt wird. 3.4 Eigennamen: Anne und Thomas Die Theorie des Eigennamens ist die Theorie von der Grenze der endlichen gegen die un‐ endliche Sprache. 35 Walter Benjamin 3.4 Eigennamen: Anne und Thomas 97 <?page no="100"?> 36 Cf. Peter Widmer: Der Eigenname und seine Buchstaben - Psychoanalytische und andere Untersuchungen, Bielefeld: transcript 2010, p. 15. 37 Cf. ibid., p. 16. 38 Poppenberg 1998: 23. Auch wenn Gerhard Poppenberg die Psychoanalyse nicht ins Spiel bringt, ließen sich zu seinen Überlegungen im Kontext des Eigennamens Verbindungen zum Moment des Eintritts ins Spiegelstadium ziehen. 39 In TO1 gibt es ein deutlich umfangreicheres Personeninventar, darunter die Figur Irène, die zwar TO2 nicht mehr namentlich erwähnt wird, dennoch in Form zerstückelter Bewusstseinsfetzen in Anne phantasmatisch wiederkehrt. Siehe dazu auch Kapitel 8.3. Eigennamen umfassen laut Peter Widmer erst seit dem Mittelalter und der Ent‐ stehung des Handwerkergewerbes die zwei Aspekte des Vornamens und Nach‐ namens. Der Nachname gab Auskunft über den Beruf. Davor sei es üblich ge‐ wesen, die Menschen nur mit einem Namen zu bezeichnen und gegebenenfalls einen spezifizierenden Namenszusatz zu addieren, falls zwei Menschen gleichen Namens im selben Umfeld lebten. 36 Mit der Zunahme der Berufstätigen, insbe‐ sondere in den sich herausbildenden Ballungszentren, bedurfte es einer weiteren Spezifizierung der Individuen z. B. über ihren Heimatort oder über bestimmte Attribute. Auf dieser Basis lösten sich in den nachkommenden Generationen, unter anderem durch phonetische Sprachveränderungen, langsam die Nach‐ namen von ihrer Herkunft über die Berufsbezeichnungen oder anderen zuge‐ ordneten Eigenschaften. 37 Gerhard Poppenberg formuliert die Problematik des Eigennamens als Mischung von Identifikation und „Identidefikation“. Letztere ist die Folge eines Entfremdungsprozesses durch die Selbstbezeichnung, die den Menschen in Bezeichnenden und Bezeichneten aufteilt, wodurch sich der Bruch zwischen Wort und Bezeichnetem nicht mehr rückgängig machen lässt. 38 Die Dimension der beiden Eigennamen Anne und Thomas (l’Obscur) soll im Folgenden herausgearbeitet werden, da sie als wiederkehrende Namen eine ge‐ wisse Zuordnung von beschriebenen Erfahrungen zu diesen beiden Figuren von TO 2 ermöglichen. Indessen zeigt sich gerade an ihren Namen, dass diese sich durch die Ersetzungen unter ihrem Deckmantel als leere, referenzlose Hüllen entpuppen. 39 Mein Ziel ist es, darzustellen, welche Problematik diese Referenzen in sich bergen: In Annes Fall sind sie problematisch aufgrund der Besonderheit der diskursiven, d. h. konkret der kursiven, Erscheinung ihres Namens im 3. Kapitel. Über den Namen Thomas lassen sich verschiedene Verbindungslinien in den Bibeltext, jedoch auch zum apokryphen Thomasevangelium, ziehen. Die Frage des Apokryphen bzw. der Pseudoepigraphie soll schließlich mit dem 2. Teil seines Eigennamens, der die Dunkelheit als Hauptmerkmal seiner Identität im Titel beider Versionen hervorhebt, verknüpft werden. Dieser 2. Teil ver‐ schwindet in beiden Fassungen in Thomas, dem 1. Teil des Namens, woraus die 3. Licht-Blick - Berührung des Anderen 98 <?page no="101"?> 40 TO2: 23. 41 Zur erstmaligen Namensnennung in TO1 siehe TO1: 51. Die Tunika kommt erstmals im 3. Kapitel von TO1 vor, siehe TO1: 39. 42 Jérémie Majorel: Maurice Blanchot - Herméneutique et déconstruction, in: Jeanyves Guérin ed.: Littérature de notre siècle, Paris: Honoré Champion 2013, p. 117. Frage nach dem Verhältnis des im Titel vorkommenden Eigennamens und dem im Text ausbuchstabierten Eigennamen resultiert. Anne Die etymologische Herkunft des Namens Anne ist der hebräische Name Hannah, der mit ‚Anmut‘ oder ‚Gnade‘ übersetzt werden kann. Am Rande be‐ merkt sei, dass Blanchot Medizinkurse mit Schwerpunkt auf Neurologie und Psychiatrie im Krankenhaus „Sainte-Anne“ belegte. Ob der kranken Anne in Thomas l’Obscur in ihrer Namensgebung diese Krankenhausumwelt hinzuzu‐ fügen ist, bleibt eine offene Frage. Anne ist neben Thomas die zweite ‚Protagonistin‘ von TO 2. Der Begriff ‚Pro‐ tagonistin‘ ist bewusst in einfache Anführungszeichen gesetzt, da ihr die an ihren Namen angefügten Ereignisse und Wahrnehmungen nur bedingt zuzu‐ rechnen sind. Auch wenn Anne in TO 2 mit zahlreichen Attributen belegt wird, erscheint keines davon als Hauptattribut. Sie erweisen sich in der Ersetzbarkeit als unbrauchbare Beschreibungen, was zur Folge hat, dass ihr Name auf nichts weiter als sie selbst verweist und damit eine untilgbare semantische Leerstelle erzeugt. Im 3. Kapitel von TO 2 wird Anne zum ersten Mal mit ihrem Namen genannt und als Figur in den Text gerufen. 40 Dieses frühe Erscheinen ihres Ei‐ gennamens unterscheidet TO 2 von TO 1, wo ihr Name erst im 5. Kapitel Er‐ wähnung findet und sich erst im 7. Kapitel mit der Figur Anne aus dem Hotelsaal verbindet, wodurch ihr Schleier zumindest partiell gelüftet wird. Im 3. Kapitel von TO 1 ist sie und ihre Identität von einer schimmernden und leuchtenden „tunique“ umhüllt, 41 wohingegen im 3. Kapitel von TO 2 diese Tunika gänzlich fehlt, die Jérémie Majorel in seinem 2013 erschienenen Buch zu Blanchots Ge‐ samtwerk als „synecdocque de la jeune fille“ liest. 42 In der Tat ist das synekdo‐ chische Spiel in TO 1 nicht zu übersehen. Es erstreckt sich über das 3., 5. 6. und 7. Kapitel und lässt dabei sowohl Thomas’ als auch Annes Identität im Dunklen, sofern insbesondere im 5. und 6. Kapitel von TO 1 die Figuren stark anonymisiert werden. Die Tunika ist der entscheidende Hinweis, der die „jeune fille“ schließ‐ lich mit dem Namen Anne in TO 1 verbindet. In TO 2 scheint Anne nicht mehr durch ihre leuchtende Tunika vor Thomas’ Blick und dem der anderen geschützt, denn sie wird, wie gesagt, bereits im 3. Kapitel mit einem Eigennamen versehen. 3.4 Eigennamen: Anne und Thomas 99 <?page no="102"?> 43 Majorel 2013: 119. 44 So werden in TO2 nicht zuletzt aufgrund der Kürzungen die Biographien der Protago‐ nisten gestrichen und mit ihnen Möglichkeiten der Verankerung einer Erzählposi‐ tionen. 45 TO2: 23. Von dem Mann, der in TO 1 im 5. Kapitel das Hotel betritt, ist anzunehmen, dass „er“ mit Thomas in Verbindung zu bringen ist, dessen Name jedoch erst zu Beginn des 7. Kapitels von TO 1 wieder genannt wird und davor eben nur in der dritten Person singular erscheint. Sicherheiten für die Identität von Thomas und „il“ gibt es dabei keine. Gerade diese sich im Hotel ereignende Episode, in der Figuren und Namen sich höchstens berühren, aber keine Vereinigung finden, fehlt in der zweiten Fassung von Thomas l’Obscur. Mit ihr streicht Blanchot zudem Analepsen, die die Geschehnisse des 3. Kapitels aus einer anderen Er‐ zählperspektive erneut erzählen und in dieser Überlagerung die Bezüge verun‐ klaren. Dennoch würde ich nicht wie Majorel folgern, dass in TO 2 deshalb die „Identifikation von Form und Objekt“ 43 weniger in der Schwebe gehalten wird als in TO 1, sondern vielmehr argumentieren, dass dies in TO 2 in anderer Weise getan wird: Das Verdecken und Verschieben von Bezügen ist in TO 2 schlichtweg omnipräsent und benötigt daher nicht die textuelle Erwähnung einer Tunika, die metaphorisch gleich einem Schleier gelüftet wird, um dann doch eine Iden‐ tität zwischen Figur und Name zuzulassen. 44 Nun soll noch einmal an die zuvor bereits thematisierte Textstelle des 3. Ka‐ pitels von TO 2 angeschlossen werden, in der Anne bei ihrem Namen gerufen wird und diese Stelle im Anschluss mit dem Ruf Annes nach Thomas am Ende des Kapitels verknüpfen. Annes Name ist als einziges Wort des 3. Kapitels von TO 2, aber auch als eines der wenigen des Buches (darunter im 4. Kapitel die Wörter Je und Il), kursiv geschrieben und erfährt infolgedessen eine besondere Betonung. Die Signifikantenkette „Anne“ hat einen anderen Status als die sie umgebenden Ketten. Mittels der Kursivierung wird der Blick auf die Buchstaben als solche gelenkt, um dann aber mittels einer in Klammern gesetzten Bemer‐ kung auf die phonetische Ebene zu verweisen: ‚Anne‘: „Ayant entendu quelqu’un l’appeler: Anne (d’une voix très aiguë), voyant qu’elle, aussitôt, levait la tête, prête à répondre, il se décida à agir et, de toutes ses forces, frappa sur la table.“ 45 Man liest nicht nur den Eigennamen, sondern erhält zudem einen Hinweis auf die Art und Weise, wie dieser Name klanglich formuliert wurde, nämlich „d’une voix très aiguë“, woraus sich wiederum ableiten lässt, dass Annes Name wahr‐ scheinlich von einer Frau ausgesprochen wurde, unter Umständen von der alten 3. Licht-Blick - Berührung des Anderen 100 <?page no="103"?> 46 Rainer Stillers äußert bzgl. dieser alten Dame die Vermutung, sie sei möglicherweise Annes Mutter, die im 10. Kapitel auch an ihrem Sterbebett sitzen wird. Auch verbindet er die sich erhebende Dame mit der Person, die im Anschluss Annes Namen ausspre‐ chen wird. [Stillers 1979: 134] Beides ist denkbar, jedoch nicht mit Sicherheit im Text verankerbar. Genau diese fehlende Zuordnung möchte ich als Ablösung der Stimme von der Figur lesen und daher in seiner konzeptionellen Anonymität und Unsicherheit belassen bzw. ernst nehmen. 47 Widmer schreibt bzgl. des Rufnamens von einem „umgekehrte[n] Spiegelstadium“. [Widmer 2010: 123]. 48 TO2: 25-26. Dame, die Thomas zuvor ihren Platz überlassen hat. 46 Thomas ist derjenige, der als Reaktion auf diesen Ruf nach Anne auf den Tisch schlägt, um weiteren Kon‐ takt anderer mit ihr zu verhindern. Das Auditive, das als versuchter Sprach‐ kontakt in seine Faszination bricht, transformiert Thomas’ Fixierung auf Anne von der Passivität des Blickens in eine Aktivität der physischen Bewegung, die dem sprachlichen Ruf eine andere hörbare Antwort entgegensetzt. Für Thomas umso bedrohlicher ist dieser Ruf, als er von Anne zurück auf diejenige verweist, die ihn ausgesprochen hat. Der Ruf nach Anne über ihren Eigennamen als Teil des Symbolischen droht Anne wieder in die symbolische Ordnung zurückzu‐ holen und damit Thomas zu entziehen. 47 Während Anne mit ihrem Namen ge‐ rufen wird und sich dadurch als etwas sprachlich Bezeichenbares manifestiert, verhält es sich mit dem Ruf nach Thomas anders: Zuerst glaubt Thomas, mit seinem Namen gerufen zu werden, ist sich dann aber dessen doch nicht mehr sicher: „Au même moment, la jeune fille l’appela du dehors d’une voix décidée, presque trop forte […]. Puis, lorsque le silence eut recouvert l’appel, il ne fut plus aussi sûr d’avoir réellement entendu son nom et il se contenta de prêter l’oreille en espérant qu’on l’appellerait à nouveau.“ 48 Die Unsicherheit Thomas’ ob dieses Rufes artikuliert der Text zusätzlich dadurch, dass der Ruf seines Na‐ mens nicht auf der Oberfläche der Textstruktur erscheint. Die Lautkette ‚Thomas‘ wird nicht entsprechend der Lautkette ‚Anne‘ als Teil der symboli‐ schen Ordnung ausgewiesen. In der ausbleibenden Wiederholung und Bestäti‐ gung des Rufes muss Thomas schließlich erkennen, dass die Distanz zwischen ihm und dem Rest der Welt schier unüberwindbar und eine Selbstvergewisse‐ rung unmöglich ist. Mit dieser Erkenntnis verlässt er im letzten Satz des Kapitels den Speisesaal. Im Anschluss an den Textkommentar soll im Folgenden durch eine Skizzie‐ rung des biblischen Thomas der konstitutiven Dunkelheit oder Verborgenheit von Thomas weiter nachgegangen werden. 3.4 Eigennamen: Anne und Thomas 101 <?page no="104"?> 49 Cf. Martina Janßen: „‚Evangelium des Zwillings? ‘ Das Thomasevangelium als Thomas-Schrift“, in: Jörg Frey, Enno Edzard, Jens Schröter edd.: Das Thomasevange‐ lium - Entstehung, Rezeption, Theologie, Berlin: de Gruyter 2008, pp. 222-248, hier p. 224 (= James D. G. Dunn, Carl R. Holladay et al. edd.: Beihefte zur Zeitschrift für die neu‐ testamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, Bd. 157)]. 50 Johannes 21, 2. 51 Auf die Bedeutung der Zahl 7 wird das 5. Kapitel meiner Untersuchung im Kontext verschiedener Wiedergängerfigurationen des Todes eingehen. 52 Johannes 14, 19: „Es ist noch eine kleine Zeit, dann wird mich die Welt nicht mehr sehen. Ihr aber sollt mich sehen, denn ich lebe, und ihr sollt auch leben.“ [Hervorhebungen im Luthertext]. 53 Cf. Janßen 2008: 225. Thomas, der Ungläubige - Johannesperikope Thomas war einer der 12 Apostel, die Jesus drei Jahre begleiteten. Sein Ge‐ burtsort ist unbekannt, gestorben ist er der Legende nach in Mailapur. Ihm wird eine starke Missionstätigkeit in Indien, Parthien und Edessa zugesprochen. 49 Sein Name kommt in allen vier Evangelien sowie der Apostelgeschichte vor. Im Johannesevangelium erscheint er dreimal mit dem Beinamen ‚didymos‘, da‐ runter im Nachtrag zum Evangelium, als sich Jesus am See Tiberias zum dritten Mal nach seiner Auferstehung offenbart: „Es waren beieinander Simon Petrus und Thomas, der Zwilling genannt wird, und Nathanael aus Kana in Galiläa und die Söhne des Zebedäus und zwei andere seiner Jünger.“ 50 Die zentrale Rolle von Thomas im zitierten Auszug aus Johannes 21,2 zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er direkt nach Petrus genannt wird. Denn die Reihenfolge der Namensnennung artikuliert in der Bibel oftmals die Nähe zu Jesus. Insgesamt wird Thomas im Johannesevangelium siebenmal genannt, 51 unter anderem im Bericht über das letzte Abendmahl, bei dem Jesus den Jüngern seine baldige Unsichtbarkeit für alle Menschen, außer seinen Jüngern, ankündigt. 52 Thomas galt in den griechischsprachigen Gemeinden der vorchristlichen Zeit nicht von Anfang an als Eigenname, sondern entwickelte sich vom Begriff zum Eigennamen. 53 Manche Bibelforscher gehen von einer Übersetzung des aramäi‐ schen Begriffs für Zwilling (th’oma) aus, der in ‚didymos‘ (δίδυμος) seine grie‐ chische Entsprechung hat und dessen Transliteration ins Griechische eben ‚Thomas‘ ist. Judith Hartenstein hinterfragt diese Annahme einer einfachen Übersetzung des Aramäischen und plädiert stattdessen für die Lesart von ‚didymos‘ als eigenständigen Namenszusatz, der dem Apostel Thomas angefügt wird und den Fokus auf seine Eigenschaft als Zwilling legt. Auch verweist sie darauf, dass der Namenszusatz ‚didymos‘ an drei zentralen Stellen im Johan‐ nesevangelium deutlich markiert vorkomme, jedoch nicht der typischen Rei‐ hung von Zweitnamen im Johannesevangelium folge. Auch als zusätzliche Cha‐ 3. Licht-Blick - Berührung des Anderen 102 <?page no="105"?> 54 Judith Hartenstein: Charakterisierung im Dialog - Die Darstellung von Maria Magdalena, Petrus, Thomas und der Mutter Jesu im Kontext anderer frühchristlicher Traditionen, in: Max Küchler, Peter Lampe, Gerd Theißen edd.: Novum Testamentum et Orbis Antiquus, Bd. 64, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, pp. 213-214. 55 Zum Nexus von Didymos - Judas - Thomas cf. Hartenstein 2007: pp. 230-251. 56 Michael Flieger: Das Thomasevangelium - Einleitung, Kommentar und Systematik, in: Joachim Gnilka ed.: Neutestamentliche Abhandlungen, Bd. 22, Münster: Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung 1991, p. 13. Neben dem Thomasevangelium fasst man das Tho‐ masbuch, die Thomasakten, die Thomasapokalypse sowie das Kindheitsevangelium des Thomas unter dem Begriff der „Thomas-Literatur“ zusammen. [Cf. Janßen 2008: 223. Zwischen den frühen griechischen Fragmenten und dem vermutlich aus dem Griechi‐ schen übersetzten koptischen Volltext des Thomasevangeliums gibt es zum Teil große Unterschiede, so dass man von Überarbeitungen und Veränderungen ausgeht, die da‐ zwischen vorgenommen wurden. Von den Kirchenvätern wurde es als Häresie abge‐ lehnt. 57 Cf. Flieger 1991: 15. Martina Janßen erwähnt, dass diese Verbindung vor allem in den Thomasakten nachweisbar sei und hebt außerdem hervor, dass es sich vermutlich we‐ niger um eine fleischliche, denn um eine „symbolische Zwillingsbruderschaft“ zwischen Jesus und Thomas handele. [ Janßen 2008: 228]. rakterisierung des Apostels ergebe er wenig Sinn, da außer von ihm von keinem anderen Thomas die Rede sei. 54 Thomas wird folglich ohne eine Begründung dieser Sonderstellung durch die Zusatzbezeichnung hervorgehoben, was den Schluss zulässt, dass seine Identität als bekannt vorausgesetzt wurde. Thomas - Thomasevangelium Auch im Prolog des Evangelium Thomae, einer aus 114 Logien (Sprucheinheiten) bestehenden koptischen bzw. griechischen pseudoepigraphischen Schrift, er‐ scheint ‚didymos‘ als Namenszusatz. Bemerkenswerterweise ist hier ‚Thomas‘ gerade kein Eigenname, sondern ein zweiter Namenszusatz zum Eigennamen ‚Judas‘. 55 So ist von „Didymos Judas Thomas“ als Empfänger und Zeuge der Worte Jesu die Rede: „Dies sind die geheimen Worte, die Jesus, der lebendig ist, sagte und die Didymos Judas Thomas aufgeschrieben hat.“ 56 Um den Namen Judas spannen sich also die beiden Begriffe für Zwilling im Griechischen und Aramäischen, die als Klammer erneut ein Zwillingspaar bilden, zumindest auf der Ebene des Signifikats. Thomas nimmt die Position eines Beinamens ein, der als erscheinender Zwilling auf seinen abwesenden Zwillingsbruder verweist. Dieser Zwilling ist kein anderer als Jesus, mit dem Thomas auch bezüglich seines Aussehens verglichen und unter anderem in den 1945 in der Wüste Nag Hammadi wieder entdeckten koptischen Funden als dessen wirklicher Bruder bezeichnet wurde. 57 Es handelt sich folglich um eine Art namentliche Selbst‐ verdopplung, die für die Bedeutungsfülle des Namens von Blanchots Protagonist 3.4 Eigennamen: Anne und Thomas 103 <?page no="106"?> 58 Womit nicht impliziert werden soll, dass Blanchot vor dem Erscheinen von TO2 Kenntnis dieser Funde haben konnte. Vielmehr geht es mir um eine Akzentuierung der These, im Namenszusatz ‚didymos‘ des Johannesevangeliums einen Verweis auf eine Zwillingsbeziehung zu sehen, mit der von der einen Hälfte des Zwillingspaares auf die andere verwiesen wird und sich die Beziehung der Doppelung im Namen wie im Na‐ menszusatz spiegelt. 59 Janßen 2008: 248. 60 Jean Paulhan nannte den knapp ein Jahr nach TO1 erschienen Roman Aminadab im Übrigen „un second Thomas“. [Paulhan zitiert nach Bident 1998: 204]. 61 Le Nouveau Petit Robert de la langue française - Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française, edd. Paul Robert, Josette Rey-Debove, Paris: Le Robert 2014, p. 1721. in Thomas l’Obscur wie auch in Aminadab nicht unerheblich erscheint. 58 Die Selbstverdopplung als innewohnender Teil des Namens dynamisiert den Namen, macht ihn zum „redenden Namen“ 59 und lässt ihn sich im Selbstbezug auf einen anderen abwesenden oder unausgesprochenen Zwilling hin über‐ schreiten. 60 Zwillinge stellen in ihrer Ähnlichkeit und Verwechslungsgefahr denjenigen, der sie zu unterscheiden sucht, vor das Problem der Unsicherheit und des Zwei‐ fels. Zwillinge können diese Unsicherheit ausnutzen und ein Verwirrspiel mit den Außenstehenden treiben. Der Leser eines Textes, der den Namen des Zwil‐ lings in beiden Textfassungen trägt, steht vor einem in sich potenzierten Problem der Deutung. So kann mit dem Erscheinen von TO 2 der Text TO 1 als Zwilling betrachtet werden, der koexistent zur 2. Fassung existiert. Thomas, l’Obscur enthält das Verborgene als Beiname des Eigennamens. Das Adjektiv obscur leitet sich aus dem lateinischen obscurus ab und umfasst im Französischen verschiedene Bedeutungen, darunter den Aspekt des Dunklen „enténébré“, „noir“, „sombre“, aber auch des schwer Zugänglichen oder schwer Verständli‐ chen in Form von „abscons“, „brumeux“, „mystérieux“ und „embrouillé“, des Verschwommenen oder Unklaren („vague“) sowie des Unbekannten oder Fremden („inconnu“). 61 Als nicht-sprechender Eigenname wäre der polyvalente Beiname ein Attribut, im Kontext des Zwillings verweist er zudem auf seinen Gegensatz, dessen Attribut das Helle, Klare oder Unverborgene sein müsste. Das Thomasevangelium gilt, wie die anderen Thomas-Schriften, als apokry‐ pher Text. Als solcher ist er vom Bibelkanon ausgeschlossen und bildet dessen Außerhalb. Das griechische Adjektiv apokryphos (verborgen, versteckt, nicht authentisch) entspricht dem lateinischen occultus. Die Nähe zum obscurus scheint mir nicht nur in klanglicher, sondern auch in semantischer Hinsicht zu bestehen, so dass eine weitere Deutung von Thomas l’Obscur als „Thomas, der Apokryphe“ denkbar wird. Dies würde zur Folge haben, dass es neben ihm noch 3. Licht-Blick - Berührung des Anderen 104 <?page no="107"?> 62 Die Identität zwischen dem Verfasser der Thomas-Schriften mit dem Apostel Thomas der Bibel ist umstritten. Die Autorschaft stellt über den Namen Thomas Didymos Ver‐ bindungen zum biblischen Thomas und insbesondere zu dem des Johannesevangeliums her. Als Thomas Didymos tritt er bezeichnenderweise in der Erweckung des Lazarus auf, die im 5. Kapitel von TO2 eine wichtige Rolle spielt, sowie in der bekannten Episode des Zweiflers Thomas an Jesu Auferstehung. 63 Siehe dazu die ausführliche Beschreibung und Deutung von Glenn W. Most [Glenn W. Most: Der Finger in der Wunde - Die Geschichte des ungläubigen Thomas, transtt. Kurt Neff, Regina Höschele, München: Beck 2007, pp. 30-49]. 64 Most 2007: 50 [Hervorhebung im Originaltext]. 65 Cf. Joh. 20, 19-24. einen authentischen Thomas gibt. Doch dies wird durch die Bedeutung von Thomas als Zwilling durchkreuzt, da zwei gleichwertige Versionen von Thomas l’Obscur existieren, die als ebenbürtige Zwillinge die Dichotomie von Wahrheit und Lüge bzw. die Dualität von Innen und Außen untergraben. Die beiden Ver‐ sionen bilden über die Bedeutung des Verbes apokryptein (verbergen, verste‐ cken) eine doppelte Kryptierung, deren Spur im Titel Thomas l’Obscur verborgen ist. Diese Überschreitung des anwesenden und ausgesprochenen Namen Thomas, der als Zwilling auf seinen unsichtbaren Bruder Jesus und dessen ver‐ borgene Botschaft verweist, ist neben Jesus auch hinsichtlich seiner Namens‐ identität mit dem Apostel Thomas untersucht worden. 62 Johannes-Evangelium Jesu Auferstehung nach der Kreuzigung stellt den Glauben seiner Jünger auf eine harte Probe. In den drei synoptischen Evangelien (Markus, Matthäus, Lukas) finden sich unterschiedliche Deutungsversuche des Erkennens des gleichzeitig geistig wie fleischlich wiederauferstandenen Jesus durch die Jünger. 63 Im Evangelium des Johannes gipfelt schließlich der Konflikt der Be‐ zeugung Jesu in einer Bündelung der bei den Synoptikern bereits aufgeworfenen Glaubensproblematik in Form einer Entscheidung zwischen „sehen und glauben“. 64 Man blicke dazu in die entsprechende Stelle aus dem 2. Teil des Johannesevangeliums, in der Jesus seinen Jüngern (zunächst ohne Thomas, dessen anfängliche Abwesenheit zwar betont, jedoch nicht expliziert wird) er‐ scheint und seine Wundmale an den Händen sowie an der Seite als Authentifi‐ zierungsmaßnahme verwendet. 65 In den folgenden Abschnitten des Evange‐ liums kommt Thomas hinzu und fordert, zusätzlich zur visuellen Absicherung des Glaubens an den auferstandenen Jesus, die taktile Berührung der Wundmale, d. h. einen tatsächlich tastenden Blick auf die Realität: 3.4 Eigennamen: Anne und Thomas 105 <?page no="108"?> 66 Joh. 20, 24-29 [Hervorhebungen in der Lutherübersetzung]. 67 Cf. Most 2007: 67. 68 Cf. ibid. Thomas aber, der Zwilling genannt, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er jedoch sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich’s nicht glauben. Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen versammelt, und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch! Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich ge‐ sehen hast, Thomas, darum glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben! 66 Jesus erscheint dem Bibeltext zufolge zweimal in einem abgeschlossenen Raum vor den Jüngern. Während er zuvor bei seiner Erscheinung vor Maria in Joh. 20,17 dieser den Wunsch nach körperlicher Berührung mit den berühmten Worten „Noli me tangere“ abgeschlagen hat, gibt er Thomas’ Bitten nach, indem er ihn auffordert, sich von seiner Leibhaftigkeit durch Berührung der Wundmale zu überzeugen. Glenn W. Most weist auf die Paradoxie durch die Bezeugung in den Wunden hin, sofern diese einerseits Jesu Tod durch Kreuzigung, anderer‐ seits in der physischen Fühlbarkeit seine Wiederauferstehung beweisen. 67 Eben‐ falls betont Most in seiner äußerst präzisen Lektüre der Textstelle, dass für Thomas die Berührung mit den Händen über eine „zweistufige Klimax“ von Oberflächenberührung durch einen Finger und Tiefenberührung mittels der gesamten Hand einen stärkeren Echtheitsnachweis verspricht als die visuelle Überprüfung. 68 Über die taktile Berührung kann eine intensivere, penetrierende Tiefe erzeugt werden, als sie über das Sehen möglich wäre. Ein anderer Ausdruck für die Wunde ist der Begriff des Traumas. Jesu fleisch‐ liche Wunden sind gewaltsame Öffnungen seines Leibes, in die sich der Un‐ glaube eingeschrieben hat. Thomas kann nicht blind glauben, sondern inten‐ diert, über die taktile Berührung der Schmerzpunkte die Tiefe des Traumas nachzufühlen und darin einen wahrhaften Beweis für die Auferstehung zu er‐ halten. Der Bibeltext lässt offen, ob Thomas den Finger tatsächlich in die Wundmale Jesu gelegt oder ihm die reine Möglichkeit der physischen Nachprüfung genügt hat. In der Leerstelle zwischen Jesu Aufforderung zur Berührung und Thomas 3. Licht-Blick - Berührung des Anderen 106 <?page no="109"?> 69 „Thomas berührt Jesus nicht, entweder weil er keine Notwendigkeit mehr dafür sieht, oder weil ihm zu sehr davor graut. […] Zwischen dem, was Jesus sagt, und dem, was Thomas sagt, ist kein Raum für ein Geschehen, das Thomas’ Worte motivieren könnte.“ [Most 2007: 85-86]. 70 Udo Schnelle: „Das Evangelium nach Johannes“, in: Jens Herzer, Udo Schnelle edd.: Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament, Leipzig: Evangelische Verlagsan‐ stalt 4 2009: p. 332. 71 Johannes 21, 25. Glaubensbekenntnis liegt der Grund für die Anerkennung der Wahrhaftigkeit Jesu begraben. Most geht in seiner Deutung der Leerstelle zwischen Jesu Worten und Thomas’ Antwort von einer eindeutig unterlassenen Berührung der Wund‐ male aus. 69 Im Kommentar zum Johannesevangelium heißt es: „Das reale Sehen des Auferstandenen bringt Thomas zum Glauben und löst sein Bekenntnis aus.“ 70 Was mit diesem „reale[n] Sehen“ gemeint ist, klärt der Kommentator je‐ doch nicht. Das wahre Sehen ist meines Erachtens nicht automatisch mit dem materiellen Nachweis der Echtheit von Jesu Körper gleichzusetzen, sondern lässt vielmehr auf ein Sehen im Dunklen schließen, das jenseits des Visuellen ein Blick in die Nacht ist. Epilog Im Epilog des Evangeliums wird angemerkt, dass die Auferstehung Jesu und die Bestätigung durch den zweifelnden Thomas nur eine von vielen Manifesta‐ tionen der Wundertaten Jesu gewesen seien, welche nicht allesamt niederge‐ schrieben wurden. Dadurch verliert die Thomas-Episode an Einzigartigkeit, was so manchen Exegeten veranlasst hat, den Epilog und den Nachtrag zum Evan‐ gelium als Entmachtungsstrategie des ohnehin strittigen Thomas zu lesen. Im „Nachtrag zum Evangelium“ folgt sodann die Schilderung einer weiteren Be‐ zeugung des auferstanden Jesus, in der er auf wundersame Weise die Netze der Jünger mit 153 Fischen füllt und sich des Glaubens seiner Jünger abermals ver‐ sichert. Als Schlussbemerkung des Evangeliums und um den geöffneten Raum der zu erzählenden Fortsetzung von Jesu Handeln nun endgültig zu versiegeln, heißt es schließlich: „Es sind noch viele andere Dinge, die Jesus getan hat. Wenn aber eins nach dem andern aufgeschrieben werden sollte, so würde, meine ich, die Welt die Bücher nicht fassen, die zu schreiben wären.“ 71 Am Ende ist es die Unfassbarkeit und Un(er)zählbarkeit von Jesu Wirken, die das Evangelium beschließt und eben nicht die Frage des bedingungslosen oder zweifelnden Glaubens, für den Thomas steht. Der ungläubige Thomas wird auf diese Weise auch zum dunklen Thomas, der als Zweifler hinter die Darstellung der Wirkkraft von Jesus Christus gedrängt wird. 3.4 Eigennamen: Anne und Thomas 107 <?page no="110"?> 72 Cf. Nicola Suthor: „Bad touch? Zum Körpereinsatz in Michelangelo / Pontormos Noli me tangere und Caravaggios Ungläubigem Thomas“, in: Valeska von Rosen, Klaus Krüger, Rudolf Preimesberger edd.: Der stumme Diskurs der Bilder - Reflexionsformen des Ästhetischen in der Kunst der Frühen Neuzeit, München / Berlin: Deutscher Kunst‐ verlag 2003, pp. 261-281, hier p. 267. 73 „Die Auferstehung Christi wird uns in keinem der Evangelien näher geschildert. Es ist zweifellos bedeutsam, daß sich dieses entscheidende Ereignis der christlichen Religion von Anfang an der Darstellung entzog und das Feld einem Symbol überließ: dem leeren Grab.“ [Victor I. Stoichita: Das mystische Auge - Vision und Malerei im Spanien des Gol‐ denen Zeitalters, München: Fink 1997, p. 39 bzw. Suthor 2007: 263]. Von seinem Namen als dunkler Thomas zeugt zudem der Gedenktag für Thomas im Katholizismus, der bis 1969 der 21. Dezember, d. h. der Tag mit der längsten Nacht bzw. dem kürzesten Tag im ganzen Jahr (Wintersonnwende) war. Seit der römisch-katholischen Liturgiereform im Jahre 1970 ist der Gedenktag für Thomas jedoch der 3. Juli und nicht mehr der 21. Dezember. In der evange‐ lischen und anglikanischen Liturgie ist es nach wie vor der 21. Dezember. Blicken und Berühren Abschließend möchte ich noch einen Blick auf Michelangelo Merisi da Caravaggios Darstellung des ungläubigen Thomas von 1601 / 1602 werfen. In Caravaggios Gemälde „Thomas berührt Jesu Wundmale“ ist der Jesus hingege‐ bene Fischer Thomas dargestellt, wie er - die absolute Nähe zu Jesus suchend und dessen Echtheit überprüfend - Jesu Wundmale berührt und mit dem Finger in seine Haut eindringt. Anders als die Kunsthistorikerin Nicola Suthor lese ich Thomas’ Blick nicht als Verstärkung der bohrenden Fingerbewegung, der sich der Blick anheftet. 72 Thomas’ Blick scheint gerade an der Wunde vorbei und nicht in sie hinein zu gehen und unterscheidet sich damit von den Blicken der beiden anderen Jünger (wahrscheinlich Lukas und Petrus) wie auch vom Blick des auferstandenen Jesu, die allesamt auf den Finger in der Wunde gerichtet sind. Sein Blick ist ein leerer Blick, der dazu dient, alle Sinne offen zu halten und so die gesamte Aufmerksamkeit auf die taktile Berührung zu lenken. Denn Thomas verlangt nach einer physisch erfahrbaren Verifizierung der Echtheit Jesu, welche sich im Berühren und nicht im Sehen begründet. Caravaggios Gemälde zeigt den in der Bibel ausgesparten Körper Jesu und mit ihm das fast Ekel erregende Eindringen von Thomas’ Finger in die Wunde. 73 3. Licht-Blick - Berührung des Anderen 108 <?page no="111"?> 74 Zum unterschiedlichen Umgang und Wiederaufgreifen der Johannesperikope in der abendländischen Geschichte cf. Most 2007: 99-265. Michelangelo Merisi da Caravaggio: „Der ungläubige Thomas“ (1601 / 1602) (Abb. 2) Caravaggios Darstellung der Berührung der Wundmale durch den zweifelnden Thomas ist ein bildhafter Ausdruck einer sich über Jahrhunderte erstreckenden Problematik der Bewertung des Verhältnisses von Körper und Geist, von Chris‐ tentum und Gnosis sowie von Glauben und Wissen. Caravaggio stellt die phy‐ sische Berührung der Wunden nicht in Frage, wohingegen andere, wie z. B. Ori‐ gines, dies zaghaft versucht, oder es, wie die Protestanten, auch ganz klar getan haben. 74 An die Infragestellung der tatsächlichen Berührung ist die Glaubhaf‐ tigkeit der Wiederauferstehung der Menschen nach dem Tod gekoppelt. Sie verändert die Jenseitsvorstellungen und den Glauben an eine Konservierung einer physischen wie seelischen Identität nach dem Tod. Daran wird meine Lektüre des 5. Kapitels anschließen und verschiedenen Formen von Jenseits‐ vorstellungen nachgehen, um über die Erweckung des toten Lazarus erneut an eine Bibelstelle anzuknüpfen, in die der Apostel Thomas involviert ist. 3.4 Eigennamen: Anne und Thomas 109 <?page no="112"?> Andere Wahrnehmungskanäle als die Augen liefern andere Zugänge zur Welt und damit kreieren sie auch andere Realitäten - in Caravaggios Darstellung ist es die taktile Berührung, die sich in Jesu Fleisch einschreibt und Jesu materielle Erscheinung als Teilhabe und nicht nur als visuelle Beobachtung bezeugt. Doch wurde Thomas für seinen Zweifel nicht nur von Jesus gerügt, sondern auch in der Rezeption als Zweifler und somit zum wahren Glauben nur bedingt fähiger Jünger dargestellt. Sofern der blind-vertrauende Glaube gegen den Zweifel des Sehens steht, ist die Einforderung eines zusätzlichen physischen Nachweises eine Steigerung ins Negative. Thomas will den wiederauferstandenen Jesus mit seinen Händen begreifen, um den Zweifel zu beseitigen. Sowohl in der Johan‐ nesperikope als auch in der exemplarischen Bildlichkeit Caravaggios gelingt dies durch eine Verschränkung von Blick und Berührung, wodurch der in Thomas paradigmatisch gebündelte Zweifel an die Auferstehung gebändigt wird. Die Figur Thomas in Thomas l’Obscur hingegen wird in keiner der beiden Fassungen des Textes eine solche Aufhebung erfahren. Der Zweifel kann nicht begraben werden. Thomas als Zwilling verkörpert die immer mögliche Alter‐ native zur realisierten Aussage, Handlung oder Annahme. Er ist die zur Ähn‐ lichkeit verdoppelte Differenz, die sich der Identität widersetzt. Als Zwillinge entfesseln auch die zwei koexistenten Versionen den mehr schlecht als recht durch das kirchliche Dogma gezähmten Zweifel zwischen Wissen und Glauben. Der einmal mit dem ungläubigen Thomas evozierte Zweifel bleibt folglich als nicht zu schließende Wunde der Kohärenz, die den klaffenden Abgrund zwi‐ schen Körper und Geist nach der Wiederauferstehung zeigt. Die Radikalität von Blanchots Thomas entfaltet sich erst vollständig mit der Herausgabe von TO 2, wodurch TO 1, auch aufgrund seiner fast 50 Jahre währenden Nichtrezeption, zum anderen Thomas, der sich hinter TO 2 zurückgezogen hat, wird. Der Iden‐ titätszweifel ist nun poetologisches Programm. Blanchot hat im Gegensatz zu Johannes TO 2 nicht erschaffen, um den Zweifel durch eine vollständige Aus‐ buchstabierung endgültig beseitigen zu können, sondern, so möchte ich be‐ haupten, um den Zweifel zu verdoppeln und zum konstitutiven Bestandteil des Lesens zu machen. Man kann und darf dem Gelesenen nicht glauben, nicht zu‐ letzt, weil der Raum zwischen Auge und vermeintlichem Objekt durch anonyme Blicke durchkreuzt und verschoben werden kann. Die Sätze lassen Aussagen nur sehr bedingt zu und bewirken somit statt des Glaubens eine Erfahrung des Lesens als tiefgehende Verunsicherung. Wie gefährlich dieses Lesen sein kann, wird das nun folgende 4. Kapitel zu zeigen versuchen, indem es das im 3. Kapitel entwickelte Blickkonzept weiter‐ denkt und die Blickeinschreibungen ins Fleisch nachzeichnet. Über den Blick 3. Licht-Blick - Berührung des Anderen 110 <?page no="113"?> wird im 4. Kapitel von TO 2 eine gewaltvolle Berührung und Aneignung voll‐ führt und sowohl Thomas’ Körper und Denken wie auch die gelesenen Wörter über schmerzhafte Verwundungen ineinander eingeschrieben. 3.4 Eigennamen: Anne und Thomas 111 <?page no="114"?> 1 Friedrich Nietzsche: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, in: id.: Werke in drei Bänden, Bd. III, ed. Karl Schlechta, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997, p. 805. 2 Bernard Pingaud: Schriftsteller der Gegenwart, transt. Guido G. Meister, Olten: Walter 1965, p. 53. 4. Lesen (bestialischer Worte) Einen Text als Text ablesen können, ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen, ist die späteste Form der ‚inneren Erfahrung‘ - vielleicht eine kaum mögliche […]. 1 Friedrich Nietzsche In seinem Buch Schriftsteller der Gegenwart schreibt Bernard Pingaud, man könne sich Maurice Blanchot auf die eine oder andere Art nähern, über das literarische wie über das theoretische Werk. Beide seien undankbare Unterneh‐ mungen, aber böten dem aufmerksamen Leser dennoch Befriedigungen gleicher Art. 2 Sicherlich ist es alles andere als einfach, Blanchot zu lesen, möglicherweise ist sein frühes fiktionales Werk sogar noch schwieriger zugänglich als spätere literaturkritische Texte. Man sollte insbesondere die beiden Fassungen von Thomas l’Obscur sehr aufmerksam und langsam lesen, um ihre Mikropoetik zu entziffern und sich nicht von ihrem steten Sprechen im Konditional in die Irre führen zu lassen. Das 4. Kapitel von TO 2 stellt den Leseakt vom ersten Satz an in den Vorder‐ grund und betont auf diese Weise eine vervielfachte Lesesituation als darge‐ stellte, wiederholte und vom Leser selbst vollzogene. Daher soll diese Lese‐ situation näher betrachtet werden, um die bestialische Kraft der Wörter, die den Leser angreifen, beißen und verschlingen, anhand der Wort-Exkorporationen der Gottesanbeterin sowie der Ratte weitergehend zu analysieren und die Ohn‐ macht des sich im Lesen verlierenden Subjektes zu verfolgen. 4.1 Die absolute Einsamkeit oder Eine monastische Leseszene unter Beobachtung Ausgangspunkt des 4. Kapitels ist, wie in den meisten anderen Kapiteln des Buches, eine Alltagssituation: Thomas scheint aus dem Speisesaal in sein Ho‐ <?page no="115"?> 3 TO2: 27. 4 TO2: 27. 5 TO2: 33. telzimmer zurückgekehrt zu sein und bereits länger dort lesend zu verweilen. Das Kapitel hebt wie folgt an: „Thomas demeura à lire dans sa chambre. Il était assis, les mains jointes au-dessus de son front, les pouces appuyés contre la racine des cheveux, si absorbé qu’il ne faisait pas un mouvement lorsqu’on ouvrait la porte.“ 3 Er liest und nicht weiter charakterisierte Personen, „ceux qui entraient“ 4 , betreten das Zimmer. Der Status dieser eintretenden Beobachter ist nicht klar. Sie scheinen den Beginn und das Ende einer inneren Erfahrung Tho‐ mas’ zu markieren, da sie als Zeugen der äußeren Veränderung von Thomas herbeigezogen werden: Zu Beginn ist es die Körperposition des über das Buch gebeugten Thomas, im letzten Satz des Kapitels die des schlafenden Thomas. Dazwischen muss es eine Veränderung des von außen ableitbaren Bewusst‐ seinszustandes (wach oder schlafend) und ggf. auch eine Änderung der physi‐ schen Bewegung gegeben haben, da aus der Sicht dieser fiktiven Beobachter von einer „impression reposante du sommeil“ 5 die Rede ist, welche eher schwerlich mit der anfangs beschriebenen Sitzhaltung von Thomas in Einklang zu bringen ist. Für die Vermutung, dass mit „ceux qui entraient“ weniger Personen aus der erzählten Welt gemeint sind, sondern die Leser von Thomas l’Obscur, die über die erzählerische Vermittlung den Raum betreten und metaleptisch selbst anvi‐ siert werden, spricht nicht zuletzt die doppelte mise en abyme des Lesens, von der später noch die Rede sein wird. Denkbar ist darüber hinaus auch, dass durch die Spaltung der Erzählinstanz auf eine zweite Beobachterinstanz ohne Innen‐ sicht verwiesen wird, die neben der Erzählstimme mit Nullfokalisierung mar‐ kiert ist. Der Erzähler zeigt sich zunächst über eine externe Fokalisierung, doch mit der Nennung der Hereintretenden geschieht ein Wechsel in die Nullfokali‐ sierung. Die anschließende Darstellung der (inneren) Erfahrungen Thomas’ wird über eine trans- oder vorpersonale Stimme erzählt, die in einem neutralen Ton über die Entpersönlichungsprozesse und Kämpfe von Thomas spricht. Wir haben es mit einer unpersönlichen Stimme zu tun, die sich an oder in Thomas konkretisiert, ohne dass man wüsste, wo der Ursprung dieses Sprechens läge. Joseph Vogl hat in seiner Interpretation von Kafkas charakteristischer Art des Schreibens den von Gilles Deleuze entlehnten Begriff der „vierten Person“ ein‐ geführt, der das Beschriebene oder Beobachtete sich selbst in seiner Diskursi‐ vierung hinterfragen lässt. Dies kann unter anderem, wie im 4. Kapitel von TO 2, durch die Etablierung einer zusätzlichen Beobachterinstanz geschehen, wodurch der Blick „[…] gedoppelt und gebrochen [wird] durch einen fremden Blick, der mit-gesehen wird und mit-sieht und jede fiktive Unmittelbarkeit einer 4.1 Die absolute Einsamkeit oder Eine monastische Leseszene unter Beobachtung 113 <?page no="116"?> 6 Joseph Vogl: „Die vierte Person - Kafkas Erzählstimme“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 68: 4, 1994, 745-756, hier 749. Das 11. Kapitel meiner Studie wird auf diese unpersönliche Stimme, die Blanchot als Stimme des Neutrums, als „voix narrative“ bezeichnet, zurückkommen. 7 Daniel Bengsch: „Einsamkeit als Kategorie der (Erzähl-)Ästhethik - Maurice Blanchot“, in: Heinz Thoma, Kathrin van der Meer edd.: Epochale Psycheme und Menschenwissen - Von Montaigne bis Houellebecq, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, pp. 183-200, hier p. 185. 8 Andreas Gelhard, dessen Monographie über Blanchot in „La solitude essentielle“ einen der zentralen Texte Blanchots sieht, macht darauf aufmerksam, dass das Erscheinungs‐ jahr 1953 mit dem lebensweltlichen Rückzug des Autors zusammenfällt, was gleich‐ zeitig den Beginn von Blanchots Aufstieg als Schriftsteller und Nachkriegsdenker mar‐ kiert. [Cf. Gelhard 2005a: 25]. Zu „La solitude essentielle“ cf. auch Kapitel 3.2 meiner Untersuchung. Beschreibung auf die Beschreibung einer Beschreibung zurückwirft.“ 6 Ein un‐ vermittelter Zugang zum Inneren einer Person ist bei Kafka wie bei Blanchot nicht möglich, da, sofern überhaupt noch ‚Ich‘ gesagt wird, jedes Ich bereits in einem Übergang zum ‚er‘ befindlich ist. Wie bereits angedeutet, ist daher nicht unbedingt davon auszugehen, dass sich neben Thomas weitere Personen in seinem Zimmer befinden. Vielmehr muss vermutet werden, dass die Beobachter fiktive Instanzen zur Bezeugung von Thomas’ Einsamkeit sind, welche die Bedingung seiner Leseerfahrung ist. Die innere Einkehr bewirkt ein Aussetzen der Kommunikation mit dem Außen und eine Abkehr von der Welt zu Gunsten einer Selbstkommunikation im In‐ neren. So stellt die Einsamkeit ein ganz spezifisches Selbstverhältnis her, denn durch sie tritt das Ich in eine Beziehung zu sich selbst, in der es sich selbst in Ersetzung der Umwelt als Anderes gegenübertritt, so dass sich das je in einer Selbsterfahrung als Fremderfahrung zum il wandelt. Diese Form der Einsamkeit als „Kulturtechnik der Selbstbegegnung“ 7 ist jedoch nur das Vorspiel zu einer deutlich radikaleren Einsamkeit, die aus der sprachlichen Eigengesetzlichkeit des Werks entspringt und an der Autor wie Leser partizipieren. Theoretisch formuliert hat Blanchot eine solche Selbsterfahrung drei Jahre nach dem Erscheinen von TO 2 in dem bereits genannten Aufsatz „La solitude essentielle“, der 1953 erstmalig publiziert und dann 1955 in L’espace littéraire aufgenommen wurde. 8 Kernpunkt dieses Textes ist jedoch nicht das Lesen, son‐ dern das Schreiben bzw. wie man zu schreiben anfängt. Blanchot geht von einer Vorgängigkeit des Schreibens aus, in die sich der Schriftsteller durch einen Mo‐ ment des Innehaltens oder Unterbrechens einschalten muss, um mit diesem Schritt dem anonymen Rauschen oder Murmeln Einhalt zu gebieten, ohne es jedoch jemals kontrollieren zu können: „L’écrivain semble maître de sa plume, il peut devenir capable d’une grande maîtrise sur les mots […]. Mais cette 4. Lesen (bestialischer Worte) 114 <?page no="117"?> 9 EL: 13. Dass hiermit eine ontologische Setzung der Sprache vorliegt, wird noch genauer ausgeführt werden. 10 Aurelius Augustinus: Bekenntnisse - Lateinisch und Deutsch, transt. Joseph Bernhart, Frankfurt a. M.: Suhrkamp: Insel 1987, hier p. 249, Buch VI, 3,3. 11 Christian Moser: Buchgestützte Subjektivität - Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne, in: Fritz Nies, Wilhelm Voßkamp edd.: Communicatio - Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 36, Tü‐ bingen: Max Niemeyer 2006, p. 9 und p. 26. 12 Moser 2006: 4. maîtrise réussit seulement à le mettre, à le maintenir en contact avec la passivité foncière où le mot, n’étant plus que son apparence et l’ombre d’un mot, ne peut jamais être maîtrisé.“ 9 Die Herrschaft über die Worte gründet sich auf einer tiefer liegenden Abhängigkeit des Schreibenden von den Worten, in deren Begegnung der Schriftsteller in ihren Bann gezogen und einer Passivität unterworfen wird, die vom unbegreiflichen Grund der Worte herrührt, welcher, wenn man an das 2. Kapitel von TO 2 denkt, wenig stabil ist. Dass das, was im schreibbaren Wort erscheint, immer nur der „Schatten eines Wortes“ ist, zeigt die soeben zitierte Passage zudem über die phonetische Identität von „maître“ und „mettre“, die den Herrn zum Objekt seiner Herrschaft macht und ihn in Passivität hält. Dieses „maintenir“ wiederum trägt die Hand (main) in sich, eine Hand, die gehalten wird: main-tenir. Solcherlei Art des Kontaktes wird im 4. Kapitel von TO 2 zur bestimmenden (Text)-Bewegung. Anders als beim Schreiben stehen beim Lesen das Sehen und der Blick auf die Buchstaben im Vordergrund, wohingegen die Hände zum Stützen des Kopfes oder zum Umblättern dienen. Im 4. Kapitel wird dieses Ver‐ hältnis im Zuge der Überkreuzung von Lesen und Gelesen-Werden ebenfalls überlagert. Die Schilderung von Thomas, der sich - die Hände an der Stirn - über sein Buch beugt und sich völlig vertieft einer im Stillen ablaufenden Lektüre hingibt, lässt eine monastische Leseszene entstehen, wie sie beispielsweise Augustinus im 6. Buch seiner Confessiones bzgl. des lesenden Ambrosius erwähnt: „Wenn er aber las, so glitten die Augen über die Blätter, und das Herz spürte nach dem Sinn, Stimme und Zunge aber ruhten.“ 10 Die Vorstellung des Lesens ist für Au‐ gustinus an die Selbsterkenntnis gekoppelt, welche nur über den Umweg des Buches einen Zugang zu sich ermöglicht. Als Praxis ist das Erkennen seiner selbst „an die Entzifferung von Schriften“ gebunden, die im Sinne eines mögli‐ chen Ideals und als Reflektor des Status quo zum „speculum animi“ werden. 11 Die so gewonnene „buchgestützte Subjektivität“ 12 bedarf einer gründlichen, wenngleich langsamen und genussvollen Lektüre sowie einer Verarbeitung. Dies vergleicht Augustinus mit Verweis auf einen Ausspruch Salomons mit dem 4.1 Die absolute Einsamkeit oder Eine monastische Leseszene unter Beobachtung 115 <?page no="118"?> 13 Moser 2006: 8. 14 Franz Kafka in einem Brief an Oskar Pollak am 27. Januar 1904. Essensvorgang und dem Wiederkäuen (ruminatio). Moser charakterisiert die ruminatio als „Akt der Aneignung: Wie das Tier die aufgenommene Nahrung durch die Tätigkeiten des Wiederkäuens und der Digestion in körpereigene Substanz verwandelt, so soll der Leser den Gehalt der Schrift durch Meditation in seine Seele überführen […].“ 13 Das Lesen als Handlung der Aneignung in Analogie zur Nahrungsaufnahme wird nun aber im weiteren Verlauf des 4. Kapitels von TO 2 ganz buchstäblich (und buchstäblich gemeint im abermals buchstäblichen Sinne) umgesetzt. Prob‐ lematisch für Thomas ist daran, dass der Akt der Appropriation nicht nur vom lesenden Thomas, sondern auch von den Wörtern des Buches ausgeht. Das Lesen wird zur reziproken Aneignung von Leser und Buch, die sich jeweils nicht verdauen können und den Leib des Anderen von innen wie von außen zer‐ fressen. 4.2 Lesen als Verschlingen (Tiere I: Mantis religiosa) Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. 14 Franz Kafka „Il lisait. Il lisait avec une minutie et une attention insurpassables. Il était, auprès de chaque signe, dans la situation où se trouve le mâle quand la mante religieuse va le dévorer.“ Thomas liest nicht einfach, sondern er liest so minuziös und auf‐ merksam, dass er alles andere vergisst. Es gibt in der absoluten Gegenwart des Lesens nur ihn und das Buch mit seinen Wörtern. Sein fast pedantisches Be‐ greifen-Wollen ist neben der Semantik auch syntaktisch über die Wiederholung des Lesens ersichtlich. Die Wiederholung von „il lisait“ im zweiten Satz des Zitates ist nicht nur eine spezifizierende Beobachtung, sondern auch ein Hin‐ weis auf die Aufspaltung der Erzählinstanz. Der erste Satz des zitierten Ab‐ schnitts entspricht der Perspektive der fiktiven, gerade eingetretenen Be‐ obachter mit Außensicht auf Thomas, während der zweite Satz eine Tiefenschärfe provoziert, die keine Innensicht ist, sondern eine zwischen Neut‐ ralität und Affizierung schwankende Beschreibung, die sich wie eine zweite Spur konstatierend neben eine unaussprechliche innere Erfahrung schreibt. Der lesende Thomas findet sich angesichts der einzelnen Zeichen in der Rolle des 4. Lesen (bestialischer Worte) 116 <?page no="119"?> 15 Cf. Carl von Linné: Von den Insecten, in: id.: Systema Naturae, Bd. 5 / 1, nach der 12. lateinischen Ausgabe, ed. Philipp Ludwig Statius Müller, Nürnberg: Gabriel Nicolaus Kaspe 1774, p. 411-412. In dieser deutschen Übersetzung ist bereits von der „Mantis religiosa“ die Rede. Männchens wieder, das Gefahr läuft, von der Mantis religiosa, der Gottesanbe‐ terin, nach oder während der Begattung gefressen zu werden. Zur Entfaltung dieses Vergleiches möchte ich daher kurz aufzeigen, welches interessante, aber auch brutale Insekt hier herangezogen wird, um den Leseakt als eine Mischung von Begehren und Todeserwartung zu entfalten. Mantis religiosa Die Gottesanbeterin verschlingt ihr Männchen für gewöhnlich nach vollzo‐ genem Paarungsakt. Der Botaniker und Biologe Carl von Linné beschreibt die Gottesanbeterin erstmals in seinem Klassiker der biologischen Nomenklatur Systema Naturae (1735), dessen Auflagen von Linné stetigen Überarbeitungen und Erweiterungen unterzogen wurden. Mit der 10. Auflage, in der erstmalig die Tierarten über vereinfachte binäre lateinische Namen klassifiziert werden, erscheint auch der Gryllus (Mantis) religiosus, die spätere Mantis religiosa. 15 Die Mantis religiosa gehört zur Ordnung der Fangheuschrecken. Ihr besonderes Merkmal ist ein weißer Fleck mit schwarzem Rand, der sich auf den beiden Vorderbeinen befindet und in bedrohlichen Situationen durch Aufstellen der Vorderbeine Augen simuliert, die gefährlich groß wirken. Europäische Gottesanbeterin in Abwehrstellung (Abb. 3) Des Weiteren verfügt die Gottesanbeterin mit ihrem großen dreieckigen Kopf über Facettenaugen sowie drei Ocellen, die, als Hilfsaugen zu den Facetten‐ 4.2 Lesen als Verschlingen (Tiere I: Mantis religiosa) 117 <?page no="120"?> 16 Cf. Willy Kükenthal: Handbuch der Zoologie, Bd. 4 / 1 (Insecta), Berlin / Leipzig: de Gruyter 1930, p. 808. 17 Jean-Claude Teyssier / Jean-Henri Fabre: Die verborgene Welt der Insekten - Gliederfüßer in faszinierenden Bildern, transt. Christa Trautner-Suder, München: Bassermann 2009, p. 89. augen, zur Orientierung im Flug dienen. Facettenaugen werden auch oculi compositi genannt und setzen sich, wie der lateinische Name bereits verrät, aus vielen Einzelaugen zusammen. Im Falle der weiblichen Mantis religiosa sind es knapp 10 000. 16 Im Unterschied zum menschlichen Linsenauge ist die Bildauf‐ lösung durch die Zahl der Bildpunkte des Facettenauges limitiert, was aber durch eine sehr hohe zeitliche Auflösung partiell wieder eingeholt wird. Darüber hi‐ naus ermöglichen Facettenaugen, die bei vielen Insekten den Hauptteil des Kopfes ausmachen, ein enorm großes Sichtfeld. Die Gottesanbeterin hat aber im Vergleich mit anderen Insektenarten noch eine weitere Besonderheit: „Als ein‐ ziges Insekt kann die Gottesanbeterin ihren Blick lenken; sie inspiziert, sie un‐ tersucht, sie zeigt fast so etwas wie ein Minenspiel.“ 17 Ob eine Heuschrecke oder ein Männchen bei der Begattung - die Gottesanbeterin hypnotisiert ihre Beute über den Blick, der fixieren kann und dadurch als Blick zwischen Beute und Jägerin tritt. Er ruft eine Passivität beim Opfer hervor, die zwischen Lust und Todesangst changiert. Die Gottesanbeterin erhielt ihren Namen durch ihre wie zum Gebet gefalteten Greifzangen, mit denen sie in völliger Reglosigkeit auf ihre Beute wartet, die dann im günstigen Augenblick mittels an den Vorderbeinen sitzenden Dornengreifzangen gefangen und lebendig gefressen wird. Solches Schicksal ereilt auch manches Männchen, dessen Kopf teilweise schon während der Paarung verspeist wird, während der restliche Körper noch den Paarungsakt vollzieht, wie es die beiden folgenden Abbildungen demonstrieren, in denen das deutlich größere Weibchen gerade ein Stück des abgebissenen Kopfes des Männ‐ chens verspeist (Abb. 4) bzw. das Männchen in zwei Stücke geteilt hat (Abb. 5): 4. Lesen (bestialischer Worte) 118 <?page no="121"?> Weibliche Gottesanbeterin verspeist Männchen während der Begattung (Abb. 4) Weibliche Gottesanbeterin mit geköpftem Mantis nach der Begattung (Abb. 5) Ich denke, dass die Abbildungen sehr treffend die bedrohliche Situation veran‐ schaulichen, in der sich Thomas - in der Rolle des männlichen Mantis - ange‐ sichts der Zeichen befindet. Sein minuziöser Lesestil bewirkt zudem vor jedem einzelnen Zeichen eine Wiederholung der Situation, in der er sich, wie das Männchen vor der Verschlingung durch die weibliche Mantis, wiederfindet. Da die Gottesanbeterin das Männchen erst während oder nach der Begattung frisst, wird einerseits hier schon der Verweis auf den Vergleich mit einem Paarungs‐ geschehen aufgerufen, andererseits bedeutet allein die wörtlich genommene Iteration ein Geschehen, das den Leser Thomas in den Wahnsinn, wenn nicht in den Tod treiben muss. 4.2 Lesen als Verschlingen (Tiere I: Mantis religiosa) 119 <?page no="122"?> 18 Anzumerken sei darüber hinaus, dass die Bezeichnung ‚Mantis‘ sich vom altgriechi‐ schen Wort für Seher ableitet. 19 TO2: 27-28. 20 Gary Hill widmet sich mit Incidence of Catastrophe (1987 / 1988), einer von Thomas l’Obscur inspirierten Videoarbeit, der bedrohlichen Gefahr des Lesens bzw. des Ge‐ lesen-Werdens ebenso wie der damit verbundenen Lust an der (Selbst-)Qual. Für den Hinweis auf Gary Hills Videokunst möchte ich an dieser Stelle Björn Vedder meinen Dank aussprechen. Zu viele Blickmöglichkeiten Sowohl die weißen Augen mit Mimikry-Effekt auf den Innenseiten der Vorder‐ beine, als auch die Facettenaugen sowie die Ocellen sind für die Lesesituation und die vielschichtige Bedeutung der Augen im 4. Kapitel von TO 2 wichtig, zeigen sie doch als Zeichenmetapher die ewigen Verschiebungen, denen das Lesen unterworfen ist. So wie die Gottesanbeterin zwei Augen vortäuscht, wo gar keine sind, um ihr Opfer oder ihren Fressfeind umso deutlicher mit ihren echten Augen wahrzunehmen und mit Greifzangen zu fangen, lassen die Zei‐ chen den Blick des Betrachters Thomas nur über einen Scheinzugang in sich eindringen, um ihn mittels seiner Faszination zu fangen und das Beherrschungs‐ verhältnis umzukehren. 18 L’un et l’autre se regardaient. Les mots, issus d’un livre qui prenait une puissance mortelle, exerçaient sur le regard qui les touchait un attrait doux et paisible. Chacun d’eux, comme un œil à demi fermé, laissait entrer le regard trop vif qu’en d’autres circonstances il n’eût pas souffert. Thomas se glissa donc vers ces couloirs dont il s’approcha sans défense jusqu’à l’instant où il fut aperçu par l’intime du mot. 19 Im Deutschen wie im Französischen spricht man zur Bezeichnung einer absor‐ bierenden Lektüre vom Verschlingen eines Buches (dévorer un livre, avaler un livre). Was Blanchot hier und in weiteren Sequenzen des Kapitels zu betonen scheint, ist die Aktivität der anderen Seite, d. h. der Wörter bzw. der Zeichen, die dem Leser nicht passiv gegenüber stehen, um sich verspeisen zu lassen, son‐ dern ihm über den Blick begegnen, um ihn später im Text zu beißen und zu verschlingen, ohne damit jedoch einen endgültigen Tod zu bewirken. 20 In einer psychoanalytischen Lesart könnte man das Zeichen im Bild der Mantis religiosa als Todesdrohung lesen. Eine Drohung, die zu Beginn Drohung bleibt, denn beide Seiten, Thomas wie die Wörter, betrachten sich zunächst le‐ diglich. Der Blick bzw. die Augen spielen eine zentrale Rolle beim Lesen. Sie sind es, die die Begegnung über die Berührung, aber auch das Eindringen (von Bil‐ dern und Buchstaben) ermöglichen. Die einzelnen Wörter lassen die Penetration durch den Blick von Thomas in einer Semipassivität zu. Analog dazu wäre dies, um den Vergleich mit der Gottesanbeterin fortzusetzen, die zugelassene Penet‐ 4. Lesen (bestialischer Worte) 120 <?page no="123"?> 21 Die nächsten Sätze beinhalten zahlreiche Hinweise auf die erlebten Lustgefühle Tho‐ mas’. [Cf. TO2: 28]. 22 Diese Armee ließe sich auf die diversen Augen der Mantis projizieren, die das Gegen‐ über so verwirren, dass der eigentlich gefährliche Blick übersehen wird. 23 Bei der ‚normalen‘ Semiose wird, um von Augen zu sprechen, das Zeichen für ‚Augen‘ verwendet. In der ‚gekippten‘ Semiose handelt es sich um ein remotiviertes Zeichen, das materialiter an die Stelle der Augen tritt. 24 TO2: 29. ration durch den männlichen Mantis. Thomas, der sich so über den Blick in die Wörter einschreibt, erhält dadurch Eintritt in das dunkle Innere der Wörter bis zu dem Punkt, an dem er „par l’intime du mot“ wahrgenommen wird, was ihm zunächst durchaus gefällt. 21 Er begegnet einer Art Armee von Wörtern, Vorste‐ hern des „œil de l’absolu“, das wie ein Masterpasswort (oder ein phallischer Mastersignifikant) das Geheimnis des Textes verwahrt. 22 Thomas, in der phal‐ lischen Fallenstruktur der Wörter gefangen, hält den Blick offen, wird aber be‐ reits von den Worten attackiert und verwundet (oder: von den Greifzangen der Gottesanbeterin ergriffen bzw. von ihr gebissen). Indem er mittels seines Kör‐ pers in die Signifikantenketten der Wörter eindringt, verwandelt er sich selbst in ein Wort und wird nun seinerseits von den Wörtern gelesen. Er ist Teil der Ordnung der Schrift, wird damit zum unterworfenen subjectum und in einer umgekehrten Semiose tritt das Zeichen bzw. das Wort ‚yeux‘ an den Ort seiner Augen. Das Zeichen bezeichnet nicht mehr, sondern platziert sich materialiter wie eine Mundöffnung, die an Stelle der Augen tritt, um weitere Teile von Tho‐ mas’ Körper für die Wortpenetration zu öffnen. 23 [I]l entra avec son corps vivant dans les formes anonymes des mots, leur donnant sa substance, formant leurs rapports, offrant au mot être son être. Pendant des heures, il se tint immobile, avec, à la place des yeux, de temps en temps le mot yeux: il était inerte, fasciné et dévoilé. Et même plus tard, lorsque, s’étant abandonné et regardant son livre, il se reconnut avec dégout sous la forme du texte qu’il lisait, il garda la pensée qu’en sa personne déjà privée de sens, tandis que, juchés sur ses épaules, le mot Il et le mot Je commençaient leur carnage […]. 24 Das Zeichen verweist hier nicht auf eine außerzeichenhafte Körperlichkeit, sondern hat durch den Aneignungsakt, auf den Thomas sich eingelassen hat, indem er dem Wort „S / sein“ (être) sein Sein gab, die Ordnung der Dinge um‐ gekehrt. Die Wörter schreiben sich fortan über diverse Penetrationsakte in seinen Körper ein und entleeren ihn. Dies wiederum bildet die Parallele zur Zerstückelung durch die Gottesanbeterin und das Verschlingen des Männchens während des Paarungsaktes. Nachdem Thomas sich hat gehenlassen - die Hin‐ weise auf die Parallele zum Begattungsakt sind zahlreich - fällt er in eine Art 4.2 Lesen als Verschlingen (Tiere I: Mantis religiosa) 121 <?page no="124"?> 25 Blanchot beschreibt in „Kafka et l’exigence de l’œuvre“ den Übergang vom ‚je‘ zum unpersönlichen ‚il‘ als einen Akt der Befreiung, genauer als „observation de soi-même qui a été le tourment de Kafka à une observation plus haute, s’élevant au-dessus d’une réalité mortelle, vers l’autre monde, celui de la liberté.“ [Maurice Blanchot: „Kafka et l’exigence de l’œuvre“, in: id.: De Kafka à Kafka, Paris: Gallimard 1981, pp. 94-131, hier: p. 117]. 26 Cf. Thomas Schestag: Mantisrelikte, Basel et al.: Engeler 1998, p. 63. postkoitale Depression, die zum Heraustreten aus der Fusion mit der Sprache führt. Er erlebt nicht mehr die Fülle der unmittelbaren Erfahrung, sondern die Differenz von ‚Je‘ und ‚Il‘ als Konsequenz seiner Selbsterkenntnis und seines Selbstverlustes in der Schrift. 25 Hier würde ich gerne eine Zäsur setzen, auch weil es eine inhaltliche wie formale Zäsur im Text gibt (ein neuer Absatz beginnt). Bis zur Stelle des Kampfes von ‚Je‘ und ‚Il‘ auf Thomas’ Schultern handelt es sich um eine Erfahrung des Lesens. Doch ab dem soeben genannten Punkt der Ich-Spaltung wird eine zeit‐ liche Rahmung über die Nacht in den Text eingezogen. Das soll nicht heißen, dass die Leseeindrücke dadurch aufhörten, aber es gibt eben eine Unterbre‐ chung, eine andere Zeitdimension, die sich in das Erzählte einschiebt und die über die Nacht markiert ist. Diese Nacht, die über die markierte Nacht hinaus‐ weist und deren Erfahrungen des Ausgesetztseins und der Transformationen sich in den Tag schieben, lässt sich als andere Nacht bezeichnen, worauf nach einem Exkurs zur mystischen Vorstellung und Erwartung des göttlichen Wortes noch einmal zurückgekommen wird. Zeichen und Wort Wenn nun im Vergleich der Zeichen mit der weiblichen Gottesanbeterin und des Lesers Thomas mit dem Männchen die Zeichen zu lauernden Insekten werden, scheinen mir hier noch zwei Aspekte wesentlich, die diesen Vergleich erweitern könnten. Es ist zum einen das Warten auf Beute seitens der Mantis religiosa, deren Ausdruck die Gebetsposition ist, und zum Anderen das Erwarten des Todes seitens des Männchens nach oder während des Paarungsgeschehens. „La mante religieuse“ lässt phonetisch auch die ‚Geliebte‘, die ‚Liebende‘ (l’amante religieuse) mitklingen. 26 Liebe, Tod und Religion werden so über die französische Bezeichnung der Gottesanbeterin mit dem Akt des Lesens ver‐ schränkt. Für die semantische Ebene bedeutet dies, dass sich Thomas vor jedem Zeichen wie der männliche Part angesichts der weiblichen religiösen Geliebten fühlt, was uns in den Bereich der Brautmystik führt, als deren wichtigste ro‐ manische Vertreter unter anderem Teresa von Ávila, Johannes vom Kreuz und Bernard de Clairvaux genannt werden dürfen. Bei allen dreien geht die Sehn‐ 4. Lesen (bestialischer Worte) 122 <?page no="125"?> 27 Dass die mystische Sprache durchaus erotisch ist, lässt sich in der bereits erwähnten Schrift Bernhard Teubers zur Lyrik des Johannes vom Kreuz nachlesen. [Cf. Teuber 2003]. 28 Bernard de Clairvaux: Rückkehr zu Gott - Die mystischen Schriften, transt./ ed. Bernardin Schellenberger, Düsseldorf: Patmos 2006, p. 209. 29 de Clairvaux 2006: 210. 30 de Clairvaux 2006: 210. sucht nach Vereinigung von der weiblich geprägten Seele (anima) aus, die ihren himmlischen männlichen Bräutigam sucht. Der große Unterschied zu und Bruch mit der Struktur der Brautmystik ist jedoch das umgekehrte Geschlechterver‐ hältnis in TO 2. In TO 2 ist es der Leser, verglichen mit dem männlichen Mantis, der - in der homophonen Lesart - auf die (religiöse) Geliebte wartet und nicht die Seele, die auf die Vereinigung mit ihrem Geliebten hofft. 27 In TO 2 steht die Begehrensstruktur im Vordergrund, dennoch scheint der Wunsch der Appro‐ priation auch ein Gegengewicht im Wunsch nach Unterwerfung zu haben, wie später gezeigt werden soll. Bernard de Clairvauxs 74. Hoheliedpredigt erzählt von einer suchenden Seele, die im Wort auf ihren Bräutigam hofft. Eine Besonderheit des Wortes ist, dass es nach Belieben kommt und geht und dazwischen Räume des Wartens ent‐ stehen, in denen die sehnsüchtig wartende Seele gänzlich auf sich und die un‐ gewisse Erwartung der Rückkehr des Wortes gestellt ist. Bemerkenswert ist, dass bei Bernard de Clairvaux das Wort als eine seltsame Anwesenheit be‐ schrieben ist, deren Ein- und Austreten sich nicht sicher feststellen lässt. Ir‐ gendwann ist es da und unverhofft wieder verschwunden: „Obwohl es öfter bei mir eingekehrt ist, habe ich einige Male sein Eintreten gar nicht bemerkt. Ich spürte, daß es da war. Ich erinnerte mich im nachhinein, daß es zugegen gewesen war.“ 28 Bernard de Clairvaux geht in seiner Predigt analytisch die verschiedenen Sinne durch, um sowohl bezüglich der Augen, wie auch der Ohren, der Nase, des Gaumens und des Tastsinnes zu dem Schluss zu kommen, dass das Wort nicht durch diese Sinne in ihn gekommen sein könne, sondern eine „unwahr‐ nehmbare Erfahrung“ bilde, derer man sich nur durch ihre Effekte versichern könne, nicht jedoch in der direkten Erfahrung. 29 So schreibt er: „Es bewegte, erweichte und verwundete mein Herz, denn dieses Herz war hart und steinern und recht krank. Das WORT begann auszureißen und zu zerstören, aufzubauen und zu pflanzen […], das Dürre zu bewässern, das Finstere zu erleuchten, das Verschlossene zu öffnen […].“ 30 Dem Wort wird eine reinigende, Ordnung und Sinn stiftende Kraft zugesprochen, deren zerstörerische Handlungen als not‐ wendige Eingriffe in den inneren Reifeprozess der Seele interpretiert werden. 4.2 Lesen als Verschlingen (Tiere I: Mantis religiosa) 123 <?page no="126"?> 31 Zur Wunde in dem Gedicht „Noche oscura“ des Johannes vom Kreuz cf. Teuber 2003: 181-205. 32 „Il fut pris, pétri par des mains intelligibles, mordu par une dent pleine de sève; “ [TO2: 28-29]. 33 Darauf werde ich im Kontext der mise en abyme des Lesens eingehen. 34 Cf. de Clairvaux 2006: 211. Die Verwundung des Herzens wird affirmiert, denn sie bedeutet ein neues Leben, zu dem das verhärtete Herz ohne eine entsprechende Öffnung durch die Ver‐ wundung nicht fähig wäre. 31 Dieses Motiv der Wunde findet sich gehäuft in Thomas l’Obscur, wenngleich unter anderen Vorzeichen. Im Falle des 4. Kapitels ist es zunächst die Situation der Überwältigung Thomas’ durch die Worte, die ihn als Leser zum Gelesenen machen und ihn in diesem Prozess verwunden. 32 Diese Verwundung führt neben weiteren wechselseitigen Blessuren und anders als bei Clairvaux nicht ins Licht, sondern tiefer ins dunkle Innere des Wortes, das in engster Verbindung zu Thomas selbst und für eine unbegreifliche Anwesenheit der Nacht steht. Diese zieht Thomas in einen Strom von Metamorphosen, welche Ausdruck eines un‐ aufhaltbaren Entzuges sind. Nun ist Bernard de Clairvaux als Mystiker bekannt, der mit dem Wort das göttliche Wort meint, das die unreife Seele notwendigerweise erschüttert, aber in seiner Tiefe absolut gut und wahr ist. Das Wort hingegen, das Thomas liest - und wahrscheinlich selbst vorher zu Papier gebracht hat 33 - ist ein anderes Wort, eines, das sich mit tödlicher Gewaltsamkeit ebenso gegen seinen Autor wie gegen seinen Leser richtet. Blanchot greift, so möchte ich folgern, auf mystische Denkfiguren des Unsagbaren zurück, um den Weg ein Stück mit ihnen zu gehen und sie dann in einer Art Mimikry an den mystischen Diskurs aus dem tradi‐ tionellen Gefüge zu lösen. Auf diese Weise gelingt es ihm, den Abgrund hinter ihnen aufzuzeigen, der sich auftut, wenn man Gott als Größe und Zielpunkt der Verweisungsstruktur des Unaussprechlichen weglässt. So wird sich im 4. Kapitel von TO 2 (wie auch schon am Ende des 2. Kapitels) an Stelle einer unio mystica ein zerstörerischer Geschlechtsakt mit dem unreinen und ekligen Wort er‐ eignen. Die Brautmystik erscheint so als animalische Triebhaftigkeit, deren Klima weniger eines der Wärme 34 denn der Kälte ist. Anwesenheit Die erste Begegnung von Thomas mit dem Wort, das mit der Gottesanbeterin verglichen wird, ist eine stark erotisierte und das Eintreten des Wortes in Thomas ein penetrierender Prozess. Analog zur nicht fixierbaren Erfahrung der Begegnung mit dem Wort in der 74. Hoheliedpredigt erlebt Thomas im 4. Kapitel 4. Lesen (bestialischer Worte) 124 <?page no="127"?> 35 TO2: 29. 36 TO2: 29-30. von Thomas l’Obscur jedoch eine weitere Begegnung mit dem Wort über die Nacht bzw. das Unbegreifliche hinter der Nacht, zu dem durchzudringen er un‐ fähig ist. Nach der Bewusstwerdung über die beiden Wörter ‚Je‘ und ‚Il‘, die wie personifizierte Vertreter von Gut und Böse links und rechts von Thomas’ Kopf gegeneinander kämpfen, erscheint die Nacht im Text. Sie ist damit möglicher‐ weise zugleich Bedingung für die Präsenz der beiden sich bekämpfenden Wörter wie auch für deren Bewusstwerdung. Was dann folgt, ist deutlich gerahmt durch die Nacht und den Lichtschein, der scheinbar durch die geschlossenen Fenster‐ läden dringt. In Analogie zu den halbgeöffneten Augenlidern des Wortes in der Anfangssequenz des Kapitels fungieren hier die Fensterläden als semipermeable Membran der Wahrnehmungsermöglichung für die absolute Leere des Zimmers, in dem sich eine Anwesenheit ausbreitet: 35 La première fois qu’il distingua cette présence, c’était la nuit. […] Sa solitude était complète. Et cependant, autant il était sûr qu’il n’y avait personne dans la chambre et même dans le monde, autant il était sûr que quelqu’un était là, qui habitait son sommeil, l’approchait intimement, qui était autour de lui et en lui. Par un mouvement naïf, il se leva sur son séant et chercha à percer la nuit, essayant avec la main de se donner de la lumière. Mais il était comme un aveugle qui, entendant du bruit, al‐ lumerait précipitamment sa lampe: rien ne pouvait lui permettre de saisir sous une forme ou sous une autre cette présence. Il était aux prises avec quelque chose d’inac‐ cessible, d’étranger […] 36 Die Beobachtung der Einsamkeit, die den Beginn der Erfahrung mit den ge‐ fährlichen Worten im Auftakt des Kapitels bedingte, wird hier wiederholt. Nun jedoch richtet sie sich nicht mehr auf den Innenraum der Wörter, sondern pro‐ jiziert sich in den Raum des Hotelzimmers, in dem Thomas sich befindet. Im Folgenden, so meine These, wird der Kampf mit den Wörtern erneut erlebt, jedoch als Alptraum in Thomas’ Leseumgebung gespiegelt, insofern als dieser eine seltsame Koexistenz von Anwesenheit und Abwesenheit wahrnimmt. Diese Anwesenheit des Fremden ohne Form und Namen wird jenseits des Sehsinnes in aller Nichtexistenz wie eine Atmosphäre erfahren. Das heißt, Thomas spürt in der Leere der Dunkelheit den Effekt von etwas Anwesendem, ohne dessen Ursache benennen zu können. Der Begriff, den Blanchot in L’espace littéraire dafür findet, ist der der ‚autre‘ nuit. Thomas ist wie blind und verloren in der Raum- und Zeitlosigkeit der anderen Nacht und ihren verschiedenen bedrohlichen, sich gegenseitig ersetzenden An‐ 4.2 Lesen als Verschlingen (Tiere I: Mantis religiosa) 125 <?page no="128"?> 37 Cf. TO2: 30-31. 38 TO2: 31 [Hervorhebungen von der Verfasserin]. 39 Dieser „durée“, verstanden als Dauer, korrespondiert der Begriff der durée Henri Bergsons, den ich im Weiteren mitbezeichne, sobald von der Dauer die Rede ist. Die durée beschreibt eine Erfahrung von Zeit, die sich als ungeschiedene Ausdehnung der physikalischen Messbarkeit (temps) widersetzt. Die durée stellt für Bergson die eigent‐ lich wahre Zeit des Strömens dar, die von den Versuchen sie zu bändigen und zu rhyth‐ misieren (temps) verdeckt wird. [Cf. Henri Bergson: Essai sur les données immédiates de la conscience, Paris: PUF 10 2013, pp. 56-104]. 40 Blanchot stellt in einem Artikel über Bergson heraus, wie er dessen Term der durée versteht, nämlich als „mobilité du moi qui se perd dans une intimité obscure, toute cette réalité pure dont aucune image ne peut représenter l’élan et qui est pour Bergson l’essence de la durée […].“ [Maurice Blanchot: „Bergson et le symbolisme“, in: id.: Faux Pas, Paris: Gallimard 1971 / 1943, pp. 132-135, hier p. 132. 41 TO2: 32. wesenheiten von Leere, Abwesenheit und Fremdheit, deren finale, physisch greifbare Transformation er in terrorisierter Erwartung ersehnt. 37 Zuvor erfolgt noch ein zeitlicher Hinweis, dass er eine Nacht und einen Tag lang mit diesem „être“ wach gewesen sei. Durch ihre Einlagerung in die sowohl räumliche wie auch zeitliche Dimension der anderen Nacht, welche die Unterscheidung Tag / Nacht unterläuft oder überschreitet, ist diese Anmerkung jedoch nicht als zuverlässige Zeitangabe zu werten. Sie arbeitet mit den Strukturen der Chro‐ nologie, besitzt aber nicht deren Verbindlichkeit. Die Angst vor dem Kom‐ menden, im Sinne eines Auf-ihn-Zukommenden, sprengt Thomas’ Zeitemp‐ finden in die unendliche Dauer der Erwartung. Dies manifestiert sich textuell über die Isotopie der Zeit: Il attendit. Le dos appuyé au mur. Mais ni les minutes, ni les heures n’épuisèrent son attente. Il se sentait toujours plus proche d’une absence toujours plus mons‐ trueuse dont la rencontre demandait l’infini du temps. Il la sentait à chaque instant plus près de lui et la devançait d’une portion, infime mais irréductible, de la durée. 38 Die Art und Weise, wie Thomas dem sich nähernden Wesen zeitlich zuvor‐ kommen kann, wird als „durée“ beschrieben. 39 Nur sie kann als innere und aus‐ gedehnte Zeit des Werdens dem nahenden Grauen vorangehen, weil sie dessen raumzeitliche Konstitutionsbedingung ist. 40 Die durée bedingt als reine Dauer den Raum, der, von ihr dynamisiert, zum weiteren Ausdruck des Kampfes mit der Anwesenheit wird. Kurz vor dem Ende des Kapitels wird sodann das Ende der Nacht und das Erlöschen des Lichtes durch die Fensterläden markiert: „La fin de la nuit vint. La lumière qui brillait à travers les volets s’éteignit.“ 41 Entgegen dieser äußeren 4. Lesen (bestialischer Worte) 126 <?page no="129"?> 42 Rainer Stillers verbindet mit Winfried Wehle die durée bei Blanchot mit der „durée intime“ der Nouveaux Romanciers. [Stillers 1979: 98-99]. Über die halb geöffneten Fensterläden ist es darüber hinaus möglich, diese Verbindung auch ganz konkret hin zu Alain Robbe-Grillets Text La jalousie zu vertiefen. 43 Die Unterscheidung von durée und temps, die in der skizzierten Textstelle eine wichtige Rolle spielt, weist Analogien zu Heideggers Unterscheidung von „eigentlicher“ bzw. „ursprünglicher“ Zeit (ekstatisch ausgedehnte Zeitlichkeit) und „vulgärer“ Zeit (ge‐ richtete, zählbare Folge von Jetzt-Momenten) auf, die er in Sein und Zeit macht und die Blanchot aufgrund seiner Heidegger-Lektüren nicht unbekannt gewesen sein dürfte. [Cf. Martin Heidegger ( 12 1972): Zweiter Abschnitt, 6. Kapitel, § 78-§ 81, pp. 404-428]. Rahmung der Zeitlichkeit hält aber der Kampf mit dem Wesen an, da dieses als Teil der durée unabhängig von der messbaren Zeit existiert. Die Dauer ist zeit‐ licher Ausdruck der anderen Nacht und betrifft die Dimension der inneren Er‐ fahrungen und der Transformationsprozesse einer sich wiederholenden mo‐ menthaften Gegenwärtigkeit. Man könnte daher auch von einer Subjektivierung oder Atomisierung der Zeit sprechen. 42 Sie überlagert oder durchsetzt die struk‐ turierte, messbare, homogene Zeit (temps) und verweist damit meines Erachtens auf die (Lese)-Erfahrung von Thomas, die entgegen der äußeren Zeit (dem Ende der Nacht) andauert. 43 Die zeitlich-räumliche Markierung über die Nacht, ver‐ mittelt durch die Fensterläden und den Lichteinfall, ist sehr deutlich, ebenso ist es aber auch ihre Durchdringung im unaufhaltsamen Strömen der durée, die eine Dimension der anderen Nacht ist, welche alptraumartig als tiergestaltige Heimsuchung der gelesenen Worte auftaucht. 4.3 Tiere II: Die Ratte Im 9. Seminar über die Identifikation liest Jacques Lacan seinen Seminaristen zwei längere Passagen aus dem 4. Kapitel von TO 2 vor. Zum einen zitiert er den Anfang des Kapitels, zum anderen eine spätere Szene, in der Thomas sich nun nicht mehr einer Gottesanbeterin, sondern einer Ratte ausgesetzt fühlt. Es ist wenig verwunderlich, dass Lacan sich gerade diese beiden Stellen aus TO 2 aus‐ sucht, werden doch in ihnen das Auge und das Begehren als zentrale psycho‐ analytische Begriffe wie kaum in einem anderen Kapitel in den Vordergrund 4.3 Tiere II : Die Ratte 127 <?page no="130"?> 44 Sigmund Freud: „Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose (genannt ‚Der Rat‐ tenmann‘)“, in: id.: Studienausgabe, Bd. 7, ed. Alexander Mitscherlich, Frankfurt a. M.: Fischer 1973, pp. 35-103. Die relevante Passage scheint mir die Stelle über eine drasti‐ sche Strafe aus dem Orient zu sein, von der wie folgt erzählt wird: „Ob er etwa die Pfählung meine? - Nein, das nicht, sondern der Verurteilte werde angebunden - (er drückte sich so undeutlich aus, daß ich nicht sogleich erraten konnte, in welcher Stel‐ lung) - über sein Gesäß ein Topf gestülpt, in diesen dann Ratten eingelassen, die sich - er war wieder aufgestanden und gab alle Zeichen des Grausens und Widerstandes von sich - einbohrten. In den After, durfte ich ergänzen.“ [Freud 1973: 44; Hervorhebungen im Originaltext]. 45 Jacques Lacan: Le séminaire IX - L’identification, 1961-1962 (PDF), ed. Michel Roussan, pp. 602-604 (Sitzung vom 27. Juni 1962). Georges Bataille: Histoire de rats, in: id.: L’impossible, Paris: Minuit 1962, pp. 14-100. 46 TO2: 32. gerückt. Lacan zieht eine Linie von Freuds „Rattenmann“ 44 zu Georges Batailles Histoire de rats. 45 Bei Bataille wie bei Blanchot ist mit der Ratte eine Obszönität des Wortes als Todeserfahrung artikuliert. Der körperliche Exzess wird zur Eks‐ tase, die das Ich außer sich bringt und seine Grenzen überschreiten lässt. Doch wird die Sprache Blanchots in Thomas l’Obscur, anders als die Batailles in Histoire de l’œil oder in seiner Histoire de rats, nie pornographisch. Sie wirkt eher klinisch und unbeeindruckt sachlich angesichts der durchgängig in der Er-Form beobachteten sexuellen Gewaltakte. Im 4. Kapitel von TO 2 ist die Ratte leibhaf‐ tiger Ausdruck des Wortes, mit dessen Anwesenheit Thomas um sein Leben ringt: C’est dans cet état qu’il se sentit mordu ou frappé, il ne pouvait le savoir, par ce qui lui sembla être un mot, mais qui ressemblait plutôt à un rat gigantesque, aux yeux perçants, aux dents pures, et qui était une bête toute-puissante. En la voyant à quelques pouces de son visage, il ne put échapper au désir de la dévorer, de l’amener à l’intimité la plus profonde avec soi. Il se jeta sur elle et, lui enfonçant les ongles dans les entrailles, chercha à la faire sienne. 46 Zwischen Thomas und der Rattenverkörperung des Wortes ereignet sich - ein‐ geklammert in Verweise auf die Unsicherheit ob der eigenen Wahrnehmung - ein mit Lust vermischter Kampf um reziproke orale Aneignung und Penetration. Frédéric Nefs These in seinem Artikel „Le piège“ ist, dass es in Thomas l’Obscur eine nicht zu trennende Verbindung zwischen Schrecken und Lust gebe, insbe‐ sondere jedoch im 4. Kapitel, das er einer Freudschen psychoanalytischen Lek‐ 4. Lesen (bestialischer Worte) 128 <?page no="131"?> 47 „Tout ce qui dans les autres récits de Blanchot est présenté comme l’impossible - la crainte devant la menace d’un contact mortel - est réalisé dans ce contact avec le rat.“ [Frédéric Nef: „Le piège“, in: Lire Blanchot I, Gramma 3 / 4 1976, 71-88, hier 72]. 48 Nef liest ‚lier‘ und ‚lire‘ als Anagramme: Das Verbinden trägt folglich das Lesen in sich und umgekehrt. [Cf. Nef 1976: 83]. 49 Nef 1976: 75. 50 Cf. ibid., pp. 75-77. 51 Ibid., p. 77. 52 Ich sehe das Selbst-Begehren ebenso als treibende Kraft, möchte aber genauer am Text zeigen, was die Rolle der Wahrnehmung im Rahmen dieser Triebstruktur ist. 53 Nef 1976: 80. 54 Ibid. türe unterzieht. 47 Im Lesen entstehe ein von Gewalt geprägter Kontakt 48 , dessen intensivster Ausdruck im Kampf mit der Ratte liege. „La lecture des mots est explorante et carnassière et engage le corps. La lutte avec le rat […] succède donc à l’expérience déréalisante du regard.“ 49 Nef liest die zahlreichen Verdopplungen und Kippbewegungen zwischen Thomas und den Wörtern als Verdopplung von Thomas in Subjekt und Objekt, die er im Weiteren mit Freuds Begriff der phan‐ tasmatischen Wiederkehr erklärt. 50 Er interpretiert dabei den Blick Thomas’ als einen sich egozentrisch begehrenden, der im Inneren des Wortes auf sich selbst trifft: „Le mot […] est le piège où le regard se désire lui-même.“ 51 Alle Kämpfe, die Thomas im Laufe dieses Kapitels austrägt, sind in Nefs Lesart zurückzu‐ führen auf die anfängliche Selbstverdopplung, deren metaphorischer Ausdruck der Spaltung in Subjekt und Objekt die diversen Tiere - allen voran die Ratte - sind. Er verwirft jedoch eine symbolische Lektüre, die vorschnelle Verbindungen zwischen den verschiedenen Körperöffnungen zieht, für die das verschlingende Auge stehen könnte, da es ihm um die Hervorkehrung einer übergeordneten Triebstruktur geht. 52 Stattdessen plädiert Nef für eine genauere Analyse des Signifikanten „ra“, der in der Ratte, Französisch „rat“, steckt, um über die Me‐ tapher der Ratte hinauszugehen und zu ihrer triebhaften Wurzel „ra“ zu kommen: „[L]e signifiant ‚ra‘, dans la statique et la dynamique du fantasme, marque l’inscription de mécanismes pulsionnels, et pointe vers la rature du sujet […] le signifiant ‚ra‘ (lexicalisé ‚rat‘, ‚ras‘, etc.) inscrit les pulsions et, de là, inaugure une chaîne signifiante qui ne double pas nécessairement la chaîne métaphorique, mais la trame.“ 53 Das von Nef dann angeführte Textbeispiel aus Thomas l’Obscur soll anhand des Gleitens des Signifikanten „ra“ zwischen verschiedenen Stellen innerhalb des Textes, aber auch über Verbindungen zu anderen Texten Blanchots bis hin zu intertextuellen Bezügen auf Mallarmé zeigen, wie der Text quasi von innen heraus seine Geschlossenheit fragmentiert. 54 Dem möchte ich nicht widerspre‐ 4.3 Tiere II : Die Ratte 129 <?page no="132"?> 55 Im 6. Kapitel spielt die Wiederkehr auf ganz andere Weise eine wichtige Rolle: Dort ist es weniger eine phantasmatische Wiederkehr, denn eine Wiederkehr des Gleichen, die ich im Sinne Nietzsches zu interpretieren versuche. 56 Nef 1976: 79 [Hervorhebungen durch die Verfasserin]. 57 TO2: 28. chen, vielmehr würde ich Nef mit meiner Lektüre des 2. Kapitels als Ausdruck einer Nachtkryptographie und basierend auf den darin gezeigten anasemischen Verschiebungsbewegungen der Kryptastruktur zustimmen. Problematisch an Nefs Argumentation ist dennoch, dass er mit dem Lexem „ra“ Verbindungen zu einer relativ weit entfernten Textstelle im 6. Kapitel zieht, in der Worte wie „naufrage“, „ras“ oder „raffle“ vorkommen. 55 Doch warum soll ausgerechnet dieses Lexem und kein anderes ein so entscheidender Ausdruck der phantas‐ matischen Heimsuchung sein? Über die Homophonie von „la mante religieuse“ und ‚L’amante religieuse‘ wäre dies beispielsweise ebenso möglich. Eine inte‐ ressante Randerscheinung des Unbewussten ist, dass Nef das Lexem „ra“ just dort nicht bemerkt, wo es für seine eigene Theorie sehr brauchbar wäre, nämlich als Verbindung von verschlingender Vereinnahmung des Lesens mit dem Be‐ reich des Oralen, zumal er zur Beschreibung der Heimsuchung beide Begriffe im selben Satz nennt: „[C]’est la complicité entre la vision et la dévoration, l’intrication des pulsions scopiques et orales.“ 56 Die Komplizenschaft von Vision und Verschlingen ist daher nicht nur eine des gleitenden Signifikanten, sondern immer auch eine der Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit des Lesens, von Worten, die sich zeigen und dabei andere verdecken. 4.4 Mise en abyme des Lesens Nicht nur hat es der Leser des 4. Kapitels von TO 2 mit zwei Zeitebenen zu tun, die auch zwei Arten von Räumen kreieren -, einen inneren Raum der Ausdeh‐ nung und Erfahrung (durée) und einen äußeren der Begrenzung und Struktur (temps) - sondern auch mit einer doppelten mise en abyme des Lesens. Im Rück‐ gang auf den Beginn des Kapitels zeigt sich die mise en abyme in Gestalt des lesenden Thomas, von dem wir - ebenfalls lesend - erfahren. Dies wäre die erste mise en abyme des Lesens, welche den reellen Leser in den Textablauf einbezieht, indem z. B. anstelle von Thomas die Rede vom „lecteur“ ist. 57 Dadurch lässt der Text kurzzeitig den Lesevorgang auf der Ebene der histoire über den discours in 4. Lesen (bestialischer Worte) 130 <?page no="133"?> 58 „Mise en abyme, donc, non seulement du roman mais de l’acte dans lequel nous nous engageons au moment même d’assimiler le livre. Nous sommes, en tant que lecteurs de Thomas l’obscur, à la place du lecteur fictif du roman. Nous faisons, en lisant ce chapitre, ce que fait Thomas. […] Thomas et le livre tâchent de se dévorer l’un l’autre. Chacun cherche à amener son adversaire à l’intimité la plus profonde avec soi. Et, nous le verrons, tous les orifices sont bons à cette assimilation: les yeux, la bouche, les mains […], ces points de contact constituent autant d’issues par lesquelles le lecteur et le livre s’entrepénètrent et s’entredévorent.“ [Sweedler 2007: 398-399]. 59 TO1: 42-43. Anders als Pierre Madaule in seinem Vorwort zur wieder aufgelegten ersten Version schreibt, würde dies bedeuten, dass die spätere und kürzere Fassung nicht die leichter verständliche ist, sondern ganz im Gegenteil die Version, die vieles verschweigt, was die erste noch sagt. Dass dieses Verschweigen im Rahmen der Todes‐ erfahrung ein sehr konsequentes ist und gerade durch die Leerstellen auf die Unver‐ ständlichkeit dieser Erfahrung hinweist, wäre eine andere These, die ich unter anderem im 2. Kapitel als Hintergrund meiner Gedanken über die Krypta habe. 60 Dies lässt sich als einen Effekt der Kryptastruktur lesen, in der nicht nur TO1 als Krypta in TO2 liegt, sondern mit dieser Krypta auch die Todeserfahrung inkorporiert wurde, die nur noch phantasmatisch an die Oberfläche kommt. die Ebene des reellen Lesers kippen, der sich den Text, wie Thomas die Wörter, anzueignen versucht. 58 Als Leser von TO 2 bleibt uns jedoch eine tiefer liegende Wiedereintritts‐ struktur des Lesens ins Lesen verdeckt, sofern nicht die erste Version zusätzlich zur zweiten konsultiert wird. Dort findet sich eine nicht unwichtige Passage, die in der späteren Fassung gänzlich von Blanchot verborgen wird. Aus ihr geht hervor, dass die Seiten des Buches, welche Thomas so vertieft studiert, Frag‐ mente der ersten drei Kapitel des Romans Thomas l’Obscur sind. So heißt es in der ersten Version: „‚Il descendit sur la plage […] le secret de sa métamor‐ phose […] une vague […] le touchait. […] Il se leva, il tourna le dos à la mer […].‘“ 59 Neben diesen Beispielen der wörtlichen Wiederholung zentraler Bewegungen der ersten drei Kapitel verweisen aber auch Paraphrasierungen des in TO 1 zitierten Buchtextes auf die vorangegangenen Erfahrungen des Pro‐ tagonisten. Ebenfalls nicht unerheblich ist, dass in dem, in TO 2 dann wegge‐ lassenen, Buchtext der bevorstehende Tod direkt thematisiert wird, wodurch die Metamorphosen als Vorstufen des Todes eine klarere Bedeutung erhalten, die ohne den ausgesprochenen Bezug zum Tod in TO 2 schwerer verständlich ist. 60 Dieser in TO 1 knapp zwei Seiten lange Abschnitt ist ein über Anführungs‐ striche markierter Abdruck der Buchseiten, über die folglich das von Thomas gelesene Buch einen metaleptischen Ebenensprung vollzieht und auf der da‐ rüber liegenden Ebene erscheint. Das von Thomas Gelesene, das der Leser der ersten Version noch lesen kann, bleibt dem Leser der zweiten Fassung ver‐ borgen. Sofern jedoch die ältere Version mitgelesen wird, kann diese Ausspa‐ rung als verdeckte mise en abyme gedeutet werden, deren Wirkkraft gerade 4.4 Mise en abyme des Lesens 131 <?page no="134"?> 61 „C’est donc un livre qui honnit Thomas: livre qui, dans la première version du texte, s’intitulerait vraisemblement Thomas l’obscur. Alors que l’édition de 1950 ne précise pas le livre que Thomas lit, dans la version de 1941, par contre, nous, lecteurs de Thomas l’obscur, pouvons lire le livre évoqué, lequel raconte les expériences du personnage éponyme décrites dans les chapitres précédents.“ [Sweedler 2007: 401]. Anders als Sweedler, der sich in seiner Analyse auf die erste Version des Romans bezieht, in diesem Abschnitt schreibt, sind die abgedruckten Seiten des Buches von Thomas über Thomas jedoch nirgends mit „Thomas l’obscur“ bezeichnet. Dies wäre eine Metalepse, die aber so nicht realisiert ist. 62 TO2: 33. durch ihre Verborgenheit nicht geschmälert wird, ist sie doch performativer Ausdruck einer nicht festlegbaren Verschiebung durch das Lesen, die sich jedes Mal durch Wiederholung neu verdeckt. 61 Die Zäsur, die ich im Text über die Erwähnung der Nacht und die rahmende Struktur der Fensterläden verortet habe, markiert eine Überblendung des Lesens (der vor Thomas liegenden Textseiten, die ihm wie eine Gottesanbeterin entge‐ gentreten) mit dem Lesevorgang, der performativ iteriert wird und sich als durée über das Gelesene legt. Dieser zweite Vorgang wird am Ende des Kapitels explizit als Heimsuchung durch die Worte benannt und als Effekt des (allzu genauen) Lesens beschrieben: À chaque fois, Thomas était repoussé jusqu’au fond de son être par les mots mêmes qui l’avaient hanté et qu’il poursuivait comme son cauchemar et comme l’explication de son cauchemar. […] [I]l ne remuait plus qu’avec une fatigue infinie. Son corps, après tant de luttes, devint entièrement opaque et, à ceux qui le regardaient, il donnait l’impression reposante du sommeil, bien qu’il n’eût cessé d’être éveillé. 62 Die Worte, die Thomas heimsuchen, sind die Worte, die er verstehen will und die er dabei nicht in eine klare Struktur bringen kann. Stattdessen wiederholt er sie mit jedem Versuch der Einholung in alptraumartig verschobener Weise. Augustinus’ Selbsterkenntnis über das Lesen wird damit zum unabschließbaren Abstieg in das eigene Begehren nach Selbsterkenntnis, und die Verarbeitung über die ruminatio gestaltet sich als körperlicher Exzess, der Thomas völlig er‐ schöpft und entleert. Über die externe Beobachterinstanz im letzten Satz wird die notwendig scheiternde Fehlinterpretation, die sich der inneren Erfahrung nicht bemächtigen kann, artikuliert. Der Effekt des Lesens ist, dass dieser Effekt sich unendlich fortsetzt - der fast tödliche Kampf zwischen Thomas und den Wörtern wiederholt sich in weiteren Kämpfen bis hin zum Kannibalismus - und diese Wiederholungsstruktur kann als Ausdruck einer Dauer verstanden werden, die nicht nur Thomas, sondern auch den Leser von Thomas l’Obscur heimsucht. 4. Lesen (bestialischer Worte) 132 <?page no="135"?> 63 Roland Barthes: La chambre claire - Note sur la photographie, in: id.: Œuvres complètes, Bd. 3, ed. Éric Marty, Paris: Seuil 1995, pp. 1105-1197, hier p. 1126. Roland Barthes’ Abwertung des studium ist im Kontext seiner Autor-und Urheberskepsis zu verstehen, sofern sich die Annahme eines solchen Urhebersubjekts zwischen das Bild und den Betrachter stellt und die unmittelbare und unvoreingenommene Erfahrung beeinträch‐ tigt. 4.5 Vom punctum überwältigt Roland Barthes unterscheidet in La Chambre claire (1980) im Kontext seiner Gedanken zur Photographie zwischen zwei Wirkweisen einer Photographie auf den Betrachter, die er punctum und studium nennt. Das studium bezeichnet die Eindrücke, die das Subjekt in Auseinandersetzung mit den sich im Bild offen‐ barenden Vorstellungen des Photographen zu Wissen ordnen kann. Es handelt sich folglich um Bilder, deren angestrebte Wirkung beim Betrachter nach Barthes zu offensichtlich und inszeniert ist, während das punctum gerade diese Ordnung und den Pakt zwischen Produzent und Rezipient bedroht, indem es als Unvorhergesehenes oder Zufälliges aus dem Bild in den Betrachter dringt und ihn auf diese Weise attackiert: „Le punctum d’une photo, c’est ce hasard qui, en elle, me point (mais aussi me meurtrit, me poigne).“ 63 Das punctum ist ein Punkt hinter der Bildlichkeit, der besticht, eine Stelle im Bild, wo das Zeigen in ein Sich-Zeigen umschlägt und so den Betrachter fasziniert, ihn bannt durch etwas Unvorhergesehenes und durchaus unbewusst Lust Versprechendes hinter dem Dargestellten. Diese Verletzungsgefahr, die von manchen Bildern ausgeht, ist ebenso auf den geschriebenen Text übertragbar - so auch auf die Lesesituation und das intensive, Welt ausblendende Lesen Thomas’, der aufgrund seiner Le‐ sepassion von den gelesenen Worten beinahe hinterhältig überwältigt wird. Die Angriffe, durch die von Thomas betrachteten und wohl auch gelesenen Wörter, sind als solche Punktierungen durch das Angeblickte, wie Barthes sie beschreibt, ein weiterer Ausdruck der Auflösung von Subjekt und Objekt im Wahrnehmungsprozess. Die von ihnen verursachten Wunden können zudem mit den Malen verglichen werden, die nach Barthes das punctum hinterlässt und die bleibender Ausdruck des Anderen im Subjekt sind. Barthes wie Blanchot verweisen neben der intellektuellen auf eine somatisch-affektive Erfahrung und Erkenntnis. In Barthes’ Essay wie in Blanchots literarischem Text geht vom be‐ trachteten Gegenstand eine eigene Kraft aus, die sich erst durch den Betrachter entfaltet und so beide ineinander verwickelt sowie zu gegenseitigen Konstitu‐ enten wie Gegnern macht. Wie schon in meiner vorangegangenen Lektüre des 4. Kapitels von TO 2 gezeigt, wird Thomas in mannigfaltiger Weise von den Worten zu vereinnahmen versucht. Unter diesen Dominierungs-, bis hin zu Tö‐ 4.5 Vom punctum überwältigt 133 <?page no="136"?> 64 Thomas’ Position zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Täter und Opfer chan‐ giert dabei stetig. Nicht zuletzt lässt sich dies an einem Vergleich mit einer auf dem Boden kriechenden Schlange erkennen: „Il rampait lourdement, à peine différent du serpent qu’il eût voulu devenir pour croire au venin qu’il sentait dans sa bouche. Il mettait sa tête sous le lit dans un coin plein de poussières […].“ [TO2: 32] Thomas wird einerseits in die Nähe eines gefährlichen giftigen Tieres gerückt, andererseits wird er in der auf die eben zitierte Schlangenpassage folgenden Textstelle selbst von einer rat‐ tenähnlichen Kreatur angegriffen [Cf. Punkt 4.3 meiner Untersuchung]. Dem Bild der auf dem Boden und im Staub kriechenden Schlange, auf das ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen kann, sei hinzugefügt, dass es im semantischen Kontext des Abgrün‐ digen, Verworfenen und auch Bösen aufs Engste mit dem biblischen Sündenfall ver‐ bunden scheint, wenn es in 1. Mose 3 bezüglich Gottes Strafe gegenüber der Schlange, die Eva dazu verführt hat, vom verbotenen Baum der Erkenntnis zu essen, heißt: „Weil du das getan hast, seist du verflucht, verstoßen aus allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Erde fressen dein Leben lang.“ 65 Cf. Detlef Hoffmann: „Studium und Punctum, erneut beleuchtet“, in: Katharina Sykora, Anna Leibbrandt edd.: Roland Barthes Revisited - 30 Jahre Die Helle Kammer, Köln: Salon 2012, pp. 17-30, hier p. 26-27. 66 Das ist strukturell die Position des Abjekten und der Abjektion, auf die ich im 8. Kapitel zu sprechen kommen werde. tungsversuchen sind auch solche, die den spitzen und scharfen Bewegungen des punctum ähneln: angefangen bei der Mantis religiosa, die die Position gegenüber den Zeichen beschreibt, über die „dent pleine de sève“, von der Thomas gebissen wird, bis zu diversen anderen Bissen unklarer Herkunft, die jedoch zumindest mit denen einer Ratte verglichen werden. 64 Dass hier Stachel oder Zähne als Metaphern einer Wortmacht herbeigezogen werden, erscheint mir kaum zu‐ fällig. Sie sind Ausdruck der öffnend-zerlöchernden Kraft, die das punctum de‐ finiert und die Barthes wie Blanchot hervorheben. In diesem konkreten Kapitel von TO 2 ist eine deutlich dämonische Seman‐ tisierung des punctum zu bemerken, die so bei Barthes nicht vorhanden ist. Wie Detlef Hoffmann in seinem Aufsatz über studium und punctum anmerkt, durch‐ zieht La chambre claire die Spur der platonischen Lichtsehnsucht, deren Basis eine Begegnung von Betrachter und Betrachtetem über deren jeweils ausge‐ sendete Lichtstrahlen denkt und die Barthes nun in der Übertragung auf die Fotographie als deren Aura bestimmt, die sich mit der Betrachter-Aura trifft. 65 Das Buch, in dem Thomas liest, ist am Ende verfault und bildet so als zwar eigenständiges Objekt auf dem Weg zur Subjekthaftigkeit doch einen Anblick des Grauens, der in offensichtlicher Distanz zur reliquienartigen Verehrung der Photographie in Barthes’ Text steht. 66 Auch geht es Blanchot nicht nur darum, die Subjekt-Objekt-Relation in ihrem Aktivitäts-Passivitäts-Verhältnis zu Gunsten des Objekts umzukehren, sondern vielmehr die steten reziproken Beherrschungsversuche zwischen Leser und 4. Lesen (bestialischer Worte) 134 <?page no="137"?> 67 Cf. Anselm Haverkamp: „Das Bildgedächtnis der Photographie - Roland Barthes und Augustinus“, in: id., Renate Lachmann edd.: Memoria - Vergessen und Erinnern, Mün‐ chen: Fink 1993, pp. 47-66. Worten aufzuzeigen. Barthes parallelisiert in La chambre claire seine Konversion zur Photographie mit der Erleuchtungserfahrung des heiligen Augustinus im 9. Buch seiner Confessiones. 67 Beide vollziehen eine Wendung ins Innen durch eine Abkehr von bisherigen Seh-und Denkgewohnheiten. Wie in der Annähe‐ rung an die Lesesituation von Thomas zu Beginn des Kapitels mit Blick auf das 6. Buch der Confessiones von Augustinus bereits betont, ist es auch bei Barthes ein Rückzug aus der Welt in die stille Betrachtung der Photographien seiner verstorbenen Mutter, die eine intensive wie auch erschütternde Begegnung mit den Wort-, bzw. Bildzeichen bedingt. Bei Blanchot wie in den mystischen Traditionen liegt der Akzent noch stärker auf Auflösungsbewegungen des Subjektes. Während sich jedoch das Subjekt in der Mystik in Gott zu verlieren versucht, um mit ihm in einer unio mystica eins zu werden und als geläutertes Sub-jectum (als Unterworfenes, lat. sub (unter), iacere (liegen)) aus dieser Verbindung wieder hervorzugehen, führt in Blanchots Thomas l’Obscur die Entwerdung des Subjekts in keine Einheit mehr. Das Subjekt wird entworfen, verworfen und liegen gelassen, ohne von Gott oder in Gott aufgehoben zu werden. Thomas, der als solches subjectum dem Gesetz der Sprache unterworfen ist, kann in der Sprache weder selbstbestimmt agieren, noch einen Ausweg aus ihr finden. Vielmehr wird er zum Element der selbst‐ implikativen Sprache, in der die Elemente miteinander in Kontakt stehen, ohne auf eine Welt außerhalb zu verweisen. Thomas’ Versuch der Introspektion über den Umweg der Schrift bzw. des Entzifferns der Wörter scheint in der Folge zu scheitern und ihn - statt zu er‐ leuchten - zu zersetzen und weiter in die innere wie äußere Dunkelheit der anderen Nacht zu führen. 4.5 Vom punctum überwältigt 135 <?page no="138"?> 5. Katze, Seher, Medium - Zwischen Mumifizierung und Wiederauferstehung Im 5. Kapitel von TO 2 setzt sich die Tiermetaphorik des vorangegangenen Ka‐ pitels fort. Während im 4. Kapitel sowohl die Gottesanbeterin wie auch die Ratte in einer Mischung aus tödlicher Lust und Gewalt Thomas phantasmatisch heim‐ suchen, erscheint die Katze im 5. Kapitel als Gestaltwandlerin, die sich meta‐ morphotisch nicht nur zwischen Tier und Mensch, sondern auch zwischen Leben und Tod bewegt. Mit dieser Katzenfigur soll die Frage nach dem Medium als Zwischenzustand und Ermöglichungsgrund von Wahrnehmung gestellt werden. Eingebettet wird die Problematik des Mediums in eine kurze Skizze der Diskussion zwischen Sartre und Blanchot, die diese um die Bestimmung der Literatur geführt haben. Anhand der Katze möchte ich zeigen, wie die Verteidigung einer Performanz‐ ästhetik in „La littérature et le droit à la mort“ gegenüber einer Mimesisästhetik, wie Sartre sie zumindest in seinen Schriften unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg und insbesondere in seinem Essay „Qu’est-ce que la littérature? “ gefordert hat, von Blanchot in Thomas l’Obscur über Figuren des Sterbens und der Wiederauf‐ erstehung literarisch ausformuliert wird. Die Performanzästhetik in Thomas l’Obscur zeigt sich unter anderem daran, dass im Tod das Medium als exzentri‐ sche Personalität die Trennung von Mensch und Tier in einer Bewegung des Werdens auflöst, was den Leser vor das Problem der Unentscheidbarkeit der Zuordnungen und Blickperspektiven stellt, die sich aus den zahlreichen Para‐ doxien ergeben, mit denen der Text arbeitet, um sich performativ an eine Er‐ fahrung der reinen Gegenwart als Gleichzeitigkeit heranzuschreiben. Dabei folge ich zum einen der topologischen Gliederung des Kapitels über eine Abstiegsbewegung in das Tal des Todes, die in Analogie mit einer Erfahrung der anderen Nacht zu setzen, und zum anderen einer Aufstiegs- oder Wieder‐ auferstehungsbewegung aus dem Grab und aus dem Kokon der Mumie. Zwi‐ schen diesen beiden Bewegungen inszeniert der Text den Tod und den Versuch des Sich-Tötens als hochgradig paradoxales Geschehen. Meine These ist, dass Blanchot das Verhältnis von Diesseits - Tod - Jenseits durchspielt und dabei religiöse Bezüge nicht verheimlicht. Sowohl was das Bildarsenal, als auch was die zyklische Struktur der Wiederkehr oder Rückkehr aus dem Tod betrifft, weist <?page no="139"?> 1 Diese ägyptologischen Bezüge bei Blanchot sind Forschungsneuland, weshalb auf keine Forschungsliteratur verwiesen werden kann. Vorab sei erwähnt, dass die Katze in Form verschiedener Gottheiten in der ägyptischen Mythologie existierte. 2 Jean-Paul Sartre: „Qu’est-ce que la littérature? “, in: id.: Situations II, Paris: Gallimard 1948, pp. 55-330. Ich zitiere im Folgenden aus dieser Ausgabe. der Text Referenzen zur altägyptischen Mythologie und Seelenkonzepten auf, 1 ebenso gibt es derlei Verbindungen zu biblischen Wiederkehrfiguren, deren vielleicht wichtigste nach Jesu Wiederauferstehung die Auferweckung des ge‐ storbenen Lazarus ist. Im Sinne der Performanzästhetik ist die Verwendung dieser Strukturen jedoch nicht mimetisch wiedergegeben, sondern quasi aus‐ agiert und signifikant in ein zu lesendes Zwischenreich verschoben. Die litera‐ rische Todeserfahrung ist ausbuchstabiert als unkontrollierbares Pendeln zwi‐ schen den Semantisierungen von Diesseits und Jenseits und erweist somit den Tod als das, was zwar gesagt, damit aber niemals erfasst werden kann. Entgegen den Versuchen den Tod zu verinnerlichen, wie es unter anderem die drei ägyptischen Seelenaspekte Ka, Ba und Ach sind, die nach dem Tod die Einheit mit dem mumifizierten Leib suchen, und auch entgegen der biblischen Versprechen von Wiederauferstehung und Erlösung nach dem Tod, wird im 5. Kapitel von TO 2 der Tod als ungreifbare Wiederholung entfaltet. Sie spiegelt sich nicht zuletzt in der syntaktischen Struktur als doppeltes Erscheinen von Orten, Dingen und Bewegungen (z. B. des Tal des Todes, des chat supérieur, des zweifachen Todes und des wiederholten Aufstiegs), was bereits als ein Vorver‐ weis auf das 6. Kapitel und die ewige Wiederkehr verstanden werden kann. 5.1 Tiere III: Die Katze - ägyptischer Totenkult Eine Katze, die keine Katze ist Am 1. Oktober 1945 eröffnet Sartre die von ihm gegründete Zeitschrift „Les Temps Modernes“ und fordert darin die Schriftsteller seiner Zeit auf, Verant‐ wortung für die historischen Geschehnisse des 2. Weltkrieges zu übernehmen, was ihm den Vorwurf politisch engagierter Literatur einbringt. Auf diesen wie‐ derum reagiert er in der Novemberausgabe von 1947 mit dem Essay „Qu’est-ce que la littérature? “. 1948 wurde der an einigen Stellen überarbeitete Text in Sartres Situations II neu publiziert. 2 Der Text ist in vier Kapitel gegliedert, von denen das erste den Titel „Qu’est-ce qu’écrire? “ trägt. Dort unterscheidet Sartre zwischen der Literatur und anderen Künsten, wie etwa zwischen den bildenden Künsten oder der Musik: „[…] travailler sur des couleurs et des sons, c’en est une autre de s’exprimer par des mots. Les notes, les couleurs, les formes ne sont 5.1 Tiere III : Die Katze - ägyptischer Totenkult 137 <?page no="140"?> 3 Sartre 1948: 60. 4 Ibid., p. 63. 5 Ibid., p. 64. 6 Cf. ibid., p. 93. 7 Andreas Gelhard weist zu Recht darauf hin, dass diese Setzung Sartres durchaus im Widerspruch zur früheren romanesken Darstellung des Schreibens steht, wie sie etwa in Sartres Roman La nausée vorkommen. [Cf. Gelhard 2005a: 15]. 8 Erstmalig erschienen ist dieser Text 1947 und 1948 in zwei Teilen in der bekannten literaturkritischen Zeitschrift Critique und wurde dann 1949 in La part du feu als dessen letzter Text gesetzt. Dort ist die ursprüngliche Zweiteilung des Essays nicht mehr er‐ sichtlich. Ob es sich dabei um einen Fehler beim Setzen handelt, wie Andreas Gelhard vermutet [Gelhard 2005a: 13] oder um eine der vielen Überarbeitungen Blanchots, kann nicht eindeutig entschieden werden. Fakt ist jedoch, dass der Text in der 1981 erschie‐ nenen Aufsatzsammlung Blanchots De Kafka à Kafka wie in La part du feu als eine Einheit abgedruckt ist, was der Annahme eines versehentlichen Zusammenführens der beiden Textteile eher widerspricht. pas des signes, elles ne renvoient à rien qui leur soit extérieur.“ 3 Außerdem mar‐ kiert er die Grenze zwischen Poesie und Prosa, indem er die Poesie ebenfalls dem Feld des Nicht-Zeichenhaften zuordnet. „[L’]empire des signes, c’est la prose; la poésie est du côté de la peinture, de la sculpture, de la musique. […] Les poètes sont des hommes qui refusent d’utiliser le langage.“ 4 Der Dichter habe die „attitude poétique“ gewählt, „qui considère les mots comme des choses et non comme des signes.“ 5 Sofern er mit Dingen arbeitet, sei es ihm verwehrt, Welt durch die Wörter durchschimmern zu lassen und somit Sartres Forderung einer moralischen und politischen Literatur Folge zu leisten. Im zweiten Kapitel „Pourquoi écrire? “ geht Sartre davon aus, dass der Be‐ weggrund des Schreibens nicht zum Schriftsteller, sondern zum Leser hinführt, und dass dieser das Ziel des Schreibens sei. Ohne den Leser würde das Werk gar nicht zum Werk. 6 Der Schriftsteller kann sein eigenes Werk nicht als Objekt sehen, da er immer schon vorher weiß, was die Feder zu Papier bringen soll. 7 Anders der Leser, dem die Möglichkeit der unmittelbaren Werkserfahrung ge‐ geben ist. Durch den Leser erst kann das Werk sich vollenden bzw. sich zum Abschluss bringen. Noch im Jahr 1947 beschreibt Blanchot mit seinem vielleicht berühmtesten literaturtheoretischen Essay „La littérature et le droit à la mort“ 8 das literarische Werk jenseits des Kommunikationsmediums als direkte Antwort auf Sartres Diktum der engagierten Literatur. Anders als Sartre sieht Blanchot das Werk nicht einfach als Teil des literarischen Prozesses zwischen Autor und Leser, sondern geht im Kontext der modernen Dichtung, allem voran Mallarmé an‐ führend, von einer ontologischen Vorgängigkeit des Werks aus, die den Autor als auch den Leser bestimmt und ihnen sowohl die Kontrolle über das Schreiben 5. Katze, Seher, Medium - Zwischen Mumifizierung und Wiederauferstehung 138 <?page no="141"?> 9 Maurice Blanchot: „La littérature et le droit à la mort“, in: id.: La part du feu, Paris: Gallimard 1949, pp. 291-331, hier: p. 294; im Folgenden mit der Sigle LDM abgekürzt; Cf. Maurice Blanchot: „Les romans de Sartre“, in: PF, Paris: Gallimard, pp. 188-203, hier p. 189. 10 Cf. Maurice Blanchot: „Le règne animal de l’esprit“, Critique 18, (1947), 387-405. 11 Auf eine detaillierte Lektüre der Hegelrezeption Blanchots in LDM muss im Sinne der argumentativen Stringenz verzichtet werden. Zum entscheidenden Einfluss Hegels auf Blanchots Literaturbegriff und der damit verbundenen Denkfigur der anderen Nacht cf. Marlène Zarader: L’être et le neutre - À partir de Maurice Blanchot, Paris: Verdier 2001, pp. 41-86 sowie Hill 1997: 103-157. 12 „Ses talents, il les met en œuvre, c’est-à-dire qu’il a besoin de l’œuvre qu’il produit pour avoir conscience d’eux et de lui même. L’écrivain ne se trouve, ne se réalise que par son œuvre.“ [LDM: 296]. als auch über das Lesen entzieht. Erst durch das Werk und nur durch das Werk gibt es die beiden Instanzen. Als eine fundierende Eigenschaft des Werkes erklärt er die Unaufrichtigkeit, d. h. eine notwendige Zweideutigkeit, Unehrlichkeit und Verschiebungsstruktur, die das Verhältnis von Werk und Welt kennzeichnet und gerade dadurch die Fiktion definiert: „Que la littérature soit illégitime, qu’il y ait en un fond d’imposture, oui, sans doute.“ 9 Die Literatur soll sich vom An‐ spruch auf Mimesis und Wahrhaftigkeit lösen, der Welt untreu werden und weder das Sprachrohr der Welt noch des Schriftstellers sein. In einem anderen Essay über die Romane Sartres verwendet Blanchot statt der imposture den Be‐ griff der mauvaise foi, welcher für Sartre der Inbegriff einer fehlgeleiteten, näm‐ lich von der Verantwortung für das politische Geschehen abgewandten, künst‐ lerischen Haltung ist. Nun ist für die Argumentation und für die Einbindung dieses literaturtheo‐ retischen Textes Blanchots in meine Gedanken zu Thomas l’Obscur nicht uner‐ heblich, dass der erste Teil des Essays in der Zeitschrift Critique mit dem Titel „Le règne animal de l’esprit“ erschien. 10 Dies ist einerseits ein direkter Verweis auf einen Abschnitt in Hegels Phänomenologie des Geistes, andererseits aber auch ein Hinweis auf das Problem der Trennung von Menschlichem und Tierischem, die im 5. Kapitel von TO 2 fraglich wird. 11 Ein geistiges Tier, wie Blanchot im Anschluss an Hegel interpretiert, ist ein Wesen, das sich über das Realisieren von Werken individuiert. Der Schriftsteller ist der Vertreter par excellence eines solchen geistigen Tieres, das nicht weiß, was es tut und wer es ist, bis das Werk vollbracht ist. 12 Dabei ist seine schöpferische Tätigkeit weniger eine selbstbestimmte, als vielmehr eine, die dem Werk zum Ausdruck verhilft, indem sie ihm als Medium dient. Hiermit verbunden ist durchaus eine gewisse Verabsolutierung des Werkes und der künstlerischen Inspiration, die sich an die romantische Ge‐ nieästhetik anschließen ließe, jedoch unterscheidet Blanchots, sich dem Werk 5.1 Tiere III : Die Katze - ägyptischer Totenkult 139 <?page no="142"?> 13 Dennoch existieren andere Parallelen zu Schlegel et al., denen sich das 11. Kapitel der vorliegenden Studie widmen wird. 14 Sartre 1948: 304. gegenüber immer nachträglich ereignende und auf diese Weise stetig selbst un‐ terminierende, Subjektkonstitution ihn von den Frühromantikern. 13 Seine Um‐ kehrung des Verhältnisses von Werk und Autor, mit der er den Autor als nacht‐ räglichen Effekt des Werkes begreift, wird sich in der Betrachtung der Tötungsversuche von Thomas als seine eigene Vorstellung zeigen, die sich als Produkt vor den Produzenten stellt und damit auf der Grenzlinie zwischen Leben und Tod beide Sphären auf der Ebene des in Entwerdung begriffenen Subjekts ineinander schiebt. Was Blanchot in den theoretischen Schriften nach oder pa‐ rallel zu Thomas l’Obscur formuliert, so auch in „La littérature et le droit à la mort“, ist in Thomas l’Obscur nicht erklärt, sondern performativ entfaltet, eben literarisch umgesetzt. Sartre beurteilt in „Qu’est-ce que la littérature? “ den Seinszustand der Wörter in der modernen Dichtung als krank, weil sie nicht mehr die Welt abbilden. Als Beispiel führt er die Benennung einer Katze mit der ihr zugehörigen Tierart ‚Katze‘ an, die der Schriftsteller als solche und nicht anders zu bezeichnen habe: „La fonction d’un écrivain est d’appeler un chat un chat. Si les mots sont malades, c’est à nous de les guérir. Au lieu de cela, beaucoup vivent de cette maladie. La littérature moderne, en beaucoup de cas, est un cancer des mots.“ 14 Blanchot betont hingegen in „La littérature et le droit à la mort“, dass just im Akt des Benennens die bezeichnete Katze von der bezeichnenden Katze getrennt wird und sie gerade in ihrer Abwesenheit repräsentiert. Benennen ist demnach eine Gegenverwirklichung als Verwirklichung des Unwirklichen. In einer Wendung von Sartres Beschreibung der modernen Literatur als einem Krebsgeschwür der Wörter verweist Blanchot auf die andere Seite der Krankheit der Wörter als deren Möglichkeit zur Gesundung, die in der Abkehr von der gewaltvollen Identitätsbeziehung liegt. Souvent, en ces jours, on parle de la maladie des mots […] L’ennui, c’est que cette maladie est aussi la santé des mots. […] Naturellement, un écrivain peut toujours se donner pour idéal d’appeler un chat un chat. Mais ce qu’il ne peut pas obtenir, c’est de se croire alors sur la voie de la guérison et de la sincérité. Il est au contraire plus mystificateur que jamais, car le chat n’est pas un chat […]. Mais le langage littéraire est fait d’inquiétude, il est fait aussi de contradictions. […] En outre, il observe que le 5. Katze, Seher, Medium - Zwischen Mumifizierung und Wiederauferstehung 140 <?page no="143"?> 15 LDM: 302. Die Parallelen zum 5. Kapitel aus TO2 sind recht deutlich: In LDM wird neben der Katze auch Lazarus genannt, worauf noch eingegangen wird. Ebenso steckt der Suizid als „Recht auf den Tod“ bereits im Titel. 16 Sartre, Jean-Paul: L’Imaginaire - Psychologie. Phénoménologie de l’imagination, Paris: Gallimard 1986. Auf die Bildvorstellung Sartres sowie den Begriff des Imaginären wird im 9. Kapitel meiner Untersuchung Bezug genommen. 17 Cf. Gelhard 2005a: 81. Blanchot formuliert das Unbändige der Sprache an anderer Stelle des Textes wie folgt: „Non seulement, chaque moment du langage peut devenir ambigu et dire autre chose qu’il ne dit, mais le sens général du langage est incertain, dont on ne sait s’il exprime ou s’il représente, s’il est une chose ou s’il la signifie; “ [LDM: 329]. 18 Cf. dazu auch die Verbindungen Blanchots zur romantischen Totalität und Selbstrefe‐ renz der Sprache. 19 Mit diesem Neologismus meine ich eine für Blanchot ganz spezifische Art selbstimpli‐ kativen Schreibens, die insbesondere im 8. Kapitel im Kontext des Außens und im 11. Kapitel als Steigerung der romantischen Sprachontologie belegt werden soll. mot chat n’est pas seulement la non-existence du chat, mais la non-existence devenue mot […]. 15 Die Sprache ist nicht transparent, auch und insbesondere nicht die Sprache der Prosa. Auf ihre Dunkelheit und ihre nächtliche Herkunft wird Blanchot wie‐ derholt in seinem Essay hinweisen. Er verwendet Sartres in L’Imaginaire 16 ent‐ wickelten und in „Qu’est-ce que la littérature“ wieder relativierten Bildbegriff deutlich radikaler oder konsequenter als Sartre selbst es tut, denn nicht nur der Dichter, sondern auch der Prosaschriftsteller schafft über das Schreiben fiktive Gegenstände, deren mimetische Weltbeziehung zu hinterfragen ist. 17 Sartres bekannte Trennung zwischen Prosa und Poesie wird damit instabil. In der Prosa wie in der Lyrik kann die Sprache eine Eigendynamik entwickeln, sich als au‐ tonome Welt etablieren und sich somit vom Dogma der Mimesis lösen. 18 Das, was bei Blanchot die Gesundung der Wörter bedeutet, nämlich die Anerkennung eines gewissen Wörterautismus, 19 entspräche wohl bei Sartre einem Suizid der Wörter aufgrund unheilbarer Krankheit, die den gesamten (Text-)Körper be‐ fallen hat und sich darüber hinaus dem Schriftsteller unterwirft. Das 5. Kapitel von TO 2 beschreibt nun im ersten Teil, wie im gerade zitierten Beispiel, eine Katze, die alles andere als mit einer ‚realen‘ Katze identisch ist, um sich dann im zweiten Teil den Suizidversuchen von Thomas zu widmen. Es ist durchaus denkbar, dass Blanchots Kritik an Sartre in „La littérature et le droit à la mort“ und dessen vorherige Kritik an ihm in „Qu’est-ce que la littérature? “ 5.1 Tiere III : Die Katze - ägyptischer Totenkult 141 <?page no="144"?> 20 Sartre bezöge sich, folgte man der Annahme, freilich auf die erste Version von Thomas l’Obscur. 1948 existierte TO2 noch nicht und in seinem Artikel zu Blanchots Roman Aminadab, der 1947 erschien, brachte Sartre ebenfalls ein Tier, genauer ein sprechendes Pferd, als Beispiel des Phantastischen an [Cf. Jean-Paul Sartre: „Aminadab ou du fan‐ tastique considéré comme un langage“, in: id.: Situations, Bd. 1, Paris: Gallimard 1947, p. 122-142, hier p. 124]. In TO1 entspricht das 8. Kapitel dem 5. Kapitel aus TO2. Dies bedeutet also auch, dass man in der unmittelbaren Weiterführung der Tiermetamor‐ phosen aus dem 4. Kapitel im 5. Kapitel von TO2 eine Verdichtung sehen kann, die aus der Erfahrung des Lesens und der Gottesanbeterin direkt über die Seherkatze in den Suizidversuch von Thomas führt, indem eine längere Hotelepisode samt Hotelange‐ stellen fast gänzlich gestrichen wurde [Cf. TO1: 49-72]. 21 TO2: 34. über diese Katzenfigur aus Thomas l’Obscur stattgefunden hat. 20 Entscheidend ist aber vor allem, dass es mit der Katze im 5. Kapitel um Fragen des Mediums geht und mit diesem um die Rolle des Schreibens, insbesondere des literarischen Schreibens des Todes. Die Literatur ist bei Blanchot das Recht auf den Tod, sofern mit ihr die Welt oder zumindest das Autorsubjekt beim Eintritt in den Raum des Literarischen genichtet werden: „La littérature e[s]t le droit à la mort“ wäre dann der Verweis auf das Gleiten des Signifikanten zwischen phonetischer und gra‐ phischer Hörbarkeit bzw. Sichtbarkeit und die damit einhergehende Verunsi‐ cherung des Signifikats. Abstieg - Vers le milieu de la deuxième nuit Mit der Nennung einer „deuxième nuit“, gegen deren Mitte sich Thomas erhebt, um eine Treppe hinabzusteigen, fängt der Text des 5. Kapitels an: „Vers le milieu de la deuxième nuit, Thomas se leva et descendit sans bruit. Personne ne l’aperçut qu’un chat presque aveugle qui, voyant la nuit changer de forme, courut derrière cette nouvelle nuit qu’il ne voyait pas.“ 21 Die Nacht wird somit von Beginn an ins Zentrum gerückt. Einerseits als zeitliche Strukturierung, die die nun folgenden Ereignisse des 5. Kapitels in den Bereich einer zweiten Nacht versetzt und so auf der Inhaltsebene eine Zäsur zwischen den ersten Kapiteln der ersten Nacht und den folgenden bedeutet. Eine andere Möglichkeit ist aber auch, und diese soll Grundlage meiner Deutung dieses Kapitels werden, dass mit der „zweiten Nacht“ auf eine andere ontologische Dimension verwiesen wird als die der ersten Nacht, welche auf den Tag folgt, sodass wir uns mit dieser Annahme auf der Ebene oder in der Tiefe der ‚autre‘ nuit befänden. Die Unent‐ scheidbarkeit zwischen zweiter Nacht als Kennzeichnung einer Tagesabfolge und zweiter Nacht als Indiz einer Todeserfahrung, die sich sprachlich in weiteren 5. Katze, Seher, Medium - Zwischen Mumifizierung und Wiederauferstehung 142 <?page no="145"?> 22 In TO1 ist (noch) nicht von einer „zweiten Nacht“ die Rede. Das Kapitel hebt mit einer Inversion an: „Thomas vers le milieu de la nuit se leva et descendit sans bruit.“ [TO1: 72] Die in TO2 erfolgende Spezifizierung hin zur „deuxième nuit“ lese ich im Sinne meiner Leitthese als Ausdruck eines verstärkten Explizitmachens der Dynamik der anderen Nacht. 23 Jürgen Laederach wählt für seine Übersetzung ins Deutsche den Begriff „Mitte“ [TD: 27]. Verschiebungen zeigt, ist ein zentrales Strukturelement der ‚autre‘ nuit, welche ohne Unterlass auf die Leere hinter allem Aussagbaren hindeutet. 22 Zu hinterfragen ist deshalb auch, was mit dem Ausdruck milieu gemeint ist, d. h. ob die geläufige Bedeutung von Mitte an dieser Stelle reicht 23 , oder ob man im Kontext des Abstiegsbildes und der mythologischen Allusionen dieses Ka‐ pitels auch die Übersetzung mit Unterwelt zulassen müsste. Sodann hätten wir es mit einem Wechsel von der zeitlichen Spezifizierung hin zu einer räumlichen zu tun oder müssten im milieu die Verschränkung von temporaler und spatialer Dimension annehmen. In dem Maße nämlich, wie Welt versprachlicht oder Ver‐ sprachlichtes gelesen wird, kreiert sich nach Blanchot ein eigener Erfahrens‐ raum, der Welt nicht nachahmt, sondern ersetzt und neu erschafft. Dieser Raum wird in zahlreichen Aufsätzen aus L’espace littéraire (wie Blanchot diesen Raum bezeichnet) als nächtlicher oder dunkler Raum beschrieben. Die blinde, im Dun‐ keln sehende Katze aus dem 5. Kapitel von TO 2, ebenso wie die Literatur ge‐ hören zu dieser Unterwelt. Thomas’ lautloser Abstieg fände dann nicht (nur) gegen Mitte der zweiten Nacht, gleichbedeutend mit Mitternacht, sondern in Richtung Unterwelt oder zumindest in Richtung Umgebung der zweiten oder anderen Nacht statt. Er verschwindet sogleich in dieser Nacht, d. h. der Text lässt ihn gemäß seines Namens - Thomas, der Dunkle - im Dunklen verschwinden und erst nach der Katzenepisode wieder sichtbar werden. In diesem Ver‐ schwinden wird als Ungewissheit ob einer möglichen Transformation Thomas’ in eine Katze oder eines tatsächlichen Verschwindens über die textuelle Ebene hinaus das Verschwinden gedoppelt. Was den Grad der Dunkelheit betrifft, ist die zeitliche Mitte der Nacht als maximal dunkel zu verstehen. Die fast blinde Katze, einzige Zeugin von Thomas’ Verschwinden, gleitet einen Tunnel entlang, in dem eine extreme Einschränkung des Wahrnehmungsvermögens vor‐ herrscht, was das Bild eines Untergrundgeschehens verstärkt und schon an dieser Stelle eine Grabesumgebung vorbereitet, die später ganz explizit darge‐ 5.1 Tiere III : Die Katze - ägyptischer Totenkult 143 <?page no="146"?> 24 Dies geschieht nicht zuletzt über die Bezeichnung der Nacht als „nuit subterrestre“ [TO2: 39]. Auch auf den Mythos von Orpheus und Eurydike muss verwiesen werden und damit neben der ägyptischen auf die griechische Mythologie. Näheres dazu findet sich im 10. Kapitel meiner Studie, das sich nicht einem missglückten Suizid, sondern dem tatsächlichen Sterben Annes widmet. 25 TO2: 34. 26 TO2: 34-35. 27 Die Rede ist durch Anführungsstriche markiert. 28 In TO1 befindet sich die Katze in schwankender Transformation mit einer Hundegestalt [Cf. TO1: 72]. In TO2 ist der Hund gänzlich aus dem Kapitel entfernt. 29 Über diese drei Geister werde ich an späterer Stelle eine Parallele zur ägyptischen See‐ lenlehre aufmachen. 30 TO2: 35-36. stellt wird: 24 „Après s’être glissé dans un tunnel où il ne reconnaissait aucune odeur, ce chat commença à miauler, en poussant du fond de la gorge le cri rauque par lequel les chats donnent à entendre qu’ils sont des animaux sacrés.“ 25 Die Katze beobachtet nun, wie die Nacht die Gestalt wechselt und nimmt sich selbst nach einer Transformation in ihr Götzenbild als Stimme an die Nacht, als „voix incompréhensible“ und „voix monstrueuse“ wahr, 26 die über drei Seiten lang spricht, bis sie in einer übergeordneten Perspektive unter sich den in der Erde grabenden Thomas erblickt. 27 Doch bevor wir uns Thomas und damit dem 2. Teil des Kapitels zuwenden, soll genauer auf die Katzengestalt 28 eingegangen werden: Die drei Geister, mit denen die Katzen-Stimme normalerweise in Verbindung steht und von denen einer eine Selbstverdoppelung der Stimme zu sein scheint, sind in diesem neuen Zustand und an diesem ortlosen Ort alle nicht da. 29 Alles an diesem dunklen Ort der Leere ist anders als sonst, was die Katzengestalt in große Angst versetzt, welche sich in ihren zahlreichen Fragen nach irgendeiner Orientierungsmöglichkeit manifestiert. Höchst problematisch scheint für sie zudem zu sein, dass sie sich bar jeder Innerlichkeit dennoch als etwas Monst‐ röses wahrnehmen kann, ohne dies zu verstehen: „Et maintenant je suis un être sans regard. J’entends une voix monstrueuse par laquelle je dis ce que je dis sans que je sache un seul mot. […] Je me sens, affreuse plaie, un visage aussi grand que celui d’un esprit, avec une langue lisse et fade, langue d’aveugle, un nez difforme, incapable de pressentiment, avec d’énormes yeux […]“ 30 Wie an an‐ deren Stellen von Thomas l’Obscur ist es das Paradoxon einer wahrnehmenden Perspektive, die eine Innensicht besitzt, deren Grundlage logisch im Akt ihrer Etablierung zerstört wird. Die Katze hört sich wie aus der Ferne in einem an‐ deren Zustand sprechen. Sie hört und sieht sich als Medium sprechen und sie wohnt ihrer Verwandlung in eine unbeschreibliche Nacht bei, ohne diesen Pro‐ zess steuern zu können. „Déjà je suis plus obscur que les ténèbres. Je suis la nuit 5. Katze, Seher, Medium - Zwischen Mumifizierung und Wiederauferstehung 144 <?page no="147"?> 31 TO2: 36. 32 Zum Begriff des Mediums siehe: Andreas Mahler: „Semiosphäre und kognitive Matrix - Anthropologische Thesen“, in: Jörg Dünne, Herrmann Doetsch, Roger Lüdeke edd.: Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten - Raumpraktiken in medienhistorischer Per‐ spektive, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, pp. 57-69. 33 TO2: 37. de la nuit. Je vais, à travers des ombres dont je me distingue parce que je suis leur ombre, à la rencontre du chat supérieur.“ 31 Die Katze ist ein Medium im doppelten Sinn: einerseits als Ermöglichung von Vermittlung, andererseits als Erfahrungszustand, bei dem das Ich einer von außen kommenden Stimme oder einem Geist weicht und sich damit zum Vermittler, also Medium macht. Das Medium verweist auf sich selbst als Medium. 32 Genauso ist die Katze Betrachter ihrer weiteren Entwerdung, der Auflösung ihrer Gesichtes, der Ablösung ihres Schwanzes sowie des Fells und vor allem der, als korrespondierende Bewegung zur Auflösung des Körpers, stetigen Ver‐ größerung ihres Kopfes, der schließlich zum reinen Blick wird. „Cette tête qui grandit sans cesse et, au lieu d’une tête, semble n’être qu’un regard […] Elle est exactement tournée vers moi et, tout regard qu’elle est, elle me donne l’impression terrible de ne pas m’apercevoir […] en mon état, je n’ai même pas les moyens d’éprouver la peur que je ressens.“ 33 Am Ende ihrer Rede erkennt die Katzengestalt, dass sie bereits tot ist, indem sie sieht, dass der sie wahrnehmende Blick ihr eigener ist, der sie nicht mehr sehen kann, weil sie bereits die Trans‐ formation der eigenen Nichtung vollzogen hat. Auch klärt sich der „chat supérieur“ als Form auf, die die Katze durchlaufen musste, um ihr Ableben zu begreifen und nun vollständig zu verschwinden. Der Ausdruck „chat supérieur“ bezeichnet dabei den Zustand der geschilderten Wahrnehmung eines gleich‐ zeitig von innen wie von außen Blickens durch eine übergeordnete Perspektive, die jedoch gerade eine ist, zu der nur der Weg ohne Umkehrmöglichkeit durch die andere Nacht und d. h. durch die absolute Finsternis und Leere führt. Was hier evoziert wird, ist der reine, vom Auge abgespaltene Blick, der wiederum durch den Erzähler mit einer nachträglichen Perspektivität versehen wird, die beständig zwischen Subjekt und Objekt hin und her kippt. Auch stellt sich mit dieser besonderen Katze, die ihren Zustand bemerkens‐ wert gut reflektieren kann, die Frage nach dem geistigen Tierreich Hegels er‐ neut, erfüllt sie doch in ihrem Erkenntnisprozess die Überschreitung des Tier‐ ischen (An-Sich) hin zum Menschlichen (Für-Sich), nur um dann diesem Selbst-Bewusstsein wieder bei dessen Zersetzung beiwohnen zu können. Die ‚hohe‘ oder ‚obere‘ Katze (chat supérieur) beinhaltet zusätzlich die topologische Komponente eines Blicks von oben auf das Tal, in dem ein Mensch in der Erde 5.1 Tiere III : Die Katze - ägyptischer Totenkult 145 <?page no="148"?> 34 TO2: 37-38. 35 Zum Begriff des Außens siehe Kapitel 8.3. 36 Brigitte Borchardt-Birbaumer: Imago noctis - Die Nacht in der Kunst des Abendlandes. Vom Alten Orient bis ins Zeitalter des Barock, Wien / Köln / Weimar: Böhlau 2003, p. 31. 37 Ibid., p. 36. kratzt: „Je jette un dernier coup d’œil sur cette vallée qui va se refermer et où je vois un homme, chat supérieur lui aussi. Je l’entends gratter le sol, avec ses griffes probablement. Ce qu’on appelle l’au-delà est fini pour moi.“ 34 Thomas, von dem anzunehmen war, dass es sich bei ihm um einen Menschen handelt, ist aus der Sicht der Katze ebenfalls ein „chat supérieur“. Die Koordinaten von oben und unten kollabieren hier, denn er ist unten und wird dennoch als „chat supé‐ rieur“ bezeichnet, ebenso wird dadurch abermals die Gattungstrennung von Mensch und Tier fraglich. Verstörend am Katzenblick ist darüber hinaus, dass er nicht der letzte Blick auf die Welt ist, sondern der Blick auf das Jenseits, l’au delà, das sich zum letzten Mal geöffnet hat. Abermals wird hier mit den Deiktika von hier und dort ein Inversionsspiel getrieben, das auch als Absage an paradiesische Jenseits-Vor‐ stellungen gelesen werden kann. Das Sterben als Eintritt in die ‚autre‘nuit lässt streng genommen kein Jenseits zu, denn es gibt kein Außen des Außens. 35 Jenseitsvorstellungen, ob im Chris‐ tentum oder in zahlreichen anderen Religionen, sind dagegen Bevölkerungen des Außens, welche das Außen zum Innen machen oder die Nacht als Gegen‐ spielerin des Tages zu zähmen versuchen. Sie denken den Tod als Übergang und nicht als Leere. So auch in der Jenseitskonzeption der ägyptischen Unterwelt, die weniger ein Ort der Toten ist, als derjenigen, die dem Tod durch entspre‐ chende Maßnahmen entkommen sind. Mit der Angst vor der Nacht und ihrer Dämonisierung in der altägyptischen Mythologie findet sich eine dritte und vorerst letzte Komponente des „chat su‐ périeur“. Die Nachtvorstellungen im alten Ägypten waren facettenreich und speisten sich aus mindestens drei verschiedenen Kosmogonien. 36 Aus Heliopolis stammt der Glaube an den mächtigen Sonnengott Atum, später Atum-Re oder auch nur noch Re genannt, der sich selbst erschaffend in 75 verschiedenen Hypostasen auftreten kann, darunter auch als Katze. Mit einem Dolch bewaffnet enthauptet er in dieser Gestalt seinen Gegenspieler, den oftmals als Schlange dargestellten Gott Apophis (Verkörperung von Finsternis, Nacht und Chaos). 37 Auch die verschiedenen Konzepte, die Wiedervereinigung von Körper und Seele nach dem Tod zu denken sowie die Mumifizierungspraxis der ägyptischen Totenlehre bilden Beispiele der Bemühungen um Erklärungen des Zustandes 5. Katze, Seher, Medium - Zwischen Mumifizierung und Wiederauferstehung 146 <?page no="149"?> 38 Cf. TO2: 34. 39 Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien, in: id.: Werke, Bd. 2, Gedichte 1910-1926, edd. Man‐ fred Engel, Ulrich Fülleborn et al., Frankfurt a. M./ Leipzig: Insel 1996, pp. 199-234, hier p. 224. Blanchot zitiert diese Verse der Duineser Elegien in L’espace littéraire in der fran‐ zösischen Übersetzung. [Cf. EL: 175] Ebenfalls in L’espace littéraire formuliert er seine Skepsis bezüglich religiöser Bannungen des Todes: „Dans les grands systèmes religieux, la mort est un événement important, mais elle n’est pas le paradoxe d’un fait brut sans vérité: elle est rapport à un autre monde où précisément le vrai aurait son origine, elle est le chemin de la vérité et si lui manque la caution des certitudes saisissables qui sont les nôtres ici-bas, elle a la garantie des certitudes insaisissables, mais inébranlables, de l’éternel.“ [EL: 118]. 40 Antonio Loprieno: „Drei Leben nach dem Tod - Wie viele Seelen hatten die alten Ägypter? “, in: Heike Guksch, Eva Hofmann et al. edd.: Grab und Totenkult im alten Ägypten, München: Beck 2003, pp. 200-225, hier p. 201. 41 Ibid., p. 207 [Hervorhebung im Original]. 42 Daher wird der Ba auch manchmal als „Freiseele“ beschrieben, die nach dem Tod in die Himmelsphäre fliegen kann, während der Leichnam unter die Erde wandert. [Cf. Jan Assmann: Tod und Jenseits im alten Ägypten, München: Beck 2003, p. 119 sowie p. 132]. nach dem Leben. 38 Blanchot webt, so meine These, diverse solcher Vorstellungen in dieses 5. Kapitel ein, um eine Grabesszenerie zu erschaffen, in der Konzepte der Rückkehr aus dem Tod dazu dienen, den Tod aus verschiedenen Richtungen zu denken. Er erweist sich auf dieser Grundlage als etwas, das stets und unum‐ gehbar auf der anderen Seite des Ausdrückbaren steht. Der Tod, von dem es eine Wiederkehr gibt, ist nicht der Tod, wie Blanchot ihn denkt, denn, um mit den Worten Rilkes zu sprechen, „[i]mmer ist es Welt / und niemals Nirgends ohne Nicht […]“. 39 Ka, Ba und Ach Die alten Ägypter unterschieden drei „Konzepte des Lebens“ bzw. drei Exis‐ tenzweisen nach dem Tod: Ka, Ba und Ach. 40 Der jenseitsorientierte Ba bezeichnet nach Antonio Loprieno den „metaphy‐ sischen Zugang zum Tod“ 41 , der wesentlich durch einen Kontinuitätsbruch cha‐ rakterisiert ist - der Fluss des Lebens, aber auch die Verbindung von Ba und Körper müssen erst unterbrochen werden, um so überhaupt wieder eine Verei‐ nigung zu ermöglichen. Damit manifestiert sich im Ba die Unterscheidung von Leben und Tod, von Dauer und Unterbrechung, aber auch von Göttlichem und Menschlichem. Man unterscheidet folglich die Ba-Seele von den beiden anderen Seelenaspekten Ach und Ka vor allem durch ihre Fähigkeit, sich trotz enger Bindung an einen Körper von diesem lösen zu können. 42 Die Ba-Seele entsteht in einem Körper und verlässt diesen nach dem Tod, um dann in bestimmten 5.1 Tiere III : Die Katze - ägyptischer Totenkult 147 <?page no="150"?> 43 „In Gestalt des Ba gelangt der Verstorbene durch die Todeswelt hindurch und aus dieser heraus in die Halle des Totengerichts, in das Haus des Osiris, ins Binsen-und Opferge‐ filde und in die Sonnenbarke. Als Ba verfügt er auch über die Fähigkeit verschiedene Gestalten, darunter die eines ‚lebenden Ba‘, anzunehmen, in denen er vorübergehend ins diesseits zurückkehren kann. […] Ba und Leib bilden eine Einheit, die sich im Tode auflöst und durch die Totenriten unter den Bedingungen der Trennung wiederherge‐ stellt wird.“ [Assmann 2003: 119]. 44 Assmann 2003: 123. 45 Assmann 2003: 12. Abständen zu ihm zurückzukehren. 43 Jan Assmann weist darauf hin, dass diese Rückkehr in verschiedenen Sargtexten in Analogie zum Sonnenlauf gesetzt wird (und daraus resultierend zur Nacht): „Man stellt sich den Sonnenlauf nach dem Modell des Totenschicksals vor und imaginiert die Sonne als einen ‚Ba‘, der bei Tage über den Himmel zieht und des Nachts in der Unterwelt von Heliopolis seinen dort ruhenden Leichnam besucht […]“. 44 Die Unterwelt (ägyptisch: Duat) 45 bereist der Sonnengott Re meist als Kat‐ zengestalt in seiner Sonnenbarke, welche er während dieser Nachtfahrt gegen die Schlangengestalt seines Kontrahenten Apophis verteidigen muss, um wieder aus dem Duat aufzutauchen und zur Sonne des nächsten Tages zu werden. Wenn der Sonnengott in seiner Ba-Gestalt am Himmel kreist, so ist auch denkbar, dass er mit Eintritt in die Unterwelt seine Gestalt wechseln muss und als Katze hinabsteigt. Dies bedeutet, dass der Sonnengott zwei Existenzformen hat: eine sichtbare, solange er am Himmel ist, und eine unsichtbare, transformierte, so‐ bald er in die Unterwelt eintaucht. In der Abstiegsbewegung in die andere Nacht wird Thomas zu einem solchen Gestaltwandler, einem Wandler zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, zwi‐ schen Tag und Nacht, zwischen Leben und Tod, zwischen Katzengestalt bzw. Ba, der absteigt und Lazarus, der aus dem Grab hinausgeht. Thomas’ Abstieg in die Unterwelt der zweiten Nacht ist ebenfalls mit einem Unsichtbar-Werden oder zumindest Nicht-wahrgenommen-Werden verknüpft. Dass ihn einzig eine halb‐ blinde Katze wahrnimmt, lässt sich in diesem Denkrahmen nun vielmehr als andere Form seiner selbst lesen, denn als externes, von ihm eindeutig trennbares Wesen. Die Katze kommt ins Spiel und in den Text, als Thomas schon im Begriff ist, nach unten zu gehen und sich im Milieu bzw. der Unterwelt der zweiten Nacht befindet. Gemäß dem, was bislang bereits über die Nacht in Thomas l’Obscur gesagt worden ist, muss dies als Hinweis darauf gelesen werden, dass Abgrenzungen zwischen dem Wahrgenommenen und dem Wahrnehmenden äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich sind. Denn sie bilden ein reziprokes Konstitutionsverhältnis, ebenso wie der Wechsel von Tag und Nacht. Zu be‐ achten ist, dass sich alles, was sich in diesem Kapitel ereignet, im Bereich der 5. Katze, Seher, Medium - Zwischen Mumifizierung und Wiederauferstehung 148 <?page no="151"?> 46 Assmann 2003: 129. 47 Cf. TO2: 34-35. 48 Hans Belting: „Aus dem Schatten des Todes - Bild und Körper in den Anfängen“, in: Constantin Barloewen ed.: Der Tod in den Weltkulturen und Weltreligionen, München: Reclam 1996, pp. 92-136, hier p. 94. Unterwelt, d. h. im Raum der Nacht, abspielt - bis hin zum Schluss, als Thomas-Lazarus die Schatten hinter sich lässt und in der Sternennacht als wiederauferstandener Tod fortschreitet. Zur Motivation der Rückkehr der Ba-Seele aus dem Himmel zum toten Körper der Leiche in der Unterwelt, d. h. vom Licht ins Dunkel, wird ihr z. B. ein Napf mit Trinkwasser oder auch Essen bereitgestellt. Damit ist in vielen alten ägyp‐ tischen Sargtexten der Glaube an eine sukzessive Reanimation des Leichnams verbunden: Der Ba darf seine Einheit mit dem Leichnam nicht vergessen, damit mittels dieser „beseelenden Konnektivität“ 46 eine Gegenbewegung zur trenn‐ enden Funktion des Todes geschaffen wird. In Thomas l’Obscur wird ebenfalls ein Napf, „écuelle“, erwähnt. Dieser Napf muss nicht mit der ägyptischen Mytho‐ logie verbunden werden, schließlich handelt es sich ja um eine Katze, bei der es nicht ungewöhnlich ist, dass sie aus Näpfen frisst. Im Kontext der Geister, der Beschreibung eines Sehertums und der Funktion als Medium, durch das die „voix monstrueuse“ spricht, kann der genannte Napf jedoch auch als weiterer Hinweis auf ein mythologisches Bildarsenal gelesen werden. Die Katze erfährt allerdings einige Irritationen ihrer gewohnten Erfahrungen, darunter insbesondere die bereits erwähnte Abwesenheit ihrer drei Geister, die sie sonst umgeben und die in einem festgelegten Verhältnis zu ihr stehen. Einer dieser drei Geister ist durch eine wesentliche Ähnlichkeitsbeziehung zur Katzengestalt beschrieben: „[…] le plus beau de tous, celui qui miaule, ronronne et me ressemble si fort que c’est comme mon propre esprit […].“ 47 Daher möchte ich auf die Frage der Ähnlichkeit im Weiteren näher eingehen. Bild und Leiche: Ka Niemand kann sich ähnlich sehen. Er tut es entweder nur im Bild oder nur als Leichnam. 48 Hans Belting Eine Leiche ist Anwesenheit von Abwesenheit. Die Leiche nimmt den Raum in Beschlag, so dass sich im Raum der aufgebahrten Leiche alles verändert. Der Tote ist da und verweist über seinen sichtbaren Körper auf eine ehemalige An‐ wesenheit, aber hinter seiner physischen Präsenz ist nichts mehr - die Referenz 5.1 Tiere III : Die Katze - ägyptischer Totenkult 149 <?page no="152"?> 49 Thomas Macho: „Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich“, in: Jan Assmann ed.: Der Tod als Thema der Kulturtheorie - Todesbilder und Totenriten im Alten Ägypten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, pp. 89-120, hier p. 113. 50 Macho 2000: 100. 51 Maurice Blanchot: „Les deux versions de l’imaginaire“, in: EL, pp. 341-355, hier p. 344. Im Folgenden abgekürzt mit der Sigle DVI. Auf das Verhältnis von Leiche und Ähnlichkeit wird das 9. Kapitel meiner Studie genauer eingehen und dann auch auf die „Zwei Fassungen des Imaginären“ zurückkommen. 52 Belting 1996: 94. 53 Jean-Paul Sartre: L’être et le néant - Essai d’ontologie phénoménologique, Paris: Gallimard 1943, p. 590. läuft ins Leere. Er ist in Form einer „paradoxale[n] Materialität“ 49 da und doch nicht da. „Jeder Tote ist ein Double. Er unterscheidet sich von seinem lebendigen Zwilling, ohne ein anderer zu werden.“ 50 Das Bild bzw. die Leiche ist, so könnte man folgern, eine leibhaftige Fixierung der Abwesenheit. In „Les deux versions de l’imaginaire“ bringt Blanchot Bild und Leiche in einen Nexus: „L’image, à première vue, ne ressemble pas au cadavre, mais il se pourrait que l’étrangeté cadavérique fût aussi celle de l’image.“ 51 . Hans Belting bringt mit seiner Lektüre dieses Blanchot-Textes den Zusammenhang von Bild und Leiche wie folgt auf den Punkt: „Das Bild findet seinen wahren Sinn darin, etwas abzubilden, was abwesend ist und also allein im Bild da sein kann. Es bringt zur Erscheinung, was nicht im Bild ist, sondern im Bild nur erscheinen kann. Das Bild eines Toten ist also unter diesen Umständen keine Anomalie, sondern geradezu der Ursinn dessen, was ein Bild ohnehin ist.“ 52 So funktioniert der tote Körper wie ein Bild des ehemals lebendigen Körpers, auf den er verweist. Mit dem Tod legt sich der Tod in Gestalt des leblosen Körpers bildhaft über den nunmehr nur noch erin‐ nerten Anblick des lebendigen Körpers. Er versperrt und ermöglicht die Sicht, indem der Mensch in sein eigenes Bild-Double übergeht. Sartre spricht in seinem 1943 publizierten philosophischen Hauptwerk L’Être et le néant vom Tod als Faktum, das als solches den Kreis schließt, der mit der Geburt geöffnet wurde. Gegen Heideggers „Sein zum Tode“ betont er dabei die bedrohliche Kontingenz, die sich im Tod zeigt und auf die sich der Mensch nur bedingt vorbereiten oder einstellen kann: „La mort est un pur fait, comme la naissance; elle vient à nous du dehors et elle nous transforme en dehors.“ 53 Für meine weitere Lektüre stellen sich daher zwei Fragen: Kann sich der Mensch auf den Tod vorbereiten? Und ist der Suizid als gewollter und organisierter Tod nach Blanchots Auffassung des Todes möglich? Zumindest die wohlhabenden Ägypter investierten schon zu Lebzeiten in ihre Gräber, welche mit Inschriften und Bildern ausgestattet waren, die den Leb‐ 5. Katze, Seher, Medium - Zwischen Mumifizierung und Wiederauferstehung 150 <?page no="153"?> 54 Assmann 2003: 134. 55 Cf. Loprieno 2003: 203. 56 Loprieno 2003: 206. 57 Assmann 2003: 132-133. enden zu Lebzeiten als Gestorbenen abbildeten. 54 Damit wurde ein Bild oder ein Selbstentwurf des Lebenden mit Blick auf seinen Zustand nach diesem Leben kreiert, um die Angst vor dem Tod und dem Jenseits zu lindern, bzw. etwas kritischer formuliert, ein kontrollierbares Jenseits zu erschaffen, um das radikale und unbegreifliche Jenseits zu überdecken. Der diesseitsorientierte Ka ist verglichen mit Ba und Ach dasjenige ägypti‐ sche Lebenskonzept mit der stärksten Nähebeziehung zum Einzelmenschen und verbindet diesen auch nach seinem Tode mit den Lebenden. Nach Antonio Loprieno neutralisiert er den Tod aufgrund seines generationsübergreifenden Aspektes (z. B. der Bindung des Sohnes an den Vater), der ein Fortbestehen über den Tod hinaus ermöglicht. 55 Ein Teil des Verstorbenen zwischen Individualität und Gemeinschaftssphäre bleibt bestehen und garantiert ihm eine fortgeführte Partizipation an den sozialen Strukturen der Lebenden: „Ziel des Totenkultes am Ka des Verstorbenen ist es, nach erfolgter diesseitiger Einbindung seine Sozialisierung post mortem zu bewirken. Der Ka ist also das Vehikel einer über den Tod hinausgehenden gesellschaftlichen Fortdauer, die durch die Versorgung des Toten mit Totenopfern bewirkt wird.“ 56 Und Jan Assmann formuliert die Verbindung von Ka und Mensch wie folgt: „Der Ka […] bildet kein Paar mit dem Körper, sondern mit dem ‚Selbst‘ des Menschen. Er ist Seele, Schutzgeist und Doppelgänger in einem […]; bei der Vereinigung des Toten mit seinem Ka ver‐ einigen sich nicht Leib und Seele, sondern der Tote selbst mit seinem alter ego.“ 57 Sich mit seinem Ka zu vereinen bedeutet, sich als Toter mit seinem jen‐ seitigen Doppelgänger zu vereinen. Ähnlich dieser Fusion von Totem und Dop‐ pelgänger als lebensverlängernder Maßnahme formuliert wiederum Blanchot im 5. Kapitel von TO 2 einen scheiternden suizidalen Selbstentwurf, auf den Thomas, der sich im 5. Kapitel selbst sein Grab schaufelt, trifft, um mit und in ihm zu sterben: Pour la septième fois, il préparait lentement, en laissant dans le sol l’empreinte de ses mains, un grand trou qu’il élargissait à sa taille. […] La tombe était pleine d’un être dont elle absorbait l’absence. Un cadavre indélogeable s’y enfonçait, trouvant dans cette absence de forme la forme parfaite de sa présence. […] Dès que, la fosse achevée, Thomas s’y jetait, ayant suspendu à son cou une grosse pierre, il se heurtait à un corps même du fossoyeur déjà entré dans la tombe pour la creuser. Cette fosse qui avait exactement sa taille, sa forme, son épaisseur, était comme son propre cadavre, et 5.1 Tiere III : Die Katze - ägyptischer Totenkult 151 <?page no="154"?> 58 TO2: 38-39. 59 EL: 129-130. chaque fois qu’il cherchait à s’y enfouir, il ressemblait à un mort absurde qui aurait essayé d’enterrer son corps dans son corps […] il y avait un autre mort qui l’avait devancé et qui, identique à lui, poussait jusqu’à l’extrême l’ambiguïté de la mort et de la vie de Thomas. 58 Als Thomas mit einem schweren Stein um den Hals in sein selbst geschaufeltes Grab springt, fällt er auf seinen Doppelgänger-Körper, der ihm zuvorgekommen ist und der seinen Selbstmordversuch scheitern lässt, indem er ihn buchstäblich untergräbt, sofern er immer schon da ist, wenn Thomas versucht, sich in das Grab zu werfen. Für das Verhältnis von Bild und Leiche bedeutet dies nun noch einmal anders gedacht, dass sie sich ihm materiell präsentieren, weil er sie ent‐ worfen hat. Sein Selbstentwurf als Leiche (das Ziel des Selbstmordes) stellt sich ihm demnach entgegen und versetzt ihn in eine unüberwindbare Nachzeitigkeit. Er ist gewissermaßen verspätet für seinen eigenen Tod, da der Gedanke der Handlung immer vorauseilt. Der Selbstmord als Handlung scheint aber auch grundsätzlich einen Widerspruch darzustellen, sofern der Suizid gerade als Wei‐ gerung, weiter Teil der Welt zu sein und in ihr zu handeln, einen gewissen or‐ ganisatorisch-weltlichen Aufwand bedingt, wie er im obigen Zitat auch darge‐ stellt ist. Doppelter Tod Um diesen Gedanken verständlicher zu machen, möchte ich auf Blanchots theo‐ retische Gedanken zum Selbstmord zurückgreifen, die er unter anderem in L’es‐ pace littéraire in Worte gefasst hat. Von Bedeutung erscheint mir insbesondere seine Vorstellung des „zweifachen Todes“ für Thomas’ Suizidversuch im 5. Ka‐ pitel. Gemeint ist mit dieser „double mort“ die Unterscheidung eines greifbaren, vollziehbaren Todes und eines unsichtbaren, ungreifbaren Todes „qui n’est liée à moi par aucune relation d’aucune sorte, qui ne vient jamais, vers laquelle je ne me dirige pas.“ 59 Der Selbstmord kann sich nach Blanchot nur auf den ersten Tod beziehen und muss daher immer am Tod, dem anderen Tod, scheitern. Es steht daher nicht in der Macht des Selbstmörders, sich seinen Tod, sondern le‐ diglich das Phantasma des Todes, zu geben. Im 5. Kapitel von TO 2 erscheint der unsichtbare Tod im Suizid als dessen unkontrollierbarer Todesaspekt, der erst im Moment des Suizidvollzuges zum Vorschein kommt. In seinem Erscheinen ereignet sich der Übergang vom ge‐ planten Akt der Selbsttötung in das Unsichere und Offene des Todes. Diese Transition verläuft analog zu derjenigen von der ersten zur anderen Nacht. Die 5. Katze, Seher, Medium - Zwischen Mumifizierung und Wiederauferstehung 152 <?page no="155"?> 60 Le Nouveau Petit Robert de la langue française - Dictionnaire alphabétique et analogique de la langue française, edd. Paul Robert, Josette Rey-Debove, Paris: Le Robert 2014, p. 585. 61 Burkhard Meyer-Sickendiek: Tiefe - Über die Faszination des Grübelns, München: Fink 2010, insbesondere p. 19 sowie pp. 53-79. 62 Auf die Wiederholungen der Zahl Sieben in diesem Kapitel gehe ich später im Kontext der siebenfachen Versiegelung ein. ‚autre‘ nuit, in die sich die erste Nacht ohne jede Vorwarnung verwandeln kann, ist der dem Menschen entzogene unsichtbare Tod im Akt des Selbstmordes. Er ist in Thomas’ Fall der Teil, der Thomas als Phantasma des Toten zuvorkommt. Graben und Grübeln Ein anderer Aspekt, um dieses doch zunächst etwas unzugängliche Bild der Ge‐ dankenverkörperung von Thomas’ Leiche im selbst geschaufelten Grab zu ver‐ stehen, eröffnet sich womöglich durch einen Blick auf die etymologische Her‐ kunft des Verbes ‚creuser’. So bezeichnet dieses Lexem zum einen die materielle Handlung des Grabens oder Aushöhlens (z. B. eines Loches), zum anderen steckt aber, wie im Deutschen, auch der reflexive Vorgang des Vertiefens (appro‐ fondir) und des Kopfzerbrechens (se creuser la tête, la cervelle) darin. 60 Burkhard Meyer-Sickendiek unterscheidet in seinem Buch Tiefe - Über die Faszination des Grübelns zwischen zwei Formen des Grübelns. Zum Einen untersucht er das Grübeln als positiv besetzte Denkart der Romantik, mit der der Weg in die Tiefe der Welt gesucht wurde, zum Anderen eine negativ konnotierte Variante, die er mit „Rumination“ bezeichnet, also ein unendliches Wiederkäuen des bereits Ge‐ dachten als Ausdruck eines Wiederholungszwangs des Denkens. 61 Auch im Französischen gibt es die Unterscheidung von ruminer im Sinne eines Wieder‐ käuens und dem oben genannten creuser. Thomas gräbt sein Grab, um sich darin zu begraben und er tut dies nicht zum ersten, sondern zum siebten Mal. 62 Er wiederholt die Handlung des Grabens zum siebten Mal, scheitert jedoch in der Ausführung seines Suizids, weil der Körper des Totengräbers immer schon da ist, bevor er (Thomas) da ist. Ich wiederhole noch einmal den hierfür wichtigen Aspekt des vorherigen Zitats: „Cette fosse qui avait exactement sa taille, sa forme, son épaisseur, était comme son propre cadavre, et chaque fois qu’il cherchait à s’y enfouir, il ressemblait à un mort absurde qui aurait essayé d’enterrer son corps dans son corps […] il y avait un autre mort qui l’avait devancé et qui, identique à lui […].“ Thomas hat nicht nur sieben Mal sein Grab mit den Händen geschaufelt, sondern auch mehrfach ver‐ 5.1 Tiere III : Die Katze - ägyptischer Totenkult 153 <?page no="156"?> 63 Rainer Stillers zieht in seiner Interpretation dieser Stelle über die Zahl Sieben eine Pa‐ rallele zu Dantes Inferno XIII der Divina Commedia und dem dort beschriebenen „Wald der Selbstmörder“, der markanterweise im 7. Höllenkreis situiert ist. [Stillers 1990: 64]. 64 Eine weitere Verbindung mit dem Bildarsenal der altägyptischen Mythologie stellt der Osiris-Mythos dar, der von der heimtückischen List Seths, Osiris’ Bruder, handelt, wel‐ cher zunächst den Körper des Osiris vermisst, um ihm sodann heimlich einen zu diesen Maßen haargenau passenden Sarkopharg mit der Absicht bauen zu lassen, über ein fingiertes Spiel auf einer Festlichkeit diesen Sarkophag demjenigen zu schenken, dessen Passform er hat. Als Osiris sich hineinlegt, wird der Sarg eilig verschlossen, versiegelt und der lebendig begrabene Osiris in den Nil geworfen. Osiris wird dann nach einer nochmaligen Zerstückelung der Leiche von Isis wieder zusammengesetzt, über Zau‐ bersprüche wiederbelebt und zum Herrscher über das Reich der Toten ernannt. [Cf. Richard H. Wilkinson: Die Welt der Götter im alten Ägypten - Glaube. Macht. Mytho‐ logie, transt. Thomas Bertram, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, pp. 118-119]. sucht, sich in dieses Grab einzugraben. 63 Das Grab ist aber vor allem nicht nur ein Grab, in dem eine Leiche liegt, sondern es steht in einer Ähnlichkeits‐ beziehung zu Thomas’ Leichenexistenz. D.h. zwischen der Aushöhlung, in der die Leiche zum Liegen kommen soll, und der Leiche, die in der Aushöhlung liegt, kann Thomas nicht mehr unterscheiden, was sich in dem Paradoxon des Ver‐ suchs ausdrückt, seinen Körper in seinem Körper zu begraben. 64 Man könnte dies nun mit Blick auf die Doppelbedeutung des creuser so in‐ terpretieren, dass Thomas sich durch sein wiederholtes Graben oder Grübeln in die Tiefe einen Doppelgänger oder Wiederkehrer seiner selbst geschaffen hat, der ihn aufgrund der unhintergehbaren Vorzeitigkeit des Gedachten überholt (dévancé) hat. Damit verbinden sich hier die beiden Aspekte des Grübelns und Grabens. Das creuser birgt in sich das wiederholende Grübeln (ruminatio) in Form eines wiederholenden Grabens. Thomas versucht via Suizid Herr über seinen eigenen Tod zu werden, indem er mit den Händen in die Erde greift, um sich eine Aushöhlung oder Form zu schaffen, die ihn in eine Leiche verwandelt und so seinen verinnerlichten Tod zu einem äußeren werden lässt. Das Be-greifen des Todes muss jedoch scheitern, weil sich ihm seine Vorstellung als Vor-Stellung zeitlich wie räumlich entgegenstellt und ihm so die Möglichkeit des Todes verwehrt. Er tritt sich selbst in einem infiniten Regress als Wieder‐ holung gegenüber und kann als solche nicht begraben werden: Denn sobald die 5. Katze, Seher, Medium - Zwischen Mumifizierung und Wiederauferstehung 154 <?page no="157"?> 65 Diese schwer zu denkende Idee der unendlich-uneinholbaren Wiederholung, in der Thomas sich selbst als Selbstbegründer entdeckt, findet sich etwas einfacher, aber des‐ halb nicht weniger nachvollziehbar, auf einem Zettel, der 1930 in Berlin auf der Straße gefunden wurde: „Ick sitze drin und esse Klops. / Uff enmal klopps. / Ick denke, staune, wundre mir, / uff enmal isse uff die Tür. / Ick jehe raus und kieke: / Und wer steht draußen? Icke! “ [Dietrich Schwanitz: Bildung, München: Goldmann 21 2002, p. 421.]. An dieser Stelle sei David Klein gedankt, der mich auf diesen Aphorismus gebracht hat. 66 TO2: 39. 67 Insgesamt erstreckt sich die Episode des Buchs mit sieben Siegeln von Offenbarung 5-12. Wiederholung qua Wiederholung erscheint, verweist sie stets darauf, in anderer Form schon immer vorher da gewesen zu sein. 65 5.2 Versiegelung Die Wiederholung seiner selbst wird im Text über die Doppelgänger-Figur spe‐ zifiziert: „Dans cette nuit subterrestre où il était descendu avec les chats et les rêves des chats, un sosie, entouré de bandelettes, les sens fermés de sept sceaux, l’esprit absent, occupait sa place […].“ 66 Thomas und sein Mumiendouble ver‐ bindet eine Ähnlichkeitsbeziehung, keine identitäre Beziehung. Sein Doppel‐ gänger entpuppt sich als eine Mumie, deren Sinnesorgane siebenfach versiegelt sind und - das ist wichtig - deren Geist nicht da ist, womit abermals eine Lei‐ chen-Körperlichkeit als leere Materialität betont wird. Die Vermutung liegt nahe, in Thomas den Geist oder das Bewusstsein zu sehen, was im Zwischen‐ reich zwischen Leben und Tod auf seinen Leichenkörper trifft. Im letzten Buch des Neuen Testaments, der „Offenbarung“ oder „Apokalypse“ des Johannes, erscheint die Zahl Sieben an mehreren Stellen. Die Johannesapo‐ kalypse bildet neben dem Johannesevangelium einen der wichtigsten biblischen Referenztexte für Thomas l’Obscur. Die für mögliche Bezüge Blanchots hin‐ sichtlich der „sieben Siegel“, mit denen der Doppelgänger Thomas’ verschlossen ist, wichtigste Passage befindet sich in Offenbarung 5, 1: „Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln.“ 67 Thomas’ Körper ist wie das biblische Buch mit sieben Siegeln versiegelt. Damit wird der versiegelte Körper mit dem versiegelten Buchkörper verschränkt und das Prinzip der Abschließung und der kontrollierten Öffnung auf ihn übertragen. Die Siegel des verschlossenen Bu‐ ches müssen geöffnet werden, damit die Schrift im Gelesen-Werden wieder‐ auferstehen kann. 5.2 Versiegelung 155 <?page no="158"?> 68 TO2: 41. Thomas kehrt, sofern man neben dem biblischen Buch mit sieben Siegeln die Parallelisierung zur ägyptischen Totenlehre noch ein Stück weiter verfolgt, als Ba-Seele zu seinem Körper zurück und findet diesen als mumifizierten, d. h. verschlossenen und konservierten Körper wieder. Zur Erinnerung: Der Ba ist zu Lebzeiten Teil des lebenden Menschen und wird erst durch den Tod von ihm getrennt, um aber immer wieder zu seiner materiellen Form, die unterirdisch begraben ist, zurückzukehren. Dadurch soll die Einheit zwischen materiellem Körper und Seelenkörper nach dem Tod wiederhergestellt werden. Im 5. Kapitel von TO 2 ist, so meine These, der Suizid nicht nur von der Seite des Lebens her gedacht, sondern auch vom Jenseits aus, was sich über eine Analogie der Wie‐ derkehr des Ba verdeutlichen lässt. Einerseits werden Thomas’ Selbstmordver‐ suche beschrieben, andererseits erblickt er sich als bereits präparierte Leiche, was folglich einen Widerspruch der zeitlichen Abläufe darstellt und für eine Perspektive aus dem Totenreich spricht, die z. B. die eines zurückkehrenden Ba sein könnte, der jedoch das Wiedererkennen seiner körperlichen Existenz als traumatische Erinnerung an Abhängigkeit erfährt. Der Text lässt offen, ob Thomas der Suizid gelingt. Das Scheitern oder Gelingen der Selbsttötung liegt in einer erzählerischen Leerstelle zwischen den siebenfachen Versuchen der Tötung und der Begegnung von Thomas mit der reinen Materialität seiner Leiche. Diese Leerstelle ist der nicht-darstellbare Übergang des fassbaren Todes in seine Eigentlichkeit als unfassbares, unerzählbares Geschehen. Die Einheit von Körper und Geist oder Körper und Seele wird in TO 2 als scheiternde Trennung gedacht, die sich unter anderem über den soeben er‐ wähnten Doppelgänger zeigt. De même que l’homme qui se pend, après avoir repoussé l’escabeau sur lequel il s’ap‐ puyait encore, dernier rivage, au lieu de ressentir le saut qu’il fait dans le vide, ne sent que la corde qui le tient, tenu jusqu’au bout, plus que jamais attaché, lié comme il ne l’a jamais été à l’existence dont il voudrait se détacher, lui aussi se sentait, au moment où il se savait mort, absent, tout à fait absent de sa mort. 68 Um dieses Bild besser verständlich zu machen, möchte ich es in den Kontext des dritten ägyptischen Lebens- oder Todeskonzeptes stellen, dem Ach, und diesen sodann mit anderen Figuren der Wiederkehr vom Tode oder des Todes ver‐ knüpfen. 5. Katze, Seher, Medium - Zwischen Mumifizierung und Wiederauferstehung 156 <?page no="159"?> 69 Loprieno 2003: 213. 70 Loprieno 2003: 215. 5.3 Ach - Lazarus - Mumie. Die Rückkehr des Todes Die Besonderheit des dritten ägyptischen Seelenkonzeptes - des Ach - ist der Bewegungsspielraum zwischen Leben und Tod. Sein Sein besteht aus einer po‐ tentiellen Dimension im Leben sowie einer Entfaltung im Tod. Er ist etwas in ihm bereits Angelegtes, in das sich der Tote transformieren kann, das sich aber im Leben nicht greifen lässt. Loprieno nennt ihn eine „post mortem-Gestalt“, die „keine solidarische Verbindung mit der Gemeinschaft der Hinterbliebenen pflegt, sondern ein episodisches Verhältnis mit spezifischen Individuen ein‐ geht.“ 69 Der Ach lässt sich nicht einfach lenken oder bändigen, sondern allenfalls bestechen oder beschwichtigen. Er tritt als Totengeist auf, als „revenant“ 70 , der die Lebenden im Guten wie im Schlechten an die Existenz des Jenseits erinnert, nicht zuletzt in Form von Krankheiten, die bestimmte Menschen heimsuchen und dadurch auf Missstände in der Relation zum Ach hindeuten. Diese Wieder‐ gänger-Figur der ägyptischen Mythologie weist zumindest bezüglich ihrer Fä‐ higkeit, die Grenze zwischen Leben und Tod passieren zu können, Entspre‐ chungen zum biblischen Lazarus auf, wodurch wir auch den - mit dem biblischen siebenfach versiegelten Buch bereits angedeuteten - Sprung von den ägyptischen Totenbuchtexten in den Bibeltext vollziehen, dessen Spuren in Thomas l’Obscur zweifelsohne offensichtlicher sind als die ägyptologischen. Die Verbindung zwischen dem altägyptischen Formen, den Tod bezwingend zu denken, die bislang aufgeführt wurden, und dem neutestamentlichen Be‐ zwinger des Todes in der Gestalt des Lazarus, etabliert historisch das Alte Tes‐ tament und im Rahmen meiner Argumentation Blanchots Lektüre von Thomas Manns vierteiligem Romanwerk Joseph und seine Brüder. Blanchot bedient sich verschiedener Mythen, ohne dabei einen Mythos oder eine Religion zu favori‐ sieren. Die Mythen der Wiederauferstehung (ägyptische Totenlehre, Lazarus, Jesus sowie im Folgenden Joseph) wiederholen allesamt das Muster, den Tod bezwingen zu wollen. Blanchot akzentuiert die überzeitliche, transkulturelle und wahrscheinlich grundlegend menschliche Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Rückkehr vom Tod, um sie dann jedoch literarisch zu einer äußerst beklemmenden Wiederkehr jenseits der Erlösung werden zu lassen. Thomas, Joseph und Lazarus Eingangs wurde bereits erwähnt, dass Blanchots Bezüge zur ägyptischen My‐ thologie ein großes Forschungsdesiderat bilden. Gesichert ist jedoch seine Aus‐ 5.3 Ach - Lazarus - Mumie. Die Rückkehr des Todes 157 <?page no="160"?> 71 „Dans peu de temps paraîtra en français la fin de la trilogie de M. Thomas Mann, Joseph et ses frères, qui comptera plus tard parmi les œuvres les plus importantes et les plus significatives de la littérature contemporaine.“ [Maurice Blanchot: „Joseph et ses frères, par Thomas Mann“, L’Insurgé 14 (1937), 5]. Cf. Jan Assmann: Thomas Mann und Ägypten - Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen, München: Beck 2006, p. 10 sowie p. 23. 72 1937 musste Blanchot davon ausgehen, dass der Roman eine Trilogie bleiben würde, denn der 4. Band erschien, wie bereits erwähnt, mit einem zeitlichen Abstand von sechs Jahren. In seinem Artikel umkreist Blanchots Lektüre Fragen des Opfers, auf die ich an dieser Stelle nicht eingehen kann. Einen ausführlichen Artikel dazu hat Éric Hoppenot verfasst: Éric Hoppenot: „Présence d’Abraham chez Lévinas et Blanchot“, in: Éric Hop‐ penot, Alain Milon edd.: Emmanuel Lévinas - Maurice Blanchot, penser la différence, Paris: Presses Universitaires 2007, pp. 399-415. einandersetzung in den Jahren der Niederschrift von TO 1 mit Thomas Manns Roman-Tetralogie (damals noch Trilogie) Joseph und seine Brüder, die Jan Assmann in seinem Buch Thomas Mann und Ägypten - Mythos und Monothe‐ ismus in den Josephsromanen als ernstzunehmendes ägyptologisches Werk be‐ zeichnet. 71 Thomas Manns Roman, eine gigantische literarische Ausformulie‐ rung der biblischen Josephsgeschichte aus Genesis 37-50, erschien in seinen vier Teilen zwischen 1933 und 1943. Folglich hat Blanchot in seiner Rezension 1937 in der Zeitung L’Insurgé, für die er regelmäßig schrieb, noch nicht den vollständigen Romantext kennen können. Entscheidend für mögliche Einwir‐ kungen auf das 5. Kapitel von TO 2 ist jedoch, dass der 3. Teil des Textes von Thomas Mann unter dem Titel „Joseph in Ägypten“ 1936 erschien und Blanchot diesen Teil folglich kannte. 72 Es können im Umfang meiner Studie nur ver‐ schwindend kleine und wenige Aspekte des Joseph-Romans herausgegriffen werden, die jedoch zum Ziele haben, das mythologisch-religiöse Bildarsenal des 5. Kapitels von TO 2 weiter zu entschlüsseln und neben dem vom Tode zurück‐ gekehrten Lazarus des Neuen Testaments auch an den aus dem Brunnengrab befreiten Joseph des Alten Testaments in der Ausgestaltung Thomas Manns zu erinnern. Im 2. Buch der Joseph-Tetralogie wird der vom Vater Jakob (auch Israel genannt) seinen Brüdern gegenüber bevorzugte Joseph von diesen aufs Übelste misshandelt und in einen tiefen Brunnen geworfen, in welchem er sterben soll, um nicht mehr die Liebe des Vaters zu seinen anderen Söhnen zu behindern und sie mit seinen Träumen und Visionen zu verunsichern. Diese Episode ist für meine Lektüre in zweierlei Hinsicht fruchtbar, erzählt sie doch, wie die biblisch deutlich spätere Auferweckung des Lazarus, eine Geschichte des Le‐ bendig-begraben-Seins und der Wiederauferstehung. Josephs zukünftiges Grab versetzt ihn nicht nur durch seine dunkle Tiefe in Angst und Schrecken, sondern vor allem durch den Brunnenstein, der nach vollzogenem Wurf des malträ‐ 5. Katze, Seher, Medium - Zwischen Mumifizierung und Wiederauferstehung 158 <?page no="161"?> 73 Thomas Mann: Joseph und seine Brüder, Frankfurt a. M.: Fischer 4 2013, p. 413. 74 Cf. Mann 4 2013: 425-427. 75 Assmann 2006: 57. tierten Körpers in den Abgrund des Brunnens eine zusätzliche Versiegelung des Grabes bilden soll: [I]hm grauste vor dem Brunnen, der da gebaut war, und vor dem Loch des Brunnens, besonders aber noch vor dem Brunnenstein, der nebenbei auf den Fliesen lag, bemoost und schadhaft, bestimmt, das Loch zu verschließen. […] [D]er alte Deckel, grünlich bemoost und wohl fünf Schuh groß im Durchmesser, war in zwei Hälften zersprungen, und als sie sie einzeln aufs Rund gewälzt hatten, da schlossen sie nicht einmal, sondern klafften, und durch den Spalt, hier breit und dort schmal, fiel etwas Tageslicht in den Brunnen. Zu dem blickte Joseph auf mit seinem sehenden Auge, wie er da irgendwie hingefallen lag in runder Tiefe, nackt und bloß. 73 Während seiner Gefangenschaft im Dunklen bildet dieser dünne Spalt die ein‐ zige äußere Orientierung, um Tag und Nacht im Zustand des zunehmenden Sinnesverlusts unterscheiden zu können. Josephs Wahrnehmung wendet sich fortschreitend von den körperlichen Schmerzen und Bedürfnissen ab und dem Inneren zu. Die traumatischen Gewaltszenen treten in die Erinnerung und mit ihnen der Name „Bôr“, den er von seinen Brüdern erhalten hat und in dem sich semantisch der Brunnen, das Gefängnis und die Unterwelt vereint finden. Über diesen angenommenen Namen stellt Joseph sein Schicksal in höhere makro‐ kosmische Zusammenhänge des Gestirntodes und des Opfers, aber auch der Wiederauferstehung, 74 die sich sodann ereignen wird, denn Joseph wird nach drei Tagen im Brunnengrab, gefesselt ohne Trinken und Essen zwischen Kel‐ lerasseln und anderem Insektengetier liegend, von vorbeiziehenden Ismaelitern befreit. Jan Assmann interpretiert diese Rückkehr ins Leben sehr überzeugend als „initiatorische Verwandlung“, die Joseph aufs Schmerzlichste und ohne ent‐ sprechende Absicherung rituell gerahmter Initiationserfahrungen, wie bei‐ spielsweise in den orphischen und bakchischen Mysterien, aushalten muss. 75 Wie in der Auferweckung des Lazarus bedarf es zunächst einer Entfernung des Grabsteins. Anders als Lazarus ist Joseph jedoch nicht in der Lage, alleine aus seinem Verließ zu klettern, sondern muss in einem komplizierten Unter‐ fangen aus der Grube geborgen werden. Joseph bleibt indessen dem Totenreich über seinen Namen verhaftet. Seine Vergangenheit ist im Grab und in der To‐ deserfahrung gestorben bzw. dort verblieben. Er überschreibt nach seiner als Wiedergeburt inszenierten Bergung durch die Ismaeliter seine Herkunft fortan mit seiner Namenlosigkeit, indem er sich nur als „Knecht“, nach seiner Ankunft in Ägypten dann als „Osarsiph“ bezeichnet. Letzterer ist die Kurzform von 5.3 Ach - Lazarus - Mumie. Die Rückkehr des Todes 159 <?page no="162"?> 76 Cf. Assmann 2006: 98. Jan Assmann nennt Josephs Einzug nach Ägypten einen drei‐ stufigen Initiationsprozess, der nach Assmann „kunstvoll auf die ersten drei Romane verteilt“ sei [Cf. ibid., p. 86]. Damit ergibt sich eine weitere wichtige Parallele zwischen den beiden Wiedergängern Joseph und Thomas. Denn wie Joseph (in der Deutung Thomas Manns), macht Thomas seine Erfahrungen als existentiell bedrohliche Erfah‐ rung jenseits ritueller Geborgenheiten und Gemeinschaften [siehe dazu insbesondere auch das Initiationsgeschehen im 1. Kapitel von Thomas l’Obscur bzw. der vorliegenden Studie]. 77 Mann 4 2013: 501. 78 Johannes 11, 16. 79 Johannes 11, 38. 80 Johannes 11, 43 bis 44. Im Kommentar zum Johannesevangelium heißt es: „Zur Toten‐ erweckung tritt ein zweites Wunder hinzu, denn obwohl Lazarus an Händen und Füßen durch die Leinentücher gebunden ist und ein Schweißtuch sein Gesicht verhüllt, kann er gehen und findet den Ausgang des Grabes.“ [Schnelle 4 2009: 215]. „Osiris Joseph“ und entspricht einem ägyptischen Totennamen. 76 Diesen gibt Joseph sich aufgrund seiner Todeserfahrung im Brunnengrab, die unwiderruf‐ lich Gegenwart und Vergangenheit scheidet, sowie anlässlich seines Weges nach Ägypten, das für ihn gleichbedeutend mit dem „Totenreich“ und „Unterwelt‐ land“ ist. 77 Thomas und Lazarus Bemerkenswerter Hintergrund für die Verschränkung von Thomas und Lazarus im 5. Kapitel von TO 2 ist, dass im biblischen Johannesevangelium der Jünger Thomas gerade in der markanten Stelle über die Auferweckung des Lazarus ebenfalls auftritt, sodass bereits der Bibeltext diese beiden Figuren einander über die Schrift annähert. Nachdem Jesus des kranken Lazarus‘ Tod verkündet hat und die Jünger auffordert, zu ihm und seinen beiden Schwestern Maria und Martha zu gehen, heißt es in Johannes 11, 16: „Da sprach Thomas, der Zwilling genannt wird, zu den Jüngern: ‚Lasst uns mit ihm gehen, daß wir mit ihm sterben! ‘“ 78 Weiter schildert das Evangelium, wie Jesus schließlich, nachdem seine Fä‐ higkeiten zur Heilung und Auferstehung mehrfach von Seiten der Juden ange‐ zweifelt worden waren, sich zum Grab des Lazarus begibt, welches eine durch einen Stein verschlossene Kluft war. 79 Jesus gibt den Befehl, den Stein zu ent‐ fernen, worauf Martha mit Skepsis ob des Verwesungsgeruches antwortet. Jesus aber insistiert und ruft voller Überzeugung: „‚Lazarus, komm heraus! ‘ Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch. Jesus spricht zu ihnen: ‚Löst die Binden und laßt ihn gehen! ‘“ 80 5. Katze, Seher, Medium - Zwischen Mumifizierung und Wiederauferstehung 160 <?page no="163"?> 81 „Die Auferweckung des Lazarus ist der Höhepunkt des öffentlichen Wirken Jesu […]. Bewußt wurde das größte Wunder im Neuen Testament von Johannes an diesen Ort gestellt.“ [Ibid., p. 208]. Mit diesem ‚Ort‘ ist die unmittelbare Nähe zur Kreuzigung und Wiederauferstehung Jesu gemeint, welche das Johannesevangelium als letzte Erzählung vor dem Epilog und dem Nachtrag zum Evangelium abschließt. 82 Zur Situierung und zum Inhalt der Wiederauferstehung und der Anzweifelung durch den ungläubigen Thomas siehe Kapitel 3 meiner Untersuchung. 83 Cf. PF: p. 316. 84 Cf. insbesondere EL: 257. Die Verknüpfung des Lesens mit Lazarus verbindet somit EL mit „La littérature et le droit à la mort“ sowie mit Thomas l’Obscur, aber auch innerhalb von TO2 das 4. Kapitel, in dem das Lesen im Zentrum steht, mit dem 5. Kapitel, in dem Thomas zu Lazarus wird. Der Bibelleser erfährt nichts über die körperliche oder seelische Verfassung des Lazarus, weder nach seiner Auferstehung, noch was den Zustand bis zur Auferweckung durch Jesus betrifft. Grund dafür ist vermutlich eine narrative Strategie, die die Erweckung des Lazarus als einen heilsgeschichtlichen Höhe‐ punkt inszeniert 81 und gerade nicht den prekären Zustand eines lebendig be‐ grabenen und auf diese Weise zu sich kommenden Bewusstseins zu illustrieren gedenkt. 82 Diese Leerstelle wird im 5. Kapitel von TO 2 nicht nur benannt, son‐ dern ausformuliert und mit dem bereits geschilderten Suizidversuch ver‐ schmolzen. In Thomas dem Dunklen vermischen sich der biblische Thomas und der biblische Lazarus, d. h. die Figur des Zweiflers und die Figur des vom Tode Auferweckten. Über die Bedeutung des Zwillings, durch die - oben genannt und im 3. Kapitel meiner Untersuchung anhand des Eigennamens genauer erklärt - Thomas als Doppelgänger Jesu bezeichnet wird, ergibt sich eine dritte Schich‐ tung der Bezüge, indem sich nämlich die Auferweckung des Lazarus nicht nur als Vorgriff auf die Auferstehung von Jesus Christus denken lässt, sondern auch als Verweis auf die Jesus-Figur, in die der Auferstehung und Wahrhaftigkeit anzweifelnde Thomas als dunkler Doppelgänger Jesu eingeschrieben ist. Der nach Tod riechende Lazarus Lazarus wird am Ende des 5. Kapitels von TO 2 genannt, kehrt aber auch inner‐ halb von Blanchots literaturkritischen Texten, zunächst in „La littérature et le droit à la mort“ 83 sowie im Kapitel „Lire“ aus L’espace littéraire wieder. 84 Seine Position als Wiederkehrer ist folglich auch eine, die sich über Thomas l’Obscur hinaus in diversen Schriften Blanchots realisiert. Hans-Jost Frey betont in seinem 2007 erschienen Buch Maurice Blanchot - Das Ende der Sprache schreiben, dass klar zwischen der Lazarus-Figur in Thomas l’Obscur und der in „La littérature et le droit à la mort“ zu unterscheiden sei. Während in TO 2 Lazarus als Toter wiederauferstehe, könne der Lazarus der Literatur nicht mit 5.3 Ach - Lazarus - Mumie. Die Rückkehr des Todes 161 <?page no="164"?> 85 Hans-Jost Frey: Maurice Blanchot - Das Ende der Sprache schreiben, Basel / Weil am Rhein: Engeler 2007, p. 28. 86 PF: 316. 87 PF: 317. seiner Auferstehung den Tod überwinden, sondern zeige den Tod „als die wirk‐ liche Verwesung des Wirklichen“. 85 Es lohnt sich deshalb, die Textstelle in „La littérature et le droit à la mort“ genauer zu betrachten, in der nicht nur Lazarus genannt wird, sondern vor ihm auch die Katze, zwei Figuren also, die das 5. Kapitel von TO 2 (bzw. das 8. Kapitel von TO 1) wesentlich prägen. Kontext ist die Frage nach dem Moment des Todes im Sprechen, der das, was das Sprechen ermöglicht, sterben lässt und für das sprechende Subjekt unerreichbar macht. Blanchot bezeichnet dieses nur im Vergehen erscheinende Augenblickliche als Zielpunkt der literarischen Sprache, die somit nach ihrer eigenen unerreich‐ baren Ursprungsexistenz fragt, jedoch gerade mit diesem Fragen den Weg zu‐ rück versperrt, indem sie sich, die Materialität der Sprache ersetzend, vor die Materialität der Dinge stellt. Was die literarische Sprache sucht, ist „le Lazare du tombeau et non le Lazare rendu au jour, celui qui déjà sent mauvais, qui est le Mal, le Lazare perdu et non le Lazare sauvé et ressuscité.“ 86 Nicht vom Licht angezogen ist die Sprache der Literatur, sondern vom Dunklen, Abgründigen, nach Verfall und Verwesung Riechenden, Bösen, von allem, was ausgeschlossen werden muss, um die Dinge ans Licht zu bringen oder Lazarus auferstehen zu lassen. In ihrem tiefsten Grund ist die Literatur die „conscience de la nuit qui sans relâche veille pour se surprendre et à cause de cela sans répit se dissipe. Elle n’est pas le jour, elle est le côté du jour que celui-ci a rejeté pour devenir lumière […] [elle est] la mort comme impossibilité de mourir.“ 87 Als Unmöglich‐ keit zu sterben zeigt sie sich im Lazarus des Zwischenreiches von Leben und Tod, halb verwest, jedoch noch nicht vergangen. Lazarus wie die Literatur ent‐ springen der Heimsuchung der Nacht, d. h. dem, was der erkennbaren Nacht vorausgeht und das Blanchot mit ‚autre‘ nuit bezeichnet. Unterscheidet sich dieser heimgesuchte / Heim suchende Lazarus nun wahrhaftig deutlich von der Figur des Thomas-Lazarus in TO 2? Bevor Thomas im Text mit dem Namen Lazarus verschränkt wird, findet er sich nach dem siebenfach probierten Selbstmord lebendig mumifiziert in einer Grabkammer wieder, die in ihrer Struktur der Krypta des 2. Kapitels äußerst ähnlich ist. Über zweieinhalb Seiten ist dieses Locked-In-Szenario entfaltet und erweist sich in der Ausgestaltung als das traumatische Geschehen des Zwi‐ 5. Katze, Seher, Medium - Zwischen Mumifizierung und Wiederauferstehung 162 <?page no="165"?> 88 Ebenso wenig wird die Berührung der Wundmale Jesu durch Thomas in der Bibel be‐ schrieben - eine Aussparung, die, wie im 3. Kapitel skizziert, Caravaggio ins Bild gesetzt und damit in gewisser Weise ‚übermalt‘ oder überdeckt hat. 89 TO2: 40-41. 90 TO2: 41. 91 Poppenberg 1993: 96. schenzustandes, welches in der biblischen Johannesperikope gerade nicht er‐ zählt wird. 88 So heißt es in TO 2: [N]i ce fait qu’a aucun titre il ne pouvait passer pour vivant ne suffisait à le faire passer pour mort. […] Il était réellement mort et en même temps repoussé de la réalité de la mort. Il était, dans la mort même, privé de la mort […] et la nuit, une nuit qui ne répondait plus à rien, qu’il ne voyait pas et dont il ne sentait la réalité que parce qu’elle était moins réelle que lui, l’environnait. 89 Im Weiteren überlagert sich die Wahrnehmung von Innen und Außen durch den Einschluss der Nacht ebenso wie sich das Gefühl von Begrenzung und Entgren‐ zung in der „vallée de la mort“ neutralisiert, von der schon der chat supérieur zuvor gesprochen hatte. Dieses Tal des Todes ist noch nicht der Tod selbst, son‐ dern der Weg dorthin. Der Text lässt sich Zeit, Thomas’ Zustand immer weiter an das Nicht-Erzählte der Lazarusgeschichte anzunähern und die Grabkammer, in der er sich als Un-Toter befindet, als solche auszuweisen: Comme celui qui, vivant, se réveille dans son cercueil, il voyait avec effroi la terre impalpable où il flottait se transformer en un air sans air, rempli d’odeurs de terre, de bois pourri, d’étoffe humide. Maintenant réellement enterré, il se découvrait, sous des couches amoncelées d’une matière qui ressemblait à du plâtre, dans un caveau où il étouffait. […] S’il existe encore, c’était pour reconnaître, dans cette chambre pleine de fleurs funèbres, de lumière spectrale, l’impossibilité de revivre. 90 Der versuchte Suizid ist Realität geworden, jedoch nicht ganz geglückt. Thomas ist bei lebendigem Leib „réellement enterré“, nur um zu erkennen, dass ein er‐ neutes Leben unmöglich zu sein scheint. Wie Gerhard Poppenberg sehr präg‐ nant formuliert: „Lazarus ist nicht der von den Toten Auferstandene, sondern der auferstandene Tod […].“ 91 Die Rückkehr vom Tod ist eine Rückkehr des Todes - eine Doppeldeutigkeit, die sich im Französischen als retour de la mort eleganter ausdrücken lässt als es im Deutschen möglich ist. Bei Blanchot liegt eine Akzentverschiebung zum biblischen Lazarus vor, insofern als Thomas-Lazarus den Tod ins Leben bringt und nicht umgekehrt das Leben über 5.3 Ach - Lazarus - Mumie. Die Rückkehr des Todes 163 <?page no="166"?> 92 Lazarus war eine wichtige Denkfigur der Nachkriegszeit, wie es sich unter anderem in Jean Cayrols 1950 erschienener Studie Lazare parmi nous zeigt [ Jean Cayrol: Lazare parmi nous, Neuchâtel / Paris: Baconnière 1950]. Gerhard Poppenberg stellt jedoch sehr überzeugend die Differenz zwischen Cayrols und Blanchots Verständnis des Lazarus heraus: „Entscheidend an Blanchots Kritik von Cayrols Konzept einer lazarenischen Literatur ist das Moment einer radikalen und illusionslosen Absage an jede Form der Hoffnung als tiefster Implikation der Lazarus-Figur.“ [Ibid., p. 101; zu Cayrols Ver‐ ständnis des Lazarenischen cf. ibid., pp. 89-106]. 93 Ibid., p. 104. 94 LDM: 317. 95 TO2: 42. 96 Cf. dazu Jean-Luc Nancys ausführliche Lektüre in „Résurrection de Blanchot“ [ Jean-Luc Nancy: „Résurrection de Blanchot“, in: id.: Déclosion - La Déconstruction du christianisme I, Paris: Galilée 2005, pp. 135-146]. 97 „Il marchait […]. Il marchait […]. Il avançait, passant […] allant […] d’un pas égal, du même pas […].“ [TO2: 42]. Zum Schreiten als Bewegung der Untoten siehe Kapitel 12.1 meiner Studie. den Tod siegt. 92 Seine Wiederauferstehung ist die eines Toten als Toter auf der Grenze zwischen dem Reich des Todes und dem des Lebens. „Für ihn ist das Überleben des eigenen Todes nicht eine Wiederanknüpfung an eine Kontinuität des Lebens, sondern der absolute Bruch einer unüberbrückbaren Todeserfah‐ rung.“ 93 Lazarus ist die Figur des Todes „comme impossibilité de mourir“, 94 um noch einmal „La littérature et le droit à la mort“ anzufügen und damit die von Hans-Jost attestierte Trennung der beiden Lazarus-Figuren aufzuweichen. Der Text von TO 2 bestätigt dies, wenn Thomas alle seine Sinne, wie auch die Kör‐ perkontrolle, zurückerlangt und am Eingang seines Grabes erscheint: „[I]l ap‐ paraissait sur la porte étroite de son sépulcre, non pas ressuscité, mais mort et ayant la certitude d’être arraché en même temps à la mort et à la vie. Il marchait, momie peinte […] seul Lazare véritable dont la mort même était ressuscitée.“ 95 Das Grab hat keinen extra markierten Grabstein wie in der biblischen Johan‐ nesperikope, jedoch ist die Grenze zwischen Totenwelt und Lebenswelt als eng beschrieben. Ohne Zweifel betont der Text, dass Thomas-Lazarus nicht aufer‐ standen ist, sondern durch eine Auferstehung des Todes in ihm sowohl dem Leben als auch dem Tod entrissen ist. 96 Er ist in Form einer bemalten Mumie - die wiederum neben der Bibelgeschichte auch auf altägyptische Mumifizie‐ rungsrituale hinweist - das Medium des auferstandenen Todes, wissend, dass er nicht mehr zurückgelangen kann in das Leben vor der Todeserfahrung. Ar‐ tikuliert wird dies in der unaufhaltsamen schreitenden Bewegung der letzten Sätze des 5. Kapitels, die das letzte Kapitel von Thomas l’Obscur wieder auf‐ greifen wird. 97 Dieses Fortschreiten des Untoten, d. h. eines Wesens, das sich entgegen der Tageslogik dennoch auf eine ihm ganz eigene Weise bewegt, ist, 5. Katze, Seher, Medium - Zwischen Mumifizierung und Wiederauferstehung 164 <?page no="167"?> um in einer abschließenden Denkbewegung noch einmal den literarischen mit dem theoretischen Text Blanchots zu verbinden, eine Bewegung der literari‐ schen Sprache, die in sich die genichtete Wirklichkeit trägt, sie jedoch nicht als solche mimetisch wiedergibt, sondern mitsamt ihres Leichengeruchs und an‐ deren Spuren des Todes verzerrt erscheinen lässt. Gerade das ist jedoch ihr großartiges Potential: Sofern man sich als Leser auf diese verstörenden Unan‐ nehmlichkeiten einlässt, kann die lazarenische Sprache die Möglichkeit in sich bergen, etwas vom Tod im Leben zu begreifen und sich im Rahmen des Denk‐ baren denkbar weit in den Grenzbereich zwischen Leben und Tod vorzuwagen, ohne dabei die Nacht zum Tag oder den Tod zum Übergang in ein gesichertes Jenseits zu machen. 5.3 Ach - Lazarus - Mumie. Die Rückkehr des Todes 165 <?page no="168"?> 1 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, in: id.: Morgenröte - Idyllen aus Messina, Die fröhliche Wissenschaft, München et al.: dtv / de Gruyter 2005, p. 481 [= Giorgio Colli, Mazzino Montinari edd.: Sämtliche Werke - Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 3]. 6. Das gleißende Licht Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? […] Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? 1 Friedrich Nietzsche An Stelle der Nacht steht in diesem Kapitel das helle Licht des Mittags im Vor‐ dergrund. Der taghelle Gegenspieler der Mitternacht ist dabei nicht nur eine Zeit, sondern auch ein besonderer Erfahrungsraum der unabänderlichen Wie‐ derholung. Anhand der Begriffe des Augenblicks, der Dauer, des Chronos, der Wiederkehr und der Anamnesis soll das Verhältnis von Tod und Zeit untersucht werden. Dabei wird der Fokus auf dem hochgradig ereignishaften Erzählen dieses Kapitels liegen, einem Erzählen, das sich in einer unaufhaltsamen und unvorhersehbaren Modifikation befindet. Es nähert sich als Beobachtung an das ‚Geschehen‘ an und wechselt in Form einer Selbstaffizierung unvermittelt den Fokus des beobachteten Ausschnittes. Dabei werden Szenen mit unterschiedli‐ chen Perspektivierungsmöglichkeiten überschrieben, so dass das Erzählen vom rechten Weg abkommt. Unter anderem wird auf diese Weise der Weg als Alle‐ gorie des menschlichen Lebensweges zerschrieben. In den vier Vorlesungen Le temps et l’autre, die Emmanuel Levinas 1946 / 1947 hält und deren Mitschrift von Jean Wahl 1948 veröffentlicht wird, geht es auf der Basis des Holocausts ebenfalls um die Beziehung von Zeit und Tod. Während für Henri Bergson Zeit etwas ist, was nur subjektiv erfahren werden kann, be‐ tont Levinas die Notwendigkeit des Anderen, um die Zeit begreifen zu können. Der Andere als wirklich Anderer, d. h. nicht als in Eigenes verwandelter Fremder, bildet neben unserer Gegenwart ebenso wie der Tod eine völlig unbekannte Zukunft. In der Auseinandersetzung mit dem Anderen liegt die Möglichkeit, sich der Zeitlichkeit und des Todes bewusst zu werden. In meiner Lektüre des 6. <?page no="169"?> 2 Maurice Blanchot: „L’expérience intérieure“, in: id.: Faux pas, Paris: Gallimard 1971 / 1943, pp. 47-52, hier p. 47. Kapitels von TO 2 wird es ebenfalls um die Begegnung mit dem anderen gehen - wie in der Thomas l’Obscur übergeordneten Struktur der anderen Nacht auch schon immer das andere (bewusst kleingeschrieben) mitverhandelt wird. Anne als Sterbende und Thomas als auferstandener Tod lassen im 6. Kapitel von TO 2 einander die Zeit spüren. Sie bilden eine je andere Zeitlichkeit, die nicht in Gegenwart der anderen existieren kann, sondern sich immer vorausgeht und wiederholt, ohne dabei identisch zu sein. Über die Allegorie des Weges, den sie beschreiten, wird zudem das Tal des Todes aus dem vorangegangenen Kapitel noch einmal aufgenommen. Dieses Tal wird folglich erneut durchschritten und in dieser Wiederholung das Sterben als Gang des Umweges beschrieben. 6.1 Mittagssonne L’heure du Grand Midi est celle qui nous ap‐ porte la plus forte lumière; l’air entier est échauffé; le jour est devenu feu; pour l’homme avide de voir, c’est le moment où, regardant, il risque de devenir plus aveugle qu’un aveugle, une sorte de voyant qui se souvient du soleil comme d’une tache grise, importune. 2 Maurice Blanchot Nachdem Thomas-Lazarus am Ende des 5. Kapitels von TO 2 in ein Leichentuch gehüllt und mit Erde und Gras bedeckt dahinschritt, ist der Beginn des 6. Kapitels mit dieser Lazarus-Gestalt in Verbindung zu setzen. Es scheint, als würde ledig‐ lich die Perspektive der Erzählstimme nach dem Fokus auf Thomas im 5. Kapitel nun auf Anne gerichtet werden, die den auferstandenen Tod in Gestalt von Thomas auf sich zukommen sieht. Doch dieser Anblick, von dem zu erwarten wäre, dass er grauenvoll wirkt, löst weder Überraschung noch Erschrecken in Anne aus, vielmehr erkennt sie Thomas wieder und erkennt ihn als den an, der sich nicht verhindern oder umgehen lässt. Spätestens ab dem zweiten Satz des Kapitels wird deutlich, dass es sich um ein zyklisches Geschehen handelt, wel‐ ches sich so bereits öfter zugetragen haben muss, wodurch auch das ausblei‐ bende Grauen angesichts der Erscheinung Thomas’ als lebendiger Toter seine Erklärung findet. So heißt es im Text: 6.1 Mittagssonne 167 <?page no="170"?> 3 TO2: 43-44. Chaque fois, il venait droit à elle, suivant d’une marche inflexible un chemin tracé par-dessus la mer, les forêts, le ciel même. Chaque fois, alors qu’il n’y avait plus dans le monde que le soleil et cet être immobile debout à ses côtés, enveloppée par son immobilité silencieuse, emportée par cette profonde insensibilité qui la découvrait, sentant par lui se condenser en elle tout le calme de l’univers, Anne, au moment où retentissait le fracas étincelant de l’ultime midi […] se voyait brûler, mourir, les yeux, les joues en feu, la bouche entrouverte, exhalant, comme un dernier souffle […] morte parfaitement transparente à côté de ce mort opaque qui auprès d’elle s’épaississait toujours davantage et, plus silencieux que le silence, abîmait les heures et égarait le temps. 3 Die Zirkularität manifestiert sich zunächst in Form der Anapher „Chaque fois“, die die Annäherung Thomas’, der erst später im Kapitel als Referenz für das Personalpronomen „il“ deutlich wird, als Wiederholung ausweist. Während der erste Satz des Zitates noch die äußere Bewegung des Näherkommens beschreibt und eine normale Satzlänge nicht überschreitet, weitet sich der zweite Satz des zitierten Abschnitts über die Länge einer halben Seite aus. In ihm zeigt sich die Erfahrung eines Augenblicks, der über eine diskursive Ausdehnung als ein kon‐ densierter und umfassender Moment des Stillstands und Friedens dargestellt wird. Dieser kann jedoch nicht andauern. Stattdessen bricht in ihn der grell-glei‐ ßende Lärm eines „ultime midi“ ein. Dieser Mittag kann nun einerseits als „äu‐ ßerster Mittag“ den Punkt des Sonnenhöchststandes bezeichnen oder aber als „allerletzter Mittag“ ein zeitliches Ende andeuten. Dieses steht in starker Op‐ position zur Wiederholungsbewegung, in die es als dessen Unterbrechung ein‐ tritt. Beide Möglichkeiten des „ultime“ greifen hier, so meine Lesart, ineinander. Angesichts der sonst dominanten Nacht ist der Mittag in Thomas l’Obscur eine Besonderheit. In keinem anderen Kapitel spielt die Sonne eine so zentrale Rolle wie im 6. Kapitel von TO 2. Dennoch repräsentiert sie nicht das klare Licht des Verstandes, wie dies in Opposition zum Dunklen denkbar wäre. Vielmehr offenbart sie in ihrem Licht den bevorstehenden Tod. Sari Kivistö hat in ihrem Artikel „Pan’s Hour - Midday as a Moment of Epiphany, Nothingness and Poetical Illusion“ das Motiv des Mittags in der eu‐ ropäischen Poesie des 19. und 20. Jahrhunderts untersucht. Sie bezeichnet den Mittag in ihren Analysen als einen Moment, der mit seinem grellen Licht das Flüchtige und Vergängliche der Welt und darin insbesondere den Menschen zum 6. Das gleißende Licht 168 <?page no="171"?> 4 Cf. Sari Kivistö: „Pan’s Hour - Midday as a Moment of Epiphany, Nothingness and Poetical Illusion“ in: Päivi Mehtonen ed.: Illuminating Darkness - Approches to Obscurity and Nothingness in Literature, Helsinki: Academia Scientiarum Fennica 2007, pp. 101-122, hier p. 101. 5 Ibid., p. 102 und p. 105. Vorschein bringt. 4 Das zentrale lautliche Merkmal des Mittags ist die Stille, in die Erscheinungen oder andere Arten „numinöser Präsenzen“ kontrastierend einbrechen können. Ein prominentes Beispiel hierfür ist Pan, der während seines Mittagsschlafes nach dem vormittäglichen Jagen nicht gestört werden durfte. Auf jede Art der Störung in dieser Ruhezeit reagierte er mit extremer Wut und versetzte die Menschen durch lautes Schreien aus der Mittagsstille heraus in Panik, ohne dabei sichtbar zu werden. „Pan often appeared without a visible presence; he was usually never seen, but was sensed as an abstract force or heard nearby playing his reed pipe.“ Einen dritten, entscheidenden Aspekt des Mittags bildet die Stasis als „total repose and inactivity which paradoxically conceals motion under its immobility.“ 5 In TO 2 werden alle diese Facetten des Mittagsmotivs eingewoben, jedoch umsemantisiert. Annes Zustand erweist sich als eine zunehmende Stasis, die sich bereits in der Fühl- und Reglosigkeit sowie dem arretierten Denken mani‐ festiert und sich als fortschreitendes Eindringen von Thomas in sie als beginn‐ ender Tod auffassen lässt, im Zuge dessen die Körperfunktionen allmählich nachlassen und sich das vegetative Nervensystem abschaltet. Alles verdichtet sich in ihr zu einem Punkt, einem Augenblick, in dem die Ruhe des ganzen Universums, wie es im Text lautet, in ihr die Mitte findet, d. h. sie zum Zentrum, zur Sonne des Universums wird. Wenn es am Anfang des Textausschnitts heißt, es gebe in der Begegnung von Thomas und Anne nichts außer Anne, Thomas und der Sonne, dann hat sich in der Entwicklung des Satzes der Augenblick ins Universum ausgeweitet und dieses sich wiederum durch Thomas in Anne kom‐ primiert. Der Raum ist reine Zeit geworden, die sich aus dem Augenblick heraus erneut in den Raum ausgedehnt hat. Anne ist sowohl die Mitte des ausufernden Satzes als auch des infiniten Universums. An diesem Punkt der totalen Verdich‐ tung, wo sich die Unendlichkeit des Universums zu einer augenblicklichen Ge‐ genwärtigkeit in Anne synthetisiert hat, wird sie durch das auditiv wie visuell Grelle des Mittags affiziert, das wie ein Blitz in sie einfährt und eine Reanimation ihres apathischen Körpers bewirkt. Von der Stasis gelangt sie in die Ekstasis, indem sie durch die Fremdaffizierung wie die gleißende Sonne in ihrem Höchst‐ stand verglüht. Sie wird somit zum Augenblick, der aus sich ausbricht und sich aus seiner Mitte heraus wieder ausdehnt. 6.1 Mittagssonne 169 <?page no="172"?> 6 Der durchsichtige und der lichtundurchlässige Aspekt des Todes könnte auch ein Ver‐ weis auf die Konzeption des Todes sein, wie Blanchot sie in L’espace littéraire entwickelt hat und auf die die Lektüre des 5. Kapitels schon zu sprechen kam. Es wäre somit die Erfahrung des greifbaren sowie des ungreifbaren Todes, die Thomas über seinen Sui‐ zidversuch gemacht hat. 7 TO2: 44. Die Bilder einer verglühenden Sonne, in der auch das Universum verbrennt, haften an Bildern des allzu menschlichen Sterbeprozesses der fiebernden Anne, die schwer atmet und von der jeder ihrer Atemzüge der letzte sein könnte. Doch das Sterben ist eine Wiederholung. Im Sterben ist Anne noch nicht tot, sondern nähert sich dem Tod an. Dieses Gefühl versucht der Text in einer Innensicht ohne Innen nachzuahmen, evoziert durch eine Erzählinstanz, die berichtet, auf welche Weise Anne sich selbst im Schwinden ihrer Kräfte wie im Verglühen beobachtet. Ich bin darauf bereits eingegangen und werde es im Laufe der Kommentare zu den 12 Kapiteln von TO 2 immer wieder tun: Es ist dies der Versuch, etwas zu erzählen, was perspektivisch nicht möglich ist und dennoch durch die Schrift Realität wird. Annes Vergehen als „morte parfaitement transparente“ steht am Ende des zitierten Satzes im Gegensatz zu dem anderen Toten - Thomas-Lazarus -, der als „mort opaque“ nun die Verdichtung des Todes be‐ deutet. 6 Er scheint in seiner Dunkelheit ein wahrhaftigerer Toter zu sein und in seiner Opazität wie ein schwarzes Loch die Zeit in den Abgrund zu stürzen. Seine abgründige Dunkelheit muss für Anne zur Erkenntnis führen, noch nicht tot zu sein bzw. noch nicht mit diesem anderen Tod identisch zu sein, der ihre Form des Todes beschämend transgrediert und sie wiederholend überschreibt. Es ist kein Zufall - ich beziehe mich immer noch auf dasselbe Zitat -, dass Thomas als Toter (le mort) den Tod in sich trägt (la mort), da er als Wiedergänger des Todes und nicht vom Tod fungiert. Dieser unsichtbare Übergang des (männ‐ lichen) Toten (mort) in den Tod (mort) wird erst im nächsten Satz anhand des Adjektivs „souveraine“ und dessen weiblicher Endung deutlich, die nun auf „la mort“ verweist. So fährt der Text mit seiner diskursiv wie semantisch aus‐ agierten Wiederkehr des Gleichen fort: „Mort juste, souveraine, moment inhumain et honteux qui chaque jour recommençait et dont elle ne pouvait se sauver. Chaque jour, il revenait à la même heure, au même endroit. Et c’était exactement la même heure, c’était aussi le même jardin.“ 7 Die minuziöse Wiederholung in diesem Textabschnitt ist in eine bizarre Iden‐ tität des Differenten gesteigert. Thomas ist zunächst derjenige, der sich der Zeit bemächtigt, wie es vorher im Text heißt, und erweist sich nun als überaus pünktlicher und beharrlicher Gefährte Annes. Die Tatsache, dass er Tag für Tag 6. Das gleißende Licht 170 <?page no="173"?> 8 Dies entspricht einer analogen Struktur der ersten beiden zitierten Sätze, in denen der Ausdruck „Chaque fois“ als Anapher wiederholt wird und die Wiederholung sich dann als extrem langer Satz ausdehnt. 9 Neben Blanchot haben auch Pierre Klossowski und Gilles Deleuze Nietzsches Figur der Wiederkehr Texte gewidmet, die weit über das hinausgehen, was Nietzsche in seinen Skizzen konzipiert hat. Cf. dazu exemplarisch Gilles Deleuze: Différence et répétition, Paris: Presses universitaires de France 1985. zur selben Stunde (d. h. mittags) am selben Ort erscheint, ist für sich genommen bereits eine Wiederholung, die auf dem Hintergrund des Gelesenen eine zykli‐ sche, sich selbst des Anfangs und des Endes beraubende Struktur aufweist. Da‐ rüber hinaus iteriert der Text scheinbar die Wiederholung selbst durch den tau‐ tologischen und in sich parallelistisch aufgebauten Zusatz: „Et c’était exactement la même heure, c’était aussi le même jardin.“ Dabei wird jedoch der Zeitangabe die Spezifizierung des „exactement“ hinzugefügt und der Ort als Garten genauer bezeichnet. In dieser Wiederholung steckt folglich auch die Dif‐ ferenz, die Resultat der Präzisierung ist. 8 Wenn die Wiederholung wiederholt wird, manifestiert sich in der Wiederholung der Unterschied zur Ewigkeit. 6.2 Nietzsche - ewige Wiederkehr In der sich selbst wiederholenden Wiederholung der Ankunft eines Wieder‐ kehrers (Thomas) liegt ein Problem. Zunächst ist es nur ein Problem des Erzäh‐ lens, das die Wiederholung nicht identisch, sondern differentiell vollzieht, indem es sie spezifiziert. Es ergibt sich aber eine zusätzliche Störung der Wie‐ derholung, wenn Anne an diesem, dem erzählten Tag, aus der Wiederholung aussteigt. Doch darauf komme ich erst etwas später zu sprechen. Vorher möchte ich die Wiederkehr des Gleichen in TO 2 mit einer kurzen Skizze der Denkfigur der „ewigen Wiederkunft“ Friedrich Nietzsches vergleichen - einer Denkfigur, die insbesondere in den 1950er bis 1970er Jahren unter französischen Intellek‐ tuellen und Literaten große Popularität genoss. 9 Die ewige Wiederkehr, von Nietzsche zumeist als „ewige Wiederkunft“ bezeichnet, stellt einen der Kernge‐ danken seiner Philosophie dar. Nietzsche formuliert die ewige Wiederkunft gemäß seiner Poetologie des Fragmentarischen verstreut und ebenso unter‐ schiedlich akzentuiert in seinem Werk, unter anderem in Ecce Homo, wo er sie als Grundpfeiler von Also sprach Zarathustra festlegt und mit dem Übermen‐ 6.2 Nietzsche - ewige Wiederkehr 171 <?page no="174"?> 10 Friedrich Nietzsche: Ecce homo - Also sprach Zarathustra, in: id.: Sämtliche Werke - Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 6, edd. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München et al.: dtv / de Gruyter 2005, pp. 255-374, hier p. 335. Für eine ausführliche Darstellung der Puzzleteile der Lehre von der ewigen Wiederkehr und ihre Einbettung in das Gesamtwerk Nietzsches cf.: Otto Kaiser: „Nietzsches Lehre vom Übermenschen, der ewigen Wiederkehr und dem Willen zur Macht“, Trames 15: 1 (2011), 3-32. 11 „Unser Intellekt ist nicht zum Begreifen des Werdens eingerichtet, er strebt die allge‐ meine Starrheit zu beweisen […].“ [Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1880-1882, in: id.: Sämtliche Werke - Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 9, edd. Giorgio Colli, Mazzino Montinari, München et al.: dtv / de Gruyter 1999, hier p. 500] In Analogie dazu scheint, auf die Zeit bezogen, Bergsons Begriffspaar von durée und temps konzipiert zu sein, auf das ich im 4. Kapitel referiert habe. 12 Nietzsche 1999: 498. schen verbindet. 10 An anderen Stellen lässt sich Heraklits Konzept des ewigen Werdens und Fließens in Nietzsches Gedanken der Wiederkunft entdecken. Das Werden meint dann die unaufhörliche Transformation aller Dinge, die der menschliche Verstand nicht zu begreifen vermag und sie daher in messbare Be‐ wegungslosigkeiten reiht. 11 In seinen Fragmenten aus dem Nachlass formuliert Nietzsche sie sodann als eine Erkenntnis des innersten Zusammenhangs des Universums, den - und das ist wichtig für das 6. Kapitel von TO 2 - die Menschen als „Stunde des Mittags“ erleben: Mensch! Dein ganzes Leben wird wie eine Sanduhr immer wieder umgedreht werden und immer wieder auslaufen - eine große Minute Zeit dazwischen, bis alle Bedin‐ gungen, aus denen du geworden bist, im Kreislaufe der Welt wieder zusammen‐ kommen. Und dann findest du jeden Schmerz und jede Lust und jeden Freund und Feind und jede Hoffnung und jeden Irrtum und jeden Grashalm und jeden Sonnenblick wieder, den ganzen Zusammenhang aller Dinge. Dieser Ring, in dem du ein Korn bist, glänzt immer wieder. Und in jedem Ring des Menschen-Daseins überhaupt gibt [es] immer eine Stunde, wo erst Einem, dann Vielen, dann Allen der mächtige Gedanke auftaucht, der von der ewigen Wiederkunft aller Dinge - es ist jedes Mal für die Menschheit die Stunde des Mittags. 12 Die ewige Wiederkunft der großen und der kleinen Dinge des Lebens, von Nietzsche hier über ein langes Polysyndeton in ihrer identitären Reihung exemplifiziert, nimmt die Form eines Ringes an. Doch hat diese Vorstellung durchaus ein Grauen evozierendes Potenzial. Denn was für das menschliche Glück vielleicht akzeptabel erscheint, wird bezüglich des in einer Endlosschleife 6. Das gleißende Licht 172 <?page no="175"?> 13 Nietzsche fügt daher in einem anderen Fragment eine Art Imperativ der Selbstsorge hinzu, der besagt, dass man sein Leben so leben solle, dass man es bis in alle Ewigkeit auf diese und keine andere Weise leben wolle. [Cf. Nietzsche 1999: 503]. Eine deutliche Skepsis Nietzsches bezüglich seiner Idee der ewigen Wiederkehr findet sich in Ecce Homo: „Aber ich bekenne, dass der tiefste Einwand gegen die ‚ewige Wiederkunft‘, mein eigentlich a b g r ü n d li c h e r Gedanke, immer Mutter und Schwester sind.“ [Nietzsche 2005: 268]. 14 Nietzsche 2005: 312-313. 15 Günther Bien, Hans Schwabl: „Apokatastasis“, in: Joachim Ritter ed.: Historisches Wör‐ terbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel et al.: Schwabe 1971, pp. 440-441. wiederkehrenden Schmerzes Entsetzen hervorrufen. 13 Eine Steigerung dessen wäre die ewige und gewusste Wiederholung des Todes. In Nietzsches Zitat ein‐ gelassen ist jedoch auch der Moment, sogar die Stunde, in der es dem oder den Menschen möglich sei, Bewusstsein über die Ringstruktur zu erlangen, in der sich alles bewegt. Es ist dies die „Stunde des Mittags“ als hellste Zeit des Tages, in der die Dinge in einmaliger Klarheit allumfassend erkannt werden könn(t)en. Dies beinhaltet eine Erkenntnis der ewigen Wiederkehr, wodurch sich das ewige Werden in ewige Wiederkehr wandelt. Damit unterbricht sich die unendliche Bewegung für den Zeitraum dieses Mittagswissens aufgrund der kurzzeitigen Diskontinuität, die sie aus der Mitte des Tages neu beginnen lässt, ohne dabei zum Ursprung zu werden. Macht es nun einen Unterschied, ob von Wiederkehr, Wiederholung oder Wiederkunft die Rede ist, um solch ein unaufhaltsames zy‐ klisches Weltgeschehen auf der einen Seite und ein scheinbar ebenso unüber‐ windbares individuelles Wiederholungsmuster auf der anderen Seite zu be‐ zeichnen? Nietzsche hat den Begriff der Wiederkunft dem der Wiederkehr vorgezogen. Auch wenn er ihn in der Erinnerung an ein persönliches Erleuch‐ tungserlebnis formuliert hat, existieren nicht nur in der buddhistischen Vor‐ stellung des Samsara, sondern auch bei Heraklit, den Stoikern und anderen phi‐ losophischen Schulen ausreichend Konzepte, um die Welt als Selbstwiederholung zu sehen. Ein Zeugnis von Nietzsches Kenntnissen der er‐ wähnten Philosophen findet sich z. B. in Ecce homo. 14 Die griechische Entspre‐ chung zur Wiederkunft ist die apokatastasis der Stoiker, welche im Lateinischen restitutio universalis heißt und ausdrückt, dass alles Seiende so wiederkehrt, wie es war. 15 Vor der Wiederkehr bedarf es der Auslöschung alles Seienden durch einen alles vernichtenden Weltbrand, aus dessen Asche die Welt sodann neu entsteht. Ich möchte nun noch einmal die Wiederholung der Wiederholung aus den beiden bereits zitierten Abschnitten des 6. Kapitels von TO 2 wiederholen, um meine weiteren Ausführungen darauf zu stützen: 6.2 Nietzsche - ewige Wiederkehr 173 <?page no="176"?> 16 TO2: 43-44. 17 Siehe Kapitel 4.2. Chaque fois, alors qu’il n’y avait plus dans le monde que le soleil et cet être immobile debout à ses côtés, enveloppée par son immobilité silencieuse, emportée par cette profonde insensibilité qui la découvrait, sentant par lui se condenser en elle tout le calme de l’univers, Anne, au moment où retentissait le fracas étincelant de l’ultime midi […] se voyait brûler, mourir, les yeux, les joues en feu, la bouche entrouverte, exhalant, comme un dernier souffle […] morte parfaitement transparente à côté de ce mort opaque qui auprès d’elle s’épaississait toujours davantage et, plus silencieux que le silence, abîmait les heures et égarait le temps. […] Chaque jour, il revenait à la même heure, au même endroit. Et c’était exactement la même heure, c’était aussi le même jardin. 16 Anne erlebt in ihrer Stasis, die zur Ekstasis wird, die Apokatastasis in Form einer solchen nicht enden könnenden Ankunft des Todes als innerweltliche Wieder‐ kehr. Im Unterschied zu Nietzsches Gedanken einer sich nach Jahrtausenden wiederholenden Welt ist somit der Wiederkunftsgedanke in TO 2 in das mikro‐ kosmische Geschehen eines Einzelschicksals mit einer 24-Stunden-Frequenz gebündelt. In der Darstellung ihrer Begegnung mit Thomas treffen sich kosmi‐ sche Wiederkehr und augenblickliche Singularität. Die Zuverlässigkeit, mit der Thomas wiederkehrt, weist aber auch auf die Möglichkeit und Notwendigkeit der Veränderung hin. Insofern als er Anne nach dem Aufeinandertreffen im Speisesaal des Hotels im 3. Kapitel von TO 2 nun nach einem Zeitsprung als auferstandener Toter erscheint, kann sie sich ihm nicht mehr entziehen, sondern trifft ihn als Wiederholungszwang jeden Tag um die gleiche Zeit am selben Ort. Thomas birgt in sich die Aufforderung, den nahenden Tod nicht nur als Wie‐ derholung zu ertragen, sondern ihm entgegenzutreten, ihn zu überschreiten und - wie später im 6. Kapitel - ihm voranzuschreiten. Denn die Wiederholung ist eine Möglichkeit, das Ende wie den Anfang nicht zu akzeptieren. Chronos Im 4. Kapitel wurde bereits auf Bergsons Unterscheidung zwischen durée und temps hingewiesen, um den Raum der inneren Erfahrung in seinem unaufhalt‐ samen Fließen gegenüber der messbaren Zeit (temps) abzugrenzen. 17 Das Zeit‐ konzept des 6. Kapitels fügt mit der ewigen Wiederkehr den Aspekt des Chronos hinzu, der sich mit der durée in Anne einschreibt und sie verbrennt. Angesichts des nahenden, jedoch noch nicht eingetretenen Todes wird die durée als innere Zeiterfahrung zur zermürbenden Wiederholungserfahrung des über‐ individuellen Chronos. Annes innere Zeit, über die sich Thomas als nahender 6. Das gleißende Licht 174 <?page no="177"?> 18 Michel Foucault: „Theatrum philosophicum“, in: id.: Dits et écrits, Bd. 2, edd. Daniel Defert, François Ewald, Paris: Gallimard 1994, pp. 75-99, hier p. 96. Tod legt und sie dabei in einem Punkt verdichtet, wird durch Chronos (synek‐ dochisch repräsentiert im „ultime midi“) aus dem Punkt der Mitte gerissen: Anne ist nicht das Universum, sondern wird zur verglühenden Sonne. Chronos verstehe ich mit Foucault als „temps du devenir et du recommence‐ ment“, also als eine Bewegung des Werdens und unaufhörlichen Neubeginns oder Wiederanfangens. Foucault beschreibt den Begriff des Chronos des Wei‐ teren: „Chronos avale morceau par morceau ce qu’il a fait naître et le fait renaître en son temps. Le devenir monstrueux et sans loi, la grande dévoration de chaque instant […] sont liés à l’exactitude du recommencement […].“ 18 Chronos ist dem‐ nach sowohl zerstörend als auch schöpferisch. Er vernichtet, was er geschaffen hat, um neu zu wachsen. Demgegenüber wird der Mensch als endliches Wesen mit seinen Versuchen, die Zeit durch Zählen der Stunden zu bändigen, zu einem schier lächerlichen Konstrukt. Die Chronologie ist eine Logik des Chronos, d. h. eine Logik der Wiederholung als ewige Wiederkehr, sofern die Wiederholung der symboli‐ schen Ordnung der Zeitmessung (Ordnung der objektiven Zeit Bergsons) inhä‐ rent ist. Ohne die Sicherheit der Wiederholung wäre die Regelmäßigkeit der Chronologie nicht möglich. Wenn sich für Anne in einer Unausweichlichkeit und unbarmherzigen Wiederholung jeden Tag aufs Neue das Voranschreiten von Thomas (der spätestens seit dem 5. Kapitel von TO 2 als Wiedergänger be‐ reits eine Wiederholungsfigur ist) als Erfahrung der Zeitlichkeit durch den Tod ereignet, unterwirft die Chronologie des Todes sich die innere Zeit Annes. Ob‐ gleich die Schilderung ihrer inneren Erfahrungen sich fortsetzt (ungeachtet z. B. ihres Verbrennens und Vergehens), wird ein Einbruch in die durée erzählt und, wie schon angedeutet, ihr Refugium der Innerlichkeit beraubt. Das Erzählen wird auf diese Weise transpersonalisiert und Anne wird durch die sich wieder‐ holende Erfahrung der Endlichkeit in Thomas ihre Zeit genommen. Er nimmt ihr die Möglichkeit, die Zeit festzuhalten, und setzt sie stattdessen der Erfahrung des reinen Chronos aus. Diese Erfahrung ist, so möchte ich folgern, eine Be‐ obachtung des eigenen Sterbeprozesses. Der Schritt über die Wiederkehr des Gleichen hinaus In Blanchots Aphorismen-Sammlung Le pas au-delà beschäftigen sich einige aufeinander folgende Fragmente mit Nietzsches Gedanken der ewigen Wieder‐ kehr. Sie thematisieren insbesondere die Auslöschung der Gegenwart als Kon‐ sequenz des „Éternel Retour du même“. In der Tilgung jeder Gegenwart muss 6.2 Nietzsche - ewige Wiederkehr 175 <?page no="178"?> 19 Maurice Blanchot (1973) Le pas au-delà, Paris: Gallimard 1973, p. 27. Cf. auch ibid., pp. 21-26. 20 TO2: 44. 21 „Der Name Josua […] ist ein theophorer, jahwe-haltiger Personenname mit der Bedeu‐ tung ‚Jahwe ist Hilfe‘ […].“ […] Das Volk fürchtet Josua so wie Mose […] was Josua tut, geschieht dem Befehl Mose entsprechend […]. Josua ist [aber] nicht Mose, sondern nur dessen Diener. Josua empfängt nicht das Gesetzbuch, sondern führt es nur aus.“ [Hans-Jürgen Zobel: „Josua / Josuabuch“, in: Jesus Christus V - Katechismuspredigt, New York / Berlin: de Gruyter 2008, pp. 269-278, hier p. 269 und p. 276 (= Gerhard Müller, Gerhard Krause edd.: Theologische Realenzyklopadie, Bd. 17)]. die ewige Wiederkehr des Gleichen auch die Instanz auslöschen, die sie denkt. Wenn alles wiederkehrt, war alles schon da, jedoch nie als Gegenwart, sondern nur als Wiederholung. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existieren in der ewigen Wiederkehr nicht, weil der Ursprung auch Teil der Wiederholung sein müsste und sich damit selbst vernichtet. „L’exigence du retour serait donc l’exigence d’un temps sans présent, temps qui serait aussi celui de l’écriture, temps futur, temps passé, que la radicale disjonction (en l’absence de tout pré‐ sent) de l’un et de l’autre, fussent-ils les mêmes, empêche d’identifier autrement que comme la différence que porte la répétition.“ 19 Wie im weiteren Verlauf des 6. Kapitels von TO 2 die Differenz in die Wiederholung gelangt, soll im Fol‐ genden gezeigt werden. Blanchots literarischer Ausformulierung der ewigen Wiederkehr ist die Differenz als problematisierte Repräsentation einge‐ schrieben. Mit jeder Perspektive verändert sich die Wiederholung und wird als Ausdruck eines kontinuierlichen Entpersönlichungsprozesses im Sterben wie im Schreiben von der Wiederholung des Gleichen zur Wiederholung des Diffe‐ renten. 6.3 Wiederholung, Stillstand und Kontinuität ( Josua) Annes Reaktion auf die Wiederholung ist im weiteren Textverlauf zunächst eine der Nichtakzeptanz der wirklichen Ankunft des Todes, die sich als Glaube an eine ewige Fortsetzung des zwar leidvollen, aber dennoch erträglichen Zu‐ standes manifestiert: „Avec l’ingénuité de Josué arrêtant le soleil pour gagner du temps, Anne croyait que les choses continuaient.“ 20 Anne wird mit dem alt‐ testamentarischen Josua verglichen, der den Lauf der Sonne anhält, um den Israeliten Zeit zu verschaffen. Nach Moses Tod ernennt Gott Josua zu dessen Nachfolger und zum Führer der Israeliten auf dem Weg in das verheißene Land. 21 Als Josua das Volk Israel über den Jordan führt, werden in Entsprechung zu den 12 Stämmen Israels 12 Steine aus dem Jordan genommen und als Zeichen 6. Das gleißende Licht 176 <?page no="179"?> 22 Zu den 12 Stämmen Israels siehe auch Kapitel 5.3 im Kontext von Thomas Manns Joseph und seine Brüder. Allerdings ändert sich die Zusammensetzung der 12 Stämme in der Bibel immer wieder leicht. So ist im Buch Josua beispielsweise der Stamm Levi nicht mitgezählt. [Cf. Josua 13-22]. 23 Josua 10, 12-14. der Landnahme aufgestellt. 22 Die Israeliten erobern unter Josua verschiedene Städte, darunter Jericho, Ai und Gibeon. Mit Gibeon schließt Josua einen Frie‐ densvertrag, was die fünf Könige der Amoriter dazu veranlasst, Gibeon anzu‐ greifen. Josua kommt daraufhin Gibeon mit seiner gesamten Gefolgschaft von Gilgal aus zu Hilfe. Damals redete Josua mit dem HERRN an dem Tage, da der HERR die Amoriter vor den Israeliten dahingab, und er sprach in Gegenwart Israels: Sonne, steh still zu Gibeon, und Mond, im Tal Ajalon! Da stand die Sonne still, und der Mond blieb stehen, bis sich das Volk an seinen Feinden gerächt hatte. Ist dies nicht geschrieben im Buch des Redlichen? So blieb die Sonne stehen mitten am Himmel und beeilte sich nicht unterzugehen fast einen ganzen Tag. 23 Josuas an die Gestirne gerichteter Imperativ des Stillstands bewirkt tatsächlich die Arretierung der unaufhaltsamen Abfolge von Tag und Nacht. Josua erweitert damit seine Führungsmacht vom weltlichen Geschehen auf die Gestirne und lässt durch sein Wort Gott das Uhrwerk der Welt und damit des Universums bis zum erfolgreichen Ende des Rachefeldzuges anhalten. Der Zeitpunkt dieses Stillstandes scheint die Mittagszeit zu markieren, da die Sonne „mitten am Himmel“ pausiert und dies „fast einen ganzen Tag“. Josuas Rache an den Feinden muss nicht verborgen werden, sondern geschieht am helllichten Tag unter der Zeugenschaft der Sonne. In TO 2 wird das einmalige Ereignis, als Josua Sonne und Mond anhält, ana‐ logisch verbunden mit Annes Glauben an die ewige Fortdauer (nicht an die ewige Wiederkehr). Sie glaubt, der Zeitlichkeit entkommen zu können. Es ist in TO 2 von der „Treuherzigkeit Josuas“ die Rede, was aber angesichts der blutigen Kämpfe im Zuge der Eroberung durch den biblischen Josua zunächst eine er‐ staunliche Beschreibung ist. Möglicherweise ist dies als kritischer Hinweis auf ein blindes Gottesvertrauen zu verstehen. Eine wichtige Verbindung zwischen Anne und Josua stellt jedoch der Augenblick dar. Wie Josua (vorgaliläisch) den Lauf von Sonne und Mond (und nicht den der Erde) anhält, um Zeit im Kampf gegen die Amoriter zu gewinnen, verlässt sich Anne treuherzig auf die Weiter‐ entwicklung der Dinge in ihrer gewohnten Weise. In dieser Erwartung wird sie jedoch (möglicherweise jedes Mal aufs Neue) enttäuscht und ist gezwungen, immer wieder dieselbe Szene zu erleben. Ihre Naivität ist folglich der Glaube an 6.3 Wiederholung, Stillstand und Kontinuität ( Josua) 177 <?page no="180"?> 24 TO2: 44-45. Kontinuität als Fortsetzung, die gestört wird durch die iterierte Rückkehr zum Ausgangspunkt der Wiederholung, durch welche sich ihre Ohnmacht der Zeit gegenüber manifestiert. Der Weg des Verschwindens Gegen diese ewige Wiederholung, und unter der Zeugenschaft halbtoter Bäume und Vögel, ereignet sich jedoch eine Veränderung. An ‚diesem‘ (besonderen) Tag erhebt sich Anne und führt Thomas über einen Weg in ein Wäldchen, wobei sie vor ihm geht: „Pourtant, ce jour-là, comme si un cadavre qu’on porte dans un lit, puis dans un autre, changeait vraiment de place, elle se leva, marcha devant Thomas et l’entraîna vers le petit bois voisin sur une route où ceux qui venaient au-devant de lui le voyaient s’éloigner ou le croyaient immobile.“ 24 Die Art ihres Aufstehens wird mit der Umpositionierung einer Leiche verglichen, d. h. einer Bewegung, die von außen vorgenommen wird und von der maximalen Passivität eines toten Körpers gekennzeichnet ist. Man könnte daher auch von einer ‚Versetzung‘ sprechen. Das „comme si“ führt nicht nur einen Vergleich an, sondern entfaltet seine hypothetisch-suspendierende Kraft über die gesamte Satzlänge. Dieser Satz trägt wiederum den Handlungsverlauf des restlichen Ka‐ pitels in sich, so dass Annes Bewegungen bis zum Ende des Kapitels auf der Basis dieser hypothetischen Bedingtheit fußen und in diesem Rahmen gelesen werden sollten. Zudem wiederholt der gemeinsame Gang in das Wäldchen Tho‐ mas’ Eintritt in den Wald aus dem 2. Kapitel. Auch muss die Frage der Analepse aufgeworfen werden, sofern der Gang in einen kleinen nahen Wald auch der Gang von Thomas im 2. Kapitel von TO 2 ist. Analog zum Abstieg in die Krypta wird Thomas nun im 6. Kapitel in einen Abgrund gleiten. Ebenso verbindet die beiden Kapitel die Anwesenheit der Vögel und Bäume, die weniger eine be‐ schauliche Naturkulisse darstellen, denn einen Hinweis auf einen Raum, in dem bestimmte Repräsentationslogiken nicht mehr funktionieren und deren sprach‐ licher Ausdruck z. B. ein für Thomas l’Obscur typischer Gebrauch des ‚comme si‘ ist, auf den ich in der Lektüre des 11. Kapitels noch genauer eingehen werde. Die Wiederholung des Erzählten aus einer anderen Erzählperspektive ist, sofern es sich tatsächlich um eine Wiederaufnahme von Elementen des 2. Kapitels handelt, vorläufig diskursiv kaum markiert. Der Text bewegt sich in seinem Wiederaufgreifen bereits bekannter Motive zwischen Analepsen und Analo‐ gien. So wendet sich die Erzählstimme, die im obigen Zitat allein durch die Nennung von Thomas’ Namen markiert ist, von der vorausgehenden Anne ab und schildert das ‚Geschehen‘ gleichsam im Rückblick auf Thomas. 6. Das gleißende Licht 178 <?page no="181"?> 25 Dieser Blick weist Parallelen zum leeren Blick Thomas’ im 3. Kapitel von TO2 auf. 26 TO2: 45. 27 Mit dem „An-Blick“ soll auf die Frage des Verhältnisses von Passivität und Aktivität verwiesen werden, sofern nicht zu entscheiden ist, ob es Thomas’ Blick oder sein An‐ blick ist, der dies geschehen lässt,. 28 So wird in der indischen Lehre das Stirnchakra als Drittes Auge bezeichnet. Im ge‐ öffneten Zustand erhält der Mensch durch das Dritte Auge die Fähigkeit der Intuition, der Erkenntnis und Weisheit. Im Fokus des Erzählens steht für den nun anbrechenden Weg vor allem Tho‐ mas’ tödlicher Blick, der alles ihm auf der Straße Entgegenkommende in den Abgrund verschwinden lässt (und damit den erzählten Weg zugleich negiert). 25 Sur cette route, chaque homme qu’il croisait mourait. Chaque homme, si Thomas détournait les yeux, mourait avec lui d’une mort qu’aucun cri n’annonçait. Il les re‐ gardait, et déjà il les voyait perdre sous son regard toute ressemblance, ayant au front une petite blessure par laquelle s’échappait leur visage. Ils ne disparaissaient pas, mais ils n’apparaissaient plus. 26 Die Straße, von der wiederholt in diesem Kapitel die Rede ist, knüpft an das „Tal des Todes“ aus dem 5. Kapitel von TO 2 an. Wer sich auf dieser Straße befindet, muss den Tod finden, da er Thomas in dessen Blick begegnet. Nach wie vor wird die zeitliche Struktur der Wiederholung über die zweifache Nennung von „chaque homme“ im Text fortgesetzt. Zunächst hat es den Anschein, als würde das Abwenden des Blicks den Tod der Entgegenkommenden verursachen, doch stellt sich heraus, dass allein der An-Blick Thomas’ den Beginn des Todes in Gang setzt. 27 Im Angeblickt-Werden durch Thomas setzt sich bei den Ange‐ blickten ein Prozess der Entfremdung in Gang, indem ihr Antlitz durch eine wundartige Öffnung in der Stirn aus ihnen fließt. Die Wunde in / auf der Stirn könnte im Rahmen des aufgerufenen Blickkonzeptes durchaus eine Allusion auf das Dritte Auge sein, mit dem in diversen Religionen und spirituellen Gruppie‐ rungen die Stelle auf der Stirn mittig über der Nasenwurzel zwischen den Au‐ genbrauen gemeint ist. Ihr wird Weisheit sowie die Möglichkeit anderen Sehens zugesprochen. 28 Doch wird die Wunde auf der Stirn durch Thomas’ Blick zuge‐ fügt? Ist es sein Blick, der die Verletzung, die Öffnung sowie ein sichtbares Zei‐ chen in Form der Wunde hinterlässt? Im Christentum wird, im Gedenken an die Leiden Jesu Christi in der Wüste und zur Erinnerung an die Endlichkeit der Menschen, den Gläubigen am Aschermittwoch ein Aschekreuz auf die Stirn ge‐ malt. Je näher nun Thomas kommt, desto mehr ändert sich die Syntax hin zu Rei‐ hungen und immer kürzeren Satzpartien, die über Kommata aneinandergeheftet werden. Und je näher das Erzählen über die Deskription der stetig geringeren 6.3 Wiederholung, Stillstand und Kontinuität ( Josua) 179 <?page no="182"?> 29 TO2: 45. 30 EL: 202. Distanz zwischen Thomas und den Entgegenkommenden Thomas selbst kommt, umso mehr wird er zum Auge, dessen Blick sich niemand entziehen kann. Sein Auge-Werden expandiert in dem Maße, wie aus den Angeblickten das Leben weicht, was wiederum mit der Abnahme der physischen Distanz zwischen Blick und An-Blick korreliert. Somit ist sein Werden an das Vergehen der anderen gekoppelt. „Plus près, s’il les touchait, s’il dirigeait sur eux non pas son regard, mais le regard de cet œil éclatant et invisible qu’il était à tout instant tout entier, plus près encore, presque confondu avec eux […] les respirant, les léchant […] aussi vide d’eux qu’eux-mêmes étaient vide de lui.“ 29 Thomas ist nun eine alles entleerende Blickinstanz, die von der Erzählinstanz beschrieben wird. Obschon diese in der Beobachtung der Distanzverringerung ebenfalls kurzzeitig in ihrer Syntax affiziert wird, verliert sie sich nicht in Thomas. Sie gleitet an ihm vorbei, wie die Menschen (bzw. das, was von ihnen übrig geblieben ist) kurz‐ zeitig aus dem Erzählfeld weichen, bis sie die Erzählinstanz sogleich wieder eingeholt hat. Abgrund und Antlitz Der Weg der Fortschreitenden in ihr Verschwinden schließt an die bekannte Abstiegsstruktur der vorangegangenen Kapitel an. Sie gleiten in einen Abgrund, in dem aufgrund der völligen Indifferenz und Leere keine Existenz Bestand haben kann. Anne ist indessen die Einzige, die dem etwas entgegenzusetzen hat. Sie wird im 8. Kapitel abermals in einen Abgrund gelangen, wobei ihre Ankunft dort eher einem Sturz in den Höllenschlund gleicht. Auch hier erweisen sich die Ereignisse im Verlauf des Gesamttextes als kontinuierlich perspektivisch re‐ kombiniert und verschoben, um so den nicht repräsentierbaren Tod zu um‐ kreisen. In L’espace littéraire vergleicht Blanchot den Tod mit einem Abgrund bzw. Ungrund, um jenen entscheidenden Aspekt des Todes zu betonen, der sich radikal dem menschlichen Verstand entzieht und sich dementsprechend von der Vorstellung des Todes als Abschied unterscheidet: Si la vraie réalité de la mort n’est pas simplement ce que, de l’extérieur, nous appelons quitter la vie, si elle est autre chose que la réalité mondaine de la mort, si elle se dérobe, se détourne toujours, ce mouvement, aussi bien que sa discrétion et son intimité es‐ sentielle, nous fait pressentir son irréalité profonde: la mort comme abîme, non pas ce qui fonde, mais l’absence et la perte de tous fondement. 30 6. Das gleißende Licht 180 <?page no="183"?> 31 Zur Rolle des Eigennamens ‚Anne‘ siehe Kapitel 3.4 sowie Kapitel 8.3. 32 TO2: 46 [Hervorhebungen von der Verfasserin]. 33 ‚Anne‘ evoziert darüber hinaus phonetisch das negierende Präfix „an-“. Im Tod verliert sich der Boden unter den Füßen und bringt die sichere Grundlage des Denkens ins Wanken. Die Realität des Todes ist, und hier verbindet sie sich wieder mit der anderen Nacht, eine sich ständig entziehende und doch ab einem Punkt unausweichliche Anwesenheit eines Raumes und einer Zeit, die dem ge‐ nannten ungründigen Abgrund entspricht. Im 8. Kapitel von TO 2 wird es Annes Eigenname sein, der ihr letztes Pfand zum Wiederaustritt aus dem Abgrund der Absenz ist. 31 Auch im 6. Kapitel kämpft Anne mit dem letzten verbliebenen Rest ihrer Identität gegen das vollständige Entwerden an, dem sie in den steten Angriffen oder weiteren Annäherungsversuchen Thomas’ ausgesetzt ist. Schon hier wird allein durch die Quantität, mit der ihr Name in der Auseinandersetzung mit Thomas genannt ist, die Wichtigkeit dieser Signifikantenkette als letzter Halt vor dem Untergang deutlich. S’il l’abordait de face, brutalement, pour la surprendre, elle lui présentait toujours un visage. Elle changeait sans cesser d’être Anne. Elle était Anne, n’ayant plus aucune similitude avec Anne. Avec sa figure et tous ses traits, et pourtant tout à fait pareille à une autre, elle restait la même, Anne, Anne complète qu’on ne pouvait nier. 32 Thomas greift Anne nicht nur frontal an, sondern zielt - wie er es vorher auch schon mit den anderen gemacht hat, um ihnen ihre Identität zu nehmen - unverhofft auf ihr Gesicht. In der Begegnung mit Thomas ist Annes einzige Möglichkeit des Widerstandes, sich seinen Appropriationsversuchen über wechselnde Antlitze, die sich unvermittelt vor sie schieben, zu erwehren. Indem sie sich der unaufhaltsamen Transformation hingibt und nicht mehr versucht, mit sich identisch zu sein, sondern Gesicht zeigt, bleibt sie als unnegierbare, andere Anne bestehen. Das Gesicht ist jedoch nicht der Ausdruck ihrer tiefsten Überzeugung, sondern wird zur maskenhaften bloßen Oberfläche reiner Äu‐ ßerlichkeit. Ihre Permanenz wird in der Iteration der Lautkette „Anne“ diskursiv gefasst. 33 Anders als in der Begegnung im Garten zu Beginn des Kapitels erträgt sie Thomas nicht mehr passiv, sondern stellt sich ihm als andere Anne entgegen, d. h. als eine, die ihr Sterben anzunehmen begonnen hat. Thomas muss nun seinerseits dieser Veränderung buchstäblich ins Gesicht sehen. Dies hat wie‐ derum Konsequenzen für seine Souveränität, die vom Anderen erschüttert wird. Levinas beschreibt die Erfahrung des Anderen über sein Antlitz (visage) als eine vorreflexive Wahrnehmung. Diese unterwandert als vorreflexive das Sub‐ jekt, weil das Antlitz sich vor die Erscheinung des Gegenübers schiebt und sich 6.3 Wiederholung, Stillstand und Kontinuität ( Josua) 181 <?page no="184"?> 34 Emmanuel Levinas: Totalité et infini - Essai sur l’extériorité, Paris: Livre de Poche 2010, pp. 215-216. fortwährend anders als erwartet zeigt. So schreibt Levinas in Totalité et infini: „Le visage se refuse à la possession, à mes pouvoirs. Dans son épiphanie, dans l’expression, le sensible, encore saisissable se mue en résistance totale à la prise. Cette mutation ne se peut que par l’ouverture d’une dimension nouvelle. […] Le visage, encore chose parmi les choses, perce la forme qui cependant le délimite.“ 34 Die im Zitat betonte Plötzlichkeit des durchbrechenden Antlitzes ist es auch, der sich Thomas gegenüber sieht. In der Denkfigur der anderen Nacht manifes‐ tiert sich in solch einem Moment der Umschlag der Nacht in die andere Nacht, insofern Thomas, der alles zu nichten glaubte, nun in die Spinnennetze Annes gerät. Er hat sich zu weit vorgewagt und durch seinen Versuch der endgültigen Appropriation Annes nicht bemerkt, wie die dadurch aufgebaute Relation zu ihr in die andere Richtung umgeschlagen ist. 6.4 Tiere IV: Die Spinne Blanchot geht es - zumindest in Thomas l’Obscur - im Unterschied zu Levinas weniger um die ethisch-soziale Beziehung zum Anderen, sondern um die Ent‐ personalisierungseffekte, die eine Begegnung mit dem visage hat. Die Änderung der Machtverhältnisse durch den Anblick des Antlitzes ist eine Umkehrung der Beziehung, in der Anne im Folgenden frei beweglich wieder den Weg entlang läuft, obschon sie gerade noch in einer lebensbedrohlichen Auseinandersetzung mit Thomas war. Der Einbruch des Anderen durch das Antlitz, das das Eigene befällt und zersetzt, indem es durch das Andere kontaminiert und aus seiner Abgeschlossenheit gerissen wird, artikuliert sich im Text neben der semanti‐ schen Verschiebung und des Vergleichs mit einer Spinne durch das Tierwerden Annes als Wiederholung des bereits Erzählten aus anderer Perspektive. Zu Be‐ ginn des Kapitels ist es Anne, die an diesem Tag einen anderen Weg einschlägt und der ewigen Wiederkehr Thomas’ nicht länger passiv unterliegt, indem sie sich aufrichtet, ihm auf dem Weg vorangeht und ihn in einen kleinen Wald führt. Mit der Nennung seines Namens im Text hatte sich der Fokus der Erzählinstanz auf Thomas und seinen entleerenden Blick verschoben, der alle Vorüber‐ gehenden in den Abgrund gestürzt hatte. Anne kommt erst wieder in den Text, d. h. in das Zentrum der Beobachtung zurück, als sie als einziges Beispiel des Widerstands gegen Thomas’ vernichtende Kraft namentlich genannt wird. Ihr 6. Das gleißende Licht 182 <?page no="185"?> 35 TO2: 46-47. Antlitz bewirkt nun, dass das Erzählen wieder auf die Straße zurückkehrt, die vor dem Abgrund liegt. Man darf meines Erachtens dieser Topologie nur be‐ dingten mimetisch-topographischen Gehalt zurechnen. Dennoch deute ich die vielen topologischen Verweise als Minimalmarkierungen einer Sichtbarkeit der veränderten Perspektive, die durch Differenzen in der Wiederholung in unend‐ licher Wiederkehr stetig aufs Neue Beziehungen und Erfahrungen miteinander koppelt. Dabei entwirft sich das erzählte Geschehen als wahrnehmende Dar‐ stellung, die nicht den Status des Indikativs beansprucht, sondern sich über Formeln wie das eingangs erwähnte ‚comme si‘ als eine Möglichkeit, die Dinge zu betrachten bzw. darzustellen, positioniert. Anne kommt infolgedessen Thomas „comme une araignée“ entgegen, die jedoch zeitgleich identisch mit dem jungen Mädchen Anne ist: Sur le chemin, il la vit venir comme une araignée qui était identique à la jeune fille et, parmi les cadavres disparus, les homme vidés, se promenait dans le monde désert avec une tranquillité étrange, dernière descendante d’une race fabuleuse. Elle marchait avec les huit énormes pattes comme sur deux jambes fines. Son corps noir, son aspect féroce qui faisait que lorsqu’elle allait fuir, on aurait pu croire qu’elle allait mordre, n’étaient pas différents du corps habillé d’Anne. 35 Der Vergleich mit der Spinne wird kombiniert mit einer eigentlich nicht-identischen Entsprechung in Anne. Doch wird der Vergleich mit der Spinne gerade als identische Form Annes gezogen, wodurch die, die Thomas näherkommen sieht, weder Anne noch die Spinne oder beides gleichzeitig ist. Die rhetorisch im Vergleich durch die beiden Seiten des Vergleichs stets sicht‐ bare Differenz in der Ähnlichkeit wird dabei mit der Ähnlichkeitsrelation der Metapher überkreuzt. Diese ununterscheidbare Doppelidentität setzt sich in der Beschreibung der Beine fort, die einerseits acht große Spinnenbeine sind, sich andererseits aber in der Art eines menschlichen Zweibeiners fortbewegen. Als dritter Aspekt, der diese Struktur weiterspinnt, wird der schwarze Körper ge‐ nannt, der zusammen mit einer aggressiven Haltung zunächst das Bild einer großen schwarzen Spinne entstehen lässt, daraufhin jedoch unterschiedslos neben den (schwarz gekleideten) Körper Annes gestellt wird. Die Folge ist, dass zwei wiederum metonymisch über Kontiguitätsverhältnisse miteinander ver‐ bundene Bilder koexistieren, zwischen denen die Wahrnehmung hin und her oszilliert, ohne eines davon auf den Boden der Tatsachen stellen zu können. Solch einen Boden gibt es nicht. Ebenso fraglich wird die Verantwortung für die herumliegenden Leichen. Denn nun scheint es nicht mehr der Auge gewordene 6.4 Tiere IV : Die Spinne 183 <?page no="186"?> 36 TO2: 47. 37 TO2: 47. Thomas zu sein, sondern die spinnenartige Anne, die möglicherweise in ihren Netzen die Vorbeilaufenden gefangen und anschließend ausgesaugt hat, wie sie es im Übrigen auch mit dem Raum macht: „Elle avançait d’une manière saccadée, tantôt se couchant sur le chemin, le couvant, le tirant d’elle-même comme un fil invisible.“ 36 Das Wesen, das sich des Raumes bemächtigt, ihn verschlingt, ihn verdaut, transformiert und wieder aus sich heraus neu entstehen lässt, wird in das Bild einer Spinne gebettet, die aus ihrem Bauch einen schier unendlichen Faden ziehen und damit ihre Spinnennetze als Fallen in den Raum bauen kann. Ich gebrauche den Ausdruck „Wesen“, da Annes Name erst ganz am Ende des Kapitels noch ein einziges Mal genannt wird. Im Personalpronomen „elle“ ist sie ununterscheidbar mit der Spinne (l’araignée) vereint. Es lässt sich nicht be‐ stimmen, ob „sie“ eigentlich Anne oder eigentlich Spinne ist. Die Unterschei‐ dung wird als solche durch die entsprechende Syntax und Semantik suspendiert und die Eigentlichkeit als Konzept unwirksam. Es gibt keine indikativisch aus‐ gesagte Wirklichkeit, da der Raum, um den es hier geht, der Möglichkeitsraum der Erfahrung ist. In ihm gibt es zahllose Netze, in denen kurzzeitig Aussagen hängen bleiben, sichtbar werden und damit, den Leichen am Wegesrand äh‐ nelnd, dem Tod geweiht sind. Die Insistenz, mit der in diesem Kapitel Wieder‐ holungen des Gleichen und des Ähnlichen auftauchen, markiert bewusst per‐ formativ diese ständigen Überschreibungen und Koexistenzen von widersprüchlichen Zuständen. Auch der Prozess des Sterbens ist nicht nur ein auf der Ebene der histoire dargestellter, sondern parallel dazu einer der Sprache selbst. Sofern Thomas l’Obscur der Versuch ist, die Erfahrung des Todes über eine innere Erfahrung der Sprache zu verwirklichen, muss diese den nicht dar‐ stellbaren Tod auch diskursiv in sich eindringen lassen. Die insbesondere im 4. Kapitel von TO 2 sehr markanten Penetrationen sind über zwei Tiere, die Got‐ tesanbeterin und die Ratte, realisiert. Im 6. Kapitel wird das Eindringen erneut über diverse Körperöffnungen thematisiert, die ihren deutlichsten Ausdruck in der Zwischenexistenz von Anne und der Spinne finden. Diese dringt in den Thomas umgebenden Raum ein, richtet sich auf und ergießt sich über ihn in einer Mischung „de nuances, d’odeurs et de pensées“. 37 Differenz und Wiederholung Konsequenz dieses raumgreifenden ‚Kommunikationsversuches‘ ist, dass Thomas sich umdreht und gleichsam anamnetisch wiederholend die Anfangs‐ szenerie memoriert. Der erzählte Raum dreht sich über Metaphern der Reise und 6. Das gleißende Licht 184 <?page no="187"?> 38 TO2: 44. 39 TO2: 48. 40 TO2: 48. des Weges auf seinen Anfang zurück und breitet eine temporaldeiktisch mar‐ kierte, vergangene Zeitspanne aus. Während zu Beginn des Kapitels die Sonne hoch am Himmel stand, geht sie jetzt allmählich unter. Die vor dem Eintritt in den Wald genannten Bäume kehren wieder. Sie bilden eine Rahmung der Wald‐ szene, die in das Kapitel eingelassen ist und in der sich die Erzählperspektive zunächst von Anne auf Thomas verschiebt, bevor sie dann beide gleichwertig umfasst. Sie repräsentieren eine Zeitlichkeit, in der sich Anne und Thomas mit ihren unterschiedlichen Zeitlichkeiten der Wahrnehmung treffen. Zuallererst werden die Bäume erwähnt, bevor Anne Thomas voran in den Wald geht: „[…] les arbres terribles, morts dans leur feuillage vert qui ne pouvait se dessécher […].“ 38 Am Ende des Kapitels erscheinen sie jedoch ein weiteres Mal im Moment der Anamnesis, innerhalb derer Thomas sich nach der Begegnung mit Anne im Wald erneut seines Aufenthaltsortes bewusst wird: „[…] ces arbres qui séchaient et ces feuilles vertes qui noircissaient.“ 39 In beiden Perspektiven erwecken die Bäume den Eindruck, zwischen Ewigkeit und Vergänglichkeit ge‐ fangen zu sein und den Gesetzen der Zeit zu widersprechen. Während Thomas sich der Bäume erinnert, d. h. das momentan Wahrgenommene mit bereits Wahrgenommenem gerade über die zeitliche Differenz zwischen beiden in Übereinstimmung bringen kann, gestaltet sich das Wiedererkennen Annes umso schwieriger. Es wird über zwei Fragen - eine auf der Ebene der überge‐ ordneten Erzählinstanz und sodann inmitten der direkt daran anschließenden direkten Rede - problematisiert: Et elle, la reconnaissait-il, cette morte aux aguets derrière une ressemblance immonde, prête à apparaître telle qu’elle était dans l’air constellé de petits miroirs où chacun de ses traits survivait? „C’est vous? “ demanda-t-il. Aussitôt, il vit une flamme dans des yeux, une flamme triste et froide sur un visage. Il frémit dans ce corps inconnu, tandis qu’Anne, sentant entrer en elle un esprit douloureux, une jeunesse funèbre qu’elle était vouée à aimer, croyait redevenir elle-même. 40 Mit Bezug auf die fortgesetzt in der Indifferenz zwischen Mensch und Spinne verborgenen Anne ergibt sich die Frage, wie Thomas Anne wiedererkennen kann, zumal die Luft mit unendlich vielen ihrer Wahrheit vervielfachenden Spiegel bedeckt ist. Hinter ihrem schimmernden und reflektierenden Netz aus Ähnlichkeiten hat Anne sich auf der Lauer liegend zurückgezogen, um Thomas erneut in ihrer leichenhaften Materialität zu überfallen. Um sie aus der Reserve 6.4 Tiere IV : Die Spinne 185 <?page no="188"?> zu locken und seinerseits ihr entgegenzutreten, spricht Thomas sie an. Er wird jedoch keine Antwort erhalten. Wenn ich am Anfang des Kapitels darauf verwiesen habe, dass mit Anne und Thomas zwei Formen der Zeitlichkeit verhandelt werden, möchte ich dies nun präzisieren. Anne und Thomas sind, so macht es der letzte Satz des 6. Kapitels von TO 2 deutlich, zwei Formen, die nur schmerzhaft zueinander finden können. Sie ist der materielle Körper des Todes, er der „esprit douloureux“, der in diesen Körper eindringt. Beide begegnen sich im Spiel der Differenz, die sich als eine Differenz der Wiederholung und ein Hin-und-Her der Erzählung zwischen den Perspektiven und ihrer sprachlichen Fassung offenbart. Eben in der rhetorischen Ununterscheidbarkeit der Ähnlichkeit als Zusammenspiel von Differenz und Identität, zwischen Vergleich und Metapher bzw. Allegorie erscheint dabei die Zeitlichkeit im Text als Effekt einer wiederholenden Projektion, die Differenzen produziert und zugleich übereinander lagert. Die semiotische Relation des Ver‐ weisens wird dabei der Basis einer vermeintlichen Eigentlichkeit in dem Maße beraubt, in dem nicht mehr eindeutig ist, was in der Wiederholung Signifikant für welches Signifikat ist. Stattdessen funktioniert der Text als ein Spiegelkabi‐ nett differenziell aufeinander verweisender Repetitionen. 6. Das gleißende Licht 186 <?page no="189"?> 1 Maurice Blanchot: „Tenir parole“, in: EI, pp. 84-93, hier p. 90. 7. Beziehungsweisen Schwerpunkt dieses Kapitels wird das Verhältnis zum A / anderen sein. Dieses reflektiert sich vor allem auch in der asymmetrischen Relation von Frage und Antwort. Die Frage als Kontaktaufnahme der Öffnung verbindet sich mit einer Ver-Antwortung, die im Wesentlichen darin besteht, selbst die Antwort zu über-nehmen. Anne wird dies in ihrer Auseinandersetzung mit ‚ihm‘ (die Un‐ persönlichkeit wird erst am Ende des Kapitels mit dem Namen Thomas ver‐ bunden) auf unterschiedliche Weise versuchen und sich damit bis in den Ab‐ grund ihres Daseins bewegen. So sehr Anne eine Antwort auf seine Unbestimmtheit sucht, verhindert sie sie aber gerade durch ineinander ge‐ schachtelte Entwürfe des Anderen. Der Begriff des Anderen ist eng mit Emmanuel Levinas verbunden, auf dessen autrui von mir Bezug genommen wird. Bei Blanchot liegt hinter der Beziehung zum Anderen jedoch eine Beziehung zum neutre / autre, also nicht primär eine ethische Beziehung, wie Levinas sie denkt. Denn für Blanchot ist das Ethische eine Abmilderung dessen, was die Beziehung zum A / anderen eigentlich freilegt: Emmanuel Lévinas dirait qu’elle [die Beziehung, Anm. der Verfasserin] est éthique, mais je ne trouve à ce mot que des sens dérivés. Qu’autrui me soit supérieur, que sa parole soit de hauteur, d’éminence, ces métaphores apaisent, en la mettant en perspective, une différence si radicale qu’elle se dérobe à toute autre détermination qu’elle-même. 1 Was im 7. Kapitel verhandelt wird, ist nicht die Begegnung eines Ich mit der radikalen Alterität des Anderen, die in der Annahme des Anderen letztlich die Subjektivität begründet. Anne und Thomas treffen vielmehr als die Personal‐ pronomen ‚sie‘ und ‚er‘ aufeinander und können diese Anonymität nicht ver‐ lassen. 7.1 Frage und Antwort Sowohl das 7. als auch das 8. Kapitel von TO 2 drehen sich um die Frage als Möglichkeit des Kontakts zum Anderen. Es werden konkrete Fragen gestellt, <?page no="190"?> 2 Maurice Blanchot: „La question la plus profonde“, in: EI, pp. 12-34, im Folgenden mit der Sigle QPP abgekürzt. Erstmals erschienen 1960 / 1961 in La Nouvelle Revue Française. 3 QPP: 15. 4 QPP: 24-25. doch wird vor allem die Frage als Frage in Frage gestellt. Als sprachlicher, auf Kommunikation ausgerichteter Ausdruck, artikuliert sich in der Frage eine Öff‐ nung des Subjekts auf den Anderen hin, wodurch das Subjekt in seiner abge‐ grenzten Identität in Gefahr gerät. Um mich dem Problem des Fragens anzunähern - und im Kontext der Frage wird es auch um die Nähe gehen -, möchte ich zunächst auf Blanchots kurzen Essay „La question la plus profonde“, der einen der ersten Texte von L’entretien infini bildet, zu sprechen kommen. 2 Entscheidende Eigenschaft oder Konse‐ quenz der Frage an sich ist nach Blanchot, dass sie bereits aufgrund ihrer gram‐ matikalischen Struktur eine Öffnung bedingt, d. h. über sich selbst hinausweist auf etwas außerhalb ihrer selbst Liegendes. Während die Frage einen Raum des Möglichen aufmacht, verschließt die Antwort ihn: „La réponse est le malheur de la question.“ 3 Die Frage öffnet sich dem Anderen in deutlich radikalerer Form als die Antwort. Sie setzt das Subjekt der Antwort aus, die auch eine Gegenfrage sein kann. Die tiefste Frage ist für Blanchot diejenige, die hinter der Frage des Dogmas dialektischer Ganzheit steht und auf die es keine Antwort gibt bzw. die jede Antwort in ihrer Sprachlichkeit zerstört. Sie wird jedoch von der Dialektik und deren Fragerichtung auf Totalität hin stetig verdeckt, sofern die Ganzheit eine synthetisierende Bewegung der Dialektik zur Aufhebung ist. Für Blanchot richtet sich die tiefste Frage indessen auf das Neutrum / Neutrale (neutre). Obwohl Blanchot den Namen Heideggers zunächst nicht nennt - dies ge‐ schieht erst in der letzten, überaus langen Fußnote -, scheint dessen Vorle‐ sungsreihe, die unter dem Titel Der Satz vom Grund publiziert wurde, an di‐ versen Stellen Ausgangspunkt der Überlegungen zur tiefsten oder tiefgründigsten Frage zu sein. Analog zur Heideggerschen Tiefenontologie spricht Blanchot davon, dass die tiefste Frage verdeckt werde und dass man sie freilegen müsse. Zudem fordert er zu einem „saut dans la question“ auf, 4 den das Denken vollziehen müsse. Auf diesen notwendigen Sprung verweist auch Hei‐ degger, der in seinen Vorlesungen ebenso wie in Sein und Zeit immer wieder betont, dass die Frage nach dem Sein vergessen wurde. Bei Heidegger ist es das 7. Beziehungsweisen 188 <?page no="191"?> 5 Zur Frage des Grundes siehe Kapitel 2.1 meiner Studie. Zum Grund bei Heidegger siehe: Martin Heidegger: Der Satz vom Grund, Stuttgart: Klett-Cotta 9 2006 sowie Martina Bengert: „Kryptische Gründung - Die Aushöhlung des Grundes und Blanchots litera‐ rische Krypta“, in: Maha El Hissy, Sascha Pöhlmann edd.: Gründungsorte, München: Fink 2014, pp. 215-233. 6 „C’est l’autre question, question de l’Autre, mais aussi question toujours autre.“ [QPP: 34]. 7 QPP: 26. 8 QPP: 22. 9 Cf. hierzu die Übersetzung Marcus Coelens mit „Die Antwort muss ihr auf den Kopf zugesagt werden.“ [Maurice Blanchot: „Die tiefste Frage“, in: id.: Das Neutrale, transt. Marcus Coelen, Zürich / Berlin: Diaphanes 2010, pp. 123-145, hier p. 132]. Sein hinter dem Seienden, das wiedergefunden werden muss und welches sich in der Frage nach dem Grund zeigt. 5 Die tiefe und die tiefste Frage oder autrui und autre Obgleich Blanchots Frage nach der Tiefe eine große Nähe zu Heideggers Frage nach dem Grund aufweist, zielt sie doch in eine andere Richtung. Es gilt nicht, das Sein hinter dem Seienden zu finden, sondern hinter dem Fragen ein Fragen freizulegen, das jede Antwort als solche scheitern lässt, indem es den Abgrund andeutet, der die Antwort umgibt und sie in ihrer Bedingtheit ausstellt. So un‐ terscheidet Blanchot grundsätzlich zwischen der tiefen und der tiefsten Frage. Diese Unterscheidung weist Parallelen zur Unterscheidung von erster und an‐ derer Nacht auf, insofern als die tiefste Frage wie die andere Nacht jenseits des Verstehens liegt und daher nur in ihrem Verschwinden erfahrbar ist. 6 Die tiefe Frage hingegen ist wie die erste Nacht etwas zwar die Sinne und den Verstand Gefährdendes, das sich jedoch noch manifestieren kann. Die Macht der tiefen Frage liegt weniger in ihren Inhalten, denn an ihrer Zugehörigkeit zu einem Raum, in dem es keinen Beginn und folglich auch keine Referentialität gibt, weil er als grundsätzliche dynamische Verschiebung im Sinne topologischer Relati‐ onalität der Raum des immer Anderen ist, der sich mit jedem neuen Ereignis (wie z. B. einer Frage) ändert. 7 Noch entscheidender aber ist, dass sie nie in einer Antwort ankommen kann bzw. darf und dass keine Antwort sie begreifen kann, da ihr Bezug nicht nur das rationale Verstehen ist: „La question profonde est frivole et effrayante; elle est divertissante, aimable et mortelle. Elle ne s’adresse pas seulement à la tête, puisqu’elle demande plus que la réflexion, et pourtant c’est la tête qu’elle vise: il faut lui répondre sur sa tête.“ 8 Die Doppeldeutigkeit von „lui répondre sur sa tête“ beinhaltet zum einen, dass die Antwort auf die tiefe Frage wörtlich genommen „auf den Kopf zugesagt“ werden muss, also di‐ rekt und ohne Umschweife ausgesprochen werden soll. 9 Zum anderen aber, und 7.1 Frage und Antwort 189 <?page no="192"?> 10 Cf. Caroline Sheaffer-Jones: „La parole du détour - Maurice Blanchot et Emmanuel Le‐ vinas“, in: Éric Hoppenot, Alain Milon edd.: Emmanuel Lévinas - Maurice Blanchot, penser la différence, Paris: Presses Universitaires 2007, pp. 493-508, hier p. 495. 11 Cf. Kapitel 1.1. 12 „L’autre parle. Mais quand l’autre parle, personne ne parle, car l’autre, qu’il faut se garder d’honorer d’une majuscule qui le fixerait dans un substantif de majesté, comme s’il avait quelque présence substantielle […].“ [Maurice Blanchot: „La Voix narrative (le ‚il‘, le neutre)“, in: EI, pp. 556-582, hier pp. 564 sq.; im Folgenden mit der Sigle VN abgekürzt]. 13 Kurt Hahn: „Die extreme Sprache der Ethik - Zur zeichenpraktischen Relevanz von Emmanuel Levinas’ dekonstruktivem Humanismus“, in: Rainer Zaiser ed.: Literatur‐ theorie und ‚sciences humaines‘ - Frankreichs Beitrag zur Methodik der Literaturwissen‐ schaft, Berlin: Frank & Timme 2008, pp. 169-185, hier p. 171 und p. 173. 14 Ibid., p. 173. das ist wesentlich für meine Thesen der Dynamik von Frage und Antwort, steckt darin etwas verschraubt die Forderung der Frage nach persönlicher Ver-Ant‐ wortung, welche zumindest scheinbar die Ebene des Ethischen öffnet. „La question la plus profonde“ ist daher auch als Ausdruck der Auseinandersetzung Blanchots mit dem ethischen Konzept des Anderen von Emmanuel Levinas zu betrachten. 10 Wie ich im 1. Kapitel im Kontext des il y a gezeigt habe, stellt im Denken Levinas’ der Andere als autrui im Gegensatz zum unpersönlichen anderen als autre einen Ausweg aus der Anonymität des il y a dar. 11 Wenn Levinas folglich vom radikalen oder absoluten Anderen spricht, meint er damit eine Andersheit, die sich auf einen Menschen rückbeziehen lässt und nicht das andere (autre), das Blanchot explizit kleingeschrieben wissen möchte. 12 Dennoch ist Levinas’ „me‐ taphysische Ethik, […] welche Intentionalität allein noch vom Anderen her konzipiert und jegliche Souveränität des Selbst in Frage stellt“, ein zentraler Punkt in Blanchots Denken. Kurt Hahn verweist in seinem Artikel zu Levinas’ Sprache der Ethik auf ein „Kernproblem intersubjektiver Relationalität“, die in ihren Machtstrukturen immer asymmetrisch funktioniert, was sich sprachlich in der Unterscheidung von Subjekt und Objekt manifestiert. 13 Denn in diese Unterscheidung ist eine Struktur von Dominanz und Unterwerfung einge‐ schrieben. Levinas’ Ausweg aus dieser Dualität ist die Öffnung des Subjekts für die Alterität des Anderen, die mit einer Affirmation der Entfremdung des Ichs durch den Anderen einhergeht. Gerade durch das hereingelassene Fremde kann sich das Subjekt formen. Hahn verdeutlicht dies am Beispiel des Subjekts als Gastgeber, der erst durch die Aufnahme des Anderen vollständig bei sich sein kann. 14 So platziert sich jedoch auch der Andere im Ich und dezentriert es in 7. Beziehungsweisen 190 <?page no="193"?> 15 Cf. Emmanuel Levinas: Dieu, la Mort et le Temps, Paris: Grasset & Fasquelle 1993, p. 202. 16 So schreibt Levinas am Ende von Totalité et infini in seinen „Conclusions“ unter dem Punkt 7. „Contre la philosophie du Neutre“: „Nous avons ainsi la conviction d’avoir rompu avec la philosophie du Neutre: avec l’être de l’étant heideggerien dont l’œuvre critique de Blanchot a tant contribué à faire ressortir la neutralité impersonnelle; “ [Le‐ vinas 1971: 332]. seiner Alterität von innen heraus. 15 Ist der Andere einmal aufgenommen, kommen die Positionen von Subjekt und Objekt ins Wanken, wodurch die Eta‐ blierung einer festen asymmetrischen Struktur untergraben wird. Das Subjekt kann sich nicht mehr verschließen und den Anderen als Objekt unterdrücken. Vielmehr muss es auf die Ansprüche und Fragen des Anderen antworten und Ver-Antwortung übernehmen. Wie verhält sich nun die notwendige Antwort als Verantwortung zur Asym‐ metrie? Anders ausgedrückt: Bedeutet Verantwortung zu übernehmen immer eine partielle Unterwerfung desjenigen, für den Verantwortung übernommen wird? Dies scheint zumindest Blanchots Kritik der Antwort anzunehmen, womit sie zugleich einen weiteren Hinweis für seine außergewöhnliche Formulierung „il faut lui répondre sur sa tête“ liefert, die performativ das Antworten zu etwas Uneindeutigem macht. Die Frage des Ethischen stellt sich bei Blanchot folglich nur sprachlich verklausuliert und nicht evident. Die Möglichkeit von Beziehung bzw. von Begegnung - und das heißt auch: von Verantwortung - ist etwas zu‐ tiefst Problematisches, und der Übergang von der Antwort in die Verantwortung dem Anderen gegenüber nichts Automatisches. Blanchot und Levinas sind zweifelsohne beide Kritiker des Subjekts und der ihm inhärenten Machtstruk‐ turen, doch der Humanismus Levinas’ kann und darf sich nicht mit der Unper‐ sönlichkeit und Anonymität des Neutralen (le neutre bzw. das kleingeschriebene autre) abfinden, wie Blanchot es denkt. 16 Es gilt hierfür noch einmal auf die tiefe Frage Blanchots zurückzukommen: „Elle ne s’adresse pas seulement à la tête, puisqu’elle demande plus que la réflexion, et pourtant c’est la tête qu’elle vise: il faut lui répondre sur sa tête.“ Im Französischen gibt es den Ausdruck „prendre une chose sur sa tête“, was so viel bedeutet wie ‚für etwas Verantwortung übernehmen, etwas auf seine Kappe nehmen‘. Dieser Ausdruck könnte hinter der eher ungewöhnlichen Konstruk‐ tion „répondre sur sa tête“ verborgen sein. Darüber hinaus findet sich aber bei‐ spielsweise in Langenscheidts Großwörterbuch Französisch der Eintrag „en répondre sur sa tête“, der auch auf die Verantwortung verweist, wobei diese jedoch noch etwas weiter reicht, nämlich bis in die Konsequenz der Haftung 7.1 Frage und Antwort 191 <?page no="194"?> 17 Langenscheidts Großwörterbuch Französisch, Teil 1 - Französisch-Deutsch, ed. Erich Weis, Berlin / München et al.: Langenscheidt 47 1978, hier p. 829. 18 Hervorhebung durch die Verfasserin. hinein. „Il en répond sur sa tête“, wie das dortige Beispiel lautet, wäre mit „er haftet dafür mit seinem Kopf “ zu übersetzen. 17 Das Diffizile an Blanchots Formulierung ist jedoch das vorangestellte „lui“, welches das „en“ aus dem Wörterbuchexempel ersetzt und damit eine stärkere Personalisierung erreicht: „il faut lui répondre sur sa tête“. 18 Durch das Pro‐ nomen wird die Forderung nach der Antwort (il faut lui répondre) mit der For‐ derung nach der Verantwortung (il faut lui répondre sur sa tête) überkreuzt: Man muss für sie, die tiefe Frage, mit seinem Kopf haften. Das Gefährliche an der tiefen Frage ist folglich, dass sie den Kopf anvisiert und den Fragenden womög‐ lich um den Verstand bringt. Sie kostet einen den Kopf, indem sie sich wie der Andere in das Subjekt setzt und dieses verändert. Die Gefahr der tiefen Frage, sofern man sie stellt, liegt jedoch auch im möglichen, ja sogar wahrscheinlichen Ausbleiben der Antwort, sodass die Frage zum Fragenden zurückkehrt und dort den Raum für die tiefste Frage bereitet. 7.2 Entmachtung und Entgrenzung Am Beginn des 7. Kapitels von TO 2 wird die Frage nach dem Verlust des Kopfes verhandelt und zwar im Zusammenhang von Möglichkeiten der Be-, und Er‐ mächtigung. Verlust des Kopfes und eine Bemächtigung des Kopfes des anderen stehen dabei in enger Relation und werden auf das Problem der Frage und der Verantwortung für den anderen und für sich selbst projiziert. Das Spiel der Asymmetrien beginnt zunächst in aller Deutlichkeit mit Annes Glückszustand, der sich insbesondere aus der Dominanz über ‚ihn‘ und seinen Kopf herleitet. Ich ersetze hier das Akkusativobjekt ganz absichtlich nicht durch den Eigennamen ‚Thomas‘, weil dies auch im Text nicht geschieht. Annes Name wird als erstes Wort genannt und dann über eine lange Strecke nicht mehr er‐ wähnt, sondern durch neutrale Bezeichnungen wie ‚elle‘ ersetzt. Thomas tritt 7. Beziehungsweisen 192 <?page no="195"?> 19 Daher setze ich die männliche Position in einfache Anführungszeichen, um ihre Ano‐ nymität beizubehalten. Da Annes Name zu Beginn als erstes Wort des Kapitels genannt wird, wird auf eine entsprechende Herausstellung der sie bezeichnenden weiblichen Pronomen verzichtet. Auch verwende ich gelegentlich den Namen Anne. Dies be‐ gründet sich im Wesentlichen in der Ermöglichung einer Lesbarkeit meines Textes, der sonst Gefahr liefe, das Spiel der Positionen allzu sehr zu spiegeln. Es zeigt sich hier, wie grundsätzlich im Sprechen über Blanchots Text(e), ein Problem der repräsentierenden Sprache, die bestrebt ist, Anonymes in Greifbares zu übersetzen. 20 TO2: 39. 21 Zumindest hat es diesen Anschein. Der Andere wird sich jedoch in sie einpflanzen und sie dezentrieren. erst deutlich später über seinen Namen in den Text ein. 19 Dadurch wird die Problematisierung des Umgangs mit dem Anderen verstärkt auf die sprachli‐ chen Positionen des Subjekts und Objekts konzentriert und die mögliche Til‐ gung der Asymmetrie durch die Eigennamen verhindert. Anne vécut quelques jours de grand bonheur. Et même elle n’avait jamais rêvé bonheur plus simple et tendresse plus aimable. Avec elle, il était tout à coup un être dont elle disposait sans danger. Si elle se saisissait de lui, c’était avec la liberté la plus grande. Sa tête, il la lui abandonnait. Ses paroles, avant d’être prononcées, étaient indif‐ féremment dans l’une des deux bouches, tant il lui laissait faire ce qu’elle voulait. 20 Zwischen Anne und ‚ihm‘ scheint in den soeben zitierten Zeilen ein Zustand höchster Symbiose vorzuherrschen, bei dem Anne jedoch die Oberhand hat. Die Symbiose besteht aus einer Mischung von Zärtlichkeit und Gewalt bzw. Domi‐ nanz und Unterwerfung des Anderen im Eigenen. Die männliche Position wird von der weiblichen zum Objekt gemacht und im Eigenen vernichtet. 21 Anne bemächtigt sich ‚seiner‘ in betonter Leichtfertigkeit. Ihr Vergnügen an der Macht ist umso deutlicher hervorgehoben, als es sich bei ‚ihm‘ um jemanden handelt, zu dem sie eigentlich nicht einmal ansatzweise eine Beziehung oder gar Nähe haben könnte. Wie schon die Lektüre des 6. Kapitels gezeigt hat, kann jede Do‐ minanz in der Beziehung von Anne und Thomas bereits im nächsten Augenblick in ihr Gegenteil kippen, woraus eine Umkehr der Asymmetrie resultiert. Denn diese Nähe ist Ergebnis eines paradoxalen Beziehungsgeflechts. Sie basiert auf der Unmöglichkeit der Berührung zwischen ‚ihr‘ und ‚ihm‘, die dennoch statt‐ findet. Dies hat unter anderem ständige Perspektivwechsel zur Folge. Annes Leichtfertigkeit bezüglich ‚seiner‘ Appropriation mündet in ein Begehren, in dem sich über verschiedene Modi der Berührung ein Aufbrechen ihrer Subjekt‐ haftigkeit abzeichnet: Il l’attirait, et elle avançait dans le visage dont elle pensait encore caresser les contours. […] Ses regards s’attachaient à lui, était-ce un jeu impudent ou un jeu dés‐ 7.2 Entmachtung und Entgrenzung 193 <?page no="196"?> 22 TO2: 50. 23 TO2: 51. 24 Diese Fragen beinhalten darüber hinaus einen intertextuellen Verweis auf Blanchots 2. Roman, Aminadab, in dessen letztem Satz der ebenfalls Thomas genannte Protagonist Lucie fragt: „Qui êtes-vous? “ [Maurice Blanchot: Aminadab, Paris: Gallimard 1942, p. 290]. Zur Verbindung zwischen den beiden Versionen von Thomas l’Obscur und Aminadab siehe Stillers 1979: 201-204. espéré? Ses paroles s’humectaient, même ses plus faibles mouvements la collaient contre lui, tandis qu’en elle se gonflait la poche d’humeurs d’où elle tirerait peut-être au moment opportun un pouvoir extrême d’adhésion. Elle se couvrait de ventouses. Elle n’était, à l’intérieur et à l’extérieur, que plaies cherchant à se cicatriser, chair en voie de greffe. Et, malgré un tel changement, elle continuait à jouer et à rire. 22 Die anfängliche Berührung und Steuerung ‚seines‘ Körpers geht über in eine Metaphorik des Klebens auf der Ebene der Wörter, Blicke und Bewegungen. Die Anziehung entwickelt eine schmerzhafte masochistische Eigendynamik, die Anne in eine physische wie gedanklich-emotionale Wunde transformiert. Diese Wunde ist als Öffnung, die dem Trauma entspricht, lesbar und bedeutet somit bereits einen Vorverweis auf die tiefe und tiefste Frage. Sie lässt in ihrem halb verheilten Zustand die Unterscheidbarkeit von Innen und Außen verschwinden und offenbart auf diese Weise ein Subjekt, das durch allzu unvorsichtige Inbe‐ sitznahme des Anderen selbst entgrenzt wird. Anne scheint noch kein Bewusst‐ sein für ihren prekären Zustand zu haben, vielmehr geht sie in ihrem übermü‐ tigen Spiel einen Schritt weiter und stellt ‚ihm‘ eine erste Frage. 7.3 Fragen: Der versuchte Kontakt mit dem Unmöglichen Zwei Fragen, die als direkte Rede mit Spiegelstrichen im Text hervorgehoben sind, richtet Anne an ‚ihn‘, zum einen: „Au fond, qui pouvez-vous être? “ und zum anderen: „Mais qu’êtes-vous? “ 23 Diese beiden zutiefst ontologischen Fragen sind zudem an ein physisches Kontaktangebot Annes gekoppelt. Für die erste Frage ist es die entgegengestreckte Hand, für die zweite Frage der direkte Blick ins Gesicht, der bereits auf das „répondre sur sa tête“ der tiefen Frage ver‐ weist. 24 Der ersten Frage wird kein Antwortraum geöffnet. Stattdessen wird ihr von der Erzählinstanz der Daseinsstatus als Frage abgesprochen und eine nicht an Anne gerichtete Gegenfrage gestellt: „Il n’y avait dans cette remarque aucune question à proprement parler. Comment aurait-elle pu, si étourdie qu’elle fût, interroger un être dont l’existence était une terrible question posée à 7. Beziehungsweisen 194 <?page no="197"?> 25 TO2: 51. 26 TO2: 51-52 [Hervorhebungen von der Verfasserin]. elle-même? “ 25 Die Frage Annes wird als Bemerkung eingestuft, die von einer wirklichen Frage zu unterscheiden ist. Des Weiteren werden Annes Naivität und Aberwitz erneut betont. Durch sie verkennt Anne, dass sie ein Wesen zu be‐ fragen intendiert, das für ihre Existenz hochgradig gefährlich ist und sie exis‐ tenziell bedroht. Annes Frage ist folglich eine unwissende Antwort auf einen Ruf, den sie nicht (an)erkennt. Ihre Frage entpuppt sich somit bereits als eine Antwort auf ‚ihn‘, der sie in ihrer ganzen Existenz als lebende Anne hinterfragt, denn in ihm als autrui kündigt sich der Tod an. Dennoch versucht Anne ‚ihn‘ ein weiteres Mal zu befragen. Die zweite Frage scheint eine Spezifizierung der ersten zu sein, da sie nun nicht mehr nach dem ‚Wer‘, sondern nach dem ‚Was‘ fragt. Auch hierauf erfolgt zunächst keine Ant‐ wort auf gleichgestellter Ebene, d. h. auf der Ebene der direkten Rede, sondern eine Problematisierung der Möglichkeit, Fragen zu stellen und Antworten zu geben. Über das Problem der doppelten Kontingenz wird die Beziehung zum Anderen verhandelt: Quoiqu’elle ne s’attendît pas à l’entendre répondre et qu’étant même sûre qu’il ne lui répondrait pas, elle ne lui eût pas, en vérité, posé de question, il y avait un tel abus dans sa manière de supposer qu’il pourrait donner une réponse (bien entendu, il ne répondrait pas, elle ne lui demandait pas de répondre, mais, par la question qu’elle lui avait adressée personnellement et au sujet de sa personne, elle se donnait l’air de pouvoir interpréter son silence comme un refus accidentel de répondre, comme une attitude qui pouvait un jour ou l’autre changer) […]. 26 Zwar besitzt Annes Frage diskursive Wirklichkeit: Sie ist als ausgesprochene und durch Anführungsstriche gekennzeichnete Frage lesbar. Dennoch wird im nächsten Satz diese Realität zunächst wieder bestritten, wenn es heißt: „elle ne lui eût pas, en vérité, posé de question“, um ihr dann noch im selben Satz als Einklammerung zumindest auf der Ebene der Adressiertheit an ‚ihn‘ erneuten Wirklichkeitsanspruch zu verleihen. Sowohl die zuvor beschriebene Paradoxie der Berührung wie auch hier die Paradoxie des Dialogs sind als Ausdrucks‐ formen der Auseinandersetzung mit dem Unmöglichen in Form einer Unmög‐ lichkeit des (Kontakts mit dem) Anderen zu lesen. Die Macht, die Anne als Herrin der wechselseitigen Übergänge zunächst über ‚ihn‘ zu haben schien, zeigt sich bezüglich der Frage-Antwort-Situation zunehmend in ihrer Inversion. ‚Ihm‘ auch nur die kleinste Fähigkeit zur Antwort zuzusprechen, öffnet die Möglich‐ keit einer Reaktion seinerseits. Dies ist hochgradig bedrohlich, denn seine Re‐ 7.3 Fragen: Der versuchte Kontakt mit dem Unmöglichen 195 <?page no="198"?> 27 TO2: 52. aktion ist radikal nicht vorherbestimmbar. Vielmehr entsteht eine Beziehung, auf die von beiden Seiten aus Einfluss genommen werden kann, was bedeutet, dass gerade keine Kontrolle der jeweiligen Subjekte möglich ist, insofern die andere Seite immer nur über eine Vorwegnahme von der eigenen Seite aus zu beeinflussen ist. Die andere Seite öffnet das fragende Subjekt auf die eigene Passivität gegenüber der Macht des Anderen. In Annes Frage, wie in jeder Frage nach Blanchots Definition in „La question la plus profonde“, ist unwiderruflich ein ekstatisches Moment eingeschrieben, das den Fragenden auf den Anderen hin öffnet. So lassen sich die von mir vorher explizierten Gedanken Blanchots hinsichtlich der tiefsten Frage an dieser Stelle mit dem Entsetzen verbinden, das Anne ergreift, als sie der Konsequenzen ihrer Frage gewahr wird. Sobald sie die Frage ausgesprochen hat, kann sie nicht mehr hinter sie zurück. Sie steht aus‐ buchstabiert da und verlangt nach einer Begrenzung ihrer Offenheit in Form einer Antwort. Car le grand danger, maintenant qu’elle venait, par un acte inconsidéré et arbitraire, de le traiter comme un être qu’on pouvait questionner, c’était qu’il se traitât, à son tour, comme un être qui pouvait répondre et lui faire entendre sa réponse. Cette menace, elle la sentait déposée au fond d’elle-même, à la place des mots qu’elle avait prononcés. 27 So unüberlegt und arbiträr ihre Frage auch sein mag, schafft sie dennoch eine Referenz, die dem Adressaten die Identität des Antwortenden verleiht. Die Be‐ drohung besteht in der topologischen Substituierung, die im Innern Annes die Frage durch die Antwort der vorgestellten Worte des Anderen ersetzt. Dabei ist diese mögliche Antwort immer noch Teil der doppelten Kontingenz, d. h. des Versuchs, das Unerwartbare und Zufällige der Antwort durch Überlegungen zu möglichen Antworten vorwegzunehmen und in seiner Unzugänglichkeit vor‐ greifend kontrollierend zu mindern. Das Problem dieses vorgreifenden Aus‐ greifens ist, dass sich die vorgestellte Kontingenz des Anderen zur eigenen ad‐ diert und somit in einer Verdopplung der Kontingenz mündet. Maintenant qu’elle était sûre qu’avec sa rigueur impitoyable, il lui dirait, s’il parlait, tout ce qu’il avait à dire, sans rien lui dissimuler, lui disant tout pour que, lorsqu’il cesserait de parler, son silence, le silence d’un être qui n’a plus rien à livrer et qui cependant n’a rien livré, fût encore plus effrayant, elle était sûre qu’il parlerait. Et cette certitude était si grande qu’il se montrait à elle comme s’il avait déjà parlé. Il l’environnait comme un gouffre. Il tournait autour d’elle. Il la fascinait. Il allait la 7. Beziehungsweisen 196 <?page no="199"?> 28 TO2: 53. dévorer en transformant les paroles les plus inattendues en paroles qu’elle ne pourrait plus attendre. - Ce que je suis … - Taisez-vous. 28 Annes Angst, ‚er‘ könnte alles sagen, entspringt der Angst vor dem Schweigen und der bleibenden Unerreichbarkeit hinter dem Sagen. Diese Vorstellung, die Anne von ‚ihm‘ hat, kippt von der Ebene des Vorgestellten auf die Ebene des gesicherten Wissens, wodurch der Eindruck entsteht, er habe bereits zu ihr ge‐ sprochen. Es ist jedoch diese vermeintliche Gewissheit, die zum Abgrund wird, der sich um Anne legt und somit ihre Position in der Position des Anderen einschließt. Dabei wird der Abgrund deutlich als Produkt oder Projektion der Vorstellung und Angst Annes vor dem bedrohlichen ‚il‘ ausgewiesen, das vier aufeinander folgende Sätze anaphorisch anführt und sukzessiv klimaktisch stei‐ gert. Zunächst ist ‚il‘ der unbewegte Abgrund, dann mobilisiert er sich drehend, fasziniert Anne und droht über die Faszination mit der Appropriation, indem er sich Anne über Worte, die sich Annes Kontrolle entziehen, als radikal Anderer zu bemächtigen sucht. Die antizipierte Vernichtung Annes droht, wie die Ver‐ nichtung der Frage, über eine Transformation des Unerwarteten in Worte zu geschehen, die Anne nicht mehr erwarten und vorhersehen kann. Deshalb ent‐ springen die daraufhin als direkte Rede markierten Worte „Ce que je suis …“ als Antidot des Nichtvorhersagbaren nicht ‚ihm‘, sondern Annes Vorstellung von ‚ihm‘. Es geht mithin genau darum, sein Erscheinen zu verhindern. Die Antwort auf die Frage, wer oder was ‚er‘ ist, wird jedoch von der Auf‐ forderung zu schweigen unterbrochen. In der Antwort läge die Gefahr, dass ‚er‘ sich als der Andere zeigt, d. h. als die Vorstellung, die Anne von ihm hat und die dennoch Ausdruck einer in ihr befindlichen Alterität wäre, welche sie als solche anerkennen müsste. Mit der Untersagung der Benennung dieser Alterität bleibt folglich seine Identität unausgesprochen im Dunklen. Frage und Antwort stellen eine Beziehung zwischen den beiden Positionen her, eine Beziehung von Ich und Anderem, wodurch das Ich durch den Anderen in sich bestritten wird. Das ist die Bedrohung, die in der Frage steckt, da sie qua Frage eine Öffnung zum Anderen impliziert. Blanchots Konzept der tiefsten Frage besagt aber, dass der Andere notwendig ist, um aus der Referenz des Einen herauszukommen. Nur so kann sich das Ich aus seiner Scheineinheit befreien bzw. aus ihr gerissen werden. Dies bedeutet auch, dass sich dergestalt die in jeder Antwort steckende Asymmetrie zeigt. Die Antwort von ‚ihm‘ wird hier jedoch von Anne verhindert und stattdessen mittels 7.3 Fragen: Der versuchte Kontakt mit dem Unmöglichen 197 <?page no="200"?> 29 Mit dem Schrei wird sich das Kapitel 8.1 befassen. 30 TO2: 53. 31 TO2: 54. einer Repräsentation seiner Antwort vorweg genommen. Um die Rolle der Re‐ präsentation im Übergang von der tiefen zur tiefsten Frage, wie auch vom An‐ deren zum anderen, soll es daher im nächsten Punkt gehen. 7.4 Enttäuschungen In den folgenden Textsequenzen wird geschildert, wie Anne in die Finsternis hineinschreit. Ihr Gesicht öffnet sich und Laute jenseits der wohlgeformten Ar‐ tikulation brechen aus ihr heraus. 29 Nachdem sie ihr Gesicht wieder ver‐ schlossen hat und nicht mehr in dieser ungefilterten Form Gesicht zeigt, wendet sie sich abermals ‚ihm‘ zu. Doch dieses Mal nicht über Worte, die durch das vorgreifende Repräsentieren den Anderen überdecken sollen, statt ihn zu er‐ kennen zu geben, sondern über ein „nouveau langage venu des bas-fond“. 30 Diese neue Sprache entspringt nicht länger dem Kopf, sondern den Untiefen des Kör‐ pers und unterliegt daher nicht mehr - wie die um rationale Kontrolle bemühte Kommunikation von Frage und Antwort - der Gefahr der doppelten Kontin‐ genz. Dennoch erweist sie sich als kaum weniger problematisch, wie die Er‐ zählinstanz hinsichtlich des geplanten Unterfangens mit folgendem Vergleich illustriert: „[S]ans se soucier de l’état où elle se trouvait, elle voulut, comme un ivrogne qui n’a plus de jambes et qui s’explique par son ivresse le fait qu’il ne peut pas marcher, elle voulut voir pourquoi ses relations avec ce mort n’avançaient pas.“ 31 Ich lese diesen Vergleich mit einem Betrunkenen, der seine Unfähigkeit, laufen zu können, mit seiner Trunkenheit erklärt und dabei die Tatsache seiner fehlenden Beine verkennt, als einen traumatischen Verlust, der nicht bewältigt werden kann. In der Verdrängung des Traumas mit Hilfe des Alkohols bewirkt dieser eine Verdeckung des ursächlichen Verlustes. Anne kann ihre Beziehungsproblematik zu einem Toten (Thomas) bzw. zum Tod an sich nicht klären, da sie vom Trauma des Verlusts aus spricht. Das Problem ist nicht die Trunkenheit, die glauben macht, nicht mehr gehen zu können, sondern der viel gravierendere tatsächliche Verlust der Beine, der nicht zugelassen wird. So scheint es auch der tatsächliche (in und mit Thomas sich zeigende) Tod Thomas’ zu sein, den Anne analog zum Verlust der Beine nicht annehmen kann. Anne versucht, Beziehungsprobleme zu lösen, hinter denen eine tiefere Frage, die tiefste Frage in Form des Todes steht. 7. Beziehungsweisen 198 <?page no="201"?> 32 TO2: 54-55. Der Vergleich mit dem Betrunkenen wird sodann als tiefer Fall gedeutet. Das Sprechen aus ihren Untiefen verbindet sich hier mit dem Abgrund, der wegen der doppelten Kontingenz zu Annes neuer epistemologischer Grundlage ge‐ worden ist. Aus der zuvor genannten Finsternis heraus verändert sich Annes Blick auf die Situation. Die Leichtigkeit, mit der sie zu Beginn des Kapitels Thomas zu begreifen versuchte, ist Rückzug und Misstrauen gewichen. Dis‐ kursiv ist diese Veränderung als beklemmende Erinnerung an ihre „gestes ac‐ cueillants et la facilité de son approche“ hervorgehoben. Annes Deutung geht indessen abermals an einer wirklichen Erkenntnis vorbei, da Anne ihre Offen‐ heit nicht als Problem des Vereinnahmens und Überschreibens des Anderen wahrnimmt, sondern sich in ihrer Öffnung von Thomas’ Hinterhältigkeit in die Irre geführt sieht. Auch in der veränderten Wahrnehmung erkennt sie nicht ihren Irrtum, von einer in Thomas aufzufindenden Wahrheit auszugehen. Diese Wahrheit, die das Geheimnis des Menschlichen hinter der Fremdheit verspräche, existiert nicht in Thomas. Anne sieht die Selbsttäuschungen nicht, die sie davon abhalten, ihn als Anderen in seiner Alterität anzunehmen. Anne kann Thomas, der erst hier zum einzigen Mal in diesem Kapitel namentlich erwähnt wird, nicht als den, der er ist, anerkennen, weil sie nicht begreift, dass alles ihm Zuge‐ schriebene ihn zwangsläufig verfehlen muss. Die Häufigkeit, mit der auf den letzten beiden Seiten des Kapitels die Isotopie der Täuschung erscheint, ist be‐ zeichnend. Sie erzeugt den performativen Effekt einer Textwerdung der Täu‐ schung, hinter die auch der Leser nur bedingt zurückgehen kann. Si elle n’allait pas jusqu’à le soupçonner d’hypocrisie (elle pouvait se plaindre, elle pouvait pleurer bassement parce qu’il la maintenait à trente brasses au-dessous de la vérité parmi des mots brillants et vains; mais il ne lui venait pas à l’esprit, malgré ses essais sournois pour parler d’elle et de lui avec les mêmes mots, qu’il y eût, dans ce qu’elle appelait le caractère de Thomas, de la duplicité), c’est que rien qu’à tourner la tête, dans le silence où il devait être, elle devinait si infranchissable qu’elle sentait bien tout ce qu’il y aurait eu de ridicule à le dire dissimulé. Il ne la trompait pas, et pourtant elle était trompée par lui. La trahison tournait autour d’eux, d’autant plus terrible que c’est elle qui le trahissait et qu’elle se trompait elle-même sans avoir l’espoir de mettre fin à un tel égarement, puisque, ne sachant qui il était, c’était toujours un autre qu’elle trouvait dans son sein. 32 Thomas hat keinen Charakter und keine Charakteristika. Diese sind Erfin‐ dungen oder Täuschungen Annes, ebenso wie sein vermeintlicher Betrug ihrem Selbstbetrug entspringt. Indem Anne Thomas Täuschungsversuche unterstellt, 7.4 Enttäuschungen 199 <?page no="202"?> vollzieht sie gleich mehrere Selbsttäuschungen: Sie setzt ihn als Mensch mit einem Charakter, d. h. mit bestimmten, ihn differenzierenden und kennzeich‐ nenden Eigenschaften, wodurch sie seine Alterität mindert und mit eigenen Vorstellungen überdeckt, bzw. sie überhaupt in die Bestimmbarkeit der Attri‐ bution überführt. Die ihm unterstellte Täuschung ist eine Projektion ihrer Selbsttäuschung in ihn. Anne exteriorisiert die Alterität auf diese Weise, um über die unterstellte Täuschung den Glauben an eine, wenngleich negative, wil‐ lentliche Bezugsgröße zu kreieren und umgeht auf diese Weise das Unpersön‐ liche des autrui. In manchen Momenten kann Anne dies erkennen und ihre Setzungen als solche wahrnehmen. Das Begreifen reicht bis zum Verständnis, dass ihre Empfindung der Täuschung nicht gleichzusetzen ist mit einer von ihm tatsächlich ausgeführten Täuschung. Doch der Verrat, der um die beiden kreist, hat seinen Ursprung radikal in Annes Selbsttäuschung. Aus dieser kann sie nicht heraustreten, da die Unkenntnis seiner Identität in Anne unweigerlich Erset‐ zungen und attributive Füllungen für diese epistemologischen Leerstellen her‐ vortreibt. Dem entspricht auf sprachlicher Ebene das Repräsentieren, das auf diese Weise in seinem Scheitern und Irren mitbezeichnet wird. Bis zum Ende des 9. Kapitels verbleibt Anne noch in ihrem Irrtum, aus dem sie keinen Ausweg findet. Der ‚Ausweg‘ wird nach einer Wiederholung des Sturzes in den Abgrund im nächsten Kapitel erst das Loslassen von Thomas im 9. und 10. Kapitel sein. Damit wird die Erkenntnis oder vielmehr die Erfahrung verknüpft sein, dass alles, was Anne von Thomas zu wissen intendiert, nicht in ihm, sondern in ihrer eigenen Dunkelheit als Beginn des Todes liegt. Doch dazu muss sie über die Alterität des Anderen (autrui/ Autre) hinausgehen und die ra‐ dikale Differenz des anderen (autre) in seiner Anonymität zulassen. Dies wird bedeuten, der tiefsten Frage hinter der tiefen Frage Raum zu verschaffen, was ihr den Kopf und das Leben kostet. Der Preis der Subjektivität und der Verantwortung ist also hoch und betrifft die Frage der Existenz als tiefste Frage. Thomas begegnet Anne als Anderer und Fremder, als unpersönliches ‚il‘, in dem sich das Unbegreifliche des Todes zeigt. Thomas ist die tiefe Frage, die sich Anne stellt und die sie beantworten will. Hinter ihm verbirgt sich jedoch die tiefste, unaussprechliche Frage des Todes, die sie verantworten muss. Der Tod ist Anne nah - sie ist todkrank - und doch kann sie sich seiner über Thomas immer nur scheinbar bemächtigen, sofern sie als Subjekt keine Beziehung zum Tod aufbauen kann. Er ist das, was alle Rela‐ tionen bestimmt, zu dem aber eine Beziehung maximal in Aporien ‚gelebt‘ werden kann. Jede wirkliche Nähe zum Tod muss in einer Auflösung des- oder derjenigen münden, von dem oder der diese Beziehung ausgeht. Auch bedeutet der Tod eine unauflösliche Fremdheit. In diesem Sinne ist es für Blanchot die 7. Beziehungsweisen 200 <?page no="203"?> unausweichliche Verbundenheit mit dem Tod, die hinter jeder Beziehung zum Fremden oder Anderen im Levinasschen Sinne steht und diese auf das autre hin entgrenzt. Das autre ist jedoch nur als Spur der nicht darstellbaren tiefsten Frage in die tiefe Frage einschreibbar und in dieser repräsentierbar. Das „Sein zum Tode“, welches bei Heidegger noch immer als positiv besetzter Zugang zum Tod gedacht ist, sofern der Mensch sich darin seines Seinszustandes bewusst wird und den sicheren, aber vom Zeitpunkt her ungewissen Tod als Basis des Seins anerkennt, wird für Anne in den folgenden Kapiteln erlebbar als Sein im Tode. 7.4 Enttäuschungen 201 <?page no="204"?> 1 Georges Bataille: Articles 1-1944-1949, in: id.: Œuvres complètes, edd. Francis Marmande, Sibylle Monod, Bd. 11, Paris: Gallimard 1988, p. 292. 8. Sich vom Aussagen befreien Das Problem des Aussagens ist ein Problem der Schrift, ist ein Problem des Er‐ zählens: Es verengt die multiplen Möglichkeiten des Denkens auf eine Form. Im 8. Kapitel von TO 2 sucht Anne, wie schon im vorangegangenen Kapitel, nach Ausdrucksformen, um die Beziehung zu Thomas zu begreifen. Metasprachlich geht es dabei wesentlich um Möglichkeiten des Sprechens und des Erzählens, das (noch) nicht Teil der symbolischen Ordnung ist. Als Thematisierung des récit im récit wird es im Rückbezug auf ganz ähnliche Überlegungen in La folie du jour darum gehen, wie das Erzählen (des Todes) überhaupt möglich ist. Der Schrei, aber auch das Schweigen sind zumindest kurzzeitige Wege, sich von der Herrschaft des Zwangs zur Aussage zu befreien und eine Sprache der Unmittelbarkeit zu finden. Eine Sprache, die der Erfahrung des Todes ange‐ messen ist und die das Denken derartig mit sich selbst konfrontiert, dass es wie in einen Trichter eingesogen wird und auf seinen eigenen Grund taumelt, ohne dort jemals anzukommen. Im Folgenden soll es zunächst um den Schrei gehen, den ich als wesentlichen und immer wiederkehrenden Teil des ‚Nachtsprechens‘ in Thomas l’Obscur lese. Durch ihn weist der Text auf seine verdrängte rauschende Lautdimension hin. Daran schließt sich die Frage der Erzählung des Todes an. Im 3. Unterkapitel wird zusammen mit Foucaults Konzeptualisierung von Blanchots Begriff des dehors das Außen als vorsprachlicher Raum betrachtet, dem Anne sich im Sterben nähert. 8.1 Schreien Lévinas décrit et Maurice Blanchot crie en quelque sorte l’il y a. 1 Georges Bataille Der Beginn des 8. Kapitels bildet eine Brücke zum Ende des 7. Kapitels, d. h. zu Annes Erwartung eines Ereignisses, das alles, jede Unterscheidbarkeit und <?page no="205"?> 2 TO2: 55. 3 Cataclysme leitet sich ab vom griechischen kataklysmós (Überschwemmung), darin: katá (hinunter) klyzein (schwemmen, spülen). 4 TO2: 56. 5 „[…] c’est qu’on ne pût rien savoir de sa vie et qu’il restât, en toutes circonstances, anonyme et privé d’histoire.“ [TO2: 56]. Trennung zwischen den Lebewesen, auflöst. Die Bezeichnung dieses Ereignisses als „cataclysme général“ verschränkt dabei den erwarteten Tod mit dem Begriff der Katastrophe, welche als Kataklysmus eine starke semantische Prägung hin zur Naturkatastrophe beinhaltet. 2 Die Erwartung einer Katastrophe darf aber in einem Kapitel über die Möglichkeit der Erzählung (des Sterbens) auch litera‐ turwissenschaftlich eingeordnet werden als Verweis auf die Tradition der Tra‐ gödie, in der sich die Katastrophe für gewöhnlich am Schluss ereignet und mit dem Tod zentraler Figuren einhergeht. Einerseits gibt der Text somit einen di‐ rekten Verweis auf das apokalyptische Geschehen des letzten Kapitels von Thomas l’Obscur und verschränkt die dortige Bilderflut mit der Sintflut. 3 Im diesem finalen Kapitel ist die Katastrophe nicht der individuelle Tod, sondern ein umfassender, alles zerstörender Vernichtungsakt, den nichts aufhalten kann. Er entspricht damit genau dem, was Anne am Ende des 7. Kapitels von TO 2 erwartet. Andererseits kreisen die Kapitel acht bis zehn um den Tod Annes als Einzelmenschen, der sich selbst als Schöpfer der Welt begreift und dessen Macht in eine Ohnmacht überzugehen hat, um sich so dem Tod ganz zu überlassen bzw. hinzugeben. Bezeichnend erscheint mir dennoch, dass im 8. Kapitel der allge‐ meine Kataklysmus zudem eine Entsprechung in Annes Annäherung an das (individuelle) Sterben findet. Das Wasser verzeichnet eine intensive semantische Breite, die sich über das gesamte Kapitel legt, bis am Ende des Kapitels Anne in ihrer Leidenschaft für Thomas verbrennt und somit semantisch in das Element des Feuers wechselt. Sowohl die Überschwemmung als auch die Feuersbrunst können einen Kataklysmus bezeichnen. Während sich Thomas im 7. Kapitel wie ein Abgrund um Anne legte und sie in die absolute Nacht fallen ließ, ist es im Auftakt des 8. Kapitels Anne, die als „réalité énorme et incommensurable“ Thomas umkreist. 4 Die Bewegung des Kreisens und Wirbelns kehrt später als „Sogmaschine des Denkens“ wieder, von der noch die Rede sein wird. Ein zentraler Grund des Umkreisens ist Thomas’ Unzugänglichkeit für Anne. Obschon er für die Leser über seinen Eigennamen eine gewisse Bezeichnung erhält, bleibt er für Anne ein unbegreiflicher Mann ohne Eigenschaften, dessen Geheimnisse sie nicht klären oder auch nur erklären kann. 5 Die beiden begegnen einander auf einer anderen Ebene. Dass jedoch sein Name eine Falle ist, die nicht verheimlicht, eine zu sein, wurde mit dem 3. Kapitel 8.1 Schreien 203 <?page no="206"?> 6 Siehe Kapitel 3.4. 7 TO2: 57. 8 Joseph Vogl: „Der Schrei“, in: Hartmut Böhme, Johannes Endres edd.: Der Code der Lei‐ denschaften - Fetischismus in den Künsten, München: Fink 2010, pp. 290-305, hier p. 291. zu zeigen versucht. Es sei hier noch einmal in Erinnerung gerufen, dass der Name ‚Thomas l’Obscur‘ mehrfach kryptiert ist, ja sogar seine Kryptierung zur Schau stellt, was wiederum eine umso effektivere Taktik des Entzuges dar‐ stellt. 6 Anne probiert, den Kontakt zu Thomas auf verschiedene Weisen herzustellen, deren gemeinsamer Nenner das unvermittelte, vom Aussagen befreite Sprechen ist. Mittels der Sprache kann sie ihm nicht nahe sein, da diese Thomas in ihrer Aussagelogik stets verfehlen muss. Der Schrei ist eine erste Variante, die Anne wählt und auf die immer wieder im 8. wie auch in anderen Kapiteln zurückge‐ griffen wird. „Ce qu’elle lui dit avait la forme d’un langage direct. C’était un cri plein de superbe qui retentissait dans la veille avec le caractère même du rêve.“ 7 Dieser Schrei, dessen Nachhallen oder Nachwirken im Wachsein in Form des Traumes geschieht, wird im anschließenden Textabschnitt diskursiv in eine direkte Rede Annes gefasst. Der Status ihres Sprechens oszilliert unaufhaltsam zwischen der Möglichkeit eines direkten Sprechens, d. h. hier einer direkten Rede an der Oberfläche, und einem sich der Diskursivierung entziehenden Schrei in der Tiefe. Der Schrei ist einerseits Form des unvermittelten Sprechens, andererseits werden durch ihn die Worte der direkten Rede ihres Aussagestatus beraubt, sofern sie nur der Widerhall eines nichtsprachlichen Ausdrucks sind, der einer anderen Bewusstseinssphäre entspringt. Darstellbarkeit des Schreis Joseph Vogl beschäftigt sich in seinem Aufsatz „Der Schrei“ mit dem Phänomen des Schreis, d. h. konkret damit, wo er sprachlich und körperlich ansetzt, sich ausdrückt und wie er sich kulturell manifestiert. Während es in der Antike al‐ lerlei Geschrei unter den Göttern gab, attestiert Vogl eine Zäsur des Schreis ab der Neuzeit, die er als „Diätetik des Schreis“ 8 bezeichnet, wohingegen er ein Wiederaufblühen des Schreiens im ausgehenden 19. Jahrhundert sieht. Die grundlegenden Unterscheidungen, die Vogl macht, sind die zwischen der sprachlichen Diskursivierung des Schreis, der bildlichen Arretierung, wie man sie in Skulpturen oder Malereien findet, und filmischem Material, in dem via Tonspur der Schrei doppelt präsent sein kann: als Bild und als Laut. Es geht ihm unter anderem anhand von Lessings Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie um die mögliche Bezeichnung von so etwas wie „Schrei-Grenzen“, 8. Sich vom Aussagen befreien 204 <?page no="207"?> 9 In TO1 wird Laokoon im Vergleich mit einem entstellten und blutenden Schrei-Gesicht sogar im Text genannt, in TO2 wird dieser Verweis jedoch weggelassen, was den Schrei von einem vergleichbaren und referentialisierbaren in einen generischen Schrei ver‐ wandelt. [Cf. TO1: 106]. 10 Vogl 2010: 297-298. 11 Ibid., p. 299. von dem, was der Schrei ist und was über ihn hinausgeht. 9 Mit Blick auf Blanchot und die textuelle Darstellung des Schreis scheint mir insbesondere die Frage nach den Möglichkeiten der Darstellbarkeit einer Artikulation auf der Grenze zwischen Soma und Sprache von Wichtigkeit zu sein, denn „das Geschrei ist in seiner Intensität und in seiner Extension im Text nicht darstellbar. […] Der Schrei ist in jeder Hinsicht eine Grenze der Darstellung und wirkt nur durch seine Abwesenheit: in der Literatur und im Text dadurch, dass er sich nicht an- und aufschreiben lässt und zudem dazu bestimmt ist, dass er vergeht.“ 10 Der Schrei bedingt die weite Öffnung des Mundes und entstellt dabei Mund wie Gesicht. Durch ihn zeigt sich, dass das Gesicht nur eine Oberfläche ist, die aufgerissen werden muss, um dem Schrei Raum zu verschaffen. Auf die Schrift übertragen öffnet der Schrei den Abgrund, der hinter oder unter der Schrift liegt. Die Schrift ist das Sichtbare, der Schrei ist das, was an Abgrund zwischen den Zeilen und Buchstaben vorhanden ist: In ihm wird all das hörbar und sichtbar, was sie nicht ausdrücken kann oder lediglich ausdrücken kann, indem sie immer etwas anderes bezeichnet. Darüber hinaus verweist der Schrei auf all das, was unsichtbar werden muss, um etwas sichtbar werden zu lassen. So wenig der Schrei mit Lippen und Zunge gebildet wird, so sehr er aus der Tiefe des Rachens und des Körpers kommt, so sehr werden dabei der Rand, die Begrenzung, die Fassung des Munds deterritorialisiert, besser noch: der Mund wird desartikuliert. Der Mund wird zu einer asignifikanten Öffnung, zu einem Mehrzweckorgan, schließlich zu einer beliebigen Öffnung, zu einem beliebigen Körperloch, das noch die Modula‐ tionen und Manifestationen des Organischen hinter sich lässt. 11 Während der Mund Wörter formt und ihnen damit den Übergang vom Ge‐ danken in den Klang ermöglicht, bemächtigt sich der Schrei des Mundes. Er zerstört die Form und die Begrenzung des Mundes, weil sich in ihm etwas Platz schafft, was mehr ist als sprachlicher Ausdruck. Woher es kommt, ist nicht ganz klar: Ob aus dem Bauch, aus dem Brustraum oder dem Rachen - der Ursprung liegt irgendwo in der Tiefe des Somas. Wie an anderen Stellen in Thomas l’Obscur der Blick als absolutes Sehen eine Zersetzung des Subjektes bedeutet, so ist der Schrei das Absolute der Stimme. In ihm drückt sich etwas jenseits der Signifi‐ 8.1 Schreien 205 <?page no="208"?> 12 Vogl bezeichnet den Schrei als das „Unhörbare in der Stimme“ [Vogl 2010: 302]. Doch das würde ich noch präzisieren oder zumindest einen Zwischenschritt einfügen: Der Schrei ist übersteigerte Intensität der Stimme. Er zerreißt die Verbindung von Denken und Artikulation sowohl in dem Moment, der ihn auslöst, als auch durch seine Arti‐ kulation, die wiederum Auswirkungen auf das Hören (und Denken) hat. 13 Cf. Kapitel 3.4 meiner Untersuchung. 14 TO2: 57. 15 Humboldt definiert die Artikulation als etwas zweifach Gegliedertes, einerseits be‐ zeichnet sie das kontrollierte Aussprechen von unterscheidbaren Lautverbindungen und andererseits die Rückwirkungen dieser Ordnung auf das Denken, welches wie‐ derum dadurch gegliedert wird. Cf. Jürgen Trabant: Was ist Sprache? , München: Beck 2008, pp. 26-30. kanz aus, reiner Ton, möglicherweise ein reiner Affekt. 12 Das Monströse am Schrei scheint zu sein, dass er eine nicht eindeutig lokalisierbare mächtige Prä‐ senz einnimmt, sowohl was den Blick in den weit aufgerissenen Mund betrifft, als auch hinsichtlich des akustischen Reizes, den er auf das Gehör ausübt. Dabei kann der Schrei aus Leid wie auch aus Lust entspringen. In Thomas l’Obscur formt der Schrei eine notwendige Öffnung zwischen Offen‐ heit und Wunde. Das Problem der Diskursivierung des Nicht-Diskursivierbaren bildet Blanchot im Text als hinter der gesprochenen Rede liegenden Schrei ab. Hinter dem Schreiben liegt das Schreien, das im geschriebenen Text nur bedingt darstellbar ist. Annes direkte Rede zu Beginn des 8. Kapitels von TO 2 endet mit einer Umwendung der biblischen Szene des Apostels Thomas, der die Wund‐ male Jesu berühren will. 13 Die Worte „Dès que je vous touche, Thomas …“ ver‐ ursachen ein Erscheinen von Thomas in visueller wie auditiver Hinsicht, was Anne zutiefst zu erfüllen vermag und sie in einen Zustand des Rausches und des Vergessens versetzt. 14 Nicht überlesen werden darf jedoch die Art und Weise von Thomas’ Erscheinen, denn der Text markiert, dass das von ihm durch Anne Gesehene ein „Leuchten“ ist und keine physische Präsenz, genauso wie das von ihm Gehörte keine Lautketten einer symbolischen Ordnung formen, sondern ein der Kehle (und nicht dem Mund) entspringendes sanftes Geräusch oder Rauschen (bruit). Diese Sanftheit unterscheidet Thomas’ Ausdruck von Annes Schrei. Sprache als Unterbrechung des Schreis Der Schrei ist reiner Ausdruck, von dem sich die artikulierte Sprache im Sinne Humboldts unterscheidet. Jürgen Trabant verweist darauf, dass die Überle‐ gungen zum Ursprung der Sprache im 18. Jahrhundert (allem voran Condillacs „cri des passions“) vereint, dass sie den Ausgang der Sprache aus dem Schreien nehmen lassen. 15 Aber auch einige französische Philosophen des 20. Jahrhun‐ 8. Sich vom Aussagen befreien 206 <?page no="209"?> 16 Michel Foucault: „Theatrum philosophicum“, in: id.: Dits et écrits, Bd. 2, edd. Daniel Defert, François Ewald, Paris: Gallimard 1994, pp. 75-99, hier p. 86. Foucault spricht hier über die dominante Präsenz des Mundes in Gilles Deleuzes Logique du sens. 17 Gilles Deleuze, Félix Guattari: Capitalisme et schizophrénie - L’anti-œdipe, Bd. 1, Paris: Minuit 1973, p. 7. 18 Gilles Deleuze: Logique du sens, Paris: Minuit 1969, p. 217. derts - darunter Georges Bataille, Michel Foucault und Gilles Deleuze - entde‐ cken neben ihren psychoanalytischen Kollegen in der Mundöffnung zahlreiche Anschlussmöglichkeiten für ihre Theoreme. So verlegt Foucault den Beginn der Sprache in seiner Interpretation von Deleuzes Logique du sens in die Gliederung der Schreie: Bouche, orifice, canal où l’enfant entonne les simulacres, les membres morcelés, les corps sans organe; bouche où s’articulent les profondeurs et les surfaces. Bouche aussi d’où tombe la voix de l’autre, faisant voltiger au-dessus de l’enfant les hautes idoles et formant le surmoi. Bouche où les cris se découpent en phonèmes, en morphèmes, en sémantèmes; bouche où la profondeur d’un corps oral se sépare du sens incorporel. En cette bouche ouverte, en cette voix alimentaire, la genèse du langage, la formation du sens et l’éclair de la pensée font passer leurs séries divergentes. 16 Foucault betont aber auch die andere Seite des Mundes, d. h. die der Aufnahme von Welt über Nahrung oder Bilder. Der Mund ist eine „Saugmaschine“ bzw. „Quellmaschine“, wie Deleuze es im Anti-Ödipus formuliert, etwas zwischen „Mündung“ und „Kanal“ in Foucaults Lesart, sowohl Tiefe als auch Ober‐ fläche. 17 Was auch immer aufgenommen wird, ist zerstückelt und vorproduziert. Solange das Kind noch in der symbiotischen Phase vor dem Spiegelstadium ist, nimmt es die Welt als eine Art Einheit war (so zumindest die Überzeugung der Psychoanalyse - bei Deleuze wäre es die ideale Kopplung von mütterlicher Brust als Quellmaschine und kindlichem Mund als Saugmaschine). Mit dem Eintritt in das Spiegelstadium beginnt die sinnliche und sinnhafte Welt- und Selbster‐ fahrung in Form zerstückelter Töne, Geschmäcker und Formen. Dass dem Mund bei der Sprachentwicklung eine entscheidende Rolle zu‐ kommt, ist selbstredend nicht verwunderlich. Bei Deleuze ist das Ereignis, wel‐ ches sich auf einer Oberfläche ausdrückt, die Prämisse der Sprache. Die Entste‐ hung der Sprache ist in der Logik des Sinns eine Befreiung der Laute von den Körpern, genauer: eine Abhebung des undifferenzierten Schreiens hin zu etwas, was selbst die Macht hat, Welt zu bezeichnen: „Quand on dit que le son devient indépendant, on veut dire qu’il cesse d’être une qualité spécifique attenant aux corps, bruit ou cri, pour désigner maintenant des qualités, manifester des corps, signifier des sujets et prédicats.“ 18 8.1 Schreien 207 <?page no="210"?> 19 Cf. David Sylvester: Gespräche mit Francis Bacon, transtt. Helmut Schneider, Volker Ellerbeck, München / New York: Prestel 1997, p. 49. Hans Belting, dessen Buch Faces - Eine Geschichte des Gesichts ich diesen Hinweis entnommen habe, gibt einen fundierten Überblick über die Hintergründe und Einflüsse auf Bacons verwirrende Portraits. [Hans Belting: Faces - Eine Geschichte des Gesichts, München: Beck 2013, insbesondere pp. 183-193]. 20 „[…] ou bien je peins le cri, et je ne peins pas l’horreur visible, je peindrai de moins en moins l’horreur visible, puisque le cri est comme la capture ou la détection d’une force invisible.“ [Gilles Deleuze: Francis Bacon - La logique de la sensation, Paris: Seuil 2002, p. 60]. In TO 2 ist das Sprechen eine notwendige Überlagerung, jedoch keine Bän‐ digung des Schreis. Der Schrei bildet das Unartikulierte der Sprache, das für ihr Funktionieren ausgeblendet oder verdrängt werden muss. Damit Sprache sein kann, muss sie sich jedes Mal von der Körperlichkeit des Schreiens ablösen, um nicht in Antonin Artauds schizoide Tiefen zu fallen, sondern einen Oberflä‐ chentext zu kreieren. Schreien als Lärmen der Tiefe 1950, im Erscheinungsjahr der 2. Fassung von Thomas l’Obscur, stellt Francis Bacon in London eine Serie von sechs Portraitstudien aus, deren zum Schrei verzerrte (Papst)-Gesichter Ausdruck ihrer eigenen Entgrenzung innerhalb der Begrenzung von Raumlinien, die einen Glaskasten erahnen lassen, sind. In den folgenden Jahren bis 1965 kommen Dutzende weitere Portraits oder „Köpfe“ hinzu. Bacon fügt in einem Interview bezüglich dieser Studien die Bemerkung an, dass er die Absicht hatte, den Schrei ohne den Grund des Entsetzens zu malen, das ihn auslöst. 19 Die Reduktion auf den reinen Ausdruck des durch den schreienden Mund entstellten Gesichts, lässt die Ursache des Schmerzes oder des Grauens im Ungewissen. Der Effekt beim Betrachter ist umso stärker, da er die Leerstelle des entzogenen Auslösers imaginär füllen muss. 20 Der referenzlose Schrei löst die Oberfläche des Gesichtes auf, bringt die Struktur des Gesichts durcheinander, löst die Erkennbarkeit der Individualität in eine unaufhaltsame Veränderung auf, und bricht aus dem Gesicht hervor, sodass sich der reine Affekt hinter der Form offenbart, ohne seine Herkunft zu verraten. Der Schrei verweist auf ein unsichtbares Entsetzen, das irgendwo herkommt und sich ungesehen des Menschen bemächtigt. 8. Sich vom Aussagen befreien 208 <?page no="211"?> 21 Emmanuel Levinas: De l’existence à l’existant, Paris: Vrin 1963, p. 98. Francis Bacon: Studie nach Velázquez’ Portrait des Papstes Innozenz X. aus dem Jahr 1953 (Abb. 6) Emmanuel Levinas hat in einem seiner Versuche der Umschreibung des il y a, von dem vornehmlich im 1. Kapitel meiner Studie ausführlich die Rede war, dieses als Entsetzen bezeichnet. „Le frôlement de l’il y a, c’est l’horreur. Nous avons déjà marqué son insinuation dans la nuit, comme une menace in‐ déterminée de l’espace […].“ 21 Bacons gemalte Schreie scheinen einer ähnlich ungreifbaren, bedrohlichen Anwesenheit zu entspringen, wie Levinas sie im il y a und Blanchot mit der anderen Nacht in Worte fasst. Die Oberfläche des Gesichtes, welches von einer unsichtbaren Kraft von innen heraus zerstört wird, möchte ich zusammendenken mit einer hinter der Zeichenlogik liegenden Affektlogik, die Thomas l’Obscur durchzieht und immer wieder in die symbolische Ordnung der Oberfläche einbricht wie die andere Nacht in den Tag (oder auch in die Nacht). Dann mutiert der artikulierende Mund zum Schlund, aus dem die Affekte in ihrer Rohheit hervorbrechen und die Signifikantenketten in andere Kräfteverhältnisse rücken. Dies ist das Grauen der anderen Nacht, die nicht gesehen werden kann, deren Effekte (diskursi‐ vierter Schrei) aber sichtbar werden und das Grauen dahinter erahnen lassen, ohne es als solches zu zeigen. 8.1 Schreien 209 <?page no="212"?> 22 Gerhard Poppenberg drückt dies bezüglich des Abstiegs in den höhlenartigen Raum des 2. Kapitels ganz ähnlich aus: „Entscheidend für solche Figuren ist, daß sie zwar auf einer begrifflich-logischen Ebene sinnlos sind und unverstehbare Aussagen bilden, daß sie aber […] in grammatisch und semantisch korrekter Syntax und Lexik nach den Regeln der französischen Sprache gebildet und nichts weniger als Schrei oder glossolalisches Lallen“ sind. [Cf. Poppenberg 1998: 68]. 23 TO2: 61. Annes Schrei ist der Versuch, zu Thomas durchzubrechen und so in das Un‐ mögliche der anderen Nacht einzudringen. Während diverse Denker und Phi‐ losophen den Ursprung der Sprache im Schrei sehen und damit grundsätzlich ein unartikuliertes Emotionsgeschrei oder Schmerzgeschrei vom artikulierten Wort des sich entwickelnden und denkenden Menschen abgrenzen, geht Blan‐ chot den umgekehrten Weg. Er denkt von der Artikulation zum Schrei, denn er sucht das Jenseits oder Außen der Sprache, jedoch innerhalb und mit den Mitteln der Schrift, in stets grammatikalisch korrekten Sätzen. 22 Der Schrei in Thomas l’Obscur ist folglich keiner, der jemals aufhören würde. Er ist das vom Sprechen verdrängte unsinnige Rauschen der Sprache, auf das ich unter dem Begriff des Außen sowie des Abjekten zurückkommen werde. Ontogenetisch markiert das Spiegelstadium den Eintritt in die symbolische Ordnung und, damit verknüpft, die Autonomisierung der Sprache vom Schrei. Der umgekehrte Weg führt Anne auf der Suche nach Thomas auf eine Aus‐ drucksebene zurück, die im Text mehrfach mit einem kindlichen Sprechen pa‐ rallelisiert wird. Ich zitierte nun eine längere Textpassage des 8. Kapitels, um dies zu verdeutlichen: Elle ne pouvait parler, et pourtant elle parlait. Sa langue vibrait de telle manière qu’elle avait l’air d’exprimer sans mot le sens des mots. Puis, brusquement, elle se laissa entraîner par un flux de paroles qu’elle prononçait à voix presque basse, avec des inflexions variées, comme si elle ne cherchait qu’à se divertir avec des bruits et des éclats de syllabes. On eût dit qu’en parlant un langage dont le caractère enfantin ne permettait pas qu’on le tînt pour un langage, elle donnait aux mots insignifiants l’aspect de mots incompréhensibles. […] Elle s’éloignait indéfiniment de son babillage pour entrer dans un autre encore moins grave qu’elle rejetait pourtant comme trop grave, se préparant, par une retraite sans fin au-delà de tout sérieux, le repos dans la puérilité absolue, jusqu’à ce que son vocabulaire, à force de nullité, prît l’apparence d’un sommeil qui était la voix même du sérieux. Alors, comme si au sein de cette profondeur elle se fût soudainement sentie surveillée par l’attention d’une conscience implacable, elle sursautait, poussait un cri, ouvrait des yeux d’une terrible clairvoyance et, suspendant un instant son récit. 23 8. Sich vom Aussagen befreien 210 <?page no="213"?> 24 Der „flux de paroles“ stellt eine Verbindung mit dem „flot d’images“ des 12. Kapitels her. Individuelles wird mit Überindividuellem verknüpft. Annes Sprechen ist ein Sprechen, das nichts mit dem allgemeinen Verständnis des Sprechens gemeinsam hat. Dazu erschreibt Blanchot den Raum dieses an‐ deren Sprechens in unterschiedlichen Schichtungen. Es beginnt mit einem reinen Vibrieren der Zunge, welches ein direktes Sprechen erzeugt, jedoch ohne dabei in die Problematik von Signifikat und Signifikant einzutreten, daran schließt sich das automatische Sprechen ohne Subjektkontrolle an 24 , gefolgt vom Sprechen in verschiedenen Tonlagen als Klangrausch, der ebenfalls von jeder festgeschriebenen Bedeutung befreit ist. Sodann das kindlich-naive einfache Sprechen und schließlich das Schweigen als tönende Leere, in der es immer noch weitere Grade des Nicht-Sprechens gibt, die nicht mehr als solche ausformuliert werden. Das Sprechen wird zum Brabbeln und Stammeln, das, in Analogie zu den langsam verstummenden Gedanken des Bewusstseinsstroms beim Ein‐ schlafen, jede Ernsthaftigkeit verweigernd ins Kindsein sinkt. In der Termino‐ logie Julia Kristevas dürfte man dies als vorsymbolisches Fließen und Strömen des Semiotischen lesen, das Blanchot in all seinen Facetten als Gegenentwurf zum Symbolischen skizziert. Nach Kristeva stellt das Sterben einen Rückgang ins Semiotische dar. Erneut sei aber betont, dass Blanchot dies ohne Sprengung der grammatikalischen oder syntaktischen Regeln der französischen Sprache vollzieht und nicht in Anakoluthen wie ein Artaud oder aber beispielsweise auch Samuel Beckett schreibt, die dieses sich durchsetzende Semiotische auf der Ebene der Signifikanten performativ werden lassen. Blanchots in Thomas l’Obscur versuchte Performanzästhetik ist eine, die den Tod durch eine Über‐ führung des Denkens in ästhetisches Denken erfahrbar macht. Die Erzähl‐ instanz bleibt als Medium der Erfahrung und als reflexiver Fokus durch alle Bewegungen des Textes hindurch wie ein gleichmütig berichtendes Bewusstsein bestehen. So wird auch der semiotische Zustand jäh durch das Aufkeimen der unab‐ lässig wachenden „conscience implacable“ gespalten, welche abermals einen Schrei hervorbrechen lässt. Der Schrei, der hier benannt ist, ist allerdings nur der sprachlich artikulierbare Teil, eine Schreispitze, wenn man so will. Bezug nehmend auf das nicht dargestellte Entsetzen auf Bacons Portraits des Schreis, lässt uns der eben zitierte Textausschnitt durchaus an den inneren Prozessen Annes teilhaben und somit die Vorgeschichte des Schreis erkennen. Doch dies ist rational bloß bedingt hilfreich, wenn nicht sogar irreführend, da gerade ein Sprechen jenseits des Sprechens gesucht wird. Dies bedeutet unter anderem, dass der Leser nicht im Sinne einer psychologischen Tiefenerforschung Gründe 8.1 Schreien 211 <?page no="214"?> 25 Derrida 1986: 268. Zu La folie du jour sowie zum Verhältnis von Erzählen und Erzählung siehe Punkt 0.1. des Schreis präsentiert bekommt. Vielmehr obliegt es ihm, den Schrei als Kor‐ relat zum tiefsten Punkt der Stille zu begreifen, aus der Anne gezwungen ist wiederaufzutauchen: Der Zeitpunkt des Sterbens ist noch nicht da. 8.2 Récit - Erzählen, ohne etwas zu sagen Annes Bestrebungen des Kontaktes zu Thomas lassen sich unter dem Begriff des récit bündeln. Mehrfach fällt im 8. Kapitel der Term récit, so auch am Ende der Textstelle über das andere Sprechen, welche zuletzt zitiert wurde. Jacques Derrida bezieht die ähnlich stark vorkommende Häufung des Wortes récit in Blanchots La folie du jour auf einen „certain type ou mode de discours“, womit er auch verdeutlicht, dass er damit nicht auf die Bezeichnung der Gattung récit abzielt. 25 Die Unerreichbarkeit der Aussageebene Annes spiegelt ein Sprechen, dessen Verortbarkeit ebenso wie sein Adressat kaum möglich ist. Blanchot formuliert mit Annes récit ein Sprechen jenseits des Aussagens. Im Kontext seiner späteren theoretischen Schriften lässt sich dies als Basis der Entwicklung einer eigenen Gattungspoetik lesen. An den Stellen, wo das 8. Kapitel von TO 2 durch direkte Rede Einschübe erfährt, ist dies stets als Unterbrechung des récit gekenn‐ zeichnet. Die in Anführungsstriche gesetzten Sätze werden aus dem récit aus‐ geschlossen, sofern sie eine andere ontologische Ebene betreffen, da sie als di‐ rekte Reden Gefahr laufen, etwas allzu Geformtes und Festgelegtes zu sein. Als markierte Rede sind sie zu leicht mit der Eindeutigkeit eines Gesagten verwech‐ selbar. Bezeichnenderweise enden alle Sprechversuche der direkten Rede mit offenen Sätzen und drei Auslassungspunkten, sodass diese Reden den Anschein haben, als würden sie vom récit umspült oder weggespült. Warum aber proble‐ matisiert der Text die Form des direkten Redens derart? Das Problem des Sprechens in Worten ist der Ausschluss von allem, was nicht gesagt wird. Man könnte dies auch als die Kehrseite des Symbolischen be‐ zeichnen, das das Asignifikante, Sprachlose oder Vorsprachliche abtrennen muss, um sich zu realisieren. Auf die Zeit bezogen wäre es als das Problem der Gegenwart zu bezeichnen, die augenblicklich Vergangenheit und Zukunft aus‐ schließt. „[E]lle sentait, avec une angoisse qui semblait menacer sa vie, que bien qu’elle ne dût rien dire de vrai de quelque manière qu’elle parlât, elle s’exposait, en ne retenant qu’une version parmi d’autres, à rejeter des germes de vérité 8. Sich vom Aussagen befreien 212 <?page no="215"?> 26 TO2: 60. 27 TO2: 63-64. qu’elle sacrifierait.“ 26 Es ist das Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem, um mit Merleau-Pontys Begriffen zu operieren. Damit etwas sichtbar werden kann, muss anderes unsichtbar werden, um so den oftmals vollständig ausge‐ blendeten Hintergrund des an der Oberfläche Erscheinenden zu bilden. Die Sphäre, in der Anne sich in ihrem Sterbeprozess befindet, nähert sie stetig diesem verborgenen unsichtbaren Grund des Sichtbaren an, der das Leben fun‐ diert und beendet. Diesem Bereich entspringt der Versuch ihrer Erzählung. Anne weiß um die Unumgänglichkeit der Ankunft des Todes, angesichts dessen all ihre Versuche, die Zeit anzuhalten, zum Scheitern verurteilt sind. [E]lle savait qu’elle se rapprochait à chaque pas de l’instant où il lui faudrait non seulement s’arrêter, mais supprimer son chemin […]. Et il ne lui était pas possible d’abandonner son projet. Car comment aurait-elle pu se taire, elle dont le langage était de plusieurs degrés au-dessous du silence? […] Aussi ne voyait-elle plus qu’elle se rapprochait insensiblement de Thomas. Elle le suivait, pas à pas […]. 27 Das Projekt, von dem hier die Rede ist, nennt sich récit - die Erzählung des Sterbens, eine Erzählung oder ein Bericht, der zu Ende gebracht werden muss, da das Ende sein Ziel ist. Jedoch verhindern die gegensätzlichen Kräfte dieses Ende und machen den récit unabschließbar. Die Erzählung des Todes muss ihren Abschluss durch den Tod erfahren. Blanchot vollzieht eine genetische Koppe‐ lung von Sterben und Erzählen, wobei das Erzählen ein Erzählen des Erzählens ist, d. h. eine zunehmende Verdrängung der histoire durch den discours. Denn die histoire als erzählter Inhalt lenkt vom discours ab, sofern der Tod nur durch das Sprechen des Sprechens eintreten kann. Annes récit wird konsequenter‐ weise von einer anderen Instanz aus erzählt, da ein Ich-Erzähler aufgrund all der aufgeführten Versuche des Anders-Sprechens oder Anders-Erzählens keinen Bestand haben könnte bzw. die falschen Bezüge (z. B. Referenz auf ein Subjekt) mit sich brächte. Der Term récit referiert zudem auf ein metaliterarisches Erzählen, das zum einen die Möglichkeit des Erzählens überhaupt und zum anderen die Verknap‐ pung oder Verdichtung der 1. Version von Thomas l’Obscur (Roman) auf die 2. Version von Thomas l’Obscur (Erzählung) hervorhebt. Diese Verknappung ist gerade in den mittleren Kapiteln von TO 1 eine signifikante, denn in TO 2 wird Thomas durch Löschung praktisch aller noch in TO 1 vorhandenen Schilderungen seiner Persönlichkeit und seiner Vergangenheit buchstäblich zum dunklen Thomas. Das 8. Kapitel von TO 2 enthält Teile des 9. Kapitels von 8.2 Récit - Erzählen, ohne etwas zu sagen 213 <?page no="216"?> 28 „Die Vergangenheit als erzählte Zeit ist in B [= TO2, Anm. d. Verfasserin] fast voll‐ ständig verschwunden. Nicht einmal eine angedeutete Biographie oder ein vorge‐ täuschter Charakter entwickeln sich hier. Die Geschichte der Protagonisten geht nicht über das hinaus, was jeweils als das augenblickliche Geschehen und Verhalten erzählt wird.“ [Stillers 1979: 95]. TO 1, spart jedoch gänzlich die Erzählung von Thomas’ Kindheit aus. In diesem wie z. B. auch im 5. und 7. Kapitel von TO 2 werden Dialoge zwischen Anne und Thomas aus TO 1 ebenfalls gestrichen. Stattdessen rückt Annes récit als schei‐ ternder Versuch des Begreifens von Thomas in den Vordergrund. Thomas’ Ge‐ schichte wird nicht mehr erzählt, sondern nurmehr in ihrem Entzug diskursi‐ viert und dies, so wäre mein Interpretationsvorschlag, ist Zeugnis einer in TO 2 intensivierten Überblendung der Figur Thomas’ mit dem Tod. 28 (Ebenso wie in dieser 2. Fassung des Textes biographische Bezüge und generell Möglichkeiten, Subjekte zu fixieren, dem Leser entzogen werden, blende ich in meinem Text‐ zugang biographische Details und Hintergründe zu Maurice Blanchot weitest‐ gehend aus. Eine Ausnahme bildet hierbei jedoch Blanchots Erlebnis, 1944 fast erschossen worden zu sein, was viele Jahre später zur 1994 erschienenen Er‐ zählung L’instant de ma mort geführt hat. Trotz aller Vorbehalte gegenüber bio‐ graphistischen Lektüren sei bezüglich der Verdunklung und Desubjektivierung von Thomas, die seine Herkunft eher vom Tod denn vom Leben her denken lässt, auf die Ereignisse des 2. Weltkrieges und synekdochisch dafür auf die Erschie‐ ßungsszene in Blanchots Leben verwiesen.) Das Erzählen erweist sich als Erzählen des Unerzählbaren: Bewusstseinspro‐ zesse eines sterbenden Subjekts, die dieses ununterscheidbar von innen wie außen auflösen bzw. in den Abgrund stürzen. Die Erzählung als sinnhaftes, chronologisches Geschehen wird zum Scheitern gebracht und in diesem Schei‐ tern als mise en abyme des récit festgehalten. Der Versuch ihrer Erzählung lässt Anne in diese bodenlose Tiefe des Denkens fallen, worauf der nächste Punkt eingehen wird. 8.3 Jenseits von Pascal: Die Sogmaschine des Denkens Der nun folgende Textteil des 8. Kapitels wird dominiert vom Element des Was‐ sers, das bereits im 1. Kapitel eine wichtige Rolle der Grenzerfahrung Thomas’ spielte und seinen Höhepunkt im letzten der 12 Kapitel erreichen wird. Das 8. Sich vom Aussagen befreien 214 <?page no="217"?> 29 Zum philosophischen Problem der Tiefe sowie zur Entwicklung des Begriffes in seiner Verbindung mit dem Grübeln siehe Meyer-Sickendiek 2010. 30 TO2: 64-65. 31 Zur Begegnung Thomas’ in Form einer eigenen Zeitlichkeit siehe auch das 6. Kapitel meiner Studie. 32 TO2: 66. Wasser bildet neben dem bereits explizierten Schrei eine von mehreren Formen der Tiefe, die im Weiteren verhandelt werden. 29 [E]lle glissa dans un eau pure où, d’instant en instant, franchissant des ruissellements éternels, elle semblait passer de la vie à la mort et, chose pire, de la mort à la vie, dans un rêve tourmenté déjà absorbé par un rêve paisible. […]. Elle descendit d’abord au fond d’une journée tout à fait étrangère aux journées humaines et, entrant pleine de sérieux dans l’intimité des choses pures, puis s’élevant vers le temps souverain, noyée parmi les astres et les sphères, loin de connaître la paix des cieux, elle se mit à trembler et à peiner. Ce fut durant cette nuit et cette éternité qu’elle se prépara à devenir le temps des hommes. 30 In zahlreichen Metamorphosen durchwandert Anne die Zeit, oszilliert zwischen Leben und Tod und steigt in den anderen Tag hinab, der sich schließlich als Nacht und Ewigkeit entpuppt. Diese Bewegung ist zwar durchsetzt von Hinweisen auf eine Annäherung an eine Innerlichkeit oder Tiefe, setzt diesen Dimensionen jedoch ihre Gegenkräfte entgegen, indem sich die Bewegungen reziprok über‐ schreiben, ohne sich dabei auf einen Endpunkt hin zu steigern. Sie bilden eine Tiefe, die sich nicht nach unten gräbt, sondern auf eine Oberfläche hin aus‐ breitet, die der Grund für Annes Transformation in reine Zeit wird. Erst als Zeit kann sie Thomas begegnen, dieses Mal ohne Worte, denn keine Sprache genügte, um ihn zu erreichen. Sie setzt ihm ihre Zeit entgegen, d. h. ihre Existenz als Endlichkeit und Form der Zeit. Als Zeit nimmt Thomas Anne in sich auf. Sie gelangt so in eine zweite Tiefe, die sich als Meeresmetaphorik ausgestaltet. 31 Das vorher klare Wasser, in das Anne geglitten war, ist nun einzig noch als Abwe‐ senheit vorhanden, ebenso wie die Städte nur mehr Totenstädte sind. Das Vor‐ dringen in Thomas’ Existenz ist ein Eingehen in die Abwesenheit. Seine Uner‐ reichbarkeit zeigt sich als immer schon Vergangenes und Uneinholbares: Rivages déserts où se désagrégeaient lentement, abandonnées après un naufrage grandiose par la mer à jamais retirée, des absences de plus en plus profondes. Elle passa par d’étranges cités mortes où, au lieu de formes pétrifiées, de circonstances momifiées, elle rencontra une nécropole de mouvements, de silences, de vides. 32 8.3 Jenseits von Pascal: Die Sogmaschine des Denkens 215 <?page no="218"?> 33 TO2: 67. 34 TO2: 68. 35 TO2: 68. 36 Zum Einfluss Pascals auf Blanchot, im Besonderen bzgl. seines Konzepts des fragmen‐ tarischen Schreibens, siehe: François Brémondy: „Pascal fut-il un penseur dialectique? “, in: Éric Hoppenot, Alain Milon edd.: Blanchot et la philosophie, Paris: Presses Univer‐ sitaires de Paris Ouest 2012, pp. 62-86. Doch der sich Anne stetig entziehende Thomas entpuppt sich als Stellvertreter für niemand anderen als Anne selbst. Ihre Suche entblößt sich als eine nach der „absence d’Anne, du néant le plus absolu d’Anne“. 33 Hinter Thomas steckt Anne. Diese Erkenntnis, wenn man sie so nennen darf, bewirkt textuell eine Art Stru‐ delbewegung, die als solche immer noch in die Semantik des Wassers passt. Ein zentraler Ausdruck dieses Wirbelns ist eine iterierte Verdopplungsbewegung, die sich in solcher Häufung zeigt, dass es Grund zur Annahme gibt, sie als Über‐ drehung des logischen Denkens zu betrachten. Annes Denken wird als „miroir qui se mire“ bezeichnet, der von allem befreit werden muss, was seine Klarheit verhindert oder erschwert - eingeschlossen das Auge, das schielt, was ich als eine Form des falschen Sehens interpretieren würde, nämlich als allzu punkt‐ orientiertes und nicht umfassendes Sehen. Durch dieses schielende Auge kommt es zur Selbstverdopplung: „l’œil de l’œil, la pensée de la pensée.“ 34 Der Weg Annes erfordert, dass sie alles loslässt, auch das Denken, welches sie antreibt. Was ihr bleibt, ist der Name Anne, der, wie es im Text heißt, ihr einziger Anker ist, um nach dem Prozess des Tauchens wieder an die Oberfläche zu gelangen. Annes Name bezieht seine Kraft als eine nicht mehr weiter trennbare Klang‐ einheit aus einem ganz eigenen Klangraum, welcher sich der Negationsbewe‐ gung, der alles andere unterworfen ist, entzieht. Pascal und der Abstieg in die Hölle des Denkens - Außen Anne steigt im letzten Teil des 8. Kapitels von TO 2 in höllenartigen Kreisen hinunter in das Außen aller Begriffe, in eine Dimension, in der das Denken sich selbst als größten Gegner begreifen und zerstören muss. Es wird in einem Durchgang durch Möglichkeiten der Befreiung von allem Existenten, d. h. kon‐ kret über Mehrfachnegationen, der Begriff des Nichts nach Blaise Pascal als ein „néant si tiède et si facile“ anzitiert. 35 Dabei stellt Pascal den einzig namentlich erwähnten Denker dar, der im Laufe des Durchspielens verschiedener Nichts-Konzepte genannt wird. Worauf Blanchot wohl anspielt, indem er Pascals Begriff des Nichts als Vor‐ stufe zu radikaleren Formen der Leere anbringt, ist dessen Vorstellung zweier Formen der Unendlichkeit. 36 Im Bereich der Mathematik ist es die Möglichkeit, 8. Sich vom Aussagen befreien 216 <?page no="219"?> 37 Blaise Pascal: Pensées, Paris: Lefèvre 1836, hier p. 92. 38 TO2: 68. 39 TO2: 69. 40 Stillers 1990: 53-75. zu jeder Zahl stets eine hinzuzählen oder abziehen zu können, ohne dabei die Unendlichkeit zu erreichen oder zu verändern. In den Pensées lässt Pascal den Menschen in seiner Relationalität zum Unendlichen, zur Natur und zum Nichts um diese Begriffe kreisen: Car enfin qu’est-ce que l’homme dans la nature? Un néant à l’égard de l’infini, un tout à l’égard du néant, un milieu entre rien et tout. Infiniment éloigné de comprendre les extrêmes, la fin des choses et leur principe sont pour lui invinciblement cachés dans un secret impénétrable, également incapable de voir le néant d’où il est tiré, et l’infini où il est englouti. 37 Der Mensch ist von All und Nichts umspannt, doch beides ihn Umgebende kann er denkerisch nicht begreifen. Er hat zwar ein Wissen über seine Unzulänglich‐ keit, dennoch kann ihn nach Pascal nicht seine Vernunft, sondern einzig der Herzensglaube aus der Aporie retten. Dieses noch relativ leicht denkbare Nichts scheint in Annes Erfahrung nichts zu sein verglichen mit „les absences de diamant, l’absence de silence, l’absence de mort […]“ und den anderen Verneinungen, die Anne stetig weiter in die Sog‐ maschine des Außen ziehen. 38 Ich habe an anderer Stelle bereits die Bewegung des Kreisens und Wirbelns angeführt, welche nun im Text als „cercles majeurs, analogues à ceux de l’Enfer“ passiert werden. 39 Die wirkmächtigste Darstellung dieser Kreise der Hölle, auf denen sich je nach Vergehen höher oder tiefer ver‐ ortet die Sünder aufhalten, findet sich in Dante Alighieris Divina Commedia. Rainer Stillers hat in einem sehr detaillierten Aufsatz die Bezüge Blanchots auf die Divina Commedia nachgewiesen. 40 Da die Hauptkreise in TO 2 aber nur in Analogie zu den Höllenkreisen gesetzt werden und Anne sich nicht in einer bevölkerten Hölle befindet, verzichte ich darauf, im Rahmen meiner Lektüre tiefergehend auf das danteske Bildarsenal einzugehen. Sehr wohl wichtig bezüglich der Frage der Tiefe erscheint mir je‐ doch die Referenz auf die Hauptkreise, insofern als die Hölle bei Dante wie eine riesige, trichterförmige unterirdische Verengung gedacht wird, in der mit zu‐ nehmender Tiefe die neun Höllenkreise enger werden. Parallel zur Vertiefung nimmt die Schuld der jeweils angesiedelten Sünder bis zu den Hauptkreisen der unteren Hölle zu, welche kurz vor dem Höllenschlund am Erdmittelpunkt liegen, wo sich Luzifer in maximaler Distanz zu Gott befindet und alles um ihn 8.3 Jenseits von Pascal: Die Sogmaschine des Denkens 217 <?page no="220"?> 41 Cf. Dante Alighieri: La divina commedia, ed. Natalino Sapegno, Mailand: Ricciardi 1957, insbesondere Canto XXXIII und XXXIV, pp. 372-391. 42 Michel Foucault 1966: 518-539. herum mit eisigen Winden in Kälte hüllt. 41 Die Tiefe ist folglich negativ seman‐ tisiert: Je tiefer der Sünder angesiedelt ist, umso schlimmer war sein Verbrechen und umso größer ist die Distanz zwischen ihm und der göttlichen Himmels‐ sphäre. Sandro Botticelli: Zeichnung zu Dante Alighieris Höllenvorstellung in der Divina Com‐ media (Silberstift, Tinte, Tempera auf Pergament), entstanden zwischen 1480 und 1490 (Abb. 7) Wenn Anne im 8. Kapitel von TO 2 nun in die Hauptkreise der Hölle hineinfällt, dann wird durch die Analogie zur Höllenstruktur eine negative Tiefe evoziert - eine sich verengende und verdunkelnde Tiefe, die von Figuren der Innerlichkeit abzugrenzen ist und für einen Selbst- und Weltverlust steht, der mit der Tiefe in ein unfassbares Außer-sich-Sein führt. Tiefe als Außen In seinem Aufsatz „La pensée du dehors“ 42 aus dem Jahre 1966 denkt Michel Foucault über das Außen der Sprache mittels einer Lektüre verschiedener Texte Maurice Blanchots nach. Er konstatiert dabei ein selbstimplikatives Sprechen 8. Sich vom Aussagen befreien 218 <?page no="221"?> 43 Die Selbstimplikation der Sprache ist nach Foucault von der Selbstreferentialität zu unterscheiden. Während selbstreferentielles Sprechen immer Zeichen des Bezuges (der Äquivalenz oder der Repräsentation) voraussetzt, löscht die Selbstimplikation die Ver‐ weisungsfunktion aus. Die Äußerung sagt nichts anderes aus, als dass es die Äußerung gibt. Sie verweist auf nichts und hat damit ein nicht-signifikatives Sein, welches von Foucault betont wird. Die Sprache basiert demnach auf einer (Sinn-)Leere, die zwar als solche nicht direkt ausgedrückt werden kann, aber mit ihrem unendlichen Gemurmel oder Rauschen den Diskurs wie auch das dialektische Denken als Störgeräusch unter‐ miniert. Zur Selbstimplikation siehe auch Punkt A.3 meiner Studie. 44 Der innerliche Verdopplungscharakter und die Selbstbespiegelung sind nach Foucault die beiden entscheidenden Figurationen, anhand derer sich das Sein der Sprache im literarischen Werk ausdrückt. 45 Gilles Deleuze: Foucault, Paris: Minuit 1986, pp. 92-93. moderner literarischer Texte 43 , indem er die Möglichkeit zur Überwindung der herkömmlichen philosophischen Reflexion und Sprache sieht, die doch stets auf eine Innerlichkeit, d. h. Subjektivität zurückgeht. 44 Als Befreiung aus der Um‐ klammerung des Denkens durch die abendländische Subjektphilosophie sieht Foucault ein Denken an, das sich inhaltlich wie sprachlich jenseits aller Sub‐ jektivität halten solle, um so deren Grenzen von außen sichtbar zu machen und ihre Nicht-Einheit als Dissemination zu veranschaulichen. Dieses Denken - das Denken der modernen Literatur - ist als ein, sich in einer sich selbst überschrei‐ tenden und hinterfragenden Sprache artikulierendes, Denken (auf) der Grenze zu betrachten, als ein „Denken des Außen“. Das Außen wird nach Foucault in Momenten radikaler Negation und Absenz von hierarchisierten Sinnstrukturen, d. h. oftmals in Situationen des Zusammenbruchs des Denkens, erfahrbar. Vo‐ raussetzung ist eine Haltung der Unaufmerksamkeit und Nachlässigkeit (négligence), die, so möchte ich antizipieren, ein mögliches Merkmal des Um‐ schlags der première in die ‚autre‘nuit ist. Foucaults Begriff des Außen (dehors) lässt sich über Deleuzes Fou‐ cault-Lektüre als von der „Äußerlichkeit“ (extériorité) unterschieden verstehen. Die Äußerlichkeit bildet Formen aus und ist „Sprache, Sprechen und Sehen“ zugeordnet, wohingegen das Außen formlos und mit dem Denken verbunden ist. Deleuze spezifiziert das Verhältnis des Außen und des Denkens wie folgt: „Penser ne dépend pas d’une belle intériorité qui réunirait le visible et l’énonçable, mais se fait sous l’intrusion d’un dehors qui creuse l’intervalle, et force, démembre l’intérieur.“ 45 Denken bedeutet zu erkennen, dass es keinen Ursprung des Denkens gibt, da der Herkunftsort des Denkens, wie eben zitiert, die Kräfte eines unbegrenzten Außen sind, die nicht den Regeln einer Inner‐ lichkeit gehorchen, sondern es attackieren. Die Ordnung des Außen besteht folglich in einer unendlichen Affizierungsstruktur von Kräften in Form von sich ständig neu bildenden Beziehungen, was Verschiebungen und Spannungen der 8.3 Jenseits von Pascal: Die Sogmaschine des Denkens 219 <?page no="222"?> 46 Zur Affizierung bei Deleuze siehe Ott 2010: insbesondere 13-103. 47 Levinas 1963: 94-95. 48 TO2: 69. bestehenden Kräfteverhältnisse erzeugt, die wiederum neue Beziehungen kre‐ ieren und so fort. 46 Nachdem Bataille zu Beginn des Kapitels 8.1 über den Schrei zitiert wurde, um den unterschiedlichen Schriftzugang zum il y a als philosophisches Beschreiben desselben bei Levinas und als Schrei(b)en des il y a bei Blanchot zu betonen, soll nun noch einmal mittels eines Zitats aus Levinas’ De l’existence à l’existant darauf zurückgekommen werden, in dem Levinas zur Annäherung an das il y a den Begriff des Außen heranzieht: Mais ce rien n’est pas celui d’un pur néant. Il n’y a plus ceci, ni cela; il n’y a pas ‚quelque chose‘. Mais cette universelle absence est, à son tour, une présence, une présence absolument inévitable. […] Rien ne nous répond, mais ce silence, la voix de ce silence est entendue et effraie comme „le silence de ces espaces infinis“ dont parle Pascal. […] L’esprit ne se trouve pas en face d’un extérieur appréhendé. L’extérieur […] demeure sans corrélation avec un intérieur. 47 Auch Levinas führt Pascal an, um die hörbare, ja lärmende Stille zu beschreiben, die sich vom reinen Nichts unterscheidet und auf das Außen verweist. Die er‐ wähnte „universelle absence“, welche das Denken unweigerlich dem Außen aussetzt, erfährt Anne in TO 2 - und mit ihr auch der Leser. Ich würde zwar nicht wie Bataille behaupten, dass Blanchot die Abwesenheit schreit, aber er lässt sie sich sprachlich in einer Weise vollziehen, die das logische Denken durch ein semiotisches Hintergrundlärmen herausfordert. Im Bereich der inneren Höllenkreise des Denkens, wo alles Repräsentierbare hinter sich gelassen wurde, wird das Denken des Außen folglich nicht nur be‐ schrieben, sondern durch eine fast qualvolle Schachtelung von Abwesenheiten bis zum Punkt der Undenkbarkeit, der eine gewisse Nähe zum Absurden auf‐ weist, sprachlich inszeniert als Hinzufügung von „l’absence à l’absence et à l’absence de l’absence et à l’absence de l’absence de l’absence […].“ 48 Blanchot treibt das logische Denken in den Suizid, indem er der Absenz immer noch eine weitere hinzufügt, die die vorherige logisch einschließt. Durch die zum Poly‐ syndeton gereihte Konjugation „et“ muss der Verstand die Kette unendlich wei‐ terführen, was denkerisch nur bedingt möglich ist. Das wäre einerseits Pascals mathematische Möglichkeit der Addition, die aber gleichzeitig durch den Re‐ gress der Schachtelung vertieft wird und mathematisch möglicherweise dem Unterschied zwischen Ordinal- und Kardinalzahlen entspricht, die auf diese 8. Sich vom Aussagen befreien 220 <?page no="223"?> 49 TO2: 69. 50 TO2: 69. In den Namen Anne ist die Bewegung der Wiederkehr bereits durch die grie‐ chische Vorsilbe aná (zu Deutsch: wieder, [hin]auf) eingeschrieben. 51 TO2: 69-70. Weise quasi überkreuzt werden. Zur Fortsetzung dieser geschachtelten Kette der Absenzen bräuchte es die Abstraktion der Mathematik, die als Lösung jedoch nicht angeführt wird. Stattdessen wird die Operation als „machine aspirante“ bezeichnet, deren Resultat eine verzweifelt produzierte Leere ist. 49 Diese Sog‐ maschine gleicht einem riesigen Mund, einer Saugmaschine um Deleuzes Vo‐ kabular wiederaufzugreifen, derer Anne sich nicht erwehren kann. Hinter dem sich nochmals negierenden Nichts gelangt Anne im Tiefensturz „au plus profond de sa pensée“ an den Nullpunkt des Denkens. Der tiefste Punkt der Hölle ist der tiefste Punkt des Denkens als Moment des bodenlosen Erken‐ nens einer unendlichen Reihe von weiteren, reineren Formen des Nichts. In diesem Moment gibt es keinen Halt, denn Blanchot denkt ihn nicht als Ursprung, sondern als einen Punkt des Werdens. Der tiefste Punkt des Denkens ist anfangs- und endlos. An ihm kann Anne nicht verweilen. Stattdessen findet sie dort, in einer Art Wiederauferstehung, zu gewissen Merkmalen ihrer selbst, die letztlich sehr oberflächliche Beschreibungen sind: dass sie blond ist, dass sie (noch) lebt und dass sie intelligent ist. 50 Die Intelligenz ist ihr Verhängnis (oder ihr Ausweg aus der Tiefe), denn aus ihr wachsen Bilder einer neuen Anne, die sie in einer Art Superkörper als „matière la plus inaltérable“ neu erschaffen und sie aus der Tiefe als „roche supérieure“ in die Senkrechte ragen lassen. Wenn es im Text heißt, sie sei eine „terre friable, sans azote, celle dont on n’aurait même pu faire Adam“, dann ist es der Lehm als stickstofffreie Erde, in den sie sich verwandelt bzw. aus dem sie neu entsteht. 51 Dies erweist sich nun offensichtlich als Wider‐ spruch zur Genesis, in der Adam von Gott aus Lehm geformt wird aus dessen Rippe in einem zweiten Schritt Eva entsteht. Anne nähert sich Adam nicht nur lautlich an, sondern setzt sich durch ihren mit dem Buchstaben ‚A‘ beginnenden Eigennamen an den Anfang. Annes Ma‐ terialität erweist sich als eine, die der Adams sogar vorausgeht. Sie wird etwas, was es eigentlich gar nicht geben kann. Aufgrund der Tatsache, dass im nächsten Satz von der lang ersehnten Rache Annes die Rede ist, sei es erlaubt, den Blick etwas vom biblischen Kanon abschweifen zu lassen und an die apokryphe Figur Lilith zu denken, um die sich zahllose Mythen ranken. Manche sehen in ihr eine Adam gleichgestellte Frau, die im Zuge der Durchsetzung patriarchaler Struk‐ 8.3 Jenseits von Pascal: Die Sogmaschine des Denkens 221 <?page no="224"?> 52 Als Beweis wird in der Regel das 1. Buch Mose, Kap. 1, 27 herbeigezogen, welches in der Lutherfassung lautet: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.“ Zur Geschichte Liliths finden sich insbesondere in der feministischen Literatur zahlreiche Belege, darunter: Vera Zingsem: Lilith - Adams erste Frau, Tübingen: Klöpfer & Meyer 2003. Lilith kommt in der Bibel nur einmal unter dem Namen „Nachtgespenst“ vor ( Jesaja 34, 14). Vor allem aber in den mesopotamischen Überlieferungen und in der rabbinischen Literatur spielt sie eine zentrale Rolle als Dämonin der Nacht. 53 Das Konzept des adamitischen Sprechens stammt aus: Walter Benjamin: „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, in: id.: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, ed. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, pp. 140-157. Die adamitische Sprache ist die hypothetische Ideal-Ursprache des Paradieses, die bis zum Turmbau zu Babel von allen Menschen gesprochen wurde. In ihr gibt es noch keine Arbitrarität zwischen Zei‐ chen und Bezeichnetem, sondern ein identitäres Verhältnis von Wort und Ding. 54 Zum Abjekten siehe: Julia Kristeva: Pouvoirs de l’horreur - Essai sur l’abjection, Paris: Seuil 1980. turen diskursiv zum Verschwinden gebracht wurde. 52 Dies erscheint mir umso gerechtfertigter, als wir uns am tiefsten und das bedeutet hier: am dunkelsten Punkt des Denkens befinden. In der Divina Commedia entspräche dies dem Erd‐ mittelpunkt, in dem Luzifer verweilen muss. Zöge Blanchot neben seiner Neu‐ schreibung der dantesken Höllenfahrt in den Abgrund der menschlichen Er‐ kenntnis auch das adamitische Sprechen in Zweifel, wäre Anne an dieser Stelle auch mit Lilith zu verknüpfen, die das Abjekte des adamitischen Sprechens ver‐ körpert und damit vor Eva zu setzen wäre. 53 Das Abjekte nach Julia Kristeva umfasst das von der Subjektivität im Zuge des Subjektivierungsvorgangs aus‐ geblendete Vor-Symbolische, in dem es keinen Unterschied zwischen Subjekt und Objekt, Innerlichkeit oder Äußerlichkeit gibt. Man kann es auch in der Übersetzung aus dem Lateinischen als das ‚Verworfene‘ oder ‚Weggeworfene‘ bezeichnen. 54 Sofern Lilith als die „Nächtliche“ bezeichnet wird und als apo‐ kryphe, verborgene Frau in Form eines verdrängten Begehrens unter Eva liegt, ist darüber hinaus eine Verbindung zur anderen Nacht möglich. Lilith will sich Adam nicht unterwerfen, weil Gott sie aus dem gleichen Ma‐ terial wie Adam geschaffen hat und es daher keinen Grund zur Unterordnung gibt. Sie will sich auch beim Beischlaf nicht unter ihn legen und verlässt schließ‐ lich das Paradies, um zur Nachtdämonin zu werden. Adams erste ‚Beziehung‘ ist folglich gescheitert, so dass er Gott um eine zweite, folgsamere Frau bittet, die dieser nun aus einem Teil von ihm schafft. Im 8. Kapitel von TO 2 ist Anne nicht nachträglich ausgeformter Teil Adams, sondern aufgrund ihrer besonderen materiellen Beschaffenheit vor ihm da. Als Ineinander von fruchtbarem (horizontalem) Ackerboden und nach oben gerich‐ tetem Fels oder Lehmkörper vereint Anne Bebauungsgrund und Bau (auch den 8. Sich vom Aussagen befreien 222 <?page no="225"?> 55 Siehe meine Ausführungen zur verdrängten Gründungsgewalt der Krypta im 2. Kapitel. 56 Lehm besteht aus einem Gemisch verschiedener verwitterter Gesteinsarten oder deren Ablagerungen. Meistens besteht Lehm aus Sand, Schluff, Ton und ggf. Eisen. Wegen der gebundenen Mineralstoffe gilt er als äußerst fruchtbares Ackerland. Der Name Adam kommt aus dem Hebräischen und heißt eigentlich Ackerland. Lehm wurde und wird aber auch als Baumaterial verwendet, sofern der Tonanteil hoch genug ist. [Cf. Wilhelm Scholz, Wolfram Hiese edd.: Baustoffkenntnis, Neuwied: Werner 14 1999, pp. 20-27]. 57 TO2: 69. Das Felsige ist auch insofern interessant, als es dem Lehm materiell als wilde Natürlichkeit vorausgeht und als Gesteinsmasse einen Gegenentwurf zum lehmge‐ formten Kulturprodukt oder Kulturationsmaterial Adams darstellt. 58 Cf. TO2: 23. Turmbau zu Babel) in sich, wird vom Bedingten zum Bedingenden und in der Verknüpfung mit der verdrängten Gewalt des Grundes zum Grund der Grün‐ dung. 55 Der Lehm ist darüber hinaus nicht nur der Stoff, aus dem der erste Mensch, Adam, gemacht wurde, sondern er ist auch eine Art Abfallstoff, der so eine Strukturähnlichkeit mit dem Abjekten eingeht. 56 Annes Neuschöpfung findet nicht in Form einer sekundären Erschaffung aus Adams Rippe statt, son‐ dern auf der Grundlage des Lehms als fruchtbar-kreativem Abfallprodukt. Als unerschütterlicher, unwandelbarer, felsiger und grober Körper, als Exkrement und Auswurf jenseits jedes Geschöpfes liegt ihre letzte Hoffnung in einer Da‐ seinsform des Verworfenen, mit der sie Thomas erreichen kann. 57 Indem sie sich als Materialität gegen das Unkommunizierbare zwischen ihnen wirft, erhofft sie sich eine Reaktion, die Thomas zu einer Positionierung zwingt, indem er das von ihm Verworfene (Anne) erfährt - nicht als sprachlich Formuliertes, sondern als Erbrochenes und Ausgeschiedenes. Dies ist die Position des Abjekten, das als Inkommensurables sowohl aus dem Subjekt-Objekt-Verhältnis ausge‐ schlossen als damit auch als Abjektes eingeschlossen werden muss, um das Subjekt-Objekt-Verhältnis als signifikante Trennung herzustellen. Eine Tren‐ nung, die dem Übergang des Schreis in Sprache, der reinen expressiven Laut‐ lichkeit in Symbolisches, entspricht. In ihrem Schrei bezeichnet Anne sich selbst und gibt sich ihren Namen zurück, indem sie sich an ihn erinnert. Im Schrei des Eigennamens verbindet sie die Kraft des Schreis mit der Macht der Selbstbenennung. Annes Schrei ihres Namens wird zum Ruf nach Thomas auf der Ebene der Sprache, d. h. als Gegenüber ihres Eigennamens. Im 3. Kapitel von TO 2 war ihr Eigenname eine wirkungsvolle Möglichkeit, Thomas aus seiner Reserve zu locken und ihn zur Anwesenheit bzw. zur Handlung zu zwingen. 58 „L’incommunicable“ ist das, was Thomas im Namen trägt, nämlich das Dunkle als der sicher kommende Tod, dessen Zeitpunkt des Eintretens aber nicht ge‐ wusst werden kann. Anne erwartet in ihrem Sterbeprozess den Tod, wenn sie 8.3 Jenseits von Pascal: Die Sogmaschine des Denkens 223 <?page no="226"?> 59 TO2: 70. 60 Cf. TO1: 263. 61 Eine bemerkenswerte Änderung vollzieht Blanchot bzgl. der Attribute Annes. Im Text werden ihr, wie bereits erwähnt, drei recht oberflächliche Distinktionsmerkmale zu‐ gewiesen: intelligent, lebend und blond. Diese topischen Attribute gleichen gesell‐ schaftlichen, kontingenten Beschreibungen. Sie gewinnen jedoch eine andere Bedeu‐ tung durch den Blick in TO1. Dort entspricht die Textstelle exakt der in TO2, jedoch wird die Haarfarbe als rothaarig konkretisiert, wodurch anhand einer kleinen Verän‐ derung die Ersetzung Irènes durch Anne vollstreckt wird. [Cf. TO1: 262]. verzweifelt versucht, Thomas zu begreifen. Sie schreit mit rasender Stimme ihren Namen, bis sie in ihrem unerwiderten Pathos verbrennt und zur Leiche wird. Im Verbrennen geht ihr Name in den Leichnam über. Auf die Ebene des Referentiellen bezogen, gewinnt das Abjekte noch eine andere Bedeutung. Anne liegt im Sterben. Es ist nicht ungewöhnlich, kurz vor dem Tod die Kontrolle über die Ausscheidungsorgane zu verlieren, auch das Erbrechen als letzte Erleichterung des Körpers wird in der Palliativmedizin öfter beschrieben, da auf dem Weg des Leiche-Werdens die Körperströme nicht mehr kontrolliert werden können. Das Abjekte ist so verstanden auch immer die (Ekel und Angst erregende) Begegnung mit der Potenzialität des eigenen Leiche-Werdens. Der letzte Satz des 8. Kapitels von TO 2 formuliert mit der schwer fassbaren Gleichzeitigkeit von Anwesenheit und Abwesenheit in der Leiche das Thema des 9. Kapitels. Auf eine Weise existiert Anne noch, auf eine andere Weise nicht mehr und dies ist in all seiner logischen Widersprüchlichkeit, so schließt das 8. Kapitel von TO 2, die „suprême moquerie à la pensée de Thomas“. 59 Doch dieses Ende wurde schon einmal erzählt, wenngleich unter anderem Namen. In TO 1 gibt es, neben Thomas und Anne eine weitere Figur: Irène. Irène tötet sich nach einem gemeinsamen Museumsbesuch mit Thomas, indem sie sich ein Stilett in den Hals sticht. 60 In TO 2 ist sie als Figur gänzlich gestrichen worden, so dass statt des Figurendreiecks Anne - Thomas - Irène eine Fokussierung auf Anne und Thomas stattfindet. Einzelne ihrer Gedanken und Erfahrungen sind jedoch in Anne eingeflossen. Die vielleicht wichtigste Textstelle diesbezüglich bildet der Schlussteil des 8. Kapitels von TO 2. Die gesamte Passage des Sturzes in die Hauptkreise der Hölle bis zum letzten Satz des Kapitels findet sich in TO 1 im 12. Kapitel. Die Abweichungen von TO 1 in TO 2 sind - abgesehen von der nicht unerheblichen Zerstückelung der ursprünglichen Kapitelanordnung - minimal und nehmen Richtung Ende des Kapitels immer weiter ab bis hin zum identi‐ schen Finale in den letzten drei Sätzen. 61 Dort sind die beiden Versionen nicht zu unterscheiden - bis auf die Tatsache, dass der Name Irène durch den Namen Anne ersetzt ist und damit jede Spur der Figur Irène unkenntlich gemacht wurde. 8. Sich vom Aussagen befreien 224 <?page no="227"?> Zu fragen ist, ob die Auslöschung Irènes in TO 2 nicht als konsequente inter‐ textuelle Fortsetzung ihres geglückten Suizids in TO 1 gelesen werden kann und dies sogar so weit, dass Teile der Beschreibung Irènes kurz vor ihrem Suizid in TO 2 phantasmatisch in Annes Sterbeprozess wiederkehren. Erzählerisch pas‐ siert genau dies in TO 2 durch die Übertragung ganzer Irène-Passagen, wie hier im 8. Kapitel, in die Figur Annes. Das Strukturprinzip der Kryptierung wieder‐ holt sich in Irène, die in und hinter Anne steckt wie TO 1 in und hinter TO 2 - oder wie Lilith hinter Adam und Eva. 8.3 Jenseits von Pascal: Die Sogmaschine des Denkens 225 <?page no="228"?> 1 Zum Mythos von Orpheus und Eurydike sei auf das 10. Kapitel verwiesen. 2 LDM: 307. 9. Leiche-Werden: Selbstähnlichkeit Anne, der am Ende des 8. Kapitels nicht mehr geblieben ist als ihr Name, wird im 9. Kapitel nur mehr mit „elle“ bezeichnet und folglich ihres Namens als letzter Halt beraubt. Sie kehrt aus der Nacht bzw. aus dem Abgrund ans Tageslicht zurück. Noch ist sie nicht (ganz) tot, sodass sie wie eine erfolgreich zurückkeh‐ rende Eurydike abermals aus der Grenzerfahrung des Todes ins Leben kommt. 1 Die Tag / Nacht-Rhythmisierung, der eine Abstiegs-und Aufstiegstopologie kor‐ respondiert, ist wie schon im 8. und den meisten anderen Kapiteln zentral. Doch hier geht es mir um den Bezug dieser Topologie auf das Imaginäre, das gleich am Kapitelbeginn erwähnt wird und als körperlich Assimiliertes alle weiteren Bilder des Kapitels als Effekte dieser Einkörperung grundiert. Ab- und Aufstieg bilden dabei den Anlass für die Verhandlung von Verkörperungsmöglichkeiten, wie sie am Imaginären problematisch werden. Über Husserl und Sartre werde ich zu den „Zwei Fassungen des Imaginären“ Blanchots kommen. Dieser Text befasst sich mit der verstörenden Anwesenheit der Abwesenheit im Leichnam und erklärt die Leiche zum Urbild des Bildes. Das 9. Kapitel lese ich als ein literarisch ausformuliertes Pendant zu diesem theoretischen Text über das Leiche-Werden und den Eintritt in die schauerliche Selbstähnlichkeit, die den meisten Lebenden absolut fremd ist, da sie einsamer Ausdruck des Todes bzw. des Sterbens ist. Ziel des theoretischen Abrisses über die Entwicklung des Ima‐ ginären ist es, dieses in seiner Autonomie zu beschreiben, die es bei Blanchot insbesondere in seiner Vorstellung als Heimsuchung (hantise) erhält. 9.1 Das Imaginäre L’imaginaire n’est pas une étrange région si‐ tuée par-delà le monde, il est le monde même, mais le monde comme ensemble, comme tout. 2 Maurice Blanchot <?page no="229"?> 3 TO2: 71. 4 TO2: 71. 5 Cf. TO2: 29 bzw. Kapitel 4.2. 6 Meine Überlegungen zum Bild werden selbstverständlich nur skizzenhaft sein können und sich so anordnen, dass sie Blanchots Bildbegriff verständlicher machen, um auf dieser Basis einem besseren Verständnis des Imaginären und des Leiche-Werdens Annes im 9. Kapitel von TO2 zu dienen. Eine sehr differenzierte Darstellung von Blanchots Denken des Bildes bietet der folgende, 2016 erschienene, Sammelband: Marco Gutjahr, Maria Jarmer edd.: Von Ähnlichkeit zu Ähnlichkeit - Maurice Blanchot und die Leiden‐ schaft des Bildes, Wien / Berlin: Turia + Kant 2016. Die Rückkehr Annes in den Tag, mit der das Kapitel einsetzt, zeigt sie, „elle“, als Verkörperung des Schweigens. Schon im Kapitelauftakt wird über das seltsam innige wie distanzierte Verhältnis zum Schweigen eine abstoßende Selbstähn‐ lichkeit Annes erzeugt, die sich zu ihr wie eine „autre nature dont l’intimité l’aurait soulevée de dégout“ verhält. 3 Anne trägt nach dem 8. Kapitel etwas Imaginäres als eine inkorporierte Spur der Nacht in sich: „Il semblait que pendant la nuit elle eût assimilé quelque chose d’imaginaire qui lui était une épine de feu et la forçait à repousser à l’extérieur, comme un déchet grossier, sa propre existence.“ 4 Sie hat dieses imaginäre Etwas in sich aufgenommen und verinnerlicht. So scheint es zumindest, denn die Erzählstimme kann hier, wo genaue Beschreibungen scheitern müssen, nur Vermutungen anstellen. Unan‐ genehm an der assimilierten imaginären Existenz in ihr ist, dass sie sich in Überschreitung ihrer vermeintlichen Unkörperlichkeit somatisch deutlich be‐ merkbar macht und ihr als „Feuerstachel“ im Inneren die eigene Existenz aus dem Körper stößt. Dieser Stachel, der sich nicht ziehen lässt, sondern im Ge‐ genteil ihr Inneres verdrängt und so überflüssig wie Abfall macht, bewirkt einen wahren Exorzismus des Eigenen, auf den nach dem schon angekündigten Ex‐ kurs in die Theorie und sodann ausgehend von dieser philosophischen Begriff‐ lichkeit des Imaginären weiter eingegangen werden soll. Des Öfteren traten in Thomas l’Obscur bereits Bilder oder Repräsentationen zu Tage, die sich gegen alle Sinnhaftigkeit an bestimmten Stellen des Körpers festgesetzt haben. Stellvertretend sei an das Wort ‚yeux‘ erinnert, das sich im 4. Kapitel an Stelle der Augen an deren Platz setzt. 5 Auch wurde in den Präli‐ minarien schon darauf hingewiesen, dass der Begriff des Phantastischen nicht ausreichend greift, um diese Ersetzungsvorgänge zu erklären, die Blanchot stetig vornimmt. Daher eröffnet sich zunächst die Fragestellung, was überhaupt ein Bild ist oder sein kann. 6 9.1 Das Imaginäre 227 <?page no="230"?> 7 Verena Olejniczak und Eckhard Lobsien: Die unsichtbare Imagination - Literarisches Denken im 16. Jahrhundert, München: Fink 2003. 8 Cf. Andreas Gelhard: „Das Imaginäre und das ‚il y a‘ - Zum Problem der Nichtung in den Frühschriften von Sartre und Levinas“, in: Thomas Bedorf, Andreas Cremonini edd.: Verfehlte Begegnung - Levinas und Sartre als philosophische Zeitgenossen, München: Fink 2005, pp. 17-39, hier p. 18 [Für die Kurzzitierweise wird im Folgenden Gelhard 2005b verwendet]. 9 Cf. ibid., p. 20-21. 10 Ibid. sowie Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenolo‐ gischen Philosophie, Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Hamburg: Meiner 2009, p. 259: „Das Verhältnis der parallelen ‚Akte‘ [des Bewusstseins, Anm. d. Verfasserin] besteht darin, daß der eine von beiden ein ‚wirklicher Akt‘ ist, das cogito ein ‚wirkliches‘, ‚wirklich setzendes‘ cogito, während der andere ‚Schatten‘ von einem Akte, ein uneigentliches, ein nicht ‚wirklich‘ setzendes cogito ist. Der eine leistet wirklich, der andere ist bloße Spiegelung einer Leistung.“ Bild und Imaginäres Bilder entstehen im Kopf. Wie sie dort hineinkommen, wie sie dort zustande kommen und was sie im Kopf anrichten, beschäftigt nicht nur Neurowissen‐ schaftler oder Psychologen, sondern auch Literaten und Philosophen. Bei den beiden Letzteren nimmt dabei die Imagination einen zentralen Part ein. Ihre schöpferische Kraft als Weltenerschafferin und ihre erkenntnisfundierende Funktion sind seit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert salonfähig ge‐ worden. 7 Allerdings kann der Mensch in seinem Kopf keine creatio ex nihilo vollbringen, sondern muss sich, um imaginativ zu kreieren, von der Welt ab‐ wenden, ja sogar Welt vernichten. 8 So unterscheidet Jean-Paul Sartre in seiner 1936 erschienen Schrift L’Imagination verschiedene Möglichkeiten, wie das menschliche Bewusstsein Objekte setzen kann. Die wichtigsten zwei sind dabei das realisierende Setzen (Wahrnehmungsbewusstsein) und das irrealisierende Setzen (Imagination, Bildbewusstsein). 9 Für die Qualität der Bilder im Kopf be‐ deutet dies eine Unterscheidung von images physiques und images mentales bei Sartre. Andreas Gelhard verweist darauf, dass Husserls Unterscheidung in „‚wirklich setzendes‘ cogito“ und „nicht ‚wirklich‘ setzendes cogito“ die Folie für Sartres Gedanken zur Imagination ist. 10 Husserls Trennung innerhalb des Be‐ wusstseins in körpergebundene Wahrnehmungen und rein begriffliche Imagi‐ nationen ist jedoch nicht frei von Wertungen. Die Imaginationskraft wird neben ihrer Gegenspielerin, der Wahrnehmung, als weniger potent und ursprünglich 9. Leiche-Werden: Selbstähnlichkeit 228 <?page no="231"?> 11 Dies steht im phänomenologischen Denkkontext Husserls: „Husserls Anderes ist immer ‚der Andere‘ (alter ego) und entweder als wahrgenommenes Objekt thematisiert oder in eine Lebenswelt eingebettet, die Ich und Anderen umschließt.“ [Thomas Bedorf: „Das Andere als Versprechen und Anspruch - Annäherungen an Adorno und Levinas“, in: Thomas Bedorf, Georg W. Bertram et al. edd.: Undarstellbares im Dialog - Facetten einer deutsch-französischen Auseinandersetzung, Amsterdam et al.: Rodopi 1997, pp. 163-175 (= Petra Gehring, Jörg F. Maas et al. edd.: Philosophie & Repräsentation, Bd. 5)]. Dieser lebensweltliche Bezug, mit dem die Wahrnehmung eng verbunden ist, sowie der Glaube an ein begrenzbares wahrnehmendes Subjekt sind Gründe der Herabsetzung des Ima‐ ginierens bei Husserl. 12 Gelhard 2005b: 22. 13 Sartre 1986: 231; Cf. auch Gelhard 2005b: 23. 14 Obschon Sartre 1940 in L’Imaginaire die Imagination immer auf dem Hintergrund von Welt denkt und ihr nicht dieselbe Eigenständigkeit zugesteht, wie Blanchot es tut, ist doch bemerkenswert, wie sehr sich innerhalb von Sartres Werk von 1940 an eine De‐ gradierung der Imagination und des Imaginären vollzieht, die schließlich in der Forde‐ rung nach einer Literatur als Mimesis in „Qu’est-ce que la littérature? “ ihren Höhepunkt findet, worauf ich im 5. Kapitel eingegangen bin. Die Auffassung des Imaginären als Sache der Poeten, die nach Sartre mit leeren Ding-Wörtern jonglieren, zeugt von einer sehr objekthaften Reduktion des Imaginären. 15 Siehe Kap. 5 und die dortigen Ausführungen zu Blanchots Performanzästhetik in „La littérature et le droit à la mort“. betrachtet. 11 Dies ist ein Schritt, den Sartre 1940 in L’Imaginaire so nicht mehr mitmacht. Im Gegenteil bilden „das Reale und das Imaginäre zwei gleichberech‐ tigte noematische Korrelate des Bewußtseins“, 12 die in einem Konkurrenzver‐ hältnis zueinander stehen. Sofern die beiden ebenbürtige Bewusstseinsvorgänge darstellen, fragt Sartre auch nach ihrer Verbindung und findet die Lösung im Bewusstsein als Einheit dieser beiden „grandes attitudes irréductibles de la conscience“. 13 Bewegt sich das Bewusstsein im Imaginären, wird die Welt zum Ermöglichungs(hinter)grund der Imagination, sie verschwindet jedoch nicht. 14 Ausschlaggebend ist nun für Sartre, dass Imaginieren immer bedeutet, in Dis‐ tanz zum Realen zu gehen, um durch diesen Akt der Weltnichtung irreale (ab‐ wesende) Objekte setzen zu können, die außerhalb der Welt der unmittelbar wahrnehmbaren (gegebenen, anwesenden und vor allem: subjektunabhän‐ gigen) Objekte erscheinen. Zugespitzt könnte man sagen, dass das Imaginäre deutlich stärker subjektiv steuerbar ist als die Wahrnehmung von materiell prä‐ senten Dingen, die sich als bereits Geformtes dem Bewusstsein entgegenstellen. Hieraus lassen sich zwei zentrale Unterschiede zu Blanchots Begriff des Imagi‐ nären ableiten: Blanchot betont, dass die Imagination nicht nur Welt nichtet, sondern auch sich selbst unaufhörlich wieder durchstreicht. 15 Nichtung und Schöpfung gehen bei Blanchot ständig ineinander über. Die (literarische) Sprache ersetzt nicht nur Welt, sondern auch die eigenen Schöpfungsakte. Die 9.1 Das Imaginäre 229 <?page no="232"?> 16 Maurice Blanchot: „Les deux versions de l’imaginaire“, in: EL, pp. 341-355, hier p. 343. Im Folgenden abgekürzt mit der Sigle DVI. Der Text wurde 1951 zunächst in der Zeitschrift „La Pléiade“ publiziert und dann 1955 in L’espace littéraire aufgenommen. Blanchot hat den Artikel für die Aufnahme in L’espace littéraire deutlichen Überarbei‐ tungen und Kürzungen unterzogen, wodurch, so die sehr nachvollziehbare These von Marco Gutjahr und Maria Jarmer, eine „Verwischung überdeutlicher Bildlichkeit“ voll‐ zogen wird [Gutjahr / Jarmer 2016: 32]. Dieser Reduktion der Bildlichkeit in der zweiten Version von „Les deux versions de l’imaginaire“ analog setzen die Autoren die Strei‐ chung sämtlicher Namen der in TO1 vorkommenden Künstler für die Abfassung von TO2 [Cf. Gutjahr / Jarmer 2016: 34]. nichtende Kraft der Sprache macht also nicht Halt vor sich selbst, sondern über‐ schreibt stetig das gerade in Schrift Gesetzte, um neue Sprachkreationen auf diesem Ungrund zu errichten. Eine Wirkung dessen ist, dass Setzungen, die von Instanzen des Textes gemacht werden, auf die Instanzen (Figuren oder auch Subjekte im grammatikalischen Sinne) zurückwirken. Die Setzungen führen zu einem Ausgesetztsein oder Entsetzen des zunächst setzenden Subjekts, welches so Objekt seiner Setzungen wird und die Souveränität über seine Setzungen verliert. Dies bedeutet somit gewisse Rückkopplungeffekte, die sich ebenfalls auf das Verhältnis von setzendem Bewusstsein und Imaginärem übertragen. Zum anderen fasst Blanchot die Frage des Abstands zur Welt im Raum des Ima‐ ginären anders als Sartre, wie ich im Folgenden zeigen möchte. 9.2 Die zwei Fassungen des Imaginären In „Les deux versions de l’imaginaire“ (1955 / 1951), der einen der letzten Texte von L’espace littéraire bildet, fragt Blanchot danach, was ein Bild sei. Seine Ant‐ wort setzt sich, ohne dies explizit zu machen, von Sartres Bildbegriff ab, indem er von zwei Weisen spricht, mit denen man sich dem Bild nähern kann. So führt Blanchot zum einen die Vorstellung einer Nachzeitigkeit des Bildes als das an, was auf das Objekt als dessen Abbild folgt: „nous voyons, puis nous imagi‐ nons“. 16 Diese Nachzeitigkeit ist nicht nur temporal gedacht, sondern, wie bei Sartre, auch als Verdrängung oder Entfernung des Dings, an dessen Stelle sich das Bild setzt. Einerseits repräsentiert das Bild Welt, die zuvor genichtet wurde, um Bild werden zu können. Hier folgt Blanchot Sartres Kurs. Andererseits ist in Blanchots Weiterführung dieses Gedankens die Suspendierung keine Arre‐ tierung, sofern durch das Bild das Objekt gleichzeitig abwesend und anwesend ist bzw. das Abwesende anwesend macht. Im Bild ist das Ding nicht einfach weg, sondern anwesend „comme éloignement, la présente dans son absence, la 9. Leiche-Werden: Selbstähnlichkeit 230 <?page no="233"?> 17 DVI: 343. 18 „[L’]image peut certes nous aider à ressaisir idéalement la chose, qu’elle est alors sa négation vivifiante […].“ [DVI: 353]. 19 DVI: 352. 20 DVI: 354. Diese Heimsuchung entspricht der Faszination, die im 3. und 4. Kapitel bzgl. des Blicks und des Lesens (welches eine besondere Form des Blickens bedingt) behandelt wurde. Insbesondere das punctum von Roland Barthes ist mit der zweiten Konzeption des Imaginären bzw. des Bildes von Blanchot zu verknüpfen. [Siehe Kapitel 3.2 und 4.5 meiner Untersuchung]. 21 Cf. DVI: 352. 22 Gelhard 2005a: 144-145. saisissable parce qu’insaisissable, apparaissant en tant que disparu […].“ 17 Damit wird das Bild zu etwas Unheimlichem, das nicht mehr in seiner Ersetzungsauf‐ gabe verweilt, sondern den Betrachter betrifft, indem es sich an ihn wendet und ihn auf eine Leere lenkt, die nicht nur der Grund des Bildes, sondern auch der des Betrachters ist. Als Konsequenz daraus unterscheidet Blanchot nun zwei Versionen oder zwei Fassungen des Bildes bzw. des Imaginären. Die erste betrifft das Bild, das ein nachträgliches Bild im Dienst der Welt, d. h. eine Repräsentation von Welt, ist. 18 Die zweite Fassung ist die soeben skizzierte Fortsetzung der Re‐ präsentation als Heimsuchung, die das Verhältnis von Welt und Bild wie das von Aktivität und Passivität verkehrt, indem es zu einer Erfahrung des „événement en image“ wird: „c’est s’y laisser prendre, passer de la région du réel, où nous nous tenons à distance des choses pour mieux en disposer, à cette autre région où la distance nous tient […]. Ce mouvement implique des degrés infinis.“ 19 Wir, die Betrachter des Bildes, werden vom Bild ergriffen, das uns angeht, nicht nur, weil wir etwas in ihm sehen, sondern noch radikaler, weil es uns im Inneren als Fremdes heimsucht und auf diese Weise nicht nur dezentriert, son‐ dern regelrecht entäußert. Am Ende seines Textes spricht Blanchot über ein „milieu indéterminé de la fascination“, in dessen Ambiguität das Subjekt sich zwischen Begreifen und Ergriffenwerden verliert. 20 Blanchot beschreibt diesen Prozess als ein ekstatisches Geschehen, in dem sich das „Reale“ (welches er konsequenterweise an dieser Stelle in Anführungszeichen setzt) in unaufhalt‐ samen Abstufungen und Schattierungen des Ähnlichen verliert, die seine feste Kontur und Abgrenzung zum Irrealen brüchig werden lassen. 21 Gelhard cha‐ rakterisiert dies entsprechend als ein „Imaginäres, das nicht durch das vorstel‐ lende Bewußtsein gesetzt ist, sondern dieses als vorstellendes absetzt.“ Demnach denkt Blanchot „das Bild offenkundig als ein Geschehen […] als Einrichtung des Fremden im Vertrauten, [als] Hereinbrechung der Entferntheit selbst […].“ 22 Das zentrale Beispiel, mit dem Blanchot diese Form des Imaginären und des Bildes zu denken versucht, ist der Leichnam. 9.2 Die zwei Fassungen des Imaginären 231 <?page no="234"?> Leiche Die Leiche ist für Blanchot der Inbegriff des heimsuchenden Bildes, da sie in ihrer Materialität auf ein Fehlen des Bewusstseins verweist, das zuvor diesen Körper bewohnt hat. Die Wahrnehmung der Leiche kann visuell, olfaktorisch und taktil erfolgen, doch die Verbindung zum Menschen, der den Körper belebt hat, muss imaginiert werden. Indem die unbelebte Physis zurückbleibt und auf jemanden hinweist, der nicht mehr da ist, fällt die Leere dieses Verweisens auf die Leiche selbst zurück. Somit repräsentiert sie aber nichts mehr, sondern wird sich selbst ähnlich. Sie verdoppelt sich durch diese Selbstähnlichkeit, da das, worauf sie verweist, immer nur sie selbst ist. Sie kann mithin nicht aufhören, sich zu ähneln, d. h. sich als selbstbezügliche Verweisstruktur zu vervielfachen. Die Leiche bildet die Grenze zwischen Imaginärem und Realem und hat auf diese Weise an beidem Teil - das ist das Verstörende an der Leiche. Einerseits scheint sie eine Kontinuität mit dem lebenden Menschen zu signalisieren und gibt ihm seine individuelle Form, andererseits wird sie aufgrund des Bruchs des Todes und dem damit einhergehenden Einbruch des Unpersönlichen hinter dem Lebendigen nurmehr dem Menschen ähnlich. Erst der Tod etabliert die Ähn‐ lichkeit der Leiche, indem er sie vom belebten Körper scheidet. Diese Differenz ist die Bedingung für Ähnlichkeit und die prozesshafte Identifikation innerhalb der Selbstähnlichkeit. Die psychoanalytische Konzeption des Imaginären ist hiervon nicht weit entfernt. Vielmehr verweist Blanchot darauf, um das Bild zu erklären. Die Phase des Imaginären liegt vor dem Eintritt in die symbolische Ordnung (d. h. vor dem Spracherwerb). Über das Spiegelstadium erfolgt der Eintritt in die symbolische Ordnung. Das Imaginäre verschwindet dabei jedoch nicht, sondern bildet die verdrängte Grundlage des Symbolischen. Dies bedeutet wiederum, dass im Bild, wie Blanchot es versteht, unter der symbolischen Ordnung das verdrängte Ima‐ ginäre liegt und den Betrachter affizieren kann. Dadurch stellt die Leiche ein Verhältnis her, durch das der (trauernde) Betrachter mit seinem Blick in einem Auf und Ab zwischen den zwei Fassungen des Imaginären hin und her geworfen wird. In der Betrachtung der Leiche als (nachträgliches) Abbild des lebenden Menschen (erste Fassung des Imaginären / Bildes) zeigt sich die eigentliche Tiefe des Bildes, das nie Abbild war, sondern gleichursprünglich mit dem ist, was es zeigt, und damit den Menschen grundlegend mit seiner Endlichkeit differentiell identifiziert (zweite Fassung des Imaginären / Bildes). In diesem Moment wird das Starre und Unbewegliche der Leiche zu etwas, was sich in den Trauernden und in den Räumen um den Aufbahrungsort ausweitet als eine Präsenz der Ab‐ senz oder, wie Blanchot schreibt, als eine „présence envahissante, obscure et 9. Leiche-Werden: Selbstähnlichkeit 232 <?page no="235"?> 23 DVI: 348. 24 DVI: 347. Der Satz endet im Originaltext ohne Punkt. Die Kursivierungen entstammen ebenfalls dem Originaltext. vaine plénitude.“ 23 Die Ähnlichkeit zwischen der Leiche und dem lebenden Men‐ schen wird dabei zur Ähnlichkeit mit dem Unpersönlichen, dessen Instanz der Tote ist. Blanchot betont, dass diese radikale Ähnlichkeit den Leichen vorbe‐ halten ist und auf Lebende eher selten zutrifft. Stellt sich dieser Fall dennoch ein, sind die Effekte verstörend, denn sie weisen auf eine Ähnlichkeit mit dem Nichts, dem Unpersönlichen und dem Neutralen hin: C’est pourquoi, tout homme vivant est, en vérité, sans ressemblance encore. Tout homme, aux rares instants où il montre une similitude avec lui-même, nous semble seulement plus lointain, proche d’une dangereuse région neutre, égaré en soi et comme son propre revenant, n’ayant déjà plus d’autre vie que celle du retour. 24 In diesen Momenten der Selbstähnlichkeit wird der Mensch zu seinem eigenen Bild, verdoppelt sich und begegnet sich als ewiger Wiedergänger, der das Selbst des Menschen heimsucht und damit keine Selbstidentität mehr zulässt. Der Tod ist, so bricht es in manchen Momenten hervor, in den Menschen eingeschrieben. In Thomas l’Obscur sind es nun Anne und Thomas, die in vielfacher Weise solche Wiedergänger bilden. Die Erfahrung der Wiederkehr wird dabei im Ver‐ lauf des Textes in jede erdenkliche Richtung durchgespielt. Da es äußerst schwierig ist, eine Chronologie der Abläufe festzustellen ( TO 2 potenziert durch seine Auslassungen von Teilen aus TO 1 dieses Problem), kann auch nicht ent‐ schieden werden, wann wiederkehrende Situationen, Orte oder Motive inner‐ halb der beiden Texte an bereits Erzähltes anschließen. Somit wird nicht nur jede Relation von Vorgängigkeit oder Ursprünglichkeit unterminiert, sondern zugleich jeder Anschluss zu einem Überschreiben. Die Dinge ähneln sich, ohne gleich zu sein. Somit ist die Selbstähnlichkeit als Struktur wesentlich in Thomas l’Obscur als textuelles Verfahren eingeschrieben, das sich auf der Ebene des discours wie der histoire widerspiegelt. Die permanenten Analogie- und Reso‐ nanzeffekte bewirken ein Umherirren nicht nur der Figuren, sondern auch des Lesers, der von der Unpersönlichkeit der Ähnlichkeiten erfasst und in den be‐ drohlichen Raum des Neutralen gezogen wird. Wenn die beiden Fassungen von Thomas l’Obscur Versuche darstellen, eine Erfahrung des Todes zu schreiben, ist dies im Rahmen von Blanchots Konzept des Bildes bzw. des Imaginären die ent‐ sprechende literarische Umsetzung einer die Mimesis wie die Repräsentation überschreibenden Wiederkehr des (Selbst-)Ähnlichen. 9.2 Die zwei Fassungen des Imaginären 233 <?page no="236"?> 25 TO2: 72. 9.3 Verbotener Anblick Das 9. Kapitel gestaltet in besonders deutlicher Weise den Prozess der schizoiden Ähnlichkeit mit sich selbst am Beispiel Annes, die zur Leiche wird. Wie eingangs erwähnt, introjiziert ‚sie‘ zu Beginn des Kapitels etwas Imaginäres. Dies bewirkt wiederum, dass sie ihre Existenz ausstößt. Das Imaginäre entgrenzt sie von innen heraus, höhlt sie aus und transformiert sie in einen zweiten Körper, ihren Leichenkörper. Dieser wird dabei das Selbst-Bild, dem sie sich annähert, indem sie zunächst aus ihrem Körper heraustritt, um sodann ihre Verdopplung ebenso wie ihre Ähnlichkeit zu erfahren. Abermals wird dabei die Nacht als Raum des Imaginären in den Vordergrund gestellt: Rien sans doute n’était changé dans son aspect, mais le regard qu’on pouvait jeter sur elle et qui la montrait pareille à n’importe quelle autre, n’avait aucune importance et, l’identifier étant justement impossible, c’est dans la ressemblance parfaite de ses traits, dans le vernis de naturel et de sincérité déposé par la nuit, que l’horreur de la voir telle qu’elle avait toujours été, sans le moindre changement, alors qu’il était sûr qu’elle était totalement changée, prenant sa source. Spectacle interdit. 25 Das, was sich dem Blick zeigt, ist ‚sie‘, deren Identität in Indifferenz und Un‐ persönlichem aufgelöst ist. Sie ist nicht mehr einzuordnen in die symbolische Ordnung, da sie zum Imaginären, d. h. zum Bild wird, das sich in ihr wie eine zweite Existenz ausbreitet und sie ihrer Bezeichenbarkeit beraubt. Die Parado‐ xien einer Koexistenz von absoluter Ähnlichkeit und Andersheit werden ver‐ ständlich, wenn man sie mit dem theoretischen Bildbegriff Blanchots verknüpft: In Annes Anblick zeigt sich etwas, was eigentlich nicht gesehen werden darf, da den Lebenden dieses „verbotene Spektakel“ durchaus zusetzen kann. Unter ihrem normalen Äußeren kommt aufgrund des assimilierten Imaginären jene befremdliche Selbstähnlichkeit der Toten zu Tage, die sich nur selten den Le‐ benden zeigt. Anne (wie der Leser) ist als noch Lebende diesem Anblick ihrer selbst ausgeliefert, der gerade in seinem Anschein von Normalität (für diese Camouflage ist die Nacht verantwortlich) unheimlicher ist als jedes Ungeheuer. Denn bei einem Ungeheuer ist noch eindeutig nachvollziehbar, was es reprä‐ sentiert. Was sich dem Blick in ‚ihr‘ bietet, ist jedoch gerade die Unmöglichkeit, über sie hinaus etwas zu erkennen, auf das ‚sie‘ verweist. Alles, was ‚sie‘ ist, erschöpft sich in der beschriebenen Selbstähnlichkeit, die jedes Suchen nach weiterer Referenz auf die Leere des Unpersönlichen zurückfallen lässt. Deren Ausdruck ist auf Textebene bezeichnenderweise das unaufhebbare Schweigen 9. Leiche-Werden: Selbstähnlichkeit 234 <?page no="237"?> 26 Cf. TO2: 72-73. 27 TO2: 74. Annes. 26 In dem Moment, in dem Annes Verstummen zur Sprache kommt, findet ihr Name wieder Eingang in den Text, um ihr Verstummen zu benennen. Auf der Basis der paradoxalen Ähnlichkeit wird sodann das erwähnte Spek‐ takel als „spectacle interdit“ ausgewiesen und als Konstruktion einer irrwitzigen Aufführungssituation weitergesponnen, die Anne den fiktiven Zuschauern dar‐ bietet. Das Lächerliche dieser Inszenierung überbrückt dabei abermals die un‐ erträgliche Faktizität ihres Anblickes, während es zugleich die nun folgende Verortung Annes überzieht. Anne liegt schlafend an der Wand ausgestreckt in ihrem Zimmer und ist in einen Mantel gehüllt. Doch kann dies überhaupt nur erzählt werden, indem gleichzeitig die Absurdität einer solchen Bildlichkeit ar‐ tikuliert wird, die das Angeblickte als lächerlichen Trugschluss betitelt. Ihr an‐ deres / wahres Bild koexistiert und lässt sich nicht verdrängen, was wiederum der Text über das Lächerliche sehr deutlich markiert. Wie schon für das 4. Kapitel von TO 2 anhand der zwei Zeitdimensionen von durée und temps gezeigt wurde, kann sich auch im 9. Kapitel die objektiv mess‐ bare Zeit nicht gegen die Präsenz der Dauer durchsetzen. So wird bereits im Kapitelauftakt die Rückkehr in den Tag beschrieben, zugleich bleibt die Nacht aber durch das Imaginäre anwesend. Sie verschwindet ebenso wenig, wie Annes leichenhafte Bildlichkeit als zweite Fassung des Imaginären sich verleugnen lässt. Der Tag versucht dieses Spektakel der Nacht und ihrer Ähnlichkeiten zu stören, kann aber nicht vollständig anwesend werden, da die Nacht andauert: „[L]e jour commençait à pénétrer avec l’intention dérisoire de mettre fin à la nuit en donnant ce mot d’ordre: ‚La vie continue.‘“ 27 Die Möglichkeit, dass der Tag der Nacht über eine Penetration ein Ende bereiten könnte, wird als vergeb‐ lich und lächerlich bezeichnet, denn die Nacht steht hier für den Tod, dem man nicht mit der fast trotzigen Aussage „La vie continue“ ( TO 2: 74) wirklich etwas entgegensetzen kann. Dem Tag ist es verwehrt, mit seinen diskursiven Mitteln in die Nacht einzudringen und sich ihr dieserart zu widersetzen. Sie bleibt davon unangetastet, sofern in ihr die Gesetze der anderen Nacht als Gesetzesordnung des Todes gelten. Und angesichts des Todes zerbricht jede Aussagelogik. So kann der Satz „La vie continue“, wie es auch im Text geschieht, zitiert werden und eine entsprechende Realität einnehmen. Er kann jedoch in der Ordnung der anderen Nacht nicht mehr den Status einer gültigen Aussage erreichen. Die Nacht, die Anne umgibt und die sie über das Imaginäre in sich trägt, ist keine Nacht, die ein Ende hat. Vielmehr ist sie permanent als ‚autre‘ nuit unterhalb des Tages als dessen Ungrund da. Diese andere Nacht erweist sich als eine Kraft, 9.3 Verbotener Anblick 235 <?page no="238"?> 28 TO2: 75. 29 TO2: 75 [Hervorhebungen von der Verfasserin]. die Anne nicht mehr schlafen lässt: „[I]l lui devenait impossible de dormir par l’action d’une force qui, loin d’être opposée à la nuit, pouvait aussi bien être appelée nocturne.“ 28 Einsamkeit Unfähig, die Augen zu schließen, durchlebt Anne in diesem erzwungenen Wa‐ chen verschiedene Formen der Einsamkeit. Diese spielt der Text in allen Facetten durch, sodass der Eindruck entsteht, Anne erführe überall um sich und in sich (bzw. in dem von ihr übrig Gebliebenen) in einem Netz aus Ähnlichkeiten aus‐ schließlich ihre absolute Einsamkeit. Diese platzt in ihr auf und breitet sich in Annes Körper wie in ihrem Denken aus. Elle se vit seule, mais bien qu’elle ne pût se lever que dans le monde de la solitude, cet isolement lui resta étranger et, dans la passivité où elle demeurait, il était sans importance que sa solitude éclatât en elle comme quelque chose qu’elle n’avait pas besoin de ressentir et qui l’entraînait dans le domaine à jamais éloigné du jour. 29 Die Welt der Einsamkeit ist die Welt der anderen Nacht, aus der es keinen Rückweg in den Tag gibt, in der sich alles zersetzt und in der kein Gefühl außer der Einsamkeit Bestand hat. Gleich einer Krankheit, die sich physisch wie psy‐ chisch ausbreitet, wird der Weg der Zerstörung oder Ansteckung beschrieben. Alles unterliegt fortan einer Passivität, die selbst negative Gefühle wie das „Un‐ glück“ kontaminiert und schließlich bis in die somatische wie psychische Di‐ mension von Annes Herz vordringt, um auch dieses zu entleeren und zu einem sinnlosen Organ zu machen. Eintritt von Thomas Als Thomas das Zimmer betritt, werden die Effekte der Infektion mit dem Ima‐ ginären anhand des Unterschieds zu ihrem früheren Empfinden besonders deut‐ lich. Er, den sie immer begreifen und in dessen Nähe sie vordringen wollte, löst kein Gefühl mehr in Anne aus. Das Geheimnis seiner Dunkelheit ist für Anne bedeutungslos, weil es Teil von ihr geworden ist. Sie trägt das Geheimnis der anderen Nacht als zersetzendes Körper- und Bewusstseinsgeschehen in sich und ist gleichzeitig von ihm umgeben, wobei die Kategorien von innen und außen keinen wirklichen Unterschied mehr machen. Auf der Grundlage dieser Erfah‐ rung kann Thomas keine Faszination mehr auf Anne ausüben: 9. Leiche-Werden: Selbstähnlichkeit 236 <?page no="239"?> 30 TO2: 76-77. 31 DVI: 348. C’est comme l’homme le moins obscur qu’il sortait de la nuit, baigné dans la transparence par le privilège d’être au-dessus de toute interrogation […] détournée sur elle-même où il n’y avait ni richesse ni plénitude, mais l’appesantissement d’une morne satiété, la certitude que ne surviendrait pas d’autre drame que le déroulement d’un jour où se noyaient espoir et désespoir, l’inutile attente devenue, par suite de la suppression de tout but et du temps lui-même, une machine dont le mécanisme avait pour unique fonction de mesurer, dans une exploration silencieuse, le mouvement vide de ses diverses pièces. 30 Thomas’ Dunkelheit hat sich nun gegenüber Annes Zustand in Transparenz verwandelt. Diese bewirkt wiederum, dass Anne auf sich selbst (elle-même) zu‐ rück geworfen wird. Doch handelt es sich hier keineswegs um einen einfachen Selbstbezug, sondern um einen der Logik der absoluten Ähnlichkeit, in welcher Anne sich bewegt. Sie weiß, dass sie in Thomas keine Antworten mehr zu suchen braucht, da die Antwort auf die bis zum Tod verbleibenden Fragen in ihr selbst liegt. Es geht darum, das Sterben anzunehmen, um den Tod empfangen zu können. Doch bis der Tod da ist, bleibt ihr nur ein leeres, zielloses Warten auf den Moment seiner Ankunft. Dieses Warten als selbstbezügliches Warten wird mit einer Maschine ohne externe Funktion verglichen. Blanchot führt einen ähnlichen Vergleich in „Les deux versions de l’imaginaire“ an, um die bedroh‐ liche Selbstähnlichkeit zu beschreiben, die manche Lebende erfahren und die sich darin äußert, dass sie sich selbst unaufhörlich als ihr eigener Wiedergänger begegnen. Ihre Außen-Referentialität ist beschädigt, sodass sie nicht mehr auf die Welt, sondern nur mehr auf sich selbst als bereits Wiederholte verweisen. Über diese Beschädigung leitet Blanchot zu einem Analogon im defekten Werk‐ zeug über: „Par analogie on peut aussi rappeler qu’un ustensile endommagé devient son image. […] Dans ce cas, l’ustensile, ne disparaissant plus dans son usage, apparait. Cette apparence de l’objet est celle de la ressemblance et du reflet: si l’on veut, son double.“ 31 Die Befremdlichkeit, die das Analogon mögli‐ cherweise zunächst auslöst, ist zutiefst mit der Dysfunktionalität des Werkzeugs wie des Wiedergängers verbunden. Beide zeugen von einer Anwesenheit, die sich weder greifen noch in einen Zusammenhang einordnen lässt. Sie sind nicht mehr im Dienste der Welt und ihrer Funktionalität oder Linearität da, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen, wie auch das Warten, dem Anne ausgesetzt ist, keinem irdischen Ziel mehr folgt. 9.3 Verbotener Anblick 237 <?page no="240"?> 32 TO2: 78. 33 So äußert sich die Erzählinstanz z. B. wie folgt: „Ce qui était frappant maintenant […]. A la vérité, on pouvait se demander […] on avait à peu près la certitude […].“ [TO2: 77]. Im anderen Garten Aus dem Warten heraus begibt sich Anne in einen Garten, dessen binnenfik‐ tionaler Realitätsstatus wenig später von der Erzählinstanz relativiert wird, indem diese von einem „autre jardin“ spricht. Das autre ist ein erneuter Hinweis auf die Welt der Einsamkeit, in der Anne sich mehr imaginär als reell bewegt. Denn in dieser kann sie trotz ihrer extremen körperlichen Schwäche sein. Das Bild der Parallelwirklichkeit hinter dem lichterfüllten Tagesgeschehen wird als „seconde version de la réalité“ bestimmt. 32 Bezeichnenderweise scheint die sonst vornehmlich neutrale Erzählinstanz einige Probleme zu haben, die beiden Rea‐ litäten voneinander zu trennen. Mehr als in anderen Passagen von Thomas l’Obscur tritt sie hier als fragende und zweifelnde Perspektive kurzzeitig in den Vordergrund und verweist auf diese Weise umso deutlicher auf den prekären ontologischen Status der ‚zweiten Fassung der Realität‘. 33 Dies lese ich als einen Effekt der Charakteristik der Selbstähnlichkeit, die sämtliche ontologischen Hierarchien auflöst. Denn die ‚zweite Fassung der Realität‘ entspricht der zweiten Fassung des Imaginären. In dieser Fassung gelten die Gesetze und Ord‐ nungen der Welt nicht. Wenn es dort eine Logik gibt, dann die der unendlichen Umkehrung der Relationen, wie es ebenfalls ein Kennzeichen der anderen Nacht ist. Ein Hinweis auf die narratologische Umsetzung der zweiten Fassung ist die bereits im 6. Kapitel meiner Untersuchung aufgeworfene Frage der Wiederho‐ lung als Analepse oder als Analogie. Die Erzählbedingungen für tatsächliche Analepsen sind schwierig, da der Text bis auf wenige Lücken verhindert, in irgendeiner chronologischen Eindeutigkeit gelesen werden zu können. Aus diesem Grund möchte ich übergreifend von Wiedergänger-Situationen spre‐ chen, die den Text durchziehen. Der erste Ansatzpunkt einer Wiedergänger-Si‐ tuation im 9. Kapitel findet sich in der Begegnung mit dem sich nähernden Thomas, in der dieser in seiner Dunkelheit von Anne als transparent empfunden wird. Mit dem Garten, aber vor allem über den Weg, der nun zusammen mit der Sonne ins Spiel kommt, stellt das 9. Kapitel deutliche Bezüge zum 6. Kapitel her, die Effekte der Wiedererkennung, aber auch der Entfremdung bewirken und damit als strukturelle Wiedergänger die Erfahrung der Selbstähnlichkeit wie‐ derholen. Diese Ähnlichkeit ist mit einer kapitelimmanenten Verdopplung des Weges verbunden. Der Weg des 9. Kapitels teilt sich in zwei Wege, auf denen Anne gleichzeitig läuft: „Tandis qu’elle marchait difficilement dans le chemin 9. Leiche-Werden: Selbstähnlichkeit 238 <?page no="241"?> 34 TO2: 78. 35 TO2: 78-79. où à chaque pas elle devait soulever son corps, elle s’engageait, corps sans ge‐ noux, sur une route, en tous points semblable à la première, où cependant elle seule pouvait passer.“ 34 Die Besonderheit des zweiten Weges ist die Exklusivität, mit der er lediglich Anne vorbehalten ist, sowie die Art und Weise ihrer Fortbewegung, sofern Anne diesen Weg „ohne Knie“ einschlägt. Da der Weg als zweite Fassung des ersten Weges oder als zweite Fassung neben der sichtbaren Welt verläuft, kann Annes knieloser Körper als Zeichen einer weiteren Zerstückelung sowohl ihres Kör‐ pers als auch ihrer Identität gelesen werden. Zu ihrer am Anfang des Kapitels erwähnten Organlosigkeit fügt sich somit eine weitere Ebene der Zersetzung und Auflösung. Ekel Verknüpft mit diesen Entpersönlichungsprozessen ist ein tiefes Gefühl des Ekels, das sich als somatische Einschreibung abermals über eine Verdopplung in Anne eingefaltet hat und nun nach außen drängt. Über den Ekel und die Form der schwallartigen Absonderung greift das 9. Kapitel von TO 2 ein Bild des 8. Kapitels auf, an dessen Ende sich Anne als letzte Möglichkeit der Kommunika‐ tion mit Thomas von innen nach außen entleert. Der Unterschied zum voran‐ gegangenen Kapitel ist jedoch, dass Thomas keine Bedeutung mehr hat und hinter der Ausstoßung kein anderes Ziel als das der Befreiung steht. Es ist dies ein Ekel jenseits der Möglichkeit einer Verbildlichung. Da Anne sich in einer Dimension der Zeitlosigkeit der anderen Nacht befindet und diese den Tag ähn‐ lich zerstört hat wie das Imaginäre Anne, kann der Ekel unverhohlen aus ihr herausbrechen, um sie weiter von ihrer Existenz zu ‚erleichtern‘. Dans ce jour ravagé, elle pouvait confesser la répulsion et l’effroi dont nulle image ne parvenait à circonscrire l’étendue, et elle réussissait presque joyeusement à faire sortir de son ventre, larves ayant tour à tour la forme de son visage, de son squelette ou du corps tout entier, les sentiments inexprimables qui avaient attiré en elle, par l’horreur qu’il lui inspirait, le monde total des choses repoussantes et insupportables. 35 Anne befreit sich nicht nur von allen unerträglichen Dingen, sondern von der gesamten Dingwelt. Im Kontext des Leiche-Werdens als progressiver Selbst‐ ähnlichkeit stößt sie die Welt aus und zugleich sich als das Bild (im Sinne von Blanchots erster Fassung des Imaginären), zu dem sie wird, indem sie sich von ihrer Abbildfunktion bezüglich der Welt absondert. Zum zweiten Mal innerhalb 9.3 Verbotener Anblick 239 <?page no="242"?> 36 Françoise Collin formuliert dies wie folgt: „À qui se livre à l’imaginaire, tout est offert dans un royaume sans limite que ne borne aucun interdit. Tout est offert, le beau et le laid, le juste et l’injuste, le droit et le pervers. Mais tout est aussi ôté.“ [Françoise Collin: Maurice Blanchot et la question de l’écriture, Paris: Gallimard 1971, p. 180]. dieses Kapitels ereignet sich folglich eine Ausstoßung ihrer Existenz. Anders als zu Beginn des Kapitels betrifft sie jetzt den abbildhaften Bereich der Bilder in ihr und vollzieht sich bildhaft in Form von Larven, die ihrerseits ihr Gesicht, ihre Knochen bzw. ihren Gesamtkörper in sich ein-gebildet tragen. In den Larven ist ihr lebendiges Soma als Mikroorganismus gefasst, durch den ihr Organismus sich entleert. Über die Verbindung der Larven als Leichen zersetzende Orga‐ nismen wird zudem die auf den Tod folgende Verwesung des Körpers als Annes konkrete Zukunft vorweggenommen. Unendliche Einsamkeit Die Abtrennung Annes als selbstähnliches Bild, das nicht mehr mit der Welt in einem referentiellen Zusammenhang steht und doch da ist, generiert eine ab‐ solute Einsamkeit. Anne kann die sie im Garten umgebenden Objekte nicht als solche wahrnehmen. Dafür müsste sie ein Subjekt sein, doch dies ist nach der Loslösung keine Option mehr. Stattdessen erfährt sie mit den Resten einer Wahrnehmungsinstanz in allem Betrachteten die Distanz oder den Grad der Entfernung zwischen sich und der Welt, zu der sie keinen anderen Bezug mehr hat als den einer reinen topologischen Relationalität, in der sie sich in ihrer Entferntheit und Entweltlichung wahrnimmt. 36 Es gibt keine Bedeutungen in den Dingen, lediglich unterschiedliche Intensitäten von Distanz und Alterität, die sie in Anne bewirken. Denn Anne ist aufgrund der beschriebenen Prozesse jeder Möglichkeit des Identifizierens beraubt. Sie steht als larven- und leichen‐ haftes zweites Bild / Imaginäres zwischen sich und der Welt, zu der sie keinen Zugang, sondern Distanz hat. Ihre Einsamkeit ist der verstörende Ausdruck dessen, dass sie sich selbst als Nichts ähnlich wird. Anne sieht nicht die Dinge, sondern das sie Umgebende in seinem Bild-Sein, was einer Selbstwahrnehmung als Selbstähnlichkeit im Riss zwischen sich und der Umgebung gleichkommt. ‚Sie selbst‘, das ist Anne als „conscience silencieuse, fermée et désolée“, die am Ende des Kapitels ihrem letzten Leid entgegenblickt. ‚Sie selbst‘, das ist Annes nacktes Bewusstsein, das einer Entpersönlichung und Entkörperung beiwohnt, die sie am Grund ihrer Selbstähnlichkeit in das unpersönliche Imaginäre ein‐ gehen lassen. Anne erfährt als noch Existierende das Außen in sich. Noch lebt sie und in diesem Bewusstsein enthalten ist, dass ein solches rein zeitliches ‚noch‘ das einzig ihr Verbleibende ist, was sie vom anonymen Feld des Imagi‐ 9. Leiche-Werden: Selbstähnlichkeit 240 <?page no="243"?> 37 LDM: 307. 38 Kontinuität als mit dem Tod verbundener Selbstverlust und Diskontinuität als Ausdruck der endlichen Existenz werden hier im Sinne Georges Batailles verwendet. [Cf. Georges Bataille: L’Érotisme, Paris: Minuit 2011, insb. pp. 13-29]. nären trennt, in dem es keine Anne gibt, sondern einzig ‚sie‘ und schließlich auch ‚sie‘ nicht mehr. Das eigentlich Bedrohliche des Imaginären ist, dass es nicht eine jenseitige Welt oder eine besondere Zone innerhalb der Welt darstellt, die man betreten kann oder auch nicht, sondern dass es immer als Undifferenziertes, Unpersön‐ liches und Welt-an-sich da ist. „L’imaginaire n’est pas une étrange région située par-delà le monde, il est le monde même, mais le monde comme ensemble, comme tout. C’est pourquoi il n’est pas dans le monde, car il est le monde, saisi et réalisé dans son ensemble par la négation globale de toutes les réalités particulières qui s’y trouvent […].“ 37 Diese zweite Fassung des Imaginären ist wie die andere Nacht unaufhörlich da und doch nicht willentlich erfahrbar. Sie ist nichts, was vom Subjekt hervorgebracht würde, sondern etwas zutiefst Be‐ drohliches, was dem Subjekt widerfährt. Sie formt kein nachträgliches Abbild der Welt, sondern entfaltet ihr Sein als Welt des entpersonalisierten Neutralen, in der das Gesetz der Ähnlichkeit vorherrscht. Wird die andere Nacht erfahren, so wirft sie das Subjekt auf einen puren Selbstbezug der Selbstähnlichkeit zu‐ rück, der in seiner Absolutheit das erlebende Subjekt aus der Diskontinuität des Seins löst, es damit von innen wie von außen zersetzt, zum Objekt und schließ‐ lich zum Abjekt macht, indem sie es der Kontinuität des Todes nähert, in der Identität und Differenz zusammenfallen. 38 9.3 Verbotener Anblick 241 <?page no="244"?> 1 Michel Foucault: „Theatrum philosophicum“, in: id.: Dits et écrits, Bd. 2, edd. Daniel Defert, François Ewald, Paris: Gallimard 1994, pp. 75-99, hier p. 82-83. 10. Sterben Mourir ne se localise jamais dans l’épaisseur d’aucun moment, mais de sa pointe mobile partage infiniment le plus bref instant; mourir est plus petit encore que le moment de le penser; et, de part et d’autre de cette fente sans épaisseur, mourir indéfiniment se répète. Éternel présent? À condition de penser le présent sans plénitude et l’éternel sans unité: Éternité (multiple) du présent (déplacé). 1 Michel Foucault Das 10. Kapitel von TO 2 erweist sich als zentrales Nachtkapitel, in dem die Begegnung der sterbenden Anne mit der Nacht über zahlreiche Seiten ausge‐ staltet ist und schließlich im Tod endet. Es ist mit einem Umfang von 19 Seiten das zweitlängste nach dem 11. Kapitel, welches sich über 30 Seiten erstreckt. Der Grund für diese diskursive Ausdehnung liegt möglicherweise in der Annä‐ herung an den Augenblick des Todes, durch den das Erzählen in eine andere zeitliche Dauer eintritt, sich dehnt und die Schrift vervielfältigt. Dabei erweist sich, dass der Augenblick des Todes nicht ein Augenblick, sondern mehrere ewige Augenblicke ist. Annes Todeskampf, den Blanchot mit wechselnden Innen- und Außenperspektiven beschreibt, wird auch zum Todeskampf der Sprache selbst. Sie wird an die Grenze ihrer Möglichkeiten gebracht und muss sich in letzter Konsequenz als Medium der Beobachtung eines Sterbeprozesses selbst zerschreiben. Nicht nur in der Seitenzahl, sondern auch im Duktus zeigen sich Unterschiede zu den vorangegangenen Kapiteln, sofern das 10. Kapitel von TO 2 sehr viel erzählender und infolgedessen in weiten Partien leichter verständlich ist. Diese relative Leichtigkeit dient indessen lediglich als Kontrastmittel, um die Sprache in den ‚wirklichen‘ Momenten des Todes umso deutlicher in mythopoetische Strukturen kippen zu lassen, deren Metaphorik, einer immanenten Notwendig‐ keit folgend, kaum verständlich ist. <?page no="245"?> 2 TO2: 80 [Hervorhebungen von der Verfasserin]. 3 TO2: 80. 10.1 Die Anziehung der Nacht Zu Beginn des Kapitels wird Anne auf einer Bank liegend entdeckt. Wer sie entdeckt, erfährt man nicht. Es ist davon auszugehen, dass es die neutrale Er‐ zählstimme ist und keine Figur der fiktionalen Welt. Wichtig ist vor allem Annes Schlaf, der auch das Kapitel beenden wird und sich dabei in seinem gesamten metaphorischen Spektrum bis hin zum Entschlafen ausbreitet. Auch gibt der Anfang des Kapitels das entscheidende Thema des Sterbens vor, indem eine Vielzahl von Bewusstseinszuständen aufgelistet werden, die Annes Zustand be‐ schreiben sollen, sich aber dabei gegenseitig eher widersprechen und damit eine Bestimmung unmöglich machen. Quand on la découvrit étendue sur un banc du jardin, on la crut évanouie. Mais elle n’était pas évanouie, elle dormait, elle était entrée dans le sommeil par un repos plus profond que le sommeil. Désormais, sa marche vers l’inconscience fut un combat solennel où, ne cédant au frisson de l’assoupissement que blessée, déjà morte, elle défendit jusqu’au dernier instant son droit à la conscience et sa part de pensées claires. 2 Es geht um die Frage, wie lange und in welcher Weise ein Bewusstsein das eigene Sterben mitverfolgen kann und welche Gefühle und Gedanken den Todeskampf begleiten. Daran schließt die Frage der Vermittlung einer Erfahrung an, die sich eigentlich nicht mehr vermitteln lässt, doch darauf wird an späterer Stelle ein‐ gegangen. Der Auftakt entzieht in hohem Maße seinen eigenen Aussagen die Eindeu‐ tigkeit und überführt sie in den Bereich des Übergangs zwischen Bewusstem und Unbewusstem, zwischen Schlafen und Wachen sowie insbesondere zwi‐ schen Leben und Tod. Nachdem der Ausblick für das zu Erzählende gegeben ist, widmet sich die Erzählstimme Annes Verhältnis zur Nacht. So heißt es zunächst, dass es „aucune complicité entre elle et la nuit“ gebe. 3 Die nächsten Seiten zeichnen aber ganz im Gegenteil ein sogar erotisch aufgeladenes inniges Ver‐ hältnis zwischen Anne und der Nacht. Anders als in allen anderen Kapiteln von Thomas l’Obscur (eine Ausnahme hiervon mag zumindest in Teilen das 11. Ka‐ pitel von TO 2 bzw. das 14. Kapitel von TO 1 bilden) wird die Nacht positiv semantisiert und in sehr viele Dimensionen aufgefächert. Sie wird als „pleine d’espérance“, „noblement“, „belle“, „classique“, „absolue“, „personelle“ etc. be‐ zeichnet. Sie evoziert somit eine fast stereotypische, hymnisch eingeleitete ro‐ 10.1 Die Anziehung der Nacht 243 <?page no="246"?> 4 TO2: 81-82. Um die Verhandlung der romantischen Nacht wird das 11. Kapitel meiner Studie kreisen und dabei insbesondere auf Novalis Bezug nehmen. 5 TO2: 81-82. mantische Nacht, die Blanchots première nuit entspricht. 4 Im Rahmen einer sol‐ chen Verklärung der Nacht wird diese personifiziert und als verführerische dunkle Kraft dargestellt: La nuit agissait noblement avec Anne, et c’est avec les armes mêmes de la jeune fille, la pureté, la confiance, la paix, qu’elle acceptait de la combattre. Il était doux, infiniment doux, de sentir autour de soi, à un moment de si grande faiblesse, un monde à ce point dénué d’artifice et de perfidie. Que cette nuit était belle, et non pas douce, nuit classique que la peur ne rendait pas opaque, qui chassait les fantômes, qui effaçait également la fausse beauté du monde. Tout ce qu’Anne aimait encore, le silence et la solitude, s’appelait la nuit. Tout ce qu’Anne détestait, le silence et la solitude, s’appelait aussi la nuit. Nuit absolue où il n’y avait plus de termes contradictoires, où ceux qui souffraient étaient heureux, où le blanc trouvait avec le noir une substance commune. Et nuit pourtant sans confusion, sans monstre, devant laquelle, sans fermer les yeux, elle trouvait la nuit personnelle que lui faisaient habituellement, en se baissant, ses paupières. En pleine conscience, en pleine clarté, elle sentait sa nuit s’ajouter à la nuit. Elle se découvrait dans cette grande nuit extérieure au plus intime d’elle-même […]. 5 Die Verführungskunst der Nacht ist eine weibliche. Sie wird als alles aufneh‐ mender Raum der Klarheit dargestellt, in dem Gegensätze zur Indifferenz in der Einheit werden. Die Nacht überschreibt mit ihrem Sein Annes Gefühlswelt und macht sie zu einer nächtlichen, d. h. zu einer, in der die Koexistenz gegensätzli‐ cher Emotionen und Gedanken ein süßliches Paarungsgeschehen bildet. In der Vereinigung von Annes persönlicher und totaler Nacht hebt sich die Opposition von Innen und Außen auf. Annes Bewusstsein, das diese Prozesse zu reflektieren vermag, bleibt jedoch intakt. Mit diesem Bewusstsein schläft sie, wie es im Text heißt, abermals ein. Doch dies ist erstaunlich, da es zuvor keinen Hinweis auf ein Aufwachen im Text gibt, sodass es sich um ein Einschlafen im Einschlafen handeln muss. Dabei wurde das Einschlafen selbst bereits zu Beginn des Kapitels als komplexes Bewusstseinsgeschehen dargestellt. Es entspricht aber umso mehr der Performativität eines sterbenden Bewusstseins, das sich in Bereichen bewegt, die nicht den Regeln des Tages folgen, da sie bereits Effekte der Ver‐ schmelzung mit der Nacht sind. Wenngleich die Vereinigung mit der Nacht erst später erzählt wird, ist sie schon vorher präsent und entlässt Anne nicht mehr. In solcher Harmonie, die sich über den Zeitraum einiger Tage erstreckt, erlebt Anne den Todeskampf zunächst von seiner ‚angenehmen‘ Seite. Jedoch ist in ihr ebenso ein Warten auf die bevorstehende Ankunft des Todes, der die Gestalt 10. Sterben 244 <?page no="247"?> 6 TO2: 83. 7 TO2: 83. 8 TO2: 85. der anderen Nacht annimmt, wenn es heißt: „Elle attendit que ce qui ne pouvait être ni un jour ni une nuit commençât.“ 6 Dieses vordergründig unmögliche Er‐ eignis kündigt sich im weiteren Textverlauf immer wieder an, scheint stattzu‐ haben und verschiebt sich dabei ein um das andere Mal. Während Anne zu Be‐ ginn von der Hymne der Abenddämmerung in die Nacht gelockt wird, wird sie nun von einer Pendelbewegung erfasst, in der sie zwischen zwei Existenzformen hin und her schaukelt. Sie oszilliert, wie schon im 9. Kapitel, zwischen zwei Welten, die mit einer Aufstiegs-und Abstiegsmetaphorik kombiniert werden. Doch stellt dies für Anne keine großen Erkenntnisprobleme dar. Sie gleitet in die Himmelssphäre und betrachtet aus dieser Potentialität ihr irdisches Dasein. Damit verweist der Text auf Vorstellungen des Zwischenzustandes zwischen Leben und Tod, der unter anderem auch die partielle Loslösung der Seele vom Körper bedeutet, wie es beispielsweise aus Berichten von Nahtoderlebnissen bekannt ist. Doch so einfach bleibt es nicht. Anne wird aus diesem „instant trop brillant“ durch den einer unbekannten Stimme der Finsternis entspringenden Imperativ „Va“ herausgeworfen. 7 Dieser Sprechakt evoziert eine Veränderung des Erzählfokus. Zumindest für den Zeitraum von zwei Sätzen wird eine Au‐ ßenperspektive eingenommen, die komprimiert verdeutlicht, dass es keine Hoffnung mehr für Annes Genesung gibt. Mit dem erneuten Wechsel in die Beobachtung der somatischen wie gedanklichen Prozesse Annes bahnt sich abermals ein Augenblick des Todes an. 10.2 Sich Hin-Geben In einem Loslassen aller Gedanken vollzieht Anne nun eine umfassende Ent‐ leerung ihres Seins. Diese unterscheidet sich durch ihre Selbstbestimmtheit we‐ sentlich von der mit Ekel besetzten Verwerfung des 8. und 9. Kapitels. In diese Befreiung von ihrer Existenz jedoch bricht die Realität des Somatischen wie die der Zeit. Sie bringen die Empfindungen in Anne zurück und verweisen auf den Rest Leben, der noch in ihr ist und sich schreiend und erstickend als „tonnerre des sensations“ Raum verschafft. 8 Trotz der Nacht und ihrer Differenzen ein‐ ebnenden Kraft wird sich Anne der Distanz zwischen sich und der Welt be‐ wusst - und diese Distanz wird im Text bis ins Detail ausbuchstabiert und damit einhergehend vermessen. Nicht nur werden ihr echte, d. h. sterbliche, Blumen vorenthalten, auch scheint keine Sonne in Annes Zimmer hinein; es scheint 10.2 Sich Hin-Geben 245 <?page no="248"?> 9 Cf. TO2: 85-86. 10 TO2: 89. 11 Cf. TO2: 90. 12 TO2: 90-92. Winter zu sein; Kinder in all ihrer Heiterkeit halten sich überall, jedoch nicht in Annes Umgebung auf; die Kommunikation wird zu Annes Schonung unter‐ bunden und dergleichen mehr. 9 Höchste Verdichtung findet diese aufgezwun‐ gene Isolation im Bild einer Wand, die zwischen Anne und der Welt verläuft und die in erster Linie ein Problem des Ausdrucks bedeutet. Anne erkennt, dass sie ihren letzten Kampf in der Perspektive der anderen nicht in angemessener Weise austrägt. Denn scheinbar werden mehr Dramatik und intensivere Emotionen verlangt, um als Sterbende in der Umwelt Anerkennung und Verständnis zu finden. Die ironische Brechung dieser Beschreibungen ist sehr deutlich: „De telles scènes la frappèrent et elle comprit qu’à un agonisant l’on ne demande pas la retenue, ni la délicatesse, sentiments qui conviennent aux civilisations en bonne santé, mais la grossièreté et la frénésie.“ 10 Doch als Anne diesen Grund für die Missverständnisse zwischen sich und den gesunden Menschen erkennt, kann sie den intendierten Schrei, der ein vermeintlich angemessener Ausdruck ihrer Situation wäre, nicht mehr von sich geben. Denn sie befindet sich bereits in einer Phase der Entpersönlichung, in der die Disjunktion zwischen Körper und Denken so weit fortgeschritten ist, dass sich die gedanklichen Intentionen nicht mehr in entsprechende physische Handlungen übersetzen lassen. So ver‐ sucht Anne, einen Ausdruck ohne Ausdruck zu produzieren, der folglich kei‐ nerlei äußere Wirkung zeitigt. Ihr letztes Mittel ist, alle Kraft in den Blick zu lenken, der zum Medium der empfangenden wie mitgeteilten Emotionen wird. 11 Über die Isotopie der Härte wird eine sich ankündigende Leichenstarre aufge‐ rufen und der nächste Moment des Todes als Akt der Selbstaufgabe und der vollständigen Hingabe vorbereitet: [S]on corps atteignait l’idéal d’égoïsme qui est l’idéal de tout corps: il était le plus dur au moment de devenir le plus faible, corps qui ne criait pas sous les coups, […] se faisait, au prix de la beauté, l’égal d’une statue. Cette dureté pesa terriblement sur Anne; elle ressentit comme un vide immense l’absence en elle de tout sentiment, et l’angoisse l’étreignit. […] A ceux qui pleuraient sur elle, froide et inconsciente, elle rendait au centuple ce qu’ils lui avaient donné, en leur consacrant le pressentiment de sa mort, sa mort […]. Pour la première fois, elle élevait à leur signification véritable les mots se donner: elle donnait Anne, elle donnait beaucoup plus que la vie d’Anne, elle donnait, don ultime, la mort d’Anne […]. 12 10. Sterben 246 <?page no="249"?> 13 Jacques Derrida: La fausse monnaie - Donner le temps I, Paris: Galilée 1991. 14 Kathrin Busch schlägt in Geschicktes Geben - Aporien der Gabe bei Jacques Derrida vor, zwischen der transzendentalen Gabe und dem empirischen Geben zu unterscheiden. [Cf. Kathrin Busch: Geschicktes Geben - Aporien der Gabe bei Jacques Derrida, in: Bern‐ hard Waldenfels ed.: Phänomenologische Untersuchungen, Bd. 18, München: Fink 2004, p. 67]. 15 Jacques Derrida 1991: 26 [Hervorhebung im Originaltext]. 16 Ibid., p. 28. 17 Man beachte die Parallele zur Seinsvergessenheit bei Heidegger. 18 „[P]as de don sans la venue d’un événement, pas d’événement sans la surprise d’un don.“ [Ibid., p. 152]. Wie schon zuvor ist es auch hier ein Bild des Erstickens, über das Annes To‐ deskampf zu einem Höhepunkt findet. Scheinbar als Resultat eines Versiegens der Lebenskräfte, die den Körper nicht mehr durchströmen, wird dieser zuneh‐ mend gefühlloser und härter. Anne entdeckt die Möglichkeit der ‚äußersten‘ (ultime) Gabe, zu der es keine Gegengabe geben kann und die sie als solche aus dem Gabenzyklus heraustreten lässt. Es ist dies eine Gabe, wie Derrida sie gegen das Gabenkonzept des Ethnologen Marcel Mauss liest, wenn er in La fausse monnaie - Donner le temps I die Gabe streng von Formen des Tausches, der Rückerstattung und der Gegenseitigkeit abgrenzt. 13 Dabei verortet Derrida die Gabe in der Möglichkeit und Ereignis‐ haftigkeit des Gebens und unterscheidet grundlegend zwischen einer bedingten Gabe und einer diese bedingenden Gabe, einer Möglichkeit der Gabe über‐ haupt. 14 Er formuliert dies wie folgt: Pour qu’il y ait don, il faut que le donataire ne rende pas, n’amortisse pas, ne rembourse pas, ne s’acquitte pas, n’entre pas dans le contrat, n’ait jamais contracté de dette. […] Il faut, à la limite, qu’il ne reconnaisse pas le don comme don. 15 Sobald die Gabe als Gabe wahrgenommen wird, zerstört sie sich selbst. Auch eine „économie de l’inconscient“ würde die Zerstörung nur kurzfristig verde‐ cken und verschieben, denn „à travers l’oubli, la non-garde, la non-conscience appelés par le don se reconstitueraient la dette et le symbolique pour le sujet de l’Inconscient ou le sujet de l’inconscient.“ 16 Die Gabe braucht ein vollständiges Vergessen, das alles auslöscht, sich selbst vergisst und dennoch eine Spur hin‐ terlässt, also nicht einfach nichts ist. 17 Diese Spur bezeichnet Derrida als ein Ereignis der Gabe, 18 wobei das radikale Vergessen zur Bedingung und Seinsweise der Gabe wird und die Gabe im Gegenzug zur Bedingung und Seinsweise des Vergessens. Dies betrifft zentral ein Vergessen jeder Subjektivität. Auf diese Weise geht Derrida mit seinem Konzept des Ereignisses vor das Sub‐ jekt-Objekt-Verhältnis zurück und löst sozusagen die Gabe vom gebenden Sub‐ 10.2 Sich Hin-Geben 247 <?page no="250"?> 19 Cf. ibid., p. 60. 20 Ibid., p. 18 [Hervorhebung im Originaltext]. 21 Cf. ibid., p. 56. 22 Cf. ibid. jekt. Es handelt sich folglich nicht mehr um ein Subjekt, welches gibt, sondern um eine Gabe, die dem Subjekt als Gegebenes und ohne einen Absender wider‐ fährt. 19 Die Abkopplung der Gabe ist wesentlich durch das Prinzip des Auf‐ schubs, verstanden als Zeit-Geben, markiert. Dabei bedeutet dieses Zeitgeben das Durchbrechen einer zyklischen Ökonomie des Tausches, in die die Gabe als radikale Zeitlichkeit einbricht. On ne peut traiter du don sans traiter de ce rapport à l’économie, cela va de soi, voire à l’économie monétaire. Mais le don, s’il y en a, n’est-ce pas aussi cela même qui interrompt l’économie? […] S’il y a don, le donné du don […] ne doit pas revenir au donnant […]. 20 Derrida betont damit die Irreziprozität der Gabe, insofern sie weder sich noch andere binden bzw. verpflichten darf. Die Gabe ist etwas notwendig Einseitiges und Asymmetrisches. Paradigmatisch sieht Derrida dies in Marcel Mauss’ Be‐ obachtungen zum Potlatsch verdeutlicht. Als ihn im Wesentlichen konstituie‐ rend bestimmt Derrida das Moment des Exzessiven. 21 Für Derrida ist dieses Ex‐ zessive des Potlatschs jedoch kein Akzidens, sondern es beschreibt die Gabe gerade in ihrem Kern, da sie nicht geplant, gemäßigt oder auf irgendeine Form von (symbolischer) Gegengabe ausgerichtet sein darf. 22 Die Verausgabung und ein Überschuss, der über alle Tauschgeschäfte hinausweist, gehören folglich ganz grundlegend zur Gabe und bilden keine Sonderformen derselben. Dies ist nun die Struktur der sterbenden, exzessiven Hingabe Annes. Annes Gabe ist ohne die Gaben vernichtende Gegengabe möglich, weil es zwischen ihr und den Nicht-Sterbenden keinen Austausch mehr gibt. Sie hat dadurch die Freiheit, sich als reine Gabe von sich zu befreien. Sich vollständig hinzugeben heißt auch ihren Tod hinzugeben und damit weniger zu werden als der Tod. Diskursiv vollzieht sich diese Verausgabung als Klimax des Gebens mit dem Höhepunkt in der Gabe (le don) des Todes. Indem Anne sich so weit als möglich verausgabt, bleibt ihr so wenig Existenz, dass sie nicht mehr über ihr Gegenteil, die Nicht-Existenz, verneint werden und (abermals) in den Todeskampf treten kann. Die Stärke, die Anne dafür benötigt, ist die Freigebigkeit ihrer Selbsthingabe, auf die keine Gegengabe erfolgen kann und darf. Der von ihr verbleibende Rest ist die sie vom Ende trenndende Zeit - die Zeit ist das Einzige, was zu geben sie nicht (mehr) vermag. Es gibt für Anne allein die unbestimmte Zeit, die es zum Sterben braucht. In Form einer Hingabe 10. Sterben 248 <?page no="251"?> 23 TO2: 93. 24 Zu den Begriffen des Glatten und Gekerbten siehe Deleuze / Guattari 1980. an die durée des Sterbens entäußert sich Anne an die nicht mehr messbare Zeit. Dieser „dernier combat“ weist jedoch in seiner Mythopoetik signifikante Diffe‐ renzen zu den bisherigen Formen des Todeskampfes auf, wie ich im Folgenden zu zeigen versuche. 10.3 Das Unsagbare sagen Über zweieinhalb Seiten breitet sich der Versuch der Wiedergabe mehrerer auf‐ einander folgender Augenblicke dessen aus, was vorher als „Todeskampf “ be‐ zeichnet wurde. Anne durchlebt eine Reise zum Ursprung, dessen sprachliche Erfassbarkeit in ihrem Scheitern diskursiv markiert wird. Dabei arbeitet der Text gerade entgegengesetzt zu einem Wurzeldenken, indem er sich rhizomatisch durch mythopoetische Schichten hindurch windet und nicht nur Mimesis, son‐ dern auch Repräsentation verunmöglicht. Die Ankunft am Ursprung der Welt wird auf diese Weise gleichzeitig bildlich evoziert und diskursiv zersetzt. Dies bedeutet unter anderem, dass der Text sich in dem Maße mit Regressbewe‐ gungen seiner Ausdrucksfähigkeit zerschreibt, wie er progrediert, um solcherart auf die Unmöglichkeit einer Linearität und Darstellbarkeit des Todes hinzu‐ weisen. Dies lässt sich an den beiden Bildern des Meeres und der Stadt zeigen, deren Wiederkehr den Gesamttext von Thomas l’Obscur strukturiert. Stadt wie Meer werden aufgerufen und sofort wieder überschrieben: „Durant les instants qui suivirent, une étrange cité s’éleva autour d’Anne. Elle ne ressemblait pas à une ville. Il n’y avait là ni maison, ni palais, ni construction d’aucune sorte; c’était plutôt une immense mer, bien que les eaux en fussent invisibles et le rivage évanoui.“ 23 Durch die Erwähnung einer Stadt oder von etwas Stadtartigem ent‐ steht unweigerlich ein Bild im Bewusstsein. Indem aber sogleich dieser Stadt - welche Vorstellungen die Signifikantenkette ‚cité‘ auch immer hervorgerufen haben mag - alle Eigenschaften wieder entzogen werden, wird das evozierte Bild als fiktional-sprachliche Setzung ausgestellt und in seiner Wahrnehmbar‐ keit zerstört. Die Stadt wird ihrer Vertikalität beraubt und in die Fläche über‐ führt. Aus der Stadt entsteht das Meer als nächstes textuelles Angebot einer räumlichen Verortung. Doch die Transformation des Gekerbten ins Glatte hat ebenso wenig Bestand. 24 Dem riesigen Meer fehlen zwei essentielle Aspekte: das Wasser und die Ufer. Sowohl das Wasser wie auch die Ufer sind indessen nicht einfach abwesend, sondern unsichtbar bzw. verschwunden. Das ist entschei‐ 10.3 Das Unsagbare sagen 249 <?page no="252"?> 25 TO2: 93-94. dend, denn ihre Abwesenheit ist als Spur einer vorzustellenden ehemaligen An‐ wesenheit da, wodurch das Bild dieses Meeres und der dahinter liegenden Stadt / Nicht-Stadt im Zwischenreich von ‚da‘ und ‚nicht-da‘ gehalten wird. Durch Setzungen, die ihrer repräsentationslogischen Sinnhaftigkeit beraubt werden, wird der Tod in den Text eingeholt, um mit den Mitteln der Sprache die Sprachlogik in ihrer Repräsentation zu unterhöhlen. Ist dies bereits eine bewusste Herausforderung der Vorstellbarkeit, überbieten die nächsten beiden Sätze sie auch in ihrer syntaktischen Struktur. Sie benennen zum einen die Nicht-Darstellbarkeit des Beobachteten, zum anderen gelangt die Beobachtung in einen Bereich, von wo aus sie nur noch ihr Misslingen aussagen kann: Dans cette ville, établie loin de toutes choses, triste et dernier rêve égaré au milieu des ténèbres, tandis que le jour baissait, que s’élevaient doucement les sanglots, dans les perspectives d’un étrange horizon, comme quelque chose qui ne pouvait pas se représenter, non plus être humain, mais seulement être, merveilleusement être, parmi les éphémères et les soleils déclinants, avec les atomes agonisants, les espèces condamnées, les maladies blessées, Anne remontait le cours des eaux où se débattaient d’obscurs germes. Où elle parvint, elle n’eut, hélas! nul moyen de le savoir, mais alors que se confondaient dans une morne et vague inconscience les échos prolongés de cette énorme nuit, cherchant et gémissant par une plainte qui ressemblait à la tragique destruction de quelque chose de non-vivant, des entités vides s’éveillèrent et, comme des monstres changeant incessamment leur absence de forme contre d’autres absences de forme et domptant le silence par de terribles réminiscences de silence, ils sortirent dans une mystérieuse agonie. 25 Die Stadt, deren Präsenz auf die eben gezeigte Weise mehrfach hinterfragt wurde, wird in ihrer Undarstellbarkeit erneut aufgerufen und als etwas benannt, was „fern aller Dinge“ ist. In einem groß angelegten Hyperbaton - zwischen die Stadt und Anne gesetzt - wird der grundlose Boden ausgebreitet, auf dem Annes Aufstieg entlang der Wasserläufe stattfindet. Das Hyperbaton beinhaltet, auch wenn dieses Substantiv hier sicher nicht angemessen ist, eine weitere Beschrei‐ bung der Stadt, die über einen Vergleich selbstreferentiell auf ihre Nicht-Reprä‐ sentierbarkeit hindeutet. Damit wird auf einen Bereich des Seins verwiesen, der sich dem Repräsentieren entzieht. Dort gibt es „Eintagsfliegen“, „untergehende Sonnen“, „mit dem Tode ringende Atome“, „verurteilte Gattungen“ und „ver‐ letzte Krankheiten“. So disparat diese Zusammenstellung klingen mag, ver‐ bindet die genannten Elemente der in sie eingeschriebene und direkt bevorste‐ 10. Sterben 250 <?page no="253"?> 26 Auf die umgekehrte Kosmogenese wird das 12. Kapitel meiner Untersuchung genauer eingehen. 27 TO2: 94. hende Tod. Darüber erklärt sich auch, warum Anne inmitten dieser Formen reinen Seins die Wasserläufe entgegen ihren Fließrichtungen nach oben zu den Quellen hinaufsteigt. Wie diese besitzt Anne nur noch einen letzten Rest ihrer Endlichkeit, der ihre Bewegung einer umgekehrten Kosmogenese umso stärker begründet. Sie muss diesen Rück-Weg zurücklegen, der sie nicht zu einer, son‐ dern zu mehreren Quellen führt. Auch hier wird so der Ursprung als eine alles erzeugende Quelle durchgestrichen. 26 Des Weiteren zeigt sich die Erzählinstanz zu Beginn des zweiten zitierten Satzes über den Ausruf „hélas! “, der als ironische Brechung auf die Unzulänglichkeit des Wissens an diesem Ort hinweist. Die Grenze des Erkennens wird zur Grenze der Repräsentation. Dennoch setzt sich der Satz fort und findet in den „échos prolongées de cette énorme nuit“ eine Spur, die weiter verfolgbar ist. Die andere Nacht und der Tod mögen dem Erkennen entzogen sein, erfahrbar hingegen sind die verschwin‐ denden Spuren bzw. Klangstrukturen der Vernichtung, die in den sich ersetz‐ enden Entitäten der Abwesenheit von Form fortgesetzt werden. Hinter den Echos befindet sich in einer Art umgekehrten Platonismus nicht die Wahrheit als lichterfüllte Uridee, sondern die andere Nacht, deren tiefste Wahrheit der Tod ist. In seiner Selbstproblematisierung des Erkennens und Repräsentierens wird der Text nun ganz direkt: Ce qu’étaient ces formes, êtres, entités funestes, cela ne saurait être dit, car, pour nous, au sein du jour quelque chose peut-il apparaître qui ne serait pas le jour, quelque chose qui dans une atmosphère de lumière et de limpidité représenterait le frisson d’effroi d’où le jour est sorti? Mais eux, insidieusement, se firent reconnaître, au seuil de l’irrémédiable, comme les lois obscures appelées à disparaître avec Anne. 27 Wie nirgends sonst in Thomas l’Obscur gibt sich die Erzählinstanz in Form des „nous“ für einen Moment zu erkennen. Sie scheint an den Grenzen ihrer Fähig‐ keit der Enthaltung und Neutralität angekommen - die Ausrufe zuvor deuten dies bereits an - und setzt sich und die Leser in ein dichotomes Verhältnis zu den Entitäten des Dunklen (eux), zwischen denen Anne sich bewegt. Die Er‐ zählstimme - hier könnte man sogar von einem Erzähler sprechen - hinterfragt die Möglichkeiten des Nicht-Repräsentierbaren in der Sprache. Die Frage, ob etwas außerhalb der Ordnung des Tages gleichwohl in der Ordnung des Tages erscheinen kann, ist die Frage nach dem Erscheinen der ‚autre‘ nuit. Sie ist das Grauen, wovon sich der Tag zu befreien versucht hat, das aber dennoch inmitten des Tages in diesen einbricht. Innerhalb des Tages, sprich innerhalb des logi‐ 10.3 Das Unsagbare sagen 251 <?page no="254"?> 28 TO2: 94-95. schen Denkens, können die Entitäten der Nacht nicht identifiziert werden, da sie den Gesetzen der anderen Nacht folgen. Sie entziehen sich dem Erkennen, Wissen und Repräsentieren. Jedoch können sie sich im Verschwinden enthüllen, wie es der weitere Textverlauf demonstriert, indem er von der Ebene der Re‐ präsentation auf die Ebene des Performativen schwenkt und die dunklen Ge‐ setze durch den Zufall ersetzt. So geht Blanchot mittels der Sprache hinter die Repräsentation zurück in eine Schicht der Sprache, in der es keine inhaltlich-lo‐ gische Gesetzmäßigkeit mehr gibt. Dennoch wird auch hier der Pfad der gram‐ matikalischen und syntaktischen Korrektheit nicht verlassen. Das Erzählen zeigt sich zwar notgedrungen von seinen Beobachtungen affiziert, was sich z. B. in den überlangen, hypotaktisch wuchernden Sätzen zeigt, jedoch nicht in seiner innersten Struktur zerstört. Eine Begründung hierfür könnte in der Sprechinstanz liegen, die offenbar gerade hier umso stärker als äußerliche ge‐ setzt wird und damit den Kontrast im Sinne eines notwendigen Kampfes zwi‐ schen dem Außen und den Formungen der Innerlichkeit (zu denen die Äußer‐ lichkeiten gehören) umso deutlicher hervorhebt. Que résulta-t-il de cette révélation? On eût dit que tout était détruit, mais que tout aussi recommençait. Le temps, sortant de ses lacs, la fit rouler dans un passé immense et, quoiqu’elle ne pût tout à fait quitter l’espace où elle respirait encore, l’attira jusqu’à d’insondables vallées où le monde semblait revenu au moment de sa création. La vie d’Anne - et ce mot même résonnait dans ce milieu où il n’y avait pas de vie comme un défi - participa au premier rayon jeté de toute éternité au milieu des notions indolentes. […] Le caprice, qui échafaudait l’infinité de ses combinaisons pour conjurer le vide, la saisit […]. 28 Die Enthüllung der dunklen Gesetze jenseits der Repräsentation macht nichts einfach verstandesmäßig Erschließbares erkennbar. Der Versuch der Vermitt‐ lung der Erfahrung resultiert in der Koexistenz zweier sich ausschließender Ge‐ gensätze von absolutem Anfang und absolutem Ende. Eine solche Gleichzeitig‐ keit muss denkerisch in ein Weder-noch oder in ein Sowohl-als-auch überführt werden, wenngleich der Ausdruck „on eût dit“ erahnen lässt, dass beides nicht das eigentliche Ereignis bezeichnen kann. Mit der Zeit, die die Seen (lacs) ver‐ lässt, wird eine Evolution des Lebens evoziert, die den Übergang des Lebens im Wasser über die Amphibien zu den Landlebewesen als Vorstufen des Mensch‐ lichen poetisch versprachlicht. Anne hat über die Vergangenheit Teil an dieser Entwicklung, die ihr ihre Vergänglichkeit umso deutlicher macht. Partiell noch in der Sphäre des Irdischen verbleibend, treibt sie die Urzeit weiter in ihren 10. Sterben 252 <?page no="255"?> 29 TO2: 95-96. 30 TO2: 96. Anfang der ungeformten Vorstellungen hinein. Anne wird nach den Gesetzmä‐ ßigkeiten des Zufalls, die sich per definitionem jeder menschlichen Vorherseh‐ barkeit entziehen, in ungeheuerliche Transformationen geworfen, die gemäß den Regeln des Zufalls in dem Moment ebenso abrupt wieder aufhören, wo sich ein nicht zu erwartendes Ereignis in sie drängt: Tout à coup - et jamais rien ne fut plus brusque - les échecs du hasard prirent fin, et ce qui ne pouvait d’aucune façon être attendu reçut d’une main mystérieuse sa réussite. Moment incroyable où elle réapparut sous sa propre forme, mais instant maudit, car cette combinaison unique, entrevue dans un éclair, se dissipa dans un éclair, et les lois inébranlables que nul naufrage n’avait encore pu submerger furent brisées, cédant le pas à un caprice illimité. 29 Das Ereignis von Annes Rückkehr in ihre eigene Form, das im nächsten Satz auch als Ereignis (événement) betitelt wird, erscheint als a-zentrische Gabe, die ebenso augenblicklich wieder verschwindet, wie sie sich ereignet. Anne kann keine Anwesenheit mehr erlangen, da sie mit den Resten ihrer Existenz ganz den Gesetzen der Kontingenz unterworfen ist. Dieser Moment eines ereignis‐ losen Ereignisses, der von außen nicht sichtbar ist, (wie im weiteren Textverlauf durch den Perspektivwechsel in die binnenfiktionale Welt deutlich wird) scheint den wichtigsten Augenblick des Todes zu bezeichnen. Dieser findet ungesehen unterhalb der Beobachtungen des Arztes statt. Der Wechsel der Perspektive bzw. die Parallelführung einer Außenperspektive zur Welt des Todes in und um Anne ist ein Effekt des beobachteten Mikroereignisses im Innersten auf der Ebene des discours. Dort, wo die Zufälle das momenthafte Eintreten des Ereignisses be‐ stimmen, wird aus der Erkenntnis der tiefsten Zusammenhänge hinter den eher‐ nen Weltgesetzen ein Heraustreten aus einer sich womöglich bildenden Vor‐ stellung von Innerlichkeit perspektivisch erzwungen: Le médecin se pencha et crut qu’elle mourait selon les lois de la mort, ne voyant pas qu’elle était déjà parvenue à l’instant où en elle les lois mouraient. Elle eut un mouvement imperceptible, personne ne comprit qu’elle se débattait dans l’instant où la mort, détruisant tout, pouvait aussi détruire la possibilité de l’anéantissement. Seule elle vit approcher le moment du miracle et elle ne reçut aucune aide. 30 Die Außensicht entspricht dem, was die Lebenden erkennen können, wenn sie den Sterbenden anblicken. In der soeben zitierten Passage driften die Außen‐ perspektive auf den Akt des Sterbens und die (sprachlich parallel dazu konstru‐ 10.3 Das Unsagbare sagen 253 <?page no="256"?> 31 Cf. TO2: 96-97. ierte) Innensicht weit auseinander. Die Einsamkeit und eigentliche Ausgesetzt‐ heit an den Tod isoliert den Sterbenden von den Gesetzen der Welt, die im Reich der Gesetze des Todes jede Bedeutung verlieren. Niemand kann in diesen letzten Momenten des Sterbens helfen. Dieser ausschließenden und ausschließlichen Erfahrung, die den sterbenden Menschen auf einen einsamen Pfad schickt, kon‐ trastieren die nächsten Sätze mit vermeintlich hilfreichen Äußerungen, die al‐ lesamt topisch den Übergang in den Tod beschreiben und als Zitate in den Text eingefügt sind. 31 Doch der Tod entzieht sich den Konventionen und Übergangs‐ riten, die durch die Anführungszeichen in ihrer Aufgesetztheit ausgestellt er‐ scheinen. Sie entspringen der Logik des Tages und des Lebens, wodurch sie im Moment des Todes völlig unbrauchbar werden. Sofern sie vollzogen würden, fänden sie zur falschen Zeit statt, da die inneren Prozesse des Sterbens und die äußere Erscheinung des Sterbenden nicht kongruent sind. 10.4 Todesfalle: Eurydike und der Blick zurück Dennoch öffnet Anne zum letzten Mal die Augen. Dieser letzte Blick in die Welt wird im Text als Falle konzipiert. Obgleich sie sich schon des Todes sicher glaubte, muss sie nach allen Todesmomenten erkennen, dass sie immer noch nicht endgültig den letzten Augenblick des Todes erreicht hat. Ihr Blick ist mit dem Mythos der Rückkehr Eurydikes aus der Unterwelt verknüpft. Auf diesen Mythos rekurriert Blanchot in zahlreichen Schriften, darunter innerhalb von L’espace littéraire in Form des Kapitels „Le regard d’Orphée“ (1953). Orpheus, der seine geliebte Eurydike nur unter der Bedingung aus dem Totenreich zu‐ rückholen darf, dass er ihr voranschreitend sich nicht nach ihr umsieht, übertritt dieses Gesetz und verliert Eurydike für immer. Der Grund seiner Transgression liegt in der Aporie seines Begehrens begründet. Dasselbe Begehren, das ihn zwingt, in die Unterwelt zu schreiten, bringt ihn schließlich auch dazu, sich umzudrehen und Eurydike auf ewig der Nacht zu überlassen. Es ist der Blick in die andere Nacht, den er trotz des Verbots versucht und der Eurydikes Form zerstört. Denn diese gehört der Nacht und dem Unbegreiflichen an. Gleichzeitig lässt sie in ihm jedoch die künstlerische Inspiration wieder auferstehen, deren unerreichbares Ziel es ist, sich dem Undarstellbaren anzunähern, ohne es jemals erreichen zu können. Die andere Nacht lässt sich momenthaft erfahren (im kurzen Augenblick des Umdrehens von Orpheus und in seinem Blick auf Eurydike). Sie kann jedoch nicht in die Ordnung des logos, d. h. in die Darstell‐ 10. Sterben 254 <?page no="257"?> 32 Leslie Hill bezeichnet wie Christophe Bident Anne als die Eurydike der Erzählung. [Cf. Hill 1997: 61]. 33 TO2: 97. 34 TO2: 97-98. barkeit des Tages übertragen werden, da dieses Sichtbare auf der Bedingung des Rückzugs von Unsichtbarem beruht. Letzteres kann nicht als solches, sondern nur in der Bewegung des Verschwindens gesehen werden. Wenn Anne nun mit Eurydike verglichen wird, 32 geht der Vergleich über den Mythos hinaus. Annes letzter Augen-Blick wird verschränkt mit der Rückkehr Eurydikes, einer Eurydike folglich, die nicht unter Orpheus’ Blick in die Toten‐ welt der anderen Nacht zurückgesunken wäre, sondern stattdessen noch einen letzten Blick auf die sichtbare Welt geworfen hätte: „Anne maintenant ouvrait les yeux. […] Ce moment de suprême distraction, ce piège où ceux qui ont déjà presque vaincu la mort, tombent, en regardant, suprême retour d’Eurydice, une dernière fois vers ce qui se voit, Anne aussi venait d’y tomber.“ 33 Die Rückkehr in die sichtbare Welt ist nicht erstrebenswert, wenn man wie Anne / Eurydike bereits Teil einer anderen, intermundialen Ordnung ist. Es ist eine Rückkehr ohne Bestand. Sie dient in Annes Fall dazu, den letzten gesellschaftlichen Pflichten einer Sterbenden durch Befolgung geregelter Abschiedsriten nachzu‐ kommen. Dies wird wiederum als etwas, was weitestgehend an den ‚Interessen‘ des Sterbenden vorbeigeht, ironisch gebrochen. Gott, der von Blanchot während aller anderen Augenblicke des Todes nicht ein einziges Mal erwähnt wurde, tritt auch hier nur als beiläufige Floskel auf: Voilà en effet sa chambre, en effet voilà sa mère, son amie Louise, voilà Thomas. Mon Dieu, c’était bien cela. […] Il fallait absolument que sa mort eût l’air d’un adieu solennel, que chacun reçût sa pression de main, son sourire. […] Tout ce qu’il fallait faire, elle le faisait. Comme chaque mourant, elle s’en allait en observant les rites, en pardonnant à ses ennemis, en aimant ses amis, secret que personne ne livre, que tout cela déjà insignifiant. 34 Lokaldeiktisch wird ein letztes Mal die nächste Umgebung benannt. Anne scheint aber nur mehr eine ihr zugeteilte Rollte zu spielen, die für die Hinter‐ bliebenen eingenommen werden muss, um das Geheimnis des Sterbens nicht zu verraten. Das Geheimnis, so könnte man folgern, ist die Existenz von zwei Formen des Todes, eines sichtbaren und eines unsichtbaren. Doch diese Existenz als Koexistenz wird jeder Mensch erst erkennen und erfahren, wenn der Zeit‐ punkt für ihn gekommen ist. Der Moment des Todes, in dem das Sterben aufhört und der Tod da ist, findet sich an das Ende des Kapitels gesetzt und bildet konsequenterweise dessen 10.4 Todesfalle: Eurydike und der Blick zurück 255 <?page no="258"?> 35 TO2: 98. In „La littérature et l’expérience originelle“, zunächst 1952 in zwei Teilen in „Les Temps Modernes“ veröffentlicht und dann 1955 als letztes Kapitel von L’espace littéraire aufgenommen, kommt Blanchot auf die Notion „à quoi bon“ im Kontext der Zeit der Kunst und der anderen Nacht erneut zu sprechen: „Le temps de l’art est le temps en deça du temps, […] que l’œuvre, dans la détresse de l’À quoi bon, montre comme ce qui se dissimule au fond de l’apparence, ce qui réapparait au sein de la disparition […]: celui qui est à l’œuvre quand ‚on meurt‘ […].“ [Maurice Blanchot: „La littérature et l’expérience originelle“, in: EL, pp. 277-333, hier p. 331; Kursivierung im Original]. 36 Epikur: „Brief an Menoikeus“, in: id.: Von der Überwindung der Furcht - Katechismus, Lehrbriefe, Spruchsammlung, Fragmente, transt. Olof Gigon, München / Zürich: Ar‐ temis / dtv 1991, p. 101. 37 EL: 126. letzten Satz: „[À] quoi bon - ce mot aussi était le mot qu’elle cherchait -, Thomas est insignifiant. Dormons.“ 35 Einige Zeilen zuvor wurde bereits sowohl Annes Unbedeutsamkeit als auch die ihrer Mutter, welche nach Lebenszeichen Annes verlangte, festgestellt. Innerlich verabschiedet Anne zunächst ihre Mutter und im Anschluss auch Thomas mit den gedachten, jedoch nicht mehr artikulierten Worten des obigen Zitates. Thomas, der als letzter Name vor Annes Tod in ihrem Bewusstsein auftaucht, bildet die letzte Bedeutung, die sie loslassen muss, um in den Tod einzugehen. Sofern Thomas weniger als Mensch, denn als eine In‐ stanz des Todes gedacht wird (was meiner Lesart insbesondere der 2. Fassung von Thomas l’Obscur entspräche), fällt seine Bedeutungslosigkeit mit der Be‐ deutungslosigkeit des Todes im Moment des Todes zusammen und birgt wo‐ möglich das epikureische Denken über den Tod in sich: „Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.“ 36 Die epikureische Er‐ leichterung angesichts des Ausschlusses des Todes aus dem Leben (und mit ihm aus der Erfahrung) findet Anne jedoch, anders als von Epikur beabsichtigt, nicht im Leben bzw. im Sterbeprozess, sondern erst im allerletzten Augenblick des Todes, in dem das Sterben ein Theaterstück für die Lebenden geworden ist. Davor erlebt sie umso drastischer das Sterben. Blanchot hat Epikurs berühmte Worte über die mögliche Gleichgültigkeit ge‐ genüber dem Tod in L’espace littéraire zitiert. In seiner Lesart entmachten die Stoiker den Tod mittels Indifferenz, da in ihrer Vorstellung der Tod außerhalb des Lebens liegt und demnach frei von Leidenschaften, aber auch Ängsten zu denken ist. Jedoch ersparen sich die Stoiker Blanchot zufolge so nicht nur das Schlimmste, sondern verhindern auch das tatsächliche oder wesentliche Leben, das aus einer wirklichen Auseinandersetzung mit dem Tod hervorgeht, einer Erfahrung des Todes mit allen Mitteln, die das Leben bereithält, sich selbst zu entgrenzen. 37 Auch der Selbstmord bietet keinen Ausweg für Blanchot, sondern 10. Sterben 256 <?page no="259"?> 38 „La mort volontaire est refus de voir l’autre mort, celle qu’on ne saisit pas, qu’on atteint jamais, c’est une sorte de négligence souveraine, une alliance avec la mort visible pour exclure l’invisible […].“ [EL: 134]. Zu den zwei Formen des Todes siehe auch Ka‐ pitel 5.1 meiner Untersuchung. unterliegt einer Selbsttäuschung und einem „optimisme inconséquent“. Man muss mit dem Handeln wie mit dem Optimismus aufhören, um zu sterben. Der Selbstmord aber ist die eigenmächtigste Handlung schlechthin. Er ist gemäß Blanchot letztlich Opfer einer Verwechslung des unsichtbaren Todes mit dem sichtbaren. 38 Doch wie kann dieses Kapitel ein Ende setzen, wenn das Ende so unklar ist? Es gilt also, das Ende des Kapitels, d. h. sein letztes Wort, genauer zu betrachten. Das Ende des Kapitels und der Hortativ von „Dormons“ fallen zusammen. Zur Disposition steht der Aussagestatus dieses Verbs sowie was oder wen es umfasst. Wen bezieht Anne in ihren Schlaf - den man hier klassisch mit dem Entschlafen gleichsetzen kann - ein? Vielleicht ist es das Ende der Einsamkeit des Sterbens. Darüber gibt der Text keine Auskunft, was wiederum Ausdruck der Insignifi‐ kanz ist, die im Moment des Todes vorherrscht. Das „Dormons“ ist eine Trope des Euphemismus, der noch dazu in sich modal aufgespalten ist und dessen Aussage- und Referenzinstanz völlig unklar erscheint. Der letzte sichtbare Mo‐ ment des Todes ist ein Wort, das die Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen dem letzten Gedanken und dem Eintritt in die Unsagbarkeit markiert. Nach ihm gibt es eine Zäsur, einen weißen Zeilenraum, der in sich die Einklammerung des unerklärlichen Entwerdens trägt. Es gibt, so hat dieses 10. Kapitel von TO 2 gezeigt, nicht den einen Moment des Todes, sondern mehrere, vielleicht unzäh‐ lige, die die Vorstellung eines glatten Übergangs des Lebens in ein Jenseits un‐ terminieren. Der letzte Moment des Entschlafens als von außen sichtbarer, und durch sein Beenden des Kapitels auch diskursiv sichtbarer, Moment des Todes zeigt sich an einem Punkt, der in Bezug auf den vorangehenden Todeskampf nachzeitig ist. Wie sich die Doppelung des Einschlafens im Einschlafen zu Be‐ ginn des Kapitels der Begreifbarkeit des Denkens entzieht, weist auch der Hor‐ tativ des Verbs ‚einschlafen‘ am Ende des Kapitels als äußerster, aber auch immer äußerlicher Ausdruck des Sterbens auf die Gesetze des Denkens und der tropo‐ logisch-rhetorischen Sprache hin, die im Tod sterben und kein Zeugnis darüber hinaus ablegen können. 10.4 Todesfalle: Eurydike und der Blick zurück 257 <?page no="260"?> 1 Gadamer, Hans-Georg: „Das Sein und das Nichts“, in: Traugott König ed.: Sartre - Ein Kongreß, Reinbek: Rowohlt 1988, pp. 37-52, hier p. 37. 11. Sprechen und gesprochen werden Du bist der Herr deiner Worte, doch einmal ausgesprochen, beherrschen sie dich. (Sprichwort) In diesem Kapitel meiner Untersuchung wird es um Blanchots Verhältnis zur und sein Verständnis der deutschen Frühromantik gehen. Über den romanti‐ schen Fragmentbegriff sollen Verbindungen, aber auch der Unterschiede zwi‐ schen Blanchots Sprachontologie und der selbstreferentiellen Sprache der deut‐ schen Frühromantiker herausgearbeitet werden. In Novalis’ Hymnen an die Nacht wird die Nacht zum Ermöglichungsraum der Bewältigung des Todes, indem dieser in einen Glauben an die Nacht trans‐ formiert wird. Das problematische Sprechen des Todes wird hin zu einer Poe‐ tisierung der Nacht verschoben. Auch das 11. Kapitel von TO 2 gipfelt in eine hymnische Anrufung der Nacht. Die Vereinigung mit der Nacht bietet hier in‐ dessen keinen heiligen Ort der Harmonie, sondern bedeutet eine ewige Wie‐ derkehr des Gleichen, eine Bewegung, die ihren Ausgang von der romantischen Nacht nimmt und von dieser in die ‚autre‘nuit führt. In ihr kann das sprechende Ich keine Geborgenheit oder Einheit mehr finden, sondern sich nur als Erzähl‐ stimme im neutralen Raum reiner Beziehungen verlieren. 11.1 Die Rede des Neutrums. Blanchot - Novalis - Schlegel Hans Georg Gadamer hat in einem Vortrag über seine ersten Erfahrungen mit den Texten Jean-Paul Sartres gesagt: „Ich möchte zeigen, wie schwer es von der deutschen Tradition aus ist, französisches philosophisches Denken zu ver‐ stehen, und wie schwer es umgekehrt auch ist - davon redet man aus Beschei‐ denheit weniger.“ 1 Auch Blanchot hat nicht viel über seine Schwierigkeiten mit dem deutschen philosophischen Denken gesprochen. Bekannt ist, dass er schon <?page no="261"?> 2 So schrieb Blanchot beispielsweise seine Doktorarbeit über den Intuitionsbegriff in Ed‐ mund Husserls Phänomenologie, nahm bereits 1929 an einer deutsch-französischen Tagung in Davos teil und übersetzte für seine Recherchen zu Kafka zahlreiche Text‐ passagen ins Französische. 3 Trotz seiner exzellenten Deutschkenntnisse scheint Blanchot dennoch (auch) auf die französische Übersetzung des Athenäums zurückgegriffen zu haben, wie Tzvetan To‐ dorov anhand eines von Blanchot in seinen Athenaeums-Text übernommenen Über‐ setzungsfehlers von Armel Guerne nachweisen konnte. [Cf. Tzvetan Todorov: „Reflec‐ tions on Literature in Contemporary France“, transt. Bruno Braunrot, in: New Literary History 10 / 3 (1979), 511-531, hier 520]. 4 EI: 227-255 sowie Christopher A. Strathman: Romantic Poetry and the Fragmentary Im‐ perative - Schlegel, Byron, Joyce, Blanchot, Albany: State University of New York Press 2006, p. 171. früh des Deutschen mächtig gewesen ist 2 und während seiner Studienzeit in Straßburg nicht nur die großen deutschen idealistischen Philosophen gelesen, sondern sich auch mit den Romantikern des Jenaer Kreises befasst hat. Dies schlägt sich unter anderem in seinem deutlich später erschienenen Text „L’Athe‐ naeum“ nieder, wird jedoch bereits in Thomas l’Obscur sichtbar. Zum einen greift er hier romantische Motive auf - zuvörderst das Motiv der Nacht. Zum anderen nimmt er eine übergeordnete Problematisierung des Sprechens und Verstehens von Grenzerfahrungen eines Ichs vor, das sich an den Abgrund seiner selbst reflektiert. 3 Auch in „Nietzsche et l’écriture fragmentaire“ (erstmals publiziert 1966 / 1967 in La Nouvelle Revue Française) kreist Blanchots Denken um die Ro‐ mantik, insbesondere, wie im Titel angedeutet, um die Weiterentwicklung des Fragmentbegriffs hin zu einer écriture fragmentaire, einem fragmentarischen Schreiben, wie Nietzsche es vollzogen hat. Man kann diesen Text durchaus als die Fortsetzung einer bereits in „L’Athenaeum“ angelegten Kritik des romanti‐ schen Fragmentkonzepts und als eine damit verbundene Forderung eines frag‐ mentarischen Imperativs interpretieren, in dem sich das Dionysische Raum ver‐ schafft. Blanchot und die Frühromantik verbindet und trennt der Begriff des Frag‐ ments. Christopher A. Strathman hat dies in Romantic Poetry and the Fragmen‐ tary Imperative sehr treffend formuliert: „While Blanchot follows the romantics in disturbing the divide between theory and practice and in making the fragment central to his theory of literature, he also takes a step beyond them to facilitate fragmentary writing.“ 4 Der Schritt, der Blanchot über die Romantiker hinaus‐ trägt, ist die durch Nietzsche vorgedachte Umakzentuierung des Fragmentbe‐ griffs zu einer Poetologie des Fragments als Zersetzungsbewegung entgegen 11.1 Die Rede des Neutrums. Blanchot - Novalis - Schlegel 259 <?page no="262"?> 5 „La parole de fragment n’est parole qu’à limite. Cela ne veut pas dire qu’elle ne parle qu’à la fin, mais elle accompagne et traverse, en tout temps, tout savoir, tout discours, d’un autre langage qui l’interrompt en l’attirant, sous la forme d’un redoublement, vers le dehors […].“ [Maurice Blanchot: „Nietzsche et l’écriture fragmentaire“, in: EI, pp. 227-255, hier p. 239]. 6 Friedrich Schlegel: Die Athenäumsfragmente, in: Ernst Behler ed.: Kritische Fried‐ rich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2, München / Paderborn / Wien: Schöningh 1967, pp. 165-255, hier p. 176. 7 Pascal 1836: 298. jeder Einfassung in eine Totalität oder Ganzheit. 5 Es gibt für Blanchot keine Totalität mehr, die im Fragment enthalten oder erreichbar ist, sondern lediglich Räume zwischen den Fragmenten, die diese auf ihr Außen, nicht jedoch auf ihr Miteinander hin öffnen. Friedrich Schlegel schreibt im Fragment 78 des Athenäums: „Das Nichtver‐ stehen kommt meistens gar nicht vom Mangel an Verstande, sondern vom Mangel an Sinn.“ 6 Mit Bezug auf eine mögliche Erfahrung des Nichtverstehens von Thomas l’Obscur soll das nicht besagen, dass es ihm an Sinn mangele. Viel‐ leicht ist die Frage nach dem Sinn nicht unbedingt diejenige, die zu stellen sich in Bezug auf Thomas l’Obscur anbietet. Möglicherweise ist das Unverständliche als Unverständliches ernst zu nehmen und nicht notwendigerweise zu tilgen oder zu simplifizieren. Der Mangel an Sinn birgt in sich ein eigenes Potential, das den Verstand an seine Grenze und darüber hinaus zu bringen vermag. Wenn Blaise Pascal im berühmten Paragraph 233 seiner Pensées schreibt: „Le cœur a ses raisons, que la raison ne connaît point“ 7 , dann gilt dies auch anders herum: Der Verstand hat (seine) Gründe, die das Herz nicht kennt. Blanchots Denken bewegt sich zwischen diesen beiden Versionen des Unverständlichen, ohne sich dabei auf die Seite der Aufklärung oder der Romantik zu stellen. In jedem Falle aber arbeitet er sich im 11. Kapitel der zweiten Fassung von Thomas l’Obscur an der Figur der Nacht ab, an ihrer Unfassbarkeit und Unverständlichkeit, die das Ich wahrnehmend wie reflektierend anerkennen und am eigenen Leib erfahren muss. Thomas spricht hier zum ersten und einzigen Mal in der Ich-Form - wenngleich der Status dieses Sprechens nicht den einer indikativischen Aussage einnimmt. Dennoch gibt es in diesem Kapitel ein Ich und in den Apostrophen an die Nacht auch ein Du. Mit Blick auf Blanchots Verhältnis zur deutschen Frühromantik drängen sich daher folgende Fragen auf: Welchen Grad an Subjekthaftigkeit haben Sprech‐ instanzen wie Ich und Du im Kontext des Gesamttextes und in Abgrenzung zum romantischen Subjekt? Was bedeutet die Macht der Sprache (langage) für ein 11. Sprechen und gesprochen werden 260 <?page no="263"?> 8 Die Einflüsse romantischer Denkart auf Blanchot wurden bislang zumeist vor allem bzgl. des Fragmentbegriffs untersucht, welchen ich für meine Untersuchung jedoch an dieser Stelle weitestgehend beiseitelassen werde. Zum Fragment bei Blanchot siehe Christopher A. Strathman 2006 sowie John McKeane, Hannes Opelz edd.: Blanchot Ro‐ mantique - A Collection of Essays, Oxford et al.: Lang 2010 [= Patrick McGuinness ed.: Romanticism and after in France, Bd. 17]. 9 Es wären im Sinne meiner Argumentation ebenfalls Textpassagen aus L’écriture du désastre oder „La littérature et le droit à la mort“ denkbar, jedoch würde dies den Umfang sprengen. Auch gibt es wichtige Bezüge zwischen „L’Athenaeum“ und „Berlin“, einem Text Blanchots über die Berliner Mauer, sowie zu Blanchots Versuch, mit der Revue Internationale (erschienen von 1960-1964) eine internationale Kulturzeitschrift als Ant‐ wort auf das Athenäum der Schlegel-Brüder zu schaffen. 10 „Die Welt muß romantisiert werden.“ [Novalis (= Friedrich von Hardenberg): Werke, Tagebücher und Briefe - Das philosophisch-theoretische Werk, Bd. 2, ed. Hans-Joachim Mähl, München: Hanser 1978, p. 545]. je, das sich durch und in der Sprache reflektiert? 8 Wer spricht im Text und wie ist dieses Sprechen nachvollziehbar? Was ist der Unterschied zwischen der ro‐ mantischen Nacht und der Denkfigur der anderen Nacht Blanchots? Dazu werde ich in einem ersten Schritt Gedanken aus zwei Essays Blanchots nachzeichnen, die beide 1964 publiziert wurden: „La Voix narrative (le ‚il‘, le neutre)“, ein Text über das Neutrum ‚il‘ als narrative Stimme jenseits von Sub‐ jekthaftigkeit, und den bereits genannten Essay „L’Athenaeum“. 9 Mit diesen beiden Texten möchte ich sodann aufzeigen, dass im 11. Kapitel von TO 2 gerade unter der Verwendung der Personalpronomen der 1. und 2. Person Singular das Erzählen zu einem depersonalisierten und ortlosen Sprechen wird und zwar nicht zuletzt, weil es das auf Annes Tod folgende Kapitel ist und deshalb den Tod in der Grenzerfahrung einer Ich-zersetzenden Trauer umkreist. Indem es einen Sprachraum mit eigenen Gesetzen schafft, funktioniert dieses Sprechen nicht mehr konstativ und mimetisch, sondern de-präsentierend und perfor‐ mativ. Jener Raum, der im Selbstvollzug der Sprache entsteht, hat durchaus Ähnlichkeit mit der Forderung einer poetisierten bzw. romantisierten Welt, wie man sie von den Frühromantikern kennt. 10 Daher ist meine These, dass Blan‐ chots Auseinandersetzung mit romantischen Denkfiguren bereits mit Thomas l’Obscur einsetzt, auch wenn Blanchot erst 1964 in seinem Athenaeums-Text den 11.1 Die Rede des Neutrums. Blanchot - Novalis - Schlegel 261 <?page no="264"?> 11 Mit seinem Interesse für romantische Denkfiguren steht Blanchot nicht allein da. Gisèle Berkman spricht sogar von einem „archive romantique“ im französischen Denken der 1970-er Jahre, das sich z. B. im Falle von Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy explizit auf Blanchots „L’Athenaeum“, d. h. Blanchots Deutung der deutschen Frühro‐ mantik, bezieht. [Cf. Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy: L’Absolu littéraire - Théorie de la Littérature du Romantisme allemand, Paris: Seuil 1978, hier insbesondere p. 80 f. und Gisèle Berkman: „Une histoire dans le romantisme? Maurice Blanchot et l’Athenaeum“, in: John McKeane, Hannes Opelz edd.: Blanchot Romantique - A Collection of Essays, Oxford et al.: Lang 2010, pp. 69-73 (= Patrick McGuinness ed.: Romanticism and after in France, Bd. 17)]. 12 Maurice Blanchot: „L’Athenaeum“, in: EI, Paris: Gallimard, pp. 515-527, hier p. 518. Im Folgenden mit der Sigle AT abgekürzt. 13 Cf. AT: 120. 14 Cf. Foucault 1966; „La littérature […] prend tout à coup conscience d’elle-même, se manifeste et, dans cette manifestation, n’a pas d’autre tâche ni d’autre trait que de se déclarer.“ [AT: 520]. 15 AT: 524. Zeugnis dieser Auffassung Blanchots sind auch seine Mallarmé-Aufsätze, in denen er insbesondere Mallarmés Betonung der Sprachautonomie würdigt. [Cf. z.B. Maurice Blanchot: „L’expérience de Mallarmé“, in: EL: 37-52]. theoretischen Beleg dafür liefert. 11 Dort schreibt er, dass eine wesentliche Er‐ rungenschaft der Romantik sei, […] d’introduire un mode tout nouveau d’accomplissement et même une véritable conversion de l’écriture: le pouvoir, pour l’œuvre, d’être et non plus de représenter, d’être tout, mais sans contenus ou avec des contenus presque indifférents et ainsi d’affirmer ensemble l’absolu et le fragmentaire, la totalité […]. 12 In einer Absage an den Zwang der Schrift zu repräsentieren und stattdessen das Werk als Werk sein zu lassen, sieht Blanchot ein Zusammenwirken des Gegen‐ sätzlichen, was sich auf der Ebene der Schrift nebeneinander reiht. Es geht Blanchot nicht um die Verwirklichung des Ganzen, sondern um einen Index oder Verweis, ein Analogiedenken über Differenz, das sich beständig in Bewegung hält, indem es sich selbst durch mannigfaltige Formen der Unterbrechung zer‐ setzt: Diskontinuität und Differenz werden zur Form und ersetzen Inhalte wie Innerlichkeiten. 13 Des Weiteren betont Blanchot die Selbstreflexivität der Lite‐ ratur als typisch romantisches Merkmal, was unter anderem auch von Foucault als Kennzeichen der modernen Literatur angesehen wird. 14 Sprache, die sich nur noch mit sich selbst befasst, bedeutet Rede nicht um des Inhaltes willen, sondern um ihrer selbst willen. Das bedeutet auch, dass sie ihre Prozessualität über das Produkt stellt: „[…] parler poétiquement, c’est rendre possible une parole non transitive qui n’a pas pour tâche de dire les choses (se disparaître dans ce qu’elle signifie), mais de (se) dire en (se) laissant dire […].“ 15 Die Sprache kappt ihre außersprachliche Verweisungsfunktion und macht sich selbst zum Inhalt und 11. Sprechen und gesprochen werden 262 <?page no="265"?> 16 Novalis: Monolog, in: id.: Werke, Tagebücher und Briefe - Das philosophisch-theoretische Werk, Bd. 2, ed. Hans-Joachim Mähl, München: Hanser 1978, pp. 438-439. [Cf. AT: 523]. 17 Cf. Roland Barthes: „To write - An intransitive verb? “, in: Richard Macksey, Eugenio Donato edd.: The Languages of Criticism and the Sciences of Man - The Structuralist Controversy, London / Baltimore: The Johns Hopkins Press 1970, pp. 134-156, hier p. 135. 18 Ibid., p. 142 [Hervorhebungen im Original]. 19 Bernhard Teuber: „Sacrificium auctoris - Die Anthropologie des Opfers und das post‐ moderne Konzept der Autorschaft“, in: Heinrich Detering ed.: Autorschaft - Positionen und Revisionen, Stuttgart / Weimar: Metzler 2002, pp. 121-141, hier p. 128. Protagonisten. Die Rede verschwindet nicht hinter ihren Signifikaten, sondern wird selbst als Gefüge von Relationen zum Gegenstand. In den Worten Novalis’, den Blanchot auf Französisch zitiert, klingt dies wie folgt (ich zitiere den deut‐ schen Originaltext): „Der lächerliche Irrthum ist nur zu bewundern, daß die Leute meinen - sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert, weiß keiner […]. Reden um der Rede willen, so lautet die befreiende Formel.“ 16 Roland Barthes hat diese Besonderheit der modernen Literatur in einem Vor‐ trag an der Johns Hopkins Universität am Beispiel des Verbs ‚schreiben‘ ausge‐ führt. Er betont in „To write - an intransitive verb? “ eine Daseinsberechtigung der Sprache jenseits ihrer Zweckgebundenheit und sieht in ihr vielmehr die Prämisse des Menschseins oder Menschwerdens überhaupt. 17 Im 5. Oberpunkt seines Vortrages geht er schließlich dezidiert auf die Transformation des Verbes ‚schreiben‘ von der Transitivität zur Intransitivität am Beispiel der Diathese ein. Wichtig ist ihm hierbei, dass im Falle der indogermanischen Sprache weniger die Unterscheidung von aktiv und passiv zielführend sei, sondern idealerweise die Unterscheidung von aktiv und Medium. Die Besonderheit des Mediums be‐ stehe nach Barthes darin, dass das Subjekt dabei durch sich selbst affiziert werde und dass mit dem Medium die Möglichkeit der Transitivität erhalten bleibe. Er folgert: „Thus defined, the middle voice corresponds exactly to the state of the verb to write: today to write is to make oneself the center of the action of speech [parole]; it is to effect writing in being affected oneself […].“ 18 Modernes Schreiben ist intransitives Schreiben in Form einer „sakrale[n] Selbstaffek‐ tion“. 19 Es genügt sich selbst, hält sich selbst am Leben und sucht daher den pragmatischen Bezug zur Lebenswelt nur noch selten. Diese Sprachautonomie durch Entpragmatisierung sieht Blanchot in der Ro‐ mantik vorgebildet. Sein Verhältnis zur Romantik ist jedoch keineswegs kri‐ 11.1 Die Rede des Neutrums. Blanchot - Novalis - Schlegel 263 <?page no="266"?> 20 Blanchot weist darauf hin, dass man in der Beurteilung der Romantik differenzieren müsse, ob man sie „par ses prémices ou par ses résultats“ beurteile. Sein Beispiel dafür ist Friedrich Schlegel, der in jungen Jahren ein unbändiger Freigeist war und später mit der Konversion zum Katholizismus zum „philistin gras, à la parole onctueuse, gourmand, paresseux et vide“ wurde. [AT: 516-517]. 21 AT: 517. 22 AT: 524. 23 AT: 525-526. 24 AT: 526-527. 25 Auch scheint hier wieder der von Nietzsche umakzentuierte Fragmentbegriff durch. [Cf. z.B. ED: 99 oder ED: 170]. tiklos. Bereits in „L’Athenaeum“ finden sich skeptische Töne 20 , wenngleich Blanchot hier in gewisser Weise noch an die Möglichkeit von Totalität glaubt und den Romantikern in ihrer Sakralisierung der Sprache folgt. Blanchots Vor‐ wurf ist jedoch nicht, dass sich die theoretischen Formulierungen und Entwürfe nicht in ausreichend qualitativ hochwertigen, d. h. den eigenen Forderungen genügenden, literarischen Werken niedergeschlagen haben oder immer nur Fragment geblieben seien. Dieses Fehlen und Halbvollendete betrachtet Blan‐ chot vielmehr als Ausdruck einer „liberté sans réalisation“, in der die Poesie jenseits eines Werkes „pure conscience dans l’instant“ bleibt. 21 Er kritisiert am Beispiel von Novalis, dass das dichterische Ich als Ego nicht die eigentlich er‐ forderlichen Konsequenzen hinsichtlich der konstatierten Entfesselung der Sprache gezogen habe und sich letztendlich als „activité, toujours supérieure à l’ouvrage réel“ wieder über das Werk lege. 22 Wiewohl Blanchot die Romantiker für ihre „exigence d’une parole fragmentaire“ schätzt und diese als „écriture plurielle“ weiterentwickeln wird, bewertet er insbesondere bei Friedrich Schlegel das Fragment als Mittel, um der eigenen denkerischen Unordnung ein schönes Etikett zu geben. 23 Auch ihn kritisiert er hinsichtlich seines Dichter-Egos, das allzu selbstgefällig mit dem entworfenen Potenzial - welches Blanchot nicht zu loben müde wird - eine Selbstlegitimation der Abschließung betreibt. 24 Im Wesentlichen richtet sich Blanchots Kritik also gegen die ausblei‐ bende konsequente Umsetzung der romantischen Forderungen, allen voran des romantischen Fragmentgedankens, der gemäß Blanchot nicht nur den Text, sondern vor allem das (schreibende) Subjekt erfassen soll. Es stellt sich so dar, als ob diese Anfangszweifel über „La Voix narrative“ immer weiter reifen und in L’écriture du désastre, welche sich einerseits als Fragmentsammlung in die Tradition des Athenäums stellt und andererseits in‐ nerhalb etlicher Fragmente explizit Kritik an den Romantikern übt, kulmi‐ nieren. 25 Die im Athenaeums-Text bereits vorhandene, wenngleich noch verhal‐ tene Kritik Blanchots an der mangelnden Realisierung des eigentlichen 11. Sprechen und gesprochen werden 264 <?page no="267"?> 26 Maurice Blanchot: „La Voix narrative (le ‚il‘, le neutre)“, in: EI, pp. 556-582, im Fol‐ genden mit der Sigle VN abgekürzt. Im Übrigen hat Blanchot diesen Text nur zwei Monate nach „L’Athenaeum“ im Oktober 1964 veröffentlicht. Es ist folglich auch über diese zeitliche Nähe argumentierbar, dass die beiden Texte miteinander in Verbindung zu setzen sind. 27 VN: 565. 28 VN: 564. Vermögens des Fragmentarischen bei den Romantikern findet in „La Voix nar‐ rative“ im Begriff des Neutrums ihre Entsprechung. Dort verdeutlicht Blanchot anhand der eigenmächtig gewordenen Sprache, welche Konsequenzen es für das Ich bzw. überhaupt für Sprechinstanzen mit sich bringt, wenn das selbstbe‐ zügliche Sprechen sich nicht mehr an eine narrative Subjekthaftigkeit binden lässt, so dass aus dem ‚ich spreche‘ ein ‚es spricht‘ wird. In „La Voix narrative“ vertieft Blanchot mithin die Gedanken zum Neutrum, die er bereits in L’espace littéraire entwickelt hatte. Ich füge sie, wie bereits er‐ wähnt, im Anschluss an seine Gedanken zur Jenaer Frühromantik an, da ich in ihnen eine Weiterentwicklung und Radikalisierung der romantischen Prämissen sehe. 26 Ein zentraler Punkt von „La Voix narrative“ ist Blanchots Annahme eines Übergangs vom je zum il im Akt des Schreibens. Diese Transition darf man aufgrund ihrer Loslösung von einem verortbaren subjekthaften Erzähler auch als Transformation der Erzählerstimme („voix narratrice“) in eine Erzählstimme („voix narrative“) bezeichnen, d. h. als Ablösung der Stimme von jeglicher Sub‐ jekthaftigkeit. 27 Das il soll also nicht als ein das Subjekt repräsentierendes Per‐ sonalpronomen verstanden werden, sondern - und das zeigt Blanchot an Kafka und Marguerite Duras - als unpersönliches es/ er: Le ‚il‘ narratif destitue tout sujet, de même qu’il désapproprie toute action transitive ou toute possibilité objective. Sous deux formes: 1) la parole du récit nous laisse toujours pressentir que ce qui se raconte n’est raconté par personne: elle parle au neutre; 2) dans l’espace neutre du récit, les porteurs de paroles, les sujets d’action - ceux qui tenaient lieu jadis de personnages - tombent dans un rapport de non-iden‐ tification avec eux-mêmes: quelque chose leur arrive, qu’ils ne peuvent ressaisir qu’en se désaisissant de leur pouvoir de dire ‚je‘ […]. 28 Das Neutrum generiert eine Trennung zwischen der Stimme und dem dazuge‐ hörigen Träger der Stimme, wodurch die Herkunft des Sprechens nicht mehr sichergestellt, will heißen, nicht mehr auf einen Ursprung zurückgeführt werden kann. Die Stimme hat sich gleichsam dis- oder exkarniert. Wenn sie sich kurzfristig an einen Träger heftet, dann jedoch ohne ihm zuzugehören. Darüber hinaus gibt es eine nicht zu tilgende Alterität und Fremdheit in den Trägern der 11.1 Die Rede des Neutrums. Blanchot - Novalis - Schlegel 265 <?page no="268"?> 29 VN: 562-563. 30 TO2: 99. Stimme, welche keine Identifikation mehr mit einem je als moi zulässt. Die Dif‐ ferenz kann nicht aufgehoben werden, sondern ist als Prozess die Grundbewe‐ gung dieses Sprechens. In einem Rückbezug auf die Romantik könnte man davon sprechen, dass es sich hierbei um eine sprachimmanente Form des Transzen‐ dierens als Bewegung auf die Differenz hin handelt. Blanchot wendet sich sodann auch den Konsequenzen für die Lektüre derart verfahrender Texte zu. In erster Linie verhindert das Sprechen in der Stimme des neutre eine Identifikation des Lesers mit dem Text, weil es sich aus einer Distanz heraus vermittelt, die weder Abstand noch Nähe ermöglicht. Der Text (im Hintergrund stehen vor allem die Texte Kafkas) verhindert über die ortlose Erzählstimme und ihre Entfremdungseffekte, dass der Leser sich dem Text ge‐ genüber in ein stabiles Verhältnis setzen kann. Wenn er ihn dennoch liest - die Gefahren solcher Lektüre sollte das 4. Kapitel meiner Untersuchung gezeigt haben -, zieht der Text ihn an, ohne ihn in sein Inneres zu lassen. 29 Was Blanchot hier an Kafkas Schreiben entwickelt, gilt jedoch umso mehr programmatisch für seine eigenen fiktionalen Texte, insbesondere für die beiden Fassungen von Thomas l’Obscur. 11.2 Das Sprechen im Modus des ‚als ob‘ Im 11. Kapitel von TO 2 ist die Rede des Neutrums in besonderer Weise auffällig, denn es realisiert sich hier der romantische Vorzug der Signifikanten vor den Signifikaten, der Herausstellung der Gemachtheit des Textes, seiner Fiktiona‐ lität, nicht nur auf der Inhaltsebene, sondern auch auf der Ebene der Erzählrah‐ mung und der Interpunktion. Das Kapitel setzt mit der Feststellung von Annes Tod ein. Die vorangegangenen Kapitel handelten, soweit man sie überhaupt auf einen Inhalt reduzieren kann, von Annes langsamem Sterbeprozess und den damit verbundenen Annäherungen an den Raum des Todes. Der nur rudimentär erkennbare Erzähler mit Nullfokalisierung berichtet im ersten Absatz des 11. Kapitels, dass Thomas in seinem Schmerz, der alle anderen Anwesenden sich zurückziehen lässt, allein bleibt. Schon dieser Rückzug kann sowohl auf der Ebene der Räumlichkeit als Verlassen des Zimmers, wie auch als ein buchstäb‐ liches Sich-Zurückziehen auf der Ebene der Sprache gelesen werden: Aus dem Rückzug des Plurals „ils“ wird der Singular „il“: „Tristement, ils se retirèrent et il resta seul.“ 30 Der Rückzug der Anderen ist ein Rück-Bezug des Plurals auf seine 11. Sprechen und gesprochen werden 266 <?page no="269"?> 31 Ibid. 32 Die Möglichkeit sollte hier aber nicht als sekundär zur Wirklichkeit verstanden werden, sondern eher als vorgängiges Virtuelles im Sinne von Deleuze und Guattari. Die Realität in Thomas l’Obscur ist als Aktualisierung des Virtuellen immer (nur) eine verkleinerte Möglichkeit, oder anders formuliert: Die Welt ist eine Reduktion des Virtuellen. Aus diesem Grund findet sich kaum ‚Welt‘ in Thomas l’Obscur. Singularform als Referenzpunkt der Reflexivität und Subjektivität, auf ein Al‐ leinsein, welches sich wiederum einen Punkt außerhalb seiner selbst schaffen muss, um mittels der Distanz zu sich Reflexion zu erzeugen. Man kann diesen Rückzug aber auch als Vorverweis auf die Rede des Neutrums il lesen. Denn unmittelbar im nächsten Satz erfolgt ein Hinweis auf die nun einsetzende Rede, die sich an Thomas selbst wendet („Ce qu’il se dit“) und eigentlich unlesbar wäre, sich aber über die modale Satzverbindung „comme si“ dennoch einen Ausdruck schafft: „Ce qu’il se dit, on pourrait croire que cela ne pouvait d’aucune manière se laisser lire, mais il prit soin de parler comme si ses pensées avaient eu une chance d’être entendues et il laissa de côté la vérité étrange à laquelle il semblait enchaîné.“ 31 Es wird konstatiert, dass Thomas / il sich etwas sagt, von dem angenommen werden müsste, dass es sich in keiner Weise lesen ließe. Das „comme si“ markiert einen ontologischen Bruch zwischen Eigentlichem und Uneigentlichem, der auf ein narratologisches Problem hinweist. Das eigentlich Unlesbare ist dennoch in irgendeiner Weise textuell wahrnehmbar. Es wird von der Erzählinstanz ver‐ mittelt und dies ist hochgradig problematisch: Denn wenn einerseits behauptet wird, dass die Rede nicht lesbar ist und man dennoch andererseits eine 30-seitige lesbare Rede erhält, verweist dies auf die Vermittlung der Rede selbst und schreibt dem auf Thomas referierenden Ich der Rede das Andere der Erzählin‐ stanz ein. Man darf auf den folgenden 30 Seiten nicht vergessen, dass das Ge‐ lesene ein ‚eigentlich‘ Unlesbares und darüber hinaus ein gesprochenes Unles‐ bares ist. Es wird bedingt durch die Einfügung eines „comme si“, das eine hypothetische Möglichkeit des Verstanden-werden-könnens einleitet, und gründet sich auf dem Weglassen einer eigenartigen oder fremden, zu ihm gehö‐ rigen Wahrheit, die möglicherweise die Wahrheit der Unsagbarkeit ist. Das Fiktive des Sprechens wird auf diese Weise ausgestellt. Es hat keine Exis‐ tenz an sich, sondern kann und muss erschrieben werden, jedoch vermag dies nur unter Vorbehalt zu geschehen. Der Raum des Fiktiven ist ein Raum des Ausprobierens und Ermöglichens, nicht der Festlegung. Alles, was nun weiter geschrieben steht bzw. in diesem Kapitel gesprochen wird, trägt das Zeichen dieses ‚als ob‘ in sich und ist demzufolge als Möglichkeit markiert, die auf ihre pragmatische Bedingtheit und Vorläufigkeit verweist. 32 Das ‚comme si‘ bildet 11.2 Das Sprechen im Modus des ‚als ob‘ 267 <?page no="270"?> 33 Hans Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob - System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus - Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche, Leipzig: Meiner 8 1922. 34 „Ich schlage vor, künftighin alle wissenschaftlichen Fiktionen Fiktionen zu nennen, dagegen alle anderen, so die mythologischen, ästhetischen u.s.w. Figmente. […] ‚Fictio‘ hat schon juristisch den Nebenbegriff praktischer Zweckmässigkeit; Fiktion nenne man jede b e w u s s t e, zweckmässige, aber falsche Annahme; “ [Vaihinger 8 1922: 129, Her‐ vorhebung im Originaltext]. 35 Vaihinger 8 1922: 135. eine der wichtigsten Spuren für das neutrale Sprechen der Erzählstimme in Thomas l’Obscur, denn es lässt Dinge in der Schrift erscheinen, ohne ihnen Prä‐ senz zuzugestehen. Mit dem ‚als ob‘ wird alles möglich und nichts haltbar. Es lässt, wie Blanchot über das Neutrum schreibt, alles zu Wort kommen, ohne auf eine Instanz zu referieren, von der es seinen Ausgang nimmt. Mit dem ‚als ob‘ werden in Blanchots Texten auch keine phantastischen Gebilde erzeugt, da die dafür fundierende Dichotomie von ‚wirklich‘ und ‚unwirklich‘ sich nicht etablieren kann. Solch eine Unterscheidung macht keinen Sinn auf der Ebene des ‚als ob‘. Die Spur des ‚als ob‘ lässt sich jedoch in der Literatur wie in der Philosophie weiter zurückverfolgen. In Die Philosophie des Als Ob baut Hans Vaihinger we‐ sentlich auf Immanuel Kants kategorischem Imperativ und dessen ‚als ob‘-For‐ mulierung auf. 33 Der Bezug Vaihingers zum deutschen Idealismus zeigt sich be‐ reits im langen Untertitel seines Buches: System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positi‐ vismus - Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche. Vaihinger unterscheidet verschiedene Formen von Fiktionen (z. B. mathematische, juristische oder auch historische), geht jedoch nicht auf literarische Fiktionen ein, da diese nicht zweckgebunden seien und daher anders analysiert werden müssen. Literarische bzw. ästhetische Fiktionen nennt er „Figmente“. 34 Das Bemerkenswerte an Vaihingers Philosophie des Als Ob scheint mir die Erkenntnis zu sein, dass man durch falsche Setzungen dennoch produktive Realitäten erzeugen kann bzw. dass Realität im Plural gedacht werden muss, da sie zumindest partiell etwas Fingiertes ist. Er verteidigt das Fingieren als kreative Kraft, die es ermöglicht, die starren Vorgaben der Realität zu verlassen und neue Wege zu finden. Aller‐ dings geht Vaihinger dabei sehr exkludierend und wertend vor, wenn er gute Fiktionen von „überflüssige[n] und unzweckmässige[n]“ strikt trennt und die Figmente als ästhetische Fiktionen aufgrund ihrer Zweckentbundenheit keinen hohen Stellenwert in seinem Denken haben. 35 11. Sprechen und gesprochen werden 268 <?page no="271"?> 36 Cf. auch Kapitel 4.1. 37 Derrida nennt die Anführungszeichen in einem Interview Kräne, die greifen um los‐ zulassen: „Comme des crampons qui décramponnent. Comme des pinces ou des grues (j’ai comparé quelque part, je crois, les guillemets à des grues) qui saisissent pour dessaisir.“ [ Jacques Derrida: „Entre crochets“, in: id.: Points de suspension - Entretiens, Paris: Galilée 1992, pp. 13-36, hier p. 17]. Im selben Interview führt Derrida in einer Werbung für seinen im Erscheinen begriffenen Text „Pas“ aus Parages Blanchot als seinen Vorgänger oder Vordenker an, in dessen Fußstapfen (pas) er sich bewegt. Um dieses pas in seiner Doppelbedeutung von Verneinung und Schritt wird es im letzten Kapitel meiner Studie gehen. Der Zweck (ein anderer freilich als der im Sinne Vaihingers) des ‚als ob‘ in Thomas l’Obscur ist indessen nicht zu unterschätzen. Insbesondere im 11. Kapitel nimmt das ‚comme si‘ den Worten die Kraft des Aussagens und lässt stattdessen an den Leerstellen des Imaginären eine Erfahrung des Unbegreiflichen zu. Der‐ gestalt macht sich der Text nach allen Seiten hin als Gefüge porös und über‐ schreitet sich über eine Abwendung vom Erzählen in seiner Hervorhebung der Diskursivierung. Blanchots Vorbild hierfür ist, daraus macht er keinen Hehl, Kafka, auf dessen ‚als ob‘ ich im 12. Kapitel zurückkommen werde. Auch Joseph Vogls Gedanken zur „vierten Person“ als Alternative zum Er‐ zähler-Subjekt fußt auf Kafka-Lektüren, darüber hinaus aber auch auf Gilles Deleuzes Texten, aus denen Vogl den Begriff der „vierten Person“ bezieht. 36 Deleuze wiederum hat das Sprechen in der „vierten Person“ in einem Versuch der Beschreibung von Blanchots Schreiben entwickelt. Hier schließt sich folglich der Kreis und öffnet sich sogleich, wenn man die „vierte Person“ Deleuzes / Vogls mit der voix narrative Blanchots verbindet und das ‚comme si‘ als eine der präg‐ nantesten Erscheinungsformen der neutralen Erzählstimme liest. 11.3 Anführungsstriche Genau diese Frage nach der Erzählstimme stellt sich, wenn sich im 11. Kapitel von TO 2 nach dem ‚comme si‘ in Form von Anführungsstrichen eine Erzähl‐ klammer öffnet, die erst nach dem letzten Wort des 11. Kapitels wieder ge‐ schlossen wird (das Kapitel umfasst, wie bereits erwähnt, immerhin 30 Seiten) und somit allem in ihr Gesagten nach dem ‚comme si‘ eine Rahmung verschafft, in der die Rede von Thomas zu sich selbst als ein eigentlich unlesbares Sprechen liegt. 37 Auf der Basis des ‚comme si‘ wird Thomas über eine Totenrede in Form des rhetorischen Mittels der sermocinatio eine Stimme verliehen, was konkret bedeutet, dass die Erzählinstanz einem ‚il‘ eine Rede in der 1. Person Singular 11.3 Anführungsstriche 269 <?page no="272"?> 38 Für diesen so entscheidenden Hinweis auf die sermocinatio bin ich Bernhard Teuber zu tiefstem Dank verpflichtet. 39 TO2: 99. 40 Ibid. in den Mund legt. 38 Da diese Rede jedoch als medial problematische Redewie‐ dergabe ausgestellt ist, bleibt Thomas’ Sprechen im Raum des Uneigentlichen und entzieht sich der Anwesenheit. Die solches Sprechen verkörpernde direkte Rede ist nie eine direkte Rede gewesen. In der Folge ist die Rede nicht als einfache Präsenz Thomas’ zu verstehen, sondern als grundlegende Infragestellung von Anwesenheit, Subjektivität und Einheit von Stimme und Körper sowie von Stimme und der sie verkörpernden Schrift. Die Rede wird als sermocinatio Thomas in den Mund gelegt und dies ist im Kontext der voix narrative sehr buchstäblich zu verstehen. Die ersten Worte innerhalb der Klammer lauten: „Je me doutais, dit-il, qu’Anne avait prémédité sa mort.“ 39 Dabei ist diese direkte Rede durch das verbum dicendi „dit-il“ als direkte Rede, die von einer heterodiegetischen Instanz eingeführt wird, markiert. Gerade weil sich diese eigentlich medial nicht dar‐ stellbare Rede Thomas’ über 30 Seiten erstreckt, muss darauf hingewiesen werden, dass jedes Mal, wenn innerhalb der Rede ein ‚Ich‘ spricht, selbiges nicht mit der Instanz eines Ich-Erzählers verwechselt werden darf. Das sprechende Ich ist keine Innerlichkeit, sondern eine Instanz des neutre, das unter der Be‐ dingung der eigenen Unmöglichkeit durch die Form ‚Ich‘ spricht und dadurch den Anschein einer Subjektivierung erzeugt bzw. im Verlauf des Kapitels die Subjektivierung hochgradig problematisch werden lässt. Sodann wird erklärt, dass Anne die Stimme nicht hören kann, welche sagt: „Est-ce possible? “ 40 Diese unhörbare oder unverständliche Stimme, die wie das ‚comme si‘ nach der Möglichkeit von etwas nicht näher Bestimmtem („ce“) fragt, ist jedoch durch Anführungsstriche markiert und bildet in der Folge eine Ebene des Fragens, die innerhalb des uneigentlichen Selbstgesprächs Thomas’, dem wir als Leser dennoch beizuwohnen scheinen, gestellt und gelesen werden kann, sich aber gleichzeitig für Anne als Tote als unverständlich / unhörbar erweist. Diese Frage nach der grundsätzlichen Möglichkeit kann als Leserahmen inter‐ pretiert werden, als metatextuelle Frage, die bei der Lektüre von Thomas l’Obscur unablässig gestellt werden muss: Ist dies möglich und wenn ja, wie? Auf welcher Stufe der Unmöglichkeit befinden wir uns gerade? Der Text referiert damit abermals auf die instabile Grundlage seiner in den Modus des ‚als ob‘ gesetzten Rede. Wenig später wird die Anfangssituation des Textes erneut aufgenommen, jedoch nicht wie zu Beginn in der heterodiegeti‐ schen Er-Perspektive, sondern in der Ich-Perspektive der Binnenfiktion. Der 11. Sprechen und gesprochen werden 270 <?page no="273"?> 41 TO2: 101: „Ensuite, je demeurai seul auprès d’elle.“ 42 TO2: 102. 43 Cf. ibid. 44 „Sous le nom de Thomas, dans cet état choisi où l’on pouvait me nommer et me décrire, j’avais l’aspect d’un vivant quelconque, mais comme je n’étais réel que sous le nom de mort, je laissai transparaître […] l’esprit funeste des ombres […].“ [TO2: 105]. Ausgangspunkt der Rede, das Allein-Bleiben von Thomas, das die Selbstrefle‐ xion bedingt, wird hier noch einmal hypodiegetisch erzählt. 41 Dieses re-entry der Erzählsituation in die erzählte Situation im Falle von Thomas, der allein im Zimmer zurückbleibt (was wiederum erzählt wird), zeigt sich auch in der per‐ formativ markierten Überlagerung der Ebenen in seiner Rede über Anne: „C’est alors, son histoire et l’histoire de sa mort s’étant évanouies ensemble […].“ 42 Die Frage ist, was Annes Geschichte von der Geschichte ihres Todes unterscheidet. Ist ihre Geschichte die ihres Lebens, ihres Bewusstseins und die ihres Todes eine andere, nicht mehr allein ihre, sondern schon weiter auf dem Feld des Todes angesiedelt und damit nicht mehr einem Subjekt zuzuordnen oder von einem solchen zu erzählen? In jedem Fall scheint es sich um zwei Geschichten zu han‐ deln, die sich, aus zwei verschiedenen Richtungen oder von zwei Ebenen kom‐ mend, treffen und miteinander vergehen. Wenn es im Folgenden um die Überlagerung dieser beiden Geschichten von Anne geht, dann weil sie für das Ich den Chronotopos der Nacht als Erfahrung des Todes etablieren. Die eröffnete Temporaldeixis „C’est alors“ wird nur einen Satz später variiert durch „C’était vraiment la nuit.“ Die Nacht bedeutet nicht nur einen Zeitpunkt, sondern eine Verräumlichung, von der das trauernde Ich eingehüllt wird. Unter diesen Bedingungen verinnerlicht es den Tod Annes. In einer wahren Paradigmatik des Todes (elf Todeslexeme in einem Satz) spricht das Ich im Medium der Nacht den Tod, d. h. es beschreibt ihn nicht mehr nur, sondern wird zur Erzählinstanz des Todes. 43 Daraus folgt auch, dass es sich nicht nur in einer Selbstverdoppelung vom Tod her bezeichnet. Der Tod schafft sich vielmehr unter dem Eigennamen Thomas eine Bezeichenbarkeit. Dadurch wird das Ich sich gleich mehrfach zur Äußerlichkeit, zur dunklen Reflexion seiner selbst und seiner nicht-selbst. Diese Bewegung ins Außen folgt einer Logik der ‚autre‘ nuit, die nicht der romantischen Nacht eines Novalis entspricht, sondern stets darauf verweist, dass alles, was gesagt wird, lediglich uneinholbare Spuren eines Anderen sind, zu dem es keine Deckungsgleichheit gibt. Daher ist sodann auch die Rede von einem „double“, von dem die Erzählstimme in ihren Gefühlen vertreten wird. 44 Auf der Erzählebene wie auf der Ebene des Inhalts haben wir es mit einem Verdopplungsvorgang und einem Ersetzungsvorgang zu tun: ‚Thomas‘ tritt im 11.3 Anführungsstriche 271 <?page no="274"?> 45 TO2: 108. 46 TO2: 109. Der Absatz beginnt mit den Worten „La certitude de mourir […].“ Ein zweiter Absatz findet sich auf p. 119. 47 Im 5. Kapitel von TO2 findet sich eine ähnliche Struktur: Das Kapitel beginnt mit einer kurzen Beschreibung Thomas’, die in die Rede einer Stimme überleitet. Diese Rede ist durch Anführungsstriche markiert, innerhalb derer sich über vier Seiten andere einge‐ lagerte Reden finden [TO2: 34-38]. Das Besondere am 11. Kapitel von TO2 ist die ver‐ vielfachte Komplexität, mit der derartige Segmentierungen vorgenommen werden, die zusammen mit anderen Auffälligkeiten der Interpunktion das Augenmerk auf die Schrift legen und herausstellen, dass diese Ordnung unzuverlässig sein kann, bzw. auf Verbindungen zwischen den Worten hinweist, die sonst nicht lesbar wären. Worte enden nicht immer am Wortende, Sätze nicht am Satzende und sprechende Subjekte werden zu Erzählinstanzen, die ineinander übergehen können, ohne eine klare Tren‐ nung zu markieren. Dass es sich bei den Abweichungen in der Interpunktion nicht um Flüchtigkeitsfehler handelt, beweist zum einen der zielgerichtete Einsatz beim Sprechen depersonalisierter Stimmen wie sie im 5. und 11. Kapitel auftreten, zum anderen aber auch die Genauigkeit, mit der in anderen Kapiteln Dialoge über tirets (Dialogstriche, lange Gedankenstriche) sowie Anführungsstriche hervorgehoben sind. All dies sind Ausdrucksformen der voix narrative, die im Sprechen das Sprechen zerspricht. Augenblick des Todes an die Stelle des sterbenden Menschen, indem er im Sterbenden unter dem Vorzeichen der Leere erscheint. Der Ersetzungsvorgang ist wiederum markiert durch eine Stimme, die im Text auch in direkter Rede spricht, indem sie sagt: „Il est trop tard.“ 45 Wie der Name ist das Sprechen im Sinne der Nachzeitigkeit der Repräsentation immer schon zu spät und ein Zei‐ chen des Todes. Weitersprechen Kurz darauf gibt es innerhalb der Thomas zugeschriebenen Rede einen Absatz 46 , der eine Zäsur markiert und in den weitere direkte Reden eingelagert sind. Das Sprechen hält auf diese Weise für einen Augenblick inne („fin“ ist das letzte Wort, bevor der neue Absatz beginnt und deutet somit auch inhaltlich auf ein Moment des Endens und des Neubeginns hin), um dann erneut anzusetzen. 47 Die Frage von Anfang und Ende, von Unterbrechung und Fortsetzung, insbesondere je‐ doch die Frage der Zuordnung einer Rede, die sich unablässig selbst hinterfragt, kehrt hier zusätzlich auf der Ebene des Erzählten wieder. Die Erzählstimme (Ich) stellt fest, dass es die Angewohnheit unter den Menschen gibt, einerseits Ord‐ nungen oder Zuordnungen zu verkehren und andererseits alles in eine Ordnung zu bringen, die der binären Logik gehorcht. So werden Kausalitäten konstruiert, um Widersprüche zu tilgen oder zu umgehen: Ils ont pris l’habitude de dire de l’existence tout ce qu’ils pouvaient dire de la mort pour moi et, au lieu de murmurer: ‚Je suis, je ne suis pas‘, de mêler les termes dans 11. Sprechen und gesprochen werden 272 <?page no="275"?> 48 TO2: 110. 49 Schlegel 1967: 182-183. une même et heureuse combinaison, de dire: ‚Je suis, n’étant pas‘ et également: ‚Je ne suis pas, étant‘, sans qu’il y eût là la moindre tentative pour rapprocher des mots contraires en les usant l’un contre l’autre comme des pierres. 48 Eine Alternative zur Hierarchisierung wäre demnach die Annäherung der Ge‐ gensätze über den Widerstand oder über die Reibung, was sich im Zitat z. B. über Wörter wie „contraires“ oder „contre“ zeigt. Durch die Sprache ist es möglich, Dinge zusammenzubringen, die sonst nicht gleichzeitig anwesend sein könnten. Als metasprachliche Äußerung gelesen, bedeutet dies auch eine Referenz darauf, dass der Leser beim Lesen dieser Zeilen eine Lektüre vollzieht, deren ontologi‐ scher Status prekär ist. Welche Gefahren dies für das binnenfiktionale Ich birgt, werde ich am Ende dieses Kapitels ausführen. Es ist jedoch kein Zufall, dass als Beispiel hier auf das Cartesianische Cogito angespielt wird, das im weiteren Textverlauf des 11. Kapitels wiederkehrt, schreibt sich doch Blanchot dezidiert in eine romantische Perspektive ein, die der aufklärerischen Vernunft mit dem affirmierten Denken des Widerspruchs entgegentritt. Die Gleichzeitigkeit von „Ich bin / ich bin nicht“ verweist zudem narratologisch abermals auf das Problem der Identität der Erzählstimmen, die nicht hierarchisch geordnet werden, wie auch der Unterschied Ich / Nicht-Ich in seiner Gleich-Gültigkeit nicht überbrückt wird. 11.4 Lupe und Spiegel Die Frage der unüberbrückbaren Differenz im Selbstbezug stellt Blanchot an der zentralen Episode des 11. Kapitels über eine Auseinandersetzung mit der ro‐ mantischen Metaphorik optischer Medialität dar, die als scheiterndes Erleuch‐ tungserlebnis inszeniert wird. In seinem berühmten 116. Fragment des Athe‐ näums schreibt Friedrich Schlegel über die romantische progressive Universalpoesie: Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstel‐ lenden, frei von allem realen und irrealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen. 49 Die Poesie kann auf diese Weise nie zu sich selbst kommen, denn durch die Reflexion teilt sich das Selbst in einen reflektierenden und einen reflektierten 11.4 Lupe und Spiegel 273 <?page no="276"?> 50 Cf. AT: 523. 51 TO2: 112. Teil. So schafft sie sich ihren blinden Fleck, den die Vervielfältigung nicht ein‐ zuholen vermag, weil sie sein Grund ist. Schlegels Ironiebegriff beschreibt dieses Problem als Macht der Sprache, die nicht vom Subjekt kontrolliert werden kann, sondern sich vielmehr das Subjekt unterwirft. Novalis verweist auf diese Ei‐ genmächtigkeit der Sprache bereits in seinem „Monolog“ von 1798, worauf wie‐ derum Blanchot in „Athenaeum“ zurückgreift. 50 Die Episode, um die es jetzt in Bezug auf einen Reflexionsprozess nächtlicher Natur gehen soll, beginnt damit, dass die Erzählstimme (Ich) kundgibt, ihr sei die Illusion des Tages, gleichbedeutend mit Licht, Wahrheit und Logik, klarge‐ worden und dabei schlagartig aus ihr herausgefahren. Die Exkarnation des Tages legt ein Denken der Nacht frei. Zunächst erscheint eine Reihe an Dop‐ plungsbildern: zwei aneinander klebende Gesichter, zwei Ufer, die gleichzeitig vom ‚Ich‘ berührt und damit verbunden werden, ein Körper, der in Form einer Negationsbewegung eine zusätzliche Ebene über dem realen Körper bildet. Das Bewusstsein über diese Doppelstruktur der eigenen Physiognomie verursacht eine schizoide Aufspaltung des ‚Ich‘. Das romantische Spiegelmotiv scheint hier nicht nur optisch-reflexiv verwendet, sondern in eine bedrohliche körperliche Spaltung übersetzt zu sein. Durch die Ablösung, welche einen Abstand bewirkt und bedeutet, tritt eine Beziehung zwischen den beiden Körpern des ‚Ich‘ hervor. Indem der Abstand sowohl Differenz als auch Beziehung ist, ruft er ein Begehren hervor, wie man es in der christlichen Brautmystik, aber auch in der romanti‐ schen Sehnsucht wiederfindet. Dennoch gibt es signifikante Unterschiede zwi‐ schen der Begehrensstruktur in TO 2 und der der Romantik. So ist in Blanchots Text die Uneinholbarkeit des Anderen mehrfach als Unmöglichkeit durch ver‐ schiedene Formeln der Unsagbarkeit belegt. Diese erzeugen dennoch für die Erzählstimme ‚Ich‘ eine Verknüpfung mit dem Namen Thomas. Nul poison pour m’unir à ce qui ne pouvait supporter de nom, ni être désigné par le contraire de son contraire, ni conçu comme une relation à quoi que ce fût. La mort était une métamorphose grossière auprès de la nullité indiscernable que j’accolais cependant au nom de Thomas. 51 Diese „nicht wahrnehmbare Nichtigkeit“, die minimalste aller möglichen Ver‐ bindungen, führt das zweifelnde, fragende Ich in sich selbst zurück. Es entdeckt dort sich selbst als „hôte“, den Gastgeber und / oder Gast - denn „hôte“ kann im 11. Sprechen und gesprochen werden 274 <?page no="277"?> 52 TO2: 113. Emmanuel Levinas hat das Subjekt ebenfalls als „hôte“ bezeichnet. Im Kontext der Frage über die Subjektivität und das Selbst-Bewusstsein beschreibt er den Vorgang des Sich-Selbst-Begreifens als eine Form der körperlichen Selbstimplantation, bei der das Subjekt zum Gast bzw. Gastgeber wird: „[E]lle [la conscience de soi, Anm. M. B.] s’implante en soi comme corps et elle se tient dans son intériorité, dans sa maison. Elle accomplit ainsi la séparation positivement, sans se réduire à une négation de l’être dont elle sépare. Mais ainsi précisément elle peut l’accueillir. Le sujet est un hôte.“ [Levinas 1971: 334]. Siehe dazu auch die Darstellung des Konzepts des Anderen bei Levinas im Kapitel 7.1. 53 Neben Harpagon ist es auch der Mythos des Ödipus, der hier strukturell implizit mit aufgerufen wird, sofern Ödipus auf der Suche nach dem Mörder seines Vaters bei sich selbst als dem Mörder landet. 54 Zu beachten ist, dass es sich hier um eine Parallele zum „microscope géant“ des ersten Kapitels von Thomas l’Obscur handelt. Französischen beides bedeuten - des „obscur Thomas“. 52 Die hierarchisierende Selbstversicherung in der logischen Vertikalität des Selbstbezuges weicht somit einem radikalen Nebeneinander. Die Figur der Differenz wird in einer Reihe von Conditionnels du passé aufgegriffen, die in das Bild der Gleichzeitigkeit von Nichts und Existenz münden. Der Irrealis der Vergangenheit erweitert sich zu einem Destruktionsakt, in dem „néant“ und „existence“ als Worte genommen werden, die sich, gegeneinander gestellt, wechselseitig aufgrund ihres Gegen‐ satzes auslöschen. Schließlich findet sich das ‚Ich‘ durch all die Auslöschungs‐ akte in Form einer Analogie zu Molières Geizigem, dem Protagonisten Har‐ pagon, der auf der Suche nach dem Dieb und in der in der Überzeugung, den Dieb am Arm zu fassen, letztlich sich selbst als Schuldigen entlarvt. 53 Das Bild, das hier evoziert wird, ist das einer selbstgeschaffenen Problematik, die den Ursache-Suchenden in Form eines ewigen re-entrys zu sich selbst führt. Diese logisch unmögliche Kausalitätsstruktur wird durch die Schilderung im Irrealis noch verschärft und somit auf die narratologische Bedingtheit bezogen. 11.5 Ich denke, also bin ich nicht Nach der Spaltung situiert sich das Ich im Inneren einer „grotte profonde“, wo es eine Art Eingebung erfährt, die sich auditiv als „mots inintelligibles“ be‐ merkbar machen, was das Ich dazu veranlasst, die Umkehrung der Descartschen Erkenntnisformel an die Wand zu schreiben: „Je pense, donc je ne suis pas.“ Dies bildet wiederum den Grund für eine Vision. Hören führt zum Schreiben, führt zum Sehen. Von der Tiefe der Höhle (ein zentrales Bild in der Abstiegsmystik wie auch in zahlreichen romantischen Texten) gelangt das ‚Ich‘ in die Ebene, in ein weites Land, wo sich eine surrealistisch anmutende Lupe befindet. 54 Mit einer 11.5 Ich denke, also bin ich nicht 275 <?page no="278"?> 55 Jens Ruchatz: Licht und Wahrheit - Eine Mediumgeschichte der fotografischen Projek‐ tion, München: Fink 2004, hier p. 76. 56 Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 4 / 2, edd.: Reinhard Lauth, Hans Gliwitzky, Stuttgart-Bad Canstatt: Frommann 1978, p. 49. großen Anzahl von Ausdrücken, die eine Isotopie des Feuers und des Lichts bilden, wird der Prozess der Selbstbewusstwerdung des zur Lupe gewordenen Ichs als Lichtbündelung beschrieben. Hierbei verschränkt der Text beide Funk‐ tionen einer Lupe: die Vergrößerung des durch die Lupe Betrachteten zum einen sowie die Bündelung der bei der Absorption des Lichts entstehenden Wärme in Form eines Brennglases zum anderen. Die Geschichte der Lupe als optisches Hilfsmittel ist gekoppelt an den Glauben, mittels Vergrößerung aller Details das Sichtbare wahrnehmen zu können. So schreibt Jens Ruchatz im Kontext der Daguerreotopie, die Louis Da‐ guerre 1839 dem Publikum über den Blick durch eine Lupe vorführte: „Die Lupe macht Details nicht nur sichtbar, indem sie Winziges vergrößert, sondern glei‐ chermaßen, indem sie Einzelheiten isoliert, die Aufmerksamkeit bündelt und die Imagination anstachelt, die Dinge zum Sprechen zu bringen.“ 55 Das Wesen der Lupe ist Bündelung und Fokussierung, Sichtbarmachung von Details, die sonst nicht bemerkt würden. Mittels der Bündelung der Sonnenstrahlen wird das Licht auf einen Punkt konzentriert, auf einen Punkt gebracht, was wiederum, so greife ich vor, etwas später im Text auch im Rahmen der Interpunktion geschieht. Die Lupe als eine von zahlreichen Instanzen der Isotopie des Sehens verweist zudem möglicher‐ weise auf Johann Gottlieb Fichtes Umakzentuierung der optischen Dispositive für den Erkenntnisprozess. Fichte versucht der ewigen Spiegeldualität des Ichs zu entkommen, indem er das Ich nicht als Spiegel begreift, sondern als „Auge; es ist ein sich ABSPIEGELNDER SPIEGEL , ist Bild von sich; durch sein eigenes sehen wird das Auge (die INTELLIGENZ ) sich selbst zum Bilde.“ 56 Doch bei Blanchot (wie bei Schlegel) funktioniert die Arretierung der Selbstreflexion in einer Anschauung nicht: Dem brennenden, alles verbrennenden Ich der Lupe stellt sich sogleich die Erzählstimme ‚Ich‘ mit einem scheinbar übergeordneten Bewusstsein entgegen, d. h. einem Bewusstsein, welches den anderen Bewusst‐ seinsakt erfassen kann. Das sprechende ‚Ich‘ positioniert sich sozusagen gegen das dargestellte Ich. Die Bedingung für diese Erkenntnis wird kurz darauf ge‐ liefert: Il se mit alors à parler, et sa voix sembla sortir du fond de mon cœur. Je pense, dit-il, je réunis tout ce qui est lumière sans chaleur […] dans une première absence de 11. Sprechen und gesprochen werden 276 <?page no="279"?> 57 TO2: 115-116. 58 TO2: 115. 59 TO1: 304. moi-même […] Je pense, dit-il, je suis sujet et objet d’une irritation toute-puissante; […] Je pense: là où la pensée s’ajoute à moi […]. 57 Wie ist das Sprechen in diesem Abschnitt gegliedert? „Il“ bezieht sich wahr‐ scheinlich auf den Spiegel, als welchen das ‚Ich‘ die Lupe (oder das Lupenbe‐ wusstsein) wahrnimmt. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass hier Thomas oder das Neutrum il spricht. Es lässt sich nicht entscheiden, weil sich die Refle‐ xion = Spiegelung = Verweisungsstruktur der Sprache nicht auf eine Sprecher‐ instanz festlegen lässt. Das Sprechen des Spiegels, nicht nur im Märchen von Schneewittchen Metapher der Selbsterkenntnis, hat scheinbar seinen Ursprung im Herzensgrund des Ich-Erzählers, woraus wiederum zu schließen wäre, dass es sich um einen sichtbaren Teil (in Form der Lupe bzw. des Spiegels) und einen unsichtbaren Teil (ein Sprechen aus dem Inneren) handelt. Die direkte Rede des Spiegels ist nicht mit Anführungsstrichen gekennzeichnet und weist mit der dreifachen Wiederholung des „Je pense“ eine nicht zu übersehende Struktur auf. Während nach dem „Je pense“ zweimal das verbum dicendi „dit-il“ angefügt ist, findet sich beim dritten Mal ein Doppelpunkt. 58 Der Doppelpunkt markiert eine Kürzung der ersten Version von Thomas l’Obscur, in der es heißt: „Je pense, dit-il, là où la pensée s’ajoute à moi […].“ 59 Die direkte Figurenrede wechselt damit in TO 2 zur direkten autonomen Figurenrede, die sich ganz vom Erzähler abgelöst zu haben scheint, wobei eine Spur der Inquit-Formel, also der Markierung der Vermittlung, über den Doppelpunkt bleibt. Der Doppelpunkt in der Funktion eines Kommas kann daher als Hinweis auf eine Sprech- und Denkpause ver‐ standen werden, als Punkt der Wandlung oder Umkehr. Es ist indessen unklar, was für ein Verhältnis er auszeichnen soll, ob er verbindet oder eine Pause macht oder gar die Funktion der Neutralisierung der Vermittlungsinstanz im Vorder‐ grund steht. Ich schlage daher vor, ihn als Hervorhebung der Beziehung an sich zu lesen, d. h. als vereinigendes wie trennendes Moment, das ein Intervall ak‐ zentuiert, durch welches das Sprechen sich selbst unterbricht und neu beginnen lässt. Die auf den Doppelpunkt folgende Formulierung „là où la“ bewirkt eine Brechung der zuvor geschehenen cartesianischen Bündelung auf einen Punkt hin, denn auf der phonetischen Ebene ist das deiktische „là“ nicht zu unter‐ scheiden vom bestimmten weiblichen Artikel „la“, wie auch phonetisch kein Unterschied zwischen dem „wo“ (où) und dem „oder“ (ou) besteht. In der Weise, wie der Doppelpunkt typographisch auf das verbergende und ausblendende Moment der Fokussierung hinweist, entfacht er das entgrenzende Gleiten der 11.5 Ich denke, also bin ich nicht 277 <?page no="280"?> Signifikanten, die auf ihn folgen, und bricht somit die Optik wie die Subjektivität auf. Narratologisch wird in ihm noch einmal das Problem der Hierarchie der Er‐ zählstimmen auf den (Doppel-)Punkt gebracht. Dieser Doppelpunkt, der das „dit-il“ der Version von 1941 löscht, eröffnet eine metafiktionale Ebene, mit der Inhaltliches graphisch exemplifiziert wird. So wie das „dit-il“ als erzählende Ebene versteckt wird, versteckt und markiert er auch die andere Version des Textes. Er markiert die Spur einer Auslassung, die das ‚Wer‘ und das ‚Wo‘ im Sinne der narratologischen Ebenen verunklart. Der Doppelpunkt funktioniert als eine Löschung der hierarchisierenden Er‐ zählerfigur. Über ihn wird die vermittelnde Ordnung des Erzählers als ver‐ schwunden ausgestellt, jedoch nicht neu gefüllt. Damit zeigt sich in ihm die Spur der anderen Nacht, die nur in ihrer Absenz erscheinen kann. Im weiteren Text‐ geschehen des 11. Kapitels wird die Nacht ganz massiv in eine Relation zum ‚Ich‘ gestellt und hymnisch angerufen. Inwiefern es sich dabei um eine première oder eine ‚autre‘ nuit handelt, soll durch den Vergleich mit der Nacht aus Novalis’ Hymnen an die Nacht untersucht werden. 11.6 Hymnen an die Nacht Das Problem der Sprecherpositionierung trägt auch einer der wichtigsten ro‐ mantischen Intertexte Blanchots bereits im Titel. Denn Novalis’ Hymnen an die Nacht (1799 / 1800) werfen nicht nur einen bestimmten Zugang zur Nacht auf, sondern verweisen mit der Adressierung der Hymnen an die Nacht auch immer schon auf die Positionierung eines Sprechers gegenüber der Nacht und damit auf das Denken einer Relation zwischen Sprecher und Nacht. Wie es nun zu zeigen gilt, wird diese Relation aber durch zwei Fassungen nochmals über den Einzeltext hinaus gedoppelt und zugleich auf die Frage nach der Gattung pro‐ jiziert. Denn Novalis’ Zyklus Hymnen an die Nacht existiert wie Thomas l’Obscur in zwei Versionen: der Handschrift (großteils in Versform) und der Athenäums‐ fassung (Prosafassung). Anders als Blanchot, der beide Fassungen nebenei‐ nander stellt, hat Novalis die Prosafassung als endgültige Druckfassung ausge‐ wählt, sich also in gewisser Weise für eine Version entschieden, weshalb in der Forschung meist die Athenäumsfassung verwendet wird. Sie trägt dennoch als Versuch einer Prosa-Poesie das Lyrische in sich. Bei beiden Autoren muss daher die Frage der Fassung und des Genres - Poesie oder Prosa, Roman oder Erzäh‐ lung - gestellt werden, wenn es um die Situierung des Bezugstextes geht. Beide unterlaufen so eine Logik des Ursprungsdenkens. Stattdessen stellt sich das 11. Sprechen und gesprochen werden 278 <?page no="281"?> 60 Gerhard Schulz: Novalis - Leben und Werk Friedrich von Hardenbergs, München: Beck 2011, hier p. 235. 61 Edward Young: The Complaint or, Night thoughts - On Life, Death and Immortality, London: o.V. 1756. 62 „Was quillt auf einmal so ahndungsvoll unterm Herzen,und verschluckt der Wehmuth weiche Luft? Hast auch du ein Gefallen an uns, dunkle Nacht? Was hältst du unter deinem Mantel, das mir unsichtbar kräftig an die Seele geht? “ [Novalis: Die Hymnen an die Nacht (Athenäumsdruck), in: id.: Schriften I, edd. Paul Kluckhohn, Richard Samuel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977, pp. 130-157, hier p. 131]. Problem der Form, was wiederum als Effekt der Selbstproblematisierung des Sprechens interpretiert werden darf. Bei Novalis wie bei Blanchot rückt das sprachliche Material als schöpferisches in den Vordergrund und wird zur Me‐ tapoetik, d. h. zur Reflexion der Bedingungen von Repräsentation bzw. deren Grenzen. So wird die sich von der Mimesis abwendende Sprache transzendie‐ rend, jedoch nicht transzendent. Transzendentale Poiesis tritt mithin an die Stelle der Mimesis. Die Hymnen an die Nacht von Novalis setzen sich aus sechs Teilen zusammen, von denen die 3. Hymne sowohl in der Prosafassung als auch in der Handschrift in Prosa gehalten ist, wodurch ihr nicht nur inhaltlich (in Form der Transfor‐ mation des Todes in die Bejahung der Nacht), sondern schon allein formal eine besondere Rolle zuteilwird. Das übergeordnete Thema des Gesamttextes ist die „Überwindung des Todes im Bewußtsein“ 60 , worin sich neben der Verarbeitung des Verlusts von Novalis’ Verlobter Sophie von Kühn auch die Spur der Night Thoughts von Edward Young widerspiegelt. 61 In den Hymnen entdeckt das trauernde lyrische Ich hinter der lichthaften Welt des Tages (der Aufklärung) die Sphäre der Nacht als Möglichkeit der Entgren‐ zungs- und Einheitserfahrung. Aus dem Denken und Wahrnehmen des Tages wendet es sich über eine Abwärtsbewegung bzw. eine Öffnung des Geistes hin zur Nacht, die gleich der Nyx aus der griechischen Mythologie als Frauengestalt von einem großen Mantel bedeckt ist. 62 Obschon in der 2. Hymne die unendlich scheinende Nacht zunächst vom beginnenden Tag unterbrochen und in ihrer dichotomischen Stellung zum Tag ausgewiesen wird, setzt sich der Glaube an die Unbegrenztheit der Nacht durch, die über den Schlaf einen anderen Be‐ wusstseinszustand eröffnet. In der 3. Hymne etabliert sich schließlich der Glaube an die Nacht vollständig und beginnt religiöse Züge anzunehmen, die sich ab der 4. Hymne in einem deutlich christlichen Bildarsenal bündeln. Das Ich dringt durch den rechten Glauben an die Nacht zu den Geheimnissen von Leben und Tod vor und kann der irdischen Dualität durch ein Parallelwissen fortan mit dem baldigen Eingang in die Unendlichkeit trotzen. 11.6 Hymnen an die Nacht 279 <?page no="282"?> 63 Ibid., p. 133. 64 Es wären zahlreiche thematische Parallelen zwischen den beiden Texten möglich, da‐ runter die Vereinigungsthematik mit der gestorbenen Geliebten. Darauf kann aber im Rahmen dieser Untersuchung nicht eingegangen werden. 65 „Je suis triste, le soir vient. Mais j’éprouve aussi le contraire de la tristesse.“ [TO2: 119]. Der andere Absatz findet sich auf p. 109. 66 „Je descends dans le bloc dur du marbre avec la sensation de glisser à la mer.“ [TO2: 120]. Das Bild des Eintauchens ins Meer schließt an die Immersionsbewegung des ersten Kapitels an, wo Thomas ebenfalls ins Meer gleitet. 67 TO2: 123. 68 TO2: 124. 69 Cf. Kapitel A.1 der Präliminarien. 70 TO2: 123. Doch zurück zum Anfang der Hymnen. Wenn mit „unendlichen Augen, die die Nacht uns geöffnet“ 63 das Sehen im Dunklen, Tiefen und Verborgenen in der 1. Hymne das eigentlichen Erkenntnisorgan ist, so wird von Blanchot nun im 11. Kapitel sowohl die Lichtmetaphorik aufgenommen (Lupe, Sonne, Feuer sowie Hitze als ein Zuviel des Lichts) als auch die Multidimenionalität der Nacht durchgespielt. 64 Der Beginn der Nacht ist textuell durch einen Absatz markiert, der, wie im Vorangegangenen ausgeführt, eine Zäsur innerhalb von Thomas’ Selbstgespräch hervorhebt. 65 Verstärkt durch das Bild des Falles, ereignet sich in Analogie zu Novalis’ Hymnen eine Abstiegsbewegung in der Nacht und in die Nacht. 66 Abstieg und Fall korrespondieren sodann in TO 2 einem immer tie‐ feren Eindringen in die Nacht, die mit einer Transformation des Ichs zum An‐ deren verknüpft und an zahlreiche Entleerungen und Entwerdungen des Ichs gekoppelt ist. Das Ich scheint sich in einem Raum vor der Dialektik zu bewegen, einem Raum der gleichzeitigen Anwesenheit von sich ausschließenden Gegen‐ sätzen, die nicht in einem höheren Dritten aufgehoben werden. Und schließlich wird die Nacht nicht nur wahrgenommen, sondern deiktisch in den Text geholt: „Voilà donc la nuit. L’obscurité ne cache aucune chose. Mon premier discerne‐ ment est que cette nuit n’est pas l’absence provisoire de la clarté. Loin d’être un lieu possible d’images, elle se compose de tout ce qui ne se voit pas et ne s’entend pas […].“ 67 Einige Sätze weiter wird diese Nacht als „autre nuit“ bezeichnet. 68 Blanchot beschreibt sie und benennt sie hier so, wie er dann auch in L’espace littéraire einen Unterschied zwischen ‚autre‘ und première nuit postulieren wird. 69 Die andere Nacht ist das absolut Andere, zu dem es kein dialektisches Pendant gibt. So fährt die Nachterfahrung in TO 2 fort: „A la vraie nuit manquent donc l’inouï, l’invisible, tout ce qui peut rendre la nuit habitable. Elle ne se laisse rien attribuer d’autre qu’elle, elle est impénétrable.“ 70 Die andere Nacht ist eine absolute Be‐ ziehung. In ihr verkehren sich alle Beziehungen und werden in beide Richtungen 11. Sprechen und gesprochen werden 280 <?page no="283"?> 71 Maurice Blanchot: „Le dehors, la nuit“, in: EL, p. 213-224, hier p. 214. 72 Novalis 1977: 145. 73 Maurice Blanchot: „L’expérience d’Igitur“, in: EL, pp. 135-150, hier p. 140. gleichgültig, wodurch Subjekt und Objekt nicht mehr voneinander unter‐ schieden werden können. Die andere Nacht erzeugt eine zersetzende Intimität, in der die Identität des Unvereinbaren als Unterschiedslosigkeit das bestim‐ mende Merkmal bildet. Novalis’ Hymnen hingegen formulieren eher das, was Blanchot mit der première nuit bezeichnet. So schreibt er in „Le dehors, la nuit“ mit Bezug auf die Nachtkonzeption Novalis’: „La première nuit est accueillante. Novalis lui adresse des hymnes. On peut dire d’elle: dans la nuit, comme si elle avait une intimité. On entre dans la nuit et l’on s’y repose par le sommeil et par la mort.“ 71 Die Nacht ist der fruchtbare und schöpferische Grund des Tages, der angesichts ihrer Un‐ endlichkeit nur eine Komplexitätsreduktion ihrer Potentialität darstellt. Die Nacht verspricht eine Rückkehr in die Heimat und Geborgenheit, kurz gesagt: in ein Innen. So ist unter anderem in den Hymnen des Novalis „[d]ie Nacht der Offenbarungen mächtiger Schoos“. 72 In diesen bergenden Schoß gelangt das ly‐ rische Ich durch eine Art überdimensionierter Introjektion seiner selbst über das Universum hin zur ewigen Nacht. In Novalis’ Text wird die Einheit mit der Nacht ersehnt, sie erfüllt sich jedoch erst im Jenseits. Von dieser Möglichkeit der jenseitigen (wie auch diesseitigen) Einheit grenzt sich Blanchot nicht nur in Thomas l’Obscur ab, sondern auch in einem anderen theoretischen Text aus L’espace littéraire, in dem er über die Nacht- und Todes‐ konzeption von Novalis schreibt: „[D]ans la mort, Novalis, comme la plupart des romantiques allemands, cherche un au-delà de la mort, un plus que la mort, le retour à l’état total transfigurant, comme dans la nuit, non pas la nuit, mais le tout pacifié du jour et de la nuit.“ 73 Im Gegensatz zur Verschiebung der Erfül‐ lung der Nacht im Jenseits, erscheint die Nacht bei Blanchot über die schon zitierte deiktische Formulierung „Voilà donc la nuit“. Sie wird via Sprache in eine Anwesenheit und textuelle Immanenz gebracht, die aber letztlich eine Verhül‐ lungsstrategie ist. Die Nacht erscheint, um die andere Nacht zu verdecken, die sich hinter ihr ausbreitet. Die Erzählstimme spricht sie (die erste Nacht) schließ‐ lich, ähnlich wie zuvor das Bewusstsein adressiert wurde, mit der dreifachen Wiederholung eines „O nuit“ an und bemächtigt sich ihrer über diese Apo‐ strophe. Das Verhältnis zwischen dem Absoluten (der Nacht) und dem Ich kehrt 11.6 Hymnen an die Nacht 281 <?page no="284"?> 74 Zu dieser implikativen Logik mit Bezug auf das Verleihen einer Stimme siehe auch: Bettine Menke: „Prosopopeiia - Die Stimme des Textes, die Figur des ‚sprechenden Gesichts‘“, in: Gerhard Neumann ed.: Poststrukturalismus - Herausforderung an die Li‐ teraturwissenschaft, Stuttgart / Weimar: Metzler 1997, pp. 226-251. 75 TO2: 128-129. Luzius Keller führt diese Hymne an die Nacht Blanchots als Beispiel einer „Poesie der Dunkelheit und des Lichts“ an. Dass gerade mit dieser Stelle gezeigt werden müsste, wie Blanchot sich in diverse Traditionen einschreibt, um sie von innen heraus wieder zu zersetzen, bleibt ungesagt. [Luzius Keller: „Maurice Blanchot - Thomas l’obscur“, in: Walter Pabst ed.: Der moderne französische Roman - Interpretatio‐ nen, Berlin: Erich Schmidt 1968, pp. 182-197, hier p. 196]. 76 Maurice Blanchot: „L’interruption - Comme sur une surface de Riemann“, in: EI, pp. 106-112, hier p. 109. Die erste Fassung dieses Textes erschien wie AT 1964 in La Nouvelle Revue Française. sich über die Du-Form um, so dass die Nacht zur Schöpfung, d. h. zum Werk des Ichs wird. 74 O nuit, maintenant, rien ne me fera être, rien ne me séparera de toi. […] Je me penche sur toi, égal à toi, t’offrant un miroir pour ton parfait néant […] je te nomme et te définis. […] O nuit, je te fais goûter ton extase. […] Je suis avec toi, comme si tu étais mon œuvre. […] Je suis bien l’origine de ce qui est sans origine. […] Je l’oblige à être. O nuit, je suis lui-même. Voilà qu’il m’a attiré dans le piège de sa création. 75 Durch seine Rede an die Nacht vereinigt sich das sprechende Ich mit der Nacht, bezeichnet, begrenzt und entgrenzt sie ekstatisch. Das Ich erschafft diese Aus‐ sagen durch den Sprechakt. Auf dieser Ebene ist es „selbstthätig“ (im Sinne Fichtes) und absolut mächtig. Es kann unmögliche, d. h. nicht-propositionale, Aussagen machen, wie etwa sich als den Grund des Ungrundes zu setzen. Doch mit der Setzung des „je suis lui-même“ fängt die geschöpfte Sprache in der Um‐ kehr das Ich ein und entblößt es als ein in ohnmächtigem Werden begriffenes Ich. Subjekt und Objekt stellen sich als grammatikalische Funktionen heraus, deren Verhältnis sich an dieser Stelle umkehrt und das Ich (den Ursprung) zum Ergebnis seiner Taten macht. Jedes Sprechen über sich bringt das Ich in eine grammatikalische Abhängigkeit, verbindet es mit seinen Objekten über eine Relation, die in beide Richtungen geht. So wird das Ich mittels der Sprache vom absolut Mächtigen zum absolut Unterworfenen. In „La Voix narrative“ findet Blanchot für diese Dynamik der Sprache den Begriff des Neutrums, von dem zu Beginn des Kapitels schon die Rede war und den er in „L’interruption - Comme une surface de Riemann“ ganz explizit macht. Im Kontext der absoluten Alterität des anderen heißt es dort: „[P]ar la présence de l’autre entendu au neutre, il y a dans le champ des rapports une distorsion empêchant toute communication droite […].“ 76 Im Raum des neutre geraten die Zuordnungen der Sprache in Verzerrungen, die Beziehungen zwischen den 11. Sprechen und gesprochen werden 282 <?page no="285"?> Worten dehnen sich auf und gehen neue Verbindungen unterhalb der sichtbaren Oberfläche der Syntax und der Machtstruktur des Subjekts ein. Diese Inversion der Machtverhältnisse im Raum des Neutralen ist es auch, von der das erkennende Ich ergriffen wird, sofern in diesem Raum, der sich als Effekt der anderen Nacht lesen lässt, die Koordinaten der Subjektivität ihren Halt verlieren. Und hieran kann man einen Unterschied zum Ich des Idealismus oder der Romantik festmachen. Denn das Ich, welches bei Blanchot spricht, ist ein unterworfenes und kein aufgehobenes oder alles in sich enthaltendes Ich. Es ist eine abgelöste Stimme, deren Träger kein Subjekt, sondern der Text ist. Es ist eine Erzählstimme, die sich durch ihr eigenes Sprechen logisch, grammatika‐ lisch und narrativ unterwandert. Vereinigung wird zu Verdopplung und das Prinzip der Ähnlichkeit schafft keine Harmonie von Mikrokosmos und Makro‐ kosmos, sondern prekäre Verbindungen, die etablierte Sinnordnungen unter‐ laufen. Dabei handelt es sich um narratologische Strategien, die die Bedingtheit des Sprechens zugleich ausstellen und sie prozessual von einer Mimesis an per‐ sonalisiertes Sprechen befreien wollen. Sie betonen die reine Dynamik der Sprache an der Grenze zu ihrer Unmöglichkeit. Das Allgegenwärtig-Werden dieser Grenze ist die Radikalisierung der romantischen Totalität. 11.6 Hymnen an die Nacht 283 <?page no="286"?> 1 Seneca: „Moralische Briefe an Lucilius“, in: id.: Von der Seelenruhe - Philosophische Schriften und Briefe, transt. Heinz Berthold, Augsburg: Bechtermünz 1996, p. 236. 12. Bilderflut: Genesis und Apokalypse Kannst du mir jemanden nennen, […] der jeden Tag zu schätzen weiß, der begreift, daß er täglich stirbt? Hierin liegt nämlich unser Irrtum, daß wir den Tod immer nur vor uns sehen; er gehört vielmehr zum großen Teil schon zu unserer Vergangenheit. 1 Seneca Im 12. und letzten Kapitel von TO 2 fließen zahlreiche Bezüge zu anderen Ka‐ piteln zusammen. Zentral für diese letzte Episode von Thomas ist eine Bewe‐ gung des unaufhaltsamen Strömens, das sich in der Bilderflut, im Fließen des Wassers wie im Strom der Zeit zeigt und zeitigt. In dieser Bilderflut kehren auch entsprechende Figuren des Textes wieder, die hier nicht immer noch einmal ausführlich dargestellt werden können, die jedoch zumindest benannt werden sollen, um so diverse zyklisch-rekurrente Strukturen des Textes zum Ende hin erneut transparent zu machen. Ich werde diesen Wiedergängern in ihrer relativ unverbundenen Zusammenstellung folgen, die mit Bezug auf die Bilderflut über die textuelle Summation des letzten Kapitels motiviert ist. Ziel ist es, den alle Kapitel zusammenführenden, jedoch nicht dialektisch vereinigenden Charakter des letzten Kapitels als kontingenten Kataklysmus zu zeigen. Thomas befindet sich mitten im Imaginären und seinem unablässigen, mag‐ maartigen Strömen. Er ist, so ließe sich im Rückgriff auf das 1. Kapitel sagen, im il y a. Dort zu sein bedeutet nicht, in einem Innen zu sein, sondern weder innen noch außen, weder in einem vorstellbaren Raum noch in einer messbaren Zeit‐ lichkeit nomadisch voranzuschreiten. Diesen anderen Raum lässt Blanchot durch eine Verschränkung von Genesis und Apokalypse entstehen, wie sie be‐ reits bezüglich Annes Tod im 10. Kapitel von TO 2 vorbereitet wurde. Aber nicht nur die biblischen Urgewalten der Schöpfung und Vernichtung bilden eine wichtige Struktur des Kapitels. Sie werden mit der schöpferischen Kraft der Imagination bzw. des Imaginären assoziiert und aus ihrem Glaubenskontext in die Möglichkeiten der reinen sprachlichen Relationalität überführt, in der es <?page no="287"?> 2 Flieger 1991: 139 (Logion 42). 3 Siehe insbesondere Kapitel 7.1. keine Aussagen oder Repräsentationen mehr gibt. Daher werde ich auf das 1. Buch des Alten Testaments (Genesis) und das letzte Buch des Neuen Testaments (Offenbarung des Johannes) nicht im Detail eingehen. Vielmehr beabsichtige ich, das unauflösbare Ineinander von (sprachlichem) Verwirklichen und Gegen‐ verwirklichen, das seinen Niederschlag in einem Kataklysmus mythopoetischer Bilder findet, als ein Neutralisieren von Sinnhaftigkeit zu lesen. Der apokalyp‐ tische Schöpfungsbericht wird zum récit ohne Inhalt. Der Raum des Imaginären und mit ihm der Raum des Geschichtlichen, des Glaubens und des Wissens wird geöffnet, doch nur, um keinen dieser möglichen Räume mit Gott, Einheit oder Sinn zu füllen. Der Tod, den der ganze Text immer wieder umkreiste, erscheint hier als noch einmal radikal in der ganzen Ambivalenz seiner Ereignishaftigkeit entworfen, indem diese sich mit höchster Frequenz im Entwerfen und Nichten eines west‐ lichen Imaginationsarsenals als Mannigfaltigkeiten ausstreuende niederschlägt. Die Mannigfaltigkeiten bestehen für den ereignishaften Moment ihrer jewei‐ ligen Beziehung zueinander und rufen zudem stetig weitere Bezüge hervor, wo‐ durch aber die gesamte topologische Konstellation vernichtet und neu verteilt wird. Über ein Zusammendenken dreier, auf diese topologische Dynamik ver‐ weisende, Begriffe - das Schreiten, das Warten und das Vergessen - soll zum Ende des Buches hingeführt werden, das Kafkas Spur der Scham in sich trägt, über die die Möglichkeit der ver-anwortenden Beziehung zur anderen Nacht des Todes als Spur der anderen Nacht abschließend-öffnend eine Herausforderung der Lektüre vom Ende wird. 12.1 Schreiten Werdet Vorübergehende. Thomasevangelium 2 Als eine grundlegende Eigenschaft der Frage wurde im 7. Kapitel meines Text‐ kommentars ihre Selbstübersteigung auf den oder das A/ andere hin genannt, denn die Frage öffnet die fragende Instanz in Richtung des Unbestimmbaren. 3 In Thomas l’Obscur erscheinen fast in jedem Kapitel Fragen, die in ihrer Ge‐ samtheit ein eigenes Netz bilden, was den Text mit minimalen Haltepunkten durchzieht. Allein durch ihr Frage-Sein schaffen sie in vielen Fällen eine mo‐ 12.1 Schreiten 285 <?page no="288"?> 4 TO2: 131, 133, 135 und 136. 5 ED, p. 33. 6 Jacques Derrida: „Pas“, in: id.: Parages, Paris: Galilée 1986, pp. 111-215. mentane Interruption des Erfahrungsstroms der transpersonalen Stimme und erlauben (oft nur vermeintlich) einen Augenblick lang den Eindruck einer sub‐ jektgebundenen Frageinstanz, die in Abstand zu ihren inneren Erfahrungen treten kann. Sie lassen kurzfristig den Strom des Ausgesagten innehalten, bleiben jedoch bar jeder Antwort, sodass ihre Funktion die eines Rhythmus‐ wechsels und eines reflektierenden Zooms aus der Gegenwart des Erlebens und Erzählens ist. Die fünf Fragen des 12. Kapitels von TO 2 sind in chronologischer Reihung folgende: „Le monde pouvait-il être plus beau? “, „Était-ce l’éclat nouveau de la lumière? “, „Où donc était la ville? “, „La marche en était solennelle et noble, mais vers quel but et sous quelle forme? “, „[É]taient-ils parvenus, comme ils le rê‐ vaient, aux confins de l’âme qu’ils croyaient parcourir? “ 4 Diese Fragen heben sich vom restlichen Duktus des Kapitels durch ihre Klarheit ab. Sie sind Reste eines strukturierten Bewusstseins, das entgegen aller Unbegreiflichkeit dessen, was Thomas in diesem letzten Kapitel wahrnimmt, eine rationale Sicht der Dinge anstrebt. Darüber hinaus markiert die Erzählstimme durch diese Fragen eine diskursive Ebene, die sich implizit an den Leser richtet und das Erzählte als vermittelt ausstellt. Das 12. Kapitel beinhaltet wie das 1. und 2. Kapitel keine eingelagerten Reden, wodurch die Fragen hinsichtlich ihres erzählerischen Status, außer über die Markierung mit Fragezeichen, nicht vom Rest des Textes getrennt sind. Stattdessen reißt der schier unaufhaltsame Sprachstrom alles mit sich: Nicht nur die Bedeutungen, auch die Instanzen des Aussagens selbst werden Teil des Fließens. Sie zeigen sich hypostatisch und verschwinden wieder. Gleichzeitig entspringen dem textuellen Fließen ungeordnete, surrealistische Traumbilder und Visionen, die Thomas auf das Ende hin durchschreitet. Pas - Verneinung und Fortschreiten Passivité, passion, passé, pas (à la fois négation et trace ou mouvement de la marche), ce jeu sémantique nous donne un glissement de sens, mais rien à quoi nous puissions nous fier comme à une réponse qui nous contenterait. 5 Maurice Blanchot Doch wie ist dieses Schreiten zum Ende, das zugleich ein anderes und sich nichtendes Schreiten ist, zu denken? Im französischen pas sind die Verneinung (pas) und der Schritt (le pas) ineinander verwoben. Dies nimmt Jacques Derrida als Ausgangspunkt, um in seinem gleichnamigen Text „Pas“ 6 den Zusammen‐ 12. Bilderflut: Genesis und Apokalypse 286 <?page no="289"?> 7 „[C]ette ‚passivité‘ se franchit d’elle-même, s’affranchit en la nature immédiatement transgressive du pas.“ [Derrida 1986: 130] Auf Derridas lange Meditation über das Wort ‚viens‘, das im Französischen eine Bewegung zwischen Imperativ und 1. bzw. 2. Person Indikativ Präsens bedeutet, kann ich im Folgenden aus Gründen des Umfangs nicht näher eingehen, ebenso wenig auf die Frage der Du-Anrede, die mitverhandelt wird. 8 Cf. Derrida 1986: 125 sowie 144-154. 9 TO2: 15. hang von Negation und Fortschreiten im Werk Blanchots unter anderem anhand eines sehr leidenschaftlichen Dialogs zweier Stimmen in einer Lektüre von TO 2 zu entwickeln. Es scheint Derridas Anliegen zu sein, die passive Bewegung durch Nicht-Wollen zu beschreiben, die Thomas immer wieder ergreift. 7 Im französischen pas, wie Derrida es deutet, ist der Schritt immer auch eine Nega‐ tion, wie gleichzeitig die Negation stets ein Schritt auf das hin ist, wovon sich die Negation abzustoßen versucht. Beide pas überschreiten sich gegenseitig, ohne sich zu berühren. Sie gleichen zwei Ufern, an denen man nicht ankommen und Halt finden kann, weil der Strom zwischen ihnen nur ein (Ab)Gleiten, Wir‐ beln oder Ertrinken zulässt. Nach Derrida ist pas in seiner Unentscheidbarkeit zwischen den beiden Homonymen Teil jeder Erzählung Blanchots oftmals be‐ reits in Titeln wie Faux pas oder Le pas au-delà sichtbar. 8 Wie ich dies bereits im 2. Kapitel angedeutet habe, zeigt sich solch eine Bewegung nun auch im letzten Kapitel des Textes als mit dem Warten verbunden. So heißt es im 2. Kapitel von TO 2 in der Beschreibung des kryptaartigen Raumes, in dem Thomas sich nach seinem Abstieg bewegt: „[…] il plaça son corps contre la cloison et attendit. Ce qui le dominait, c’était le sentiment d’être poussé en avant par son refus d’avancer.“ 9 Das Warten ist ein Innehalten des Körpers und des Denkens, welches als Weigerung fortzuschreiten gerade die Vorwärtsbewegung antreibt. Die Verneinung erzeugt, ähnlich dem Begehren, das zurückgehalten wird, eine vektorielle Kraft der Bewegung in gerade die verweigerte oder verwehrte Richtung. Innere Denkbewegung und äußere Fort‐ bewegung sind hier zusätzlich überlagert, denn das Verb avancer bezeichnet nicht nur das äußere Voran- oder Weiterschreiten, sondern kann auf Aussage‐ ebene ebenso die Bedeutung von ‚behaupten‘ haben. Dieser Sog einer Aussagelogik, auf die Blanchot im Laufe des Buches immer wieder problematisierend zurückkommt, ist im 12. Kapitel über eine gigantische Bewegung des Marsches dargestellt. Das Kapitel ist wie kein anderes überladen mit Bildern und biblischen Anspielungen auf den Sündenfall, die Genesis und die Apokalypse, während die Natur in all ihren kosmologischen Facetten schil‐ lert. Menschen, Sterne und alles, was irgendwie zu Bewegung und Zeitlichkeit fähig ist, schreiten auf das Ende eines „grand malheur“ zu, das nicht zufällig das 12.1 Schreiten 287 <?page no="290"?> 10 TO2: 132. Ein zweiter Kreisschluss findet in Verbindung mit dem 6. Kapitel von TO2 statt, in dem die Menschen durch den abgewandten Blick Thomas’ mit ihm oder durch ihn sterben. Dort wird das Bild eines Abgrundes gezeichnet, der starke Ähnlichkeit mit dem Abgrund der Leere und Bedeutungslosigkeit des 8. wie auch dieses letzten Kapitels aufweist, und mit dem das Buch wiederum abgründig endet. 11 Stillers 1979: 173. 12 TO2: 130. In TO1 ist die Zeitlichkeit zwischen Gegenwart und Zukunft noch deutlicher hervorgehoben, als es in TO2 der Fall ist [Cf. TO1: 316]. 13 TO2: 131. 14 Cf. Kapitel 3 zur Trennung von Blick und Auge in der Phänomenologie des 20. Jahr‐ hunderts. Ende des Buches sein wird. Dieses schließt wiederum den Kreis zum 1. Kapitel und kann als zyklisches Geschehen kein wirkliches Ende finden. 10 Indem Schöpfung und Apokalypse ineinandergeschlungen werden, entsteht eine invertierte Schöpfungsgeschichte. Das letzte Kapitel, das in beiden Versio‐ nen von Thomas l’Obscur bis auf einzelne Wortänderungen identisch ist, speist zahlreiche Bilder aus der Johannesapokalypse in den Text ein - folgt man Rainer Stillers, jedoch bezeichnenderweise nicht diejenigen, die aus bibelexegetischer Sicht die entscheidenden sind. Vielmehr verhandeln Blanchots Texte „Requi‐ siten des christlichen Endzeitmythos“, der so zur „Kulisse“ wird. 11 Prähistori‐ sches trifft Posthistorisches in einem Zustand der „Durchsichtigkeit der Zeit“ 12 , in dem reine Potentialität das Werden ohne Anfang und Ende bestimmt: „A travers les champs s’étendait l’idéal de la lumière. Les arbres sans fruits, les fleurs sans fleurs portaient au bout de leurs tiges la fraîcheur et la jeunesse. A la place de la rose, il y avait sur le rosier une fleur noire qui ne pouvait être flétrie.“ 13 Sehen Wie im 1. Kapitel die Wellen Thomas zu rufen scheinen und ihn dazu bewegen, sich ins Meer gleiten zu lassen, fühlt er sich nun von der Natur gerufen, die ihn in einer Umkehrung des Blickes - oder durch seinen Blick, der keine Richtung mehr hat, weil er reiner Blick ist - betrachtet. Thomas’ Blick, ein „regard qui ne voyait pas“, ist der vom Auge abgetrennte Blick, der also nicht sieht, sondern reiner Bezug oder vollkommene Gerichtetheit ist. 14 Die im Laufe von Thomas l’Obscur stetig rekurrierende Figur des Sehers bringt zum letzten Mal das für den Text so zentrale Konzept eines subjektlosen Blickes ins Spiel und öffnet dieserart Thomas als Seher weiteren Sehermythen, sei es Orpheus, dem bibli‐ schen Zeugnis des Sehers Johannes der Apokalypse oder auch, worauf ich noch zurückkommen werde, der Vorstellung des Dichter-Sehers, wie sie beispiels‐ weise in Rimbauds „Seherbriefen“ entworfen wird. 12. Bilderflut: Genesis und Apokalypse 288 <?page no="291"?> 15 TO2: 132. 16 Ibid. 17 Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik - Von der Mitte des neunzehnten Jahr‐ hunderts bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006, p. 57. 18 TO2: 132. Hören Wie der Blick mehr als einfache Wahrnehmung ist, die dem Auge entspringt, ist Thomas’ Gehör nach innen gerichtet zu dem Ort, dem der Klang entstammt. Der Text breitet verschiedene Wahrnehmungsfelder visueller, auditiver, taktiler und olfaktorischer Natur aus, die sich buchstäblich als Felder entfalten und gegen‐ seitig in einer „infinité de métamorphoses“ rhizomatisch überlagern. 15 So wird der Raum des Klanges bevölkert mit diversen Singvögeln, darunter Kuckuck, Elster, Lerche und Nachtigall. Alle benannten Vögel zeichnen sich als Singvögel mit außergewöhnlichen Stimmen aus. Diese bringen sie jedoch nicht als solche zur Geltung, sondern verschaffen sich in einem „chant inouï“, in Schreien oder stummen Stimmen, Gehör. Sie erzeugen einen Klangraum und mit diesem einen Luft- und Himmelsraum, der vom Erdraum, den Thomas abschreitet, differen‐ ziert wird. Neben diesen Vögeln decken „oiseaux bariolés“ den Farbraum ab und „oiseaux ternes“ die klangliche Wiedergabe einer „absence de chant“. 16 Wahrnehmungsüberlagerungen All diese Vögel und übrigen genannten Tiere sind auf die eine oder andere Weise in ihrem Vergehen dargestellt. Sie existieren nur als Wahrnehmungsblitze, um sogleich von anderen Wahrnehmungen überlagert zu werden, die sich in oder vielmehr durch Thomas (der den Blick verkörpert) ereignen. Befreite Sinndimensionen formieren sich zu reiner Dimensionalität von Klang, Farbe, Berührung und Geruch, die an die musikalischen Bewegungs‐ folgen der Lyrik Baudelaires, noch deutlicher aber an die Rimbauds anschließen und sie in den Prosatext übersetzen. Hugo Friedrich hat in seiner Schrift zur modernen Lyrik das Dichten Rimbauds und Baudelaires als „Surnaturalisme“ bezeichnet, als eine „Kunst, welche die Dinge entdinglicht zu Linien, Farben, Bewegungen, selbstständig werdenden Akzidentien […]“. 17 Während in den an‐ deren Kapiteln von Thomas l’Obscur die Natur eine weniger vordergründige Rolle innehat, erscheint sie im 12. Kapitel in Form der Vögel und anderer Tiere, der Flora und des Meeres als unnatürliche, irreale Natur äußerst dominant. So schwingen sich die bunten Vögel, die sämtliche Farbnuancen verkörpern sollen, gen Himmel auf und präsentieren dadurch „le vide du rouge et du noir.“ 18 Es ist diese Farbkombination von Rot und Schwarz und ihre Verbindung mit der Leere, 12.1 Schreiten 289 <?page no="292"?> 19 Cf. darin besonders „Mauvais sang“ mit der direkten Nennung von Rot und Schwarz. [Arthur Rimbaud: Une saison en enfer, in: id.: Sämtliche Dichtungen - Zweisprachige Ausgabe, transt. Thomas Eichhorn, basierend auf Übersetzungen von Reinhard Kiefer und Ulrich Prill, München: dtv 5 2013, pp. 205-279, hier p. 216]. 20 Cf. Friedrich 2006: 81. 21 In TO1 ist das Hervortreten der Leere hinter der Farbe noch expliziter markiert: „Des oiseaux bariolés, choisis pour être le répertoire des nuances, s’élevèrent offrant non pas la gamme des rouges et des verts, mais le vide du rouge et du noir.“ [TO1: 319]. 22 Siehe Maurice Blanchot: „Après Rimbaud“, in: id.: Faux pas, Paris: Gallimard, pp. 163-169 sowie Maurice Blanchot: „Le sommeil de Rimbaud“, in: id.: La part du feu, Paris: Gallimard, pp. 152-159. die auf Rimbauds kurzes, aber umso intensiveres lyrischen Schaffen verweist. Insbesondere Une saison en enfer aus dem Jahre 1873 ist dominiert von den beiden Höllenfarben, die unter anderem für das Feuer, den Höllenschlund, den Tod und die Dunkelheit stehen und in synästhetischen Wortnetzen die Wirk‐ lichkeit zu neuen imaginären Gebilden formen. 19 Solche Überwirklichkeit oder „sinnliche Irrealität“, wie Hugo Friedrich insgesamt das Ergebnis der lyrischen Fusion verschiedener sinnlicher Qualitäten zu irrealen Konstrukten nennt, löst sich von der realen Welt und verlegt den Ursprung von dieser weg in den Wort‐ schöpfungsakt selbst. 20 Diese Selbstreferentialität der modernen Dichtung hat ihre Quelle in der Ro‐ mantik, deren Spur bei Blanchot im 11. Kapitel meiner Untersuchung aufgezeigt wurde. Beide Texte, die unter dem Titel Thomas l’Obscur veröffentlicht wurden, und innerhalb dieser vor allem das 12. Kapitel von TO 2 bzw. das 15. Kapitel von TO 1, zeugen von Blanchots Sympathien für Weltkonstruktionen, deren Fokus auf der Autonomie von Sprache und ihrer konstruktivistischen Beteiligung an Realitätskreationen liegt. Deshalb sind die Texte ständige performanzästheti‐ sche Rückverweise auf die Position des Lesers und seine Aktivität bei der Er‐ schaffung und Neuübersetzung der fiktiven Welt. Im 12. Kapitel von TO 2 ist dies metatextuell anhand des Sehers Thomas re‐ alisiert, vor dessen Auge sich die irreale Umgebung erhebt und wieder zersetzt. Rot und Schwarz entstehen kurzzeitig als Farben, hinter denen sich aber bereits ihre Absenz zeigt. 21 Deutlicher noch als bei Rimbaud ist dem gegenwärtigen explosiven Farb- und Klangszenario die Vergänglichkeit und das Sein zum Tode eingeschrieben. Ihr Erscheinen dient lediglich dazu, ihr Vergehen zu bestätigen. Blanchot war ein Kenner des Rimbaudschen Gesamtwerkes, das er in verschie‐ denen Ausgaben gelesen und kommentiert hat. 22 Neben der Saison en enfer sind es insbesondere die Illuminations, deren Bildmaterial im 12. Kapitel aufleuchtet: seien es abermals das Rot und Schwarz und die Masse der Erde an den Rändern („Enfance V“ sowie „Parade“), die wiederholte Begegnung mit der Vision 12. Bilderflut: Genesis und Apokalypse 290 <?page no="293"?> 23 Rimbaud 5 2013: 286, 288, 292, 296, 302, 314, 344, 354. 24 Ibid., p. 365-379. 25 Mit Bezug auf die Ablösung der örtlichen und zeitlichen Referenzen findet eine Radi‐ kalisierung von TO1 zu TO2 statt. Die Weglassungen sind nicht nur Kürzungen der Textlänge, sondern dienen der verstärkten Öffnung des imaginären Raumes, der seine Weltverbindungen gekappt hat und den Leser zwingt, dies ebenso zu tun. 26 Derrida 1986: 207 sq. 27 TO2: 130. 28 TO2: 131. 29 TO2: 132. 30 TO2: 133. 31 TO2: 133. 32 TO2: 134. 33 TO2: 135. („Départ“), das Strömen der Massen („Jeunesse IV “), die stummen Vögel („Fairy“), die Frische des Anfangs und die Bewegung des Schreitens („Aube“) oder das Strömen als Bewegung („Mouvement“), um nur einige zu nennen. 23 Darüber hinaus ist es der Blick des lesenden leiblichen Auges des Lesers, durch den diese Blanchot und Rimbaud verbindende Welt jenseits der Mimesis überhaupt erst entsteht. Denn gleichzeitig wird der Leser über die Absolutheit der Sprache sinnentfesselten Entgrenzungserfahrungen ausgesetzt, wie Rim‐ baud sie in seinen „Lettres, dites ‚du voyant‘“ fordert. 24 Gerade im Schlusskapitel betont Blanchot eine Sprache der Mikropoetik, 25 d. h. einer Prosa, die mit der Dichte von Poesie arbeitet und dabei direkt an die Ort- und Zeitlosigkeit zahl‐ reicher Gedichte Baudelaires wie Rimbauds anknüpft. Womöglich charakteri‐ siert sie Derrida auch deshalb vom ersten Wort in TO 2 an als „genèse de la couleur“. 26 Konstrukte Thomas’ Fortschreiten, das niemals als ein Gehen bezeichnet wird, markiert Stellen der kontinuierlichen Bewegung in diesem ahistorischen Raum ohne An‐ fang und Ende. Zwischen materiellen Manifestationen des Unvordenklichen führt ihn das Schreiten durch diesen Raum über das weite Land sowie durch die Stadt: „Thomas s’avança dans la campagne“ 27 , „Il marchait.“ 28 , „Thomas s’avan‐ çait.“ 29 , „Thomas prit sa course […]“ 30 , „Thomas s’avançait vers la ville.“ 31 , „Thomas avançait toujours.“ 32 , „Il conduisait le troupeau des constellations, la marée des hommes-étoiles vers la première nuit.“ 33 Im letzten Satz des gesamten Buches mündet das Schreiten schließlich in den Sturz in die Bilderflut, welche vorher bereits in diversen Bildern von Überschwemmung, Wellen und Wogen sowie der wiederholten Nennung des Meeres als Metapher der sich auftür‐ menden Bilder des Imaginären aufgerufen wird. 12.1 Schreiten 291 <?page no="294"?> 34 TO2: 19. 35 TO2: 134. Doch zuvor geht es anhand der Stadt um die Architektonik dieser Bildüber‐ lagerungen. Denn als Thomas schließlich in einer menschenleeren, ortlosen Stadt ankommt - die eingangs gestellte Frage nach der geographischen Situie‐ rung bleibt unbeantwortet -, erfolgt ein weiterer Hinweis auf das Imaginäre wie auch auf das Gedächtnis, auf das ich später zurückkommen werde. Der Stadt fehlen nicht nur die Bewohner der riesigen Monumente, sondern auch der Ar‐ chitekt, auf den alles Erbaute zurückgeht, von dem sich jedoch kurz darauf he‐ rausstellen wird, dass dieser Thomas selbst ist. Wir befinden uns vielmehr mitten in der Sprache, in ihren Konstruktionen und Sprachgetürmen, die Thomas auf seinem Weg durchmisst. In der Lektüre des 2. Kapitels von TO 2 wurde die schöpferische Kraft der Sprache, die fähig ist, ganze Städte zu er‐ schaffen, bereits erwähnt. Im Kontext diverser gewaltsamer Repräsentations‐ vorgänge heißt es dort: Grâce à ces êtres qui se livraient à des actes échappant à toute interprétation, des édifices, des villes entières se construisirent, villes réelles faites de vide et de milliers de pierres entassées, créatures roulant dans le sang et parfois déchirant les artères, qui jouaient le rôle de ce que Thomas appelait jadis des idées et des passions. 34 Die hier textuell errichteten Stadtlandschaften mit ihren Steingebäuden und sich im Blut wälzenden Kreaturen führen über die partiell zerschnittenen Pulsadern in die Überkreuzung von Körper und Stadt. Zum einen sind die „artères“, welche zerschnitten werden, ein gewaltsamer Öffnungsakt des Körpers, der mit der Unentscheidbarkeit von Innen und Außen sowie einem Thomas, der nach dem Gang in die Krypta von Phantasmen heimgesucht wird, auf Thomas’ Suizidver‐ suche vorverweist. Zum anderen bilden sie im Stadtbild der Psyche auch die Verkehrsadern, Transportwege und Austauschbereiche, in denen Ideen und Ge‐ fühle pulsieren, die für eine Teilhabe am Leben stehen. Die Szenerie des 12. Kapitels scheint eine ähnliche Stadtarchitektur zu entwerfen: Thomas, au cœur de l’agglomération, ne rencontra personne. Les maisons énormes, avec leurs milliers d’habitants, étaient désertes, privées de cet habitant primordial qui est l’architecte enfermé puissamment dans la pierre. Immenses villes non édifiées. Les immeubles s’entassaient les uns sur les autres. Des nœuds de monuments et d’édifices se formaient aux carrefours. Jusqu’à l’horizon, on voyait s’élever lentement des rivages inaccessibles de pierre, impasses qui aboutissaient à l’apparition cadavérique du soleil. 35 12. Bilderflut: Genesis und Apokalypse 292 <?page no="295"?> 36 Anders als das stadtartige Gebilde, das sich um Anne in einem der Momente des To‐ deskampfes im 10. Kapitel von TO2 erhebt, gibt es in der Stadt des 12. Kapitels vertikale Bauten. Im Unterschied zu den Städten des 2. Kapitels passiert Thomas hier jedoch eine Stadt, aus der alles Lebendige und Kreatürliche verschwunden ist. 36 Während sich im 2. Kapitel noch Kreaturen im Blut wälzten, ist im 12. Kapitel niemand mehr anwesend. Das Fundament der Stadt bilden, wie der Text kurz davor verrät, analog zum kryptischen Grund des 2. Kapitels, Reste und Bruchstücke von Bil‐ dern. (Sprach-)Konstruktionen errichten sich auf bildlichen Repräsentationen und machen sich diese zum Grund. Auch das Mauerwerk kehrt über den ein‐ gemauerten Architekten, die Steinmassen der Gebäude und die äußere, unüber‐ schreitbare Steingrenze wieder. Dennoch handelt es sich nicht um eine zyklische Wiederkehr, sondern eine Wiederkunft des Ähnlichen. Die Entlebung der Stadt verweist dabei in der Wiederkehr auf ihre textuelle Tektonik, die Rekurrenzen anhäuft und übereinanderschichtet. So ist in der Stadt des 12. Kapitels die Ver‐ tikalität der bis in den Himmel ragenden Gebäude als Massierung tektonischer (Text-)Bausteine ausgestellt. Zugleich ist diese Massierung aber eigentlich nichts. Sie bezeichnet reine Virtualität, die sich im Text lediglich als Wiederkehr der textuellen Imagination manifestiert. Die Architektur ist eine textuelle, die riesige „villes non édifiées“ erbaut, durch die die pas im Modus des pas er‐ bauend-nichtend schreiten und durch deren Arterien nur mehr die Tinte der Schrift fließt. Baudelaires Stadt Eine ähnliche Stadt hat Baudelaire in den Fleurs du Mal mit seinem Gedicht „Rêve parisien“ erschrieben. Auch in ihr herrscht die Abwesenheit von Leben vor. Es gibt in dieser ortlosen Stadt weder Menschen noch Flora, dafür jedoch, wie im obigen Zitat, riesige Gebäudekonstruktionen und Wasser. Baudelaires Stadt ist von einem magischen Schimmer und Zauber durchzogen, welcher in Thomas l’Obscur gänzlich fehlt. Während im „Rêve parisien“ der Architekt der Stadt innerhalb der Traumwelt seinen Willen als Gegenwelt zur Realität verwirklicht, begreift Thomas nicht, dass er der Erschaffer der Stadt ist. Traum und Wirk‐ lichkeit sind nicht zu unterscheiden auf dem Grenzweg des Todes. Blanchots Stadt ist eine tote Schichtung, auf deren Vergänglichkeit und Leere Thomas am Ende seines letzten Ganges noch einmal blickt. Sie ruht auf „décombres d’images illuminées et transparentes“, von denen einige dieser Trümmer intertextuell 12.1 Schreiten 293 <?page no="296"?> 37 Cf. Charles Baudelaire: Die Blumen des Bösen / Les Fleurs du Mal - Vollständige zwei‐ sprachige Ausgabe, transt. Friedhelm Kemp, München: dtv 1986, pp. 216-220. Zur Stadt‐ architektur bei Baudelaire siehe Horst Weich: Paris en vers - Aspekte der Beschreibung und semantischen Fixierung von Paris in der französischen Lyrik der Moderne, Stuttgart: Franz Steiner 1998. 38 „[I]ls avançaient, entrainant sous leurs pas l’immensité de l’étendue.“ [TO2: 134]. 39 TO2: 134-135. Baudelaires Pariser Traum entnommen sind und als solche Palimpseste über den Text hinausweisen. 37 Doch wie zuvor die Natur, löst sich im textuellen Rhythmus der/ s pas die Stadtbetrachtung im Fortschreiten der sprachlichen Imagination wieder auf, um den Erzählfokus als nächstes auf die mit Nomaden verglichenen Menschen zu richten. Auch sie werden von der Strombewegung erfasst, die zunehmend Was‐ serfluten ähnelt und, die Discours-Ebene affizierend, sämtliche Bezüge des Textes in seinem verneinend voranschreitenden 38 Verlauf (im wörtlich genom‐ menen discurrere) verschwimmen lässt. Nacht ohne Ankommen Das Ziel der Bewegung Thomas’, der während seines Marsches allen wie ein Hirte voranschreitet, ist die „première nuit“, über die nun nochmals der Modus der Bewegung bestimmt wird: „Thomas avançait toujours. Comme un berger, il conduisait le troupeau des constellations, la marée des hommes-étoiles vers la première nuit. La marche en était solennelle et noble, mais vers quel but et sous quelle forme? “ 39 Diese Nacht ist erste Nacht sowohl in Abgrenzung zu ihrer Gründungsfigur der ‚autre‘ nuit, aber auch allererste Nacht im Rahmen des Uranfangs, der im 12. Kapitel imaginiert wird. Thomas der Dunkle, ein in der Bewegung der Un‐ toten schreitender Prophet, führt seine Herde, die zwischen dem Einzug in die Arche Noah und einem Totenzug changiert, nicht ins Licht, sondern in die Nacht. Die erste Nacht öffnet einen ganz eigenen Raum der Erfahrung, setzt das Subjekt einer unbedingten Einsamkeit aus und entgrenzt es. Dabei besteht die Verlockung und Gefahr der ersten Nacht in ihrem Versprechen eines Geheim‐ nisses, dessen Anziehung den suchenden Menschen immer weiter in die Dun‐ kelheit zieht. In L’espace littéraire formuliert Blanchot die Bewegung in der ersten Nacht wie folgt: „Dans la première nuit, il semble qu’en avançant l’on trouvera la vérité de la nuit, qu’on ira, en allant plus avant, vers quelque chose d’essentiel […].“ Das Versprechen der verschwommenen Grenzen der ersten Nacht ist eine Einheit jenseits der Differenz. Ohne Vorwarnung kann jedoch die erste Nacht wie eine Fallenstruktur in die andere Nacht kippen und die Verhei‐ 12. Bilderflut: Genesis und Apokalypse 294 <?page no="297"?> 40 EL: 220-222. Blanchot formuliert diese Sätze zur ersten und anderen Nacht am Beispiel von Kafkas „Der Bau“. Dass er dies in Bezug auf ein Werk Kafkas tut, wird im Verlauf der Lektüre dieses 12. Kapitels noch an Bedeutung gewinnen. ßung von Einheit in radikale Selbstentfremdung wandeln: „Celui qui pressent l’approche de l’autre nuit, pressent qu’il s’approche du cœur de la nuit, de cette nuit essentielle qu’il recherche. […] [I]l n’y a pas d’instant juste où l’on passerait de la nuit à l’autre nuit, pas de limite où s’arrêter et revenir en arrière.“ 40 Die Bewegung Thomas’ entspricht der beschriebenen Bewegung der ersten Nacht, sofern er immer nur nach vorn und nicht zurück geht. Er kann die Be‐ wegung nicht anhalten, sondern wird von ihr bestimmt und zu jemandem ge‐ macht, der aus der Nacht kommt und in die Nacht zurückkehrt. Auch wird er zu einer prophetischen Seherfigur, die dunkel ist, Unglück verheißt und mit der Nacht als Ziel das religiöse Heilsversprechen des Lichts hinterfragt. Schließlich kreiert der Gang „vers la première nuit“ ein Labyrinth, aus dem es keinen Ausweg gibt. Ein Aspekt dieses Labyrinths ist die Kreisstruktur des Gesamttextes. Das letzte wie das erste Kapitel beider Fassungen von Thomas l’Obscur beginnt mit dem Tag (im 1. Kapitel ist es Nachmittag) und führt ‚in‘ die Nacht. Da es im Text des 12. Kapitels heißt, Thomas geleite alle „vers la première nuit“, bedeutet dies, dass sie noch nicht angekommen sind und dass sie mit Blick auf die andere Nacht niemals in der Nacht ankommen können. Noahs Mission Der Vergleich Thomas’ mit einem Hirten evoziert im Kontext des Fließens und insbesondere im Kontext des apokalyptischen Geschehens nicht von ungefähr die biblische Figur Noahs, der von Gott aufgrund seiner Frömmigkeit auserwählt wurde, die Sintflut mit seiner Familie und seinen Tieren zu überleben. Wie bei den anderen Bibelverbindungen in Thomas l’Obscur lässt sich die Analogie zu Noah aber nur bedingt ziehen, da Thomas die Menschen, Sterne und Tiere nicht rettet, sondern gerade in die Überschreitung der Welt führt. In „Rilke et l’exi‐ gence de la mort“ benennt Blanchot die Aufgabe Noahs als notwendige Aufgabe eines jeden Menschen: Chaque homme est appelé à recommencer la mission de Noé. Il doit devenir l’arche intime et pure de toutes choses, le refuge où elles s’abritent, où toutefois elles ne se contentent pas de se garder telles qu’elles sont, telles qu’elles s’imaginent être, étroites, caduques, des attrape-vie, mais où elles se transforment, perdent leur forme, se perdent pour entrer dans l’intimité de leur réserve, là où elles sont comme préservées d’elles-mêmes, non touchées, intactes, dans le point pur de l’indéterminé. Oui, chaque 12.1 Schreiten 295 <?page no="298"?> 41 Maurice Blanchot: „Rilke et l’exigence de la mort“, in: EL: 151-209, hier pp. 180 sq. homme est Noé, mais si on y prend garde, il l’est d’une étrange manière, et sa mission consiste moins à sauver toutes choses du déluge qu’à les plonger, au contraire, dans un déluge plus profond où elles disparaissent prématurément et radicalement. […] Qu’avons-nous donc à faire, nous qui sommes les moins durables, les plus prompts à disparaître? […] Cela précisément: notre promptitude à disparaître, notre aptitude à périr, notre fragilité, notre caducité, notre don de mort. 41 Noahs Mission ist nichts Abschließbares, sondern muss immer wieder von Neuem in Angriff genommen werden. Der Mensch ist dazu aufgerufen, die Welt in sich und sich in die Welt zu lassen, sich anzureichern, ohne dabei an den Dingen festzuhalten. Es ist seine Aufgabe, sich in die Bilderflut bzw. in die Sint‐ flut zu stürzen. Der Mensch soll in sich Krypten für die Dinge bilden, auf dass sie in ihm verwahrt, jedoch nicht eingefroren werden, sondern zur Veränderung freigegeben sind. Als Konsequenz bedeutet dies, dass statische Identität un‐ möglich und Entfremdung zum Programm wird. Alles verändert sich, da alles endlich ist. So obliegt es der Verantwortung der Menschen, ihre Endlichkeit zu erfüllen, indem sie den Tod denken und dadurch zu leben versuchen sollen. Einmal mehr ist die Thematik des Todes an der Sichtbarkeit verhandelt. Die Transformation des Sichtbaren in Unsichtbares deutet auf einen unaufhörlichen Wandlungsprozess hin, der keinen Halt kennt. Thomas der Dunkle ist jemand, der im Unsichtbaren wandelt und die Menschen ins Unsichtbare führt, indem er sie zur Nacht leitet. Die Aufgabe, die Dinge nicht durch Konservierung und Arretierung zu retten, sondern sie stattdessen in ein „déluge plus profond“ zu tauchen, weist auf einen notwendigen Nichtungsprozess hin, der als etwas zu‐ tiefst Menschliches betrachtet wird. Wie im 7. Kapitel geht es um eine Verant‐ wortung, die sich statt an der Antwort an der radikalen Öffnung der Frage be‐ misst. Wenn Thomas eine Führerfigur ist, dann eine, deren Ziel der Tod ist. Auf diesen Tod schreitet er zu, ohne ihn wie ein Ziel erreichen zu können. Es gibt keinen linearen Weg zum Tod, sondern nur ein Schreiten, das wie das Vergessen nicht aufhören kann. Jeder Schritt von Thomas überschreibt den vorangegan‐ genen Schritt als pas. Dadurch entsteht keine Entwicklung oder Prozess, son‐ dern eine Schichtung von Schritten, die sich wie die Monumente der Stadt über‐ einanderlegen, ohne einen gestaffelten Sinn oder eine Chronologie zu erzeugen. Ein Schritt scheint den diskursiv vor ihn gesetzten Schritt zu vergessen. Dieses Vergessen ist essentieller Teil einer unpersönlichen Memoria, auf die im Fol‐ genden über den Zusammenhang von Warten und Vergessen näher einge‐ gangen werden soll. 12. Bilderflut: Genesis und Apokalypse 296 <?page no="299"?> 42 Maurice Blanchot: „Le dehors, la nuit“, in: EL, pp. 213-224, hier p. 214. 43 Gerhard Poppenberg bezeichnet in einem Kapitel über L’attente l’oubli das Warten als „intransitives Warten“ [Poppenberg 1993: 210], was sehr prägnant den Kern dieses nicht-gerichteten Wartens in Blanchots Text beschreibt. 44 Meine vage Beschreibung und Zuordnung begründet sich in den rhetorischen Abwehr‐ mechanismen des Textes gegen jegliche Fixierungen, insbesondere der Personalpro‐ nomen. So schreibt Blanchot an einer Stelle im mittlerweile veröffentlichten Brief‐ wechsel mit Johannes Hübner, dem deutschen Übersetzer seines Textes: „L’usage du participe présent appartient aussi à l’un des sens du texte: une tentative pour libérer le récit du ‚Je‘ et même du ‚Il‘ et donner expression au neutre - toujours inexprimé.“ [Maurice Blanchot, Johannes Hübner: Correspondance, edd. Éric Hoppenot, Philippe Mesnard, Paris: Kimé 2014, p. 67]. 45 Maurice Blanchot: L’attente l’oubli, Paris: Gallimard 1962, p. 7; im Folgenden mit der Sigle AO abgekürzt. 46 An dieser Stelle sei Dea Erwig für unser langes Gespräch über Kafka, Musil und die Möglichkeiten, Einheit und Trennung zusammenzudenken, gedankt. 12.2 Gedächtnis: Warten - Vergessen Dans la nuit, on trouve la mort, on atteint l’oubli. Mais cette autre nuit est la mort qu’on ne trouve pas, est l’oubli qui s’oublie, qui est, au sein de l’oubli, le souvenir sans repos. 42 Maurice Blanchot Schreiten und Warten hängen zusammen. Beide sind von Blanchot nicht als lineare, zukunftsorientierte Bewegungen gedacht 43 , sondern mit dem Vergessen verschränkt. Was insbesondere im letzten Kapitel von Thomas l’Obscur eine der wichtigsten Dynamiken ausmacht, wird in der 1962 veröffentlichten Erzählung L’attente l’oubli auf dieses Ineinander konzentriert. Der Dialog zwischen einer männlichen und einer weiblichen Stimme über das Warten und das Vergessen ist in zwei Kapitel gegliedert, von denen das erste tendenziell mehr dem Warten zugeordnet ist, während das zweite eher vom Vergessen ausgeht. 44 Dadurch wird scheinbar eine Nachzeitigkeit des Vergessens gegenüber dem Warten suggeriert: Erst kommt das Warten, dann das Vergessen. Aber so einfach ist es natürlich nicht. Die beiden Stimmen ohne Namen, ‚il‘ und ‚elle‘, sind Ausdruck eines extrem selbstreferentiellen Textes, der mit folgendem Deiktikum einsetzt: „Ici, et sur cette phrase qui lui était peut-être aussi destinée, il fut contraint de s’arrêter. […] ‚Qui parle? ‘ disait-elle. ‚Qui parle donc? ‘“ 45 ‚Il‘ und ‚elle‘ bewegen sich über 120 Seiten lang beständig aufeinander zu und voneinander weg. Sie tun dies durch trennenden Vereinigungen und vereini‐ gende Trennungen 46 , welche semantische, phonetische oder grammatikalische 12.2 Gedächtnis: Warten - Vergessen 297 <?page no="300"?> 47 „Oubli contre la réminiscence, attente qui n’est pas attente de quelque chose. […] L’At‐ tente, l’Oubli qui se juxtaposent sans qu’aucune conjonction les ait unis en structure. Ils ne désignent pas des états d’âme dont l’intentionalité, par ses fils innombrables, consoliderait encore l’inextricable trame de l’être se tordant et se fermant sur lui-même. […] L’attente, l’oubli détendent le champ ontologique, laissent partir une maille, dénoyautent, effritent, décontractent, effacent.“ [Levinas 1975: 36]. 48 AO: 121. Varianten des Wartens und des Vergessens sind. Wie schon in der Lektüre des 11. Kapitels von TO 2 gezeigt wurde, ist die Interpunktion im Kosmos der Blan‐ chotschen Affektlogik keine Nebensächlichkeit, sondern eine zusätzliche Ebene, auf der Gegensätze vereint oder auch Einheiten getrennt werden. Und wie für die beiden Fassungen von Thomas l’Obscur ausgeführt wurde, sind Paratexte - ob sie am Ende des Haupttextes stehen, vor dessen Beginn oder in den litera‐ turkritischen Texten Fußnoten bilden, die ihre Form sprengen, indem sie über mehrere Seiten gehen und somit den Haupttext von unten her von der Seite drängen - bei Blanchot Möglichkeiten, das Ausgesagte oder noch Auszusagende in ein anderes Licht zu rücken. Sie formen oft so etwas wie den Kern des Textes, der fast beiläufig wie ein a-zentrisches Zentrum neben diesen gelegt wird. In L’attente l’oubli findet sich ganz am Ende ein einseitiger Text, der von den davor liegenden 120 Seiten graphisch durch seine Kursivierung abgesetzt ist. Dieser Text ist über eine konsequent eingehaltene Abfolge einer wahrscheinlich männlichen Stimme, die in der 1. Person Singular oder Plural spricht, und einer zweiten Stimme, die in der 3. Person Singular und am Ende in der 3. Person Plural spricht, rhythmisch extrem durchstrukturiert. Dabei beginnen die Sätze bis auf die Zusammenführung am Ende zumeist mit „lorsque“ oder „elle“. Ge‐ trennt sind die direkten Reden in doppelter Weise: zunächst durch Anführungs‐ zeichen, darüber hinaus aber noch durch tirets, die französische Alternative zu Anführungszeichen für die Markierung direkter Rede in Dialogen. Stehen diese tirets am Beginn des Zeilenanfangs und vor allem ohne weitere Anführungs‐ striche, verweisen sie auf voneinander zu unterscheidende Sprecher. In L’attente l’oubli entstehen durch die verdoppelte Redemarkierung, deren tirets zudem nicht am Zeilenanfang, sondern mitten im Text stehen, Zwischenräume der Reden, die den Status der tirets als Gedankenstriche oder Trennungsstriche un‐ sicher erscheinen lassen. Sie sind gleichzeitig verbindend und trennend. 47 Dies ist zugleich die ereignishafte Grunddynamik, um die es mit Blick auf das Denken der Zeitlichkeit geht. Denn im Zentrum des Textes befindet sich eine Beschreibung des Wartens als Zusammenfassung der zuvor ausgedrückten Be‐ wegung der Stimmen: „C’est le va-et-vient de l’attente: son arrêt. […] C’est l’immobilité de l’attente, plus mouvante que tout mouvant.“ 48 Das Warten 12. Bilderflut: Genesis und Apokalypse 298 <?page no="301"?> 49 Ibid. 50 Derrida bemerkt zu den beiden Formen des ‚pas‘ bezüglich einer anderen Stelle in AO: „Le pas qui rapproche éloigne, réduit et ouvre en même temps, d’un même pas qui se nie et s’emporte lui-même, sa propre distance.“ [Derrida 1986: 123 sq.]. 51 Cf. TO2: 135. (l’attente) zeigt sich als Aufmerksamkeit oder Wachsamkeit (l’attention - Blan‐ chot war mit keiner der beiden Übersetzungen vollständig zufrieden), die in ihrem Stillstand, in ihrem noch nicht eingetretenen Ereignis höchste Bewegung und Anziehung ist. Am Ende von L’attente l’oubli wird das Schreiten zur Verei‐ nigung, die in sich die Trennung als miteinander verbundene Schritte oder Ver‐ neinungen trägt: „Lorsque je m’approche, immobile, mon pas lié à ton pas, calme, précipité …“ 49 Liest man l’attente als die weibliche und l’oubli als die männliche Stimme 50 , trifft hier im Schreiten die aufhaltende Kraft des Wartens oder des Wachens auf die nichtende Kraft des Vergessens. Sie heben einander nicht auf, sondern produzieren eine Ereignisstruktur, die jede Zyklik ausschließt. Zwi‐ schen dem ‚Noch-nicht‘ des Wartens und dem ‚Nicht-mehr‘ des Vergessens liegt das Ereignis, in dem die beiden pas sich kurzzeitig trennend verbinden. Sie überlagern sich im Ereignis ohne miteinander identisch zu sein. Ohne Vergessen gäbe es kein Erinnern und kein Gedächtnis. Die Gedanken würden sich unend‐ lich ansammeln, könnten aber nicht ausgedrückt werden. Dies betrifft wesent‐ lich auch Blanchots Konzeption des Erzählens. Um überhaupt sprechen zu können, muss Vergessen stattfinden. Gedächtnis Im 12. Kapitel von TO 2 werden das Warten und das Vergessen nun mit dem Gedächtnis verbunden. Auf dem Weg in die unendliche Nacht löst sich das Ge‐ dächtnis der Menschen auf, indem es wie eine Eiswüste in der Sonne zerschmilzt und Teil des Imaginären wird, das fortlaufend Strukturen zum Schmelzen bringt und Persönliches in Unpersönliches wandelt und dabei in Vergessen überführt. Das Vergessen bedeutet als Nichtung jedoch keine absolute Löschung, sondern den Übergang ins Imaginäre, in dem alles möglich und nichts mehr greifbar ist. Das Persönliche und Individuelle wird von einer „mémoire gigantesque“ einge‐ holt, welche das Vergessen nicht nur des Körpers, sondern auch der Worte be‐ wirkt, die durch die Wiederholung des „mot vide de Thomas“ ersetzt werden. 51 Inhalte und Bezeichnungen werden mit Leere und Bedeutungslosigkeit über‐ schrieben. Da die Überschreibungen jedoch sprachlicher Natur sind, bleiben wie beim Vergessen immer Reste, die die Bewegungen nicht aufhören lassen und stets die Spur der Nichtung in sich tragen. Das Vergessen findet kein Ende. 12.2 Gedächtnis: Warten - Vergessen 299 <?page no="302"?> 52 Gilles Deleuze: Foucault, Paris: Minuit 1986, p. 114. Daher konzipiert Blanchot das riesige, überindividuelle Gedächtnis nicht als Archiv, sondern als ein absolutes Gedächtnis, das man mit Deleuze auch als „mémoire du dehors“ bezeichnen kann. 52 Dieses ist vom Kurzzeitgedächtnis als ein Gedächtnis zu unterscheiden, das sich nicht fixieren lässt und in dem keine Schubladenordnung der typologisierenden Identifizierung wie in einem Archiv vorherrscht. Es bezeichnet Schichten, die über eine Selbstaffizierung derart in‐ einander übergehen, dass sie nicht mehr als Zeitschichten oder bestimmte Orte differenzierbar sind. Der entscheidende Punkt ist nun die Relation von Ge‐ dächtnis und Vergessen, in der die Spur des Vergessens selbst zum Problem wird. Bei Deleuze wie bei Blanchot kann die Auslöschung des Vergessens nicht durch Verdrängung geschehen. Vielmehr geht es um eine Verdopplung des Vergessens durch die Selbstaffektion des Vergessens, die der Tod ist. Erst im Vergessen des Vergessens löst sich die Subjektivität im absoluten Gedächtnis auf und der Körper geht zurück in sein Materie-Sein. Das Schreiten im 12. Kapitel von TO 2 ereignet sich zwischen Warten und Vergessen. Zwischen dem Warten und dem Vergessen liegt immer ein pas. Es ist Ausdruck einer Bewegung, in die alle anderen Textbewegungen münden, die in ihrem Miteinander und Gegeneinander eine ewige Vorhölle zwischen Ver‐ gangenem und Zukünftigem schaffen, in der es keinen Halt und kein Anhalten gibt. Thomas bewegt sich im Strom der Zeit, dem niemand entkommt und der kein Ziel hat. Er durchläuft verschiedene Zyklen und Bilderschichtungen, die nachzuverfolgen kaum möglich ist. Während im 10. Kapitel, das den Todes‐ kampf Annes behandelt, die mythopoetischen Bilder zumindest nachgezeichnet werden konnten, kann dies für das 12. Kapitel nur exemplarisch geschehen, da es hier um eine sintflutartige Proliferation der Bildproduktion geht. Die Bilder, die sich zunehmend als Bilderflut performativ zeigen, rufen voller Pathos un‐ zählige kosmologische Themen und Mythen auf. Durch die Schichtungen bleibt es jedoch beim Anzitieren. Sie erscheinen und werden genichtet. Sie skandieren den ereignishaften Rhythmus einer Erwartung, die sich nicht erfüllt, da sie vom Vergessen genichtet wird. In der Konsequenz können sich die Bilder nicht ent‐ wickeln, sondern werden als Entwurf vom nächsten Entwurf überschrieben. Exemplarisch wird dies kurz vor dem Ende des Textes anhand des Wasser‐ kreislaufs deutlich. Die Menschen, oder was von ihnen im Zuge des Vergessens übrig geblieben ist, sind noch nicht vollständig am Ende angekommen. Wie das Sterben Annes gezeigt hat, wird eine solche Ankunft auch grundsätzlich nicht möglich sein. Denn der Tod ist nicht darstellbar und verschiebt sich in Thomas l’Obscur bis zum Ende des Textes, um dann als Unausgesprochenes hinter dem 12. Bilderflut: Genesis und Apokalypse 300 <?page no="303"?> 53 TO2: 137. Textende zu liegen oder lange vorher stattgefunden zu haben, ohne bemerkt worden zu sein. Dennoch gibt es unterschiedliche Weisen, sich auf das Ende zuzubewegen. Thomas, der als Führerfigur seine Herde bereits vorher in der Nacht ausgesetzt hat, wird erst im letzten Satz wiederkehren. Daher müssen die Menschen mit der Führerlosigkeit zurechtkommen, die sie in ein unbestimmtes Warten versetzt: Cette attente, vapeur funeste, exhalée goutte à goutte du sommet d’une montagne, il semblait qu’elle ne pourrait avoir de fin. Mais, quand réellement du fond des ténèbres s’éleva un cri prolongé qui était comme la fin d’un rêve, tous reconnurent l’océan et ils aperçurent un regard dont l’immensité et la douceur éveillèrent en eux des désirs qu’ils ne purent supporter. 53 Das Wasser, das zum Wasserdampf und zum tropfenweisen Aushauchen wird, kreiert über einen schier unendlichen Wasserkreislauf ein Einheitsversprechen. So steigt das Wasser als Wasserdampf auf, rieselt herunter, pulverisiert sich und beginnt von Neuem mit der Bewegung. Die zyklische Bewegung wird jedoch durch das Warten zu einer Wiederholung, aus der es kein Entrinnen gibt. Gleichzeitig werden in diesem Satz aber auch die Elemente kosmologisch und in der Dynamik der ewigen Wiederkehr gleichsam kosmogenetisch zusammen‐ geführt. Neben dem Wasser ist es das Feuer, das als Wärme den Wasserdampf bewirkt, die Luft, welche im Ausatmen enthalten ist, und die Erde, die durch den Berg aufgerufen wird. Der Ausbruch aus der ständigen Transformation kann nur durch ein externes Ereignis erfolgen, das in diesem Fall ein nachklingender Schrei aus der Finsternis ist. Dieser Schrei und die Transformation des Wassers stehen in keinem Kausalzusammenhang. Sie werden über die Konjunktion „aber“ in eine Relation gesetzt, die keinen Sinn ergibt und trotzdem das Erzählen sich fortsetzen lässt. Das „aber“ schließt inhaltlich an einen anderen Satz und an ein anderes Bild an, syntaktisch muss es jedoch auf den ersten Satz des zuletzt zitierten Abschnitts bezogen werden. Dadurch entstehen zwei Arten von Ver‐ bindungen, die sich gegenseitig stören. Zum einen die inhaltlich zumindest über einen Kausalzusammenhang Sinn ergebende Relation, zum anderen die syntak‐ tische, die inhaltlich keinen Sinn macht. Auf diese Weise wird ein zuvor gesetztes Bild über ein anderes gesetzt und beide in eine Spannung gezwungen. Dieses Verfahren findet auch auf der Makroebene des Textes über die stetige Wiederkunft des Ähnlichen statt, was sich ebenfalls an der soeben zitierten Textpassage zeigen lässt. Über die Isotopie des Wassers („vapeur“, „goutte à goutte“, „océan“), insbesondere aber über die Wassertropfen, kehren Elemente 12.2 Gedächtnis: Warten - Vergessen 301 <?page no="304"?> 54 TO2: 12. 55 TO2: 137. 56 TO2: 137. des 1. Kapitels von TO 2 wieder. Dort heißt es kurz vor der Selbstüberschreitung Thomas’ in den lieu sacré: „La tentation prit un caractère tout à fait insolite, lorsque de la goutte d’eau il chercha à se glisser dans une région vague […].“ 54 Die Mikroebene des Wassertropfens ist die Basis, um in eine unbekannte Gegend vorzustoßen. Die Bewegung in diese Gegend zeigt sich dabei als mit der Versu‐ chung verbunden. Von den Wassertropfen des 12. Kapitels wird die Aufmerk‐ samkeit der Menschen auf den Ozean (dahinter) gelenkt, der sie fasziniert und damit ebenfalls eine Versuchung darstellt. In ihrem Warten kristallisiert sich im Wassertropfen eine Erwartung, die sich als Verlangen auf die Einheit mit dem Ozean projiziert. Im Unterschied zu Thomas werden die Menschen dieser Ver‐ suchung ohne Scham nachgeben: „Pour un instant redevenus des hommes, ils virent dans l’infini une image dont ils jouissaient et, cédant à une dernière ten‐ tation, ils se dénudèrent voluptueusement dans l’eau.“ 55 12.3 Kein Ende in Sicht: Kafkas Spur der Scham Im Motiv des Wassers verschränken sich am Ende reinigendes Wasser, Uterus‐ phantasie und Versuchung. Die Versuchung stellt eine Reizung durch den Blick dar, der die Wesen - kurzfristig wieder Menschen werdend - fasziniert und ins Offene zieht. Sie sehen im Unendlichen ungreifbar und unbegreifbar ein ihnen Genuss verschaffendes Bild. Thomas ist dabei einer von ihnen. Gleichzeitig ist er von ihnen jedoch nicht zuletzt durch den Erzählfokus unterschieden, der ihn als erfahrenen Grenzgänger und Wiedergänger aufgrund der zahlreichen Grenzerfahrungen der vorangegangenen 11. Kapitel hervorhebt. Für eine Lek‐ türe des Endes, das auf diese Singularität abzielt, werde ich im Folgenden den letzten Satz des Textes mehrfach zitieren. Dabei geht es einerseits darum, ver‐ schiedene darin enthaltende Bezüge freizulegen. Andererseits entspricht dies der performativen Offenheit, die diesen Text bis in sein Ende über die Wieder‐ kehr charakterisiert: „Thomas, aussi, regarda ce flot d’images grossières, puis quand ce fut son tour, il s’y précipita, mais tristement, désespérément, comme si la honte eût commencé pour lui.“ 56 Aufgrund des Adverbs „aussi“ steht der letzte Satz in Verbindung mit den anderen, durch die Konjunktion „mais“ und die ihm folgenden Adverbien „tris‐ tement, déséspérement“ erscheint ein Hinweis auf eine Differenz in der Wie‐ 12. Bilderflut: Genesis und Apokalypse 302 <?page no="305"?> 57 Der letzte Satz in TO1 ist fast identisch mit dem von TO2: „Thomas regarda à son tour ce flot d’images grossières, puis il s’y précipita tristement, désespérément, comme si la honte eût commencé pour lui.“ [TO1: 323]. Die wenigen Unterschiede zwischen TO1 und TO2 sind jedoch von nicht zu unterschätzendem Gewicht. 58 TO2: 137. 59 „Thomas s’avança dans la campagne et il vit que le printemps commençait.“ [TO2: 130]. 60 Milo Sweedler erkennt in seiner Interpretation des 4. Kapitels von TO2 eine zyklische Struktur, deren Zentrum und Endpunkt die Scham des letzten Satzes ist: „Tout se passe comme si Blanchot nous donnait, dès son entrée en littérature, dans son premier roman, une monstrueuse allégorie de la lecture où tout mène à la honte. […] [T]out le roman peut se lire, du début à la fin, comme une réflexion sur l’acte de lire. Ce livre auto-référentiel, qui se désigne lui-même à maintes reprises, nous présente, dès son point de départ et jusqu’à sa dernière phrase, une longue méditation sur la communi‐ cation littéraire. […] [Q]u’il s’agit d’un ouvrage de fiction, que nous somme entrés corps et âme dans l’espace littéraire. La structure circulaire du récit, lequel revient à sa fin sur son point de départ, insiste sur ce côté auto-référentiel.“ [Sweedler 2007: 400]. 61 Der erste Satz lautet: „Thomas s’assit et regarda la mer.“ [TO2: 9]. derholung durch die Erkenntnis der Wiederholung. 57 Zwischen Thomas und dem Eintritt in die Unendlichkeit steht nur noch das ‚als ob‘ der Scham bzw. die Scham des ‚als ob‘. Aber wird sie sich jemals von ihm lösen, solange er Mensch ist? Blanchot lässt mit diesem Ende keine vereinnahmende christliche oder auch nur irgendwie religiöse Lesart zu - er ist Philosoph und kein Gläubiger, wenn er versucht, den Tod zu denken und die Erfahrung des Todes in Worte zu fassen. Thomas wird oder könnte immer wieder eine unendliche vorletzte Runde als Bild des Außens machen. Im Denken wird er es nicht erreichen, denn für das Denken gibt es keinen Eintritt ins Außen. Gemäß der Struktur eines verschlos‐ senen Nirwanas muss er in die nächste Runde Leben und Sterben gehen. „Thomas, aussi, regarda ce flot d’images grossières, puis quand ce fut son tour, il s’y précipita, mais tristement, désespérément, comme si la honte eût com‐ mencé pour lui.“ 58 Über das Partizip „commencé“ arrangiert der Text einen Kreisschluss zum Incipit des Kapitels und dem dort großflächig ausgebreiteten Bild des Uranfangs, dessen Beginn über das gleiche Verb eingeleitet wird. 59 Der erste und der letzte Satz des Kapitels thematisieren somit den Anfang, der kein Anfang ist, da am Ende der Beginn der Scham steht, welche erneut an die Anfangsszene am Meer führt. 60 Verstärkt wird dies durch das schon genannte Adverb „aussi“, das - in TO 2 hinzugefügt - klanglich mit dem „s’assit“ des ersten Satzes in Verbindung tritt. 61 Viele Interpreten haben auf die prinzipielle Unabschließbarkeit des Textes sowie die zirkuläre Wiederkehr des Meeres und Thomas’ Gleiten ins Wasser aus 12.3 Kein Ende in Sicht: Kafkas Spur der Scham 303 <?page no="306"?> 62 Julien Santoni schreibt in seinem psychoanalytischen Durchgang durch Thomas l’Obscur: „Le mouvement circulaire du récit structuré comme une bande de Möbius ferait de Thomas l’Obscur un récit interminable car sans origine ou plutôt il serait le récit de la négation de l’origine et de la fin.“ [ Julien Santoni: „Lecture psychanalytique de Thomas l’obscur“, [http: / / www.blanchot.fr/ fr/ index.php? option_content& task=view&id=66&Itemid=41 (zuletzt aufgerufen am 28. 07. 2017)]. 63 Hill 1997: 57. 64 Arthur Cools: Langage et subjectivité - Vers une approche du différend entre Maurice Blanchot et Emmanuel Lévinas, in: Bibliothèque philosophique de Louvain, Bd. 70, Paris / Louvain / Dudley: Peeters 2007, p. 146. 65 Ibid., p. 149. 66 „[D]ans le cri même, les différences s’effacent. S’y abîment non seulement la possibilité de distinguer le sens de ce qui est énoncé, mais aussi l’instance (ou la condition) à partir de laquelle il s’énonce. Le cri désoriente tout autant qu’il déshumanise. […] Le cri rend manifeste que l’enchainement à soi est fatalement structuré par un manque. Ce manque, ce n’est pas la nudité du corps qui le supprime, mais c’est le corps qui n’y trouve pas ses limites et qui est en train de s’y perdre.“ [Ibid., p. 148 und p. 152]. Zur Scham bei Levinas siehe Levinas 2005: 38-45. dem 1. Kapitel verwiesen. 62 Der letzte Satz bleibt in diesen Deutungen jedoch meist eine Aussparung oder wird als paradox bezeichnet. Aber paradox ist das meiste in Thomas l’Obscur. Mehr noch ist die Paradoxie vielleicht das wichtigste erzählerische Element des Textes, hinter das es sich zu horchen lohnt. Leslie Hill kommt zu dem Schluss, dass „the ending deceives as well as disappoints“ und macht den Vorschlag, das Motiv der Scham mit Levinas als „ultimate condemnation of both Thomas and the literary discourse that carries his name“ zu lesen. 63 Ebenfalls mit Levinas argumentiert Arthur Cools. In seiner Lektüre von Levinas’ Text De l’évasion, auf den bereits im 1. Kapitel meines Textkommentars bezüglich des il y a referiert wurde, akzentuiert er Levinas’ Verbindung von Scham und Physis: „Dans la honte, c’est le corps même qui apparaît dans sa nudité, ou mieux: c’est la nudité caractéristique du corps qui apparaît.“ 64 Die Scham ist das Medium, welches die Nacktheit, verstanden als Verwundbarkeit und Intimität des Körpers, zum Vorschein bringt. Sie unter‐ bricht die entgrenzende Lust, wie Cools im Weiteren anfügt, und manifestiert in diesem Akt die körperliche Begrenzung des Ichs. Dieserart bietet die Scham einen (schmerzhaften) Weg des Ich zu sich. Jenseits dieser Möglichkeit von Selbstentdeckung via Scham funktioniert aber nach Cools die Verwendung der Scham in Thomas l’Obscur: „[C]’est l’en deçà du moi, l’inhumain et l’impersonnel que la honte et le cri révèlent comme ce qui refuse de disparaître, mais que l’on ne saurait assumer.“ 65 In der Scham wie im Schrei zeigt sich das, was unter dem Sprechen und unter dem Leben liegt und aus dieser Verborgenheit heraus nur kryptiert erscheint. 66 12. Bilderflut: Genesis und Apokalypse 304 <?page no="307"?> 67 Die Editoren standen vor dem Problem, beim Proceß ein Konvolut aus (wahrscheinlich) fertigen und unfertigen Kapiteln ohne Reihenfolge vor sich zu haben, deren Anordnung folglich nach „Wahrscheinlichkeiten von Handlungsstruktur und Zeitangaben und die Gruppierung in Roman-Kapitel oder ‚Fragmente‘ nach letztlich pragmatischen Erwä‐ gungen festgelegt wurde.“ [Manfred Engel, Bernd Auerochs edd.: Kafka Handbuch - Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart / Weimar: Metzler 2010, p. 192]. Dennoch gilt Manfred Engel Der Proceß „trotz seiner ungewöhnlichen Überlieferung [als] der geschlossenste Text verglichen mit den anderen beiden Fragment gebliebenen Romanen Das Schloss und Der Verschollene“ [Engel / Auerochs 2010: 195]. 68 Franz Kafka: Der Proceß, in: Franz Kafka - Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Aus‐ gabe, edd. Jürgen Born, Gerhard Neumann et al., Frankfurt a. M.: Fischer 1990, p. 312. 69 Franz Kafka: Der Proceß - Apparatband, in: Franz Kafka - Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, edd. Jürgen Born, Gerhard Neumann et al., Frankfurt a. M.: Fischer 1990, p. 32. Die ‚autre‘ nuit, der Tod und das il y a sind ebenso unbegreifliche wie untilg‐ bare Fatalitäten des Lebens, die mit der Scham nicht den Selbstverlust verhin‐ dern, sondern geradezu seine Bedingung sind, insofern in dem Aus-sich-He‐ raustreten des Ichs durch das Gefühl der Scham Verdopplungen kreiert werden, die als personalisierte Über-Ich-Strukturen oder Abkopplungen der Psyche be‐ stehen bleiben und keine Rückkehr in eine geschlossene Subjekteinheit zu‐ lassen. Richtung Kafka Doch es soll hier eine weitere, den Text entgrenzende Möglichkeit aufgeworfen werden, den letzten Satz von TO 2 zu deuten. Diese ergibt sich aus dem Blick in einen anderen Text, genauer: zum Ende von Kafkas Roman Der Proceß. Wie viele andere Texte Kafkas ist auch dieser Roman Fragment geblieben. 67 Das uns zu‐ gängliche Ende des Fragments ist der Mord am Protagonisten K.: Aber an die Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brennenden Augen sah K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. „Wie ein Hund! “ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben. 68 Bis Kafka zu dieser Variante des möglichen letzten Kapitels des Proceß kam, schrieb er noch folgende, dann verworfene letzte Worte: „Sein letztes Lebens‐ gefühl war Scham.“ sowie: „Bis ins letzte Sterben blieb ihm die Scham nicht erspart.“ 69 Als endgültige wurde schließlich die ‚als ob‘-Variante gewählt. Sie bewirkt eine eindeutigere Öffnung des Romans als die anderen beiden Versuche, ein Ende zu finden. Mit der Konstruktion „es war, als sollte“ entzieht sich die Erzählstimme die eigene Aussagesicherheit, welche vor dem Tod zurückschre‐ 12.3 Kein Ende in Sicht: Kafkas Spur der Scham 305 <?page no="308"?> 70 Hans H. Hiebel: „Der Proceß / Vor dem Gesetz“, in: Bettina von Jagow, Oliver Jahraus edd.: Kafka Handbuch, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, pp. 456-476, hier pp. 473-474. Hiebel nennt nicht nur das „Wächter-Duo, de[n] schwarze[n] Anzug, de[n] Gedanke[n] ans Theater, de[n] Geburtstag und Fräulein Bürstner […]“, sondern auch die Scham als kompositorische Parallelen. 71 Félix Guattari und Gilles Deleuze betonen die wesentliche Unabschließbarkeit des Proceß, der als Text die Möglichkeiten und Schwierigkeiten seiner Deutungen thema‐ tisiert und prozessualisiert. [Gilles Deleuze, Félix Guattari: Kafka - Pour une littérature mineure, Paris: Minuit 2005, pp. 79-96]. cken muss. Wenngleich sie sich sodann in die weiße Seite des Endes zurückzieht, bleibt die Markierung des literarischen Raumes dennoch wie eine Aufforderung stehen. Auf der Suche nach einer Auslegung dieses Endes befindet sich der Leser in Analogie zum „Mann vom Lande“ vor dem nächsten Schritt weiter hinein in den literarischen Raum, der bei Kafka wie bei Blanchot ohne das ‚als ob‘ nicht zu denken ist. Bei beiden spricht im letzten Satz eine Stimme, die niemandem gehört, sondern lediglich neutral berichtet oder protokolliert. Durch die Unter‐ lassung jeder Form des Eingreifens bringt dies eine ganz eigene Gewaltsamkeit mit sich. Auch wird auf diese Weise die Scham vom subjektiven Gefühl zur übergeordneten Struktur, die offen lässt, ob jeweils K. und Thomas die Scham für sich selbst oder die anderen empfinden bzw. inwiefern sie überhaupt Scham empfinden. Denn die Scham impliziert die Struktur einer übergeordneten Au‐ torität, an die das Subjekt seine Verantwortung delegieren könnte. Das ‚als ob‘ hält dies radikal in der Schwebe der Lektüre und öffnet somit das Problem der Verantwortung als Frage auf den Leser. Es geht hier mit dem Ende folglich aber‐ mals und noch dringlicher als im 7. Kapitel um die Alterität des A/ anderen und die Verantwortung im Angesicht des Endes. Sie stellt sich hier als Frage des ‚als ob‘, auf die eine Ver-Antwortung zu folgen hat, die der Text nicht mehr vorgibt. Bestenfalls verweist die Zyklik auf den Anfang und erzwingt eine neuerliche Wiederkehr des Textes der Wiederkehr. Wie Hans H. Hiebel angemerkt hat, ist auch das Ende des Proceß mit dem Anfang verknüpft. 70 Beide Texte verbinden zudem am Ende und womöglich an Stelle des Endes die Scham mit der ‚comme si‘bzw. ‚als ob‘-Konstruktion. Die Spur des ‚als ob‘ lässt sich, wie im 11. Kapitel gezeigt, bis zum Beginn des idea‐ listischen Subjektdenkens in Immanuel Kants kategorischem Imperativ zurück‐ verfolgen. Damit gibt es über das ‚als ob‘ eine Spur vom 11. ins 12. Kapitel, die von Kafka zu Blanchot ans Ende des Romans sowohl im Sinne des einzelnen Textes als auch als generische Form des Schreibens führt. Josef K. wird getötet, das Ende von Thomas bleibt offen. Während bei Kafka die Abgeschlossenheit des Romans samt seiner Kapitelfolge in Frage steht, 71 kann für TO 2 zunächst das Gegenteil gesagt werden, ist doch die 2. Fassung eine Überarbeitung der 12. Bilderflut: Genesis und Apokalypse 306 <?page no="309"?> 72 TO1: 323. 73 TO2: 137. 74 TO2: 136. 75 Die Türhüterlegende ist eine häufig zitierte Sequenz des Proceß. Unter anderem hat Jacques Derrida sie in Préjugés einer dekonstruktiven Lektüre unterzogen [ Jacques Derrida: Préjugés - Devant la loi, in: id., Vincent Descombes et al.: La faculté de juger - Colloque de Cerisy, Paris: Minuit 1985, pp. 87-139]. 76 Hiebel 2008: 471. 77 Ibid., p. 2008: 463. ersten und lässt insofern wenig Kontingentes bezüglich ihrer Struktur attes‐ tieren. Ich zitiere nochmals beide Varianten: „Thomas regarda à son tour ce flot d’images grossières, puis il s’y précipita tristement, désespérément, comme si la honte eût commencé pour lui.“ 72 ( TO 1) „Thomas, aussi, regarda ce flot d’images grossières, puis quand ce fut son tour, il s’y précipita, mais tristement, désespé‐ rément, comme si la honte eût commencé pour lui.“ 73 ( TO 2) Wenn es eine Ver‐ änderung gibt, die zwischen den beiden Fassungen stattgefunden hat, dann lässt diese Thomas in TO 2 über die Konjunktion ‚auch‘ näher an die anderen Men‐ schen heranrücken und wirft somit nochmals seine Verantwortung zum Menschsein auf. Türhüter Die Frage der Verantwortung gegenüber der Frage selbst konkretisiert sich im 12. Kapitel in einem „gardien de l’impossible“ 74 , der vor dem Hintergrund der bisherigen Lektüre als Wiedergänger des Kafkaschen Türhüters aus dem Dom-Kapitel des Proceß erscheint. 75 Der Gefängniskaplan im Dom, wo K. ei‐ gentlich einen italienischen Geschäftspartner herumführen sollte, erzählt die Geschichte von einem „Mann vom Lande“, der sein ganzes Leben mit Warten und vergeblicher Einflussnahme auf den Türhüter des Gesetzes zubringt. Dieses Warten ist mit der Hoffnung des Einlasses in der Zukunft verbunden, die sich aber als Täuschung herausstellt. Das Warten in der Hoffnung, dass Eintritt ge‐ währt wird, gilt gemeinhin als Parabel auf die menschliche Existenz: „Alles Da‐ sein ist nur ein ‚Aufschub‘.“ 76 Wie im Traum vermischen sich also Inneres und Äußeres, werden die verschiedenen metaphorischen und metonymischen Ersetzungen vorgenommen, werden die tem‐ poralen und kausalen Beziehungen umgestellt und purzeln die Einzelheiten - freilich nach einer bestimmten Gesetzmäßigkeit, einer Traumlogik - ‚rhizom-artig‘ durchei‐ nander. Semantische und metaphorische Indizien verändern den Sinn der Phänomene von Punkt zu Punkt, so dass wir von einer gleitenden und zugleich paradoxen Meta‐ phorik sprechen können. 77 12.3 Kein Ende in Sicht: Kafkas Spur der Scham 307 <?page no="310"?> 78 Theodor W. Adorno: „Parabel ohne Schlüssel - Aufzeichnungen zu Kafka“, in: Theo Elm, Hans Hiebel edd.: Die Parabel - Parabel und Parabolik in der deutschen Dichtung des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, pp. 207-210, hier p. 207. 79 Jean-Paul Sartre: „Aminadab ou du fantastique considéré comme un langage“, in: id.: Situations, Bd. 1, Paris: Gallimard 1947, p. 122-142. 80 Vivian Liska arbeitet an einem Buch, das die von Blanchot übersetzten Textstellen Kafkas zusammenstellt und in ihrer Entstehungsgeschichte verfolgt. Teile davon wurden bereits auf Englisch publiziert: Vivian Liska: „A Same Other, Another Same - Walter Benjamin and Maurice Blanchot on Translation“, in: The German Quarterly 87: 2 (2014), 229-245. Diese Charakterisierung des Proceß könnte ebenso eine Beschreibung des letzten Kapitels von Thomas l’Obscur sein. Sicher ließe sich das Zitat auf viele andere Stellen des Textes von Blanchot anwenden, aber das letzte Kapitel weist über den Schluss sowie die Türhüterlegende signifikantere Bezüge zu Kafka auf als andere Kapitel. Eine plausible metaliterarische Lesart der Türhüterparabel schlägt Maximilian G. Burkhart vor: „Er [Kafka, Anm. der Verfasserin] lässt, ebenso wie der Türhüter selbst, das Innere der Erzählung aufscheinen, ohne Durchgang zu gewähren.“ Wie der Mann vom Lande den Eintritt ins Gesetz verlangt, versucht Josef K. die Erzählung „Vor dem Gesetz“ zu verstehen, also Zugang zu ihr zu erhalten. Ein ebensolches Schicksal ereilt auch den Leser des Proceß, der von der unklaren Kapitelstruktur bis hin zum genannten Gleiten der Metaphern Wege finden muss, mit einem Text umzugehen, dessen Worte sich wie Türen präsentieren, die geöffnet werden wollen und doch verschlossen bleiben - oder, wie Theodor W. Adorno seine Leseerfahrung von Kafkas Werk in Worte fasst: „Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will es dulden.“ 78 Der Schluss von Thomas l’Obscur öffnet den literarischen Raum für Kafka, dessen Einfluss in Blanchots Romanen Aminadab und Le Très-Haut sehr deutlich ist und nicht nur von Sartre bemerkt wurde. 79 Die zweite Version von Thomas l’Obscur hat trotz vieler kleinerer und größerer Änderungen im letzten Kapitel den letzten Satz der ersten Version (mit dem Zusatz des Adverbs „aussi“) bei‐ behalten. Zwischen den beiden Versionen liegen die beiden Kafkaesken Romane Aminadab und Le Très-Haut. Blanchots Denken bewegt sich, so möchte ich fol‐ gern und wie der bereits zitierte Essayband Blanchots mit dem Titel De Kafka à Kafka suggeriert, nicht nur über den Kreisschluss des romanesken Frühwerks, sondern auch als stetige Wiederaufnahme in Form von Tagebucheinträgen, ver‐ schiedenen Textauszügen und Denkfiguren Kafkas sowie von Blanchots Über‐ setzungen einzelner Schriften Kafkas, von Kafka zu Kafka. 80 Wenn wir nun noch einmal den Blick auf den letzten Satz von Thomas l’Obscur richten, und in diesen Blick den Blick Kafkas auf das Schreiben einbeziehen, so gewinnen dessen Worte, die Blanchot in L’espace littéraire zitiert, die Bedeutung 12. Bilderflut: Genesis und Apokalypse 308 <?page no="311"?> 81 EL: 115. eines offenen Kreises: „Schreiben um sterben zu können - Sterben, um schreiben zu können“. 81 In diesen offenen Kreis können die Sprache und die menschliche Existenz nur über einen Augenblick des Innehaltens eintreten, um sich auf diese Weise dem Sterben hinzugeben, unwissend, was der Tod sein wird. Abermals ist es der tiret, der beide Bewegungen in ihrer chiastischen Komplementarität voneinander trennt und sogleich den logischen Abgrund zwischen dieser re‐ ziproken Bedingtheit überbrückt. Bilderflut Gerade in diesem Kontext des Zweifels und des „inauthentique“ gilt es nun, an Stelle des Endes noch einmal auf die Bilderflut zu sprechen zu kommen. Der „flot d’images grossières“ erscheint als Bilderflut des Buches sowie als die kon‐ krete Bilderflut, von der auf der Inhaltsebene des 12. Kapitels die Rede ist. Der Raum dieser images ist ein zwischenzeitlicher Zwischenraum, ein kaum be‐ greiflicher Raum von Farbnuancen und Klängen, Synästhesien und anderen wortgewaltigen Schichtungen, die wie ein ästhetisches Pleistozän einen Ur‐ grund der Sprache entstehen lassen. Vor diesem ungründigen Urgrund verweist der letzte Satz noch einmal auf die innere (Lese-)Erfahrung des 4. Kapitels und entwirft eine gescheiterte Auf‐ hebung, die den Eintritt ins Gottesreich verwehrt. Metaliterarisch als Reflexion über das Bildarsenal des ganzen Textes gelesen, betrifft der letzte Satz den Leser von Thomas l’Obscur, der spätestens im letzten Kapitel von der entgrenzenden Wucht des Imaginären affiziert wird, indem der letzte Satz ihn vor die Entschei‐ dung einer Relektüre des Buches bzw. der beiden Bücher gleichen Titels stellt. Es ist die Aufforderung oder die unausweichliche Notwendigkeit („quand ce fut son tour“), am Bilderstrom teilzuhaben, erneut in ihn einzutauchen im traurigen Wissen, dass es im Kreis des Begreifens keinen Anfang und kein Ende gibt. Der Anfang der Erkenntnis, an den Thomas sich mit seinem Sturz in die Tiefe begibt, bedingt die Scham. Sie ist zweifach in Thomas eingeschrieben. Zum einen durch seinen biblischen Namen, Thomas Judas Didymos. Judas, dessen Scham zum Suizid durch Erhängen führt, verbindet über den biblischen Beinamen des Apostels Thomas (Thomas Judas) den Selbstmörder Judas mit dem Selbstmörder Thomas, wie er im 5. Kapitel von TO 2 erscheint. Dort wie auch in Kafkas Proceß ist die Scham die Kraft eines unverzeihlichen Fehlers, der kein Zurück erlaubt, jedoch als Pein nach Auflösung drängt. Die Scham des Selbstmordes trägt Thomas in sich und sie ist es auch, die in dem verzweifelten Sturz Thomas’ in die Bilderflut wiederkehrt. 12.3 Kein Ende in Sicht: Kafkas Spur der Scham 309 <?page no="312"?> Zum anderen ist die Prämisse der Scham im Sündenfall der Erkenntnis ver‐ ankert, welche dem erkennenden Subjekt mit der unhintergehbaren Zeitlichkeit die Einsicht in die immerwährende Unvollständigkeit des eigenen Erkennens bringt und die Scham generiert. Es ist der Kampf zwischen einem Heilsverspre‐ chen, das scheinbar erreichbar ist, und dem Wissen des sicheren Scheiterns an der Kontingenz. Dies trägt eine grundsätzliche Entscheidung als Frage in sich: Glauben oder Erkennen? Beide versprechen die Hoffnung als eine Antwort an‐ gesichts des A/ anderen der anderen Nacht. Wenn die Hoffnung zuletzt stirbt, so stirbt sie in Thomas l’Obscur im letzten Satz und erzwingt eine unaufhörliche Ver-Antwortung auf dem Ungrund des Nachtdenkens. 12. Bilderflut: Genesis und Apokalypse 310 <?page no="313"?> C. Schlussgedanken <?page no="315"?> 1 Derrida 1986: 134 sq. 2 Kafka 1990: 298. C. 1 Thomas l’Obscur lesen [I]l faut apprendre à le lire [gemeint ist TO2] avec une patience infinie, s’immobiliser sans fin en chaque passage et y revenir indéfini‐ ment, le réciter ainsi. 1 Jacques Derrida Die Lektüre von Thomas l’Obscur in seinen beiden Fassungen vermittelt eine stetige Oszillation zwischen Unverständlichem und Verständlichem. Meines Erachtens ist Thomas l’Obscur nicht zu verstehen, jedoch sind Veränderungen der Art des Unverständlichen festzustellen und zu beschreiben. Blanchots Logik der anderen Nacht, jenseits der Dualität von Tag und Nacht, setzt in einem se‐ riellen Kreisschluss am Anfang und am Ende (die es als solche im Kreis nicht gibt - es gibt lediglich Eintritte in und Austritte aus dem Prozess des Kreises) die Nacht. Der Tag wird somit eingeschlossen in die Nacht. Dabei wird der in der abendländischen Denktradition stets übergeordnete Tag nun der Nacht als Reduktion ihrer Komplexität untergeordnet. Man kann in Thomas l’Obscur ver‐ schiedene Intensitäten des Unverständlichen herausfiltern, die, wie in den Prä‐ liminarien gesagt, aufs Engste mit der Komplexität verbunden sind. So bin ich auch am Ende dieser Untersuchung außer Stande, einen Plot des Textes festzu‐ legen, um eine semantische Minimaleinheit bilden zu können. Thomas l’Obscur zu lesen, ist oftmals wie das Sehen in der Dunkelheit: ein He‐ rantasten im Dunkeln. In der Dunkelheit ist die taktile Wahrnehmung als Ori‐ entierung notwendig. Die Affektlogik des Textes entspricht einer Logik der In‐ tensitäten, nicht der Konturen. Thomas l’Obscur lässt sich nur bedingt rational begreifen, und in gewisser Weise ist der Leser tatsächlich dem lesenden Thomas des 4. Kapitels von TO 2 sehr ähnlich. Ich würde behaupten, dass man diesen Text oder diese beiden Texte samt des Raumes, der sie trennt und vereint, nur über das Zulassen einer Berührung ansatzweise verstehen kann. Wenn Kafka in der Türhüterlegende des Proceß den Gefängniskaplan sagen lässt: „Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweif‐ lung darüber“ 2 , dann beschreibt er genau diese Gewalt der Worte, die Thomas <?page no="316"?> verstehen will und die sich ihm in ihrer unabänderlichen Präsenz entgegen‐ stellen. Doch mit den beiden Fassungen von Blanchots Thomas l’Obscur wird durch deren Koexistenz zumindest seit 2005 die Unveränderlichkeit der Schrift auf einer anderen Ebene problematisiert. Die Schrift ist unveränderlich im Moment des Leseaktes. Sie ist es aber nicht mit Blick auf die jeweils andere Version. Mit Blick auf die erste Version bedeutet dies das Wissen um die Möglichkeit der Verdichtung, Verdunklung und Verknappung, die sich in der späteren Fassung findet. Von der nouvelle version aus betrachtet, scheinen deren Bedingungen in Form der ersten Fassung durch sie hindurch. So macht Blanchot auf den Schreib‐ prozess aufmerksam, der jedoch nicht über verschiedene Versionen in eine end‐ gültige Fassung mündet, sondern die Schrift und mit ihr den Leser zwischen den zwei Möglichkeiten von Thomas l’Obscur in einer Sprache oszillieren lässt, die die Dinge weder zeigt noch verbirgt. Blanchot hat eine Sprache geschaffen, die man nicht memorieren kann, da sie zum Ziel hat, die ordnungsstiftende Funk‐ tion des Erinnerns zu hintergehen, indem sie multiple Ordnungen etabliert, die sich gegenseitig aushebeln oder zumindest gefährden und hinterfragen. C. 1 Thomas l’Obscur lesen 314 <?page no="317"?> 1 Franz Kafka: Tagebücher, in: id.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 10 / 2: 1912-1914, ed. Hans-Gerd Koch, Frankfurt a. M.: Fischer 1994, p. 101 (Tagebucheintrag Kafkas vom 23. 9. 1912). C. 2 Über Thomas l’Obscur schreiben Man muss die Erfahrungen des dem Unzugänglichen Ausgesetztseins in diesen Texten zulassen wie den Tod, um den sie sich winden. Oder, um Kafkas vielleicht bekannteste Beschreibung der Schreibbedingungen (der Beurteilung des Pro‐ zesses des Schreibens) zu zitieren, die er am Tag nach der Abfassung von Das Urteil in sein Tagebuch notierte: „Mehrmals in der Nacht trug ich mein Gewicht auf dem Rücken. […] Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele.“ 1 Ausgelassenes - Il y a, pour tout ouvrage, une infinité de variantes possibles Am Ende auf den Anfang zurückzukommen ist nichts Ungewöhnliches. Der Anfang von Thomas l’Obscur liegt, wie ich insbesondere im 1. Kapitel zu zeigen versuchte, zwischen den beiden unterhalb seines Titels liegenden Varianten un‐ zugänglich verborgen. Doch was für das künstlerische Werk zutrifft, gilt eben‐ falls für das wissenschaftliche Schaffen. Sofern es für jedes Werk eine Unendlichkeit an möglichen Varianten gibt, stellt mein Textkommentar nur eine dieser unzähligen Möglichkeiten dar, die in ihrer Anwesenheit alle anderen zumindest als gleichzeitige Aktualisierung ausschließt. Zu hoffen wäre jedoch, dass sie andere auffordert, ihr weitere hin‐ zuzufügen, so wie mein Text aus der stillen Aufforderung anderer Texte ent‐ standen ist. Meine Studie über das Nachtdenken in Thomas l’Obscur hat, angeleitet durch den Philosophen-Literaten Blanchot, versucht, eine Brücke zwischen Philoso‐ phie und Literatur(-wissenschaft) zu bauen und Denken mit Imaginieren zu verbinden. Wenn ich die Zeit hätte, eine weitere Studie über Thomas l’Obscur zu verfassen, so würde sie die literarischen Bezüge innerhalb der beiden Fas‐ sungen des Textes thematisieren, würde unter anderem Proust und Giraudoux einbeziehen, Hermann Broch ebenso wie Rilke deutlich in den Vordergrund rü‐ cken und verstärkt die Spuren der griechischen Mythologie hervorheben. <?page no="318"?> 2 Martin Heidegger: „Brief über den Humanismus“, in: id.: Gesamtausgabe, I. Abteilung - Veröffentlichte Schriften 1914-1970, Bd. 9, ed. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frank‐ furt a. M.: Klostermann 1976, p. 313. Zudem würde sie der Verbindung der poetisch-mystischen dunklen Nacht des heiligen Johannes vom Kreuz mit der anderen Nacht Blanchots einen größeren Raum geben. Vor allem aber würde diese Arbeit Heideggers existenzialphiloso‐ phische Spur in Thomas l’Obscur weiter verfolgen. Thomas l’Obscur ist durchzogen von Heideggers Denken über den Tod. Blanchots Sprachontologie hat einen ihrer Ursprünge in Heideggers „Brief über den Humanismus“, in dem es heißt: „Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch.“ 2 Auch wenn Blanchot die Behausung durch die Sprache wenig häuslich gestaltet und das Subjekt Wind und Wetter aussetzt, ist es in der Sprache. Doch die Sprache birgt das Subjekt nicht, sondern setzt es sich aus, bietet ihm ein Dach über dem Kopf, um es über ihm einbrechen zu lassen, öffnet ihm die Tür, um es dann auszusperren, verweigert ihm den Eintritt und schickt es in die Nacht. Mit der Sprache kann der Mensch versuchen, sich an die Grenze der Sprache zu denken oder zu schreiben, er wird jedoch diese Grenze nicht überschreiten können, bevor die Zeit gekommen ist. Sofern es im Tod keine Präsenz, sondern nur das Loslassen gibt, muss eine sich dem Tode nähernde Sprache alles tun, um Präsenz zu vermeiden. Sie muss Indikative unhaltbar machen, den Ort des Spre‐ chens jeder Subjekthaftigkeit entziehen und Beziehungen zwischen den Wör‐ tern aufbauen, die dazu dienen, andere zu zerstören. Thomas l’Obscur und mit ihm viele andere Texte Blanchots zu lesen und durch sie in neue Erfahrungsräume zu gelangen, ist eine Sache. Darüber zu schreiben, ist eine andere Sache. Wie ich in den Präliminarien bereits angemerkt habe, bedeutet die vorliegende Untersuchung auch eine Suche nach dem geeigneten Ausdruck, der letztlich die Form des Kommentars angenommen hat. Er erscheint mir auch jetzt noch als die bestmögliche Annäherung an eine Sprache, die Nähe (und das heißt auch: Verstehen) nur unter der Prämisse der Hingabe und par‐ tiellen Selbstaufgabe zulässt. Diese Sprache verlangt ihre Opfer. Nicht nur Zeit hat sie beansprucht, sondern auch Konzepte und Vorurteile, vorschnelle Schlüsse und theoretische Gerüste zerstört. Literatur findet nicht außerhalb des Lebens statt. Sie ist Teil des Lebens, ebenso wie sich der Tod nicht außerhalb der Literatur ereignet, sondern in ihr vollzogen werden kann. Und daher ist es nun auch am Ende so, dass alles über Thomas l’Obscur Gesagte das Zeichen des ‚als ob‘ in sich trägt. Meine Reflexionen über Blanchots Nacht‐ denken basieren auf der Tatsache, dass sie Unzähliges weglassen mussten und C. 2 Über Thomas l’Obscur schreiben 316 <?page no="319"?> Vieles auch anders hätte artikuliert werden können. Sie sind eine Text gewor‐ dene Möglichkeit, diesen Text und seine beiden Fassungen zu lesen. So als ob dies möglich wäre. C. 2 Über Thomas l’Obscur schreiben 317 <?page no="320"?> DANKSAGUNG Mein Dank gilt: » Danielle Meningoz für die Pflege der französischen Sprache und die aus ihr entstandene Freundschaft … » Marlies Flecke-Giammarco für unsere jahrelangen Dialoge über die Nacht und die Seele … » meinem Vater für die Liebe zur Philosophie, unsere damit verbundenen und uns verbindenden Unterhaltungen sowie seinen scharfen Verstand (nicht nur beim Redigieren der Arbeit); meiner Familie für den unhinter‐ fragten Rückhalt in allen Lebenslagen … » meiner Tochter Matilda für die Erdung, die mir ihr Kindsein in den rich‐ tigen Augenblicken gibt … » Daniel Graziadei, Lars Schneider, David Klein und Wolfgang Lasinger für die wunderbaren Gespräche - die besten Ideen entstanden oft vor Ko‐ pierern, in Türstöcken oder auf dem Gang der Ludwigstraße 25 ste‐ hend … - sowie allen Kollegen und Kolleginnen am Münchner Institut für Romanische Philologie für die familiäre Atmosphäre und die Herz‐ lichkeit (insbesondere auch für das Lachen und den wunderbaren Filter‐ kaffee von Britta Brandt) … » Maha El Hissy dafür, dass es Wissenschaftlerinnen und Freunde wie sie gibt … » Dea Erwig und Silvia Tiedke für unsere Freundschaft, die anregenden Gespräche zu diversen Texten und Begriffen sowie die Selbstreflexion auf allen Ebenen … » Thorben Päthe für seinen klaren Geist und die Erinnerung, beim Denken den Menschen nicht aus den Augen zu verlieren … » Ralph Ammer für seine Fähigkeit zur Konzentration aufs Wesentliche und das unheimlich-verstörende Cover meines Buches … » allen Freunden, die mich emotional und praktisch unterstützt und immer an mich geglaubt haben - unter diesen kostbaren Menschen möchte ich Kathi Heydenreich und meiner Schwester Rhea Werner ganz besonders für ihre Hilfe beim Lektorieren des Buches danken … » Gudrun und Roland Brandstetter für unsere tiefe Freundschaft und ihre spirituelle Begleitung im Rahmen des Qigongs … » dem Franziskanerinnen-Kloster Armstorff für den Raum des Rückzugs … <?page no="321"?> » der DFG -Forschergruppe Anfänge (in) der Moderne, durch die ich mittels eines Promotionsstipendiums große Teile meiner Dissertation verfassen konnte; insbesondere gilt mein Dank Micha Ott und Inka Mülder-Bach, der ich darüber hinaus sehr dafür danke, das Drittgutachten zu meiner Arbeit verfasst zu haben … » dem Promotionsstudiengang Prolit und dabei an erster Stelle Markus Wiefarn als Koordinator und Ansprechpartner für Fragen jeder Art sowie allen (Mit)-Doktoranden für die inspirierenden Diskussionen in den Oberseminaren … » Annette Keck, die mich bereits in der Frühphase der Dissertation in das LMU -Mentoring-Programm aufgenommen und damit eine essentielle fi‐ nanzielle wie beratende Unterstützung ermöglicht hat … » dem Förderfonds der VG Wort für die Bewilligung eines umfassenden Druckkostenzuschusses … » Andreas Mahler für seinen Scharfsinn und die oftmals ungeahnten Re‐ sonanzen, die seine Ideen in meiner Arbeit ausgelöst haben … » Gerhard Poppenberg für seine grandiose Arbeit über Blanchot und seine feinfühlige Übersetzertätigkeit weit über Blanchot hinaus … » Bernhard Teuber, dem mein größter Respekt vor seinem menschlichen wie wissenschaftlichen Sein gilt, dem ich neben einer Anstellung an seinem Lehrstuhl für Romanische Philologie an der LMU München den sorgfältigen Umgang mit Texten verdanke und dessen Habilitation über San Juan de la Cruz mich überhaupt zu einer Arbeit über die Nacht ins‐ piriert hat … » Meinem Doktorvater Jörg Dünne, dessen Zugang zur Literaturwissen‐ schaft mich sowohl methodisch als auch didaktisch wesentlich geprägt hat und durch den die Worte Vertrauen und Selbst-Vertrauen in mir zu‐ sammengefunden haben … » Oliver Schubert, ohne dessen Unterstützung es dieses Buch wahrschein‐ lich nicht gäbe … » André Otto schließlich, dem ewigen Gegenüber meines Denkens, Schreibens und Lebens … 16397 DANKSAGUNG 319 <?page no="323"?> D. Verzeichnisse <?page no="325"?> Literaturverzeichnis Werke Maurice Blanchots „Joseph et ses frères, par Thomas Mann“, L’Insurgé 14 (1937), 5. Thomas l’Obscur - Roman, Paris: Gallimard 2005 / 1941. Aminadab, Paris: Gallimard 1942. Faux pas, Paris: Gallimard 1971 / 1943. „Le règne animal de l’esprit“, Critique 18 (1947), 387-405. Le Très-Haut, Paris: Gallimard 1948. La part du feu, Paris: Gallimard 1949. Thomas l’Obscur, Paris: Gallimard 1950. L’espace littéraire, Paris: Gallimard 1955. Le livre à venir, Paris: Gallimard 1959. L’attente l’oubli, Paris: Gallimard 1962. L’entretien infini, Paris: Gallimard 1969. La folie du jour, Paris: Gallimard 2002 / 1973. Le pas au-delà, Paris: Gallimard 1973. „Notre Compagne clandestine“, in: François Laruelle ed.: Textes pour Emmanuel Lévinas, Paris: Jean-Michel Place 1980. L’Écriture du désastre, Paris: Gallimard 1981. Thomas der Dunkle, transt. Jürg Laederach, Frankfurt a. 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D. 1 Literaturverzeichnis 338 <?page no="341"?> Siglenverzeichnis Werke Maurice Blanchots: Thomas l’Obscur - Roman (2005 / 1941) TO1 La littérature et le droit à la mort (1949) LDM Thomas l’Obscur (1950) TO2 Les deux versions de l’imaginaire (1955 / 1951) DVI L’espace littéraire (1955) EL L’attente l’oubli (1962) AO L’Athenaeum (1969 / 1964) AT La Voix narrative (le ‚il‘, le neutre) (1969 / 1964) VN L’entretien infini (1969) EI La folie du jour (2002 / 1973) FJ L’écriture du désastre (1981) ED Thomas der Dunkle (1987) TD L’instant de ma mort (2002 / 1994) IM <?page no="342"?> Abbildungsverzeichnis Jan Saenredam / Cornelius von Haarlem: Antrum Platonicum (1604) (Abb. 1) 70 Michelangelo Merisi da Caravaggio: „Der ungläubige Thomas“ (1601 / 1602) (Abb. 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Europäische Gottesanbeterin in Abwehrstellung (Abb. 3) . . . . . . . . . . . . . . . 117 Weibliche Gottesanbeterin verspeist Männchen während der Begattung (Abb. 4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Weibliche Gottesanbeterin mit geköpftem Mantis nach der Begattung (Abb. 5) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Francis Bacon: Studie nach Velázquez’ Portrait des Papstes Innozenz X. aus dem Jahr 1953 (Abb. 6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Sandro Botticelli: Zeichnung zu Dante Alighieris Höllenvorstellung in der Divina Commedia (Silberstift, Tinte, Tempera auf Pergament), entstanden zwischen 1480 und 1490 (Abb. 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 <?page no="343"?> Nachtdenken heißt die Welt zerdenken. Es ist ein Nachdenken über die Nacht, vor allem aber ein Denken von einer unbegreiflichen Nacht aus, die zutiefst vom Tode geprägt ist. Die vorliegende Studie ist eine Lektüre zweier Texte Maurice Blanchots, die beide unter dem Titel „Thomas l’Obscur“ veröffentlicht wurden und zu den hermetischsten Werken der neueren französischen Literaturgeschichte zählen. Sie verbindet Philologie und Philosophie, indem sie mit der Denkfigur der anderen Nacht Blanchots Versuch, den Tod zu schreiben, in einem textnahen und philosophisch verortenden Kommentar nachzeichnet. ISBN 978-3-8233-8045-0 Bengert Nachtdenken Anna Marcos Nickol Nachtdenken Maurice Blanchots „Thomas l’Obscur“ Martina Bengert