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Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes

0911
2017
978-3-8233-9047-3
Gunter Narr Verlag 
Johanna Zorn

In seinen letzten, nach der Krebsdiagnose im Jahr 2008 entstandenen Inszenierungen rückte der Theaterregisseur Christoph Schlingensief das persönliche Aufbegehren gegen den eigenen Tod in das Zentrum seines Schaffens. Die Publikation widmet sich dieser totalen künstlerischen Ich-Geste und stellt Schlingensiefs theatrale Selbstinszenierung dabei einerseits in den Horizont autobiographischer Selbstkonstruktion und beleuchtet andererseits die Relevanz der philosophischen Formel des Sterbenlernens für seine letzten Bühnenarbeiten.

<?page no="0"?> In seinen letzten, nach der Krebsdiagnose im Jahr 2008 entstandenen Inszenierungen rückte der Theaterregisseur Christoph Schlingensief das persönliche Aufbegehren gegen den eigenen Tod in das Zentrum seines Schaffens. Die Publikation widmet sich dieser totalen künstlerischen Ich-Geste und stellt Schlingensiefs theatrale Selbstinszenierung dabei einerseits in den Horizont autobiographischer Selbstkonstruktion und beleuchtet andererseits die Relevanz der philosophischen Formel des Sterbenlernens für seine letzten Bühnenarbeiten. Forum Modernes Theater Schriftenreihe | Band 49 ISBN 978-3-8233-8047-4 Zorn Sterben lernen Johanna Zorn Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes <?page no="1"?> Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes <?page no="2"?> Forum Modernes Theater Schriftenreihe l Band 49 begründet von Günter Ahrends (Bochum) herausgegeben von Christopher Balme (München) <?page no="3"?> Johanna Zorn Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Satz: pagina GmbH, Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0935-0012 ISBN 978-3-8233-8047-4 <?page no="5"?> Die vorliegende Publikation wurde im Jahr 2015 als Dissertation am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München ange‐ nommen. Mein besonderer Dank gilt daher Prof. Dr. Christopher Balme, der mein Promotionsprojekt betreute und in wertvollen Gesprächen begleitete. Ebenso danke ich dem Promotionsprogramm ProArt, das mir einen regen und impulsreichen Aus‐ tausch mit den beteiligten HochschullehrerInnen und DoktorandInnen ermöglichte. Der Universität Bayern e.V. sowie der FAZIT - STIFTUNG danke ich für die Unter‐ stützung meines Projekts durch Forschungsstipendien, Johannes Reichle für die großzügige Finanzierung der vorliegenden Publikation. Mein herzlicher Dank gilt schließlich all jenen mir nahestehenden Personen, die den Prozess der Promotion über die Jahre hinweg begleiteten und die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit wesentlich mitgestalteten. <?page no="7"?> 9 1 28 1.1 29 1.2 40 1.3 43 1.4 47 2 56 2.1 56 2.1.1 56 2.1.2 62 2.1.3 65 2.1.4 68 2.2 73 2.3 80 2.4 87 2.4.1 87 2.4.2 96 2.5 103 3 117 3.1 117 3.2 124 3.2.1 124 3.2.2 133 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zu Christoph Schlingensiefs „Krebs-Trilogie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Fluxus-Oratorium ‚Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Der Zwischenstand der Dinge‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ReadyMadeOper ‚Mea Culpa‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Individuelle Mythologie als Paradoxie im Ich . . . . . . . . . . . . . . Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autobiographische Wahrhaftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die hermeneutische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Augustinus’‚Confessiones‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jean-Jacques Rousseaus ‚Confessions‘ . . . . . . . . . . . . . . Johann Wolfgang von Goethes ‚Dichtung und Wahrheit‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs zum Denken des Subjekts - Von der Selbsterkenntnis zur Selbstverkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autofiktionalität - Literarische Ich-Komposition aus Fragmenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paradigmen der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philosophisch-ästhetische Gedächtnismetaphern im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Automediale Erinnerungskonfigurationen . . . . . . . . . . Schlingensiefs Autobiotheatralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Eine Kirche der Angst‘ - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „Protokoll einer Selbstbefragung“ (1. Teil) . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Sequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweite Sequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="8"?> 3.3 140 3.4 150 3.4.1 150 3.4.2 155 3.5 167 4 173 4.1 173 4.2 179 4.3 184 4.3.1 184 4.3.2 191 4.3.3 196 4.4 200 4.5 211 5 217 5.1 217 5.2 219 5.3 225 5.3.1 225 5.3.2 235 5.3.3 239 6 244 251 27 3 Die Verwandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Messe (2. Teil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das künstlerische Schmerzens-Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . Die autobiotheatrale Übermalung des liturgischen Ablaufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sich nach außen stemmen - Das narzisstische Begehren des Ichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Mea Culpa‘ - Künstlervita und Sündenbiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die autofiktionale Fabel von ‚Mea Culpa‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Drehbühne des ‚Parsifal‘ zum abgekühlten Animatographen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Bühne des Bayreuther ‚Parsifal‘ als Chiffre des nunc stans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Animatographen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das externalisierte Gedächtnis des abgekühlten Animatographen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Automythographie der Kundry . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Mea Culpa‘ vor der Folie der europäischen Bekenntnistradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sterben lernen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewandelte Vorzeichen in ‚Sterben lernen! ‘ . . . . . . . . . . . . . . . Nachdenken über den Tod - Die philosophische Formel des Sterbenlernens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kunst als Können des Nichtkönnens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theatrales Sterbeexperiment des Anderen . . . . . . . . . . Das interpassive Sterbenlernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ich, das Andere, das Man- ‚Sterben Lernen! ‘ vor der Folie der Thanatologie im 20. Jahrhundert . . . . . . . Ausblick: Schlingensiefs sozialkünstlerisches Vermächtnis - Auf der Suche nach dem universalen Bethaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der zitierten Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inhalt 8 <?page no="9"?> 1 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: „Dialektik der Aufklärung“. In: The‐ odor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. von Rolf Tiedemann. Darmstadt: Wis‐ senschaftliche Buchgesellschaft 1998, 63. 2 Zur Sirenen-Episode vgl. Homer: Ilias/ Odyssee. München: Winkler 1965, 600 ff. Einleitung Der antike Dichter Homer gestaltete im zwölften Gesang der von Horkheimer und Adorno als „Grundtext der europäischen Zivilisation“ 1 bezeichneten Odyssee einen Zentraltopos über das ambivalente Verhältnis von Verführung und Widerstand aus, der mit der Thematik der Einübung in den Tod eng ver‐ bunden ist. Der betörende Gesang der Sirenen offenbare, so erzählt es Homer, seinen Adressaten eine Wahrheit, die kein Mensch zu ertragen im Stande sei. So muss derjenige, der der bloßen Verheißung, durch den bis dahin unerhörten Gesang eines Geheimnisses habhaft zu werden, nicht widerstehen kann, un‐ weigerlich untergehen. Odysseus und seine Gefährten nun, die auf ihren Irr‐ fahrten auch die Heimat der Sirenen passieren, entkommen der vokalen Verlo‐ ckung der rätselvollen Mischwesen jedoch, ohne ihr recht eigentlich zu widerstehen. Während Odysseus die Besatzung des Schiffes, dem Rat der Se‐ herin Kirke folgend, vorsorglich in den Zustand der Anästhesie versetzt, indem er die Ohren der Männer mit Wachs stopft und somit vor der Verführung schützt, wagt es der Held des Epos, sich dem verhängnisvollen Gesang im Modus des Als-ob zu stellen. Von seinen Männern an einen Pfahl festgebunden, hört er dem Gesang zwar zu, vermag es aber nicht, sich aus eigener Kraft von seinen Fesseln zu lösen, so sehr er es auch versucht. 2 Diese beiden, von Homer reflektierten, unterschiedlichen Strategien des Ent‐ zugs basieren auf zwei verschiedenen Weisen, es mit der Verführung aufzu‐ nehmen. Die eine besteht in der Technik des psychophysiologischen Sich-Ver‐ schließens vor der Wahrheit: Indem Odysseus das Vordringen des erregenden Gesangs an die Ohren seiner Besatzung unterbindet, löscht er selbstredend nicht dessen Existenz aus, sondern verschließt lediglich das Wahrnehmungsorgan der Schiffsleute. Existentiell betrachtet, befindet sich die Besatzung nach wie vor im Bedrohungsgebiet der Sirenen. Lediglich phänomenal, durch die Versiegelung des Gehörsinns, wird sie von jeglicher äußeren Einwirkung abgeschirmt. Die den Männern von Odysseus aufgezwungene Haltung gegenüber der Verführung beruht auf der Entscheidung, sich dem Geheimnis des Gesangs von vornherein <?page no="10"?> 3 Horkheimer, Adorno: „Dialektik der Aufklärung“, 61. zu entziehen. Die Logik dieser Wahl besagt, wer sich auf sinnlicher Ebene nicht öffnet, kann der Verführung auch nicht erliegen. Odysseus hingegen begegnet der möglichen stimmlichen Blendung durch die Sirenen in der Haltung eines Wissen-Wollenden und Erfahrungssuchenden. Der Held möchte die Verheißung, die ihm die Entdeckung eines ihn selbst vernich‐ tenden Geheimnisses in Aussicht stellt, keinesfalls ignorieren, sondern, ganz im Gegenteil, er will zu diesem Arcanum vordringen. Allerdings ist Odysseus nicht dazu bereit, die Offenbarung mit seinem Tod zu bezahlen. Gemäß einer dem Mythos unauflösbar zugrunde liegenden Aporie ist das Eine (die sinnliche Er‐ fahrung der Wahrheit) nicht ohne das Andere (den Tod) zu haben. Odysseus, der sich über diese Bedingung hinwegsetzen will, greift zu einem Trick, um eben doch das Eine ohne das Andere zu gewinnen. Indem er den mythisch verbürgten Pakt, der Wissen und Tod konditional und unzertrennlich miteinander ver‐ bindet, hintergeht, überschreitet er symbolisch das die Fabel präformierende (Natur-)Gesetz und setzt die Logik des Epos außer Kraft. Aufgrund seiner Hybris - seiner die Natur bezwingenden instrumentellen Vernunft - wurde der Überwinder Odysseus in der Lektüre des Epos durch Horkheimer und Adorno schließlich zum „Urbild […] des bürgerlichen Individuums“ 3 , das sich durch List die Gesetze unterwirft. Horkheimers und Adornos Rede vom falschen Spiel des bürgerlichen Indivi‐ duums unterschlägt allerdings die existentielle Radikalität von Odysseus’ er‐ probtem Übertritt als einem von Naivität und Hochmut gleichermaßen gekenn‐ zeichneten Versuch, sich der Wahrheit des Todes auszusetzen, ohne die Konsequenzen dafür tragen zu müssen. Dabei fußt Odysseus’ Strategie bei ge‐ nauerem Betrachten auf zwei kontradiktorischen Einstellungen. Einerseits leugnet der Held letztlich jene Macht, die größer und stärker ist als er selbst, andererseits trotzt er diesem selbstauferlegten Denkverbot und ist gewillt, hinter die Grenzen des rational Erfassbaren zu schauen. So zeigt sich im Kern der Sirenen-Episode eine Parabel über den Wunsch des Menschen, in einer Vor‐ läufigkeit zur aletheia vorzudringen, um das Geheimnis des Lebens und des Todes momenthaft zu erblicken, die Sphäre des Unerfahrbaren allerdings so‐ gleich wieder zu verlassen. Odysseus gelingt dieses Vordringen, das außerhalb des mythisch-fiktionalen Rahmens grundsätzlich versagt bleiben muss, da jede Rückkehr versperrt wäre, allerdings nur um den Preis seiner Amnesie, die seine Erinnerung an das Gehörte zu seinem eigenen Schutz im Nachhinein löscht. Die letzte Wahrheit bleibt das hapax legomenon schlechthin, das „nur einmal gehörte Wort“. Einleitung 10 <?page no="11"?> 4 Walther K. Lang: Der Tod und das Bild. Todesevokationen in der zeitgenössischen Kunst 1975-1990. Berlin: Reimer 1995, 10. 5 Vgl. Friedrich Nietzsche: „Die fröhliche Wissenschaft“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kri‐ tische Studienausgabe, Bd. 3, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München u. a.: dtv 1988, 352. 6 Thomas Macho, Kristin Marek: „Die neue Sichtbarkeit des Todes“. In: Dies. (Hrsg.): Die neue Sichtbarkeit des Todes. München u. a.: Fink 2007, 9. 7 Franz Kafka: „Das Schweigen der Sirenen (1917)“. In: Ders.: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, hg. von Roger Hermes. Frankfurt am Main: Fischer 2004, 351. Trotz der physischen Unerfahrbarkeit des Todes richtet der Mensch freilich seit jeher seinen Blick in die Zukunft, setzt sich selbst dabei unweigerlich in ein Verhältnis zur eigenen Endlichkeit und füllt den unbeschreitbaren Raum des Jenseits im Denken prospektiv mit Vorstellungen aus. Aus der „ureigenste[n] Bildlosigkeit des Todes“ 4 evolvieren dabei je individuelle Metaphern, die eine symbolische Ordnung konstituieren. Sie halten der Unsagbar- und Darstel‐ lungslosigkeit des Todes als nackter Wahrheit, der man, mit Nietzsche, den Schleier nicht abziehen könne, sondern die man verhüllen müsse, 5 ein imagi‐ näres Konstrukt entgegen. Die Fülle an Versuchen, den Tod metaphorisch zu umspielen, die aus der abendländischen Kulturgeschichte eine Geschichte des prospektierten Todes gemacht hat, legt Zeugnis darüber ab, dass dessen „Un‐ vorstellbarkeit […] keine Resignation, sondern vielmehr einen gewaltigen Sturm von Bildern und Visionen ausgelöst“ 6 hat. So begünstigte die rationale wie em‐ pirische Ratlosigkeit angesichts des Todesgedankens die Genese einer mannig‐ faltigen thanatologischen Metaphorik. Die spezifische Rhetorik, die das Phä‐ nomen des Todes in die Sphäre der Darstellbarkeit hebt, war und ist im Laufe der Geschichte einer erheblichen Dynamik unterworfen. Franz Kafkas Deutung des im Sirenengesang verborgenen Geheimnisses lässt sich in diesem Sinne als erhellende Fußnote zur Entwicklungsgeschichte des abendländischen Todesbedenkens und der damit verbundenen Metaphorik lesen. In seinem 1917 entstandenen kurzen Prosatext Das Schweigen der Sirenen unterzieht er den Homerischen Mythos vom unwiderstehlichen Gesang der Si‐ renen einer grundlegenden Re-Lektüre. Ausgehend von der poetischen Kon‐ struktion Homers wagt Kafka das Gedankenexperiment, dass das Furchtbare der Sirenen nicht in deren Gesang, sondern ganz im Gegenteil, in deren nihi‐ listisch-verführerischem Schweigen liegen könnte. „Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen“ 7 , lässt Kafka seinen Erzähler sagen. In seiner Version weicht selbst Odysseus vor dem verheißungsvollen Gesang zurück, indem auch er seine Ohren mit Wachs ver‐ siegelt, aus Angst davor, die Sirenen schweigen zu hören. Den Gedanken, dass die Wahrheit der Sirenen nicht in ihrem alles offenbarenden Gesang, sondern Einleitung 11 <?page no="12"?> 8 Ebd., 352. 9 Ebd., 351. Zu Kafkas deutungsoffener Poetik vgl. Theodor W. Adorno: „Aufzeichnungen zu Kafka“. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10,1: Kulturkritik und Gesellschaft 1, hg. von Rolf Tiedemann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, 254-287. 10 Sigmund Freud: „Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915)“. In: Ders.: Studienausgabe, Bd. IX, hg. von Alexander Mitscherlich u. a. Frankfurt am Main: Fischer 1974, 49. 11 Thomas Macho: Todesmetaphern. Zur Logik der Grenzerfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, 187. in dem das eigentliche Nichts entbergenden Schweigen gründe, komponiert Kafka seinem Text in der Möglichkeitsform ein: „Vielleicht hat er [Odysseus], obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich ge‐ merkt, dass die Sirenen schwiegen“ 8 . In betont utopischem Gestus urteilt der Erzähler: „Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, dass sich jemand vor ihrem Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiss nicht.“ 9 In seiner Fortschreibung fügt Kafka der Sirenen-Episode somit eine entschei‐ dende zeichentheoretische Novität hinzu. Während Homer den Gesang der Si‐ renen als Verheißung chiffriert und die Überwältigung, die von ihrem Ge‐ heimnis ausgeht, in einem den Zuhörer überfordernden Zeichenüberschuss verortet, geht die Erschütterung in Kafkas Version, im Gegenteil, von der voll‐ kommenen Abwesenheit des Zeichens aus. Der beunruhigenden Ahnung vom Nichts, so lautet die weitreichende handlungstheoretische Konsequenz, kann der moderne Held nur mehr begegnen, indem er sich durch akustische Anäs‐ thesie als Unwissender maskiert und die möglicherweise tatsächlich erschre‐ ckende Erkenntnis über die fundamentale Abwesenheit eines Dahinterlie‐ genden erspart. Obwohl Kafkas Held nicht auf der Grundlage seiner Erfahrung wissen kann, was ihn erwartet, provoziert allein der Gedanke an das Nichts eine Schutzhandlung in ihm. Der Erzähler von Das Schweigen der Sirenen stimmt mit Sigmund Freud darin überein, dass der moderne Mensch die Tendenz habe, „den Tod beiseite zu schieben, ihn aus dem Leben zu eliminieren“ 10 . Wenngleich die poetischen Konstruktionen in Homers Hypotext und Kafkas Hypertext freilich keinen Zweifel daran lassen, dass der Mensch das hinter der Grenze liegende Geheimnis niemals erfahren wird, reflektieren die Autoren un‐ terdessen offensichtlich zwei einander diametral entgegengesetzte Jenseitsvor‐ stellungen. Beide Entwürfe setzen der Unvorstellbarkeit des Todes eine Phan‐ tasie entgegen und revoltieren gegen „die Unsagbarkeit dieses leeren Begriffs, dem keine Anschauung korrespondiert“ 11 , mit einer Strategie der substituie‐ renden Bilder, Worte und Symbole. Dem im diesseitigen Leben unverträglichen Stimmengewimmel aus der Odyssee steht eine die menschliche Vorstellungs‐ kraft überfordernde Leere in Kafkas Erzählung gegenüber. Solcherart vom Tod Einleitung 12 <?page no="13"?> 12 Emmanuel Lévinas: Gott, der Tod und die Zeit. Wien: Passagen 1996, 19. 13 „Werde ich nicht auch sterben? Bin ich nicht wie Enkidu? Die angst hat sich in mein herz eingeschlichen! Die furcht vor dem tod läßt mich durch die wildnis wandern, um Ut-napishti zu finden, Ubar-Tutus sohn, auf dem einmal eingeschlagnen weg geh ich so schnell es geht; nachts erst komme ich zu den pässen der berge und wenn ich löwen sehe, habe ich angst wie immer aber ich erhebe mein haupt, um zum mond zu beten, an Sin, der lampe der götter, richte ich meine bitte: Oh Sin, beschütze mich vor dieser gefahr! “ Raoul Schrott: Gilgamesh. Epos. Frankfurt am Main: Fischer 2004, 241. 14 Vgl. Thomas Leßmann: „Der Totentanz. Zur motivgeschichtlichen Genese und Aktua‐ lität eines didaktischen Mediums des Spätmittelalters“. In: Petra Missomelius (Hrsg.): ENDE - Mediale Inszenierungen von Tod und Sterben. Marburg: Schüren 2008, 15-27. 15 Vgl. Gerhard Hahn: „Der Ackermann aus Böhmen - ein Streitgespräch mit dem Tod“. In: Hans Helmut Jansen (Hrsg.): Der Tod in Dichtung, Philosophie und Kunst. Darmstadt: Steinkopff 1989, 196. als Frage „Ohne-Antwort“ 12 kündet schon das Gilgamesh-Epos als eine der äl‐ testen schriftlich fixierten Dichtungen. Durch den Tod seines Freundes Enkidu wird sich Gilgamesh seiner eigenen Sterblichkeit gewahr. Die Angst, die sich in sein Herz eingeschlichen hat, begleitet ihn fortan auf seiner Wanderung durch die Welt, die ihm weder das Rätsel des Lebens noch das des Todes entbergen kann. 13 Die aus der offenen Frage des Todes im Laufe der Geschichte evolvierende Disparatheit künstlerischer Topoi lässt sich an nur wenigen Beispielen verdeut‐ lichen: In den Totentänzen des Mittelalters (dances macabres) etwa reiht sich der Tod als musizierendes Skelett oder verwesender Leichnam unter die Lebenden und fordert sie zum letzten Tanz. 14 Im epischen Text Der Ackermann aus Böhmen (Entstehung um 1400) wiederum, mit dem Johannes von Tepl am Übergang von Mittelalter zu Neuzeit ein literarisches Streitgespräch des Ichs mit dem Tod in‐ szeniert, tritt der Sensenmann als „[g]rimmiger tilger aller leut, schedlicher durchechter aller werlt, freissamer mörder aller menschen“ 15 auf. Shakespeare weist die beruhigende Vorstellung vom Tod als Bruder des Schlafes im Hamlet als trügerisch aus und reflektiert damit die in der griechischen Mythologie fest‐ gehaltene Verwandtschaft zwischen Thanatos, dem Gott des Todes, und seinem Bruder Hypnos, dem Gott des Schlafes. Die insgesamt fünf Fassungen von Ar‐ nold Böcklins Die Toteninsel (1886) malen den Bezirk der Toten als schauerliche und isolierte Unorte aus. Rainer Maria Rilke fasst den Tod im Buch der Bilder (1902) schließlich in die Gestalt der schweigenden Engel. Die abendländische Ideengeschichte künstlerischer Todesreflexionen, deren vollständige Erfassung zu endlosen Aufzählungen führen würde, bewahrt nicht nur ein breites Spektrum an Metaphern und konventionalisierten Topoi auf, Einleitung 13 <?page no="14"?> 16 Bernhard H. F. Taureck: Philosophieren: Sterben lernen? Versuch einer ikonologischen Mo‐ dernisierung unserer Kommunikation über Tod und Sterben. Frankfurt am Main: Suhr‐ kamp 2004, 12. 17 Jan Assmann: Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten im Alten Ägypten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, 19. 18 Macho: Todesmetaphern, 23, 26, 47, 62, 76, etc. 19 Jacques Lacan: „Das Drängen des Buchstaben im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud“. In: Ders.: Schriften II, hg. von Norbert Haas. Olten: Walter 1975, 32. 20 Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, 12. sondern übermittelt verschiedenste „intersubjektive Todesdeutungen“ 16 , die ob‐ jektivitätsorientierte mit subjektiven Reden über den Tod verschränken. Künst‐ lerische Metaphern des Todes als ästhetische Kommunikations- und Diskursi‐ vierungsangebote sollen freilich nicht die sprichwörtlichen letzten Fragen des Menschen beantworten. Vielmehr fällt ihnen die Aufgabe zu, den Gedanken an den Tod aus lähmender Sprachlosigkeit zu befreien und ihm im Sinne Jan Ass‐ manns „handlungsermöglichende Funktion“ 17 zu erteilen. An den Anfang seiner umfassenden Studie zur Todesmetaphorik stellt Thomas Macho folgerichtig die Frage: „Worüber sprechen wir, wenn wir vom Tod sprechen? “ 18 Mit der permanenten Wiederholung dieser Frage im Rahmen seiner Ausführungen verweist der Autor eindringlich auf den endlosen Auf‐ schub im Zentrum des Todesdiskurses. Da der Tod im mimetischen Sinne nicht abbildfähig ist, erfüllt seine metaphorische Reflexion stattdessen die Funktion, empirische Leerstellen innerhalb der begrifflichen Vorstellungswelt zu substi‐ tuieren. Metaphern gehen mit den Gegenständen, die sie auszudrücken oder zu ersetzen versuchen, so lange ein Verhältnis des Als-ob ein, bis irgendwann der Gegenstand selbst hinter der Metapher verschwindet. In der Rede vom Tod übernimmt die Metapher als „Wort für ein anderes“ 19 in vielleicht radikalster Form die Aufgabe, einen Signifikanten zu übermalen, für den es keine Referenz gibt. Diese grundlegende Referenzlosigkeit macht die Todesmetapher zum Ge‐ genbild von Blumenbergs absoluter Metapher. Gemäß dem vom deutschen Phi‐ losophen geprägten Neologismus leistet die absolute Metapher nämlich eine „Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz andern Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann“ 20 . Dagegen übergibt die Metapher des Absoluten (des Todes) der An‐ schauung einen Gegenstand, der der Wahrnehmung nicht zugänglich sein kann. Die Geschichte der Metaphorologie des referenzlosen Absoluten lehrt deren Betrachter, dass die Bilder des Sterbens und des Todes keinesfalls kontingent sind, sondern wesensmäßig auf den Wandel in der Einstellung des Menschen zum Sterben zurückführen. Der Tod, der aufgrund seiner unausweichlichen Einleitung 14 <?page no="15"?> 21 Ebd., 9. 22 Johann Peter Eckermann: „Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens“. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Bd. 19, hg. von Karl Richter. Gütersloh: Bertelsmann Club 1986, 648. 23 Armin Nassehi, Georg Weber: Tod, Modernität und Gesellschaft. Entwurf einer Theorie der Todesverdrängung, Opladen: Westdeutscher Verlag 1989, 11. 24 Ebd. 25 Vgl. ebd. Faktizität zunächst als transhistorische Größe erscheinen mag, offenbart in seinen unterschiedlichen künstlerisch-metaphorischen Codierungen eine gera‐ dezu prozessual-dynamische Struktur, die begrifflich nur schwer unter Kon‐ trolle zu bringen ist. Die durch zahlreiche historische Dispositive sich wan‐ delnden Todesreflexionen in ritualisierten Formeln, volkstümlich-bildhaften Konventionen und künstlerisch-philosophischen Artefakten haben eine kom‐ plexe thanatologische Metaphorik herausgebildet, die gerade nicht die Essenz eines letalen Phänomens, sondern vielmehr die diskursive und kulturstiftende Funktion des Erdachten freilegt. Da der Mensch naturgemäß nicht entdecken kann, was die Welt im Innersten zusammenhält, bleibt ihm, in den Worten Blu‐ menbergs, nur „die Welt seiner Bilder und Gebilde, seiner Konjekturen und Pro‐ jektionen, seiner ‚Phantasie‘“ 21 . In den metaphorischen Entwürfen des Todes baut sich der Mensch nicht die Welt als Bild, sondern er errichtet vielmehr - im Geist des poststrukturalistischen Konstruktionsdispositivs von Sprache - aus den Bildern seine Welt. Die Annäherung an die Frage, worüber wir sprechen, wenn wir vom Tod sprechen, führt demnach notwendigerweise über die Frage, wie wir vom Tod sprechen, auf jene nach der metaphorischen Konstruktion unserer Wirklichkeit. Die Art und Weise, wie das Sterben und der Tod entweder zum Fluchtpunkt des Lebens gemacht oder ausgeklammert werden, lässt uns erkennen, wie wir über den Tod denken, was er für uns bedeutet. Die „Unmög‐ lichkeit, die plötzlich zur Wirklichkeit wird“ 22 , wie Goethe sagt, wird erst im Transfer der „strukturelle[n] Endlichkeit des individuellen menschlichen Le‐ bens“ 23 in eine „symbolische Sinnstruktur“ 24 erfassbar. Ob der Tod als Feind in Form des grausigen Skeletts oder als verheißungsvolle Gestalt in Form des Jünglings Thanatos imaginiert wird, ob der Vorgang des Sterbens als willkürli‐ ches Herausreißen vor der Zeit oder als Auswanderung und Heimreise codiert ist und somit entweder die Vorstellung eines gewaltsamen oder eines sanften Sterbens evoziert, 25 ob das Jenseits einen verheißungsvollen Ort gesteigerten und gerechten Lebens darstellt, in den man hinübergeht, ob man in ihm nie endende Qualen zu erwarten hat, ob er schließlich überhaupt nicht als Ort vor‐ stellbar ist -, diese Fragen sind Produkte von bildlichen Symbolisierungsproz‐ essen, die trostspendende oder furchterregende Funktionen erfüllen. Einleitung 15 <?page no="16"?> 26 Christoph Schlingensief: „Wir sind zwar nicht gut, aber wir sind da“. In: Julia Lochte, Wilfried Schulz (Hrsg.): Schlingensief! Notruf für Deutschland. Über die Mission, das Theater und die Welt des Christoph Schlingensief. Hamburg: Rotbuch 1998, 14. 27 Die Tagespost. Zit. in: Christoph Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009, 241. 28 Vgl. Thomas Macho, Kristin Marek (Hrsg): Die neue Sichtbarkeit des Todes. München u. a.: Fink 2007. Als der Regisseur Christoph Schlingensief im Jahr 2008 an Krebs erkrankte und mit der Vorstellung des eigenen Todes unmittelbar konfrontiert wurde, löste auch er seine persönliche Frage in mythisch-metaphorische Vorstellungskom‐ plexe auf. Der ernüchternden Aussicht auf das Ausbleiben einer Antwort ent‐ gegnete er mit einem überbordenden Akt der Selbstvergewisserung, den er auf der Theaterbühne, in Blogs, in Fernsehauftritten und Interviews sowie mit der Veröffentlichung seines Krankentagebuchs durchexerzierte. Die Sehnsucht nach der hin- und hergleitenden Überschreitung der Grenze, die dem Homeri‐ schen Odysseus durch List gelingt, agierte Schlingensief im geschützten Rahmen des Theaters aus, als wollte er sicherstellen, dass der Tod solange ein Mythos bleibt, bis er eingetreten ist, und zugleich darauf hindeuten, dass es der Kunst vorbehalten bleibt, den Kampf mit dem Leben und dem Tod aufzunehmen. Bereits im Jahr 1998 brachte der Theaterregisseur mit einem ins chiastische Sprachbild eingelassenen Programm sein grundlegendes theatrales Darstel‐ lungsparadigma eines die Dualismen verschränkenden künstlerischen Metabo‐ lismus zur Sprache: „Ich will das Leben überzeugen, dass es zum großen Teil inszeniert ist, und das Theater, dass es ohne das Leben überhaupt nicht aus‐ kommt.“ 26 In seinen letzten, nach seiner Krebsdiagnose im Jahr 2008 entstan‐ denen Inszenierungen erhielt dieses Konzept von Totalkunst existentielle Trag‐ weite. Mit insgesamt fünf Inszenierungen, in denen er sein ‚Ich bin‘ von der Grenze des bevorstehenden Todes her fasste, trieb der Theatermacher seinen kompromisslos offenen Kunstbegriff ins Extrem, widersetzte sich dem christ‐ lich-religiösen Diktum, dass das Sterben als letzte Handlung des Lebenden „still, lautlos, wortlos und handlungslos“ 27 vor sich zu gehen habe und umspielte den Topos des Todes stattdessen lautstark mit den Mitteln der Kunst. Im Zeichen einer „neuen Sichtbarkeit des Todes“ 28 redete der todkranke Künstler in Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir (2008), Der Zwischen‐ stand der Dinge (2008), Mea Culpa (2009), Sterben lernen! - Herr Andersen stirbt in sechzig Minuten (2009) und Remdoogo - Via Intolleranza II (2010) auf der The‐ aterbühne gegen sein Sterben an und bekräftigte auf diese Weise seinen Glauben an die Untrennbarkeit von Kunst und eigenem Leben. Gemäß der Devise, dass nicht gestorben werden könne, solange noch gesprochen würde, nutzte er über‐ Einleitung 16 <?page no="17"?> 29 Vgl. Christoph Schlingensief: „GESCHOCKTE PATIENTEN - WEGE ZUR AUTO‐ NOMIE“. http: / / www.geschockte-patienten.org (Zugriff am 6. April 2017). 30 Ebd. dies sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Kommunikationskanäle für eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod vor den Augen der Öffentlichkeit. Schlingensief vertraute Trauer und Wut über seine Erkrankung während eines längeren Krankenhausaufenthalts einem Diktiergerät an und machte seine Angst vor dem drohenden letzten Übertritt durch die Veröffentlichung dieses Selbstgesprächs als Tagebuch einem gesellschaftlichen Diskurs zugänglich. War schon dieses über Monate hinweg sich erstreckende Soliloquium, das den Ar‐ beiten Eine Kirche der Angst, Der Zwischenstand der Dinge, Mea Culpa und Sterben lernen! in unterschiedlichen Gewichtungen als Text zugrunde liegt, auf die abendländische Tradition des Bekenntnisses bezogen, das der Idee nach ein analytisch beobachtendes vom affektiv betroffenen Ich abspaltet, so dienten seine zahlreichen Fernsehauftritte und Interviews sowie letztlich auch seine Homepage Geschockte Patienten - Wege zur Autonomie  29 , die ein interaktives Therapieangebot für an Krebs erkrankte Menschen bereitstellen sollte, einer extravertierten Befestigung seines durch Krankheit bedrohten Selbst. Die auf der Homepage angeführten Rubriken „Medizin“ und „Religion“ strich er kur‐ zerhand durch, um als Dr. Schlingensief stattdessen Einblicke in „seine neuesten und dringlichsten Gedanken zu Krebs, Angst und zum Patientendasein“ 30 zu geben. Die vorliegende Arbeit widmet sich dieser totalen Ich-Geste, die Schlingensief mit dem inklusiven, Leben und virtuellen Tod subsumierenden Kunstver‐ ständnis in seinen letzten Inszenierungen auf die Spitze getrieben hat. Der Zwi‐ schenstand der Dinge, der eine theatrale Skizze zu Eine Kirche der Angst darstellt, sowie Remdoogo - Via Intolleranza II , in dem die extensive Ich-Perspektivierung zur künstlerischen Reflexion eines Vermächtnisses führt, vergegenständlicht in den Plänen zum Bau eines afrikanischen „Operndorfes“, stehen dabei nicht im Zentrum des analytischen Interesses. Stattdessen fokussieren die Ausführungen zu Schlingensiefs Inszenierungspraxis im Angesicht des eigenen Todes die Ar‐ beiten Eine Kirche der Angst, Mea Culpa und Sterben lernen! (vgl. Abb. 1) und folgen dabei einem spezifischen Erkenntnisinteresse. Die Erörterung basiert auf der grundlegenden Annahme, dass Schlingensief in den genannten Inszenie‐ rungen sein gegenwärtiges und sein vergangenes Ich von der Grenze des Todes her entwirft. Dieser thanatographische (griech. thanatos, Tod; graphein, schreiben, ritzen) Grundgestus mobilisiert seinerseits eine Fülle an Selbstäuße‐ rungspraktiken, die auf den Fluchtpunkt der Autobiographie zulaufen und nach Einleitung 17 <?page no="18"?> Maßgabe der zur Verfügung stehenden theatralen Mittel in das intermediale Darstellungsdispositiv der Autobiotheatralität verwandelt werden. Abb. 1: Chronologische Auflistung der thanatographischen Inszenierungen Schlingen‐ siefs Die Arbeiten Eine Kirche der Angst und Mea Culpa stellen das Resultat einer umfassenden rückschauenden Lebensbetrachtung im Medium Theater dar. Im Fluxus-Oratorium Eine Kirche der Angst setzte Schlingensief auf der Grundlage seines Tagebuchs zu einer Bilanzierung seines Lebens an. Dabei hob er die Trennlinie zwischen Kunst und Leben im Geist des titelgebenden Fluxus pro‐ grammatisch auf. In der darauffolgenden ReadyMadeOper Mea Culpa begab er sich dann im Zuge einer krankheitsgenetischen Spurensuche hauptsächlich in seine künstlerische Vergangenheit und versuchte seinem Selbst durch die the‐ atrale Funktionalisierung des katholischen Schuldbekenntnisses die verloren gegangene Autonomie zurückzuerstatten. Die Produktion Sterben lernen! markiert schließlich einen Wendepunkt, mit dem das Verhältnis zwischen der Thematisierung des Ichs und der Reflexion des Sterbens eine gegenüber den vorangegangenen Inszenierungen andere Gewichtung erhält. Der Referenz‐ rahmen der Autobiographie bleibt darin zwar virulent, wird allerdings nicht, wie in den vorigen Inszenierungen an der leidenden Figur Schlingensiefs durch‐ gespielt, sondern am sprichwörtlich Anderen exemplifiziert. Da Schlingensief der baldige Tod aufgrund seines zwischenzeitlich verbesserten gesundheitlichen Zustandes während der Produktionsphase nicht mehr unausweichlich gegen‐ überzustehen schien, tritt die pseudo-autobiographische Geste der Befestigung des Subjekts darin zugunsten einer analytisch distanzierteren Metareflexion des Lebens als Einübung in den Tod in den Hintergrund. Konstitutiv für diese In‐ Einleitung 18 <?page no="19"?> 31 Vgl. dazu Oskar Walzel: Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe. Berlin: Reuther & Reichard 1917. szenierung ist neben der theatralen Camouflierung von Identitätskonzepten vor allem das Philosophem des melete thanatou, des Todesbedenkens. In ihrer theatralen Ästhetik zeigen die Arbeiten sowohl Verbindungsals auch Trennungslinien zu Schlingensiefs früherem Schaffen auf, als deren zentraler Angelpunkt die ästhetische Inkorporation von Paradoxa und Widersprüchlich‐ keiten gelten mag. Zu den immer wiederkehrenden Bausteinen des Labels Schlingensief-Theater gehörten seit jeher die doppelte Besetzung der Positionen des Autorregisseurs und des Performers, die Gleichzeitigkeit kontradiktorischer Sinnschichten, die Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Ernst und Spiel, Fakt und Fiktion; der weitgehende Verzicht auf einen konsistenten dramatischen Rahmen, die ästhetische Verdichtung von Trash und philosophischem An‐ spruch, die Einlassung radikaler politischer Kunst in popularmediale Darstel‐ lungskonventionen; schließlich der Wechsel zwischen ironischem und ernst‐ haftem Tonfall, der Ausbruch aus dem Theaterraum auf die Straße sowie die kontinuierliche Arbeit mit Laiendarstellern. Hatte schon die Suche des Filmre‐ gisseurs Schlingensief nach neuen Darstellungsformen zum ästhetisch span‐ nungsgeladenen Aufeinandertreffen des europäischen Autorenfilms mit den amerikanischen Exploitation- und Splattergenres geführt, so wurde der ästhe‐ tisch forcierte Widerstreit unterschiedlicher Bildordnungen für seine Theater‐ arbeiten geradezu konstitutiv. Die Einflechtung von intermedialen Bezügen aus Film und Fernsehen sowie die Kombination von Alltagsjargon mit politischen und philosophischen Diskurseinheiten machten die Medienkollision in seinem hypermedialen Theater zum elementaren Darstellungsprinzip. Die aus der the‐ atralen Aneignung der filmischen Montagetechnik erwachsenen szenischen Collagen zeigen deutlich, dass sich sein Verständnis einer transposition d’art nicht auf die Synthese einer wechselseitigen Erhellung der Künste, 31 sondern vielmehr auf eine Montage des Bruchs bezog, die maßgeblich dafür verantwort‐ lich war, dass Schlingensiefs Theater zu einem eingehend wie kontrovers dis‐ kutierten Gegenstand der deutschsprachigen Theaterkritik avancierte. Demgegenüber zeichnete sich schon mit der ersten thanatographischen In‐ szenierung Eine Kirche der Angst ein verändertes ästhetisches Profil ab. We‐ sentlich blieb darin die Schichtung von heterogenen medialen Materialien als kunstphilosophische Sinneinheiten. Das politisch agitatorische Moment jedoch, der Ausbruch aus dem Raum des Theaters und die Rolle des Regisseurs als Stör‐ faktor seiner eigenen Inszenierung sind weitestgehend hinter das emphatische Ich-Bekenntnis des faktualen wie fiktionalen Sujets „Schlingensief “ getreten. Einleitung 19 <?page no="20"?> 32 Vgl. dazu Jan Bialostocki: „Die ‚Rahmenthemen‘ und die archetypischen Bilder“. In: Ders.: Stil und Ikonographie: Studien zur Kunstwissenschaft. Dresden: Verlag der Kunst 1966, 111-125. 33 Arnulf Rainer zit. nach: „Arnulf Rainer Museum - Ausstellungen - Visages“. http: / / www.arnulf-rainer-museum.at/ de/ ausstellungen/ archiv/ visages/ (Zugriff am 15. April 2017). Mit der für die Inszenierungen grundlegenden wechselseitigen Bedingtheit von Ich-Darstellung und Todesbedenken rekurrierte der Regisseur auf einen traditionsreichen kulturgeschichtlichen Topos, der durch zahlreiche Wand‐ lungen hindurch bis in die zeitgenössische Kunstproduktion hinein wirksam geblieben ist. So bildet das inszenierte vis-à-vis mit dem Tod eines der großen „Rahmenthemen“ 32 des Selbstbildnisses, dem seit der Renaissance das gestal‐ tende Spiel mit der Identität und mithin der Maskierung des Ichs zu Eigen ist. Von Albrecht Dürers Selbstbildnis mit der Binde (1492) über Arnold Böcklins Selbstbildnis mit fiedelndem Tod (1872) bis hin zu Arnulf Rainers Face Farces (1969-1971) etwa, die der Künstler selbst als „Reproduktionen des mir noch nicht bekannten Ichs“ 33 bezeichnete, zeigt sich ein enger Konnex zwischen Schmerzensdarstellung und Todesreflexion des künstlerischen Individuums ei‐ nerseits und dessen Selbstmodellierung andererseits. Die im Selbstporträt momenthaft eingefrorene Auseinandersetzung des Ichs mit Schmerz und Tod schlägt im Umfeld der Aktionskunst und Performance Art in den 1960er und 1970er in das masochistische Exerzitium am lebendigen Körper um. Neben den schmerzevokativen Performances, in denen Künstler wie Marina Abramović, Vito Acconci, Chris Burden oder Günter Brus ihre Körper zum form- und bearbeitbaren Material für selbstverletztende Gesten nutzten, existieren seither eine Reihe von Arbeiten, mit denen die Subjekte ihren eigenen Tod einer öffentlichen Verhandlung zugänglich machten. So stellte etwa Bob Flanagan seine erblich bedingte Erkrankung an Mukoviszidose und somit seine unmittelbare Nähe zum Tod ins Zentrum seines künstlerischen Schaffens. Das an Aids erkrankte Mitglied der Wooster Group Ron Vawter schlüpfte in seinem Solo Roy Cohn/ Jack Smith (1993) in die Doppelrolle des titelgebenden US -Poli‐ tikers Cohn einerseits und des Camp-Künstlers Smith andererseits, die beide an Aids starben, und thematisierte so die persönliche Bedrohung durch den Tod. Der an Leberkrebs leidende ungarische Künstler Péter Halász wiederum ersann ein Szenario, um seiner eigenen Trauerfeier noch zu Lebzeiten beizuwohnen, und ließ sich dafür kurz vor seinem Tod im Jahr 2006 in der Kunsthalle Budapest in einem Glassarg aufbahren. Der Münchner Aktionskünstler Günter Saree ver‐ kaufte signierte Röntgenbilder seines Tumors an eine Kunstsammlung und do‐ kumentierte sein Hadern mit dem bevorstehenden Ende auf Tonbandaufzeich‐ Einleitung 20 <?page no="21"?> 34 Vgl. Sandra Umathum: „Die Kunst des Abschiednehmens. Überlegungen zu Christoph Schlingensiefs Inszenierung von eigenem Tod und Sterben“. In: Friedemann Kreuder u.a. (Hrsg.): Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion. Bielefeld: Transcript 2012, 253-262. 35 Carol Hanisch: „The Personal is Political. The Women’s Liberation Movement classic with a new explanatory introduction“. http: / / www.carolhanisch.org/ CHwritings/ PIP.html (Zugriff am 19. April 2017). 36 Vgl. dazu RoseLee Goldberg: Performance Art. From Futurism to the Present. New York: Abrams 1988; Marvin Carlson: „Performing the Self “. In: Modern Drama, 39 (1996), 599-608. 37 Vgl. dazu Annemarie Matzke: Testen, Spielen, Tricksen, Scheitern. Formen szenischer Selbstinszenierung im zeitgenössischen Theater. Hildesheim u. a.: Olms 2005. 38 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, 512. 39 Ebd., 505. nungen. Gregor Schneider wiederum treibt das fingierte Begräbnis Halászs noch einen provokativen Schritt weiter und möchte nicht lediglich sein Sterben als letztes Kunstwerk und öffentliches Ereignis in seinem „Sterberaum“ zeigen, sondern auch anderen dazu verhelfen, ihren Tod im künstlerischen Raum selbst zu gestalten. 34 Unabhängig davon machten Performance-Künstler vermehrt ihre eigene Le‐ bensgeschichte zum Gegenstand von Kunst. Im zeitlichen Horizont der 1970er brachten vor allem weibliche Künstlerinnen wie Laurie Anderson, Rachel Ro‐ senthal und Carolee Schneemann zugleich mit den performativen Selbstent‐ würfen ihre Vergangenheit auf die Bühne und thematisierten auf diese Weise das feministische Credo „The Personal Is Political“ 35 . Den sogenannten „autobi‐ ographical performances“ 36 ist ein forciertes Spiel von Zeigen und Verbergen zu Eigen, das instabile Identitätskonzepte hervorbringt. Die zentralisierende In‐ stanz des erzählend agierenden Ichs zerstäubt sich zusehends in eine Mehrzahl an heterogenen personae. Die Montage des szenischen Materials schließlich löst die lineare Narration von Lebensetappen in multiperspektivische Geflecht‐ strukturen auf. Mit der Dezentrierung des Subjekts und der Abspaltung in ver‐ schiedene Ich-Fragmente wird dabei die Rollenhaftigkeit menschlichen Lebens ebenso ausgestellt wie die Unverfügbarkeit des eigenen Selbst. 37 Aufgrund ihres Changierens zwischen Selbstentblößung und Selbstkonstruktion verweisen die performativ hervorgebrachten Lebensgeschichten ihrerseits wiederum auf eine im Ausdrucksfeld der literarischen Autobiographie über Jahrhunderte hinweg etablierte Begrifflichkeit. Der Gestus von Inszenierung, den Wolfang Iser „als Institution menschlicher Selbstauslegung“ 38 begreift, da er „das Paradox ermög‐ licht, das Sich-nicht-haben-Können als solches zu haben“ 39 , haftet dabei selbst‐ Einleitung 21 <?page no="22"?> 40 Erika Fischer-Lichte: „Inszenierung von Selbst? Zur autobiographischen Performance“. In: Dies. u. a. (Hrsg.): Inszenierung von Authentizität, Bd. 1: Theatralität. Tübingen u. a.: Francke 2007, 69. 41 Ebd. verständlich nicht erst den theatral-performativen Aneignungen der rückschau‐ enden Lebensbetrachtung an. Der Blick in die Geschichte der Autobiographie lehrt vielmehr, dass sich die literarische Gattung seit ihren Anfängen aus dem Zwiespalt zwischen transpa‐ renter Selbstäußerung und medialer Inszenierung und mithin aus Simulacren von Selbstpräsenz speist. Die Diagnose Erika Fischer-Lichtes, wonach „die Prob‐ lematisierung der Vorstellung eines stabilen, mit sich selbst identischen Selbst“ 40 in der autobiographischen Performance erstmals zu einer „Demontage der Kategorie des Selbst“ 41 geführt habe, unterschlägt den Umstand, dass sich implizit schon lange zuvor in den autobiographischen Schriften Metarefle‐ xionen über die Figuration des vergangenen Ichs jenseits von faktualer Lebens‐ darstellung finden lassen, bis sie durch Serge Doubrovsky in den 1970ern explizit als poetologisches Programm der Autofiktion ausformuliert wurden. In Konse‐ quenz der im Umfeld des Nouveau Roman propagierten Abkehr von realistischen Romanstrukturen im Geiste Balzacs machte Alain Robbe-Grillet mit seiner Nou‐ velle Autobiographie gar ein literarisches Darstellungsdispositiv stark, das die Phantasmen totalisierender und zentralisierender Ich-Geschichten abstreift, um das Ich stattdessen in zerstückelte, mehrschichtige Gestalten zu multiplizieren und dem Leser die Unauffindbarkeit des Subjekts als multifokales Verwirrspiel vor Augen zu führen. Nicht nur im Umfeld der Nouvelle Autobiographie geriert sich literarische Selbstkonstruktion seither vornehmlich als mise en abyme, die das Ich sprichwörtlich in den Abgrund schickt, um es von dort aus in gewan‐ delten Gestalten sprechen zu lassen. Trotz der augenscheinlichen medial bedingten und mithin darstellungsäs‐ thetischen Differenz zwischen der literarischen Selbstbeschreibung und den thanatographischen Inszenierungen Schlingensiefs bieten Geschichte und The‐ orie der Autobiographie den intermedial erhellenden, erforderlichen theoreti‐ schen Referenzrahmen für Schlingensiefs Darstellungsstrategie, die mit dem theaterwissenschaftlich ubiquitär gebrauchten Begriff der Selbstinszenierung nur unzureichend zu erfassen ist. Mit dem Verhältnis zwischen dem Er‐ scheinen-Wollen und Sich-nicht-zeigen-Können des Ichs fokussieren die in Rede stehenden Inszenierungen nicht nur die elementare Spannung der performa‐ Einleitung 22 <?page no="23"?> 42 Vgl. dazu Matthias Warstat: „Im Versteck. Die verborgene Seite der Subjektkonstituie‐ rung“. In: Friedemann Kreuder u. a. (Hrsg.): Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion. Bielefeld: Transcript 2012, 175-182. 43 Nina Maria Glauser: „Bewegtes Sprachleben. Zum poetologischen Stellenwert des Au‐ tofiktionskonzepts im Werk Paul Nizons“. In: Matthias Schaffrick, Marcus Willand (Hrsg.): Theorien und Praktiken der Autorschaft. Berlin u. a.: De Gruyter 2014, 444. 44 Vgl. dazu John L. Austin: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart: Reclam 1979. tiven Subjektkonstitution im Theater, 42 sondern vor allem auch die zentrale Problematik der „retroaktive[n] Lebensbeschreibung“ 43 in der abendländischen Autobiographie seit ihren Anfängen. So bewahren bereits die monumentalen Ich-Bekenntnisse von Augustinus, Rousseau und Goethe die Einsicht über die Undarstellbarkeit des eigenen Lebens aufgrund der Unzugänglichkeit der ei‐ genen Vergangenheit auf und inszenieren ein mehr oder weniger gebrochenes Selbst. Dass es sich bei diesen Fluchtpunkten des europäischen Kanons der Au‐ tobiographie um Stilisierungen von Identität auf der Grundlage von Maskie‐ rungen des Selbst handelt, blieb weiten Teilen der geisteswissenschaftlichen Forschung allerdings bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Gänze verborgen. Die Autobiographieforschung kreiste lange Zeit um das Symptom der Wahrhaftigkeit, bis die Summe der Gegenargumente der Möglichkeit einer transparenten Ich-Darstellung in der rückschauenden Lebensbetrachtung schließlich vollends den Boden entziehen sollte. Dem im populären Medienbe‐ reich nach wie vor gebräuchlichen Paradigma der Selbsttransparenz, denen das in Talkshows und Life-Doku-Soaps erprobte Seelenstriptease unterliegt, steht mittlerweile das autobiographietheoretische Postulat gegenüber, dass der Kern des Selbst im Akt der medialen Transformation nicht zu erfassen sei. Die lite‐ raturwissenschaftliche Erkenntnis, wonach es sich bei der rückblickenden Le‐ benserzählung nicht um ein historisch verbürgtes Dokument, sondern um ein Erfindung und Konstruktion verschränkendes Kunstwerk handelt, schärfte ein Bewusstsein dafür, dass die implizite und zuweilen gar explizite Reflexion über die nicht darstellbare Unmittelbarkeit dem selbstschreibenden Vorgang als „per‐ formativem Akt“ 44 seit jeher eingeschrieben war. Der gegenwärtige Forschungshorizont autobiographischer Theoriebildung vermittelt dementsprechend zwischen den Fragen, auf welche Weise und unter welchen Voraussetzungen es überhaupt möglich sei, das Selbst im ästhetischen Gebilde durchscheinen zu lassen, inwieweit also die Autobiographie beredtes Zeugnis über das Leben ihres Schöpfers abzugeben imstande ist, und derjenigen nach der jedem selbstschreibenden Akt zugrunde liegenden literarischen Fikti‐ onalität, die dem Wunsch des Verfassers nach der Ablegung eines authentischen und unmittelbaren Zeugnisses grundsätzlich zuwiderläuft. In Analogie zur geis‐ Einleitung 23 <?page no="24"?> 45 Friedrich Nietzsche: „Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 3, hg. von Giorgio Colli und Maz‐ zino Montinari. München u. a.: dtv 1988, 202 f. teswissenschaftlichen Paradigmenverschiebung von hermeneutischen Theo‐ rien hin zu rezeptionsästhetischen, diskursanalytischen und dekonstruktivisti‐ schen Dispositiven lässt sich dabei eine sukzessive Abkehr vom essentialistischen Ideal der medial-mimetischen Abbildung von Wirklichkeit ablesen. Das Medium der Schrift wird nicht mehr als Vermittler, sondern als Bildner des Lebens gesehen. Im Zuge dieser wissenschaftlichen Revision der autobiographischen Diskurse waren schlussendlich auch die auf den Imperativ einer wahrhaftigen Selbstof‐ fenbarung rekurrierenden autobiographischen Topoi der Beichte, des Bekennt‐ nisses und der Verteidigungsrede unter dem Lemma der sprachlichen Vorgän‐ gigkeit als Konstruktionen entlarvt, wie das Leben selbst, das es im Schreiben zu vermitteln gilt, als Täuschung ausgewiesen. Denn auch die Vorstellung vom Gedächtnis als einem auffüll- und abrufbaren Speicher wurde von der Denkfigur der Erinnerung als erfundenem Leben abgelöst. Mit dem Wandel der Blickrich‐ tung von der Autobiographie als literarisch ausgestaltetem historischen Zeugnis zu einem mit den Mitteln der Sprache konstruierten Erinnerungswerk rückten die poetologischen und rhetorischen Bedingungen der rückschauenden Lebens‐ betrachtung schließlich in dem Maße in den Vordergrund, dass heute vielmehr von geschriebenen als von beschriebenen die Rede sein kann. Während Schlingensief in seiner posthum erschienenen literarischen Auto‐ biographie Ich weiß, ich war’s (2012) am Phantasma eines in der rückschauenden Betrachtung beschreibbaren Lebens und damit zugleich am Konzept von Iden‐ tität festhält, tönt durch seine autobiotheatralen Inszenierungen hindurch flä‐ chendeckend der die poststrukturalistische Gewissheit über die Fiktionalität des selbstbeschreibenden Ichs präformierende Aphorismus Nietzsches zur Selbst‐ reflexion hindurch: „Versuchen wir den Spiegel an sich zu betrachten, so ent‐ decken wir endlich Nichts, als die Dinge auf ihm. Wollen wir die Dinge fassen, so kommen wir zuletzt auf Nichts, als auf den Spiegel.“ 45 Der Theaterregisseur Schlingensief errichtet ein solches fiktionales Spiegelkabinett des Ichs: Er zitiert eine Fülle an topologischen loci communes der literarisch-narrativen Auto-Kon‐ stitution, die das Verborgene des eigenen Lebens maskieren. In der Übersetzung dieser Topoi in theatrales Rollenspiel und technisch-mediale Erinnerungsarbeit stellt er den Vorgang der Selbstkonstruktion ostentativ aus. Im Unterschied zu den Protagonisten der autobiographischen Performances erzählt er die Ge‐ schichte seines Lebens dabei größtenteils allerdings nicht als leiblich Anwe‐ sender, sondern lässt seine Ich-Fragmente in erster Linie durch Stimmen anderer Einleitung 24 <?page no="25"?> Darsteller und somit als autofiktional gebrochene Spiegel- und Projektionsge‐ stalten zu Wort kommen. Die strukturelle Inkorporation der Fremdheit übersetzt das durch Krankheit zugespitzte Moment der Alterität im Ich letztlich in das szenische Spiel. Aus dem Verhältnis zwischen der medial-theatralen Konstruk‐ tion eines multiplen Ichs, das sich in der augenfälligen inszenatorischen Über‐ lagerung verschiedener Identitätsschichten zeigt, und der nichtsdestoweniger offenkundig egozentrierten Besetzung der eigenen Subjektposition ergibt sich für die autothematischen Strukturen in Eine Kirche der Angst, Mea Culpa und Sterben lernen! folgende Diagnose: Die Bühnenwerke changieren vexierbildartig zwischen Be- und Entgrenzung des Ichs. Einem inklusiven Konzept, ver‐ dichtet im Anspruch auf entblößende Lebensdarstellung, steht das Prinzip der Montage gegenüber, das das Ich parzelliert und in eine Vielzahl von Bildern projiziert, die nur mehr indexikalische Verweisfunktion übernehmen. Für diese Spannungskonstellation zwischen Ich-Konzentration und -Diffundierung bleibt in modifizierter Weise der Konnex zwischen Todesbedenken und Selbsterfor‐ schung aus dem Selbstporträt grundlegend. Durch seine Abspaltung in einen beobachtenden und viele beobachtete Teile funktionalisiert Schlingensief aber vor allem genuin autobiographische Narrative für den therapeutischen Zweck der Bewältigung von Todesangst, des Aufbegehrens gegen den Tod. Der im Rahmen der vorliegenden Studie erstmals verwendete Terminus „Autobiothea‐ tralität“ weist darauf hin, dass die szenische Darstellung des eigenen Lebens in Schlingensiefs Arbeiten autobiographische Redefiguren auf die Theaterbühne transferiert, um die Spannung zwischen Fakt und Fiktion, eigenen und fremden Lebens, mit nichtliterarischen Mitteln auszuagieren. Intrinsisch im Analysegegenstand angelegt sind somit die beiden theoreti‐ schen Rahmen der vorliegenden Arbeit. Es handelt sich zum einen um die Ge‐ schichte der Autobiographie und Autobiographieforschung bis hin zu der im 20. Jahrhundert aufkommenden Spielart der Automedialität und zum anderen um die abendländische Kulturgeschichte des Todes, die eine Vielzahl an sym‐ bolischen Konstrukten herausgebildet hat, die dem Lebenden eine Einstellung zum Sterben vermitteln sollen. Beide Rahmungen sind seit den Anfängen der Autobiographie, die als Manifest des Lebens vom Tod her konzipiert ist, un‐ trennbar miteinander verwoben. Aufgrund einer Zuordnung der drei Inszenie‐ rungen zu den theoretischen Referenzrahmen weist die Arbeit eine Zweiteilung auf, die dem Umschlag in der Perspektive Schlingensiefs zwischen Mea Culpa und Sterben lernen! Rechnung trägt: Der erste theoretische Kontext wird vor allen Dingen den Inszenierungen Eine Kirche der Angst und Mea Culpa unterlegt, die in ihrem lebensbilanzierenden Gestus sowie aufgrund der theatral-medialen Aneignung der Topoi von Beichte, Bekenntnis, Bekehrung und Verteidigungs‐ Einleitung 25 <?page no="26"?> 46 Vgl. dazu Evelyn Annuß: „Christoph Schlingensiefs autobiografische Inszenierungen“. In: Pia Janke, Teresa Kovacs (Hrsg.): Der Gesamtkünstler Christoph Schlingensief. Wien: Praesens 2011, 291-304; Monika Meister: „Zirkulationen des Schmerzes. Schlingensiefs Fluxus-Oratorium ‚Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir‘ und die Katharsis“. In: Ebd., 96-111; Sarah Ralfs: „‚WIR SIND EINS‘ - TOTAL TOTAL. Selbstinszenie‐ rungen in Christoph Schlingensiefs späten Arbeiten“. In: Ebd., 307-326; Franziska Schößler: „Intermedialität und ‚das Fremde in mir‘: Christoph Schlingensiefs Ready‐ MadeOper Mea Culpa“. In: Ebd., 117-134. rede an zahlreiche Ausdrucksgesten der Autobiographie alludieren. Das Au‐ genmerk der Analyse liegt dabei auf der Transformation von autobiographi‐ schem Schreiben in die theatral-figurale und technisch-mediale autobiotheatrale Praxis. Bei der Betrachtung von Sterben lernen! , in dem die Inszenierung eigenen Lebens als Anreden-gegen-den-Tod aufgrund des nunmehr gesundheitlich sta‐ bilen Zustands des Regisseurs tendenziell verblasst und sich stattdessen die the‐ atral-philosophische Einübung in den Tod des sprichwörtlich „Anderen“ zeigt, tritt der Rahmen der Autobiographie hinter jenen der abendländischen Ge‐ schichte des Todes mitsamt der bestimmenden philosophischen Formel des Sterbenlernens zurück. Der Interpretationshorizont der Autobiographie mit ihrer eigenen Verwick‐ lung von auktorialer Geste und den sich im medialen Aufschub verselbststän‐ digenden Redefiguren soll nicht zuletzt eine Abkehr von jener metaphorisie‐ renden Umspielung der theatralen Ich-Darstellung Schlingensiefs ermöglichen, die (auch) in der wissenschaftlichen Rede über Schlingensief grundlegend ist. Zwar existieren erhellende Aufsätze zum Korpus der Inszenierungen, die Schlin‐ gensiefs letzte Arbeiten unter anderem auch auf den Komplex der Autobiogra‐ phie perspektivieren. 46 Eine grundlegende Aufarbeitung der Rollenmuster, die Schlingensief als Sujet seiner Inszenierungen entwirft und dabei eine Fülle an Bezugspunkten zu den historisch sich wandelnden autobiographischen Narra‐ tiven kreiert, wurde bislang allerdings nicht vorgenommen. Die nachfolgenden Ausführungen unternehmen den Versuch, diese Lücke zu schließen und über den Dualismus von leiblicher Präsenz und semiotischer Repräsentation hinaus‐ zugehen, um die Heterogenität der Ich-Darstellungsmodi Schlingensiefs in den Blick zu nehmen. Damit ist nicht zuletzt das Anliegen verbunden, jene Dispo‐ sitive, die der Regisseur selbst in seinen zahlreichen Interviews vorgegeben hat, kritisch zu reflektieren. Der beobachtbaren Tendenz, wonach ein beträchtlicher Teil der Schriften zu Schlingensiefs Werken bislang innerhalb des vom Regisseur vorgegebenen Analyse- und Deutungsrahmens verbleibt und seine program‐ matischen Intentionen und ästhetischen Innovationen größtenteils sensu proprio auslegt, versucht der vorliegende Beitrag entgegenzusteuern, indem er die The‐ Einleitung 26 <?page no="27"?> 47 Otto Muehl, Günter Brus. Zit. in: Stefan Krammer: „Schluss mit der Wirklichkeit. Kunst und/ als Revolution in der Wiener Avantgarde“. In: Studia theodisca, XVI (2009), 4. aterarbeiten einer topologischen Lektüre autobiographischer Narrative unter‐ zieht. Da Schlingensief sein Leben in seinen autobiotheatralen Arbeiten als Künst‐ lervita inszeniert, führen die Ausführungen stets auch auf jene ästhetischen und kunstphilosophischen Fluchtpunkte zurück, die seiner Physiognomie als Film- und Theaterregisseur in seinen Augen Kontur verliehen hatten und die er darum in seinen vom bevorstehenden Tod her realisierten Arbeiten zitiert. Neben den avantgardistischen Strömungen des Surrealismus und Dadaismus, den neo‐ avantgardistischen Positionen des Fluxus, des Happenings, der Aktionskunst und insbesondere Joseph Beuys’, prägte ihn vor allen Dingen seine Auseinan‐ dersetzung mit Wagners Parsifal als Regisseur anlässlich der Bayreuther Fest‐ spiele 2004 bis 2007. In der Ästhetik des Gesamtkunstwerks liegt letztlich das Verbindende der künstlerischen Referenzen von Wagner bis hin zum Neoavant‐ gardismus, dessen Vertreter die Kunst in lebensweltlich-relevanter Umformung der romantischen Kunstphilosophie als „direktes Geschehen […], nicht Wieder‐ gabe von Geschehen“ 47 begriffen. In dieser neoavantgardistischen Formel klingt der Gedanke an, dass die Kunst selbst die Bewegung des Lebens inkorporiere; sie zeigt die durchgreifende Stoßrichtung des eingangs vorgestellten Diktums Schlingensiefs, wonach das Theater ohne das Leben nicht auskomme. In Kon‐ sequenz dieses Parallelismus zwischen Leben und Kunst ergibt sich der eigen‐ tümliche Umstand, dass Schlingensiefs thanatographische Inszenierungen unter geeignetem Blickwinkel als Inversionsfigur erscheinen: Sie kippen von einer Kunst der Verarbeitung des möglicherweise bevorstehenden Todes in eine Kunst über die künstlerische Ideengeschichte seit Wagner, die sich aus Fluktuationen des Lebens generiert. In geradezu widersprüchlichem Verhältnis zu ihrer ur‐ sprünglichen Zweckbestimmung, das Leben und den Tod zu reflektieren, ver‐ bleiben die Inszenierungen unterdessen bisweilen also im innerästhetischen Rahmen und geben sich auf diese Weise erst recht als Modellfall Schlingensief‐ scher Ideenpraxis zu erkennen, in fortwährender Transformation von eigenem und fremdem künstlerischen Material Kunst über Kunst zu machen. Einleitung 27 <?page no="28"?> 1 Vgl. dazu Jean-Luc Nancy: Der Eindringling. Das fremde Herz. Berlin: Merve 2000. 2 Ebd., 17. 1 Zu Christoph Schlingensiefs „Krebs-Trilogie“ In den im Zentrum der Ausführungen stehenden letzten Theaterarbeiten Chris‐ toph Schlingensiefs, entstanden nach seiner Krebsdiagnose im Jahr 2008, spannt sich über die persönliche Auseinandersetzung des Regisseurs mit der eigenen Erkrankung und dem möglicherweise bevorstehenden Tod ein aufgrund seiner intertextuellen und -medialen Dichte bisweilen unentwirrbares Netz aus künst‐ lerischen, philosophischen und religiösen Motivzusammenhängen. Zwar ver‐ körperte der Regisseur bereits vor der tiefgreifenden Zäsur durch seine Krebs‐ diagnose den Typus eines totalen Künstlers, der die Oszillation zwischen Leben und Werk einmal ironisch distanziert, dann wieder ostentativ emphatisch zur Grundlage seiner Arbeiten machte, doch erst die Krankheit riss die ohnehin seit je instabile Grenze zwischen der Person und dem Künstler Schlingensief vol‐ lends ein. Die existentielle Bedrohung, die der „Eindringling Krebs“ 1 für ihn bedeutete, wirkte sich fortan in der Art einer conditio sine qua non nach dem Motto: „Ich bin, weil ich krank bin“ 2 auf seine künstlerische Tätigkeit aus, sodass die letzten Inszenierungen vor seinem Tod ganz im Dienst des Dialogs mit sich selbst standen. In den auf diese Weise generierten theatralen Selbstbefragungen agierte Schlingensief nicht wie in vielen seiner früheren Arbeiten als ein Mit-Spieler unter den Schauspielern, sondern ist, in Radikalisierung seiner Dop‐ pelfunktion als Autor-Regisseur und Protagonist, zum eigentlichen Sujet der Inszenierungen geworden. Die Besetzung des Zentrums seiner Theaterprojekte liegt diesen Arbeiten durch die Fokussierung auf seinen persönlichen Umgang mit der Krankheit intrinsisch zugrunde. Zu dem seit je in vielen seiner Bühnenarbeiten herrschenden Spiel mit den Kategorien von Authentizität und Wahrhaftigkeit sowie seinem Versprechen <?page no="29"?> 3 Vgl. dazu die Aussage Schlingensiefs im Zusammenhang mit seiner Aktion Notruf für Deutschland (1997), in der er die Transgression von Leben und Kunst explizit an den Mut zur Haftbarkeit bindet: „Probleme sind nicht nur dazu da, gelöst zu werden, und auch Hilfe fängt nicht mit der Lösung an. Man starrt das Problem an, das ist wie bei der Schlange und dem Kaninchen, und es wird dich letzten Endes fressen. Du kannst das Problem lösen, indem du selber zum Problem wirst, so kannst du dich selber beseitigen. Und damit ist das Problem auch weg. Man müsste allerdings bereit sein, sozusagen hundertprozentig haftbar, sich selber zu eliminieren. Nur wenn du soweit gehst, wärst du ein großzügig denkender Mensch, dass du fast alles zulassen kannst.“ Christoph Schlingensief: „Wir sind zwar nicht gut, aber wir sind da“, 22. 4 „Wenn auf der Bühne provoziert wird, dann sind Gesellschaften verletzt, es ist gegen Regeln verstoßen worden, und am Ende sind sich alle wunderbar einig, daß ein guter und sinnvoller Theaterabend herausgekommen ist. Diese Art von ‚Problembehandlung‘ betrachtet alles aus der Distanz, man sitzt kühl vor dem Problem.“ Ebd. 5 Vgl. Christine Dössel: „Der Himmel kann warten“. In: Süddeutsche Zeitung, 23. März 2009. der unbedingten „Haftbarkeit“ 3 für seine eminent politische, gesellschaftliche und künstlerische Perspektive, die er als strikten Gegensatz zum Verfahren einer künstlerischen Distanzierung qua Provokation auffasste, 4 trat nun eine der Re‐ alität seiner Krankheit geschuldete brutale Faktizität hinzu. Das Bestreben, das eigene Schicksal zum Ausgangspunkt seiner künstlerischen Reflexionen zu ma‐ chen und zugleich den Blick auf das Leben wie auf die Kunst durch die Brille der eigenen existentiellen Situation zu werfen, erfolgte in Konsequenz seiner Überzeugung von der unbedingten Rückbindung seiner künstlerischen Tätig‐ keit an den eigenen psychischen wie physischen Zustand und stellte das gesamte öffentliche Handeln des Künstlers im Zeitraum der Jahre 2008 bis 2010 in einen auf Selbstinszenierung hin angelegten, autobiotheatral kommentierten Zusam‐ menhang. Die Rezensionen zur sogenannten „Krebs-Trilogie“ 5 Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir, Der Zwischenstand der Dinge und Mea Culpa etablieren in dieser Hinsicht eine Reihe an Motiven, die für eine analytische Durchleuchtung der Sterbe-Inszenierungen Schlingensiefs vor der Folie der li‐ terarisch-autobiographischen Praxis fruchtbar zu machen sind. 1.1 Das Fluxus-Oratorium Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir Schlingensief war sich bereits am 20. Februar 2008 darüber bewusst, dass er die Auflehnung gegen sein mögliches Ende in Kunst überführen müsse und hielt unter diesem Datum in seinem Krebstagebuch So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein den Wunsch fest, Fragmente seines Ichs in eine Inszenie‐ 1.1 Das Fluxus-Oratorium 29 <?page no="30"?> 6 Vgl. die Tagebuch-Notiz vom 8. Februar 2008: „Außerdem gibt es ja im Herbst als neue Möglichkeit die RuhrTriennale. Da kann ich machen, was ich will […]. Aber bis dahin werde ich Kraft sammeln müssen. Die bekomme ich nur, wenn ich selbst den Rhythmus bestimme, wenn ich Gedanken formuliere und in Bilder transformiere, wenn ich mich an meinem Freund Beuys weiter abarbeite, wenn ich mich mit meinen Lieblingen aus‐ spreche, wenn ich meine Altäre aufbaue, wenn ich den Leuten, die ich verehre, huldige. Das ist der Moment, der wichtig ist: Ich huldige anderen. Ich huldige nicht nur mir.“ Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! 162 f. 7 Roland Barthes: „Der Tod des Autors“. In: Fotis Jannidis u. a. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 2000, 190. 8 Ein Freund ist für Cicero „nur der, der gleichsam unser anderes Ich ist.“ Marcus Tullius Cicero: Laelius. Über die Freundschaft. Stuttgart: Reclam 1978, 35. rung zu montieren: seine Gedanken in szenische Bilder zu transformieren, sich an seinem Freund Beuys abzuarbeiten und mit seinen Lieblingen auszusprechen, seine Altäre aufzubauen und den Leuten, die er verehre, zu huldigen. 6 Schon im Juni 2008 inszenierte er als Recherchearbeit zu seinem Fluxus-Oratorium im Studio des Berliner Maxim Gorki Theaters einen zunächst lediglich seinem pri‐ vaten Umfeld zugänglichen Abend, der im November desselben Jahres unter dem Titel Der Zwischenstand der Dinge einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Seine erste öffentliche theatrale Auseinandersetzung mit dem Tod stellt allerdings die Inszenierung Eine Kirche der Angst im Rahmen der Ruhrtriennale dar. Im Fluxus-Oratorium als einem komplexen „Gewebe von Zitaten“ 7 bildeten neben Werken von Joseph Beuys und Richard Wagner, der Gattungsbezeich‐ nung entsprechend, auch jene von Fluxus-Künstlern die Grundierung seiner theatralen Collage. Einem Gedanken Ciceros entsprechend, wonach das Alter Ego als zweites Selbst die Position eines katalysatorischen Gegenübers ein‐ nimmt, dienten Schlingensief die künstlerischen Vorbilder als Reflexions- und Projektionsflächen seiner eigenen Gedanken. 8 Sowohl die Konfrontation mit als auch die Projektion auf verschiedene/ n Alter Egos ermöglichte es ihm, nicht nur in seinem eigenen Namen von sich zu erzählen, sondern seine Geschichte als diejenige Anderer zu imaginieren. Die seinen Theaterarbeiten von Anbeginn zugrunde liegende, in den letzten Inszenierungen jedoch um die Dimension seiner prekären Existenz zugespitzte ästhetische téchne des Zusammentragens und -setzens von heterogenem künstlerischen Material bezog er dabei letztlich, entgegen seinem in der Tagebuchnotiz erklärten Programm, nunmehr umfas‐ send auf die Thematisierung seines Ichs. Seiner existentiellen Vagheit hat er auf diese Weise ein ästhetisches Äquivalent abgerungen, das sein Ich in immer an‐ dere und neue Kontexte einwob. Der Zuschauer, der sich im Jahr 2008 in die Gebläsehalle des Landschaftsparks Duisburg Nord aufmachte, begab sich der Idee nach sowohl in einen theatral 1 Zu Christoph Schlingensiefs „Krebs-Trilogie“ 30 <?page no="31"?> 9 Kultur Ruhr GmbH (Hrsg.): Christoph Schlingensief: Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir. Programmheft zur Uraufführung am 21. September 2008 im Rahmen der Ruhrtriennale. 2008, o. S. 10 Vgl. Richard Wagner: „Religion und Kunst“. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dich‐ tungen, Bd. 10. Leipzig: Breitkopf und Härtel o. J., 211-253. 11 Hans Ulrich Obrist: „‚Meine Arbeit hat immer mit dem Blickwechsel zu tun‘. Christoph Schlingensief im Gespräch mit Hans Ulrich Obrist“. In: Alice Koegel, Kaspar König (Hrsg.): Christoph Schlingensief: Church of Fear. Köln: Walther König 2005, 12. 12 „CHURCH OF FEAR - DIE KIRCHE DER ANGST (COF)“. http: / / www.schlingensief.com/ projekt.php? id=t040 (Zugriff am 29. März 2017). behaupteten Kindheitsraum des Regisseurs, nämlich in den Nachbau der Herz-Jesu-Kirche Oberhausen, wo Schlingensief als Messdiener tätig war, als auch in eine seiner künstlerisch prägenden Etappen zurück, an den Drehort seines Films Terror 2000. Unter dem von Beuys entlehnten Motto der Inszenie‐ rung, „Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt. Wer sie verbirgt, wird nicht ge‐ heilt“ 9 , hielt Schlingensief darin eine Kunst-Messe ab. Im Zentrum stand das theatral umgeformte liturgische Moment der von ihm selbst als Priester vollzo‐ genen Wandlung, die den Transformationsprozess vom leidenden zum auto‐ nomen Subjekt markieren sollte. Mit seiner Kirche der Angst griff der Regisseur expressis verbis auf das Programm seiner im Jahr 2003 sich firmierenden Church of Fear zurück. Die im Rahmen der Biennale in Venedig gegründete und durch zahlreiche Aktionen bespielte Anti-Kirche verfolgte das selbsterklärte Ziel, die Mechanismen zur Instrumentalisierung von Ängsten durch übergeordnete Sinngebungssysteme wie etwa Kirchen und Religionsgemeinschaften, aber auch durch Politik und Wirtschaft offenzulegen und den Institutionen des Glaubens durch eine Gemeinschaft von Nicht-Gläubigen entgegenzutreten. Die Parallele zu Wagners Vision einer die Religion inkorporierenden Kunst zeigt sich dabei deutlich. Wie Wagners, in der Regenerationsschrift Religion und Kunst (1880) erdachte ästhetische Kontrafaktur einer Kirche, 10 die mit dem Bayreuther Fest‐ spielhaus in eine Kirche der Kunst mündete, so stand Schlingensiefs Church of Fear entgegen ihrer autonomen Programmatik nichtsdestoweniger im Zeichen einer fundamentalen religiösen Heteronomie. Schlingensiefs Kirche löste ihr alternatives Versprechen, die Anhänger nicht durch Dogmen zu binden, sondern Menschen zu versammeln, „denen das Glauben misslungen ist“ 11 , nämlich nicht ein, sondern gab den Glaubenden gleichwohl einen dogmatischen Imperativ als Handreichung mit: „Habt Angst! “ 12 lautete das Gebot der Church of Fear. In seiner Duisburger Kirche der Angst richtete Schlingensief diesen Appell nunmehr in erster Linie an sich selbst. Zwar blieb dabei die ästhetische Funkti‐ onalisierung der betont paradoxen Überschreibung von Kirche als Ort des Glau‐ bens mit dem Gefühlszustand der Angst auch unter den gewandelten Vorzeichen 1.1 Das Fluxus-Oratorium 31 <?page no="32"?> von Schlingensiefs persönlichem Zustand konstitutiv. Die Negation von Glau‐ bensdiktaten, die in der Church of Fear noch durch die ostentative Umkehrung von religiösen Tröstformeln wie „Fürchtet euch nicht“ in „fear is the answer“ zum Vorschein kam, trat im Fluxus-Oratorium allerdings in deutlich zurückge‐ nommener Form in Erscheinung. Der Regisseur nutzte sowohl die Wirkungs‐ sphäre des Sakralen als auch das dramaturgische Gerüst des Gottesdienstes, um auf deren Basis das religiöse Glaubenssystem und dessen Riten szenisch nach‐ zustellen und zu hinterfragen. Dementsprechend geriet das theatrale Setting regelrecht überbordend: Die Gebläsehalle bot sowohl Kirchengestühl für die Zuschauer wie einen Altarraum für szenische Aktionen auf. Ein Mittelgang wurde für Ein- und Auszüge des singenden Messpersonals verwendet. Kirchen‐ fenster, religiöse Insignien und der Geruch von Weihrauch intensivierten die sakrale Atmosphäre. Konterkariert wurde der kirchliche Pomp durch Bezug‐ nahmen auf eigene und fremde künstlerische Referenzen sowie ironische Kreu‐ zungen religiöser und persönlicher Devotionalien. Die Verwandlungen des Bühnenraums, der einmal Krankenzimmer, dann wieder Apsis und doch beides nie ausschließlich war, die Filme, Bilder und Texttafeln, die auf mehrere Leinwände projiziert wurden und das Geschehen auf der Bühne sowohl rahmend kommentierten als auch widersprüchlich über‐ malten, kreierten ein multimedial codiertes, dissonantes Panoptikum der Schlin‐ gensiefschen Existenz. Auf der Grundlage seiner Tagebuchaufzeichnungen, die von verschiedenen Darstellerinnen gelesen wurden, der Einspielung von per‐ sönlichen Tonbandaufzeichnungen, dokumentarischen Kinderfilmen sowie Filmen, mit denen er die für ihn künstlerisch prägenden Erlebnisse offenlegte, verknüpfte Schlingensief seinen von Zukunftsangst besetzten gegenwärtigen Zustand mit einer Fülle an vergangenen und fingierten Ichs. An den Kritiken zu Eine Kirche der Angst zeigt sich paradigmatisch die Schwierigkeit, die Schlingensiefschen Spezifika der ästhetisch wie topologisch „ausstreuenden“ (disseminativen) Inszenierungspraxis und der Evokation des Absoluten im Zeichen der Wiederaufnahme romantischer Kunstphilosophie in einen strukturiert urteilenden Kritiker-Jargon zu überführen. Der Regisseur selbst legte durch die Gattungsbezeichnung des „Fluxus-Oratoriums“ zumindest die Spur zu dem von der Kritik problematisierten Charakteristikum des Mon‐ tierens von heterogenem Erinnerungsmaterial in den religiösen Rahmen. Die durch den Titel programmatisch angekündigte und im Laufe der Inszenierung tatsächlich vollzogene Vermischung des dynamisch-spielerischen Moments (Fluxus) mit der dem Sakralen eigenen statuarischen Feierlichkeit (lat. orato‐ rium, Bethaus) führte den Großteil der Kritiker zu einer gewissen Unentschie‐ denheit darüber, ob sie einer überbordenden medial-theatralen Arbeit ansichtig 1 Zu Christoph Schlingensiefs „Krebs-Trilogie“ 32 <?page no="33"?> 13 Matthias Heine: „Schlingensiefs wilde, tolle Krebs-Messe“. In: Welt Online, 22. Sep‐ tember 2008. http: / / www.welt.de/ kultur/ theater/ article2476561/ Schlingensiefswilde-tolle-Krebs-Messe.html (Zugriff am 15. April 2017). 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Dirk Pilz: „Die Messe des unheiligen Christoph: Krankheit, Kunst - Schlingensief bei der Ruhrtriennale in Duisburg“. In: Neue Zürcher Zeitung, 23. September 2008. http: / / www.nzz.ch/ aktuell/ feuilleton/ uebersicht/ die-messe-des-unheiligen-christoph- 1.887725 (Zugriff am 15. April 2017). 17 Ebd. 18 Ebd. wurden, oder vielmehr an einer parareligiösen Kunst-Messe teilgenommen hatten, die die Rezipienten unweigerlich in den Status von Kirchgängern ver‐ setzte. Um diesem eigentümlichen Mischungsverhältnis rhetorisch beizu‐ kommen, übernahm das Gros der Rezensenten die im Titel implizierten Termi‐ nologien des Fluxus und des (Kunst-)Religiösen, die durch inszenatorische Verweise auf die zentralen spiritus rectores Beuys und Wagner ohnehin deutlich angezeigt waren, und gruppierte die Besprechungen um die semantischen Felder des Schrill-Bunt-Assoziativen und des Andächtig-Rituell-Feierlichen, ohne die Verkettung der beiden Ebenen begrifflich auflösen zu können. Die der Inszenierung zugrunde liegende Verflechtung von Widersprüchlichem wurde von der Kritik folglich ebenso als Leitmotiv aufgegriffen wie die privatreligiöse Aufladung von Kunst. In den Augen des Kritikers Matthias Heine glich das von Schlingensief in‐ szenierte Weltbild in Eine Kirche der Angst mehr denn je demjenigen einer „Kunstreligion“ 13 . Er sah eine „wilde, synkretistische Messe“ 14 , deren quantita‐ tive Dichte an Zeichen sich dem Zuschauer allein deshalb verschloss, weil die Aufführungen „keine Fußnoten“ 15 hatten. Die Fülle an künstlerischen Refe‐ renzen, die Schlingensief im Laufe seiner theatralen Messe aufgeboten hatte, wurde mit unterschiedlichen Implikationen von der Kritik ebenso einhellig auf‐ gegriffen wie die ästhetische Konstruktion von Widersprüchen. So war Dirk Pilz, der die Produktion für NZZ und Berliner Zeitung rezensierte, der Auffas‐ sung, dass „das Sakrale und das Profane, das Blasphemische und das Heilig-Ernste“ 16 in der Tat bis zur Ununterscheidbarkeit ineinander überge‐ gangen waren und sah den Abend regelrecht „aus dem Geist des Synkre‐ tismus“ 17 entstehen. Anders als Heine allerdings qualifizierte er gerade die vor‐ geführte „Kunst der Maßlosigkeit“ 18 zum Prozess der Sinnstiftung. Auch Dorothea Marcus versuchte auf nachtkritik.de die Vereinigung der Gegensätze durch ein kontradiktorisches sprachliches Etikett in den Griff zu bekommen und beobachtete eine „blasphemische Gottessuche, ein ketzerisches und ebenso tief‐ 1.1 Das Fluxus-Oratorium 33 <?page no="34"?> 19 Dorothea Marcus: „Gott, wo bist du hingegangen? “. In: nachtkritik.de, 21. September 2008. http: / / www.nachtkritik.de/ index.php? option=com_content&view= article&id=1757: eine-kirche-der-angst-vor-dem-fremden-in-mir-eine-schlingensiefmesse-in-duisburg&catid=259: ruhrtriennale (Zugriff am 15. April 2017). 20 Wolfgang Höbel: „Requiem für Sankt Schlingensief “. In: Spiegel Online, 22. September 2008. http: / / www.spiegel.de/ kultur/ gesellschaft/ theaterpremiere-requiem-fuer-sanktschlingensief-a-579704.html (Zugriff am 15. April 2017). 21 Rüdiger Schaper: „Der Prophet im eigenen Körper“. In: Der Tagesspiegel Online, 23. September 2008. http: / / www.tagesspiegel.de/ kultur/ theater-der-prophet-imeigenen-koerper/ 1331288.html (Zugriff am 15. April 2017). 22 Ebd. 23 Andreas Rossmann: „Heile, heile, Angst“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Sep‐ tember 2008. http: / / www.faz.net/ aktuell/ feuilleton/ christoph-schlingensief-heileheile-angst-1698170.html (Zugriff am 15. April 2017). 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Marcus: „Gott, wo bist du hingegangen? “. 27 Ebd. gläubiges Ritual“ 19 . Ähnlich argumentierten die Kritiker für Spiegel und Tages‐ spiegel: Wolfgang Höbel verfolgte eine „schrille, herzergreifende […] Toten‐ messe“ 20 , während Rüdiger Schaper gar ein „bizarres, aufwühlendes Hochamt“ 21 erlebte, das er rhetorisch in die für Schlingensiefs Arbeitsweise charakteristische paradoxe Trias von „Kitsch, Kampf, Kommunion“ 22 verkürzte. Andreas Ross‐ mann beurteilte das Vorhaben des Regisseurs, die „eigene Krankheit sze‐ nisch-musikalisch zu reflektieren“ 23 , gar als „egomanisch, exhibitionistisch, blasphemisch, kitschig und privat […], aber auch anrührend, beeindruckend, authentisch, experimentell und mutig“ 24 . Mit seiner Auffassung, dass „[d]er Abend […] das alles - einerseits und andererseits, zugleich und zusammen“ 25 war, verwies er auf die dem compositum-Prinzip Schlingensiefs grundlegende und in den Augen der Kritiker nur schwer zu durchdringende Verknüpfung von selbstinszenatorischem Gestus mit künstlerischer Genuinität und gesellschafts‐ kritischem Auftrag. Mit Rossmanns Formel der Egomanie war zugleich die künstlerische Selbst‐ thematisierung, in der die Aspekte der Wahrheit, Unmittelbarkeit und Authen‐ tizität widersprüchlich in Szene gesetzt wurden, und damit ein weiterer zent‐ raler Angelpunkt der feuilletonistisch-kritischen Auseinandersetzung mit der Inszenierung angesprochen. Die Rezensenten schlossen dabei das Motiv der Nacktheit mit den Themen des Schmerzes, des Leids und des Todes zusammen. Für Dorothea Marcus etwa eröffnete Eine Kirche der Angst eine „neue Dimension des Authentischen auf der Bühne“ 26 . Nie habe sich Schlingensief „[p]rivater und persönlicher, nackter und trauriger“ 27 gezeigt und die „Inszenierung seines Le‐ 1 Zu Christoph Schlingensiefs „Krebs-Trilogie“ 34 <?page no="35"?> 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Peter Michalzik: „Wille zur Andacht“. In: fr-online.de, 23. September 2008. http: / / www.fr-online.de/ home/ schlingensief-inszenierung-wille-zur-andacht, 1472778,2954894.html (Zugriff am 15. April 2017). 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Schaper: „Der Prophet im eigenen Körper“. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Höbel: „Requiem für Sankt Schlingensief “. 37 Ebd. bens“ 28 auf diese Weise zu einer „Inszenierung um sein Leben“ 29 ausgestaltet. Auch aus der Sicht Peter Michalziks war der Arbeit deutlich abzulesen, dass da „einer die Wahrheit über sich selbst wissen“ 30 wollte und dabei nur mehr einen kleinen Schritt von der göttlichen Selbststilisierung entfernt blieb. Aufgrund seiner exhibitionistischen Selbstdarstellung geriet der Theatermacher in seiner „Krebs-Messe und Selbstsuche“ 31 letztlich allerdings zum „Priester in eigener Sache“ 32 . Rüdiger Schaper deklarierte Schlingensief doppeldeutig zum „Per‐ former vorm Herrn“ 33 und betonte, dass sich der Regisseur „[m]it seiner ge‐ samten Existenz“ 34 in eine Produktion hineingeworfen habe, die zugleich „sein radikaler Lebensbeweis“ 35 war. Für Wolfgang Höbel hätte der Künstler, um aus der eigenen Krankheit, aus seinem Zorn, aus seiner Hilflosigkeit einen ergreifenden Theaterabend zu ma‐ chen, allerdings „kein Fluxus-Brimborium“ 36 gebraucht, da die Kraft des Abends einzig „aus der Sprache von Schlingensiefs Krankenakte, manchmal auch aus dem Kitsch“ 37 gekommen sei. Höbel bewertete die christlich-rituelle Rahmung als Akzidens, das dem primären Ansinnen Schlingensiefs nach faktualer Le‐ bensdarstellung auf der Basis autobiographischer Dokumente recht eigentlich zuwidergelaufen sei. Die Arbeit, so die Diagnose, habe durch die intermediale Verflechtung nicht an perspektivischer Vielfalt gewonnen, sondern sei ihrer möglichen Klarheit verlustig gegangen. Der Umstand, dass die medizinische Anamnese des Krankentagebuchs im Rahmen der Inszenierung einerseits über Tonbanddokumente zugänglich wurde, was einer nachdrücklichen wie irre‐ führenden Suggestion von Authentizitätseffekten gleichkam, und andererseits durch die Lektüre von Schauspielern verfremdend zur Darstellung gelangte, warf nahezu flächendeckend die Frage auf, ob und inwiefern es sich bei Eine Kirche der Angst um Kunst, Leben oder beides zugleich gehandelt habe. Damit war ebenso zum wiederholten Mal das Bestreben einer ersatzreligiösen Er‐ bauung wie die problematische künstlerische Funktionalisierung der „nackten 1.1 Das Fluxus-Oratorium 35 <?page no="36"?> 38 Vgl. Nietzsche: „Die fröhliche Wissenschaft“, 343; Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, 61. 39 Ulrich Seidler: „Die Show geht weiter“. In: Berliner Zeitung, 4. Mai 2009. 40 In seinem Drama Die Befristeten macht Canetti die Differenz zwischen den Menschen an ihrer unterschiedlichen Lebensdauer fest. Das Drama porträtiert eine Gesellschaft, in der jeder Einzelne seine Lebensdauer von Vornherein kennt. Die Zahl der Jahre wird jedem Menschen durch seinen Namen eingebrannt. Unter der ordnenden Befristung wird das Verhalten der Menschen zum eigenen Tod austariert. Die Figur Fünfzig zweifelt diese Ordnung an. Canetti legt ihr den Satz in den Mund: „Mich brennt mein Name. Mich brennt jeder Name. Mich brennt der Tod.“ Elias Canetti: Die Befristeten. München u. a.: Hanser 1964, 22. Wahrheit“ angesprochen -, ein Topos, den schon Nietzsche ganz grundsätzlich in Abrede stellt und Hans Blumenberg im metaphorischen Feld von Bekleidung und Verkleidung verortet, da sich Wahrheit notwendigerweise in die Phäno‐ mene des Durchschautseins, der Maskierung und der schamverletzenden Ent‐ hüllung differenziert. 38 Auf der Grundlage des ästhetisch problematischen Zu‐ sammenschießens von Authentizitätsanspruch und Selbststilisierung stellte sich Ulrich Seidler die Fragen, ob es dem Künstler Schlingensief überhaupt möglich war, beides gleichzeitig zu vertreten und, ob sich die Rezipienten seines Fluxus-Oratoriums auf der Seite seiner Kunst und seines Lebens zugleich auf‐ halten konnten, und gelangte dabei zu einem eindeutig negativen Urteil: Bei Schlingensief sind die Grenzübergänge zwischen Kunst und Leben vielleicht schlechter bewacht, erlauben ein reges Hin-und-her und ziehen inzwischen einen Großteil der interpretatorischen Aufmerksamkeit auf sich. Aber man kann sich den‐ noch nicht - auch nicht bei Schlingensief - gleichzeitig auf beiden Seiten auf‐ halten. 39 Peter Kümmel wiederum bezeichnete die theatrale Umspielung der eigenen Krankheit unter dem von Elias Canetti entlehnten Motto „Ihn brennt der Tod“ 40 als logische Konsequenz des künstlerischen Ansatzes Schlingensiefs, der das Lavieren zwischen Realität und Fiktionalität, zwischen wahrhaftiger Aussage und inszenierter Behauptung schon vor der Krebsdiagnose zum künstlerischen Credo stilisiert hatte: Er hat sich stets geweigert, zwischen Kunst und Leben zu unterscheiden, er war zu dieser Trennung gar nicht fähig, und so war klar, dass seine verheerende Krebser‐ 1 Zu Christoph Schlingensiefs „Krebs-Trilogie“ 36 <?page no="37"?> 41 Peter Kümmel: „Ihn brennt der Tod. Trauerfeier für einen Überlebenden, von ihm selbst inszeniert: Christoph Schlingensief eröffnet seine ‚Kirche der Angst‘ bei der Ruhrtri‐ ennale in Duisburg“. In: Die Zeit, 25. September 2014 [Schlingensief-Archiv 105: Rezen‐ sionen Kirche der Angst]. 42 Immanuel Kant: „Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pä‐ dagogik 2“. In: Ders.: Werkausgabe in 12 Bänden, Bd. 12, hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, 551. 43 Ebd. 44 Sigmund Freud: „Das Unbehagen in der Kultur (1930 [1929])“, Studienausgabe, Bd. IX, hg. von Alexander Mitscherlich u. a. Frankfurt am Main: Fischer 1974, 200. 45 Friedrich Nietzsche: „Zur Genealogie der Moral“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 5, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München u. a.: dtv 1988, 295. 46 Dirk Pilz: „Überlebenskunst. ‚Der Zwischenstand der Dinge‘: Christoph Schlingensiefs Krebs-Theater im Gorki-Studio“. In: Berliner Zeitung, 16. November 2008 [Schlingen‐ sief-Archiv (ohne Signatur): Zwischenstand der Dinge]. 47 Ebd. krankung, die im Januar öffentlich wurde und die ihn einen Lungenflügel kostete, Teil seines Werkes werden würde. 41 Durch die Rede vom Einbrennen verwies Kümmel über den Autor Canetti zu‐ gleich auf die philosophisch-ästhetische Topologie des Schmerzes, die der selbst‐ vergessenen Erfahrung von Lust die bewusstseinsfördernde Funktion des Schmerzes entgegenstellt. In diesem Sinne bezeichnet bereits Kant die Pein als „Stachel der Tätigkeit“ 42 , durch die „wir allererst unser Leben“ 43 fühlen. Sigmund Freud wiederum verortet den Schmerz, in dem das zunächst allumfassende Ich sich in das „enge und schärfer umgrenzte […] Ich-Gefühl“ 44 zusammenziehe, im konstitutiven Bereich der Subjektwerdung. Nietzsche stellt in der Genealogie der Moral (1887) gar einen Konnex zwischen Schmerz und Erinnerung her, indem er das gewaltsam aufgezwängte Mal als die ewig im Gedächtnis bleibende Spur definiert: „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss.“ 45 Von der in das Leben des Regisseurs eingebrannten Wunde des bevorste‐ henden Todes wurde man auch als Zuschauer des künstlerischen Lebensbe‐ weises tingiert. Der Journalist Dirk Pilz fand angesichts der Theatralisierung des Schmerzens-Ichs Schlingensief in diesem Sinne wieder zum „Kinderglauben“ 46 zurück, wonach „Kunst noch direkt ins Zuschauerleben eingreifen, es verändern und verwandeln“ 47 könne. Ebenso sah Peter Kümmel hinter der öffentlichen Zurschaustellung der persönlichen Wunde die Evokation einer Teilhabe der Gemeinschaft der Rezipienten. Mit dem Bild der liturgischen communio initiierte Schlingensief, der im Rahmen der Inszenierung das Brot brach und den Wein 1.1 Das Fluxus-Oratorium 37 <?page no="38"?> 48 Kümmel: „Ihn brennt der Tod“. 49 Rüdiger Schaper: „Was ist jetzt mit Gott? Schlingensief im Interview“. In: Der Tages‐ spiegel, 9. September 2008. 50 Johannes Seibel: „Das Sterben pflegen“. In: Die Tagespost, 11. September 2008. trank, demnach eine Ritualisierung des Ichs und sprach damit nicht nur die eigene, sondern die existentielle Angst aller an: Im Lauf des Abends begreift man seine Aktion immer weniger als den Akt eines wahnwitzigen Narzissten, der in unseren Blicken baden will. Man kommt dahin, Schlingensiefs Aktion auch als Akt der Großzügigkeit zu begreifen: Ein Mann verge‐ sellschaftet seine Angst, er stellt sie uns wie einen Überschuss an Wärme zur Verfü‐ gung. 48 Die vom Regisseur in einem Interview selbst als „Kampfsituation“ 49 bezeichnete kritische Reflexion über seinen Glauben rief schließlich auch eine katholische Tageszeitung auf den Plan. So kritisierte Johannes Seibel von Die Tagespost den Umstand, dass Schlingensief seine Krankheit nicht in stiller Kontemplation er‐ dulde: [I]m Prinzip tut Schlingensief genau das, was er angesichts der Wucht der Krankheit, an der er leidet, vorgibt, nicht länger tun zu wollen, nämlich ein simuliertes Leben zu leben. Er simuliert die Nichtsimulation seiner Krankheit, und das Denken an das Sterben wird schon wieder dramatisch, es wird inszeniert. Anstatt zu verstummen, sich zurückzuziehen, Gedanken zu fassen, was die angemessene Reaktion auf die an‐ geblich von Schlingensief gewonnene Einsicht wäre, wie hinfällig doch das Leben sei, übernimmt er sofort wieder die Rolle, die nämlich des Leidensbeauftragten. Und schon wieder wird das Sterben öffentlich als Tragödie verhandelt, als heroische Kampfsitu‐ ation, als Herausforderung für echte Berserker. 50 Dem von katholischer Dogmatik durchdrungenen Kommentar Seibels, der die anthropologische Konstante von Selbstinszenierung ebenso verschweigt wie das im Ritual sich ereignende Moment des Offenen, der Transgression, steht das Abwägen einer Vielzahl von Rezensenten gegenüber, ob Schlingensief sich selbst in Anbetracht der konkreten Möglichkeit des Todes unmäßig wichtig ge‐ nommen habe - wobei die Parallelisierung seines Leids mit der Passion Christi dem Eindruck der Hypertrophie Vorschub leistete - oder, ob gerade im scho‐ nungslosen Exhibitionismus nicht doch die unerhörte und brisante Qualität der Inszenierung lag. Diese Unentschlossenheit hatte ganz offensichtlich damit zu tun, dass das Ich selbst zum Träger einer dem Gesamtkunstwerksgedanken ein‐ geschriebenen Überwältigungsstrategie und mithin einer Idee des Absoluten 1 Zu Christoph Schlingensiefs „Krebs-Trilogie“ 38 <?page no="39"?> 51 Vgl. dazu Bazon Brock: „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“. In: Harald Szeemann (Hrsg.): Der Hang zum Gesamtkunstwerk. Europäische Utopien seit 1800 [Kunsthaus Zü‐ rich, 11. Februar bis 30. April 1983; Städtische Kunsthalle und Kunstverein für die Rhein‐ lande und Westfalen, Düsseldorf, 19. Mai bis 10. Juli 1983]. Aarau u. a.: Sauerländer 1983, 24. 52 Egbert Tholl: „Jedermanns Heiland. Christoph Schlingensiefs Auferstehungsmesse ‚Eine Kirche der Angst‘ in Duisburg“. In: Süddeutsche Zeitung, 23. September 2008 [Schlingensief-Archiv 105: Rezensionen Kirche der Angst]. 53 Ebd. 54 „Eine Messe kann man nur feiern. Oder meiden.“ Pilz: „Die Messe des unheiligen Chris‐ toph”. Vgl. auch die Formulierung Rossmanns: „[K]ritisieren lässt er sich nicht. Da bleibt nur, gute Besserung zu wünschen.“ Rossmann: „Heile, heile, Angst“: 55 Tholl: „Jedermanns Heiland“. 56 Rossmann: „Heile, heile, Angst“. 57 Julian Weber: „Die Zeit, die noch bleibt“. In: Die Tageszeitung, 24. September 2014 [Schlingensief-Archiv 105: Rezensionen Kirche der Angst]. wurde. Auf das von Bazon Brock ausgeführte Dispositiv von „Totalkunst“ 51 , dem in Radikalisierung des Gesamtkunstwerks die Absorption von Allem unaus‐ weichlich zugrunde liegt, rekurrierte implizit Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung. Der Kritiker stand dem Abend zwar „bewundernd ob [seiner] Scho‐ nungslosigkeit“ 52 gegenüber, stellte letztlich jedoch irritiert fest, dass der Künstler keine offene Kommunikation über seine Ängste in Gang setzen konnte, da „[a]lles an diesem Abend […] Schlingensief und nur er“ 53 gewesen sei. Die Einbettung des persönlichen Zustands in die liturgische Form evozierte letztlich höchst zwiespältige Reaktionen unter den Kritikern, die zwischen Be‐ wunderung und Irritation changierten. In den Augen vieler Rezensenten war die schonungslose Thematisierung von Schlingensiefs Angst, die in erster Linie Anteilnahme provozierte, zumindest verantwortlich für die Unkritisierbarkeit des Abends. Da sich eine Messe nicht kritisch distanziert rezipieren, sondern lediglich feiern lasse, entzöge sich die kunstreligiöse Ritualisierung des Privat‐ menschen Schlingensief in Eine Kirche der Angst von vornherein des begriffli‐ chen Inventars der Theaterkritik. 54 Eine beträchtliche Anzahl an Schreibern kreiste schließlich um die mit dem rituellen Rahmen verbundene Praxis der Selbstaussprache. Durch seine Formu‐ lierung vom „Requiem auf das eigene Schaffen“ 55 versah Egbert Toll die autobi‐ ographische Redefigur des Resümees mit einer religiösen Implikation. Dem ähnlich hob Rossmann das von Schlingensief generierte Moment der „größt‐ mögliche[n] Bilanzsituation“ 56 angesichts der existentiellen Erfahrung von To‐ desnähe hervor und rückte die Inszenierung auf diese Weise ebenso in die Nähe der Autobiographie. Julian Weber glaubte im Fluxus-Oratorium gar ein „Glau‐ bensbekenntnis des Künstlers“ 57 erkannt zu haben. 1.1 Das Fluxus-Oratorium 39 <?page no="40"?> 58 Pilz: „Die Messe des unheiligen Christoph”. Vgl. hierzu auch die Formulierung Rüdiger Schapers: „Inbrünstig wird gebeichtet.“ Schaper: „Der Prophet im eigenen Körper“. 59 Heine: „Schlingensiefs wilde, tolle Krebs-Messe“. Durch das Verweben von introspektiver Selbstsuche und extrovertierter In‐ vokation Gottes kombinierte Schlingensief im Rahmen der Inszenierung in der Tat zwei Grundformen autobiographischer Praxis: die Beichte und das Be‐ kenntnis. Die rückblickende Betrachtung auf das hinter sich gebrachte Leben, die in den Augustinischen Confessiones noch eine Selbstentblößung vor Gott gewesen war, entwickelte sich in der abendländischen Kulturgeschichte erst mit Rousseaus Confessions zu einer mit unbedingtem Wahrheitsanspruch verbun‐ denen Selbstdarstellung vor den Mitmenschen. Im Messritual von Eine Kirche der Angst blieben beide Formen autobiographischer Praxis präsent. So gestaltete Schlingensief sein Spiel mit der intimen Ansprache Gottes im stilisierten Kir‐ chenraum zu einer performativen Aussprache mit sich selbst vor den Augen der Öffentlichkeit um, die die existentielle mit der künstlerischen Selbstbefragung kurzschloss. Einen derartigen Konnex zwischen autobiographischem Bekenntnis und re‐ ligiöser Beichtpraxis etablierte Dirk Pilz. Seine Rezensionsformel „[i]ntime Beichte und künstlerische Bilanz“ 58 verweist auf das seit Goethes Dichtung und Wahrheit autobiographisch institutionalisierte Künstlerbekenntnis. Der Kritiker der Welt schließlich entdeckte in Eine Kirche der Angst das Moment künstleri‐ scher Konzentration, das Schlingensief „vom Pfad der blödsinnigen Zer‐ streuung“ 59 abgebracht und auf das zurückführt habe, was ihn wirklich angehe. Damit war nicht zuletzt der Topos des Bekehrungserlebnisses benannt, der seit Augustinus als autobiographisches nunc stans figuriert, in dem sich das gesamte Leben zusammendrängt, und der das Subjekt dazu anregt, sein Leben zu ändern und in eine neue Richtung zu führen. 1.2 Der Zwischenstand der Dinge Der Zwischenstand der Dinge verkürzte die Inszenierung Eine Kirche der Angst um die abschließende theatrale Messfeier und erscheint somit als das in den intimen kammertheatralen Rahmen transponierte Satellitenwerk des Fluxus-Oratoriums. Obgleich der Abend in den nachfolgenden Szenenanalysen keine eigenständige Betrachtung erfährt, so dienen die dazugehörigen kriti‐ schen Reaktionen doch dazu, den autobiographischen Kontext von Eine Kirche der Angst, verschlüsselt in der intimen Preisgabe des Selbst als Lebenserzählung, zu untermauern. Schien es den meisten Kritikern bereits im Fall von Eine Kirche 1 Zu Christoph Schlingensiefs „Krebs-Trilogie“ 40 <?page no="41"?> 60 Rüdiger Schaper: „An der Grenze“. In: Der Tagesspiegel, 15. November 2008 [Schlingen‐ sief-Archiv (ohne Signatur): Zwischenstand der Dinge]. 61 Pilz: „Überlebenskunst.“ 62 Ebd. 63 Reinhard Wengierek: „Schlingensiefs Krebstheater in Berlin“. In: Die Welt, 15. November 2008 [Schlingensief-Archiv (ohne Signatur): Zwischenstand der Dinge]. 64 Schaper: „An der Grenze“. der Angst unmöglich, aus gewohnt distanzierter Position zu rezensieren, so stellte sich in Der Zwischenstand der Dinge schließlich „eine kaum erträgliche Intimität ein“ 60 . Aus der Sicht von Pilz fühlte man sich dabei, „als blättere man mit Schlingensief in seiner Krankenakte“ 61 . Aber diese Krankheit, so der Rezen‐ sent erneut, lasse „sich nicht kritisieren, nur heilen oder annehmen“ 62 . Der The‐ aterabend, dem die wesentlichen filmischen und musikalischen Motive sowie große Teile der aus dem Tagebuch stammenden Texte des Fluxus-Oratoriums zugrunde lagen, brachte für Reinhard Wengierek von der Welt eine „immer wieder hellsichtig die Todesangst umkreisende Schnipsel-Paraphrase aus Video, Musik, Patiententagebuch, Memoiren und Kabarettistischem“ 63 an die Öffent‐ lichkeit. Laut Rüdiger Schaper geriet die Inszenierung vor allem aufgrund des nahezu distanzlosen Rahmens zur „Tragödie en miniature“ 64 . Das persönliche Drama Schlingensiefs rückte mit Der Zwischenstand der Dinge offensichtlich derart nahe an die Rezensenten heran, dass die Demarkationslinie zwischen Selbstentblößung und -maskierung nicht mehr auszumachen war. Die von den Journalisten thematisierte Unmittelbarkeit war wesentlich dem Wegfall des kunstreligiös-rituellen Rahmens geschuldet, der das Schicksal Schlingensiefs im Fluxus-Oratorium noch durch die großformatige ästhetische Dekonstruktion christlicher Erlösungsdogmatik auf Distanz gehalten hatte. Da die ästhetische Konstruktion der Inszenierung hinter der Einforderung einer emphatischen Teilhabe des Publikums beinahe zum Verschwinden ge‐ bracht wurde, kam Schlingensief als Regisseur seiner Lebensgeschichte dem hermeneutisch-autobiographischen Desiderat nach Unmittelbarkeit entschie‐ den nahe. Dass die Nacktheit des Protagonisten nunmehr weniger als Effekt der Inszenierungsstrategie rezipiert wurde, sondern als Aufforderung zu direktem Mitfühlen, zeigt unter anderem die Auffassung Ulrich Seidlers. Die Art und Weise der Selbstpräsentation glich in seinen Augen eher einer Gesprächsthe‐ rapie und machte den Zuschauer schier darüber vergessen, dass er im Theater saß: Das war in dem Moment kein Theater, was sollte man also beklatschen? Schlingensiefs Mut? Seine Angst? Seine Ärzte? Seine Medikamente? Die eigene Gesundheit? Schlin‐ 1.2 Der Zwischenstand der Dinge 41 <?page no="42"?> 65 Seidler: „Die Show geht weiter“. 66 Schaper: „An der Grenze“. 67 Ebd. 68 Gernot Boehme definiert Atmosphäre als „die gemeinsame Wirklichkeit des Wahr‐ nehmenden und des Wahrgenommenen“. Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, 34. 69 Schaper: „An der Grenze“. 70 Wengierek: „Schlingensiefs Krebstheater in Berlin“. 71 Pilz: „Überlebenskunst“. 72 Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! , 9 f. gensief hat seinen privaten Lungenkrebs in die gute alte Erfahrungsmaschine Theater eingespeist und sie damit gefährlich ins Stottern gebracht. 65 Ähnlich Seidler fasste Rüdiger Schaper die Arbeit als „beispiellose Entäuße‐ rung“ 66 Schlingensiefs auf. Der Regisseur fertigte aus der Sicht des Rezensenten eine Inszenierung, die „die Traurigkeit von Kammermusik“ 67 atmete. Mit diesem Urteil war implizit die formale Diskrepanz zwischen den Produktionen Eine Kirche der Angst und Der Zwischenstand der Dinge angesprochen. Zwar waren die Inszenierungen thematisch eng miteinander verknüpft, unter dem Aspekt ihrer jeweiligen Atmosphäre  68 allerdings vollkommen unterschiedlich geraten. Der Umstand, dass die Bausteine des großformatigen Oratoriums und des um den hyperbolischen Rahmen der liturgischen Messfeier verkürzten distanzlosen Abends im Studio des Maxim Gorki Theaters grosso modo dieselben waren, legte die Argumentation mit musikalischen Gegensatztopoi in der Tat nahe. Während Schlingensiefs Aneignung der erzählend-dramatischen Gattung des Oratoriums mit der musikalisch-exaltierten Apostrophe an das Göttliche spielte, erschien der kammermusikalische und -theatrale Abend Der Zwischenstand der Dinge als Rückzug in die Sphäre der Intimität, der dem Zuschauer gewissermaßen die nackte Antifolie zur kunstreligiösen Überformung vor Augen führte und ihn begreifen ließ, „dass das Leben ohne Rituale und Kunst eine Hölle ist“ 69 . Reinhard Wengierek deutete die Inszenierung als Versuch Schlingensiefs, sich von außen selbst zu betrachten, um dabei „mit heiligem Ernst und teuflischem Witz auf sein Los“ 70 hinzuweisen. Dirk Pilz wiederum sah „ein Spiel über das Spielen mit dem eigenen Leben und Sterben“ 71 und erkannte damit ebenso eine metareflexive Dimension. Die Rezensenten malten auf diese Weise ein Bild aus, in dem der Regisseur als Beobachter seinem gezeigten Ich wie in einem Selbst‐ porträt vis-à-vis steht. Schlingensief selbst äußerte im Vorwort seines Krebsta‐ gebuchs den zur Einschätzung der Kritiker passenden Anspruch, aus der Distanz einen ganzheitlichen Blick auf sich selbst zu werfen, „[d]ie Erkrankung vor sich zu stellen, sie und sich selbst von außen zu betrachten“ 72 . 1 Zu Christoph Schlingensiefs „Krebs-Trilogie“ 42 <?page no="43"?> 73 Vgl. Pilz: „Überlebenskunst“. 74 Hans Peter Göpfert: „Der öffentliche Patient. ‚Der Zwischenstand der Dinge‘ im Gorki-Studio mit einem sichtlich angegriffenen Christoph Schlingensief “. In: Berliner Morgenpost, 15. November 2018 [Schlingensief-Archiv (ohne Signatur): Zwischenstand der Dinge]. Pilz erlebte dieses „Selbstdurchleuchtungstheater“ 73 gar als Einforderung einer konkreten zwischenmenschlichen Reaktion und räsonierte nachdenklich darüber, ob das Echte der Krankheit die Inszenierung nobilitiere oder doch eher ungreifbar mache. Auch Peter Göpfert stimmte in den Chor der Kritiklosen mit ein, indem er die spürbare „selbsttherapeutische Absicht dieser Inszenierung“ 74 dafür verantwortlich machte, dass sie sich herkömmlichen Kriterien des Rezen‐ sierens gänzlich entziehe. Die sich im Rahmen der Besprechungen der Duis‐ burger Inszenierung bereits deutlich abzeichnende Tendenz, Schlingensiefs the‐ atralen Umgang mit seiner Todesangst nicht mehr mit normativen Begriffen zu fassen, sondern dem gesundheitlichen Zustand des Autors respekt- und pietät‐ voll zu begegnen, hatte sich in der Betrachtung von Der Zwischenstand der Dinge erheblich zugespitzt. Die Rezensenten operierten dabei zwar nach wie vor in‐ nerhalb des semantischen Feldes der Selbstdarstellung, des Sich-Zeigens und des theatralen Phantasmas von Unmittelbarkeit. Anders als im Fall des Fluxus-Oratoriums konnten sie sich allerdings von der inszenierten Intimität nicht mehr über die äußere Form der Kunst-Messe distanzieren, sondern fühlten sich in das Innere des Künstlers regelrecht hineingezogen. 1.3 Die ReadyMadeOper Mea Culpa Die Topologie der bekenntnishaften Selbstdarstellung und die mit der szeni‐ schen Confessio verbundene Suggestion von Unmittelbarkeit bildeten auch noch den analytischen Rahmen für die im März des Jahres 2009 am Wiener Burgthe‐ ater uraufgeführte ReadyMadeOper Mea Culpa. Nach Der Zwischenstand der Dinge fand der Regisseur dabei wieder zur großen synkretistischen Form zurück. Schlingensief tauschte das liturgische Setting durch den intermedialen Refe‐ renzrahmen des hinter ihm liegenden Œuvres aus und betrachtete sich selbst nunmehr zur Gänze durch die Brille seiner künstlerischen Vergangenheit hin‐ durch. Darüber hinaus war die Perspektive des bekennenden Ichs bereits auf die Zukunft hin gerichtet. Im Rahmen von Mea Culpa stellte Schlingensief seine Vision eines afrikanischen Operndorfs vor, verstanden als Zusammenführung von Wagners Bayreuth-Utopie mit dem erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys. 1.3 Die ReadyMadeOper Mea Culpa 43 <?page no="44"?> 75 Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! , 171. 76 Richard Wagner: „Parsifal“. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 10. Leipzig: Breitkopf und Härtel o. J., 375. 77 Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! , 171. 78 Carl Hegemann: „STERBEN LERNEN? Christoph Schlingensiefs Beschäftigung mit dem Tod“. In: Pia Janke, Teresa Kovacs (Hrsg.): Der Gesamtkünstler Christoph Schlin‐ gensief. Wien: Praesens 2011, 338. Das dem Abend programmatisch zugrunde liegende katholische Schuldbe‐ kenntnis zeigte zum einen die religiöse Verbindungslinie vom Duisburger Fluxus-Oratorium zur Wiener ReadyMadeOper auf und verwies zum anderen auf den Versuch Schlingensiefs, einem erodierten integralen Subjekt die be‐ hauptete Souveränität eines autonomen Ichs entgegenzuhalten. Im Allgemeinen Schuldbekenntnis, nach christlicher Vorstellung die Antwort auf die Schuld‐ übernahme Jesu Christi, der durch seinen Tod „die Schulden der Welt hinweg‐ genommen hat“, gesteht der Mensch, „Gutes unterlassen und Böses getan zu haben“. Im klimatischen Ruf „mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa“ liegt die Fabel von Schlingensiefs Inszenierung eingeschlossen. Der Regisseur hatte sich bereits in seinem Tagebuch auf eine krankheitsgenetische Spurensuche be‐ geben, die ihn auf seine eigene Schuld zurückgeführt hatte. Den Grund für seine Krebserkrankung glaubte er schließlich in seiner intensiven Beschäftigung mit Wagners Parsifal im Zuge der Bayreuther Festspiele im Jahr 2004 ermittelt zu haben, wo er sich von Wagners Spiel mit der Todessehnsucht „auf den Trip schicken habe lassen“ 75 . Getreu dem im Parsifal wirksamen Prinzip, „die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug“ 76 , sollte die erneute Auseinandersetzung mit Wagners „Todesmusik“ 77 in Mea Culpa zu einer Bejahung des Lebens führen. „‚Ich will noch nicht‘ ist die Quintessenz des Abends“ 78 , so dessen Dramaturg Carl Hegemann. Die titelgebende Bündelung der Schuld im Ich, die als Zeichen einer egozentrierten Haltung einen selbsttherapeutischen Zweck erfüllte, war das Resultat einer intensiven Forschung nach der eigenen Vergangenheit im Medium des Theaters. Dafür implantierte Schlingensief die Diegesis des Parsifal in eine höchst eigenwillige metadiegetische Rahmenhandlung: In einer ayur‐ vedischen Heilanstalt, die ihrerseits assoziativ an das hermetisch abgeschlos‐ sene Sanatorium aus Thomas Manns Der Zauberberg (1924) gemahnt, arbeiten die Patienten an einer Parsifal-Inszenierung. Die in Wagners Bühnenweihfest‐ spiel thematisierte Wunde soll den Patienten den Weg zur Heilung weisen. Für Michael Laages zeigte sich in Wien in erster Linie ein „Abend der Innen‐ ansichten, ein Panoptikum der Reflexion über einen unauflösbar schrecklichen 1 Zu Christoph Schlingensiefs „Krebs-Trilogie“ 44 <?page no="45"?> 79 Michael Laages: „Mit dem Sterben hat es noch Zeit“. In: nachtkritik.de, 20. März 2009. http: / / www.nachtkritik.de/ index.php? option=com_content&view=article&id= 2558: mea-culpa-eine-readymadeoper-christoph-schlingensiefs-schmerzenswerk &catid=80: burgtheater-wien (Zugriff am 15. April 2017). 80 Ulrich Weinzierl: „Schlingensief macht das Burgtheater zur Kirche“. In: Welt Online, 22. März 2009. http: / / www.welt.de/ kultur/ theater/ article3421744/ Schlingensiefmachtdas-Burgtheater-zur-Kirche.html (Zugriff am 15. April 2017). 81 Ebd. 82 Peter Michalzik: „Wir treffen uns in der Einsamkeit“. In: Frankfurter Rundschau, 23. März 2009. 83 Ebd. 84 Dössel: „Der Himmel kann warten“. 85 Ebd. 86 Almuth Spiegler: „Wir sind eins“. In: Die Presse am Sonntag, 22. März 2009. Prozess: das Leben eben“ 79 , der durch ein unerhörtes Maß an Ehrlichkeit be‐ rührte. Ulrich Weinzierl, der den Abend für Die Welt besprach, sah in Mea Culpa den „Abschluss einer autobiografischen Trilogie im Zeichen der Krankheit“ 80 , mit dem der kranke Regisseur „sein theatralisches Pfingsten [und somit] das vorläufige Ende einer Passionsgeschichte“ 81 feierte. Sein Kollege von der Frank‐ furter Rundschau, Peter Michalzik, fühlte sich, wie bereits nach der Aufführung in Duisburg, ergriffen von einer Produktion, die in erster Linie „eine neue Art von Psychodrama“ 82 präsentierte und dem Versuch geschuldet war, dem Pub‐ likum den großen dunklen Anderen, den Tod, näherzubringen. Als Zuschauer musste man lediglich eine grundsätzliche Entscheidung treffen: „Entweder leiden wir an diesem Abend mit, oder wir erleben nichts.“ 83 Der Regisseur habe dem Zuschauer die Entscheidung durch die Drastik der Darstellung allerdings nicht besonders schwer gemacht. Christine Dössel sah im titelgebenden Schuldbekenntnis Schlingensiefs die „eindrucksvolle (Selbst-)Inszenierung eines Künstlers, der viele Leidens- und Erkenntnisstufen durchschritten hat und nunmehr den Lebenswillen feiert in Anbetracht des Todes“ 84 . Sie griff dabei die bereits in den Kritiken zu Eine Kirche der Angst weit verbreitete Ansicht auf, dass es sich bei der Krankheitsinszenie‐ rung um die logische Konsequenz aus Schlingensiefs Kunstverständnis han‐ delte, „der als Künstler schon immer seine Haut zu Markte getragen“ 85 habe. Ähnlich erging es Almuth Spiegler, die fasziniert auf Schlingensiefs einzigartige „Durchdringung der Genres und die Auflösung der Grenzen zwischen Spiel und Realität“ 86 blickte. Die Transgression von Kunst und Leben wurde wie in den beiden vorhergehenden Inszenierungen zum Anlass genommen, um grundle‐ gend darüber nachzudenken, inwieweit die theatrale Komplementarität des Zeigens und Zuschauens überhaupt noch als wirksamer Referenzrahmen für die Analyse des Theaterabends dienen konnte. 1.3 Die ReadyMadeOper Mea Culpa 45 <?page no="46"?> 87 Weinzierl: „Schlingensief macht das Burgtheater zur Kirche“. 88 Ebd. 89 Dössel: „Der Himmel kann warten“. 90 Ebd. 91 Vgl. Eva Behrendt: „Zeige deine Wunde“. In: Die Tageszeitung Online, 22. März 2009. http: / / www.taz.de/ ! 32167/ (Zugriff am 15. April 2017). 92 Ronald Pohl: „Der Kurarzt als Bilderwerfer“. In: Der Standard, 23. März 2009. 93 Rüdiger Schaper: „Die grünen Hügel Afrikas“. In: Der Tagesspiegel Online, 22. März 2009. http: / / www.tagesspiegel.de/ kultur/ buehne-alt/ schlingensief-oper-die-gruenenhuegel-afrikas/ 1478406.html (Zugriff am 15. April 2017). 94 Pohl: „Der Kurarzt als Bilderwerfer“. Der Großteil der Kritiker operierte dementsprechend nicht mit dem Begriff des Theaters, sondern mit dem Terminus des Rituals, der zur Erfassung der von Schlingensiefs Mitteilung erzeugten gemeinschaftsbildenden Struktur einer kunstreligiösen communitas besser geeignet zu sein schien. In den Augen Ulrich Weinzierls bezog Mea Culpa seine eigentümliche Kraft gerade aus dem „Ver‐ gessenmachen“ 87 über den theatralen Rahmen, sodass der Zuschauer zum „Zeuge[n] der allmählichen Gemeindewerdung“ 88 wurde. Dössel betonte, dass man sich „gegen die Teilhabe, die Schlingensief […] gewährt“ 89 , regelrecht sperre, wenn man den Protagonisten dieses existentiellen Abends lediglich als Narzissten abtue. Es gebe „nicht viele Theaterabende, die so ganzheitlich, so überzeugend authentisch - und dazu auch noch so multimedial ausgefeilt - an die wirklich letzten Dinge rühren.“ 90 Auf Eva Behrendt schließlich wirkte Mea Culpa hinsichtlich Schlingensiefs Auseinandersetzung mit seinem Leben zwar distanzierter als Eine Kirche der Angst, doch die Forderung der Teilhabe, die von der Inszenierung an das Publikum ergangen war, schien in ihren Augen unge‐ brochen. 91 Darüber hinaus gab es auch Kritikerstimmen, die explizit die voyeuristische Perspektive des Publikums, provoziert durch Schlingensiefs Selbstentblößung, reflektierten. So wollte die Bühne des Burgtheaters laut Ronald Pohl, dem Re‐ zensenten des österreichischen Der Standard, „unter verschwenderischer Auf‐ bietung ihrer Kunstmittel mit der ganzen ‚Wahrheit‘ über uns Menschen he‐ rausrücken“ 92 . Rüdiger Schaper setzte ebenso an der mit Schlingensiefs theatraler Simulation von Wahrheit und Unmittelbarkeit verbundenen Rezep‐ tionsmechanik des Voyeurismus an: „Wann hat sich ein Künstler derart nackt und angreifbar gemacht wie Schlingensief ? Sein Werk, sein Leben, seine Krank‐ heit zu einem unerhörten Ganzen so verschmolzen? Die Logik ist fürchterlich, ein voyeuristischer Abgrund.“ 93 Demnach spielte der vom Regisseur exhibitio‐ nistisch in Gang gebrachte Versuch der „Heilung der Wunde ‚Sterblichkeit‘ aus der Idee des Gesamtkunstwerks“ 94 mit dem Erregungsmoment des Beobachtens. 1 Zu Christoph Schlingensiefs „Krebs-Trilogie“ 46 <?page no="47"?> 95 Eleonore Büning: „Hitler ist an allem schuld“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. März 2009. 96 Vgl. Behrendt: „Zeige deine Wunde“. 97 Vgl. Harald Szeemann: Individuelle Mythologien. Berlin: Merve 1985. 98 Harald Kimpel: „Individuelle Mythologien“. In: Hubertus Butin (Hrsg.): Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst. Köln: Snoeck 2014, 131. 99 Harald Szeemann zit. in: Ebd. Aufgrund „der vielen verallgemeinerbaren Wahrheitsgehaltzipfel“ 95 , die dabei zu erspähen waren, wurden die Kritiker dieses Abends - freiwillig oder unfrei‐ willig - letztlich zu Verfassern einer Hagiographie. 96 1.4 Individuelle Mythologie als Paradoxie im Ich Durch die Einflechtung ästhetischen, mythisch-religiösen und philosophischen Materials in den Bezugsrahmen des Persönlichen arbeitete Schlingensief mit geradezu plakativer Deutlichkeit an einer „individuellen Mythologie“ 97 . Der programmatische Begriff, mit dem Harald Szeemann im Zuge der 1972 unter dem Titel „Befragung der Realität - Bildwelten heute“ firmierenden documenta 5 eine im Dienste der Kreativität stehende Überhöhung des Egozentrismus und damit eine Abkehr von kollektiv verbindlichen Mythenkomplexen themati‐ sierte, ist für Schlingensiefs künstlerische Thematisierung seines Ichs fruchtbar zu machen. Mit seinen dichten motivischen Formationen eigener und fremder Stoffe, dem ironisch gebrochenen Spiel mit religiösen Ritualen und Bildformeln, der Inszenierung symbolischer Transformationsvorgänge und nicht zuletzt seiner selbstreferentiellen Inkorporation traditionellen ästhetischen Inventars lässt sich der Regisseur in eine Reihe mit Künstlern von Paul Thek über die Wiener Aktionisten bis hin zu Joseph Beuys einordnen, die sich „mit ihren Bild‐ welten aus den Konventionen des kollektiven Wirklichkeitsverständnisses aus‐ klinken und Entwürfe eines Kosmos liefern, der nur den eigenen kontrollierten Gesetzmäßigkeiten gehorcht.“ 98 Die Verquickung des traditionellen Begriffs von Mythos als einem überindividuellen, verbindlichen Symbolsystem mit der Er‐ fahrungswelt des Einzelnen lebt sowohl bei den historischen Referenzfiguren als auch bei Schlingensief von der funktionalen Paradoxie, zwei kontradiktori‐ sche Erfahrungsebenen in eine widersprüchliche künstlerische Formel zusam‐ menzuschließen. Mit dieser Formel erhebt „die Egozentrik den Anspruch […], eine allgemeingültige Sprache zu sprechen“ 99 . Von einem derartigen Standpunkt existentieller Selbsterfahrung, der sich nicht in privatistischer Autoreflexion erschöpft, sondern die eigenen enigmati‐ 1.4 Individuelle Mythologie 47 <?page no="48"?> 100 Vgl. Alexander Kluge: „In erster Linie bin ich Filmemacher. Begegnung mit Christoph Schlingensief anlässlich seiner Hodenpark-Installation 2006 im Museum der Moderne Salzburg“. In: Klaus Biesenbach u. a.: Christoph Schlingensief. London: Koenig 2013, 80-83. schen Handlungsräume gegen die unhinterfragte Ordnung der Dinge in An‐ schlag bringen will, zeugt Schlingensiefs Schaffen selbstverständlich bereits vor dem Einbruch seiner Krankheit. Schon mit seinem ersten Langfilm Tunguska - Die Kisten sind da (1984) lanciert der Regisseur, den am Medium Film nach ei‐ genen Aussagen vor allen Dingen seine materiale Zerstörbarkeit faszinierte, 100 die autoreflexive Geste eines jungen Filmregisseurs, der gegen das Gebot des filmischen Realismus aufbegehrt und das Ende des Neuen Deutschen Films he‐ raufbeschwört. Anhand hysterisch überspannter Familienkonstellationen wie‐ derum zeigt die „Deutschland-Trilogie“, bestehend aus 100 Jahre Adolf Hitler. Die letzte Stunde im Führerbunker (1988), Das deutsche Kettensägenmassaker (1990) und Terror 2000. Intensivstation Deutschland (1991/ 1992), ernüchternde Gegen‐ wartsdiagnosen und die Erforschung deutscher Geschichte. Seine Theaterar‐ beiten führen die Impulse aktueller politischer und gesellschaftlicher Diskurse im intermedialen Assoziationsfeld weiter und zeichnen sich durch die Dichte an Bezügen zu vorangegangenen Arbeiten aus. So widmen sich etwa die sowohl im thematischen Umfeld der Church of Fear als auch Schlingensiefs Bayreuther Parsifal (2004-2007) entstandenen Inszenierungen Atta Atta - Die Kunst ist aus‐ gebrochen (Volksbühne Berlin, 2003), Bambiland (Burgtheater Wien, 2003) und Attabambi Pornoland (Schauspielhaus Zürich, 2004) ebenso den Anschlägen des 11. Septembers wie der medialen Inszenierung des Irakkriegs und zeigen moti‐ vische wie inszenatorische Versatzstücke der Parsifal-Inszenierung. Inmitten dieser apokalyptischen Settings stellt Schlingensief wahlweise Beuys’ Ak‐ tion Coyote nach, versucht sich als Aktionskünstler im Geiste Hermann Nitschs, dirigiert von einem Turm aus Wagners Tannhäuser-Ouvertüre und spielt ne‐ benbei ein Kind, das gegen die Eltern rebelliert. In den letzten Inszenierungen Schlingensiefs führt eine solche Fundierung des ästhetischen Schaffensaktes im persönlichen Erfahrungshorizont des Künstlers allerdings zu einem ernsten, existentiellen Spiel um die Offenbarung und Chiffrierung des autobiotheatralen Ichs. Die augenscheinliche Mythologisierung des Ichs, die als implizites Leit‐ motiv zahlreicher Rezensionen fungiert, zeigt überdies den Versuch einer Ak‐ tualisierung kunstphilosophischer Konzepte der Frühromantik an. Dies wird offensichtlich mit Blick auf Friedrich Schlegels Konzept der Uni‐ versalpoesie. In seinem fiktiven Gespräch über die Poesie weist der Philosoph die Poesie als schöpferischen Urquell aus, der zwischen dem Einzelnen und der all‐ umfassenden Idee des Kosmos vermittelt. In einem für das romantische Denken 1 Zu Christoph Schlingensiefs „Krebs-Trilogie“ 48 <?page no="49"?> 101 Friedrich Schlegel: „Gespräch über die Poesie“. In: Ders.: Kritische Friedrich- Schlegel-Ausgabe, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801), hg. von Ernst Behler. München u. a.: Ferdinand Schöningh 1967, 284. 102 Ebd., 285. 103 Friedrich D. E. Schleiermacher: „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799)“. In: Ders.: Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799, hg. von Günter Meckenstock. Berlin u. a.: De Gruyter 1984, 231. 104 Ebd., 262. 105 Johann Wolfgang von Goethe: „Maximen und Reflexionen“. In: Ders.: Goethe. Berliner Ausgabe, Bd. 18: Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen. Schriften zur Lite‐ ratur 2, hg. v. Siegfried Seidel. Berlin: Aufbau 1972, 638. konstitutiven Modus „kosmischer Projektion“ bindet Schlegel seine Überzeu‐ gung, wonach „jeder [Mensch] seine eigne Poesie in sich“ 101 trage, an ein über‐ geordnetes, unbestimmbares Prinzip schöpferischer Kraft zurück. Diese höhere Poesie, die „von selbst aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit“ 102 hervor‐ geht, fungiert ihrerseits als Statthalterin des Numinosen. Aus dem alles ein‐ schließenden, selbstschöpfenden Vorstellungskomplex der Poesie erwächst letztlich Schlegels Forderung nach einer Neuen Mythologie. An sein poetisches Konzept knüpft er nichts weniger als die Hoffnung auf eine verbindliche, ge‐ meinschaftliche Weltanschauung, die zwischen den Dualismen einer zerris‐ senen modernen Welt vermittelt. Die Neue Mythologie ist mithin dazu angetan, die religiöse Lücke einer entgötterten Welt in der Romantik zu schließen. Die Voraussetzungen für einen derartigen wirkungsästhetischen Zusammenschluss von Kunst und Religion liegen dabei freilich in deren vorangegangener Tren‐ nung im Zuge der Aufklärung und im nunmehrigen Fehlen eines verbindlichen religiösen Sinngebungssystems. Hinter Schlegels Entwurf einer alles verbindenden poetischen Kreativität kommt der Begriff der Kunstreligion zum Vorschein. Friedrich Schleiermacher bringt ihn im Jahr 1799 in seinen Reden Über die Religion erstmals ins Spiel. Der Begriff drückt die Sehnsucht nach Ganzheitserfahrungen - bei Schleiermacher die Suche nach der „Harmonie des Universums“ 103 - aus. Obwohl Schleierma‐ cher zunächst keinen Zweifel daran lässt, dass die Kunst der Religion gegenüber eine dienende Funktion übernimmt, so gesteht er ihr im Laufe seiner Argumen‐ tation doch die Möglichkeit zu, aus eigener Kraft das Unendliche erfahrbar zu machen. Mit der Beobachtung, dass „der Kunstsinn für sich allein übergeht in Religion“ 104 , weist er ebenso entschieden über Goethes verhaltene Bemerkung hinaus, wonach die Kunst „auf einer Art religiösem Sinn, auf einem tiefen un‐ erschütterlichen Ernst“ 105 beruhe, wie über Klopstocks Ansicht, dass die „heilige Poesie“ sich nachahmend die Wirkungsmechanismen des Religiösen zu eigen 1.4 Individuelle Mythologie 49 <?page no="50"?> 106 „Der Verfasser des heiligen Gedichts ahmt der Religion nach; wie er in einem nicht viel verschiedenen Verstande, der Natur nachahmen soll.“ Friedrich Gottlieb Klopstock: „Von der heiligen Poesie“. In: Ders.: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungsthe‐ oretische Schriften, hg. von Winfried Menninghaus. Frankfurt am Main: Insel 1989, 195. 107 „Ja, wenn es wahr ist daß es schnelle Bekehrungen giebt, Veranlaßungen, durch welche dem Menschen, der an nichts weniger dachte als sich über das Endliche zu erheben, in einem Moment wie durch eine innere unmittelbare Erleuchtung der Sinn fürs Uni‐ versum aufgeht, und es ihn überfällt mit seiner Herrlichkeit; so glaube ich, daß mehr als irgend etwas anders der Anblick großer und erhabner Kunstwerke dieses Wunder verrichten kann.“ Schleiermacher: „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799)“, 262. 108 „Das Endliche werdet ihr bald verlieren und das Universum gefunden haben.“ Ebd. 109 Schlegel: „Gespräch über die Poesie“, 314. 110 Ebd., 312. 111 Friedrich Schlegel: „Athenäums-Fragment 116“. In: Ders.: Kritische Fried‐ rich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801), hg. von Ernst Behler. München u. a.: Ferdinand Schöningh 1967, 182. 112 Friedrich Schlegel zit. nach: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische Gesamt‐ ausgabe, Bd. 2: Schriften aus der Berliner Zeit 1798-1799, hg. von Günter Meckenstock. Berlin u.a.: De Gruyter 1984, XXXII. mache. 106 Die Wirkungsqualität erhabener Kunstwerke ermöglicht für Schlei‐ ermacher eine gleichsam religiöse Erfahrung des Absoluten. 107 An seiner be‐ grifflichen Verbindung der Sphären von Kunst und Religion äußert sich seine Hoffnung auf eine neue Art der religiösen Erfahrung, die das Endliche trans‐ zendiert und einen Zugang zum Universum ermöglicht. 108 Der Versuch, eine mythische Welt zu restituieren, in der die Oppositionen von Endlichem und Unendlichem, Einheit und Vielfalt, Individuum und Ge‐ meinschaft, Absolutem und Relativem, Subjekt und Objekt aufgehoben sind, führt bei Schlegel über die ästhetisch liminale Sphäre einer anderen Realität, eines „verdoppelte[n] Leben[s]“ 109 , in dem Einbildungskraft und Denken ver‐ schränkt sind. Dieses Leben muss, wie der Philosoph in seiner dem Gespräch über die Poesie eingelagerten „Rede über die Mythologie“ betont, „aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunst‐ werke sein, denn es soll alle andern umfassen“ 110 . Mit seinem Entwurf der „pro‐ gressiven Universalpoesie“ 111 löst Schlegel das ästhetische Desiderat einer Kunst als Gefäß des Absoluten schließlich ein. Die programmatische Forderung nach einer Poesie, deren metaphysisches Einheitsstreben gerade auf der Sprengkraft von unterschiedlichen Sphären der Erkenntnis und Wahrnehmung beruht, wie es Schlegels Chiffren der „Symphilosophie und Sympoesie“ 112 nahelegen, zielt nicht lediglich auf ein inklusives, zwischen den verschiedenen Gattungen und Erkenntnisebenen vermittelndes Konzept. Vor allen Dingen ist damit die dyna‐ 1 Zu Christoph Schlingensiefs „Krebs-Trilogie“ 50 <?page no="51"?> 113 Karl Heinz Bohrer: „Die Grenzen des Ästhetischen“. In: Wolfgang Welsch (Hrsg.): Die Aktualität des Ästhetischen. München: Fink 1993, 60. 114 Jean-François Lyotard: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit. Wien: Passagen 1989, 145. 115 Wolfgang Braungart, Manfred Koch: „Vorwort“. In: Dies. (Hrsg.): Ästhetische und reli‐ giöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, Bd. 3. Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2000, 9 f. mische Komponente einer Kunst angesprochen, in der Sein als beständiges Werden erscheint, das im Prozess fortwährender Umcodierung von Sinn niemals an sein Ende gelangen kann. Als Quintessenz romantischer Kunstphilosophie für die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts extrahiert Karlheinz Bohrer die Vorstellung einer ästhe‐ tisch-metaphysischen „Vagheit“, eines „enigmatische[n] Surplus des ästheti‐ schen Eindrucks, das sich nicht mit einem Signifikat identifizieren lässt.“ 113 In der Tat erhält das Begriffsinventar quasireligiöser Erfahrung im kunstphiloso‐ phischen Diskurs der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter gewandelten Vorzeichen eine Wiederbelebung. So überführt Adorno die kunstreligiöse Prä‐ misse der Vereinigung von Gegensätzen im Zeichen der Erfahrung von Totalität in sein Konzept ästhetischer Negativität. Kunst erhält demnach in ihrer nega‐ tiven Form als Antidot gegen die Wirklichkeit ihre Berechtigung. Mit Lyotard wiederum wird die Erfahrung des Erhabenen als unmittelbare Erfahrung des Undarstellbaren ausgewiesen, die unter der Erscheinungsqualität des Instan‐ tanen die „Botschaft […] von nichts, das heißt von der Präsenz“ 114 selbst über‐ mittelt. Der Lyotardsche Begriff des Erhabenen stiftet mithin eine spezifische „Aufmerksamkeit für das Inkommensurable und Flüchtige, das Ereignishafte, Nicht-Bestimmbare, das sprachlich nicht Verallgemeinerbare und darin tief Ver‐ störende in allen unseren Erfahrungsvollzügen“ 115 . Im ästhetischen Kosmos Schlingensiefs zeigen sich die romantischen Prä‐ missen des Unbestimmten und Prozessualen ebenso wie deren Aktualisierung unter den Bedingungen der Negativität und des Erhabenen als elementare per‐ formative Grundprinzipien, die im Knotenpunkt individueller Mythologie zu‐ sammenlaufen. Die dynamische Qualität künstlerischen Sinns spitzt er zum Darstellungsideal eines fortwährenden Sinnüberschusses zu, das die Grundsätze der Logik wie auch das Darstellungsparadigma der geschlossenen Repräsenta‐ tion im Geiste avantgardistischen Avancements abstreift und stattdessen von der formsprengenden Kreativität des Künstler-Ichs ausgeht. Sein eigenes künst‐ lerisches Gesetz hat der Regisseur dabei ganz offensichtlich in der ästhetischen Funktionalisierung von Widersprüchlichkeiten aufgespürt. Die Kategorie des Negativen, die Schlingensief in seinen künstlerischen Akten als Widerstand 1.4 Individuelle Mythologie 51 <?page no="52"?> 116 Theodor W. Adorno: „Ästhetische Theorie“. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. von Rolf Tiedemann. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, 384. 117 Das Schlagwort „Ausländer raus“ legte er der Aktion Bitte liebt Österreich - Erste Ös‐ terreichische Koalitionswoche (Wiener Festwochen, 2000) zugrunde, die Formel „Nazis rein“ wiederum seiner Hamlet-Inszenierung (Schauspielhaus Zürich, 2001). In beiden Fällen kommentierte er rechtspopulistische Tendenzen. 118 „Scheitern als Chance“ alludiert an die berühmte Wendung Samuel Becketts über das fortwährende Scheitern („Alles seit je. / Nie was anderes. / Immer versucht. / Immer gescheitert. / Einerlei. / Wieder versuchen. / Wieder scheitern. / Besser scheitern“); die damit verwandte Formulierung „Jage zwei Tiger“ entstammt einem Songtext der Rock‐ gruppe Laibach; das „Können des Nichtkönnens“ schließlich spielt auf Nietzsches Bild des Künstlers an. gegen jegliche Form von Eindeutigkeit aufbietet, fungiert dabei also nichtsdes‐ toweniger als Absolutum. Darin durchaus Adorno folgend, erschuf er auf diese Weise eine Kunst, die „die Elemente der empirischen Realität ebenso in sich enthält wie versetzt“ 116 . Mit Beharrlichkeit arbeitete Schlingensief gegen die Widersinnigkeit der Re‐ alität an, indem er die Paradoxien, die das Leben bereithält, in seine Kunst in‐ korporierte. Von der provokativen Wiederholung politischer Parolen, wie „Aus‐ länder raus“ und „Nazis rein“ 117 , über die rhetorische Umkehrung pädagogischer Lebensweisheiten in kontrafaktische Formulierungen, wie „Scheitern als Chance“, „Jage zwei Tiger! “ und „Können des Nichtkönnens“ 118 , bis hin zu Oxy‐ mora, die in den Wendungen „Kirche der Angst“, „Erinnern heißt Vergessen“ und „Unsterblichkeit kann töten“ einen tieferen philosophischen Gehalt ent‐ bergen sollen, setzte der Künstler wiederholt einander unvereinbare Vorstel‐ lungskomplexe in eins. Die zahlreichen Auftritte des Regisseurs in seinen eigenen Inszenierungen wiederum gehorchten dem Prinzip des Selbstwider‐ spruchs. Sein Spiel mit der Überlagerung kontradiktorischer Modi der Erfahrung von Wirklichkeit zeigt sich vor allem daran, dass er als Akteur stets jene künst‐ lerischen, philosophischen und politischen Äußerungen ironisch kommentierte, konterkarierte oder provokativ zurücknahm, die er in seiner Funktion als Re‐ gisseur etabliert hatte. Ein ähnlich ausgeprägtes Prozessdenken liegt auch der künstlerischen Entwicklungslogik zugrunde, nach der seine unterschiedlichen Theaterarbeiten miteinander verbunden sind: So spinnen seine Inszenierungen stets Elemente aus seinen vorangegangenen Arbeiten weiter - auch um den Preis, dass sie sich bisweilen in einen innerästhetischen Kommentierungs- und Verweisungszusammenhang verstricken und dem uninformierten Rezipienten auf diese Weise verwehren. Mit diesen performativen und rhetorischen Widersprüchen offenbarte der Regisseur das kreative und epistemologische Potential von existentiellen Anta‐ 1 Zu Christoph Schlingensiefs „Krebs-Trilogie“ 52 <?page no="53"?> 119 Vgl. etwa Carl Hegemann: „Egomania. Kunst und Nichtkunst bei Christoph Schlingen‐ sief “. In: Susanne Gaensheimer (Hrsg.): Christoph Schlingensief. Deutscher Pavillon 2011: 54. Internationale Kunstausstellung La Biennale di Venezia. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2011, 205. 120 Carl Hegemann betont, er habe sich „Schlingensiefs offensiven Umgang mit der eigenen Widersprüchlichkeit mit seiner Unfähigkeit zu lügen erklärt, mit dem seltsamen, mög‐ licherweise sozialisationsbedingten Umstand, dass er gegen Lügen buchstäblich aller‐ gisch war und rote Pusteln am ganzen Körper bekam, schon wenn er auf der Bühne zu harmlosen Verstellungen oder Unwahrhaftigkeiten griff, was ja eigentlich auf der Bühne als ‚normal‘ gilt. Da konnte nur der Theaterarzt mit einer Kortisonspritze helfen. Diese Lügenallergie zwang ihn vielleicht, sich zur Widersprüchlichkeit seiner Lebens‐ äußerungen und Überzeugungen zu bekennen. Sich eine geradlinige, kohärente Iden‐ tität anzudichten, war ihm sozusagen physisch unmöglich.“ Ebd., 206. 121 „[M]ein Vater hat immer Filme gedreht, Doppel-8-Filme, das heißt, er musste den Film nach siebeneinhalb Metern umlegen, um die andere Seite zu belichten. Dann wurde der Film weggeschickt, entwickelt, in der Mitte durchgeschnitten, zusammengeklebt und schließlich hatte man 15 Meter. […] Einmal hatte mein Vater den Film zweimal umge‐ legt. Deshalb liefen plötzlich Leute über den Bauch meiner Mutter und über meinen Bauch, am Strand von Norderney. Ich habe meinen Vater gefragt, wie das geht, und er hat mir erklärt, dass er den Film wohl zweimal umgelegt hätte.“ Klaus Biesenbach: „‚Ich wollte alles in Bilder fassen‘. Christoph Schlingensief im Gespräch mit Klaus Biesen‐ bach“. In: Susanne Gaensheimer (Hrsg.): Christoph Schlingensief. Deutscher Pavillon 2011: 54. Internationale Kunstausstellung La Biennale di Venezia. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2011, 141. gonismen. Die Entbergung tieferer Wahrheiten, so scheint es, war für ihn aus‐ schließlich über den Zusammenprall einander ausschließender Grundsätze zu erhalten. Seine nahezu unerschütterliche Gewissheit, dass die Wahrheit zugleich das Eine und das Andere sei, führte Schlingensief auf ein persönliches Mytho‐ logem zurück. So erklärte er seinen Hang zum Widersprüchlichen wiederholt zur conditio seiner Existenz. Bereits als Kind habe er auf die Frage seiner Mutter, ob ihm das Essen geschmeckt habe, stets mit den Worten „‚Kann sein, kann aber auch nicht sein‘“ 119 geantwortet. Mit dem Selbstbild eines geradezu zwanghaften Wahrheitssagers, das der Dramaturg Carl Hegemann gar als physisches Unver‐ mögen zur Lüge stilisiert hat, 120 untermauerte der Regisseur die Genese seines polyperspektivischen, ebenso autobiographischen wie ästhetischen Narrativs. Eine äquivalente biographische Anekdote aus der Kindheit legte er seiner film‐ ischen Schichtungstechnik zugrunde: Ein technischer Lapsus seines Vaters, der einen Filmstreifen doppelt belichtete, bescherte ihm die prägende Erfahrung zweier Filmbilder in einem. 121 So erwächst aus der diskrepanten Überlagerung von Sinneinheiten und Bildern Schlingensiefs hermetisch holistische Kunst der „Sympoesie“, die das Paradoxe, d. h. das Negativ des Sinns, vor dem persönlichen Erfahrungshorizont zum Absoluten stilisiert. 1.4 Individuelle Mythologie 53 <?page no="54"?> 122 Georg Seeßlen: „Vom barbarischen Film zur nomadischen Politik“. In: Julia Lochte, Wil‐ fried Schulz (Hrsg.): Schlingensief! Notruf für Deutschland. Über die Mission, das Theater und die Welt des Christoph Schlingensief. Hamburg: Rotbuch 1998, 54. In seinen autobiotheatralen Inszenierungen nun versetzte er sein in der Ver‐ gangenheit gelebtes und in der Gegenwart erlebtes Ich in dieses Spannungsfeld von Selbstdifferenz und synthetisierender Totalität, das Reibungen zwischen Religion und Kunst sowie Avantgarde und Kitsch zuließ. Schlingensiefs in diesem Sinne paradoxal gefasste existentielle Spurensuche in Eine Kirche der Angst (inklusive des Satellitenwerks Der Zwischenstand der Dinge) und Mea Culpa, mit der sich seine Rückschau auf sein Leben und seine Kunst mit seinen Reflexionen über den bevorstehenden Tod vermischten, führte auch das deutschsprachige Feuilleton aufgrund des Zusammenfalls von Faktualität und Fiktionalität offensichtlich an die Grenzen seiner Sprach- und Beurteilungs‐ möglichkeiten. Der Regisseur, der sein Leben zum Sujet seiner Inszenierungen machte, spaltete die Kritiker grosso modo in zwei Lager: aus der Sicht der Einen provozierten die Arbeiten Anteilnahme und sogar rituelles Gemeinschaftsge‐ fühl, aus der Sicht der Anderen geriet die Selbstdarstellung zu einer hypertro‐ phen Selbstentäußerung typisch Schlingensiefschen Zuschnitts. So liegt einer Vielzahl an Rezensionen das Lavieren zwischen ebenjenen Gegensätzen zu‐ grunde, die Schlingensief mit seinen Inszenierungen zum Stilprinzip erhob. Der widersprüchlichen Verquickung von Authentizitätseffekten und synkretisti‐ scher Ich-Übermalung, von Entblößung und Maskierung, von egomanischer Selbstinszenierung und der Konstruktion eines rituellen Wir-Gefühls sowie, nicht zuletzt, von Religion und Kunst kamen die Rezensenten verständlicher‐ weise nur durch eine rhetorische Wiederholung Schlingensiefscher Paradoxien bei. In der feuilletonistischen Betrachtung der „Krebs-Trilogie“ schob sich auf‐ grund der Zurschaustellung der Krankheit insgesamt allerdings tendenziell die Haltung der Pietät vor diejenige einer schonungslos kritischen Hinterfragung der Projekte. Die von Georg Seeßlen bereits in den 1990er Jahren angesprochene „mögliche Unübersetzbarkeit des Schlingensiefschen Arrangements in die klas‐ sische Form des Textes“ 122 hatte sich im Moment des bedrohlichen existentiellen Zustands des Regisseurs und Protagonisten bewahrheitet. Der Art und Weise, wie Schlingensief sein persönliches Leid und seine Angst vor dem Tod auf die Theaterbühne brachte, schien mit konventionellen normativen Bewertungskri‐ terien jedenfalls nicht mehr beizukommen zu sein. Über die Motive der Egozentrierung, Ritualisierung und Entblößung des Ichs und die Topoi des Bekenntnisses und der Beichte stellen die Rezensionen zu Eine Kirche der Angst, Der Zwischenstand der Dinge und Mea Culpa einen engen 1 Zu Christoph Schlingensiefs „Krebs-Trilogie“ 54 <?page no="55"?> Konnex zu Ausdrucksgesten der Autobiographie her. Der den Arbeiten in den Augen vieler Rezensenten zugrunde liegende autobiographische Inszenierungs‐ gestus, der im theaterwissenschaftlichen Jargon gemeinhin mit dem Begriff der Selbstinszenierung enggeführt wird, zeigt sich, fasst man die Argumente der Journalisten zusammen, im Versuch Schlingensiefs, die Zuschauer in der rück‐ schauenden Betrachtung seines Lebens seiner Person ansichtig werden zu lassen. Das Kernmotiv der Autobiographie seit ihren Anfängen, der Versuch einer Konstruktion von Identität, d. h. der Unteilbarkeit (lat. idem, derselbe) des Ichs, wird in Eine Kirche der Angst und Mea Culpa allerdings gleichermaßen inszeniert und torpediert: So verweist Schlingensief zwar in jedem Moment der Inszenierungen auf sein Selbst; gleichzeitig tut er dies jedoch mit den Mitteln einer bruchstückhaften Kunstsprache, die die Schichten seines Ichs in einem unentwegten Maskenspiel freilegt, um sie im nächsten Moment wieder zu ver‐ hüllen. Der Regisseur als Sujet seiner Inszenierungen entzieht sich dabei kon‐ sequent der Fixierung auf einen einzigen subjektiven Standpunkt und setzt durch die personale Multiplikation seines Ichs in zahlreiche Bühnenfiguren, durch mediale Verfremdungseffekte sowie den theatral inszenierten fremden Blick auf das eigene Schaffen, ein intrikates Wechselspiel zwischen seinen un‐ terschiedlichen Ich-Positionen in Gang. In zahlreichen Variationen von theat‐ raler und medialer Rede und Gegenrede lässt er diese miteinander kommuni‐ zieren, grundiert oder übermalt sie mit eigenem und fremdem künstlerischem Material und wird dadurch zur verkleideten Kunstfigur. Der dem poststruktu‐ ralistischen Denken zugrunde liegende Vorgang der Zerlegung, Umcodierung und Neukontextualisierung, den der philosophische Terminus der Dekonstruk‐ tion umschreibt, ist für Schlingensiefs montagiertes Gesamtkunstwerk seines Ichs ebenso konstitutiv wie der Wille, seine, wenn auch gebrochene, Identität in einem Zustand der Ekstase nach außen zu transportieren. Aufgrund dieses antinomischen Zusammenfalls von Konstruktion und Dekonstruktion des Ichs stellt die Gesamtheit seiner thanatographischen Inszenierungen zweifelsohne einen intermedialen Hypertext zur hybriden Textsorte der Autobiographie mit ihren im literaturwissenschaftlichen Diskurs problematisierten Techniken der ästhetisierten Selbstdarstellung dar. Schlingensiefs autobiotheatrale Hervor‐ bringungen setzen sich dabei keineswegs nur die Maske der Autobiographie auf, um diese zu parodieren, sondern folgen im Spiel der Selbstinszenierung bewusst den Wandlungen eines mit sich selbst nicht identischen Ichs. 1.4 Individuelle Mythologie 55 <?page no="56"?> 1 Vgl. dazu Volker Kapp: „Von der Autobiographie zum Tagebuch (Rousseau - Constant)“. In: Alois Hahn, Volker Kapp (Hrsg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis. Bekenntnis und Geständnis. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, 297-310. 2 Vgl. dazu Doris Kolesch: „Ästhetik der Präsenz: Theater-Stimmen“. In: Josef Früchtl, Jörg Zimmermann (Hrsg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, 261; Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979. 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 2.1 Autobiographische Wahrhaftigkeit 2.1.1 Die hermeneutische Perspektive Mit seinem, den Inszenierungen Eine Kirche der Angst und Mea Culpa aus‐ schnittweise zugrunde liegenden Krebstagebuch schreibt Schlingensief zu‐ nächst die Tradition des journal intime fort. Die Ende des 18. Jahrhunderts als Zeichen erwachender Innerlichkeit aufkommende diaristische Schreibpraxis stellt der synthetisierenden rückschauenden Betrachtung des Lebens im Genre der Autobiographie komplementär ein punktuelles Sezieren der Jetzt-Zeit des Ichs gegenüber. 1 Der Hermeneutiker Georg Misch grenzt das Tagebuch als Ana‐ lyse, mit der der Schreibende seine Gedanken täglich aufs Neue festhält, von der Autobiographie als Synthese ab, die das räsonierende Ich erst in der Rückschau auf sein Leben leistet. Im Sinne einer analytischen Durchdringung der verschie‐ denen Etappen des Krankheitsweges sprach Schlingensief seine alltäglichen Er‐ lebnisse während seines Krankenhausaufenthaltes zum Zweck der minutiösen Dokumentation seines Leidensweges auf Diktiergerät und trieb das Gebot der Diaristen, unmittelbares Zeugnis des gegenwärtigen Ich-Zustands zu geben, mit veränderten medialen Mitteln ins Extrem. Im Modus der radikalen Unmittel‐ barkeit des Sich-Selbst-Sprechen-Hörens, vermittelt durch die atopische Stimme, versicherte Schlingensief sich dabei seiner Selbstpräsenz. 2 Diese Be‐ teuerung des Selbst wurde erst nachträglich durch Transkription des Tonband‐ dokuments unter dem Titel So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein (2008) zu Papier gebracht. Im Erkenntnishorizont der poststrukturalistischen Rede von der Dezentrie‐ rung des Subjekts können freilich weder das Tagebuch noch die im Deutschen begrifflich erstmals Ende des 18. Jahrhunderts aufkommende Autobiographie <?page no="57"?> 3 Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart: Metzler 2005, 11. 4 Erich Kleinschmidt, „Autor und Autorschaft im Diskurs“. In: Thomas Bein u. a. (Hrsg.): Autor, Autorisation, Authentizität. Tübingen: Niemeyer 2004, 6. 5 Christoph Schlingensief: Ich weiß, ich war’s, hg. von Aino Laberenz. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2012, 11 6 Georg Misch: „Begriff und Ursprung der Autobiographie (1907/ 1949)“. In: Günter Niggl (Hrsg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darm‐ stadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, 38. 7 Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, 14. als jene faktisch verbürgte Ich-Dokumentation erscheinen, wie es ein im Bereich der populären Selbstbeschreibung geläufiges „ungebrochenes Ich-Bewusst‐ sein“ 3 nach wie vor suggeriert. Paradigmatisch verdichtet in Titeln wie Ich. Wie es wirklich war (Franz Beckenbauer) oder Nichts als die Wahrheit (Dieter Bohlen) vermitteln die Urheber von Autobiographien, die sich ironischerweise lediglich als Auftraggeber von „anekdotischen oder hagiographischen Trivialprojekti‐ onen“ 4 entpuppen, den Anschein, als würde darin ein unmittelbarer und un‐ verstellter Zugang zur dahinterliegenden Person eröffnet. Als sich seiner selbst vergewissernder Diarist wie als literarischer Autobiograph bediente sich Schlin‐ gensief der bekenntnishaften Rhetorik der Wahrhaftigkeit und befindet sich mithin auf einer Linie mit diesen selbstbeschreibenden Zeitgenossen bzw. deren Ghostwritern. Wie der Titel seiner 2012 erschienenen Autobiographie Ich weiß, ich war’s bereits suggeriert, untermauert sein literarisches Bekenntniswerk wei‐ testgehend jenes integrale Ich-Verständnis, das seine Witwe Aino Laberenz im Vorwort mit Nachdruck artikuliert. Christoph Schlingensief schrieb ein Buch, „das sich auf sein Leben richtet. Das sich auch an sein Leben richtet, wie es gewesen ist, wie er gewesen ist.“ 5 Die Begriffe Wahrheit und Wahrhaftigkeit, die der Autor Schlingensief in seinem unerschütterlichen Ich-Verständnis hypostasiert („Ich weiß, ich war’s“), verweisen ihrerseits zurück auf das Paradigma der hermeneutischen Autobio‐ graphieforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. So lautet die schlichte Defi‐ nition von Autobiographie durch Georg Misch, es handle sich um eine „Be‐ schreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto)“ 6 . In seinem Werk Der autobiographische Pakt (1973) liefert Philip Lejeune noch in den 1970er Jahren eine dazu kongruente Gattungsbestimmung: „Rück‐ blickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Ge‐ schichte ihrer Persönlichkeit legt.“ 7 Diese Festlegung des französischen Rezep‐ tionsästhetikers war dem Bemühen geschuldet, die literarische Selbstbeschrei‐ bung systematisch von ihren Nachbargattungen, der Biographie, den Memoiren, dem Ich-Roman und dem Tagebuch, abzugrenzen und beruht auf vier notwen‐ 2.1 Autobiographische Wahrhaftigkeit 57 <?page no="58"?> 8 Vgl. Wilhelm Dilthey: „Das Erleben und die Selbstbiographie (1927)“. In: Günter Niggl (Hrsg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darm‐ stadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, 21-32. 9 Ebd., 28. digen Kriterien: 1. einer retrospektiven Erzählposition, 2. der sprachlichen Form der Prosa, 3. der Identität von Autor, Erzähler und Hauptfigur und 4. der Be‐ handlung der individuellen Lebensgeschichte. Das taxonomische Modell Le‐ jeunes knüpft insofern an einen hermeneutischen Schriftbegriff an, als dass es auf der Überzeugung beruht, Leben und Selbst seien bereits gegeben und müssten im Akt des Schreibens lediglich aus der Erinnerung wieder hervorge‐ holt werden. Bereits Wilhelm Dilthey malt auf der Basis des hermeneutischen Denkan‐ satzes als geisteswissenschaftlicher Methode des Verstehens die rückschauende Betrachtung auf das eigene Leben als modellhafte Verkörperung der geschicht‐ lichen Erkenntnis aus. Im Umkreis der Lebensphilosophie um 1900 stellt Dilthey die Erkenntnisqualität subjektiven Erlebens der reinen Vernunfterkenntnis ent‐ gegen und erhebt mithin das individuelle Leben zum Ausgangspunkt geistes‐ wissenschaftlichen Verstehens. Um die strukturelle Distanz zwischen verste‐ hendem Subjekt und zu verstehendem Objekt zu verkürzen, etabliert die hermeneutische Methode ein Dispositiv, das den Vorgang des Verstehens in eine zirkuläre Struktur einbettet: Das Subjekt nähert sich dem Objekt, das sich ihm als Fremdes und Anderes zeigt, sukzessive an, indem es die Entwürfe und Ver‐ mutungen, die es über das Objekt anstellt, bei genauerer Betrachtung erweitert und korrigiert, um schließlich zu einem tieferen Verständnis des Gegenstandes zu gelangen. Obgleich mit dem hermeneutischen Paradigma des Sinnverstehens selbstredend kein Schlüssel zur Ermittlung letzter Gewissheiten bereitgestellt ist, so zeigt sich in ihm doch deutlich der Glaube an einen fortwährenden Prozess von subjektiver Sinnstiftung. An der von ihm so bezeichneten „Selbstbiographie“ 8 sieht Dilthey einen derart idealen Vorgang des Verstehens, der im Bild des hermeneutischen Zirkels das Einzelne über das Ganze und das Ganze wiederum über das Einzelne ansichtig machen soll, exemplarisch abgebildet. Die Autobiographie als schriftlich kom‐ ponierte Synthese von Etappen persönlichen Lebens und Erlebens stellt den Zusammenhang zwischen dem Ich und seinem Leben erst her und erscheint insofern als „die höchste und am meisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt“ 9 . Gerade der ab den 1960er Jahren im Zuge poststrukturalistischer Theoriebildung problematisierte Zusammenfall von Subjekt und Objekt in der Darstellung des eigenen Lebens gilt Dilthey noch als Garant von Wahrhaftigkeit. Derjenige, der seinen Lebenslauf verfasst - und das 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 58 <?page no="59"?> 10 Ebd., 29. 11 Vgl. dazu Jean Paul: „Selberlebensbeschreibung“. In: Ders.: Jean Paul. Sämtliche Werke, Bd. 6, hg. von Norbert Miller. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000, 1037-1103. 12 Dilthey: „Das Erleben und die Selbstbiographie“, 29. bedeutet hier, in umfassendem Sinne versteht - ist schließlich „identisch […] mit dem, der ihn hervorgebracht hat.“ 10 Die proklamierte Wesenseinheit zwi‐ schen dem im Schreibakt gegenwärtigen Darstellenden und dem in der Vergan‐ genheit zurückliegenden Dargestellten begründete ein Forschungsparadigma, das sowohl von der erkenntnistheoretischen Selbsttransparenz des Ichs ausgeht als auch von der Möglichkeit, dieses sprachlich unmittelbar zu transportieren. Das Leben des Ichs, das in den großen, von Jean Paul ironisch titulierten „Sel‐ berlebensbeschreibungen“ 11 von Augustinus über Rousseau bis hin zu Goethe zur Darstellung gelangt, folgt demnach nicht nur einer kontinuierlichen, teleo‐ logischen Entwicklungslogik, sondern lässt sich im Medium der Schrift als chro‐ nologische Entwicklung narrativ vermitteln. Die Bedingungen für Diltheys Auffassung von der Autobiographie als litera‐ rischer Mimesis an das gelebte Leben liegen freilich im unbedingten Vertrauen in die Intentionalität des Bewusstseins und in einer Vorstellung von Sprache als einem durchlässigen Medium. Das Subjekt wird sich selbst demnach in der er‐ innernden Tätigkeit ansichtig und kann sich durch Sprache unmittelbar ab‐ bilden. Seinem essentialistischen Denkansatz von der Vorgängigkeit des Seins verpflichtet, stiftet das selektive menschliche Bewusstsein für Dilthey im Laufe eines Lebens schlichtweg ebenjenen Zusammenhang, der in der retrospektiven Betrachtung beschrieben wird. Schließlich habe der Autobiograph […] in der Erinnerung die Momente seines Lebens, die er als bedeutsam erfuhr, he‐ rausgehoben und akzentuiert und die anderen in Vergessenheit sinken lassen. Die Täuschungen des Momentes über dessen Bedeutung hat dann die Zukunft ihm be‐ richtigt. So sind die nächsten Aufgaben für die Auffassung und Darstellung geschicht‐ lichen Zusammenhangs hier schon durch das Leben selber halb gelöst. Die Einheiten sind in den Konzeptionen von Erlebnissen gebildet, in denen Gegenwärtiges und Ver‐ gangenes durch eine gemeinsame Bedeutung zusammengehalten ist. Unter diesen Erlebnissen sind diejenigen, die für sich und den Zusammenhang des Lebens eine besondere Dignität haben, in der Erinnerung bewahrt und aus dem endlosen Fluß des Geschehenen und Vergessenen herausgehoben; und ein Zusammenhang ist im Leben selber gebildet worden, von verschiedenen Standorten desselben aus, in beständigen Verschiebungen. 12 2.1 Autobiographische Wahrhaftigkeit 59 <?page no="60"?> 13 Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, 24. 14 Misch: „Begriff und Ursprung der Autobiographie (1907/ 1949)“, 46. 15 Ebd., 38. 16 Vgl. dazu Johann Wolfgang von Goethe: „Die Metamorphose der Pflanzen“. In: Ders.: Goethe. Werke, Kommentare und Register. Hamburger Ausgabe in vierzehn Bänden, Bd. 1. München: dtv 1982, 199. Mit seiner Formulierung legt der Hermeneutiker nahe, dass die im Gedächtnis des Autors verbliebenen Erfahrungen seines Lebens, gerade weil sie im Ge‐ dächtnis blieben, für deren Bedeutsamkeit bürgen. Zugleich benennt der Philo‐ soph selbst nolens volens das erkenntnistheoretische wie darstellungsästhetische Paradox der sinnverstehenden Selbstbeobachtung. Das Begreifen des Zusam‐ menhangs des vergangenen Lebens ist zugleich ein Akt des gestaltenden Ein‐ greifens („Täuschungen des Momentes“). In den Augen der Literaturwissen‐ schaftlerin Martina Wagner-Egelhaaf liegt der hermeneutische Widerspruch folglich darin, „dass der reflektierende Blick auf das vergangene Leben dessen ursprünglichen Fluss, der erst dem Rückblick wahrnehmbar wird, in der glei‐ chen Bewegung immer schon unterbricht.“ 13 Damit ist ebenso auf den Kon‐ struktionscharakter von Erinnerung hingewiesen wie auf deren sprachliche Simulation, die seit den 1970er Jahren zunehmend in den Fokus autobiographi‐ scher Theorien gelangt. Georg Misch übernimmt das verklärende „hermeneutische“ Vertrauen seines Lehrers Dilthey in die Syntheseleistung der Sprache und mithin in die authen‐ tische (griech. authéntēs, derjenige, der selbst eine Tat vollbringt) Narration des Ichs, das die wesentlichen Einzelteile eines Lebens zu einer konsistenten Dar‐ stellung zusammenzufügen vermag. Ungeachtet der bereits zur Zeit Mischs auf‐ kommenden Ansätze im Feld der Sprachkritik und Psychoanalyse, die der In‐ tentionalität des Ichs die unkontrollierbare, dunkle Kraft des Unbewussten entgegenhalten, setzt er der Autobiographie als Modellfall hermeneutischen Verstehens ein wissenschaftliches Denkmal. In seinem, hinsichtlich der äußeren Dimensionen wie des enzyklopädischen Impetus als monumental zu bezeich‐ nenden, auf vier Bände hin angelegten Standardwerk über die Geschichte der Autobiographie (1907-69) räumt der Autor zwar ein, dass „Erinnerung nicht als mechanische Reproduktion vonstatten“ 14 gehe, hält allerdings mit seiner Funk‐ tionsbestimmung der Autobiographie, „das Beharrende im Wechsel zu er‐ fassen“ 15 , an der Vorstellung einer Einheit von darstellender und dargestellter Person fest. Zudem transferiert sein organologisches Verständnis von Identität Goethes idealistisch-esoterische Überlegungen zur „Urpflanze“ ins Feld der Au‐ tobiographieforschung. In der Urpflanze glaubte Goethe das Gesetz der man‐ nigfaltigen Gestalten der Pflanzenwelt erkannt zu haben. 16 Mischs idealty- 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 60 <?page no="61"?> 17 Misch: „Begriff und Ursprung der Autobiographie (1907/ 1949)“, 36. 18 Ebd., 43. 19 Ebd., 42. pischer Autobiograph will in diesem Sinne das Identische im Nicht-Identischen aufspüren und begibt sich somit auf die Suche nach seinem Charaktergesetz. Für den Dilthey-Schüler ist es der Autobiographie als „elementare, allgemein menschliche Form der Aussprache der Lebenserfahrung“ 17 vorbehalten, ein wahrhaftiges Bild des Selbst schriftlich zu entwerfen. Als Exegese des Unbe‐ wussten könne die literarische Selbstbeschreibung sogar noch dort, wo das Leben schweige, dasjenige, „was in dunklen Tiefen uns bewegt, zur Klarheit des Bewusstseins erheben.“ 18 Die autobiographische Tätigkeit entspricht mit Misch also dem Erkenntnisakt der Bewusstwerdung des Selbst: Als eine Äußerung des Wissens des Menschen von sich selbst hat die Autobiographie ihre Grundlage in dem ebenso fundamentalen wie rätselhaften psychologischen Phä‐ nomen, das wir Selbst-Bewußtsein nennen. Unser Leben verläuft nicht bloß in der Welt als ein naturhafter Vorgang, ein Ablauf von Handlungen, Gefühlen und Reakti‐ onen („vita motus perpetuus“), sondern wir führen unser Leben mit Bewußtsein, wobei Selbstbewußtsein und Weltbewußtsein gleich ursprünglich sind. Die Ge‐ schichte der Autobiographie ist in einem gewissen Sinne eine Geschichte des mensch‐ lichen Selbstbewußtseins. 19 Nach Goethes Dichtung und Wahrheit als einer der letzten idealistischen Auto‐ biographien setzt Mischs Geschichte der Autobiographie als Entwicklungsgang des menschlichen Selbstbewusstseins eine Zäsur. Den Praktiken der Selbstbe‐ schreibung des 19. Jahrhunderts widmet er lediglich einen kursorischen Über‐ blick, den Zeitraum des 20. Jahrhunderts spart er zur Gänze aus. Obgleich seine Theorie der Autobiographie für den selbstbeschreibenden Akt nach 1850 auf‐ grund der fundamentalen Erosion der idealistischen Subjektkonzeption ganz offensichtlich keine geeignete Analysefolie mehr aufzubieten vermochte, erfasst sie bei genauerer Betrachtung schon die drei großen autobiographischen Flucht‐ punkte der hermeneutischen Perspektive lediglich intentional-reduktiv. Jenseits eines emphatischen Ich-Verständnisses zeigen bereits Augustinus, Rousseau und Goethe in ihren Bekenntnisschriften auf die Leerstellen im Prozess der Er‐ innerung sowie auf den unhintergehbaren Synthesecharakter in der Vermitt‐ lung durch die Schrift und benennen so Motive, die für die Analyse von Schlin‐ gensiefs disparater Selbstthematisierung virulent bleiben. 2.1 Autobiographische Wahrhaftigkeit 61 <?page no="62"?> 20 Augustinus: Bekenntnisse. Confessiones. Frankfurt am Main u. a.: Verlag der Weltreli‐ gionen 2007, 10. 21 Ebd., 185. 22 Ebd. 23 Vgl. die Paraphrase: „Nicht in Schmausereien und Trinkgelagen, nicht in Schlafkammer und Unzucht, nicht in Zank und Neid, vielmehr ziehet an den Herrn Jesus Christus und pfleget nicht des Fleisches in seinen Lüsten.“ Ebd., 186. 24 Ebd. 2.1.2 Augustinus’ Confessiones In seinen die europäische Tradition der Autobiographie präformierenden Con‐ fessiones (um 400) formuliert der spätantike Philosoph Augustinus den Ge‐ danken, dass jeder Selbstbezug in der Hinwendung zum göttlichen Du zu ent‐ werfen sei. Die Lobpreisung Gottes, die seine Bekenntnisse eröffnet, führt dem Leser deutlich vor Augen, dass der Autor in Gott nicht nur den Adressaten seiner Anrufung gesehen hat, sondern auch die Bedingung der Möglichkeit allen Seins. Seine interrogative Apostrophe gründet die Konstitution des Ichs auf die gött‐ liche Macht: „der ich nicht wäre, wenn Du nicht wärest in mir? “ 20 Im Wissen um die göttliche Ubiquität verortet der Kirchenlehrer die Erkenntnis über sein menschliches Sein ausschließlich im Verhältnis zu Gott. Durch seine Entblößung vor Gott glaubt er zugleich, zu seinem eigenen Inneren vordringen zu können. Zahlreiche Passagen der insgesamt dreizehn Bücher umfassenden Bekenntnisse reflektieren diese Wechselbeziehung zwischen göttlicher Vorhersehung und in‐ dividueller Selbsterkenntnis. Im achten Buch inszeniert Augustinus eine Kommunikation mit Gott, um sein Ich fortan auf ein gesichertes Fundament stellen zu können. Im Dialog ereignet sich zugleich sein Bekehrungserlebnis, mit dem er ein Schuldbekenntnis über sein vergangenes Leben ablegt. Gottes Aufforderung, die vor ihm liegende Bibel „zu öffnen und die Stelle zu lesen, auf die [er] zuerst träfe“ 21 , wird Augustinus durch eine kindliche Stimme übermittelt, die ihn mit den Worten ruft: „‚Nimm es, lies es, nimm es, lies es! ’“ 22 . Der Autor ergreift die Bibel und sein Blick fällt auf eine Passage des Römerbriefs (Röm 13, 13-14), in der Paulus die Abkehr von Unzucht und Fleisch beschwört. 23 Nachdem Augustinus die Stelle aufmerksam gelesen hat, löst er sich von seinem bisherigen Leben und beendet die Lektüre mit den Worten: Weiter wollte ich nicht lesen, und weiter war es auch nicht nötig. Denn kaum war dieser Satz zu Ende, strömte mir Gewißheit als ein Licht ins kummervolle Herz, daß alle Nacht des Zweifelns hin und her verschwand. 24 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 62 <?page no="63"?> 25 Augustinus: De vera religione. Über die wahre Religion. Stuttgart: Reclam 1983, 125. 26 Stefan Goldmann: „Topos und Erinnerung. Rahmenbedingungen der Autobiographie“. In: Hans-Jürgen Schings (Hrsg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert [= DFG-Symposion 1992]. Stuttgart u. a.: Metzler 1994, 660. Mit der literarischen Darstellung seiner Bekehrung, die das göttliche Erscheinen als ein ins Dunkel fallendes Licht chiffriert, dokumentiert Augustinus sein exis‐ tentielles liminales Moment, durch dessen Erfahrung er den irdischen Genüssen vollends entsagt, um das einzige Erotikum fortan in der Hinwendung zu Gott zu suchen. Ein Prozess des Zweifelns geht der in der Begegnung mit Gott erlangten Ge‐ wissheit über das Ich voraus. Noch in seiner Frühschrift De vera religione (390) schreibt der spätere Bischof: Jeder […], der daran zweifelt, ob es eine Wahrheit gibt, hat in sich selbst etwas Wahres, woran er nicht zweifelt. Da nun alles Wahre nur durch die Wahrheit wahr ist, kann niemand an der Wahrheit zweifeln, der überhaupt zweifeln kann. 25 Augustinus’ Absicherung des Ichs im Akt des Zweifelns wird Descartes mehrere hundert Jahre später in den methodischen antiskeptischen Zweifel umwandeln. Zwischen dem Augustinischen si enim fallor, sum („wenn ich auch irre, so bin ich“) und Descartes’ cogito ergo sum erfährt die existentielle Ungewissheit eine entscheidende erkenntnistheoretische Transformation: Während das Zweifeln für Augustinus am Beginn des Wegs zur Selbsterkenntnis durch Gott steht, vollzieht das Ich bei Descartes nicht mehr den Akt der Unterwerfung, sondern fasst sein Denken an sich als den unerschütterlichen Ausgangspunkt jeglicher Erkenntnis auf. Augustinus’ Bekenntniswerk kündet noch von der Bindung des Ichs zum göttlichen Du. So lässt der Autor sein Leben im autobiographischen Rückblick klimatisch auf seine Bekehrung durch Gott zulaufen. In den der Schilderung der Konversion als Zielpunkt des erzählten Lebens vorangehenden Büchern sucht das Ich jenen sicheren Grund, den ihm das Verhältnis zu Gott schließlich liefern wird. Den Weg des Zweifelns stellt der Autor mithilfe mnemotechnischer loci communes dar, die spätestens in Rousseaus Bekenntnisschrift zu Topoi auto‐ biographischen Erzählens gefrieren sollten. Die „lektoriale Selbsterinnerung“ 26 an den von Rückschlägen gezeichneten Bildungsweg fokussiert die als Schwel‐ lensituationen gefassten Momente der Geburt, der Erziehung, der Tugenden und Laster. Der auf diese Weise strukturierte Lebenslauf bereitet das Bekehrungs‐ erlebnis mit geradezu kausaler Notwendigkeit vor. Erst mit dieser Wandlung des Augustinus hat sich diejenige Persönlichkeit, die nach dem Prinzip von Ur‐ 2.1 Autobiographische Wahrhaftigkeit 63 <?page no="64"?> 27 Augustinus: Bekenntnisse, 221. 28 Ebd., 223. 29 Ebd., 279. sache und Wirkung Rechenschaft über ihr vergangenes Leben ablegt, vollends entfaltet. Im Anschluss an den im achten Buch auf der Grundlage zahlreicher biblischer Intertexte zu Ende gegangenen Weg der Bekehrung, mit dem der Bischof von Hippo die christlich-katholische Beichtpraxis in eine autobiographische Praxis verwandelte, schlägt sein Werk in den Lobpreis Gottes (neuntes Buch) und schließlich in eine Reflexion über Gedächtnis, Erinnerung und Zeit um. Der Endpunkt der persönlichen Entwicklungsgeschichte bewirkt eine Zäsur in der Erzählhaltung. So tritt der narrative Gestus der Erzählung ab dem zehnten Buch hinter den der philosophischen Meditation zurück. Als Ausdruck eines drama‐ turgisch ausgefeilten Konstruktionsprinzips enthält die Schrift im Anschluss an das Bekehrungserlebnis nur mehr Metareflexionen zum Problem der Zeit, über die Beziehung zu Gott sowie zum Verhältnis von Gedächtnis und Erinnerung. Obwohl sich Augustinus als Autobiograph des topographischen Gedächtnis‐ modells der rhetorischen Memoria-Lehre bedient und glaubt, die „weiten Hallen des Gedächtnisses“ 27 in der schreibenden Erinnerung durchschreiten, um sich auf diese Weise selbst begegnen zu können, so gelangt er dennoch zu der Auf‐ fassung, dass das Gedächtnis letztlich grenzenlos und unfassbar sei. Dem vom Vergangenheitsforscher Augustinus ausgerufenen „gleichwohl fasse ich selber nicht ganz, was ich bin“ 28 ist die Gewissheit über die Unzugänglichkeit der ei‐ genen Geschichte bereits eingeschrieben. Seine metareflexiven Kommentare in den Confessiones zeugen von einem tieferen Bewusstsein dafür, dass das Ge‐ dächtnis lediglich Abbilder, nicht aber Erinnerungen selbst zu speichern vermag. Mit seiner Überzeugung, dass die zeitliche Lücke zwischen dem in der Vergan‐ genheit Erinnerten und dem gegenwärtigen Akt des Erinnerns nicht zu schließen sei, bringt Augustinus avant la lettre die Idee der „Erinnerungsspur“ ins Spiel, die zum konstitutiven Bestandteil von Freuds Architektur des mensch‐ lichen Bewusstseins werden sollte: Erinnerung erfasse letztlich, so Augustinus, „nur Worte, geschöpft aus Bildern, die im Geiste, als sie durch unsere Sinne hindurchzogen, gleichsam Spuren eingedrückt haben.“ 29 Der raumgreifenden Behandlung der Erinnerung im zehnten Buch der Con‐ fessiones stehen folglich Reflexionen über das Vergessen gegenüber. Memoria und oblivia gehen darin in eine unauflösbar wechselseitige Struktur, eine Mö‐ biusschleife (bei der Innen und Außen zusammenfallen) ein, die für Schlingen‐ siefs Ästhetik der Übermalung geradezu grundlegend ist. Wie Schlingensief, so 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 64 <?page no="65"?> 30 Ebd., 230 f. Vgl. dazu Anselm Haverkamp: „Hermeneutischer Prospekt“. In: Ders., Renate Lachmann (Hrsg.): Memoria. Vergessen und Erinnern. München: Fink 1993, IX-XVI. 31 Misch: „Begriff und Ursprung der Autobiographie (1907/ 1949)“, 38. 32 Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, 18. 33 Jean-Jacques Rousseau: Die Bekenntnisse. Die Träumereien des einsamen Spaziergän‐ gers. München: Winkler 1978, 9. begreift bereits Augustinus das Vergessen eines Erlebnisses als Voraussetzung dafür, dass dieses in der Erinnerung als Bild wiederkehren kann: So ist es [das Vergessen] da, daß wir es nicht vergessen; indem es da ist, vergessen wir. Oder läßt sich hieraus erkennen, daß es nicht selber, wenn wir seiner uns erinnern, im Gedächtnis ist, sondern nur sein Bild? Denn wäre es an sich selbst dort gegen‐ wärtig, so wäre doch die Folge, daß wir vergäßen, nicht daß wir uns erinnerten. 30 Dementsprechend erfasst schon der Autobiograph Augustinus, der durch sein Vergessen die Bilder der Erinnerung produziert, nicht „das Beharrende im Wechsel“ 31 , wie der Hermeneutiker Georg Misch glaubte, sondern ist vielmehr der Konstrukteur einer Lebensgeschichte, die „Gegebenes und Hinzugedachtes in eine Beziehung“ 32 bringt. So klingt die Kategorie des Imaginären, die in Wol‐ fang Isers Konzept der Leerstellen zwischen der dualen Trennung von Fiktion und Wirklichkeit das tertium comparationis besetzt, bereits in den Augustini‐ schen Imagines der Vergangenheit an. 2.1.3 Jean-Jacques Rousseaus Confessions Der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau rekurriert mit seinen posthum veröffentlichten Confessions (1782/ 1789) expressis verbis auf den Hypotext des Augustinus und schreibt den vom spätantiken Autor etablierten autobiographi‐ schen Beichttopos zu einer Entblößung des Selbst vor den Augen der Öffent‐ lichkeit um. Um den Enthüllungsgestus seiner Bekenntnisschrift zu unter‐ mauern, exponiert Rousseau einen intertextuellen Verweis auf den 2. Brief an die Korinther. Im biblischen Text spricht der Apostel Paulus die Korinther mit der Gewissheit an, dass sie „ein Brief Christi“ seien, „geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht in steinerne Tafeln, sondern in fleischerne Tafeln des Herzens“ (2. Kor. 3, 3). Ob in Kenntnis oder Unkenntnis der Apostrophe des Paulus an die Menschen als göttliche Herzensschrift war Rousseaus autobiographisches Projekt ebenso dazu angetan, die Inskription seines Herzens offenzulegen. „Ich allein. Ich lese in meinem Herzen“ 33 , lautet Rousseaus Versprechen an den Leser, das mit einem unbedingten Wahrhaftig‐ keitsanspruch an seine autobiographische Darstellung einhergeht. Der verfüh‐ 2.1 Autobiographische Wahrhaftigkeit 65 <?page no="66"?> 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Ebd., 645. 37 Ebd., 9. rerische Topos des entblößten Herzens regte noch die ironisch gebrochenen Offenbarungsgesten Edgar Allan Poes und Charles Baudelaires an, bis sich diese Ende des 20. Jahrhunderts zu massenmedialen Imperativen entwickelt hatten, die Schlingensief schließlich mit widersprüchlichen Implikationen auf die The‐ aterbühne transferierte. Mit seiner Versicherung, „das Gute und das Böse mit dem gleichen Freimut erzählt […], nichts Schlimmes verschwiegen, nichts Gutes hinzugefügt“ 34 zu haben, bietet Rousseau dem Leser an, in seinem unverstellten Ich wie in einem offenen Buch zu lesen. Seine emphatische Reklamation von Natürlichkeit, Wahrhaftigkeit und Authentizität im Vorwort baut er rhetorisch als Klimax von Handeln und Denken zu einem inklusiven Seinsbegriff auf: „‚Sieh, so handelte ich, so dachte ich, so war ich! ‘“ 35 Die offensive Geste des Sich-Zeigens setzt er strategisch ein, um den Adressaten seiner Schrift die Möglichkeit einer Inter‐ pretation gänzlich zu entziehen. Hierin Augustinus ähnlich, lässt der Autor, dem sich sein Selbst allerdings nicht mehr im Zwiegespräch mit Gott offenbart, keinen Zweifel an der Autorität seines Wortes. Am Ende seiner Bekenntnisse warnt er den apostrophierten Leser im Duktus exekutiver Überwachung gar vor einer Skepsis gegenüber der Wahrhaftigkeit des Beschriebenen: „Ich habe die Wahrheit gesagt. Wenn jemand etwas weiß, was dem eben Erzählten wider‐ spricht, und wäre es tausendmal bewiesen, so weiß er nur Lug und Trug.“ 36 Trotz seines selbstauferlegten Diktats der Wahrheit, das die persönlichen Verfeh‐ lungen und charakterlichen Defizite nachgerade betont, muss Rousseau dem Leser dennoch bekennen, dass er bisweilen mit poetischer Erfindungsgabe die Leerstellen in seiner Erinnerung schließen musste: „wenn es mir manchmal be‐ gegnete, daß ich einen bedeutungslosen Zierrat verwandte, so geschah es nur, um eine Lücke zu füllen, die mir mangelnde Erinnerung verursachte.“ 37 Hinter diesem Eingeständnis verbirgt sich Rousseaus Reflexion der Medialität von Schrift, die das gelebte Leben in einem Akt der Konstruktion rückwirkend entwirft. Im Rahmen seines autobiographischen Großprojektes musste sich der Autor darüber bewusst werden, dass sich das Subjekt seiner eigenen Mediati‐ sierung grundlegend widersetzt, da es dem Ich letztlich versagt bleibt, sich gleichsam von außen und mit Distanz objektiv zu betrachten. Im Bewusstsein über die existierende „Spannung zwischen der Angst vor dem Selbstverlust und 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 66 <?page no="67"?> 38 Peter Bürger: Das Verschwinden des Subjekts. Eine Geschichte der Subjektivität von Mon‐ taigne bis Barthes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, 98. 39 Ebd., 99. 40 Im französischen Original: „Voici le seul portrait d’homme, peint exactement d’après nature et dans toute sa vérité“. Jean-Jacques Rousseau: „Les Confessions de J. J. Rous‐ seau“. In: Ders.: Oeuvres complètes, Bd. 1, hg. von Bernard Gagnebin und Marcel Ray‐ mond. Paris: Gallimard 1959, 3. 41 Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, 166. der Unerschütterlichkeit der Selbstgewissheit“ 38 formuliert Rousseau unweiger‐ lich einen Subjektbegriff, der aus der Sicht Peter Bürgers „erstmals das moderne Ich in seiner Widersprüchlichkeit zu Darstellung“ 39 bringt. Entgegen des im Vorwort der Confessions artikulierten ehrgeizigen Pro‐ gramms, zwischen seinem subjektiven und einem allgemein anthropologischen Erkenntnisinteresse zu vermitteln, nämlich „das einzige Bild eines Menschen, genau nach der Natur und in seiner ganzen Wahrheit“ 40 gemalt zu haben, for‐ miert sich im Autor die Gewissheit, dass die mit Nachdruck reklamierte Einzig‐ artigkeit seiner selbst durch das Medium der Schrift nicht einzuholen ist. Mar‐ tina Wagner-Egelhaaf sieht in diesem fragilen Verhältnis von Wahrhaftigkeit und sprachlicher Repräsentation die eigentliche Problematik des Rousseauschen Unternehmens: Die repräsentierende Sprache, so virtuos er sie handhabt, ist seinem eigenen Bekunden nach nicht in der Lage, die verwirrende Komplexität seiner Gefühle darzustellen, gleichwohl ist es aber nur diese so unzureichende Sprache, die von der Existenz seiner inneren Gefühlswelt überhaupt Kunde zu geben vermag. So kreist Rousseaus Schrift um jenen immer entzogenen Punkt, an dem Außen- und Innenwahrnehmung, Re‐ präsentation und Repräsentiertes idealiter zusammenfallen könnten. 41 An der technischen Unmöglichkeit, das Herz („jenen immer entzogenen Punkt“), als der emphatisch aufgeladene Vorstellungskomplex von Rousseaus Innerlich‐ keit, über die Sprache nach außen zu transportieren, zeigt sich das grundlegende Dilemma jedes autothematischen Kunstwerks. Weil es auf die Wirklichkeit ver‐ weisen soll, muss es sich selbst zwingend in ein referentielles Verhältnis zur ihr setzen. Da es das Leben allerdings naturgemäß sprachlich nicht fassen kann, kommt das autobiographische Werk seiner aus hermeneutischer Sicht essen‐ tiellen Bestimmung niemals nach. Rousseau ist der erste Autobiograph der abendländischen Kulturgeschichte, der an der sprachlichen Undarstellbarkeit seiner Identität scheitert. Aufgrund der unüberwindbaren medialen Differenz der Schrift gerät sein Versuch, sich selbst als idealtypisches Unikum darzu‐ stellen, zu einem regelrecht quälenden Verpassen seines Selbst. Die verschrift‐ lichte Repräsentation seines Lebens führt ihm die Grenzen der eigenen Sprach‐ 2.1 Autobiographische Wahrhaftigkeit 67 <?page no="68"?> 42 „Ich blicke in die Selbstbiographien, welche der direkteste Ausdruck der Besinnung über das Leben sind. Augustin, Rousseau, Goethe zeigen ihre typischen Geschichtlichen Formen“. Dilthey: „Das Erleben und die Selbstbiographie“, 26. 43 Horst Oppel: „Vom Wesen der Autobiographie“: In: Helicon. Revue internationale des problèmes généraux de la littérature, 4 (1942), 53. 44 Johann Wolfgang von Goethe: „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“. In: Ders.: Goethes Werke in zehn Bänden, Bd. 8. Zürich: Artemis 1962, 13. 45 Bereits der Titel seines Beitrags gibt Aufschluss über die Verortung der Selbstbiographie im Bereich des historischen Wissens. Vgl. Werner Mahrholz: „Der Wert der Selbstbio‐ graphie als geschichtliche Quelle (1919)“. In: Günter Niggl (Hrsg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buch‐ gesellschaft 1989, 72. fähigkeit und mithin jene Nicht-Identität in der Doppelposition des Betrachters und des Betrachteten vor Augen, die Schlingensiefs Autobiotheatralität schließ‐ lich zum Ich-Darstellungsdispositiv nobilitieren wird. „Ich kann mich nicht be‐ greifen“, lautet die Erkenntnis, die Schlingensief im Fluxus-Oratorium vorbringt und damit sein ästhetisches Bekenntnis der geschichteten Selbstkonstruktion existentiell untermauert. 2.1.4 Johann Wolfgang von Goethes Dichtung und Wahrheit Mit seinem autobiographischen Werk Dichtung und Wahrheit (1811-1833) kom‐ plettiert Goethe das von Dilthey aufgezeigte autobiographische Dreigestirn. 42 Im Unterschied zu Rousseau war Goethe nicht die Kompensation seiner Ver‐ kennung durch seine Mitmenschen Anlass einer Selbstverschriftlichung, son‐ dern vielmehr der Wunsch, eine künstlerische Bilanz seines Lebens zu ziehen. So ist Dichtung und Wahrheit aus der an die Adressaten gerichteten Hoffnung heraus entstanden, „in der Person des Dichters Mensch und Werk als eine innere Einheit wahrhaft ernst zu nehmen“ 43 . Gleichzeitig sollte Goethes Autobiogra‐ phie dem Leser Erkenntnisse über die Zeit seines Lebens vermitteln. Sein im Vorwort dargelegtes Ansinnen zielt auf nichts Geringeres als die Abbildung seines Ichs als Spiegel und Ausdruck der Zeit, nämlich […] den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter und Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. 44 Indes löst das Werk trotz seines Memoiren-Gestus das von Werner Mahrholz formulierte Desiderat einer Autobiographie, die über die sozialgeschichtliche Kontextualisierung des Ichs das „Zeugnis der Lebensstimmung einer Zeit“ 45 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 68 <?page no="69"?> 46 Dilthey: „Das Erleben und die Selbstbiographie“, 28. 47 Goethe: „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“, 13. 48 Vgl.: Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, 648: „Es sind lauter Re‐ sultate meines Lebens […] und die erzählten einzelnen Fakta dienen bloß, um eine all‐ gemeine Beobachtung, eine höhere Wahrheit, zu bestätigen.“ ablegt, nur bedingt ein. Grund dafür ist in erster Linie die auktorial vollzogene subjektive Transformation der historischen Ereignisse. Auch Diltheys Bewun‐ derung für den greisen Goethe, dem im literarischen Rückblick „jeder Moment seiner Existenz in doppeltem Sinne bedeutend [ist]: als genossene Lebensfülle und als in den Zusammenhang seines Lebens hineinwirkende Kraft“ 46 , gründet unzureichend auf der Auffassung, der Autor habe Geschichte gegenwärtig an‐ schaulich gemacht und die kontinuierliche Entwicklung seines Lebens darge‐ stellt. Die Perspektive Diltheys, der Dichtung und Wahrheit als Musterbeispiel hermeneutischer Selbstlektüre ausgewiesen hat, unterschlägt das von Goethe selbst angesprochene Dilemma seiner literarischen Unternehmung. Zugleich mit dem Memoiren-Charakter seiner Autobiographie fordert der Autor, wie er selbst erkennt, „Unmögliches“ von sich, nämlich, dass er „sich und sein Jahr‐ hundert kenne, sich, inwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben“ 47 ist. In Konsequenz dieser Einsicht in die Unkenntnis seiner selbst verfasst Goethe seine Autobiographie schlechterdings als Roman, der die Zeitumstände für die Darstellung seiner künstlerischen Ich-Werdung funktionalisiert und sein künst‐ lerisches Schaffen im Gegenzug als Manifest seines Entwicklungsweges ent‐ wirft. Dichtung und Wahrheit inszeniert ein Ich als alles überblickenden Be‐ obachter, der durch den Blick auf die historischen Gegebenheiten seiner Zeit zu einer umfassenden Reflexion über sein Leben gelangt. Die beiden Sphären der Dichtung und der Wahrheit sind im Werk insofern wechselseitig aufeinander bezogen, als dass die Dichtung als Abstraktion des Gewesenen die Wahrheit hervorbringt, die Wirklichkeit umgekehrt allerdings - Goethes Selbstver‐ ständnis als Schriftsteller entsprechend - lediglich als Dichtung, als „höhere Wahrheit“ 48 zum Ausdruck gebracht werden kann. Im Unterschied zu Rousseau tritt Goethe mit einem dezidiert poetischen Anspruch an die Gattung der Au‐ tobiographie heran. Die dichterische Selbststilisierung des Autors, die das Leben in den Rang des Profanen herabsetzt, um ihm durch den dichterischen Schreibakt erst zu seinem eigentlichen Recht zu verhelfen, regte nicht lediglich eine Reihe an parodistischen Hypertexten an, die etwa von Jean Pauls Selberle‐ bensbeschreibung (1826, posthum) bis hin zu Thomas Manns Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull (1954) reichen, sondern stellt überdies den unfreiwil‐ ligen Fluchtpunkt der erst im Laufe des 20. Jahrhunderts theoretisch fundierten 2.1 Autobiographische Wahrhaftigkeit 69 <?page no="70"?> 49 Carl Einstein: „Nekrolog 1832-1932“. In: Ders.: Gesammelte Werke. Wiesbaden: Limes 1962, 147. 50 Ebd., 143 f. 51 Ebd., 148. literarischen Selbstbeschreibungsstrategie der Autofiktion dar. Das poetologi‐ sche Konzept geht dabei selbstredend entschieden über Goethes romaneske Sti‐ lisierung des Ichs hinaus, indem es die fiktionale Konstitution des erschriebenen Subjekts, das keinen Ort außerhalb seiner textuellen Manifestation besetzt, selbstbewusst zur Disposition stellt. Mit Serge Doubrovskys Autofiktion und Alain Robbe-Grillets Programm der Nouvelle Autobiographie gelangt das auto‐ biographietheoretisch problematische Verhältnis von Referenzialität und Fikti‐ onalität in das Zentrum der autothematischen Schreibpraxis. Die Einheit des autobiographischen Ichs wird erzähltechnisch in die Mehrzahl von verschie‐ denen Sprecherpositionen aufgelöst und findet in Schlingensiefs letzten Insze‐ nierungen schließlich seinen intermedialen Echoraum. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts deklariert der Schriftsteller Carl Ein‐ stein mit Blick auf Goethes Dichtung und Wahrheit die autobiographische Selbst‐ lektüre zur „Halluzinatorik“. Einstein blieb nicht verborgen, dass Goethe, gerade indem er auf seine dichterische Fähigkeit zur Wahrhaftigkeit vertraute, an einem emphatischen Ich-Bekenntnis festgehalten hatte. In seinem Nekrolog 1832-1932 polemisiert er gegen den dichterischen Autobiographen, dem bei allem Be‐ kenntnis zur Fiktion offensichtlich nicht bewusst gewesen ist, „daß das Denken in Wirklichkeit ein Auflösen der Erkenntnis“ 49 bedeutet und „daß alle Kontinu‐ ität aus Angst vor dem Tode fabriziert wird.“ 50 Besessen von seiner Eigenliebe, so Einstein, trachtete Goethe letztlich danach, seine Person in Dichtung und Wahrheit zu konservieren und hat dabei übersehen, daß das Ich in der Tätigkeit untertaucht und vergessen wird, daß wir nur soweit han‐ deln, als das Ich zerstört wird. Denn das Ich ist nichts weiter als eine nachträgliche Rückschau; alles Tun ist ekstatisch und kann nur durch Zerstörung des Ichs ein‐ treten. 51 Einsteins Verdikt gegen die autobiographische Überheblichkeit Goethes kommen die darstellungstechnischen Zweifel des Autors selbst entgegen, die er in seiner captatio benevolentiae an die Leser zum Ausdruck bringt. Wie Goethe, der sein Ich (nur) dichterisch zum Leben erweckt, so waren sich auch Rousseau und bereits Augustinus über die Insuffizienz ihrer Mittel zur Darstellung von Wahrhaftigkeit bewusst: Augustinus über die Vergeblichkeit, sich selbst in rückschauender Erinnerung ansichtig zu werden; Rousseau über die mangelhafte Darstellungskraft seiner Sprache, die dem Ich in seiner Wider‐ 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 70 <?page no="71"?> 52 Friedrich Schlegel: „Athenäums-Fragment 196“. In: Ders.: Kritische Fried‐ rich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801), hg. von Ernst Behler. München u. a.: Ferdinand Schöningh 1967, 196. 53 Ebd. 54 Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, 137. 55 Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahr‐ hundert. München u.a.: Hanser 1986, 14. 56 Roland Barthes: Die helle Kammer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, 87. sprüchlichkeit nicht gerecht werden kann. Die prominenten Autobiographen der europäischen Kulturgeschichte bis hin zu Goethe treten, obwohl sie einen transparenten Zugang zum Ich herstellen wollten, somit mehr oder weniger explizit als „Autopseusten“ 52 (griech. pseustes, Lügner) auf. Friedrich Schlegel kreierte diesen Neologismus für jene aus seiner Sicht merkwürdige Spezies an Schriftstellern, die im Versuch, literarisch Zeugnis über ihr Leben abzulegen und rhetorisch ihre Identität zu befestigen, da sie „sich selbst nicht ohne Erläute‐ rungen aus der Welt gehen lassen können“ 53 , doch nur Konstruktionen ihrer selbst formen. So erscheint Autobiographie seit ihren Anfängen als „verhüllendes Ent‐ schleiern“ 54 der Diskrepanzen im schreibenden Ich. Der vergebliche und doch existentielle Anspruch der Selbstmodellierer von Augustinus bis Goethe liegt in der Rückbindung des Schreibenden an das Beschriebene, mit der die von Ein‐ stein erwähnte, notwendige „Zerstörung des Ichs“ gerade kaschiert wird. Schlin‐ gensief prolongierte diesen Diskurs des sprachlichen Aufschubs von Präsenz zugunsten einer Simulation des transparenten Ichs mit seinen literarischen Selbstzeugnissen, dem Intimität suggerierenden Krebstagebuch, der posthum erschienenen Autobiographie Ich weiß, ich war’s, seinen zahlreichen Beiträgen in Blogs und Printmedien, im Zeichen „eines Flehens um Ewigkeit“ 55 . Aus all diesen Texten spricht ein Autor, der sich selbst dort noch emphatisch zu seiner Identität bekennt, wo er seine Einzigartigkeit im Scheitern seiner stabilen Iden‐ tität verortet und - im Geiste Rousseaus - die öffentliche Verkennung seiner Person beklagt. So unterliegt seine Autobiographie ebenso wie sein zu Lebzeiten avisiertes und nach seinem Tod von seiner Lebensgefährtin weiter vorangetrie‐ benes Projekt zur Erbauung eines „Operndorfes“ in Burkina Faso letztlich dem unbedingten Willen, ein Vermächtnis zu stiften, durch das die Gesellschaft der Post-Mortem-Identität des Künstlers in der noematischen Struktur des „Es-ist-so-gewesen“ 56 ansichtig werden kann. Da sie sich nicht an die chronologische Vermittlung von Lebensabschnitten (von der Geburt bis hin zum Tod) hält, sondern die Knotenpunkte des Lebens anhand wiederkehrender Motivstrukturen aufreiht, täuscht Schlingensiefs au‐ tobiographische Vermittlung des Lebens auf den ersten Blick darüber hinweg, 2.1 Autobiographische Wahrhaftigkeit 71 <?page no="72"?> 57 Schlingensief: Ich weiß, ich war’s, 14. 58 Ebd. dass sie von der Inszenierung jenes integralen Ich-Bildes lebt, an dem schon Augustinus, Rousseau und Goethe scheiterten. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich durchaus, dass der Autobiograph Schlingensief lediglich ein anderes Ord‐ nungsschema wählt, um das „Beharrende im Wechsel“ seines Lebens schriftlich zu erfassen. Die topologisch orientierte Rückschau auf sein Leben zeichnet Ver‐ bindungslinien zwischen zentralen künstlerischen Etappen und der Entwick‐ lung seiner Person nach, konstruiert mithilfe autobiographischer loci com‐ munes - von der Genese seiner Künstlerexistenz über die Verkennung durch die Umwelt bis hin zu persönlichen und künstlerischen Defiziten und Bekehrungs‐ erlebnissen - ein wechselseitiges mythologisches Verhältnis zwischen Künstler und Person. Schlingensiefs Witwe Aino Laberenz zementiert diesen Anspruch auf Selbst‐ legitimation, um erneut darauf zurück zu kommen, nachträglich in das Vorwort seiner Autobiographie. Sie erklärt darin, Schlingensief „ohne große Eingriffe zu Wort kommen zu lassen, ihn selbst seine Gedanken gewichten zu lassen“ 57 , gibt, in Radikalisierung von Schlingensiefs Grundsatz der Selbsthaftbarkeit, sogar ein kompliziertes Lektüreversprechen, das mit demjenigen Rousseaus vergleichbar ist. So könne der Leser sicher sein, „dass Christoph sich dem Bekenntnis ‚Ich weiß, ich war’s‘ verpflichtet fühlte.“ 58 Demgegenüber nobilitiert Schlingensief die Sezession des Ichs in unter‐ schiedliche Sprecherpositionen in den theatral-medialen Collagen Eine Kirche der Angst und Mea Culpa schließlich zum grundlegenden Darstellungsprinzip seiner Autobiotheatralität. Trotz der offensichtlichen darstellungsästhetischen Diskrepanz zwischen Schlingensiefs hermetischer literarischer Ich-Mythologie und der multifokalen theatralen Rekapitulation seines Lebens bleibt auch diese auf die von Augustinus bis Goethe konstitutive konzentrische Kraft der epime‐ leia heautou bezogen: so ist die Selbstsorge der Motor seines autobiotheatralen Unterfangens. Die große Metaerzählung der Sorge um sich selbst kreuzt sich bereits in der Antike mit dem delphischen Imperativ „Erkenne dich selbst! “ (gnothi seauton), der dem Subjektdenken seit Descartes und seinem literarischen Modellfall der Autobiographie zentrale Impulse liefert. In dem von Michel Fou‐ cault ermittelten kleinsten gemeinsamen Nenner dieser antiken Aufforde‐ rungen an das Subjekt, die dem Ich entgegen seiner sprachlichen Zuschreibung als Unterworfenes (lat. subiectum, Untergeordnetes) die Funktion einbrennen, „Herrscher über sich selbst zu sein, sich selbst vollkommen in der Gewalt zu 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 72 <?page no="73"?> 59 Michel Foucault: „Die Hermeneutik des Subjekts“. In: Ders.: Schriften in vier Bänden [Dits et Ecrits, 1980-1988], Bd. IV, hg. von Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, 428. 60 Georg Seeßlen: „Mein idealer Künstler zurzeit“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. März 2010. 61 „[E]s gibt irgendeinen sehr mächtigen, sehr schlauen Betrüger, der mit Absicht mich immer täuscht. Zweifellos bin also auch Ich, wenn er mich täuscht; mag er mich nun täuschen, soviel er kann, so wird er doch nie bewirken können, daß ich nicht sei, solange ich denke, ich seit etwas.“ René Descartes: Meditationes de Prima Philosophia. Meditati‐ onen über die Erste Philosophie. Lateinisch/ Deutsch. Stuttgart: Reclam 1986, 79. 62 Vgl. Horkheimer, Adorno: „Dialektik der Aufklärung“, 19 ff.; Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, 68 f. haben“ 59 , ist die Widersprüchlichkeit von Schlingensiefs letzten Inszenierungen eingeschlossen. Obwohl sich Schlingensiefs theatral-mediale Selbstbehauptung phänomenal betrachtet ausschließlich als Dekonstruktion des Ichs zu erkennen gibt, bleibt sie der Selbstsorge als dem Fundament seiner Identität in höchstem Maße verpflichtet. „Die Dinge sagen ICH in den Arbeiten von Christoph Schlin‐ gensief “, schreibt Georg Seeßlen. Sie tun dies allerdings nicht, wie der Filmkri‐ tiker meint, als „Anarchisten in eigener Sache“ 60 , sondern nach dem Willen ihres Schöpfers: durch alle seine medialen Masken hindurch sagt Schlingensief „ich“. 2.2 Exkurs zum Denken des Subjekts - Von der Selbsterkenntnis zur Selbstverkennung Die Aufforderung, sich selbst zu erkennen, bildet die Basis für die Subjektphi‐ losophie seit René Descartes. Als erster neuzeitlicher Philosoph verlagert er die Frage nach der Bestimmung des Subjekts radikal auf jene nach dessen Selbst‐ verhältnis. Im Modus der Deduktion stößt der Philosoph auf das Ich als den irreduziblen Ausgangs- und Bezugspunkt jeden Denkaktes. Selbst die Möglich‐ keit, dass alles Denken - verstanden als Tätigkeit des Überprüfens und Zwei‐ felns - einem Trugbild unterliegen könnte, vermöge, so Descartes, dem Sich-Selbst-Denken im cogito als unerschütterlichem Grund des Subjekts nichts anzuhaben. 61 In der Beherrschung des Zweifels liegt also die Selbstgewissheit des Ichs. Die res cogitans, der Geist als Träger seines Denkens, stellte fortan das fundamentum inconcussum des cartesischen Systems dar und bildete die Oppo‐ sition zur res extensa, der im Raum ausgedehnten Materie, dem Körper. Das von Descartes ermittelte Subjekt, das in der Philosophiegeschichte um die Mitte des 20. Jahrhunderts als Produkt einer Unterwerfung der Natur und Resultat eines Durchgangs durch den Wahnsinn erkannt wird, 62 integriert mit 2.2 Exkurs zum Denken des Subjekts 73 <?page no="74"?> 63 Bürger: Das Verschwinden des Subjekts, 44. 64 Ebd. 65 Blaise Pascal: Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées). Heidelberg: Lambert Schneider 1972, 77. dem Zweifel auch die dem Subjekt drohende Nicht-Identität in das geschlossene System des Ichs. Der affektiven, von Leidenschaften beherrschten Seite des Subjekts, der philosophiegeschichtlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine kon‐ struktive Funktion im Vorgang der Erinnerns zukommen sollte, denkt das erkenntnistheoretische Konstrukt Descartes’ dabei allerdings keine Eigenstän‐ digkeit zu. Laut Peter Bürger brachte jedoch gerade der Akt der Selbstdiszipli‐ nierung durch das Phantasma instrumenteller Vernunft „dessen Widerpart: die Innerlichkeit“ 63 hervor. Der im cartesischen Vernunft-Begriff somit gleichsam eingeschlossene Bereich des affektiven Ichs lebt „als ennui und als gleicher‐ maßen rast- und zielloses Verlangen“ 64 fort. Einer der ersten Kritiker dieser einseitigen Fokussierung auf das Vernunft‐ subjekt findet sich mit Blaise Pascal bereits in direkter Nachfolge von Descartes. Der dezidiert christlich geprägte Denker weist das Desinteresse an Gott, das er in Decartes’ philosophischem Gebäude zu erkennen glaubte, in seiner aphoris‐ tischen, posthum veröffentlichen Textsammlung Pensées (1670) als Folge bei‐ spielloser Vernunftzentrierung aus. Für Pascal hinterließ die Abwendung von Gott offensichtlich eine Lücke, die den Menschen in den Zustand einer funda‐ mentalen Langeweile (ennui) versetzt und ihn dazu veranlasst, fortwährend nach Zerstreuung (divertissement) im Diesseits zu suchen. Die Leere der Men‐ schen fasst er in das zweifelhafte Bonmot, dass ihr „Unglück […] einem ent‐ stammt, nämlich daß sie unfähig sind, in Ruhe allein in ihrem Zimmer bleiben zu können“ 65 . Das von Pascal geforderte Retour zu Gott aktualisiert, aus der historischen Vogelperspektive betrachtet, die Augustinische Hinwendung zum göttlichen Du. Was neben seiner religiös motivierten Kritik subjektiver Selbstermächti‐ gung überdies zum Vorschein kommt, ist sein grundlegendes Misstrauen ge‐ genüber einer Erkenntnislehre, die mit einem konsistenten und beherrschbaren Subjektbegriff operiert. Pascals Reflexionen im Kapitel „Elend des Menschen ohne Gott“ lesen sich trotz ihrer religiösen Motivierung als eine Subjektkritik, wie sie zum Leitmotiv zahlreicher philosophischer Konzepte im Laufe 20. Jahr‐ hundert avancierte. Sein Gedanke, dass das denkende Ich eines Bezugspunktes außerhalb seiner selbst bedürfe, um dem Nichts am Grund der endlos um sich selbst zirkulierenden Denkbewegung zu entkommen, weist auf moderne und postmoderne Erkenntniskonzepte voraus. Pascal charakterisiert das Ich darin durch zwei Eigenschaften: 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 74 <?page no="75"?> 66 Ebd., 212. 67 Ebd., 367. [E]s ist unrecht an sich, soweit es sich zum Mittelpunkt von allem macht, und es ist andern unbequem, soweit es sie beherrschen will: denn jedes ‚Ich‘ ist der Feind aller andern und möchte sie alle beherrschen. 66 Die Diagnose über das sich selbst zentrierende und folglich alle anderen unter‐ werfende Ich erscheint als explizite Invektive gegen Descartes’ Ideal einer epis‐ temischen Autorität des Subjekts, mit der die egomanische Seite der Selbstsorge erstmals umfassend zum Ausdruck kommt. Am Grund der Selbstzentrierung wie der kompensatorischen Suche nach Zerstreuung steht für Pascal die Angst vor dem Angriff auf die Selbstgewissheit des Ichs. Vor Hegel, Nietzsche und Kierkegaard, aber auch vor Freud und Lacan erkennt er in der Angst des Menschen jene unbezähmbare Größe, die das Ich unaufhaltsam ihres scheinbar festen Fundaments beraubt und in verschiedene, widerstrebende Teile zerfallen lässt. Die Angst, so die schlichte und doch den archimedischen Subjektbegriff aus den Angeln hebende These, setzt noch das stärkste Verstandes-Ich außer Kraft. Der von Platon überlieferte selbstgewisse Gang des Sokrates in den Tod müsste vor diesem Hintergrund als philosophische Legende erscheinen. Denn im Zustand der Angst übernimmt der Affekt die Kontrolle über die Vernunft. Das in Angst befindliche cartesische Geist-Ich ist nicht dazu imstande, die ihn umgebende Welt als obiectum verstandesmäßig zu kontrollieren. In letzter Konsequenz, wie sie nur im Angesicht des Todes ge‐ geben ist, müsste jedes rationale Argument, jede philosophische und religiöse Tröstformel zur abgegriffenen Münze und zum Hohn für den Sterbenden werden, da sein Versuch, die Angst zu bezwingen, von dem ungewissen Hu‐ manum der Gegen-Vernunft durchkreuzt wird. Für Pascal liegt einzig in der Akzeptanz des Ungewissen ein Ausweg aus der existentiellen Angst. Er artiku‐ liert in den Pensées ebenjenen Imperativ, der auch Schlingensiefs Kirche der Angst als Fanal voransteht: „Fürchte dich nicht, vorausgesetzt, daß du dich fürchtest.“ 67 Durch den Verlust des göttlichen Gegenübers und die Nicht-Akzeptanz der das Verstandes-Ich außer Kraft setzenden Angst steht das cartesische Ich gegen Ende des 19. Jahrhunderts schließlich unter der permanenten Bedrohung, in unvereinbare Einzelteile zu zerstäuben. Im Übergang zum 20. Jahrhundert, lange vor dem strukturalistisch geprägten linguistic turn, wurde im Feld der Psycho‐ logie und der Sprachkritik bekanntermaßen die Basis für den erkenntnistheo‐ retischen Zweifel am sich-selbst-denkenden und selbst-beschreibenden Subjekt gelegt: von Nietzsches fundamentaler Subjektkritik und Freuds Erkenntnissen 2.2 Exkurs zum Denken des Subjekts 75 <?page no="76"?> 68 Peter V. Zima: Das literarische Subjekt. Zwischen Spätmoderne und Postmoderne. Tü‐ bingen: Francke 2001, 140. 69 Arthur Rimbaud: „Lettre à Paul Demeny (15. Mai 1871)“. In: Ders.: Oeuvres complètes, hg. von Anré Guyaux. Paris: Gallimard 2009, 343. 70 Bürger: Das Verschwinden des Subjekts, 204. 71 Vgl. dazu exemplarisch Hans Ulrich Gumbrecht: „Tod des Subjekts als Ekstase der Sub‐ jektivität“. In: Robert Weimann, Hans Ulrich Gumbrecht (Hrsg.): Postmoderne - globale Differenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, 307-12; Jochen C. Schütze: „Überle‐ gungen zum Status des Subjekts nach der Moderne“. In: Ebd., 319-24. 72 Slavoj Žižek: Die Tücke des Subjekts. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, 7. über das menschliche Bewusstsein. Im Umkreis der Wiener Moderne konstatiert Hugo von Hofmannsthal im Rahmen seines sprachkritischen Chandos-Brief (1902) die Unmöglichkeit einer sprachlichen Vermittlung seiner selbst; Robert Musil entwirft in seinem für die Subjektphilosophie des 20. Jahrhunderts ein‐ flussreichen Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften (1942, unvollendet) gar das Konzept eines „Möglichkeitsmenschen“ 68 , das der Vorstellung einer Diffu‐ sion des Ichs in „Andere“ eine bis heute wirkmächtige Metapher gibt. Dem Sub‐ jekt, das sich nicht als abgeschlossenes Ganzes zu fassen bekommt, sondern sich als teilbares Fluidum immer wieder neu entwerfen muss, ist fortan die Unmög‐ lichkeit eingeschrieben, sich als ein Bild mit strikten Rändern zu entwerfen. Die genannten Konzepte sind durchdrungen von der im Rimbaudschen „Je est un autre“ 69 gefassten Gewissheit, dass sich das Ich „als Ort der Täuschung und Durchgangsstation einander ablösender oder durchdringender Sprachen“ 70 nicht disziplinieren kann und dem Fremden im Selbst bedingungslos ausgeliefert ist. Mit der Auflösung des Identitätsbegriffs hat das Subjekt allerdings zugleich die Möglichkeit gewonnen, in einen scheinbar endlosen metamorphotischen Prozess der Sinnstiftung einzutreten. Die Diagnose über den Verlust einer konsistenten und konstanten Position des Subjekts zugunsten seiner Sedimentierung in zahlreiche, sich kontrastie‐ rende Partikel ist spätestens seit der vielbeschworenen Rede vom auseinander‐ fallenden postmodernen Subjekt zu einem Allgemeinplatz philosophischer und kulturwissenschaftlicher Reflexion geworden. 71 Schließlich hatte das auf der Grundlage moderner Psychoanalyse und Sprachskepsis entstandene Sprachpa‐ radigma im Umfeld poststrukturalistischer und dekonstruktivistischer Positi‐ onen die bis dahin gesetzte Relation zwischen dem Subjekt und seiner Sprache erheblich torpediert. Der poststrukturalistischen Idee von der umfassend sprachlichen Strukturierung des Wirklichen entsprechend, ist das „Ich“ - ent‐ gegen seiner autoritären Position im syntaktischen Satzgefüge - dem Sprechen keineswegs vorgeordnet, sondern vielmehr „Effekt dezentrierter textueller Me‐ chanismen“ 72 und kann für sich keinen erkenntnistheoretisch extraterrestri‐ 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 76 <?page no="77"?> 73 Sigmund Freud: „Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse (1919)“. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. XII, hg. von Anna Freud. Frankfurt am Main: Fischer 1999, 11. 74 Vgl. hierzu den Aphorismus Nr. 125 „Der tolle Mensch“ in Nietzsche: „Die fröhliche Wissenschaft“, 480-482. 75 Die Rede vom Tod des Subjekts entstand im Rezeptionskontext von Nietzsches „Gott ist tot“ und wurde zu einem bedeutenden Schlagwort im poststrukturalistischen Um‐ feld. Jean Baudrillard etwa spricht davon, dass „die Position des Subjekts schlichtweg unhaltbar geworden [ist]. Heute ist niemand mehr in der Lage, sich zum Subjekt der Macht, des Wissens oder der Geschichte zu machen.“ Jean Baudrillard: Die fatalen Stra‐ tegien. München: Matthes & Seitz 1985, 140. Vgl. dazu auch Gumbrecht: „Tod des Sub‐ jekts als Ekstase der Subjektivität“; Herta Nagl-Docekal, Helmuth Vetter: Tod des Sub‐ jekts? . Wien: Oldenbourg 1987. 76 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, 460. 77 Vgl. Barthes: „Der Tod des Autors“; Michel Foucault: „Was ist ein Autor? “. In: Fotis Jannidis u. a. (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 2000, 198-229. 78 Vgl. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien u. a.: Böhlau 1986. schen Standpunkt in der Welterschließung beanspruchen. Gemäß dieser Lesart bildet Sprache keine Substanz mehr ab, sondern Bedeutung wird, umgekehrt, zuallererst durch Sprache hervorgebracht. So erzeugt erst der Sprechakt des Ichs im Prozess der Semiose das Subjekt. Mit der Überzeugung, dass jeder Welt- und Wirklichkeitsbezug a priori sprachlich verfasst und folglich konstruiert, das Subjekt in Anbetracht des um‐ fassenden Sprachparadigmas nicht mehr „Herr in seinem eigenen Hause“ 73 und letztlich auch die Möglichkeit eines Sich-Selbst-Zur-Sprache-Bringens verloren sei, sind die Fluchtpunkte der postmodernen Subjektkritik abgesteckt. Der Ver‐ lust der Macht über die Sprache als setzender Kraft hat schließlich zur raum‐ greifenden Einsicht geführt, die der Subjektvorstellung Descartes’ diametral entgegengesetzt ist, nämlich dass das Subjekt Effekt von Unbewusstem und Ideologie sei. Durch die Umkehrung der Pole von subjektiver Essenz einerseits und ihrer medialen Abbildung andererseits hat das postmoderne Denken nicht nur einen Reflexionsprozess über jene diskursiven Mächte ausgelöst, welche die mensch‐ liche Individualität und Autonomie konstituieren, sondern zugleich auch die Möglichkeiten begrenzt, philosophisch sinnvoll über den Menschen als Ein‐ zelnen und gesellschaftliches Wesen gleichermaßen zu sprechen. Auf den von Nietzsche ausgerufenen „Tod Gottes“ 74 folgte in rasanter Fortsetzung der de‐ konstruierenden Kahlschläge die Proklamation des „Tod des Subjekts“ 75 , die Di‐ agnose über das „Verschwinden des Menschen“ 76 , den „Tod des Autors“ 77 und das „Ende der großen Erzählungen“ 78 . Die großen philosophischen Grable‐ gungen des 20. Jahrhunderts provozierten und provozieren vehement geführte 2.2 Exkurs zum Denken des Subjekts 77 <?page no="78"?> 79 Peter V. Zima: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen u. a.: Francke 2000, XI. 80 Roland Hagenbüchle: „Subjektivität. Eine historisch-systematische Hinführung“. In: Reto Luzius Fetz u. a (Hrsg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Bd. 1. Berlin u. a.: De Gruyter 1998, 2. 81 Vgl. Reto Luzius Fetz: „Einleitung“. In: Ebd., V. 82 Schütze: „Überlegungen zum Status des Subjekts nach der Moderne“, 324. Debatten über die Frage, ob und in welcher Weise überhaupt noch sinnvoll von einem Subjekt gesprochen werden könne und wenn ja, wie dieses nach seiner „postmodernen Selbstzerlegung“ 79 überhaupt aussehen könnte. Mit diesem me‐ thodischen Zweifel am Subjekt hat auch das gnothi seauton einen gegenüber der hermeneutischen Subjekt-Vorstellung vollkommen veränderten Bedeutungsho‐ rizont erhalten, der nicht mehr im abendländischen Diskurs der Vernunft ver‐ ankert zu sein scheint. Nicht nur, mit welcher Sprache das Subjekt überhaupt noch zu erkennen sei, sondern auch, ob es überhaupt noch ein zu erkennendes Subjekt gebe, steht seither in Diskussion. Dieser philosophischen Nichtung des Subjekts Folge leistend, müsste der Satzteil „Ich bin“, der gemeinhin die eigene Position und Relation zu etwas oder jemandem kennzeichnet, gänzlich aus dem Wortschatz des Ichs verbannt werden. Da mit einem derart endgültigen und wörtlich gefassten Tod des Subjekts allerdings weder auf sprachpragmatischer noch auf philosophischer Ebene weiter zu kommunizieren ist, zeitigt die Destruktion des Subjekts nach den Ge‐ setzen der Dialektik mittlerweile dessen sukzessive Rekonstruktion. In diesem Sinne hebt Roland Hagenbüchle den Umstand hervor, dass die Leerstelle des poststrukturalistisch destruierten Subjekts bald neu gefüllt wurde: „Dem ange‐ blichen Verschwinden des Subjekts und seinem Aufgehen in einem transsub‐ jektiven kulturellen Zeichensystem steht nämlich das Faktum seiner hartnä‐ ckigen Existenzbehauptung gegenüber.“ 80 Die „Wiederauferstehung des Subjekts“ 81 erfolgte selbstredend in gewandelter Gestalt, nach Jochen Schütze gar mit dem Gestus der narzisstischen Selbstbehauptung, durch den das Ich den Verlust seiner festen Konturierungen kompensiert: Mit dem Verlust seiner Grenzen wird das Subjekt zunächst unförmig, narzisstisch, hypertroph; je weniger Bedeutung es hat, desto hysterischer behauptet es sich. Dem Chaos, das ihm zu drohen scheint, und das vielleicht die Quelle eines neuen Erfin‐ dungsreichtums sein könnte, begegnet es mit monumentaler Überproduktion. 82 Der Psychoanalytiker Jacques Lacan, einer der zentralen Impulsgeber der post‐ strukturalistischen Philosophie, hat in seinem einflussreichen Aufsatz „Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion“ (1949) dargelegt, dass der mensch‐ 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 78 <?page no="79"?> 83 Jacques Lacan: „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“. In: Ders.: Schriften I, hg. von Norbert Haas. Olten: Walter 1973, 64. 84 Ebd., 65. 85 Ebd., 67. 86 Ebd. 87 „Bei Vignola und Alberti finden wir eine weiterführende Untersuchung der geometralen Gesetze der Perspektive. Um solche Untersuchungen zur Perspektive bildet sich ein besonderes Interesse am Bereich des Sehens heraus - dessen Beziehung zur Einrichtung des cartesischen Subjekts, das selbst eine Art Geometralpunkt, Perspektivpunkt dar‐ stellt, nicht zu übersehen ist.“ Jacques Lacan: Das Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Weinheim u. a.: Quadriga 1996, 92. liche Prozess der Selbsterkenntnis einer narzisstischen Selbstverkennung gleichkomme. Lacans Spiegelstadium verweist auf eine dem Ich zugrunde lie‐ gende symbolische Struktur. Durch den Blick in den Spiegel entwerfe der Mensch im Kleinkindstadium ein Ideal-Ich (moi). Dieses sorge in vollem Umfang des psychoanalytischen Verständnisses von Identifikation für „eine beim Sub‐ jekt durch die Aufnahme des Bildes ausgelöste Verwandlung“ 83 . In der symbo‐ lischen Spannung zwischen dem faktischen Ich als Agens (je) und dem Phan‐ tasma seiner beobachtbaren Gestalt (moi) bilde sich das Subjekt. Das im Spiegel sichtbare „Imago des eigenen Körpers“ 84 löse im Ich (je) als Betrachtendem das rastlose narzisstische Begehren danach aus, sich selbst als Ganzes, in der Ter‐ minologie Lacans, als unteilbares moi zu fassen. So beruht Subjektkonstitution für Lacan auf der Voraussetzung eines vom Ich empfundenen Mangels, dem Verlangen danach, sich selbst als Identität zu fassen. Über diese „wahnhafte Identität“ 85 kompensiert noch das erwachsene Ich seine Angst vor dem „zerstü‐ ckelte[n] Körper“ 86 . Dieser Vorgang der Ichwerdung ereignet sich nicht vollkommen losgelöst von jener Vorstellung eines handlungsmächtigen Subjekts, die auf Descartes zu‐ rückgeht und an der Wende zum 20. Jahrhundert in eine tiefe Krise gerät. Wäh‐ rend Descartes’ Erkenntnistheorie, so schreibt Lacan in Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, aufgrund ihrer konzentrischen Fundierung des Denkaktes im Ich konkret vor dem Hintergrund der Entstehung der Zentralperspektive zur erörtern sei, 87 so funktioniert das Modell der narzisstischen Erkenntnistheorie, das für Schlingensiefs thanatographische Inszenierungen geradezu konstitutiv zu sein scheint, zentralperspektivisch durch Einbezug des „Wahns“. Das selbst‐ gewisse cartesische Ich blickt am Geometralpunkt aus extraterrestrischer Posi‐ tion auf die Welt als Objekt. Ihm kommt mit Lacan keine Selbstpräsenz zu, da Subjekt der Aussage und Subjekt des Aussagens in ihm nicht identisch sind. Diesen Prozess der Abspaltung im Subjekt versucht wiederum die narzisstische Erkenntnis mit dem wahnhaften Blick auf die Gestalt als Ganzes, auf das moi, 2.2 Exkurs zum Denken des Subjekts 79 <?page no="80"?> 88 Lejeune: Der autobiographische Pakt, 27. 89 Ebd., 23. 90 Roman Jakobson: „Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb“. In: Ders.: Form und Sinn. Sprachwissenschaftliche Betrachtungen. München: Fink 1974, 35-54. zu kompensieren. Im Zeichen einer maßlosen Überproduktion blickt das Ich nunmehr auf die fragmentierten Formen des moi. 2.3 Autofiktionalität - Literarische Ich-Komposition aus Fragmenten Die reflektierende Aneignung der Erkenntnisse poststrukturalistischer Sub‐ jektforschung, die ihrerseits auf Nietzsche, Freud und Lacan aufbauen, durch die Autobiographieforschung aus dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ver‐ lief zunächst schleppend. So versucht Philip Lejeune den Gattungsstatus der Autobiographie, da sich diese unter poetologischen Gesichtspunkten nicht schlüssig von ihren Nachbargattungen abgrenzen lässt, noch in den 1970er Jahren mit einem Lektürevertrag zwischen Autor und Leser zu retten. Für die Autobiographie, so der Rezeptionsästhetiker, sei die Namensidentität zwischen Autor, Erzähler und Protagonist vorausgesetzt. „Die Behauptung dieser Identität im Text, die letztlich auf den Namen des Autors auf dem Umschlag verweist“ 88 , sei im autobiographischen Pakt verbürgt, den der Leser mit dem Autor einer Autobiographie eingehe: Er [der Name auf dem Buchumschlag] ist im Text die einzige unzweifelhaft außer‐ textuelle Markierung, die auf eine tatsächliche Person verweist, die dadurch verlangt, man möge ihr in letzter Instanz die Verantwortung für die Äußerung des gesamten geschriebenen Textes zuweisen. In vielen Texten beschränkt sich die Anwesenheit des Autors im Text auf diesen einzigen Namen. 89 Die fragile Setzung eines Lektürevertrags führt auf die Beschäftigung Lejeunes mit Émile Benveniste zurück. In seinen Problèmes de linguistique générale (1966) analysiert der Linguist sprachliche Deiktika - die Pronomen „ich“, „du“ und die Adverbien „hier“, „da“ -, die auf den je spezifischen Äußerungskontext einer Rede verweisen. Die vom russischen Formalisten Roman Jakobson aufgrund ihrer kontextuellen Verschiebbarkeit und Variabilität als „shifters“ 90 bezeich‐ neten deiktischen Zeichen beziehen sich auf das Ausgesagte (énoncé) und den Akt des Aussagens (énonciation) gleichermaßen. Das Personalpronomen „ich“ stiftet für Benveniste die Identität zwischen dem Subjekt der Aussage (sujet de l’énoncé) und dem Subjekt des Aussagens (sujet de l’énonciation). Da das „ich“ 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 80 <?page no="81"?> 91 Émile Benveniste: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft. München: List 1974, 281. 92 „In der mündlichen Rede kommt es, sooft dies nötig ist, zu einer Rückkehr zum Eigen‐ namen: Das ist die Vorstellung, die von der Person selbst oder von einer dritten Person vorgenommen wird […]. In der schriftlichen Rede bezeichnet die Unterschrift den Spre‐ cher und die Adresse den Adressaten“. Lejeune: Der autobiographische Pakt, 23. 93 Lacan: Das Seminar XI., 145. seine eigene Referenz besetzt, die in jedem Sprechakt nur einem Wesen zu‐ kommen kann, bedeutet „Ich […] die Person, welche die gegenwärtige Diskurs‐ instanz, die ich enthält, aussagt.“ 91 Das Personalpronomen „ich“, das im Akt des Aussagens immer auf das ausgesagte Ich verweist, und so jedem Sprecher Iden‐ tität verleiht, kann deshalb in der Verbindung mit einem Eigennamen, allerdings nur in Verbindung mit diesem, eindeutig ermittelt werden. Während der Referent der Diskursinstanz „ich“ in der mündlichen Rede re‐ lativ zweifelsfrei ermittelt werden kann, so Lejeunes gerade im Hinblick auf das Dispositiv menschlichen Rollenspiels verkürzende Sichtweise im Anschluss an Benveniste, bürgt in Texten lediglich die Unterschrift für dieses „ich“. 92 Ob es sich um eine Autobiographie handle oder nicht, sei vom Leser nicht zweifelsfrei zu ermitteln; auf der Grundlage der Signatur des Eigennamens könne dieser den autobiographischen Lektürevertrag jedoch eingehen; willigt der Leser in den Vertrag ein, kann der autobiographische Pakt gelingen. Lejeune wäre hier je‐ doch mit Lacans Auffassung beizukommen, dass das Ich der Aussage mit dem Ich des Aussagens unter keinen Umständen identisch ist. Lacan gibt der von Jakobson ermittelten Zweiheit in der Sprache entgegen Benveniste eine Stoß‐ richtung, die die Spaltung des Ichs in der Aussage über sich selbst erhellt. Er erläutert dies an der logischen Antinomie „ich lüge“, die das Paradoxon des Epi‐ menides überliefert. Es sei vollkommen falsch, so Lacan, auf die Aussage „ich lüge“ zu entgegnen, dass dieses „ich“ die Wahrheit sage und ihr auf diese Weise mit formallogischen Waffen zu begegnen: Von da aus, vom Punkt, wo ich aussage, habe ich durchaus die Möglichkeit, gültig zu formulieren, daß das ich - das ich, das in diesem Augenblick die Aussage formuliert - zu lügen im Begriffe ist, daß es grad eben gelogen hat, daß es nachher lügt, oder gar, daß es, indem es sagt: ich lüge, seine Absicht, zu täuschen, erklärt. 93 Die Differenzierung zwischen dem Subjekt der Aussage und dem Subjekt des Aussagens, wie sie für die Konstitution des theatralen Ichs basal ist, geht bei Lacan auf ein unbekanntes Ich jenseits der kontrollierenden Aussageinstanz zurück, das sich in Träumen, Witzen, Fehlleistungen äußert und sich dabei eben nicht als Identitäres offenbart. Das Subjekt erscheint mithin als ein „sujet en 2.3 Autofiktionalität - Literarische Ich-Komposition aus Fragmenten 81 <?page no="82"?> 94 Vgl. hierzu das gleichnamige Kapitel in Julia Kristeva: Polylogue. Paris: Éditions du Seuil 2008. 95 Vgl. Michael Sprinker: „Fictions of the Self. The End of Autobiography“. In: James Olney (Hrsg.): Autobiography. Essays Theoretical and Critica. Princeton: Princeton University Press 1980, 321-342; Paul Jay: „Being in the Text“. In: Modern Language Notes, 97 (1982), 1045-1063. 96 Serge Doubrovsky: „Nah am Text“. In: Kultur & Gespenster: Autofiktion, 7 (2008), 126. 97 Ebd., 128. 98 Ebd. procès“ 94 , durch das der Riss der Sprache selbst hindurchgeht. Das gespaltene autobiographische Ich besteht demnach nicht bereits außerhalb der Sprache, sondern entsteht erst mit ihr. Der performative Sprechakt, ob mündlich oder schriftlich, birgt so gesehen ab ovo den Narzissmus des autobiographischen Ichs in sich, das sich im Sprechen von sich selbst abspaltet und vervielfältigt. Das Subjekt, das sich dergestalt im postmodernen Diskurs durch dessen per‐ manente Metamorphosen der Festlegung auf Eines zu entziehen scheint, verfügt nicht mehr über die Möglichkeit der Introspektion, kann zu seinem Selbst keinen Zugang mehr finden. Das im Zuge der fundamentalen Problematisierung von Subjektivität ausgerufene „Ende der Autobiographie“ 95 geht ab der Mitte des 20. Jahrhunderts folglich zunehmend in Formen autofiktionaler Selbstkonstruk‐ tionen über. Waren Erfindung, Auslassung oder Hinzufügung von Fakten aus darstellungsästhetischen Gründen schon für die idealtypischen Anschauungs‐ beispiele der hermeneutischen Autobiographieforschung, für die Selberlebens‐ beschreibungen Rousseaus und Goethes, unverzichtbar, so etabliert sich in den 1960er Jahren unter dem Schlagwort der „Autofiktion“ eine Schreibpraxis, die „gleichzeitig und somit widersprüchlich den autobiographischen und den ro‐ manesken Pakt“ 96 abschließt. Um das autobiographische Desiderat des Wahrhaftigkeitsgebots letztgültig zu unterminieren und das Mischungsverhältnis aus Fakt und Fiktion in den Rang eines poetologischen Programms zu erheben, führte der französische Autor und Literaturwissenschaftler Serge Doubrovsky das autothematisch ambivalente Paradigma der Autofiktion in die literaturwissenschaftliche Debatte ein. Ver‐ standen als „Fiktion strikt realer Ereignisse und Fakten“ 97 bindet Doubrovsky die seinem 1977 veröffentlichten autothematischen Roman Fils erstmals selbst‐ bewusst zugrunde gelegte Schreibpraxis an das Vorhaben, „die Sprache über das Abenteuer zu einem Abenteuer der Sprache zu machen“ 98 . Dahinter zeigt sich seine Überzeugung, dass das selbstschreibende Ich, das die philosophischen Er‐ schütterungen des 20. Jahrhunderts im Anschluss an Nietzsche und Freud re‐ gistriert hat, „nicht mehr Akteur des Lebens und Autor der Erzählung sein 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 82 <?page no="83"?> 99 Ebd., 126. 100 Ebd., 126. 101 Ebd., 128. 102 Ebd. 103 Gérard Genette: Figures III. Paris: Éditions du Seuil 1972, 50. 104 Vgl. Ebd. kann“ 99 . Das Bewusstsein über die Fiktionalität des Ichs, das sich zwischen den verschiedenen Rollen eingezwängt und nur punktuell auf die cartesische Ge‐ wissheit berufen kann, „ist keine literarische Formulierung, sondern eine exis‐ tentielle Wahrheit.“ 100 Das Ich erscheint folglich als Behältnis „verstreute[r] Fragmente, unvollständige[r] Teile“ 101 , die es - im Sinne der Kehrseite der de‐ komponierenden Subjekt- und Sprachphilosophie Lacans - wieder aus Teilen zusammenzufügen gelte. „Die Autofiktion wird die Kunst sein, etwas aus den Resten herzustellen.“ 102 , lautet die dazugehörige poetologische Prophezeiung Doubrovskys, die der Goetheschen Formel von der „höheren Wahrheit“ mit fraktalisierten Formen beizukommen verspricht. Dass die Geschichte eines Lebens, wie es Doubrovsky nahelegt, vor allem deshalb nicht erzählt werden kann, da sie vor der Erzählung im eigentlichen Sinne noch gar nicht existiert, macht wiederum der belgisch-amerikanische Li‐ teraturwissenschaftler Paul de Man eingedenk des poststrukturalistischen Kon‐ struktionsparadigmas von Sprache zum Ausgangspunkt seines Aufsatzes Auto‐ biography as De-facement (1979). De Man bewirkte damit einen folgenreichen Paradigmenwechsel in der Autobiographieforschung. Die Unterscheidung zwi‐ schen Fiktion und Autobiographie sei schlichtweg unmöglich, lautet die Auf‐ fassung des Autors. Zur Veranschaulichung dieser Unentscheidbarkeit greift de Man auf das Genettesche Bild der „Drehtür“ 103 zurück, in der man sich gefangen sehe, sobald man die Autobiographie gänzlich in ein Reich jenseits des fiktio‐ nalen Romans verbannen möchte. Um die emergente Erscheinung des Autors im Grenzbereich zwischen Faktualität und Fiktionalität zu erklären, rekurriert der französische Narratologe Genette auf das scholastische Bild der Konkomi‐ tanz, wonach das Blut Christi in den beiden konsekrierten Gestalten Brot und Wein miterscheine. Auf diese Weise entwirft er die Vorstellung, dass die hinter den sprachlichen Tropen liegende Mit-Erscheinung des Autors - wie diejenige des Fleisches und Blutes Christi in der Eucharistie - weder dem Bereich der Fiktion noch dem der Faktizität eindeutig zuzuordnen sei, sondern die Erfahrung einer Präsenz jenseits eines relationalen Abbildverhältnisses ermöglicht. 104 De Mans Überzeugung vom per se hybriden Gattungsgebilde der literarischen Selbstbeschreibung manifestiert sich letztlich in der These, dass das Geschrie‐ bene aus nichts Anderem als den Bewegungen von sprachlich-rhetorischer Fi‐ 2.3 Autofiktionalität - Literarische Ich-Komposition aus Fragmenten 83 <?page no="84"?> 105 Vgl. Paul de Man: „Autobiographie als Maskenspiel“. In: Christoph Menke (Hrsg.): Die Ideologie des Ästhetischen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, 132. 106 Ebd., 133. 107 Ebd., 134. 108 Ebd. 109 Ebd. guration und Defiguration entsteht. Da der Autor eines autobiographischen Textes ein Spiel treibt, in dessen Verlauf er sich permanent neue Masken aufsetzt, gelangt de Man, ähnlich wie Doubrovsky, zu dem Schluss, dass das Leben der Autobiographie nicht vorangeht, sondern vielmehr als dessen romaneske Ver‐ körperung Resultat einer autofiktionalen Schreibpraxis sei. 105 Dabei findet nicht nur eine Abkehr von den Kategorien der Wahrheit, Unmittelbarkeit und Au‐ thentizität als den ehemals entscheidenden Gattungskriterien der idealistischen autobiographischen Darstellung statt, sondern es kommt zur Stärkung eines autobiographischen Subjekts, das sich durch seine fundamentale Intransparenz qualifiziert. In Konsequenz der für die Autobiographieforschung folgenreichen Auffassung, dass das selbsterschreibende Vorhaben das Leben hervorbringt, weist der Literaturwissenschaftler der Schrift eine ihr eigene und eigengesetz‐ liche Rhetorizität zu, die aus der autobiographischen Geste eine Redefigur macht. Auf der Grundlage dieses alles umfassenden Textualitätsbegriffs imple‐ mentiert er auch einem scheinbar faktualen Text eine eminent fiktionale Kom‐ ponente. Da die Autobiographie ohne das Medium der Schrift in der Tat nicht existiert und erst der notwendigerweise fiktional-konstruierende Akt der Er‐ zählung die Kontinuität des rückschauend betrachteten Lebens hervorbringt, stellt sich aus Sicht de Mans die Frage, ob „nicht alles, was der Autor einer Autobiographie tut, letztlich von den technischen Anforderungen der ‚Selber‐ lebensbeschreibung‘ beherrscht und daher in jeder Hinsicht von den Möglich‐ keiten seines Mediums bestimmt [wird]? “ 106 Wie vor ihm implizit bereits Lejeune spricht de Man der gattungstypologisch immanent instabilen Autobiographie ihren Status als eindeutig kategorisierbare Textsorte ab. Im Unterschied zu Lejeune verortet er sie allerdings nicht mehr in einer durch die Unterschrift des Autors besiegelten vertraglichen Übereinkunft zwischen Autor und Leser, sondern stellt sie als „Lese- oder Verstehensfigur, die in gewissem Maße in allen Texten auftritt“ 107 , zur Disposition. Im literarischen Kommunikationsprozess des „substitutive[n] Austausch[s]“ 108 werde die „Struktur wechselseitiger Reflexion zu einem internen Textmerkmal“ 109 , das sämtliche Texte präge, die von jemandem geschrieben sind. De Man unter‐ streicht dabei den der tropischen Strukturierung von Sprache inhärenten Pro‐ zess des wechselseitigen aufeinander Verweisens der Redepositionen, der sich 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 84 <?page no="85"?> 110 „Der künstlerische Schaffensprozeß ist ein Kampf mit dem Engel, bei dem der Autor deswegen mit Sicherheit unterliegen muß, weil er wiederum sein eigener Gegner ist. Er kämpft mit seinem Schatten und hat dabei nur die Gewißheit, daß er ihn niemals zu fassen bekommt.“ Georges Gusdorf: „Voraussetzungen und Grenzen der Autobiographie (1956)“. In: Günter Niggl (Hrsg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer li‐ terarischen Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989, 147. 111 Vgl. Alain Robbe-Grillet: Le miroir qui revient. Paris: Minuit 1984. Vgl. dazu auch Volker Roloff: „Subjektivität und Theatralität. Surreale Spielformen der Autofiktion bei Robbe-Grillet“. In: Simone Bartoli Kucher u. a. (Hrsg.): Das Subjekt in Literatur und Kunst. Festschrift für Peter V. Zima. Tübingen: Francke 2011, 345 f. dem totalisierenden Wunsch nach einem umfassenden Gesamtblick grundle‐ gend entzieht. Da die Literatur im Unterschied zum Selbstporträt kein Gesicht abbildet, greift der Autobiograph auf die Trope der Maskierung zurück, die das Subjekt als Gestalt zur Erscheinung bringt. Die rhetorische Figur der Prosopopöie (griech. prosopōn poeìn, eine Maske aufsetzen) stellt somit die zentrale Trope der Autobiographie dar. Durch das personifizierende Stilmittel der Prosopopöie, das einer formlosen Wesenheit Ausdruck verleiht, setzt sich der Autor einer Auto‐ biographie ständig neue Masken auf, wodurch sich im Werk ein dialektisches Verhältnis zwischen Maskierung (facement) und Demaskierung (de-facement) ereignet. Demnach liegt im Wechselspiel zwischen der Figuration als Sichtbar‐ machung und Sinnstiftung und der Defiguration als Verflüchtigung des Sinns - ganz im dekonstruktiven Sinne - die spannungsvolle und -geladene Bedingung des autofiktionalen Textes. Die schreibende Tätigkeit, ein Ich aus romanesk maskenhaften Bruchstücken seiner selbst zusammenzusetzen und, wie es Georges Gusdorf formuliert hat, der vergebliche Versuch, seinen eigenen Schatten zu fassen, 110 wurden im Milieu der Nouvelle Autobiographie nunmehr zum poetologischen Programm erhoben. Gerade Schriftsteller wie Alain Robbe-Grillet, Natalie Sarraute und Michel Butor, die sich im Umfeld des Nouveau Roman ab den 1950er Jahren vom Subjekt als romaneskem Handlungsträger ebenso verbschiedet hatten wie von realisti‐ schen Narrativen nach chronologischen Regeln, fokussierten sich nunmehr im Rahmen ihrer autofiktionalen Schreibpraxis auf die Position des Ichs und dessen Leben, ließen das Selbst aber in einer fortwährenden mise en abyme in fiktionale und metareflexive Abspaltungen zerfallen. Robbe-Grillet etwa errichtet in seinem Werk Le miroir qui revient (1984) ein regelrechtes Spiegelkabinett des Ichs, in dem der Protagonist selbst zum lecteur-spectateur der Bühne seiner au‐ tofiktionalisierten Erscheinungen wird. 111 Mit der Reihe seiner romanesques 2.3 Autofiktionalität - Literarische Ich-Komposition aus Fragmenten 85 <?page no="86"?> 112 Vgl. dazu Fotis Jannidis u. a. (Hrsg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrit‐ tenen Begriffs. Tübingen: Niemeyer 1999. 113 „Text heißt Gewebe, aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefaßt hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vor‐ stellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet.“ Roland Barthes: Die Lust am Text. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, 94. 114 Ebd. hatte Robbe-Grillet schließlich einen großen Anteil an der Wiederauferstehung des Autors in gewandelter Gestalt. 112 Die Paradoxie der autofiktionalen Schreibpraxis liegt in der gleichzeitigen Fokussierung auf und Distanzierung von der Autorität der Autorkategorie. Der Verfasser, der in letzter Konsequenz der im 20. Jahrhundert vollzogenen Abkehr vom genieästhetischen Paradigma zum Objekt seiner Darstellung (dem gelebten „Original“) keinen Zugang mehr zu finden versucht, wird narzisstisch, insofern, als dass er sein Ich in einen faktual-fiktionalen Echoraum eintreten lässt, der allsemantisch ist. Dieser Echoraum zwingt das Ich in ein endlos selbstreferen‐ tielles Zeichenspiel, in dem es nach und nach zum Verschwinden gebracht wird. Das auf diese Weise in die endlose Textur aufgelöste literarische Subjekt wird zum Material, mit dem der autofiktionale Schreiber seine Hyphologie durch‐ exerziert. Mit diesem Neologismus (griech. hyphos, Gewebe, Spinnnetz) bringt Roland Barthes eine dynamische Texttheorie auf den Punkt, die auf der Grund‐ lage zahlreicher Inter- und Kontexte eine Vervielfachung von Sinn und Wahrheit produziert. 113 Der in Gestalt des Autofiktionalisten wiedererstarkte Autor lässt sich ebenso wie der mit der theatralen Ich-Diffundierung spielende Schlingen‐ sief voll und ganz auf die Redefigur des Gewebes ein, in dem sich nach Barthes das Subjekt auflöst „wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge“ 114 . Die Intentionalität des Autofiktionalisten liegt in der Hoheitsgewalt über das Gewebe des Ichs, für die er sich der mythologischen Rede von dessen peripherer, d. h. ins Material sich verflüchtigender Präsenz be‐ dient. Gerade an der künstlerisch-autothematischen Reflexion, der im Zuge des poststrukturalistischen Paradigmas ihre Intentionalität abgesprochen wurde, wird der Umschlag vom Verschwinden des Ichs in seine hypertrophe Selbstprä‐ senz deutlich, die einem unendlichen Spiel der Maskierungen erwächst. 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 86 <?page no="87"?> 115 Doubrovsky: „Nah am Text“, 128. 116 Vgl. Jorge Luis Borges: „Die Bibliothek von Babel (1941)“. In: Ders.: Fiktionen. Erzäh‐ lungen 1939-1944. Frankfurt am Main: Fischer 2013, 67-76. 117 Vgl. hierzu exemplarisch Samuel Beckett: Proust. Frankfurt am Main: Luchterhand 1989; Walter Benjamin: „Zum Bilde Prousts“. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II, 1 hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhr‐ kamp 1977, 310-324; Gérard Genette: Die Erzählung. München: Fink 1994; Hans Robert Jauß: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts „À la recherche du temps perdu“. Ein Beitrag zur Theorie des Romans. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986. 118 Marcel Proust: In Swanns Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, 66. 2.4 Paradigmen der Erinnerung 2.4.1 Philosophisch-ästhetische Gedächtnismetaphern im 20. Jahrhundert Mit der Kritik an der Sprache als transparentem Übermittler von Individualität geht im 20. Jahrhundert auch die Erkenntnis einher, dass die erinnernde Tätig‐ keit als Grundlage der autobiographischen Narration nicht als archäologische Grabungsarbeit zu verstehen sei, die mit dem Spaten in der Hand die Schichten des in der Vergangenheit Erlebten Stück für Stück abträgt. Stattdessen formiert sich zunehmend die drängende Frage, auf welche Erinnerungen man sein Leben aufbauen soll, „wenn davon ein gut Teil nur ‚Deck-Erinnerungen‘ sind“, die den Erinnernden lediglich „vor [sich] selbst verbergen? “ 115 Der aus der antiken Rhe‐ torik übermittelten ars memorativa, die Denkbilder (imagines) an bestimmen Orten (loci) ablegt, um sie danach in bewusstem Durchgang durch den struktu‐ rierten Raum der Erinnerung (die Augustinischen „Hallen des Gedächtnisses“) zu vergegenwärtigen, stellt Marcel Proust zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein revolutionäres Erinnerungsmodell gegenüber. In seiner siebenbändigen À la re‐ cherche du temps perdu (1913-1927) entwirft er ein Erinnerungsparadigma, das dem verfügbaren Gedächtnis, das in Jorge Luis Borges’ architektonischer Ge‐ dächtnismetapher der „Bibliothek von Babel“ vollends brüchig wird, 116 das Kon‐ zept einer unwillkürlich entgegenkommenden Erinnerung gegenüberstellt. 117 Durch einen sensorischen Schlüsselreiz bricht die Erinnerung gleichsam von einem unbekannten Ort aus über den Protagonisten Marcel herein. „Und dann mit einem Male war die Erinnerung da“ 118 -, durch den Geschmack einer Made‐ leine wird Marcel einer Fülle an Kindheitserfahrungen ansichtig, die er ad hoc zu einem Tableau vivant zusammensetzt. Erinnerung erscheint hier als Wie‐ 2.4 Paradigmen der Erinnerung 87 <?page no="88"?> 119 „Sobald ich den Geschmack jener Madeleine wiedererkannt hatte, die meine Tante mir, in Lindenblütentee eingetaucht, zu verabfolgen pflegte (obgleich ich noch immer nicht wusste und auch erst späterhin würde ergründen können, weshalb die Erinnerung mich so glücklich machte) trat das graue Haus mit seiner Strassenfront, an der ihr Zimmer sich befand, wie ein Stück Theaterdekoration zu dem kleinen Pavillon an der Garten‐ seite hinzu, der für meine Eltern nach hintenheraus angebaut worden war (also zu jenem verstümmelten Teilbild, das ich bislang allein vor mir gesehen hatte) und mit dem Haus die Stadt, der Platz, auf den man mich vor dem Mittagessen schickte, die Strassen, die ich von morgens bis abends und bei jeder Witterung durchmass, die Wege, die wir gingen, wenn schönes Wetter war.“ Ebd., 67. 120 Benjamin: „Zum Bilde Prousts“, 311. 121 Ebd. 122 Sigmund Freud: „Notiz über den ‚Wunderblock‘ (1925 [1924])“. In: Ders.: Studienaus‐ gabe, Bd. III, hg. von Alexander Mitscherlich u. a. Frankfurt am Main: Fischer 1975, 366. 123 Ebd., 368. dererkennung von bereits Vergessenem. 119 Prousts mémoire involontaire dient im Roman nicht nur der literarischen Darstellung einer Rückblende, sondern zeigt zugleich das metaliterarische Problem des Wesens von Erinnerung auf. So invertiert Walter Benjamin auf der Folie des Proustschen mémoire-Begriffes das Verhältnis von Erinnern und Vergessen. Marcels Schlüsselerlebnis, in dem das Vergessene zur Voraussetzung der Erinnerung wird, lässt Benjamin fragen, ob dieses „Werk spontanen Eingedenkens, in dem Erinnerung der Einschlag und Vergessen der Zettel“ 120 ist, nicht das Gegenstück zum Weben der Penelope sei, „[d]enn hier löst der Tag auf, was die Nacht wirkte“ 121 ? In Prousts Nobilitierung des Vergessens (Nacht), die nicht Gegenteil des Er‐ innerns (Tag) ist, sondern seine notwendige Grundlage, zeichnet sich ein im Laufe des 20. Jahrhunderts vieldiskutiertes Erinnerungskonzept ab. Die psycho‐ analytische Bewusstseinstheorie baut auf der Erkenntnis auf, dass das Vergessen regelrecht Fundament des Gedächtnisgebäudes sei. Sigmund Freud machte im Jahr 1925, als er sich mit dem menschlichen Gedächtnis beschäftigte, die Ent‐ deckung, dass der sogenannte „Wunderblock“ (der gerade neu in den Handel gekommen und im Wesentlichen eine Wachstafel mit darüber liegendem Blatt Papier zur Beschriftung war), endlos beschreib- und wieder löschbar ist und somit dem von ihm „supponierten Bau unseres Wahrnehmungsapparates“ 122 ähnelt. Dieser weise, so Freud, ebenso wie der „Wunderblock“, eine an der Ober‐ fläche liegende, reizaufnehmende Schicht (von ihm gleichgesetzt mit dem „System Wahrnehmungs-Bewusstsein“) und eine tiefer liegende Wachsschicht (das Unbewusste) auf, die sämtliche Erinnerungen speichere. Der permanent wiederbeschreibbaren Bewusstseinsoberfläche steht in Freuds psychoanalyti‐ scher Konzeption des Gedächtnisses eine „Dauerspur des Geschriebenen“ 123 ge‐ 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 88 <?page no="89"?> 124 Dt. Übersetzung zit. nach: Harald Weinrich: „Schriften über Schriften. Palimpseste in Literatur, Kunst und Wissenschaft“. In: Ders.: Wie zivilisiert ist der Teufel? Kurze Besuche bei Gut und Böse. München: Beck 2007, 30; Thomas De Quincey: Confessions of an English Opium-Eater, and Suspiria de Profundis. Boston: Ticknor, Reed and Fields 1850, 235. 125 Dt. Übersetzung zit. nach: Weinrich: „Schriften über Schriften“, 30. 126 Vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. genüber, in der zwar alles jemals Notierte erhalten, nicht aber direkt zugänglich bleibt. Damit nimmt Freud die moderne Gedankenfigur des Palimpsests (griech. palin, wieder; psaein, abschaben) auf, die der britische Schriftsteller Thomas De Quincey in seinen Confessions of an English Opium-Eater (1821/ 22) der Funkti‐ onsweise des menschlichen Geistes unterlegt hatte. De Quincey sah im Vorgang des Vergessens den zentralen Link zur Strukturierung des geschichteten menschlichen Gedächtnisses: „ohne Ende haben sich im Vergessen Schichten einander überlagert“ 124 . Auch Charles Baudelaire operiert im Sinne der Gedan‐ kenfigur des Palimpsests mit der Formel des Eingedenkens als Vergessen: Was ist das menschliche Gehirn anderes als ein gewaltiger und natürlicher Palimp‐ sest? Ein Gehirn ist ein Palimpsest und deines auch, Leser. Unzählige Schichten von Vorstellungen, Bildern, Gefühlen haben sich nacheinander auf dein Gehirn gelegt, so sanft wie Licht. Jede dieser Schichten schien die frühere einzuhüllen. Aber keine ist in Wirklichkeit zugrunde gegangen. 125 Das Konzept des Palimpsests, das Gérard Genette in den 1980er Jahren für ein narratologisches Analysemodell fruchtbar machen sollte, 126 lebt im Umfeld der poststrukuralistischen Intertextualitätsforschung als Gewebemetapher fort, die Benjamin mit seinem Bild von Penelopes Weben bereits antizipiert hatte, bevor Barthes sie zur Hyphologie zuspitzte. Der Hypertext drängt in Genettes Konzept den Hypotext in tiefere Schichten des Gewebes ab, umgekehrt holt der über‐ malende Hypertext den älteren Hypotext aus der Vergessenheit hervor. Im Sinne der Intertextualitätstheorie weist dieses Wechselverhältnis zurück auf einen Ursprungstext der Autobiographik: auf die von Augustinus im zehnten Buch seiner Bekenntnis-Schrift artikulierte Gewissheit, dass er sich als Autobiograph auf die Spuren seiner Vergangenheit begebe, die ihm das Vergessen als Voraus‐ setzung des Erinnerungsbildes gleichsam ins Gedächtnis eingeprägt habe. Umberto Eco hat zwar mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass eine ars ob‐ livionalis aus semiotischer Sicht aufgrund der fundamentalen, unhintergeh‐ 2.4 Paradigmen der Erinnerung 89 <?page no="90"?> 127 Da die Semiotik darin gründe, etwas Abwesendes anwesend zu machen, sei eine Theorie des Vergessens vom semiotischen Standpunkt aus nicht denkbar: „If an art of memory is a semiotic, then we can understand why it is not possible to construct an ars oblivi‐ onalis on the model of an art of memory. If one did, the ars oblivionalis would also be a semiotics, and it is proper to a semiotics to make present something absent.“ Umberto Eco: „An Ars Oblivionalis? Forget it! “. In: PMLA, 103, H. 3 (Mai 1988), 258. 128 Vgl. dazu Anselm Haverkamp, Renate Lachmann (Hrsg.): Gedächtniskunst: Raum - Bild - Schrift. Studien zur Mnemotechnik. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991; Anselm Haverkamp, Renate Lachmann (Hrsg.): Memoria - Vergessen und Erinnern. München: Fink 1993; Aleida Assmann, Dietrich Harth (Hrsg.): Mnemosyne. Frankfurt am Main: Fischer 1991; Harald Weinrich: Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München: Beck 1997; Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Ge‐ dächtnisses. München: Beck 1999; Elisabeth Weber, Georg Christoph Tholen (Hrsg.): Das Vergessen(e). Anamnesen des Undarstellbaren. Wien: Turia + Kant 1997; Kai Behrens: Ästhetische Obliviologie. Zur Theoriegeschichte des Vergessens. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005. 129 Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 166. baren Präsenz des Zeichens undenkbar sei, 127 dennoch wurde der enge Konnex zwischen Eingedenken und Vergessen in den letzten Jahrzehnten durch die Er‐ innerungs- und Gedächtnisforschung mit medienwissenschaftlichem Interesse verstärkt thematisiert. 128 Obwohl die aus der antiken Rhetorik stammende räumliche Gedächtnismetapher in den rund um das Palimpsest zentrierten Er‐ innerungskonzepten nicht gänzlich verschwunden war, fand doch gerade im erweiterten Feld der Autobiographieforschung eine Abwertung des Gedächt‐ nisbegriffs als jederzeit begehbarem Behältnis gespeicherter Erinnerungen zu‐ gunsten einer Aufwertung von Erinnerung als zeitlich-dynamisch strukturierte Tätigkeit statt. Explizit für den Bereich der Autobiographik macht Aleida Ass‐ mann ihre Lesart von Erinnerung als dynamisch gestaltet fruchtbar. Assmann entwickelte unter anderem auf der Grundlage von Augustinus’ Confessiones den Gedanken, dass den räumlich verfassten Gedächtnismetaphern zeitliche gegen‐ überstehen. An den selbstreflexiven Überlegungen des Augustinus als Autobio‐ graph, nämlich seiner Formulierung, dass das Gedächtnis der Magen der Seele sei, gelangt sie zu der Erkenntnis, dass es sich dabei um einen „Ort des Durch‐ gangs, nicht des Dauerns, ein[en] Ort der Verarbeitung und Umsetzung, nicht des Konservierens“ 129 handle. Dementsprechend erscheint die Erinnerung auch im Umfeld der Autobiogra‐ phieforschung aus dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts als Effekt medial-ma‐ terialer Konstruktionen. Die Gedächtnis- und Erinnerungsforschung der ver‐ gangenen Jahrzehnte geht dabei entschieden über die Vorstellung einer immanenten „Verfälschung der Wahrheit durch den Akt der erinnernden Be‐ 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 90 <?page no="91"?> 130 Roy Pascal: Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt. Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1965, 90. 131 Schneider: Die erkaltete Herzensschrift, 249. 132 Vgl. Jacques Derrida: „Die différance“. In: Ders.: Randgänge der Philosophie, hg. von Peter Engelmann. Wien: Passagen 1988, 29-52. sinnung“ 130 hinaus, wie sie etwa Roy Pascal im Umfeld hermeneutischer For‐ schung formulierte, und fokussiert stattdessen die kulturell codierten Wahr‐ nehmungsmuster, die den Akt der Erinnerung erst topologisch strukturieren. Das in autobiographischen Texten oftmals reklamierte Spiegelverhältnis zwi‐ schen der Entwicklung des Lebenslaufs und der linearen Narration hat sich un‐ terdessen als Phantasma erwiesen. Nicht nur, weil der Blick zurück in die eigene Vergangenheit die zur biographischen Entwicklung notwendigerweise entge‐ gengesetzte Richtung einnehmen muss, sondern auch, weil die autobiographi‐ schen Topoi die Erinnerung gleichsam mechanisch strukturieren, mit anderen Worten: Es war die Einsicht gewonnen, dass der einer Selbstbeschreibung zu‐ grunde liegende Akt der Erinnerung sowohl durch die Medialität der Sprache als auch durch konventionalisierte Narrative determiniert ist. An diesem Punkt setzt Manfred Schneider mit seinem 1986 erschienen Beitrag Die erkaltete Herzensschrift an, in dem der Autor die Transformation des auto‐ biographischen Schreibens im 20. Jahrhundert fokussiert. Er unterstreicht die Abhängigkeit der Selbstbeschreibung vom Medium der Schrift und entwirft in Rücksicht auf die multimedialen technologischen Entwicklungen im 20. Jahr‐ hundert schließlich eine Theorie der mediatisierten Autobiographie, die in den letzten Inszenierungen Schlingensiefs noch ins Extrem getrieben wurde. Schnei‐ ders Überlegungen beziehen sich auf die in den Autobiographien des 20. Jahr‐ hunderts vermehrt auftretenden Verweise auf Fotos, Filme und Schallplatten, mit denen das selbstschreibende Ich auf verbürgte Erinnerungen zurückzu‐ greifen glaubt: […] die autobiographischen Schriften […] bestimmen sich selbst als Epiphänomene der kulturellen Textualität und näherhin entfalten sie sich - wo es um die Gewähr der Erinnerungen, um die Schaltungen in die eigene Vorgeschichte geht - als Kommentare von Photos, von Bildern der Vergangenheit, von Filmen, von Schallplatten. 131 Schneiders hellsichtiger Eindruck, wonach die Autobiographie im 20. Jahrhun‐ dert zunehmend vom Rhythmus der medialen Verschaltungen der Erinnerungs‐ dokumente strukturiert werde, synthetisiert einen diskursanalytischen mit einem dekonstruktivistischen Ansatz. In seinem 1972 erschienenen Aufsatz „La différance“ 132 legt Jacques Derrida - dem hiermit ein kurzer Exkurs gewidmet sein soll - unter dem gleichnamigen von ihm geprägten Neologismus ein Kon‐ 2.4 Paradigmen der Erinnerung 91 <?page no="92"?> 133 Freud: „Notiz über den ‚Wunderblock‘“, 368. 134 Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, 109. 135 Ebd. 136 „Jeder Begriff ist seinem Gesetz nach in eine Kette oder in ein System eingeschrieben, worin er durch das systematische Spiel von Differenzen auf den anderen, auf die an‐ deren Begriffe verweist. Ein solches Spiel, die différance, ist nicht einfach ein Begriff, sondern die Möglichkeit der Begrifflichkeit, des Begriffsprozesses und -systems über‐ haupt.“ Derrida: „Die différance“, 37. 137 „Dissemination (frz. dissémination: Ausstreuung des Samens, Verbreitung) ist ein von Derrida geprägter Begriff, der [...] in Abgrenzung zur Polysemie die unreduzierbare Mannigfaltigkeit generativer Bedeutungsprozesse unterstreicht.“ http: / / differenzen.univie.ac.at/ glossar.php? sp=12 (Zugriff am 15. April 2017). 138 Derrida: „Die différance“, 35. zept vor, mit dem der feste und in sich kohärente Grund der Bedeutung den fortwährenden sprachlichen Prozessen des Aufschubs (Temporalisation) und der Verschiebung (Verräumlichung) weicht. Dabei überträgt Derrida Freuds Konzeption des menschlichen Gedächtnisses in poststrukturalistischer Manier auf die Schrift. Was Freud die Dauerspur als unbewusstes Fundament der Erin‐ nerung war, die „bei geeigneter Belichtung lesbar“ 133 ist, ist Derrida die immer entzogene Präsenz des sprachlichen Sinns, eben dessen existentielle Verfasstheit als Spur. Derridas Revision von Freuds Dauerspur des Unbewussten, die sich nunmehr gänzlich dem Sinn entzieht, da sich Bedeutung als unabschließbarer differentieller Prozess zwischen Signifikant und Signifikat ereigne, führte zur Trope der différance für die Unerschließbarkeit des Sinns. Die différance, die entgegen der strukturalistischen Zeichenbestimmung gerade nicht mehr die Repräsentation von Präsenz fasst, definiert Derrida als „reine Bewegung“ 134 , in der sich Sinn permanent neu konstituiere und niemals festschreiben lasse. Dif‐ ferenz bleibt gebunden an „eine Spur, die das Andere als Anderes im Glei‐ chen“ 135 und eben nicht das Beharrende im Wechsel erfasst, wie Misch forderte. Derridas Konzept weitergedacht, erzeugt die Sprache, die das Gedächtnis der Autobiographen konstituiert, ein Netz von Verweisen, bar jeglichen absoluten Sinns. Als Folge dieser forcierten semiotischen Dynamisierung existiert fortan nur mehr ein Geflecht von aufeinander verweisenden Signifikanten, in dem jedes Zeichen zum Anzeichen für ein anderes wird. 136 Schlingensief wird sich diese Verfahrensweise der Signifikanten in seinen autobiotheatralen Inszenie‐ rungen, wie zu zeigen sein wird, in besonderem Maße zu eigen machen. Der dem Konzept der différance eignende fluide Charakter von Bedeutungs‐ generation im Allgemeinen, dem Derrida durch den Terminus der „Dissemina‐ tion“ 137 Ausdruck zu verleihen suchte, rückt das für die Autobiographie konsti‐ tutive Verhältnis zwischen Repräsentation und Präsenz in ein problematisches Verhältnis. Dem in seiner Temporalität lediglich als „aufgeschobene Präsenz“ 138 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 92 <?page no="93"?> 139 Ebd., 37. 140 Ebd. 141 In De la grammatologie legt Derrida den für ihn zentralen Begriff der écriture dar. Er argumentiert darin auf der Grundlage des strukturalistischen Zeichenbegriffs von Fer‐ dinand de Saussure für die Vorgängigkeit des Signifikanten vor dem Signifikat. Vgl. Derrida: Grammatologie. 142 Vgl. 2. Kor. 3, 3: „die ihr offenbar geworden seid, daß ihr ein Brief Christi seid, durch unsern Dienst zubereitet, und geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht in steinerne Tafeln, sondern in fleischerne Tafeln des Herzens.“ Sämtliche Bibelzitate im Text sind der Lutherbibel von 1912 entnommen. 143 Schneider: Die erkaltete Herzensschrift, 9. 144 Ebd., 10. fassbaren Zeichen strebt die im Kern der Sprache verankerte erinnernde Re‐ präsentation entgegen. Der Versuch der Wiederaneignung von Präsenz durch Repräsentation muss für den Autobiographen im Spiel der Differenzen notwen‐ digerweise scheitern. Auch und insbesondere das Ich erweist sich vor dieser Folie nicht als Essenz, sondern als Effekt der différance. Analog zu dem von Derrida unausweichlich in „das systematische Spiel von Differenzen“ 139 einge‐ schriebenen Begriff, der „nie an sich gegenwärtig“ 140 sei, entbehrt das graphische Zeichen „ich“ vollumfänglich seiner deiktischen Funktion. In Anverwandlung von Derridas Feststellung, dass sich Bedeutung im per‐ manenten Aufschub der écriture  141 entzieht, sieht Schneider bereits in dem den Augustinischen Confessiones zugrunde liegenden Urbild autobiographischer Selbstverschriftlichung, bei dem die Selbsterkenntnis noch durch Gott entsteht, den Sinn sich ins Rätselhafte auflösen. Im Bekehrungserlebnis des Paulus, der in der Anrede der Menschen als ein mit dem Geist des lebendigen Gottes ge‐ schriebener Herzensbrief kulminiert, 142 entdeckt der Autor die Trennung des pneumas (griech. für Geist, d. h. für Sinn) vom Buchstaben, die fortan die „wahre Schrift in einen Nebel von Spiritualität hüllte“ 143 . Erst durch die Einführung der Drucktechnik emanzipierte sich der Mensch, so Schneider, vom eingravierten Gotteswort und wurde selbst zum Autor seiner eigenen Wahrheit. Die medienpolitisch revolutionäre Erfindung des Buch‐ drucks - Schneider schließt hiermit an die Medientheorie Friedrich Kittlers an - ermöglichte es dem Menschen, als Schöpfer diaristischer und autobiographi‐ scher Bekenntnisse aufzutreten und seine Mitmenschen an seiner Schrift teil‐ haben, sie sprichwörtlich in seinem Herzen lesen zu lassen. Durch den Buch‐ druck, der das Paulinische Modell der göttlichen Inskription, wie es die Bekenntnisschrift Rousseaus zeigt, in eine von Menschen verfasste Reflexion von Innerlichkeit transformierte, wurde die Autobiographie laut Schneider zum „heißen Medium der Herzensschriften“ 144 . Die Entstehung dieser heißen Texte, 2.4 Paradigmen der Erinnerung 93 <?page no="94"?> 145 Ebd., 13. 146 „[D]ie Sprache als Performanz aller Rede ist weder reaktionär noch progressiv; sie ist ganz einfach faschistisch: denn Faschismus heißt nicht am Sagen hindern, es heißt zum Sagen zwingen.“ Roland Barthes: Leçon/ Lektion. Antrittsvorlesung am Collège de France. Französisch und Deutsch. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, 19. 147 Zu Marshall McLuhans Unterscheidung von „heißen“ und „kalten“ Medien vgl. Marshall McLuhan: „Probleme der Kommunikation mit Menschen mittels Medien“. In: Wohin steuert die Welt? Massenmedien und Gesellschaftsstruktur. Wien: Europaverlag 1978, 42-72. 148 Schneider: Die erkaltete Herzensschrift, 10. 149 Ebd., 11. verstanden als emphatische Einschreibung der Wahrheit von Menschenhand, ist für Schneider somit an den Akt der Veräußerlichung im Medium der Schrift zurückgebunden. Das göttliche Wahrheitspostulat wird dabei abgelöst von der anthropologischen Forderung des gnothi seauton. Allerdings stellen die seit dem 16. Jahrhundert entstandenen autobiographi‐ schen Texte für Schneider Duplikate dar, womit sein diskursanalytischer Ansatz offensichtlich wird: „keine Kopien von Subjektivitäten und Innerlichkeiten, sondern Kopien von Vorschriften, die Innerlichkeiten (Herzensschriften) pro‐ duzierten, um durch diese spirituellen Medien die Politik des Geistes [des Sinns] zu sichern.“ 145 Ähnlich Barthes, der die Sprache im Rahmen seiner Antrittsvor‐ lesung am Collège de France deshalb als faschistisch bezeichnete, weil sie das Sprechen nicht verbiete, sondern radikal einfordere, 146 sieht Schneider die Wahr‐ heit der Bekenntnis- und Geständnisliteratur als durch das Medium der Schrift reguliert. Die hohe Temperatur, die er in Modifikation McLuhanscher Termi‐ nologie 147 in den Bekenntnisschriften zu erkennen glaubt, steht im Zeichen dieses Wahrheitspostulats: Heiß nennen wir diese Kopien der testamentarischen Inskriptionen zum einen, weil sie im Sinne der Medientheorie McLuhans ein homogenes, detailreiches, alle Infor‐ mationen intensiv, suggestiv abstrahlendes Medium speisten. Und zum anderen er‐ reichten die Mitteilungen selbst solch hohe Temperaturwerte, weil sie unter der Regie uneingeschränkter, vorbehaltloser, erpresster Wahrheit ergingen. 148 Schneider fasst das in der Hermeneutik postulierte Ideal der Wahrheit nunmehr als ein medial „erpresstes“, mit Mitteln der sprachlichen Macht installiertes und zu bestimmten Zwecken funktionalisiertes diskursives Konstrukt. Die Confes‐ sions des Genfer Philosophen Rousseau, der nach einer Mitteilung seines In‐ neren an die Gesellschaft strebte, markieren in seinen Augen jene Zäsur, durch welche „die spirituelle Schrift des Paulus geschlossen und das große anthropo‐ logische Buch der Psychologie und Kriminologie aufgeschlagen“ 149 wurde. 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 94 <?page no="95"?> 150 Michel Leiris zit. nach: Schneider: Die erkaltete Herzensschrift, 12. 151 Schneider: Die erkaltete Herzensschrift, 13. 152 Michel Leiris: Die Spielregel 1. Streichungen (1948). München: Matthes & Seitz 1982, 27. Im 20. Jahrhundert, als das Subjekt in Folge der Freudschen Psychoanalyse seinen verbindlichen, referentiell zugänglichen Status verloren hat, hat die zur „Herzens-Schallplatte“ 150 abgekühlte Autobiographie „das symbolische Territo‐ rium der Wahrheit“ 151 schließlich endgültig verlassen. Den Begriff der „Her‐ zens-Schallplatte“ entlehnt Schneider dem französischen Autor Michel Leiris, den dieser in seiner Autobiographie La règle du jeu unter Bezug auf die Wahr‐ heitsmetapher Rousseaus konstruierte: Ich stoße im Augenblick wieder auf einen Zustand dieser Art, wenn ich versuche, unter der Spitze meiner Feder etwas zu neuem Leben zu erwecken, was tatsächlich nur Nadelspitzen sind, will sagen: diesen recht eigentümlichen Flöz von Erinnerungen, dessen Abbau ich hier in Angriff nehme. Das sind sehr dünne Nadeln, deren stählerner Schimmer mich um so mehr faszinieren wird, je feiner die Spitzen sind und die na‐ türlich umso besser perforieren, je unspürbarer ihr Stich ist. Von diesen nicht allzu grausamen Nadeln wünschte ich mir nur, dass sie wie eine schöne Schallplatte die kaum ahnbaren Rillen zum Singen bringen, die meinem Herzen eingraviert sind. 152 Rousseaus Herzensschrift und Leiris’ Herzensschallplatte präsentieren für Schneider zwei unvereinbare Schrift-Ordnungen. Die, die Medialität der Schrift ersetzende, Schallplatte wird ihm zur Metapher für die endgültig vollzogene Trennung von Subjekt-Wahrheit und medialer Wahrheit. So liest sich seine Ge‐ schichte der Autobiographie folgendermaßen: Die Epoche der Schrift und des Drucks erzeugte zu ihrer eigenen Beglaubigung die Autobiographie; dieses Buch schließt sich im 20. Jahrhundert; neue Medien der Speicherung kommen auf und damit auch ungekannte semiotische Mächte, die das autobiographische Ich ver‐ walten. Vor allem die im diegetischen Rahmen der Autobiographien als Erin‐ nerungsauslöser thematisierten Fotos, Filme und Schallplatten machen den Um‐ stand offensichtlich, dass das schreibende Ich zunehmend im Modus der Nachträglichkeit aus den Erinnerungsarchiven entsteht. - Die „kühlen Ver‐ schaltungen“ dieser Ich-Dokumente, die sich gerade für Schlingensiefs Autobi‐ otheatralität als konstitutiv erweisen werden, stellt Schneider nun dem „heißen“ Vorgang der Ich-Dokumentation gegenüber: Heiß sind die Archivierungen, kühl sind die Schalttechniken der Erinnerungen. Wäh‐ rend früher der heiße (wahre) Text auf die fragmentierte Vergangenheit antwortete, während früher ein Kondensat des verbindlichen Sprechens gegen die Streuungen der 2.4 Paradigmen der Erinnerung 95 <?page no="96"?> 153 Schneider: Die erkaltete Herzensschrift, 250 f. 154 Almut Finck: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie. Berlin: Schmidt 1999, 16. 155 Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, 23. 156 Jörg Dünne, Christian Moser: „Allgemeine Einleitung. Automedialität“. In: Dies. (Hrsg.): Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien. München: Fink 2008, 7. 157 Barthes: Die helle Kammer, 102. Zeit aufgeboten wurde, verläßt sich die kühle Erinnerung auf Kondensate der kultu‐ rellen und historischen Archivierungen. 153 Hinter dem tendenziösen Urteil Schneiders, dass der „heiße“ autobiographische Text durch die medialen Verschaltungen der Fragmente des Ichs im 20. Jahr‐ hundert „abgekühlt“ sei, liegt eine Theorie der Autobiographie, die dem Wandel des Gedächtnisbildes durch die Zeichenträger der Fotografie, des Films, des Tonbands etc. Rechnung tragen will. Das Prädikat „kühl“ akzentuiert dabei durchaus im Sinne von Derridas Schrift-Begriff, dass die Vorgängigkeit der ver‐ schalteten medialen Syntax die Erinnerungstätigkeit des Ichs ordnet. Wie aus der Perspektive Derridas durch die sprachlich-mediale Bedingtheit des Subjekts erst die beschriebene Lebensgeschichte entsteht, so erwächst die autobiogra‐ phische Darstellung des kühlen Erinnerungsraums aus der medialen „Ver‐ schachtelung von Vergangenheit und Gegenwart“ 154 . Gleichwohl steht auch hinter dieser Praxis noch das Phantasma des Subjekts, „dass alles, was ihm ent‐ gangen ist, ihm wiedergegeben werden kann“ 155 . 2.4.2 Automediale Erinnerungskonfigurationen Um einer grundlegenden „Medienvergessenheit“ 156 der Autobiographiefor‐ schung entgegenzuwirken, haben Jörg Dünne und Christian Moser zugleich mit einem Sammelband den Begriff der „Automedialität“ in die Autobiographiefor‐ schung eingeführt. Sie reagierten damit auf den Umstand, dass zahlreiche lite‐ rarische Autobiographen aus dem 20. Jahrhundert hybride Mischformen aus schriftlicher und bildlicher Selbstporträtierung hervorbringen, indem etwa fo‐ tografische Zeugnisse gelebten Lebens als Erreger von Erinnerungsprozessen in Texte montiert werden. Das scheinbar indexikalisch-referentielle Medium par excellence wird dabei ebenso als chemisch-optische Gedächtnisikone wie, im Geiste Roland Barthes’, der das Foto in seinem autobiographischen Text Die helle Kammer (1980) als blockierende „Gegen-Erinnerung“ 157 beschrieben hat, als 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 96 <?page no="97"?> 158 Vgl. dazu Susanne Blazejewski: Bild und Text - Photographie in autobiographischer Li‐ teratur. Marguerite Duras’ „L’amant“ und Michael Ondaatjes „Running in the family“. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002; Kentaro Kawashima: Autobiographie und Photographie nach 1900. Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes, Sebald. Bielefeld: Trans‐ cript 2011. 159 Vgl. hierzu Georges Gusdorf: Auto-bio-graphie. Paris: Jacob 1991. nicht einholbare Spur auf der Suche nach der verlorenen Zeit inszeniert. 158 Ob‐ gleich die Autoren der von Schneider besprochenen Montage von Bild- und Tonmedien in den intradiegetischen Rahmen von Autobiographien Rechnung tragen, gelangen sie zu einem entgegengesetzten Urteil, nämlich, dass die au‐ tomedial erweiterten Erinnerungsräume innerhalb der Selbstbeschreibungen, wie ganz allgemein die im 20. Jahrhundert aufkommenden technisch-medialen Selbstdarstellungskonzepte, eine größere Vielfalt an Selbstbezüglichkeiten etab‐ lieren. In der Tat wurde die von Schneider pejorativ beurteilte mediatisierte Ver‐ schaltung von Lebenszeit ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts produktiver Bestandteil von Erinnerungsarbeit im Rahmen literarischer Autobiographien. Über die angesprochene intermediale Verflechtung von literarischen und bild‐ lichen Selbstzeugnissen hinaus ermöglicht das Dispositiv der Automedialität jedoch auch eine spezifischere Betrachtung der autothematisch genutzten Me‐ dien Fotografie, Film und Video. Über Georges Gusdorfs Ausstreichung des Konstituens bios zugunsten einer „Autographie“ 159 ergibt sich eine Öffnung des Untersuchungsgegenstandes hin zur Automedialität, die die medialen Bedin‐ gungen und Möglichkeiten nicht-literarischer Selbstentwürfe fokussiert, ohne den Vergleich mit der Literatur vollends zu ignorieren. So zeigt sich an der Ent‐ wicklung des Selbstporträts im Laufe des 20. Jahrhunderts eine intensive Medi‐ enreflexion mit deutlichem Zug zur Fiktionalisierung des dargestellten Ichs. Das Medium der Fotografie etwa experimentiert auf unterschiedliche Weisen mit Modi der Selbstdarstellung, die die Wirklichkeit des Ichs torpedieren. Mit seinen Face Farces legte Arnulf Rainer in den späten 1960er Jahren Übermalungen fo‐ tografischer Selbstporträts vor, die das scheinbar entbergende dokumentarische Medium der Fotografie mit verdeckender Farbe konfrontiert, um dem Betrachter den oszillierenden Blick auf das intermediale Spiel von Entblößung und Ver‐ bergung vor Augen zu führen. Getragen vom poststrukturalistischen Apriori der Spur bat die französische Künstlerin Sophie Calle im Jahr 1981 ihre Mutter, einen Privatdetektiv auf sie anzusetzen. Ohne zu wissen, dass die Beobachtete die eigentliche Auftraggeberin war, dokumentierte der Detektiv ihre täglichen Aktivitäten und wurde dabei selbst wiederum von einem Freund Calles foto‐ grafiert. Unter dem Titel La Filature (dt. der Schatten) spielt Calles Arbeit mit 2.4 Paradigmen der Erinnerung 97 <?page no="98"?> 160 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, 260. dem Phantasma eines objektiven Blicks auf sich selbst, der deshalb scheitern muss, da die Auftraggeberin stets die Kontrolle über das, was der Fotograf sieht, behält. Die Diagnose de Mans, wonach die autobiographische Literatur das Leben erst hervorbringt, lässt sich unterdessen auch am Medium der Fotografie zeigen. Denn [d]erjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtver‐ hältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung. 160 Den medientechnologischen Grundstein für eine Überführung der Selbstspie‐ gelung in raumgreifende Settings der Selbstbeobachtung und -überwachung legte neben der Fotografie die Videokunst. So scheinen gerade Closed Circuit Installationen prädestiniert zu sein, um das Video als mediatisiertes Spiegel‐ instrument in Szene zu setzen und zugleich das medial geformte Dispositiv der Selbstüberwachung zu thematisieren, in dem der Automedialist, der sich selbst in den Blick nimmt, von den medialen Bedingungen geformt wird. Der Schweizer Aktionskünstler Dieter Roth etwa beschäftigte sich in allen seinen Schaffensperioden intensiv mit dem Selbstporträt und verschaltete dabei im Sinne Schneiders eine Vielzahl an unterschiedlichen „Selbsten“. Als Beitrag für den Schweizer Pavillon der 40. Biennale in Venedig montierte er im Jahr 1982 verschiedene auf Super-8-Film gedrehte Szenen seines Alltags zur Installation Diary. Das filmisch-mediatisierte Tagebuch präsentiert Ausschnitte aus Roths gelebtem Alltag, die den Künstler bei der Arbeit, beim Essen oder in Gesprächen zeigen. Die durch Parallelprojektion verschaltete Erinnerungsarbeit jenseits chronologischer Erzählung nimmt aufgrund der dargestellten Intimität nicht nur später aufkommende Reality- TV -Formate vorweg, sondern deskonstruiert das Künstler-Imago durch ihren Output als Panoptikum der alltäglichen Ichs. Kurz vor seinem Tod nahm Dieter Roth die Idee der filmischen Selbstüber‐ wachung erneut auf und filmte sich mit einer statischen Kamera in seinen Ate‐ liers. Daraus entstand die Videoinstallation Solo Szenen (1997-1998), die den Künstler auf 128 Monitoren bei verschiedenen Tätigkeiten präsentiert. Anders als in seinem filmischen Diary, in dem er die intimsten Szenen noch zensierte, ist Roth hier beim Privatesten, in der Auseinandersetzung mit seiner Alkohol‐ krankheit, abgebildet. Als Solist seiner eigenen Daily Soap dokumentiert er sich selbst in den verschiedenen Abschnitten seines Alkoholentzugs und drängt dem 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 98 <?page no="99"?> 161 „In den 25 Jahren, in denen ich fernsah, beunruhigten mich zusehends die Schauspieler und ihre Darstellung in Spielfilmen. Die meisten Szenen sollten offensichtlich so aus‐ sehen wie Szenen aus jedermanns Alltag. Aber sie zeigten nicht, was sie zeigen sollten. In diesen Filmen war derjenige ein guter Schauspieler, der sich in unwirklichen und phantastischen Geschichten normal und wie im täglichen Leben verhalten konnte. Oder es lief auf das Gegenteil hinaus: Man bediente sich eines phantastischen, enthusiasti‐ schen Spielstiles, um wenig aufregende Alltagsszenen darzustellen“. Zit. nach: „Dieter Roth. Solo Szenen“. http: / / www.medienkunstnetz.de/ werke/ solo-szenen/ bilder/ 2/ (Zu‐ griff am 28. März 2017). 162 Doris Kolesch: „Die Spur der Stimme. Überlegungen zu einer performativen Ästhetik“. In: Cornelia Epping-Jäger, Erika Linz (Hrsg.): Medien / Stimmen. Köln: DuMont 2003, 270. 163 Doris Kolesch: „Ästhetik der Präsenz: Theater-Stimmen“, 262. Besucher seiner Installation einen indiskreten Blick auf persönliche Momente geradezu auf. Mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen - der Verschaltung von 128 Homevideos aus unterschiedlichen Etappen des zweijährigen Zeit‐ raums - macht er sein durch Krankheit erodierendes Ich in einem den Zuschauer umgebenden Raum panoptisch erfahrbar. Die Fülle an simultan gezeigten Film‐ sequenzen enthebt den Besucher der Installation allerdings zugleich seiner Po‐ sition eines alles überblickenden Betrachters (vgl. Abb.2). So laviert die Narra‐ tion des gelebten Alltags, der das Fernsehen als negatives Vorbild dient, 161 offensichtlich zwischen dem Vorhaben, den filmischen Blick auf sich selbst zu veräußerlichen, ihn durch die synchrone Pluralisierung der aufgenommenen Ichs allerdings zugleich als Kontrafaktur eines konsistenten Identitätsbildes zu inszenieren. Der US -amerikanische Installationskünstler Vito Acconci wiederum reflek‐ tierte neben der visuellen Selbstüberwachung, die er etwa mit der Videoperfor‐ mance Centers (1971) erprobte, indem er den Videomonitor als formbaren Spiegel seiner Selbstdarstellung benutzt, auch die auditive Selbstwahrnehmung. Mit Face Off kreierte er im Jahr 1973 eine Videoperformance, die eine metare‐ flexive Durchdringung von Möglichkeiten automedialer Erinnerung des Ichs über die Stimme freigibt. Wie Krapp in Becketts Krapp’s Last Tape (1958) wird Acconci sich der Stimme seiner Vergangenheit über Tonbanddokumente ge‐ wahr. Als endliche Anzahl von Erinnerungssequenzen medial konserviert, spricht sie den hörenden Acconci direkt an und bringt ihm auf diese Weise Fragmente seiner eigenen Vergangenheit zu Gehör. Die Stimme als „prägnante Form des Selbstbezugs und der Selbstpräsenz“ 162 offeriert dem sich selbst spre‐ chen Hörenden allerdings keine Nähe zum eigenen Selbst, sondern setzt die Irreversibilität eines in der Vergangenheit aufgenommenen personalen Zu‐ stands in Szene und bringt mithin die „Fremdheit im Eigenen“ 163 als temporale Differenz zum Vorschein. Mit der ereignishaften Präsenz der eigenen, von sich 2.4 Paradigmen der Erinnerung 99 <?page no="100"?> 164 Friedrich Nietzsche: „Ecce homo. Wie man wird, was man ist“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 6, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München u. a.: dtv 1988, 257. abgespaltenen und ins Medium des Tonbands gebannten Stimme, die über den Begriff des personare eng mit der Identität verwoben zu sein scheint, dringt die unüberbrückbare Kluft zwischen dem sprechenden, empfindenden Ich der Ver‐ gangenheit und dem sich selbst zuhörenden Ich der Gegenwart ins Bewusstsein. Die Kollision der beiden über den kommunikativen Austausch von Sprechen und Zuhören vermittelten Zeitschichten der Identität transformiert den Versuch einer retrospektiven Selbstbeobachtung in ein Scheitern an der Synthese des vergangenen mit dem gegenwärtigen Ich. Die mediatisierte asymmetrische Kommunikationsstruktur, in der das leibliche Ich der Gegenwart dem Ton‐ band-Ich nicht zu antworten vermag, kompensiert Acconci durch Übermalung seiner Vergangenheit. Jene Details seines Lebens, die er sich und den Rezipienten nicht zu Gehör gelangen lassen will, belegt er mit Zensur. Mit lauter Stimme schreit er etwa „No, No, No! Don’t say this! Keep this out! “ und dominiert mit seiner gegenwärtigen die Tonband-Stimme. So ergibt sich innerhalb des medial aktivierten Erinnerungsprozesses ein Spiel von Zeigen und Verbergen über die Dimensionen von archivierter Stimme und aktualer Gegenstimme. Dabei werden nicht nur dem Publikum seiner Reise in die Vergangenheit Informati‐ onen vorenthalten, sondern er selbst widersetzt sich jener von ihm verdrängten Stimme seines Ichs, die er nicht hören, die er sich nicht zu Bewusstsein bringen möchte. Acconci erzählt mit seiner Performance nicht lediglich von der scheiternden Selbstpräsenz, der das gewesene Ich wie eine fremde körperlose Stimme ans Ohr dringt, sondern reflektiert die Unverfügbarkeit der eigenen Vergangenheit im Medium des Tonbanddokuments selbst. Die in den Gedächtnisspeicher als me‐ diale Prothese eingebrannte Stimme, so scheint er zeigen zu wollen, kann nicht zu ihm vordringen, da er bereits ein Anderer ist. Als metareflexiver Kommentar über die Erinnerung enthält die Performance den Gedanken, dass selbst archi‐ vierte Vergangenheit überschrieben werden kann, und verweist zugleich auf die Unmöglichkeit, sich selbst sein Leben zu erzählen. Acconcis technisch-medialen Ich-Dokumenten, die einst erstellt wurden, um später angehört zu werden, ist in Fortführung eines autobiographischen Topos der Modus des Futurum Exactum eingeschrieben, der die von der Erinnerung überdeckten, verlorenen Teile des Ichs als vorkünftige Epiphanie zur Erschei‐ nung bringt. Schon Friedrich Nietzsche, der dem Leser seiner autobiographi‐ schen Schrift Ecce homo die widersprüchliche Anweisung gibt, ihn nicht zu ver‐ wechseln, obwohl er zugleich „der und der“ 164 sei, setzt sich über die literarische 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 100 <?page no="101"?> 165 Ebd., 263. 166 Ebd., 257. 167 Vgl. Jacques Derrida: „OTOBIOGRAPHIEN - Die Lehre Nietzsches und die Politik des Eigennamens“. In: Ders., Friedrich Kittler: Nietzsche - Politik des Eigennamens. Wie man abschafft, wovon man spricht. Berlin: Merve 2000, 32. Metaphorisierung der Heautoskopie nicht nur als Doppelgänger seiner Selbst in Szene, sondern schreibt recht eigentlich, um sich später seines eigenen, sich wandelnden Daseins versichert zu haben. Das Epigraph seines Selbstidalogs schließt er mit den Worten: „Und so erzähle ich mir mein Leben“ 165 . Die im Vorwort artikulierte Unsicherheit, ob es „vielleicht bloss ein Vorurtheil“ 166 sei, dass er lebe, wendet er mit dem verschriftlichten, zuallererst an sich selbst ge‐ richteten Lebenszeugnis schließlich in die Gewissheit über sein Leben um. Jacques Derrida hat aus Nietzsches Formulierung, sich sein eigenes Leben zu erzählen, den Imperativ herausgelesen, sich selbst anzusprechen, um sich zur Erscheinung zu bringen. In diesem Sinne änderte Derrida den Begriff der Au‐ tobiographie in den ebenso für Acconcis gebrochene Vergangenheitsreflexion wie für Schlingensiefs thanatographische Inszenierungen brauchbaren der Otobiographie (griech. oto, verwendet in Zusammensetzungen mit „Ohr“) ab. 167 2.4 Paradigmen der Erinnerung 101 <?page no="102"?> Abb. 2: Dieter Roth, Solo Szenen, 1997-1998 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 102 <?page no="103"?> 168 Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! , 162. 2.5 Schlingensiefs Autobiotheatralität Das automediale Doppelgänger-Motiv, das sich in den Installationen von Dieter Roth und der Video-Performance von Vito Acconci als mit technisch-medialen Mitteln herbeigeführte Ich-Multiplikation fassen lässt und Lacans Theorem des Narzissmus im Feld der Kunst reflektiert, ist für die letzten Inszenierungen von Christoph Schlingensief überaus konstitutiv. So setzt der Regisseur in Eine Kirche der Angst und Mea Culpa mithilfe institutionalisierter kommunikativer Praktiken der Selbstäußerung ein visuelles und akustisches Wechselspiel zwi‐ schen Ich-Konzentration und Ich-Diffundierung in Szene. Die autobiotheatralen Arbeiten greifen auf diese Weise die große Erzählung von Selbsterkenntnis und Selbstverkennung um die komplementären Gestalten von Narziss und Echo auf, die Roths visuelle und Acconcis akustische Automedialität bevölkern. Das Di‐ lemma des Ichs bleibt bei Schlingensief Reflexion in der ganzen Doppeldeutigkeit der Wortbedeutung: als Nachdenken-über-sich-selbst und als Widerhallseiner-Stimme. Die Inszenierungen weisen dementsprechend eine Vielzahl an impliziten und expliziten Bezügen zu den im Ausdrucksfeld der Autobiographie ästhetisierten Selbstpräsentationsformen auf, von der analytischen Selbstaussprache im Ta‐ gebuch und der vermeintlich synthetischen Lebensbilanzierung (Eine Kirche der Angst) bis hin zu religiösen Beicht- und Bekenntnisformen und der psychoana‐ lytischen talking cure (Mea Culpa). Diese Intertexte zu kulturell gewachsenen Selbstäußerungsformen erscheinen nun allerdings durchgehend in theatral-me‐ dial transformierter Gestalt -, um ein Beispiel vorwegzunehmen: Schlingensiefs zunächst auf Tonband eingesprochene Selbstdialogisierung, die hernach als Ta‐ gebuch veröffentlicht wurde, geht in Eine Kirche der Angst als ein in mehrfacher Hinsicht verfremdeter Hypotext ein. So wird das Selbstbekenntnis als Ton‐ band-Dokument eingespielt und darüber hinaus auch von Schauspielern vor‐ getragen. Durch diesen Medientransfer zu „erkalteten“ Residuen des Subjekts verformt, wird ihr Sinn durch Umschichten und Re-Kombinieren mannigfaltig und nur mehr als Spur lesbar. Bereits Schlingensiefs im Zusammenhang mit der Vorbereitung von Eine Kirche der Angst getätigte Aussage, dass er die Kraft für seine Selbstreflexion nur erhalte, wenn er „Gedanken formuliere und in Bilder transformiere“ 168 , macht jenes inversive Ursache-Wirkung-Verhältnis zwischen Leben und künst‐ lerischer Selbstthematisierung offensichtlich, das de Man im Maskenspiel des Ichs in der Autobiographie zu beobachten glaubte. Bei genauerem Betrachten 2.5 Schlingensiefs Autobiotheatralität 103 <?page no="104"?> 169 Vgl. hierzu die Studie Tugendhats über Bedeutung und Möglichkeiten, sich „ich“-sagend zu sich zu verhalten: Ernst Tugendhat: Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie. München: Beck 2006. spitzt Schlingensief de Mans Diagnose ganz im Sinne Doubrovskys zu einer regelrecht autofiktionalen Poetik zu, indem er ähnlich Goethe in der Künstler‐ autobiographie Dichtung und Wahrheit zugleich und widersprüchlich den do‐ kumentarisch faktualen und ästhetisch fiktionalen Pakt abschließt. Dem ex‐ zentrischen Ich-Sager, 169 der sich propositional in Bezug zur Welt setzt, steht dabei ein aufgrund von Krankheit dissoziiertes Subjekt gegenüber, das sich selbst nicht mehr als Ganzes, sondern, als Chiffre des erodierenden Angst-Ichs im Geist Blaise Pascals, nur mehr in seinen fiktionalisierten Splittern zu fassen bekommt. Das autofiktionale Programm Doubrovskys auf die Bühne transponierend, stellen die Inszenierungen einen medial-theatralen Kompositionsprozess aus, der verstreute Fragmente, unvollendete Teile zu Effekten des Ichs arrangiert. In der Tat generierte Schlingensief in seinen letzten Bühnenarbeiten ungeachtet seiner solipsistischen Position der Selbstentblößung vor Gott und den Mitmen‐ schen, die geradewegs auf den autobiographischen Impetus von Augustinus und Rousseau verweist, mittels figurativer Maskierungen und theatral-medialer Ab‐ schattierungen seiner selbst ein multiples und ephemeres Ich. So scheinen weder die idealistisch-hermeneutischen Kategorien der Wahrhaftigkeit und Unmittel‐ barkeit einen hinreichenden Ausgangspunkt für die Ergründung dieser medi‐ alen Ich-Effekte zu bilden noch die literaturwissenschaftlich-rezeptionsästheti‐ sche Sichtweise Lejeunes, wonach der autobiographische Pakt im gegenseitigen Einverständnis zwischen integralem Künstler-Subjekt und Rezipienten ge‐ schlossen werden könne. Während Schlingensief in all seinen schriftlich ver‐ fassten autobiographischen Zeugnissen (vom Tagebuch über die Autobiogra‐ phie bis hin zu seinen Blogeinträgen) die Selbsthaftung des Autors mit der transparenten Darstellung des Ichs verwechselt, ist das Verhältnis zwischen auktorialer Wahrhaftigkeit und theatraler Figuration in seinen thanatographi‐ schen Ich-Projektionen ein gebrochenes. Die von Manfred Schneider in der Paulinischen Herzensschrift erkannte Trennung von Pneuma und Buchstabe zeigt sich in Schlingensiefs Theater sogar als Trennung zwischen Sujet und dessen Agenten. So sind die Inszenierungen zuallererst palimpsestartige Gebilde, in denen das Ich selbst schon längst kein Integrum mehr darstellt und Lebensbeschreibung als Produkt einer komplexen medialen Bastelarbeit entsteht. Der Regisseur ver‐ schränkt unter Einbezug selbstbiographischer technisch-medialer Dokumente die unterschiedlichsten Maskierungen des Künstler-Ichs zu szenischen Tableaus 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 104 <?page no="105"?> 170 „Ganz wie die Bastelei auf technischem, kann das mythische Denken auf intellektuellem Gebiet glänzende und unvorhergesehene Ergebnisse zeitigen.“ Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, 29 f. 171 Vgl. dazu Genette: Palimpseste. 172 Helmuth Plessner: „Zur Anthropologie des Schauspielers (1948)“. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. VII, hg. von Günter Dux und Odo Marquard. Frankfurt am Main: Suhr‐ kamp 1982, 403. 173 Ebd., 403 f. einer theatralen Jetzt-Zeit und unterläuft dabei konsequent die mit der Selbst‐ darstellung implizit verbundene Authentizitätserwartung. Dem Rezipienten seiner letzten Bühnenwerke wird durch die umfassende Technik der Montage letztlich die Möglichkeit untersagt, sich auf die in den autoreferentiellen Doku‐ menten gelegten Spuren des Da-Gewesenen zu fokussieren und die Person des Abbildenden und Abgebildeten als Einheit zu begreifen. Stattdessen wird dieser zum Zeugen einer kreativen Selbstschaffenspraxis im Sinne von Claude Lévi-Strauss’ bricolage, 170 verstanden als Re-Organisation und -Kontextualisie‐ rung von zur Verfügung stehenden Zeichen. Schlingensiefs letzte Arbeiten tragen den Charakter einer mehrschichtigen und multiperspektivischen Auto‐ medialisierung, die das Ich über seine fraktalisierten Spiegelgestalten im Bar‐ thesschen Sinn zur Spinne macht. Dabei führt die Technik der medial-theatralen Hyphologie zu einem Theater „auf der zweiten Stufe“ 171 , nämlich zu einer Trans‐ position der existentiellen Unfassbarkeit des Ichs auf die Ebene der Darstel‐ lungstechnik und -ästhetik. Seine thanatographischen Inszenierungen denken die autofiktionale Schreib‐ praxis nach Maßgabe der spezifisch theatralen Darstellungsmöglichkeiten weiter. Aufgrund des theatralen Dispositivs leiblicher Präsenz ist das multipli‐ zierte Ich zusätzlich auch als lebendiger Mensch anwesend. Die von Helmut Plessner präfigurierte Erkenntnis, wonach der Mensch in Dichtung und bil‐ dender Kunst lediglich „‚auf Umwegen‘ und ‚im Abstand‘, in Wort, Farbe und Form, nicht [aber] in Menschen selbst“ 172 dargestellt werden könne, der Schau‐ spieler hingegen über die einzigartige Möglichkeit verfüge, Bilder „von Fleisch und Blut, von Geist und Herz“ 173 zu entwerfen, markiert eine der zentralen Ver‐ schiebungen von der literarisch autofiktionalen und automedialen hin zur au‐ tobiotheatralen Praxis Schlingensiefs. Auf dieser Basis modifiziert die autobiotheatrale Darstellungsform die Refe‐ renzlosigkeit des Ichs in der literarischen Autobiographie. Stattdessen projiziert sie das Ich auf zahlreiche Darsteller, aber auch in mediale Apparaturen. Steht das „ich“ in der Autobiographie aufgrund der behaupteten Identität von Subjekt (Beschreibendem) und Objekt (Beschriebenem) der Darstellung in einer dop‐ pelten sprachlogischen Funktion, so evolviert das autofiktionale „ich“ in der 2.5 Schlingensiefs Autobiotheatralität 105 <?page no="106"?> 174 Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 2008, 175. 175 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, 129 ff. 176 Plessner: „Zur Anthropologie des Schauspielers“, 411. 177 Lehmann: Postdramatisches Theater, 174. 178 Vgl. Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Ein Ansatz zu einer Symboltheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, 15 ff. theatralen Selbstpräsentation Schlingensiefs aus einer multifokalen Relation. Die „potenzierte Zeichenhaftigkeit des Theaters“ 174 zeigt sich in Schlingensiefs letzten Arbeiten im Zusammentreffen dreier Funktionsebenen des Ichs: 1. der Präsenz von Schlingensief als Performer seiner selbst, 2. der Präsentation me‐ dialer (filmischer, fotografischer, akustischer) Archivierungen von Schlingen‐ siefs Leben und 3. der figurativ-verfremdenden Verkörperungen seines Ichs durch Schauspieler, mit denen die von Erika Fischer-Lichte akzentuierte Span‐ nung zwischen phänomenalem Leib und semiotischem Körper als Moment von Autofiktionalität funktionalisiert wird. 175 Sowohl mit den Präsentationen medi‐ aler Dokumente als auch mit den von verschiedenen Darstellern verkörperten Erscheinungsformen wird die von Plessner formulierte fundamentale „Abstän‐ digkeit des Menschen zu sich“ 176 regelrecht in Szene gesetzt. Was die Figurenrede anbelangt, so wird zwischen der literarischen Selbst‐ darstellung und der theatralen folgende Verlagerung ersichtlich: Während das gewesene Ich der literarischen Autobiographie sowie die möglich gewesenen Ichs der Autofiktion mit dem schreibenden Ich der Gegenwart in seiner/ ihrer schriftlich semiotischen Repräsentationsform verbunden ist/ sind, so sind die fiktionalen Ichs (die figuralen Verkörperungen) in Schlingensiefs Theater an fremde semiotische Körper geknüpft. Da dabei sämtliche autofiktionalen Ich-Positionen „in einem Atemzug materieller Vorgang […] und ‚Zeichen für‘“ 177 sind, spaltet sich das Subjekt der Aussage (énoncé) offensichtlich materialiter vom Akt des Aussagens (énonciation) ab. Hinsichtlich der Präsenz der Person Schlingensief auf der Bühne wiederum ist gesetzt, dass diese Figur ist, in der Person und Persona zusammenfallen. Schlingensief kommt auf der Bühne selbstverständlich nicht umhin, Rollen zu verkörpern: sei es die selbstreflexive des Regisseurs, die des homo dolorosus oder die des Priesters und Demiurgen. Im leiblich anwesenden Ich als Sujet der Darstellung fallen deshalb im Sinne der Zeichentheorie Nelson Goodmans die Zeichenfunktionen der Exemplifikation (des Vorweisens) und der Repräsentation/ Denotation (des Verweisens) zu‐ sammen. 178 Die sich im Zwischenraum von repräsentational-verkörperndem und perfor‐ mativ-hervorbringendem Theater ereignende autobiotheatrale Inszenierungs‐ 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 106 <?page no="107"?> 179 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer 2006, 29 (§ 7). 180 Vgl. dazu Marianne Kesting: „Welttheater des Ichs: Strindberg - Artaud - Ionesco“. In: Peter Csobaádi u. a. (Hrsg.): Welttheater, Mysterienspiel, Rituelles Theater. „Vom Himmel durch die Welt zur Hölle“. Gesammelte Vorträge des Symposiums 1991. Anif: Müller-Speiser 1992, 41-52. strategie Schlingensiefs trägt im Sinne des poststrukturalistischen Ereignisden‐ kens, das die wahrheitsstiftende Funktion der auktorialen Sprache negiert, dazu bei, dass die Erscheinung der Essenz stets fern bleibt. Schon der ideelle Bürge des Poststrukturalismus Martin Heidegger hat dieses Ausschlussverhältnis aus‐ formuliert: „Erscheinung als Erscheinung von etwas besagt […] gerade nicht: sich selbst zu zeigen, sondern das Sichmelden von etwas, das sich nicht zeigt, durch etwas, was sich zeigt. Erscheinen ist ein Sich-nicht-zeigen.“ 179 Schlingensiefs au‐ tobiotheatrales Spiel mit dem Erscheinen-Wollen und Sich-Nicht-Zeigen- Können erweist sich mit Doubrovsky als eine Kunst, sich selbst aus seinen Resten herzustellen. Dabei erscheint diese Kunst nur auf den ersten Blick als eine, bei der ihr Urheber die Verfügungsgewalt über seine theatralen Masken abgegeben hätte. Recht eigentlich präsentiert Schlingensief ein „Welttheater des Ichs“ 180 , das suggeriert, das Leben sei ausschließlich für ihn inszeniert, um es zu erleiden und um es auf der Bühne auszumalen. Das Ich zeigt sich durch die unterschiedlichsten Figuren und repräsentiert dabei das Leid der ganzen Welt. Im Rahmen seiner Hyphologie reguliert Schlingensief die multiplen Instanzen seines Selbst und hält an dem die Subjektphilosophie seit Descartes bewegenden Anspruch der Selbstsorge als Selbsterkennung fest. Das Ich, das sich in den In‐ szenierungen in seine Einzelteile seziert und in seine Gegenbilder projiziert und dennoch alles überblicken will, gehorcht in letzter Konsequenz also dennoch dem Imperativ des gnothi seauton. Zwischen dem Regisseur Schlingensief und dem Spiegelkabinett seiner abgespaltenen Ichs zeigt sich ein ähnliches Ver‐ hältnis, wie zwischen dem Maler Diego Velázquez und seinem Gemälde Las Me‐ ninas (1656). Wie der spanische Barockmaler, der sich als Künstler in actu in sein Bild einkomponiert, so fingiert der Theaterregisseur mit der Multiplikation seines Ichs auf die Theaterbühne zuallererst den Akt der beobachtenden Erfas‐ sung seiner selbst (vgl. Abb. 3). 2.5 Schlingensiefs Autobiotheatralität 107 <?page no="108"?> Abb. 3: Diego Vélazquez: Las Meninas, 1656 Schlingensiefs hyphologische Selbstbeobachtung in Eine Kirche der Angst und Mea Culpa basiert auf der Kombination von analytisch-zerlegenden Darstel‐ lungsmodi, die das Ich vervielfältigen, und montagierend-komponierenden Dar‐ stellungstechniken, mit denen die Ich-Fragmente im Sinne des griechischen Im‐ perativs der Selbsterkenntnis wieder zusammengesetzt werden. Die analytische Zerlegung des Ichs bringt im Fluxus-Oratorium und in der ReadyMadeOper drei 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 108 <?page no="109"?> 181 Zum Begriff des „self-fashioning“ vgl. Stephen Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare. Chicago: University of Chicago Press 1980. 182 Vgl. Jean Touzot: „Jean Cocteau et son automythographie“. In: Jean Touzot (Hrsg.): Jean Cocteau 2: Autour du „Requiem“. Paris: Minard 1998, 153-172. Erscheinungsformen hervor: die Autopräsenz, die Autofiguration und die Au‐ tomythographie, wobei die beiden letzten Erscheinungsformen für das autofik‐ tionale Prinzip in den Inszenierungen stehen. Der im Vergleich zu seinen frü‐ heren Theaterarbeiten reduzierte Fall von Autopräsenz umfasst sämtliche Auftritte Schlingensiefs, mit denen er als Performer seiner selbst seine Rolle als Kranker reflektiert. Schlingensief, der in seinen Inszenierungen vor der Diag‐ nose mit Vorliebe die Rolle als metareflexiver Kommentator übernahm, um den Spielfluss zu unterbrechen und nachdrücklich auf die fiktionale Konstruktion der Bühnenereignisse zu verweisen, beobachtet die Multiplizät seines Ichs, mit Lacan sein gebrochenes moi, nunmehr größtenteils von außen. Wenn er auftritt, so tut er dies nicht in seiner einstigen Funktion als widersprüchlich agierender Störfaktor, sondern als emphatisch bekennendes Sujet der Inszenierung. Bei den autofiktionalen Erscheinungsweisen zeichnet sich demgegenüber ein komplexes „Self-fashioning“ 181 ab: die Autofiguration verweist auf zwei Refe‐ renten, Schlingensief und einen Schauspieler, der Schlingensief seine Stimme leiht. Dabei werden Schlingensiefs vergangene Ichs aus seinem Tagebuch von unterschiedlichen Darstellern in wechselnd ironisierendem, pathetischem oder distanziert kühlem Ton vorgetragen. Seine Worte nisten sich also in den Körper einer anderen Person ein und werden dabei unweigerlich verfremdet. Die Au‐ tomythographie als ein ursprünglich außerhalb des Kontextes der Autobio‐ graphie auf Jean Cocteau applizierter Begriff von Jean Touzot 182 bezieht sich gar auf drei Referenten: Schlingensief und eine von einem Schauspieler verkörperte Figur, die eine mythologische Idee in sich trägt. Schlingensief schreibt sich dabei mitsamt seinem prekären existentiellen Zustand in eine Legende ein bzw. mo‐ delliert sich als diese. In Eine Kirche der Angst etwa bringt der Regisseur seine Selbsterkenntnis über die Wagnerschen Figuren Amfortas und Parsifal zur Dar‐ stellung, während er seinem dissoziierten Ich in Mea Culpa unter anderem über die Figur der Kundry Ausdruck verleiht. Formen von Autopräsenz und Autofiktion sind nun nicht nur auf der Ebene der Figurenrede, sondern auch auf derjenigen der technisch-medialen Erinne‐ rungsdokumente zu finden: Aus dem autopräsenten Archiv stammen jene Film- und Tondokumente, auf denen Schlingensief aus unterschiedlichen Etappen seines Lebens zu sehen und zu hören ist. Aus dem automythogra‐ phischen Archiv hingegen kommen jene technisch-medialen Erinnerungsi‐ konen, in denen er mit seiner körperlichen Anwesenheit an eine Legende allu‐ 2.5 Schlingensiefs Autobiotheatralität 109 <?page no="110"?> 183 Sergej M. Eisenstein: „Jenseits der Einstellung (1929)“. In: Felix Lenz (Hrsg.): Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, 67. diert, etwa als Akteur in einer filmisch auf die Bühne projizierten Paraphrase von Beuys’ künstlerischer Arbeit mit Fettecken. Der Transfer im Fall der auto‐ mythographischen Abspaltung kann sich also wechselseitig ereignen. Entweder führt eine mythologische Bühnenfigur die Aktion Schlingensiefs aus, oder Schlingensief schreibt sich im Erinnerungsdokument in eine mythologische Figur ein. Die vom Regisseur angewandten montagierend-komponierenden Darstel‐ lungstechniken wiederum erzeugen entweder ein Spannungsverhältnis zwi‐ schen unterschiedlichen Ich-Erscheinungsweisen oder integrieren das theatral fragmentierte Ich in einen künstlerischen Kontext. Der erstgenannte Effekt von technisch-medial herbeigeführter Ich-Komposition in Eine Kirche der Angst und Mea Culpa steht im Zeichen einer Kollision von verschiedenen Ich-Zeiten. Das Material für die theatral-mediale Verschaltung liefern ausschließlich Doku‐ mente aus dem autopräsenten Archiv sowie Schlingensiefs Autopräsenz. So lässt Schlingensief etwa in Eine Kirche der Angst einen Film, auf dem er als Kind zu sehen ist, mit seiner Tonbandstimme aus der jüngsten Vergangenheit kolli‐ dieren. In Mea Culpa wiederum kommentiert er im Rahmen eines Auftritts seine als Film archivierte Vergangenheit als Regisseur. Verschaltung ist also gleich‐ bedeutend mit einer Montage von Lebenszeiten des Ichs. Während diese Technik in Eine Kirche der Angst aufgrund des lebensbilanzierenden Impetus der Insze‐ nierung noch häufig zur Anwendung gelangt, tritt die Verschaltung in Mea Culpa tendenziell in den Hintergrund. Die Gewissensforschung, die Schlingen‐ sief in der ReadyMadeOper betreibt, wird größtenteils anhand von künstleri‐ schen Kontexten und somit anhand der zweiten der montagierend-komponier‐ enden Darstellungstechniken, der theatral-medialen Mehrfachbelichtung durchgespielt. Auch hier steht die Montage im Zeichen des Konflikts und fixiert im Sinne Sergej Eisensteins einen „Punkt, an dem durch Zusammenprall zweier Gegebenheiten ein Gedanke entsteht“ 183 . Im Unterschied zur Verschaltung fun‐ giert die Mehrfachbelichtung allerdings als theatral-mediale Metapher für ein Gedächtnis, in dem sich ausschließlich künstlerische Dauerspuren sedimen‐ tieren (vgl. Abb. 4). 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 110 <?page no="111"?> 184 Vgl. Lothar Mikos: Film- und Fernsehanalyse. Konstanz: UVK 2008, 246. Abb. 4: Hyphologisches Raster für Eine Kirche der Angst und Mea Culpa: Die Mehrfach‐ belichtung hüllt das gesamte Bühnengeschehen ein, während sich die Verschaltung le‐ diglich auf die autopräsenten Erscheinungsweisen Schlingensiefs bezieht. Die Technik bezieht sich auf das fotografische wie filmische Verfahren der Mehrfachbelichtung, bei dem das Filmmaterial wiederholt belichtet wird, sodass die Bilder sich im Ergebnis überlagern. 184 Der Regisseur begründete seine Affi‐ nität zur Übermalung einer Bildordnung mit einer zweiten in seinen Filmen und Theaterarbeiten durch eine Initialerfahrung in seiner Kindheit, an der einmal 2.5 Schlingensiefs Autobiotheatralität 111 <?page no="112"?> 185 Hans Ulrich Obrist: „Vervielfältigungen. Christoph Schlingensief im Gespräch mit Hans Ulrich Obrist“. In: Susanne Gaensheimer (Hrsg.): Christoph Schlingensief. Deutscher Pa‐ villon 2011: 54. Internationale Kunstausstellung La Biennale di Venezia. Köln: Kiepen‐ heuer & Witsch 2011, 304. 186 Mit Neuem Sehen wird eine in der 1920er Jahren im Umfeld des Bauhaus entwickelte fotografische Bildsprache bezeichnet, die mit Blickwinkeln und Perspektiven experi‐ mentell operiert und auf diese Weise die Illusion des fotografischen Realismus explizit unterläuft. 187 Georg Seeßlen: „Kunst im Film? Nein. Kunst als Film“. In: Susanne Gaensheimer (Hrsg.): Christoph Schlingensief. Deutscher Pavillon 2011: 54. Internationale Kunstausstellung La Biennale di Venezia. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2011, 333. 188 Max Dax, Christoph Schlingensief: „Überwindung des Theaters“. In: spex, 9 (2010), 39. mehr seine privatmythologische Verschränkung von Leben und Kunst ersicht‐ lich wird: […] die war einfach da, die Kamera, die hat mir gefallen. Mein Vater hat damit alles gedreht, was es irgendwie gab, und irgendwann hat er diese Kamera falsch benutzt, indem er sie doppelt belichtet hat. Das waren Doppel-8-Filme, die musste man in einer Richtung belichten, danach musste man die unter der Bettdecke umdrehen, dann die andere Seite belichten. Und diesen Vorgang des Umlegens unter dem Bett hat mein Vater eben zweimal gemacht, somit gab es eine Doppelbelichtung […]. Und dann ging der Film los und da sah man plötzlich, wie ich da herumlief. Ich habe Wasser getrunken und gleichzeitig waren Wasserfälle über mir. Dann saßen meine Mutter und ich am Strand und über uns liefen irgendwelche Leute herum. Das hat mich total gepackt, dass es möglich war, dass hier eine Bildinformation mit einer anderen zusam‐ menkam. 185 Schlingensiefs Collagen durch Mehrfachbelichtungen stellen den Film- und Theaterregisseur einerseits in die Tradition des im Umfeld des Neuen Sehens 186 erprobten anti-illusionistischen Umgangs mit Fotografie sowie andererseits in die Linie der Pariser Surrealisten, die Mehrfachbelichtungen für die Komposi‐ tion von Traumbildern fruchtbar machten. Er selbst betonte etwa immer wieder den prägenden Eindruck, den Luis Buñuels surrealistischer Film Un chien an‐ dalou (1929) auf ihn hinterlassen hatte. Darüber hinaus führt Schlingensiefs Be‐ vorzugung dieses Verfahrens in seinen Filmen und auf der Theaterbühne auf den Experimental- und Avantgardefilmer Werner Nekes sowie die Autorenre‐ gisseure Rainer Werner Fassbinder und Alexander Kluge zurück. Im Sinne Fass‐ binders machte Schlingensief durch die Anwendung der Mehrfachbelichtung nicht Filme „über etwas, sondern mit etwas“ 187 . Hinter seiner auf das Theater übertragenen Technik der Mehrfachbelichtung steht seine Überzeugung: „Alles ist immer Ausgangsbasis, auf das eigenes Material geschichtet werden kann.“ 188 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 112 <?page no="113"?> 189 Ebd., 40. 190 Ebd. 191 „All art is infested by other art“. Leo Steinberg: „The Glorious Company“. In: Jean Lipman, Richard Marshall (Hrsg.): Art about Art. New York: Dutton 1978, 9. Ähnlich Kluge, der „trivialste Vorgänge durch eine Off-Stimme in einen Bedeu‐ tungskontext geworfen [hat], in dem sie zuvor nie standen“ 189 , konfrontierte Schlingensief schon in seinen früheren Theaterarbeiten heterogene Bildord‐ nungen. An der obsessiven Sezession von Bild- und Tonebene zeigt sich das Selbstverständnis des künstlerischen Schöpfers, dem filmisches Material im Zeichen eines unbedingten Freiheitsbestrebens zuhanden ist und in den Worten Schlingensiefs Dinge passieren lässt, „nur, weil [er] es so wollte.“ 190 Mit der intermedialen Strategie der Transposition dieses Prinzips auf seine thanatogra‐ phischen Arbeiten erwirkte er schließlich die filmische, fotografische und akus‐ tische Übermalung seines Ichs durch künstlerische Selbstzitate sowie Fremd‐ material und zeigte im Sinne Leo Steinbergs, dass seine Kunst nicht nur vom Leben, sondern von Kunst handelt. 191 Das Phänomen der Mehrfachbelichtung als auf das Theater übertragene Technik löst sich von der flächigen Überlagerung der Bildschichten und umfasst vielmehr ganz grundsätzlich die Erweiterung des Bühnengeschehens durch Projektionen zum Zweck einer heterogenen künstlerischen Kontextualisierung der theatralen Szene. Dabei werden die künstlerisch übermalenden Schichten als Ausdrucksgesten eines Ichs funktionalisiert, das in autopräsenten und/ oder autofiktionalen Erscheinungsweisen auf der Bühne anwesend ist. In Eine Kirche der Angst etwa wird eine Tagebuchaufzeichnung aus Schlingensiefs autoprä‐ sentem Archiv, in der er von seiner zunehmend schwindenden Hoffnung berichtet, über Tonband eingespielt. In der Mitte der Bühne spricht die Schau‐ spielerin Maria Partecke als autofigurales Doppelgänger-Ich, hinter einem Ga‐ zevorhang sitzend, die Worte Schlingensiefs mit zeitlicher Verzögerung nach. Überblendet wird das Bühnengeschehen zum einen von einer akustischen Pro‐ jektion des Lieds „Nebensonnen“ aus Franz Schuberts Liederzyklus Winterreise (1827). Zum anderen ist die Bühne von Projektionen eines Reenactmens von Valie Exports Aktionshose: Genitalpanik (1969) gerahmt. Die zwei überblen‐ denden Schichten akzentuieren die Dokumente aus dem autopräsenten Ton‐ bandarchiv und ihr autofigurales Echo auf unterschiedliche Weise: die Einspie‐ lung der „Nebensonnen“ bringt mit dem Motiv der Hoffnungslosigkeit deren symbolischen Gehalt metaphorisch zum Ausdruck; die Appropriation von Valie Exports Genitalpanik auf den Leinwänden hingegen exemplifiziert den auf Ton‐ banddokument gebannten Vorgang der Entblößung der Scham, der seinerseits 2.5 Schlingensiefs Autobiotheatralität 113 <?page no="114"?> in widersprüchlichem Verhältnis zur verschleierten Schauspielerin als Chiffre für die Unentdeckbarkeit des Ichs steht (vgl. Abb. 5 mit Abb. 6). Abb. 5: Mehrfachbelichtung durch Schuberts Lied „Nebensonnen“ und Valie Exports Aktionshose: Genitalpanik Abb. 6: Hyphologisches Raster zu Abb. 6 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 114 <?page no="115"?> 192 Christopher Balme: „Theater zwischen den Medien: Perspektiven theaterwissenschaft‐ licher Intermedialitätsforschung“. In: Christopher Balme, Markus Moninger (Hrsg.): Crossing Media: Theater - Film - Fotografie - Neue Medien. München: ePODIUM 2004, 27. 193 Eva Behrendt: „Ich gieße meine soziale Skulptur“. In: Theater heute, 1 (2009), 40. 194 Alexander Kluge: „In erster Linie bin ich Filmemacher. Begegnung mit Christoph Schlingensief anlässlich seiner Hodenpark-Installation 2006 im Museum der Moderne Salzburg“. In: Klaus Biesenbach u. a. (Hrsg.): Christoph Schlingensief. London: Koenig 2013, 81. So zeigt sich mit der Mehrfachbelichtung als „Simulation filmischer Konventi‐ onen mit den Mitteln des Theaters“ 192 der Modellfall einer Montage divergier‐ ender Sinnschichten beziehungsweise unterschiedlicher künstlerischer Refe‐ renzen, die den Effekt eines gebrochenen Ichs hervorbringen. Hinter der filmisch-theatralen Technik der Mehrfachbelichtung kommt zudem eine Ge‐ dächtnismetapher zum Vorschein, die sich über die Sprachkritik Derridas, über die Gedächtnisreflexionen Benjamins und Freuds bis hin zum Autobiographen Augustinus zurückverfolgen lässt. Schlingensief fasste das Medium Film, das er mit Nachdruck als eigentliches kreatives Zentrum seiner künstlerischen Tätig‐ keit ausgewiesen hat, implizit als Dauerspur des Gedächtnisses auf: „Der Film, das Bild, das Erinnern, das Übermalen. Ich glaube, es geht nichts verloren.“ 193 Das Übermalen durch Mehrfachbelichtung setzt er wie Augustinus mit dem Vergessen gleich, das Voraussetzung für das Erinnern sei und chiffrierte seine filmische und theatrale Poetik im Geiste des Freudschen Wunderblocks, der un‐ geahnte, längst vergessene Bilder zum Vorschein bringt (vgl. dazu Abb. 7): Erinnern heißt vergessen, hat mein Vater früher immer gesagt. Jetzt habe ich in einem Vortrag von einem Hirnphysiker gehört, dass tatsächlich durch die Erinnerung wieder die Sache übermalt wird. Sobald ich mich an meine Vergangenheit erinnere, über‐ schmiere ich die eigentlich. Ein paar Synapsen stabilisieren sich. Dazwischen flimmert es aber. Und dazwischen kann ein Bild sein, was da nicht reingehört. 194 2.5 Schlingensiefs Autobiotheatralität 115 <?page no="116"?> Abb. 7: Schlingensiefs letzter Blogeintrag vor seinem Tod am 7. August 2010 2 Von der Autobiographie zur Autobiotheatralität 116 <?page no="117"?> 1 Die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross nennt insgesamt fünf Phasen des Sterbens: 1. Nicht-Wahrhaben-Wollen, 2. Zorn, 3. Verhandeln, 4. Depression, 5. Akzeptanz. Vgl. Elisabeth Kübler-Ross: Interviews mit Sterbenden. München: Knaur 1999. 2 Zum thymotischen Movens der Evolution vgl. Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. 3 Vgl. Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. München: Matthes und Seitz 1982, 206-226. 4 Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, 204. 5 Susan Sontag: Aids und seine Metaphern. München u. a.: Hanser 1997, 14. 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 3.1 Einführung Schlingensief kanalisiert Angst im Rahmen seiner ersten thanatographischen Inszenierung im Sinne der psychologischen Sterbephase der „Verhandlung“ 1 in eine progressive Projektform, die sich als thymos (Lebenskraft) dem Tod entge‐ genstellt. 2 Seine Verhandlungsphase ist ein den Verdrängungsakt kompensie‐ render künstlerisch-symbolischer Tausch mit dem Tod, 3 bei dem er sich der apostrophierenden Trope der Prosopopöie bedient. Er ruft sein Lungenkarzinom („das Fremde in mir“) als lebendige Gestalt an und adressiert die titelgebende Angst somit direkt an den personifizierten Eindringling Krebs. Dieser hat sich in seinem Körper eingenistet und gehört nunmehr seiner Person in der unauf‐ lösbaren Doppelstruktur als Fremdes und Eigenes konstitutiv an. Als letztlich nicht vollkommen assimilierbares Ding ist der Krebs für eine „Destrukturierung des Ich[s]“ 4 verantwortlich und hebt die von Seiten der psychoanalytischen Theorie konstatierte existentielle Fremdheit gegenüber dem Selbst in den Rang einer körperlichen Realität. Mit seiner Evokation macht Schlingensief dieses Fremde, gemäß der Wagnerschen petitio principii, dass nur der Speer die Wunde schließe, der sie schlug, zu einem szenischen Dialogpartner. Dem von Susan Sontag beobachteten Mythos entsprechend, „dass Krebs diejenigen ereilt, die alles in sich hineinfressen und alles unterdrücken“ 5 , malt er in Eine Kirche der Angst sogar auf der Schreibunterlage des auf Leinwand aufgezogenen Röntgen‐ bilds seiner Lunge Stationen seines Lebens auf, unter denen „Bayreuth“ als ver‐ meintliches Erregungsmoment seiner Krankheit hervorsticht. <?page no="118"?> 6 Friedrich Dürrenmatt: „Labyrinth. Stoffe I-III“. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 7: Stoffe, Zusammenhäng. Zürich: Diogenes 1996, 13. 7 Vgl. Peter Sloterdijk: Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre. München: Hanser 1978. 8 Peter Michalzik: „‚Der Todestag‘. Christoph Schlingensief im Interview mit Peter Mi‐ chalzik am 17. Juli 2004“. In: Frankfurter Rundschau. http: / / www.fr-online.de/ kultur/ interview-der-todestag,1472786,4580278.html (Zugriff am 15. April 2017). 9 Richard Wagner: „Parsifal“. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 10. Leipzig: Breitkopf und Härtel o.J., 339. 10 Zu Wagners musikalischem Einheitsgedanken vgl. exemplarisch Richard Wagner: „Beethoven“. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 9. Leipzig: Breitkopf und Härtel o. J., 61-126. Der Anrufung des Eindringlings entspricht auf formalästhetischer Ebene ein Prozess der Wucherung von Ich-Gesten. Das ästhetische Charakteristikum an der in Eine Kirche der Angst vollzogenen Selbstkonstruktion Schlingensiefs im Angesicht des drohenden existentiellen Selbstverlusts liegt im Sinne der Ver‐ schaltung und Mehrfachbelichtung in der simultanen Schichtung unterschied‐ licher bedeutungsgenerierender, medial-materialer Zeichenträger und somit in der gleichzeitigen Präsentation verschiedener Ich-Kontexte: das in den Live-Auftritt, die Bühnenfiguren, die Tonband-Stimme, das filmische Narrativ und die Erinnerungsmusik multiplizierte Subjekt und Sujet Schlingensief. Durch diese Delegation von Ich-Partikeln an unterschiedliche mediale Instanzen geht die Inszenierung über ihre historischen Referenzen aus dem Feld der autobio‐ graphischen Performances, die das eigene Sterben reflektieren, entschieden hi‐ naus. Die eigenen und fremden Stoffe sind, ganz im Sinne Friedrich Dürren‐ matts, Schlingensiefs zerbrochene „Spiegel, in denen, je nach ihrem Schliff, [s]ein Denken und damit auch [s]ein Leben reflektiert“ 6 werden. Gemäß seiner ästhetischen Prämissen siedelt sich die theatral und medial vermittelte „Organisation von Lebenserfahrung“ 7 selbstverständlich größten‐ teils jenseits linear-chronologisch erzählter Lebensbeschreibung an. Der Regis‐ seur schafft multiparametrisch organisierte, symbolisch mediatisierte Erinne‐ rungsfelder, die die aristotelische objektive Zeit geradezu durchkreuzen, indem sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anachronistisch und diskontinuier‐ lich vernetzen. So malt er eine von ihm bereits 2004 herbeigesehnte „Landschaft [s]einer Bilder“ 8 auf, die an das kunstphilosophische Paradigma „Zum Raum wird hier die Zeit“ 9 alludiert. Das von Wagner vor allen Dingen kompositions‐ technisch gefasste Motto des Parsifal, das hinter der leitmotivisch erwirkten Allsemantik und dem musikalischen Einheitsgedanken seines Bühnenweihfest‐ spiels zur Erscheinung gelangt, 10 macht Schlingensief für sein Ich-Gewebe fruchtbar. „In seinen tausend Honigwaben speichert der Raum verdichtete 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 118 <?page no="119"?> 11 Gaston Bachelard: Poetik des Raumes. Frankfurt am Main: Fischer 2007, 35. 12 Zima: Das literarische Subjekt, 140. 13 Vgl. dazu die Erläuterung Foucaults im Wortlaut: „Muss man die letzten Müßiggänger darauf hinweisen, dass ein ‚Tableau‘ (und wahrscheinlich in allen möglichen Bedeu‐ tungen des Wortes) formal eine ‚Serie von Serien‘ ist? Auf jeden Fall ist es kein kleines festes Bild, das man vor eine Laterne stellt“. Foucault: Archäologie des Wissens, 20. Zeit“ 11 , lautet die wagneristische Gedächtnismetapher des französischen Philo‐ sophen Gaston Bachelard, der die Autoreflexion in der Inszenierung durch‐ gängig verbunden bleibt. Das verdichtete Zeitgeflecht, das die heterogenen Per‐ sönlichkeitsschichten Schlingensiefs zusammenfügt, entfaltet, dem Zuschauer einmal zu Bewusstsein gekommen, eine Fülle an Perspektiven auf die Spuren des Ichs. Im fortwährenden Prozess der Selbstverflüchtigung, die Schlingensiefs Ich mit theatralen und medialen Mitteln in Teil-Ichs auseinanderreißt, um sie neu zu verknüpfen, gerät die Selbstinszenierung vollends zu einer mise en abyme. Das Selbst verflüchtigt sich immerfort in andere, widersprüchliche Bilder des Selbst. Konstitutiv für diese polymorphe theatrale Ich-Darstellung ist das von Schlin‐ gensief seit Anbeginn seiner künstlerischen Tätigkeit internalisierte postmo‐ derne Identitätskonzept des „Möglichkeitsmenschen“, der „sowohl A als auch das Gegenteil von A“ 12 sein könnte. Das postmoderne Subjekt, das sich nicht mehr als ein abgeschlossenes Ganzes, sondern als „Serie von Serien“ 13 entwirft, zeigt sich in der theatralen Selbstdekonstruktion vornehmlich an der Tatsache, dass keinem der Teil-Ichs eine hierarchisch vorgängige Rolle zugeordnet werden kann. Vielmehr sind alle der vom Regisseur präsentierten personae für sich von der Summe ihrer Möglichkeits-Ichs abhängig und treten mit diesen in einen Widerstreit. Das Prinzip des sich selbst Zuhörens, das Vito Acconci für seine auditive Automedialität nutzbar macht, wird in Eine Kirche der Angst auf eine Vielzahl an sprechenden und zuhörenden Positionen ausgedehnt. Auf der Basis der fortwährenden intertextuellen und -medialen Transformation von doku‐ mentarischem autopräsentischen Material in autofigurative und automytho‐ graphische Konstellationen gelangt die Selbstpräsentation vollends in einen hybriden Status, in dem sich das Ich, in einer potentiell unabschließbaren dy‐ namischen Kette von Wandlungen begriffen, einer punktuellen Visualisierung entzieht. Das bereits mehrfach angesprochene Schlingensiefsche Stilmittel der Kreation von Paradoxien führt dabei vollständig zum Widerspruch im Ich, der durch die Vielzahl an medial-figuralen Positionen ausgestellt wird. 3.1 Einführung 119 <?page no="120"?> 14 Vgl. dazu exemplarisch Sandra Umathum: „Theater der Selbstbefragung: Rocky Dutschke, ’68 oder die Kinder der Revolution“. In: Susanne Gaensheimer (Hrsg.): Chris‐ toph Schlingensief. Deutscher Pavillon 2011: 54. Internationale Kunstausstellung La Bien‐ nale di Venezia. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2011, 341-348. 15 Friedrich W. J. Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit. Hamburg: Meiner 2001, 32. 16 Christoph Schlingensief in einem ORF-Interview am 13. 06. 2000. Zit.: In: Matthias Li‐ lienthal, Claus Philipp: Schlingensiefs Ausländer raus. Bitte liebt Österreich. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, 100. 17 Slavoj Žižek: Parallaxe. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, 22. 18 Žižek: Die Tücke des Subjekts, 48. 19 Ebd., 44. Durch die unbedingte Überzeugung des Künstlers, dass die introspektive „Selbstbefragung“ 14 einer nach außen hin abstrahlenden Selbstprovokation glei‐ chen müsse, beinhaltet jedes seiner von ihm entworfenen Ich-Modelle bereits jenen „nie aufgehende[n] Rest“ 15 , den die Selbstbeschreibung im Zeichen der Selbstidentität für gewöhnlich auszulöschen versucht . Im Zusammenhang mit seiner im Rahmen der Wiener Festwochen durchgeführten Containeraktion Bitte liebt Österreich - Erste österreichische Koalitionswoche (2000) erläuterte Schlingensief erstmals seine künstlerische Vorstellung von Selbstprovokation. Diese sei, wie er in einem Streitgespräch darlegte, „eine leere Fläche, auf die projizieren Sie Ihr Bild drauf - Ihren Film -, und Sie haben pausenlos das Problem, dass sich die Bilder gegen Sie selbst kehren.“ 16 Der Blick, den Schlin‐ gensief in Eine Kirche der Angst auf sich selbst richtet, erfolgt nach ebendieser Prämisse. In der Selbstbetrachtung, die das eigene Bild auf die belebte Fläche der Theaterbühne projiziert, verwehren sich die Selbstmodellierungen im stetigen selbstreferentiellen Transformationsprozess einer fixierenden Verortung. Im Entwurf des eigenen Bildes, das dem Ich die Doppelposition von betrachtendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt zuordnet, kommt das Phantasma von distanzierter Beobachtung schließlich vollends zum erliegen. Das Beobachtete zeigt sich dem Subjekt, so Slavoj Žižek im Anschluss an Lacan, stets fragmentarisch, allerdings nicht etwa, weil ihm ein großer Teil des Bildes entginge, sondern weil dieses Bild „einen Makel enthält, einen blinden Fleck“ 17 , der die Inklusion des Ichs in den Akt des Beobachtens aufzeigt. So ent‐ spricht die theatral-mediale Montage der in Einzelteile gespaltenen Subjektpo‐ sitionen in Eine Kirche der Angst mit Žižek dem konzentrischen wahnhaften Versuch des Ichs, die „Bruchstücke, die von der Einbildungskraft aus ihrem ei‐ gentlichen Kontext gerissen wurden“ 18 , zu einem Selbstbild zu hypostasieren. Dabei widersteht die dekomponierende Struktur der Bildordnungen im Fluxus-Oratorium originär der Synthese „zerstreute[r] Mannigfaltigkeit“ 19 . Der 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 120 <?page no="121"?> 20 Michail Bachtin: „Notizen zu Dostoevskij“. In: Nikolaj Plotnikov, Alexander Haardt (Hrsg.): Gesicht statt Maske. Philosophie der Person in Russland. Münster: Lit-Verlag 2012, 278. 21 Gilles Deleuze, Felix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, 13. 22 Vgl. dazu Erving Goffman: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von All‐ tagserfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, 19 ff. synthetisierende Akt des Selbstentwurfs ist hierarchisch der Präsentation des Geschnittenen, Zerteilten durch die Montage gewichen. Auch für den Betrachter verhindert dabei ein „blinder Fleck“, dass sich das Objekt „Schlingensief “ in der Beobachtung erfassen ließe. Vielmehr bringt ihm die aus dem Anspruch der Selbstsorge und Selbsterkenntnis heraus entstandene Inszenierung zugleich mit der Verfransung der Ränder des Selbst - um im Bild zu bleiben - dessen Wahn, die von Blaise Pascal bis hin zu Lacan und Žižek bedachte vergessene Rückseite des cogito zu Bewusstsein. Mit der Simulation einer dialogischen Ausleuchtung des Ichs thematisiert Schlingensief das von den Philosophen bedachte Spannungsverhältnis zwischen instrumenteller Vernunft und Innerlichkeit. Im Sinne des von Michail Bachtin geprägten Begriffs der Dialogizität dringt unterdessen ein fiktives Du in das Terrain der Selbstreflexion ein. Die Summe der abgelösten Ichs transferiert die vom russischen Literaturwissenschaftler in den Romanen Dostojewskis ermit‐ telte exzentrische Position eines hybriden Subjekts, das „an der Grenze des ei‐ genen und des fremden Bewusstseins, auf der Schwelle“ 20 entsteht, in das Feld der theatral-medialen Autohyphologie. In Abwandlung der epistemologischen Prämisse, wonach die Erkenntnis des Ichs nur im Du möglich sei, evolviert jedes der von Schlingensief im Fluxus-Oratorium gezeigten dissoziierten Ichs aus einem kommunikativen Austauschprozess mit vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Dus. So erhellt sich sein im Tagebuch geäußerter Wunsch, sich mit seinen Lieblingen auszusprechen. In Form von personaler Rede (Liveauftritt Schlingensiefs, Liveauftritt der Darsteller) und apparativer medialer Gegenrede (Tonband-Stimme Schlingensiefs, dokumentarisches Filmmaterial, Mehrfach‐ belichtung durch künstlerisches Selbstzitat und Fremdmaterial) unterminiert der Regisseur das Rousseausche moi-seul und weist den Stimmen seiner Angst in der anti-hierarchisch strukturierten theatral-medialen Architektur kommu‐ nikatives Potential zu. „Der Schizophrene“, so ließe sich mit Deleuze/ Guattari pointieren, zeigt sich dabei als „der universelle Produzent.“ 21 Schlingensiefs Dissemination im zweiteiligen Abend Eine Kirche der Angst ist insofern das Produkt verschiedener, lediglich um den Preis einer Verkürzung systematisierbarer, Referenzrahmen, die das Ich unterschiedlich codieren. 22 Ka‐ 3.1 Einführung 121 <?page no="122"?> 23 Die Formulierung ruft nicht nur den Geburtsort Schlingensiefs, sondern auch das für die Entwicklung des Neuen Deutschen Films wichtige „Oberhausener Manifest“ von 1962 auf. 24 Die in Rede stehenden Reenactments neoavantgardistischer Aktionen sind in den für die Inszenierung gedrehten Filmen Drei Sonnen/ Prozession (Letzte Bilder vor der Voll‐ narkose), Günter Brus Aktion sowie L’amour et la Paix/ Nam June Paik Opus 74 zusam‐ mengefasst. tegorisierbar sind im Wesentlichen ein persönlich-intimer, ein künstlerischer und ein religiös-weltanschaulicher Referenzrahmen des Ichs, die im Sinne des fundamentalen Schichtungsprinzips nicht selten gleichzeitig präsent sind und dabei hybride Mischformen aus autopräsenten, -figurativen und -mythographi‐ schen Erscheinungsweisen produzieren. 1. Der persönlich-intime Rahmen: Dieser umfasst die Reflexion des Ichs über seine Krankheit und zeigt dessen inneren Zwiespalt zwischen Selbstauf‐ gabe (Akzeptanz des Todes) und Selbstbehauptung (Auflehnung gegen den Tod). Das Ich kommt dabei sowohl durch die Einspielung dokumentarischer Kind‐ heitsfilme und Tonbandaufzeichnungen aus der jüngsten Vergangenheit als auch durch die von verschiedenen Darstellern fragmentarisch vorgetragenen Tagebucheinträge zur Anschauung. 2. Der künstlerische Rahmen: Im Rahmen seiner umfassenden rückschau‐ enden Lebensbetrachtung fokussiert Schlingensief auch seinen Weg als Künstler. So deklamieren etwa Schlingensiefs „Freakstars“ im ersten Teil der Inszenierung den Satz „Oberhausener Kurzfilmtage sind die besten Kurzfilm‐ tage“, um auf einen Knotenpunkt der künstlerischen Genese des Filmregisseurs Schlingensief hinzuweisen. 23 In der Rolle des Regisseurs, der Anweisungen über Mikrofon erteilt, wird das Archiv der Vergangenheit einem gestaltenden Eingriff in der Jetzt-Zeit unterzogen. Zur Akzentuierung des Künstlers Schlingensief trägt hauptsächlich die Verwendung von filmischem Material bei. Das Bühnen‐ geschehen wird einerseits durch die Präsentation verschiedener Fluxfilms er‐ weitert und verweist andererseits durch eine Reihe von übermalenden, zuweilen ironisch kommentierenden Reenactments von Aktionen und Performances be‐ deutender Fluxus-, Performance- und Aktionskünstler auf Fluchtlinien von Schlingensiefs künstlerischem Profil. 24 Zu sehen sind neben Fluxfilms unter an‐ derem filmische Pastiches, in denen Laiendarsteller Aktionen Joseph Beuys’, Nam June Paiks, Valie Exports, Yoko Onos, Rudolf Schwarzkoglers, George Ma‐ ciunas’ und Günter Brus’ nachstellen (vgl. Abb. 8). 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 122 <?page no="123"?> 25 Schaper: „Was ist jetzt mit Gott? Schlingensief im Interview“. Vgl. dazu auch Ders.: Spektakel. Eine Geschichte des Theaters von Schlingensief bis Aischylos. München: Siedler Verlag 2014, 21 f. Abb. 8: Mehrfachbelichtung des Ichs durch Fluxfilms und Reenactments in Eine Kirche der Angst Diese Dokumente, mit denen sich die Gattungsbezeichnung Fluxus-Oratorium konkret einlöst, kontextualisieren im Sinne der Mehrfachbelichtung das szeni‐ sche Spiel. An der prominenten Stellung von Fluxus-Performances in der In‐ szenierung zeigt sich paradigmatisch Schlingensiefs Tendenz, künstlerische In‐ halte mit autothematischen Gehalten aufzuladen. Die Appropriationen als künstlerische Aneignungen dienen maßgeblich dazu, den eigenen Kunstbegriff, der auf das im Fluss Befindliche zugespitzt ist, metaphorisch zum Ausdruck zu bringen. Der Regisseur selbst leistete dieser privatmythologischen Lesart Vor‐ schub, indem er die Bedeutung der neoavantgardistischen Kunstströmung in einem Interview mit seiner persönlichen Situation kurzschloss: „Fluxus heißt fließen, ich fließe ja auch noch, auch wenn ich mir jetzt extrem abgebremst vorkomme.“ 25 Mit der Implementierung der Fluxus-Filme und Reenactments verdeutlicht er zudem seine Überzeugung von einer wechselseitigen Transgres‐ sion zwischen Leben und Kunst. Durch die Fluxus-Zitate tönt die widersprüch‐ liche Hoffnung hindurch: „Verbindungen: Ganzes und Nichtganzes, Zusam‐ 3.1 Einführung 123 <?page no="124"?> 26 Herakleitos von Ephesos: „fr. 10“. Zit. in: Wilhelm Capelle: Die Vorsokratiker - Die Frag‐ mente und Quellenberichte. Stuttgart: Alfred Kröner 1955, 131 f. mengehendes und Auseinanderstrebendes, Einklang und Missklang und aus Allem Eins und aus Einem Alles.“ 26 3. Der religiös-weltanschauliche Rahmen: Der religiöse als letzter der drei Referenzrahmen liegt in der christlich-abendländischen Ideenwelt und dabei insbesondere im Schuld- und Hoffnungsmotiv der katholischen Theologie. Eingedenk seiner christlichen Sozialisation vollzieht Schlingensief eine Reibung an der Kirche mit dem Ziel der Wiederherstellung subjektiver Autonomie. Die räumliche Setzung verwandelte die Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg Nord in ein Kirchenschiff, in dem die Zuschauer auf Kirchenbänken Platz nahmen, auf eine Apsis blickten und von hohen Kirchenfenstern sowie fla‐ ckernden Kerzen umgeben waren. Der theatrale Kirchenraum bildet im ersten Teil des Abends den Rahmen für Schlingensiefs „Protokoll einer Selbstbefra‐ gung“ und wird im zweiten Teil mit einem pseudo-katholischen Messritus be‐ spielt. Die eng an die katholische Liturgie angelehnte Form des zweiten Teils läuft klimatisch auf Schlingensiefs Auftritt als Priester zu. 3.2 „Protokoll einer Selbstbefragung“ (1. Teil) 3.2.1 Erste Sequenz Die Analyse der ersten beiden Sequenzen fokussiert das Spezifikum von Schlin‐ gensiefs theatral-multimedial verschalteter Erinnerungsarbeit im Gegensatz zu einer durch das Medium der Schrift vermittelten autobiographischen Geste des mentalen Zurückgehens und Auffindens. Bereits die erste Sequenz des Fluxus-Oratoriums Eine Kirche der Angst exponiert das Prinzip der geschichteten Selbstkonstruktion durch mediatisierte Ich-Multiplikationen. Das Ich des Künst‐ lers wird darin zwar hauptsächlich in seinem persönlich-intimen Referenz‐ rahmen gezeigt; die Angst vor dem Ende wird jedoch mit einer ästhetisch trans‐ ponierten philosophischen Reflexion über das Verhältnis von Anfang und Ende, den Akten des Beginnens und Endens verbunden und somit vor den religiösen Referenzrahmen positioniert. Mit der sukzessiven Projektion der Schriftzüge „Kirche der Auferstehung. Keine Angst mehr vor dem Fremden in mir“ und „Protokoll einer Selbstbefra‐ gung“ auf eine mittig über der Bühne platzierte Leinwand kündet bereits das erste Bild der Inszenierung vom Willen des erkrankten Regisseurs, sich dem Fremden in Gestalt der Krankheit Krebs als Teil seiner Existenz zu stellen. Die 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 124 <?page no="125"?> erste Schriftprojektion verweist auf das Bestreben, die Angst zu bändigen, die zweite Projektion wiederum zeugt vom Ansinnen, sich auf die Spur der eigenen Geschichte zu begeben. Der Blick in die Vergangenheit führt im weiteren Verlauf der Sequenz die Unerreichbarkeit des eigenen Anfangs vor Augen: Die der In‐ szenierung als Epigraph voranstehende zweite Titelaufschrift verblasst, akus‐ tisch begleitet von der Tonbandkonserve grellen Rauschens, hinter einem zu‐ nehmend sich verdunkelnden grauen monochromen Filmbild, das allmählich die Projektion einer menschlichen Zellteilung zeigt (vgl. Abb. 9 und Abb. 10). Ausschnittweise unterlegt von Jean Guillous Saga 4 für Orgel solo wird das biologische Prinzip der Entstehung des Menschen im Zeitraffermodus zur Me‐ tonymie des Lebens und der Vitalität verdichtet. Zugleich mit der exponentiellen unkontrollierbaren Wucherung ist das künstlerische Strukturprinzip der Dis‐ semination exponiert. Auf das zweifach codierte Bild der Zellteilung, als Metonymie für die Entste‐ hung des Lebens und als Metapher für die unkontrollierbare Streuung von künstlerischem Sinn, folgt, unter zunehmender Verdichtung der Orgel-Regist‐ rierung, eine Überblende in Filmmaterial aus dem autopräsenten Archiv. Ein Super-8-Film, der den Jungen Christoph Schlingensief, durch den Kamerablick seines Vaters vermittelt, bei der morgendlichen Wäsche einfängt, flimmert und knattert auf der mittig oberhalb der Bühne positionierten Leinwand. Die Patina der Filmbilder überführt die literarische Produktion mythologischer Bilder aus der Autobiographie in das Medium des Films. Im Gegensatz zu literarischen „Deckerinnerungen, in denen die Inhalte der prägenden Erlebnisse ‚aufgehoben‘ sind“, reklamiert das Filmbild in der Inszenierung beharrlich seinen Status als tatsächlich Gewesenes. 3.2 „Protokoll einer Selbstbefragung“ 125 <?page no="126"?> Abb. 9: Zellteilung 1 Abb. 10: Zellteilung 2 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 126 <?page no="127"?> 27 Mit dem Wechsel der Perspektive vom kosmologischen, überindividuellen Gesetz hin zur Fokussierung auf das individuell Erlebte moduliert Schlingensief eine gängige Trope der Autobiographik, die spätestens mit Goethes Schilderung seiner Geburt, die er am Anfang von Dichtung und Wahrheit unter einem günstigen Stern verortet, zu einem Topos der Selberlebensbeschreibung wurde. „Am 28. August 1749, Mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sich freundlich an. Merkur nicht widerwärtig, der so eben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheines um so mehr, als zugleich seine Plane‐ tenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen.“ Goethe: „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“, 15. 28 „[…] cette radiographie, je placarde l’image la plus intime de moi-même, bien plus qu’un nu, celle qui renferme l’énigme, et qu’un étudiant de médicine pourrait facilement dé‐ chiffrer; “ Hervé Guibert: L’image fantôme. Paris: Minuit 1981, 68. Vgl. dazu Jutta Weiser: „Photographie und Schrift als Prothesen des Subjekts. Hervé Guiberts Selbstporträts“. In: Dies., Christine Ott (Hrsg.): Autofiktion und Medienrealität. Kulturelle Formungen des postmodernen Subjekts. Heidelberg: Winter 2013, 69-87. Dieser Einbruch des faktualen autopräsenten Materials in die biologische Darstellung allen menschlichen Anfangs bewirkt eine erste Zäsur in der Kon‐ tinuität der Darstellung. Mit der Verbindung der beiden Bilderwelten stellt der Regisseur dem biologischen Gesetz der Evolution den filmischen Blick auf sich selbst gegenüber und leitet durch diese Verknüpfung den Perspektivwechsel von der mythologischen Ursprungserzählung der Zellteilung zur individuellen Ent‐ wicklung ein. 27 Die Dramaturgie der filmischen Bilder vernetzt die Beobachtung eines archetypischen Prozesses mit dem intimen Blick auf Schlingensiefs Kind‐ heit und bringt somit eine Modifizierung der Einstellungsgröße von der Totale auf das Close up zum Ausdruck. Die Projektion der Zellteilung übernimmt dabei die Funktion eines Establishing Shots, der in eine die Inszenierung bestimmende Dichotomie von Leben und Tod anhand einer überindividuellen Totale einführt, ehe der Fokus auf das Individuum Schlingensief fällt. Der Einblick in Schlingensiefs Kindheit wird sodann von der Projektion ak‐ tueller Röntgenaufnahmen seiner von Metastasen befallenen Lunge gerahmt (vgl. Abb. 11). Das aus dem autopräsenten Archiv stammende Röntgenbild durchleuchtet seinen Innenraum mithilfe technisch-prothetischen Sehens. Das metonymische Selbstporträt verbirgt dem Blick des Betrachters ebenso den Körper wie das Gesicht als Signum der Identität. Ähnlich dem in die Darstellung eines deformierten Burstkorbs verkürzten Autoporträt Rue de Vaugirard (1980) von Hervé Guibert verschafft die Radiografie in Eine Kirche der Angst medizi‐ nische Aufklärung über das Intimste des moi-même (vgl. Abb. 12). 28 Mit der Präsentation seines Lungenflügels wählt Schlingensief eine Form des Selbstbildnisses, das die faktisch verbürgten Bedingungen seiner Existenz frei‐ 3.2 „Protokoll einer Selbstbefragung“ 127 <?page no="128"?> Abb. 11: Triptychon aus Fußwaschung und Röntgenbildern Abb. 12: Hervé Guibert, Rue de Vaugirard (1980), Röntgenbild des Brustkorbs 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 128 <?page no="129"?> 29 Vgl. Joh 13, 1-10: „ Vor dem Fest aber der Ostern, da Jesus erkannte, daß seine Zeit gekommen war, daß er aus dieser Welt ginge zum Vater: wie hatte er geliebt die Seinen, die in der Welt waren, so liebte er sie bis ans Ende. Und beim Abendessen, da schon der Teufel hatte dem Judas, Simons Sohn, dem Ischariot, ins Herz gegeben, daß er ihn ver‐ riete, und Jesus wußte, daß ihm der Vater alles in seine Hände gegeben und daß er von Gott gekommen war und zu Gott ging: stand er vom Abendmahl auf, legte seine Kleider ab und nahm einen Schurz und umgürtete sich. Darnach goß er Wasser in ein Becken, hob an, den Jüngern die Füße zu waschen, und trocknete sie mit dem Schurz, damit er umgürtet war. Da kam er zu Simon Petrus; und der sprach zu ihm: HERR, sollst du mir meine Füße waschen? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Was ich tue, das weißt du jetzt nicht; du wirst es aber hernach erfahren. Da sprach Petrus zu ihm: Nimmermehr sollst du meine Füße waschen! Jesus antwortete ihm: Werde ich dich nicht waschen, so hast du kein Teil mit mir. So spricht zu ihm Simon Petrus: HERR, nicht die Füße allein, sondern auch die Hände und das Haupt! Spricht Jesus zu ihm: Wer gewaschen ist, bedarf nichts denn die Füße waschen, sondern er ist ganz rein.“ 30 Vgl. Joh 13, 14-15: „So nun ich, euer HERR und Meister, euch die Füße gewaschen habe, so sollt ihr auch euch untereinander die Füße waschen. Ein Beispiel habe ich euch gegeben, daß ihr tut, wie ich euch getan habe.“ legt. Eine derartige Fokussierung auf messbare Größen des eigenen Lebens in fotografischen Selbstdarstellungen ist verstärkt ab den 1960er Jahren zu be‐ obachten. In Form von Metaporträtierungen bilden Künstler dabei nicht mehr Körper und Gesicht ab, sondern präsentieren mittels bildgebender Verfahren aus der Hirnforschung, der Biochemie oder der Neurologie die medizinischen Daten ihrer Existenz. So zeigt etwa Robert Morris mit seinem Brain Portrait (1963) das Elektroenzephalogramm seiner Gehirnströme, während Timm Ul‐ richs in seinem Selbstporträt (1970/ 71) das exakte Maß seiner Körperoberfläche zum Substitut seiner Individualität deklariert. Die statuarische Fotografie der im Röntgenbild aufgehobenen todesnahen ernsten Gegenwart umschließt die bewegten Filmbilder der unbeschwerten kindlich-naiven Vergangenheit. Auf bildlich-symbolischer Ebene ereignet sich dabei eine Konfrontation zwischen den Topoi der reinen Kindheit und des ver‐ sehrten Erwachsenen. Die Projektion, die den Jungen Schlingensief bei der Rei‐ nigung des Körpers zeigt, ist als egozentrierte Interpretation der im Jo‐ hannes-Evangelium beschriebenen Fußwaschung Jesu lesbar. 29 Durch das Ritual, das Jesus beim letzten Abendmahl zunächst an seinen Jüngern vollzieht, um diese dann dazu aufzufordern, die Waschung auch untereinander durchzu‐ führen, 30 macht der Sohn Gottes deutlich, dass nicht nur er selbst, sondern auch jeder seiner Jünger dazu bereit sein müsse, einem Nächsten zu dienen. Die Dar‐ stellung des profanen kindlichen Reinigungsvorgangs wird im Verbund mit den flankierenden Lungenflügeln für eine Umdeutung des biblischen Wortes fruchtbar gemacht. Anders als in der neutestamentarischen Quelle führt der Protagonist des Films die Handlung lediglich an sich selbst, nicht an seinen 3.2 „Protokoll einer Selbstbefragung“ 129 <?page no="130"?> 31 Vgl. dazu Marion Ackermann (Hrsg.): Drei. Das Triptychon in der Moderne. Ostfildern: Hatje Cantz 2009. Nächsten durch. Der Prolog wirft somit bereits ein Licht auf das der gesamten Inszenierung zugrunde liegende Moment der Egozentrik, auf die Motive der Selbstbestimmung und Autonomie voraus. Das die Theaterarbeit eröffnende filmische Bekenntnis zur Identifikation mit Jesus Christus sowie - in diesem Zusammenhang paradoxal - zur Abkehr von dessen Charitas und Hinwendung zur Autarkie antizipiert den Wandlungsvorgang im Rahmen der Messe von Eine Kirche der Angst, der das leidende Subjekt Schlingensief symbolisch zum au‐ tonom handelnden umformen soll. Die Kadrierung der unschuldigen Kindheit durch die aktuelle, gesundheitlich prekäre Situation in Gestalt der Röntgenaufnahmen der Lungenflügel weist die mediale Verschaltung von autopräsentem Material zudem als sakrale Ästheti‐ sierung aus: Die bildliche Konfrontation maximal voneinander entfernter Zu‐ stände des Ichs füllt die dargestellte biographische Distanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit mit der Pathosformel des Triptychons auf und alludiert da‐ durch an das christliche Drama der Passion. Das als Altarbild seit dem Mittelalter gebräuchliche Triptychon, das wegen seiner dreiteiligen symmetrischen Kom‐ position in der europäischen Kunstgeschichte in erster Linie mit den Vorstel‐ lungen von Harmonie und Ausgewogenheit konnotiert ist und in Anbetracht der in ihm vorrangig dargestellten sakralen Inhalte als bildliche Fassung von Würde und Dignität gilt, trägt in Schlingensiefs Interpretation zwar durchaus Spuren von religiöser Funktionalität, entfaltet seine Wirkung jedoch in erster Linie als zusammengeschaltetes Störbild zweier zeitlicher Zustände. Aus kunsthistorischer Sicht kommt Künstlern wie Otto Dix, Max Beckmann oder Francis Bacon das Verdienst zu, das Dreitafelbild unter dem Eindruck der Weltkriege um den profanen Motivkreis von Krieg und Vergänglichkeit erwei‐ tert und damit an dessen formaler Entgrenzung gearbeitet zu haben. Die gat‐ tungsspezifischen Merkmale des Triptychons wurden dadurch im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer durchlässiger zum verwandten, um die prominente Stellung des zentralen Mittelteil verkürzten, Bildsatzes. 31 Im Unterschied zum Bildsatz bewahrt das Triptychon in Schlingensiefs Bühnenwerk durchaus eine liturgische Funktion und entfaltet seine Wirkung aus der dialogischen Relation zwischen dem Zentrum und seinen äußeren Rändern. Der harmonia ist jedoch eine grundlegende Widerständigkeit eingeprägt: Vom Blickpunkt der Gegen‐ wart aus schließen die seitlich projizierten Lungenflügel die Vergangenheit als unwiederbringlich verlorengegangene, durch mediale Archivierung allerdings erinnerbare Episode in das aktuelle, von der Diagnose Krebs bestimmte Leben 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 130 <?page no="131"?> ein. Aus dem Zentrum des Triptychons heraus betrachtet, das als der bewegt bildliche Beweis für Schlingensiefs Vergangenheit erscheint, treten die metas‐ tasierenden Lungenflügel wiederum als Unterbrechung der dargestellten Idylle hervor. Die angesprochene biographisch ausgefüllte Pathosformel rekurriert insofern ebenso auf die Ikonologie des Triptychons, wie sie über diese hinaus‐ geht. Das Verhältnis zwischen dem Zentrum und den äußeren Rändern weist keine proportionale Hierarchie auf, in der die äußeren Flügel als Erweiterungen, Nebendarstellungen oder Assoziationen fungierten, vielmehr sind beide Ebenen antihierarchisch als concordia discors verknüpft. Das auf diese Weise konstitu‐ ierte Spannungsverhältnis zwischen den Bildebenen wird auf medienimma‐ nenter Ebene zusätzlich verschärft: Während der im mittigen Film festgehaltene Fluss der Lebensbilder auf den dynamischen Prozess von Entwicklung verweist, zeigen die Röntgenaufnahmen der Lungenflügel als medizinisch beglaubigte Insignien von Krankheit deren erstarrtes Negativ. Auf die filmisch-fotografische Kollision zwischen vergangener kindlicher Möglichkeitsform und faktischem Krankheitszustand folgt eine weitere Über‐ blendung, die das Triptychon langsam unter den großen Lettern „ EXIT “ ver‐ schwinden lässt und damit ein prinzipiell deutungsoffenes Endszenario be‐ schwört (vgl. Abb. 13). Abb. 13: Überblendung des Triptychons durch Brechts Entrance to Exit Offen bleibt dabei zunächst die Frage, ob der durch das Wort „ EXIT “ indizierte Ausgang auf das mögliche Ende des Lebens verweist oder, umgekehrt, einen 3.2 „Protokoll einer Selbstbefragung“ 131 <?page no="132"?> 32 Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, 172. Ausweg aus der Krankheit andeutet. Ungeachtet ihrer semiotischen Polyvalenz schließt die „ EXIT “-Aufschrift die mit der Zellteilung eröffnete Klammer um den Themenkreis von Entstehung, Entwicklung, Transformation und Ende. Bei der Überblende handelt es sich um einen Ausschnitt aus George Brechts knapp siebenminütigem Film Entrance to Exit (1965), der den ersten einer Reihe von Fluxfilm-Ausschnitten aus der Fluxfilm Anthology (vgl. Abb. 8) darstellt, die im Rahmen der Inszenierung zum Material von Mehrfachbelichtungen funkti‐ onalisiert werden. Durch die eingeblendeten Großbuchstaben „ EXIT “ wird das von klangfarblich grellem Rauschen akustisch kommentierte, die Inszenierung einleitende, monochrome Filmbild erst rückwirkend als Segment des in Rede stehenden Films Entrance to Exit erkenntlich. Über die Dauer von knapp sieben Minuten zeigt George Brecht darin die langsame Verdunkelung einer weißen Fläche bis hin zur allmählichen Erscheinung des in Großbuchstaben verfassten Wortes. Dem visuellen Verlauf von hell in dunkel korrespondiert während des Films die kontinuierliche spektrale Progression eines Sinustones in weißes Rau‐ schen. Brecht machte sich für die filmische Darstellung des graduellen Über‐ gangs zwischen mythischem Anfang und Ende die Spezifika des klanglichen Schwingungsverhaltens zunutze. Als eine ihrer Partialtöne beraubte periodische Schwingung, die in der Natur in ihrer Reinform nicht aufzufinden ist, birgt die Sinusschwingung die Chiffre metaphysischer Urklanglichkeit in sich. Diesem Moment „vor dem Anfang“ steht nach kontinuierlicher Schwingungsmodula‐ tion im Finale der filmischen Tonspur ein Zustand „nach dem Ende“ gegenüber. Das differenzlose weiße Rauschen als Summation sämtlicher hörbarer Fre‐ quenzen mit gleicher Amplitude (Lautstärke) in einem bestimmten Frequenz‐ bereich, das, wie Umberto Eco es ausdrückt, aufgrund seines totalen Zeichen‐ überschusses letztlich „überhaupt keine Information mehr enthält“ 32 , symbolisiert das absolute Gleichgewicht, das homöostatische Negativ des Le‐ bens. Mit den Verweisen auf den gleichsam natürlich-kosmologischen Anfang al‐ ludiert Schlingensief nicht nur an Goethes autobiographische Darstellung seiner Geburt als ein Ereignis, das unter günstiger Konstellation der Sterne eingetreten sei. Durch die Projektion des biologischen Vorgangs der Zellteilung sowie durch Brechts Sinusschwingung führt die erste Sequenz der Inszenierung implizit auchdie Augustinische Begriffe principium (der göttliche Anfang) und initium (die Natalität des Menschen) eng. Dabei wird ein existenzphilosophischer Ent‐ wurf stark gemacht, der das Subjekt nicht im Hinblick auf das Faktum des Todes, 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 132 <?page no="133"?> 33 Vgl. dazu Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes, hg. von Mary McCarthy. München: Piper 1998, 342 ff. 34 Jacques Derrida: „Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsen‐ tation“. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, 353. 35 Christoph Schlingensief: Regiebuch zu „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“. Stand: Generalprobe am 20. 09. 2008 [unveröff.]. 2008, 1. sondern durch dessen Gebürtigkeit bestimmt. 33 Mit der synchronen Überblen‐ dung (des Triptychons mit dem Ende von Brechts Film) sowie der diachronen Rahmung (der Klammer des Fluxfilms um die Exposition der Inszenierung) po‐ sitioniert sich die erste Sequenz gleichzeitig auch zum Dilemma zwischen der Sehnsucht nach dem Anfang und der Einsicht in die Unmöglichkeit seiner Re‐ präsentation. Derrida hat dem Gedanken, dass das Leben „der nicht darstellbare Ursprung der Repräsentation“ 34 sei, durch seine Idee der différance, als die sich unaufhörlich selbst verpassende Suche nach der Präsenz, in der Tätigkeit der Dekonstruktion eine philosophische Heimat gegeben. Zwischen dem Versuch einer Restitution von Präsenz und der Gewissheit, dass der Anfang stets nur Anzeichen sein kann, laviert offensichtlich auch die erste Sequenz aus dem „Protokoll einer Selbstbefragung“. 3.2.2 Zweite Sequenz Der durch die Aufschrift „ EXIT “ markierte Schlusspunkt des die gesamte In‐ szenierung inhaltlich in nucleo einschließenden Prologs über die Frage nach Anfang und Ende stiftet die Grundlage für die in der darauffolgenden Sequenz thematisierten Motive der imitatio christi und Auferstehung. Zur weiterhin er‐ klingenden Orgelmusik von Jean Guillou ist ein Video zu sehen, auf dem Chris‐ toph Schlingensief vermeintlich unter Schmerzen in einem Bett liegt und schluchzend „Bitte nicht berühren. Bitte nicht berühren jetzt. Jetzt soll mich keiner berühren“ 35 ausruft (vgl. Abb.14). Als Intertext erweist sich abermals das Johannes-Evangelium, in dem Jesus zu Maria von Magdala, die ihn im Grab auf‐ sucht, die Worte spricht: „Rühre mich nicht an! denn ich bin noch nicht aufge‐ fahren zu meinem Vater“ ( Joh 20, 17). Wie der Imperativ Jesu Christi, so weist die vieldeutige Wendung des noli me tangere, die Schlingensief auf seinen per‐ sönlichen Zustand des Leidens bezieht, auf ein Moment des Dazwischen. Jesus Christus, der am dritten Tag nach seinem Kreuzestod zwar auferstanden, nicht aber in den Himmel aufgefahren ist, befindet sich in einem Stadium zwischen Tod und Auferstehung. Ungeachtet eines hartnäckigen Insistierens auf die Ho‐ mologie von Auferstehung und Himmelfahrt in der zeitgenössischen theologi‐ 3.2 „Protokoll einer Selbstbefragung“ 133 <?page no="134"?> 36 „Generell gilt, daß Jesu Auferweckung niemals als bloße Wiederbelebung seines Leich‐ nams […] verstanden worden ist; das Ostergeschehen bedeutet Jesu Einsetzung in eine einzigartige Würde (vgl. Röm 1, 3 f.), also im Grunde Auferweckung und Erhöhung zugleich. Das gilt auch dort, wo wie im Hymnus Phil 2, 6-11 nur von der Erhöhung, nicht aber von der Auferweckung die Rede ist, oder wo umgekehrt eine explizite Er‐ höhungsaussage fehlt (vgl. 1 Kor 15, 4 f.). Zwar ist jeweils der Akzent verschieden ge‐ setzt; aber ein prinzipieller Unterschied besteht nicht“. Hans Conzelmann: Grundriss der Theologie des Neuen Testaments. Tübingen: UTB 1997, 49. 37 Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, 95. 38 „Während die Grenze eher auf das Gesetz bezogen ist, verweist die Schwelle eher auf Magie. Während die Grenze als Linie gedacht wird, die etwas ein- und anderes aus‐ schließt, als eine Scheidelinie, ist die Schwelle ein Zwischenraum, in dem sich alles mögliche ereignen kann. Während die Grenze eine klare Trennung vornimmt, stellt die Schwelle einen Ort der Ermöglichung, Ermächtigung, Verwandlung dar.“ Fi‐ scher-Lichte: Ästhetik des Performativen, 358. 39 Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Dritte Fassung, 1939)“. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Abhandlungen, Bd. I,2, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, 479. schen Forschung, 36 deutet die Formel des noli me tangere deutlich darauf hin, dass Gottes Sohn nach der österlichen Auferstehung zunächst in einem Moment des Übertritts verharrt. Die biblische Einheitsübersetzung, die die lateinischen Worte in „Halte mich nicht fest! “ überträgt und so auf einen Zustand vor dem Aufbruch hinweist, verleiht dieser Interpretation sprachliches Fundament. Wie Christus vor der Himmelfahrt, so befindet sich Schlingensief nach seiner Krebs‐ diagnose an einem Zwischenort, der ihn von seinen Mitmenschen trennt. Die neutestamentarische und Schlingensiefs Fassung des Berührungsverbots verbindet ihre Liminalität, die das Ich dem gesellschaftlichen Zentrum entzieht. Der Zustand des Liminalen verweigert sich jeder strukturellen Fixierung und Klassifikation, da in ihm laut Victor Turner das betwixt and between floriert -, ein „weder hier noch da […], weder das eine noch das andere“ 37 . Das Weder-Hier-Noch-Da, in dem von Gesetz, Tradition oder Konvention klar fix‐ ierte Positionen den Kräften der Paradoxie, Mehrdeutigkeit, Unbestimmtheit, Inversion, Reflexivität und Kreativität weichen, setzt an die Stelle des irrever‐ siblen Grenzortes den Möglichkeitsraum. 38 Schlingensief, der im Unterschied zu Jesus Christus das Reich der Lebenden noch nicht verlassen hat, beschwört seinen Schwellenzustand, in dem eine Verwandlung potentiell noch möglich sei. Die medial einhüllende Darstellung des leidenden Menschen durch das grob‐ körnige Video entfaltet im Verbund mit dem Berührungsverbot insofern eine Aura - hier im Sinne Walter Benjamins wörtlich als „einmalige Erscheinung einer Ferne“ 39 zu verstehen -, da die dargestellte Initimität sich der Berührbarkeit 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 134 <?page no="135"?> 40 Roland Barthes: „Zuhören“. In: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, 255. des Betrachters radikal entzieht. Mit Schlingensiefs Ausruf des Berührungsver‐ bots ergeht allerdings paradoxerweise zugleich die Aufforderung an den Ad‐ ressaten, ihn zu berühren. Sein über Tonband eingespielter Aufschrei der Ver‐ zweiflung entspricht nämlich einem appellativen double bind. Schlingensiefs Worte untersagen das Berühren; sein Aufruf, sein Akt des Sich-Gehör-Verschaf‐ fens, will allerdings das Gegenteil. „‚Hör mir zu‘ heißt: Berühre mich, wisse, daß ich existiere“ 40 . Abb. 14: Schlingensiefs noli me tangere Den ersten Auftritt des Abends übernimmt im Anschluss daran die Schauspie‐ lerin Mira Partecke. Sie betritt in weißem Kleid die Kanzel an der rechten Büh‐ nenseite und trägt eine vom Regisseur adaptierte Passage des Romans Farabeuf oder die Chronik eines Augenblicks (1965) vor. Der von Schlingensief transfor‐ mierte Text des mexikanischen Schriftstellers Salvador Elizondo handelt ebenso von der schmerzhaften Erfahrung der unfassbaren eigenen Vergangenheit wie von der Erkenntnis über die Unumkehrbarkeit der Zeit. Die der selbstbeschrei‐ benden Tätigkeit immanente Problematik der Erinnerung als Vergegenwärti‐ gung von Vergangenem wird schließlich mit der Fragwürdigkeit der eigenen Existenz verbunden: 3.2 „Protokoll einer Selbstbefragung“ 135 <?page no="136"?> 41 Schlingensief: Regiebuch zu „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“, 1. Vgl. dazu Salvador Elizondo: Farabeuf oder Die Chronik eines Augenblicks. München: Hanser 1969, 68. 42 Ebd., 69. Sind wir vielleicht eine Lüge? […] Sind wir vielleicht ein Film, ein Film, der kaum einen Augenblick lang dauert? […] Sind wir die Gedanken eines Wahnsinnigen? […] Eine längst vergessene Erinnerung an ein längst vergangenes Geschehnis? Sind wir Wesen und Dinge, die durch eine Formel schwarzer Kunst heraufbeschworen wurden? Sind wir etwas, das man vergessen hat? Sind wir vielleicht eine Anhäufung von Wör‐ tern? Ein Beweis auf den niemand hört? […] Sind wir ein geheimer Gedanke? Ich weiß es nicht. Auf meinem Grabstein soll jedenfalls stehen „Auf Wiedersehen“! Das ist die größte Drohung, die ich mir vorstellen kann. 41 Der rezitierte Ausschnitt deutet die poetologische Reflexion Elizondos über die künstlerische Fassbarkeit des Ichs existentiell aus. Auf die programmatische Frage, ob wir Menschen eine Lüge seien, folgen Äußerungen, denen der Gestus des existentiellen Zweifels anhaftet und die das menschliche Sein in Frage stellen. In Schlingensiefs Anverwandlung von Elizondos Gedanken sind die vom Schriftsteller als Aussagen konzipierten Sätze zu Fragen umgeformt, die das Moment der Unsicherheit zusätzlich akzentuieren und zwingend ins Leere laufen. Das autobiographische Paradigma, das Vergangenheit als verfügbare und erinnerbare denkt, wird in dieser Aneignung literarischen Fremdmaterials un‐ tergraben. Schlingensief scheint sagen zu wollen, dass der Blick in die Vergan‐ genheit ebenso unsicher ist wie derjenige in die Zukunft. Elizondos „Gedanken eines Wahnsinnigen“ akzentuieren diesen psychotischen Zustand, in dem In‐ nerlichkeit und Äußerlichkeit des Menschen einem Möbiusband gleich inei‐ nander übergehen und nicht mehr voneinander abzugrenzen sind. Die dichte‐ rischen Worte artikulieren so die Unmöglichkeit, von einer konsistenten Ich-Position aus über sich selbst zu sprechen. Sie lassen sich darüber hinaus als selbstreferentieller poetologischer Kommentar zur Indexikalität des Archivie‐ rungsmediums Film lesen, der die Anwesenheit des vergangenen Ichs im inter‐ medialen Dialog von Filmbild und gesprochenem Wort in Zweifel zieht. Der Transformation des Satzes Elizondos „Wir sind ein Film, ein Film, der kaum einen Augenblick lang dauert“ 42 in die Frage „Sind wir vielleicht ein Film, ein Film, der kaum einen Augenblick lang dauert? “ korrespondiert das dokumen‐ tarische Filmmaterial, das nach dem Auftritt Mira Parteckes auf die Leinwand oberhalb der Szene projiziert und von einer Tonbandaufnahme Schlingensiefs kommentiert wird. 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 136 <?page no="137"?> 43 „Jeder Dreikäsehoch, der irgendwo auf einem Schulhof den Tod des Cowboys oder Indianers, des Räubers oder Gendarmen, des Gangsters oder des Unbestechlichen mimt, reproduziert ein Kitschbild des Todes.“ Saul Friedländer: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus. München: Hanser 2007, 32. Filmische Originaldokumente aus Schlingensiefs Kindheit sind mehrfach über die gesamte Bühne projiziert. Auf den zusammengeschnittenen Sequenzen aus dem privaten Erinnerungsarchiv der Familie Schlingensief werden die Zu‐ schauer eines lebhaft glücklichen Kindes im Sommerurlaub am Meer als einem der möglich-gewesenen Ichs ansichtig, bis dieses im kindlichen Rollenspiel von einer Gewehrkugel tödlich getroffen zu Boden geht (vgl. Abb. 15 und Abb. 16). Dieses „Kitschbild des Todes“ 43 wird durch eine auf den Film gelegte Tonband‐ aufnahme rückwirkend zu einer Vorausahnung auf die gegenwärtige Situation stilisiert, um die Kluft zwischen dem vergangenen und gegenwärtigen Ich Schlingensiefs zu betonen. Auf der Tonbandaufzeichnung ist die Stimme des krebskranken Schlingensief zu hören, der in Anbetracht seiner Diagnose ver‐ zweifelt einer ungewissen Zukunft entgegenblickt. Mit der minutiösen Schil‐ derung des Arztgesprächs, in dem dieser den Patienten Schlingensief darüber aufklärt, dass er durch die Krankheit ein radikal Anderer werde, schreibt sich Schlingensief in den auf Augustinus zurückgehenden autobiographischen Topos eines existentiellen Wendeerlebnisses ein. Sich selbst durch seine Er‐ krankung zu einer großen Frage geworden, spricht er dabei von der Krankheit als ungerechtem Schlag des Schicksals und verstummt schließlich ob der Un‐ begreiflichkeit seiner Situation mitten im Satz. In dieser Verschaltung medial konservierter Bestandsaufnahmen, des vom Tonband eingespielten Krank‐ heits-Ichs als unheilvolle körperlose Stimme und der Idylle des filmisch präsen‐ tierten Kindheits-Ichs, erhält die Paraphrase Elizondos, „Sind wir vielleicht ein Film, ein Film, der kaum einen Augenblick lang dauert? “, eine ernüchternde Antwort. Der durch den adaptierten Text Elizondos literarisch eröffnete und durch die Verschaltung der beiden zeitlich differenten Ich-Zustände autothematisch ver‐ ankerte topologische Bogen der existentiellen Unsicherheit und eigenen Frag‐ würdigkeit mündet schließlich in die Live-Interpretation von Arnold Schön‐ bergs Monodram Erwartung (1909). Vorgetragen von zwei Sängerinnen, die im Halbdunkel Gazevorhänge auf- und zuziehen, liefert der dem musikdramati‐ schen Werk zugrunde liegende Text von Marie Pappenheim ein szenisch-atmo‐ sphärisches Äquivalent zur labyrinthischen Ich-Disposition Schlingensiefs. Der Motivkreis der existentiellen Unsicherheit wird dabei mit den Worten „Hier hi‐ 3.2 „Protokoll einer Selbstbefragung“ 137 <?page no="138"?> Abb. 15: Filmische Doppelprojektion der glücklichen Kindheit 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 138 <?page no="139"?> 44 Marie Pappenheim: „Erwartung. Monodram in einem Akt, op. 17 (1909)“. http: / / www.schoenberg.at/ compositions/ werke_einzelansicht.php? werke_id=472 (Zugriff am 5. April 2017). 45 Sontag: Aids und seine Metaphern, 25. Abb. 16: Filmische Projektion des im Spiel tödlich verwundeten Kindes nein? … man sieht den Weg nicht“ 44 um denjenigen der Orientierungslosigkeit erweitert. Schönbergs Erwartung transformiert Susan Sontags topographische Definition von Krebs als einer „Krankheit im Raum, in der Geographie des Kör‐ pers“ 45 vollends in das Gefühl der Verlorenheit im Ich-Raum. Das für die Inszenierung grundlegende Thema der Selbstsuche, das der Be‐ ginn der zweiten Sequenz im Rekurs auf Elizondo bereits textlich-propositional in den Mittelpunkt rückt, wird durch die Einblendung von dokumentarischem Material aus Schlingensiefs Vergangenheit und Gegenwart autothematisch fun‐ diert. Auf medienästhetischer Ebene wiederum wird die grundlegende Unmög‐ lichkeit, sich als kohärentes Ich zu begreifen, durch die Verschaltung der Ich-Zeiten zum Ausdruck gebracht. Schlingensief erscheint mithin als ein vom Zweifel zerklüftetes Subjekt, das sich, von der unstillbaren Sehnsucht nach Selbstgewissheit getragen, auf unterschiedlichen medialen Darstellungsebenen wiederfinden will und dabei doch in die körperlosen Partikel seines Selbst zer‐ stäubt. Er löst seine Frage in die von einer Schauspielerin vorgetragene über‐ zeitliche und allgemeinmenschlich relevante nach der existentiellen Lüge auf, zeigt auf das Bild seines kindlich-harmlosen Spiels mit dem Tod, verschaltet 3.2 „Protokoll einer Selbstbefragung“ 139 <?page no="140"?> 46 Schneider: Die erkaltete Herzensschrift, 250 f. diesen Film mit der auf Tonband gesprochenen Angst eines möglicherweise Sterbenden, der in der Überblendung durch Schönbergs Komposition schließlich jene Ungewissheit wiederfindet, die ihn gegenwärtig umfängt. Dabei wird die wesentliche Diskrepanz zwischen der autobiographischen Er‐ innerungstätigkeit und dem Verfahren Schlingensiefs, Lebenszeit in einen Raum sich überlagernder medialer Schichten zu projizieren, offensichtlich. Während die Zeit der Suche nach dem Selbst in der literarischen Autobiographie in einem Vorgang des affektiven Erinnerns vor sich geht, d. h. im Vorgang des Schreibens mit der Suche der Selbst-Zeit zur Deckung gelangt, widersetzt sich Schlingensief mit seinen Techniken der Verschaltung und Mehrfachbelichtung recht eigent‐ lich dem Konnex von Erfindung (sprachlicher Konstruktion) und Erinnerung. In seiner collagierend-medialen Ich-Konstruktion ist an die Stelle des Erinnerns als zeitlicher Vorgang der Konstruktion von Ich-Zeit das Verfahren medialer Repräsentation technisch-apparativer Archivierungen getreten -, bezogen auf das zuletzt beleuchtete Bild: Die filmische Projektion des in der Kindheit er‐ stellten Filmes wird mit der Tonband-Einspielung eines medial konservierten Angstzustandes aus der jüngsten Vergangenheit verschaltet. Mit der von Man‐ fred Schneider in anderem Zusammenhang beschriebenen Technik der Aufar‐ beitung im Archiv der Vergangenheit ist ein wesentliches Distinktionsmerkmal zwischen der Selbstbeschreibungspraxis und Schlingensiefs mediatisierter Ich-Konstruktion benannt: Zwischen der Autobiographik in der Tradition Rous‐ seaus, der dem (unverfügbaren) Weg der Selbstentdeckung und -offenbarung chronologisch nachzuspüren versucht, um „ein Kondensat verbindlichen Spre‐ chens gegen die Streuungen der Zeit“ 46 aufzubieten, und der Ich-Darstellungs‐ technik Schlingensiefs, verschiedene Bausteine aus dem medialen Archiv mit der theatralen Jetztzeit zu verschalten, ereignet sich der Umschlag von der „heißen“ in die „kühle“ Erinnerung. 3.3 Die Verwandlung Zwischen dem sich selbst analysierenden Ich im „Protokoll einer Selbstbefra‐ gung“ und seiner nachfolgenden Ritualisierung im Messteil der Inszenierung vermittelt eine Verwandlungsszene. Zu Beginn dieser Überleitung wird die fil‐ mische Episode der Zellteilung als Chiffre von Vitalität erneut aufgegriffen, nun allerdings von einer Reflexion über den Selbstmord schroff konterkariert. Der selbstreferentielle Verweis der Inszenierung auf die Darstellung der vorwärts‐ 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 140 <?page no="141"?> 47 Schlingensief: Regiebuch zu „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“, 12. 48 Der von Magrit Carstensen deklamierte Text entspricht einer leicht veränderten und gekürzten Version des Tagebucheintrags vom 26. 01. 2008: „Der Weg in die Freiheit kann nur bedeuten, dass man sich auf eigene Gesetze einlässt, die man natürlich nicht selber macht, sondern die einem, in diesem Falle jetzt besonders, von anderen vorgeschrieben werden. Ich werd die Entscheidung treffen müssen, ob ich mir in den Kopf schieße, hab keine Pistole, ob ich in die Badewanne steige und mach mir einfach die Adern auf oder ob ich irgendwie aus’m Fenster falle, dazu ist es hier nicht hoch genug. Oder hoffentlich Tabletten kriege und irgendwas anderes, denn … der Lebenswille, den ich geheuchelt hab die ganze Zeit, dieses Gefühl von, ja, der, der hat ja Kraft, der macht’s, das ist vorbei. Ich bin müde. Ich bin fertig. Ich bin schon lange müde. Ich hab genug gestrampelt. Ich hab genug gemacht. Es gibt keine Blumen, die man unbedingt noch haben will, noch nicht mal verwelkte Blumen.“ Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! , 67 ff. strebenden Bewegung durch Zytokinese überblendet dabei als filmische Pro‐ jektion das theatrale Spiel. Die mediale Einhüllung der Szene durch Mehrfach‐ belichtung weist die Bühne als bewegte, reliefartige Projektionsfläche aus (vgl. Abb. 17). Auf einem Hochstuhl in der Mitte der Bühne sitzend, widmet sich die Schau‐ spielerin Margit Carstensen dem Thema des Autonomieverlustes durch den möglicherweise bevorstehenden Tod. Sie prospektiert die endgültige Loslösung vom Leben als den letzten verbleibenden „Weg in die Freiheit“ 47 . Die in kühl distanziertem Ton deklamierte Passage aus Schlingensiefs Krankentagebuch kulminiert in der Frage nach der Akzeptanz der nunmehr geltenden Gesetze der Krankheit, „die man […] nicht selber macht, sondern die einem […] von anderen vorgeschrieben werden“ 48 . Durch die autofigurale Maske der Schauspielerin hindurch bringt Schlingen‐ sief seine im Krankenhaus dokumentierten Reflexionen über die Möglichkeit einer Restitution der verlustig gegangenen Entscheidungs- und Handlungs‐ macht vor. Der deklamierte Text erhält existentiellen Bekenntnischarakter: Dort, wo die Krankheit dem Menschen die Macht über das eigene Leben ent‐ zogen hat und der Kampfeswille der Vorausahnung des eigenen Endes und einem Zustand der Erschöpfung gewichen ist, bleibt dem Subjekt nur mehr der Selbstmord zur letztgültigen Bekräftigung seiner Autonomie. Seine Entschei‐ dungsmöglichkeit bezieht sich dabei einzig und allein darauf, wie der selbstge‐ wählte Tod eintreten soll. Dieses Abwägen zwischen verschiedenen Selbsttö‐ tungsmöglichkeiten kulminiert in einer wehmütig rückschauenden Geste, mit der das Ich unter dem Eindruck des Einbruchs des Realen der Krankheit jede Hoffnung auf Entwicklung und Vollendung aufgegeben hat. Neben der Selbst‐ bestimmung wird mit den Worten „Ich bin nicht mehr der, der ich bin. Ich bin 3.3 Die Verwandlung 141 <?page no="142"?> 49 Ebd., 68. 50 Vgl. dazu auch die Übersetzung der Schlachter-Bibel: „Gott sprach zu Mose: ‚Ich bin, der ich bin! ‘ Und er sprach: So sollst du zu den Kindern Israels sagen: ‚Ich bin‘, der hat mich zu euch gesandt“ (Ex 3, 14). Abb. 17: Mehrfachbelichtung durch filmische Projektion einer Zytokinese nicht der, der ich war. Ich bin nicht der, der ich werden wollte“ 49 schließlich auch die vollkommene Negation des menschlichen Identitätsgedankens reflektiert. Ex negativo ruft die aus dem Tagebuch rezitierte Passage ein für das autobio‐ graphische Selbstbekenntnis seit Rousseaus Confessions konstitutives subjek‐ tives Integritätsideal als Fundament von Selbsttransparenz auf. Der betont selbstgewissen Formel des französischen Philosophen, „Sieh, so handelte ich, so dachte ich, so war ich! “, steht die Geste der Trauer darüber gegenüber, nicht der geworden zu sein, der man werden wollte. Das Urbild dieses Identitätsgedankens liegt im Topos göttlicher Ubiquität, mit dem die christliche Theologie der Auffassung vom Wandel die Idee einer sub‐ stantiellen Essenz opponiert. Über weite Strecken des Alten und Neuen Testa‐ ments wird diese göttliche Allgegenwart als Ausdruck des Ewig-Seienden re‐ klamiert. So steht im Exodus „Ich werde sein, der ich sein werde“ (Ex 3, 14) 50 ; in der Offenbarung des Johannes wiederum findet sich dessen Umschrift in „Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende“ (Off 1, 8). Die Allgegenwart Gottes manifestiert sich dabei im Spannungsfeld von je Zuvorkommendem und zu‐ künftig Erscheinendem und zeigt sich insofern als unbegrenzte räumliche 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 142 <?page no="143"?> Abb. 18: Mira Partecke zeigt auf den Leuchtkasten mit den Röntgenbildern Durchdringung der Zeiten. Noch die konfessionellen Autobiographen seit Rous‐ seau, die schreibend ihren Anfang und ihr Ende auszudrücken versuchten, voll‐ zogen eine Mimesis an der machtvollen Position des Göttlichen, das als causa sui sein Telos bereits in sich birgt. Mit dieser Idee einer ubiquitären Identität hadert letztlich auch Schlingensief, der sein Zerklüftetsein, seine Spur von Prä‐ senz, im autofiguralen Modus zur Sprache kommen lässt. Die im Gegensatz zur Ubiquität Gottes als nunc permanens stehende fluide Verfassung des Lebens als nunc currens wird durch die Aktion einer zweiten Schauspielerin, die den Text Carstensens als alterierendes Echo kommentiert, noch ostentativer zur Schau gestellt. Mira Partecke wiederholt Carstensens Text Satz für Satz und demonstriert die Faktizität dieser Worte, indem sie mit einem Stab parallel dazu auf einen beleuchteten Schaukasten mit den Röntgenbildern von Schlingensiefs Lunge zeigt (vgl. Abb. 18). Die doppelte Verfremdung der Worte von der Tonbandaufzeichnung des Tagebuchs - durch Carstensen und ihren Widerhall in Partecke - stellt eine Polyphonie der Innerlichkeit zur Schau, die dem Konstrukt der Identität performativ seinen Boden entzieht. Nachdem Carstensen ihrer Rede mit dem ironisierenden Ausruf „Alles Quatsch! “ ein jähes Ende bereitet hat, wird das Thema des Selbstmords mit einem Intertext verlinkt und in eine ästhetisierte religiöse Sphäre eingebettet. Dem Selbstmordgedanken steht im weiteren Verlauf die Idee von der Überwin‐ 3.3 Die Verwandlung 143 <?page no="144"?> 51 Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung 1. In: Ders.: Arthur Schopen‐ hauers Werke in fünf Bänden, Bd. 1. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2006, 512. 52 Ebd. 53 Schlingensief: Regiebuch zu „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“, 13 f. 54 Žižek: Parallaxe, 292. 55 „Der große Andere“ (A) stellt in Lacans System den Komplementärbegriff zum „Objekt klein a“ (a) dar. Während das Objekt klein a die Projektion des Ichs als unerreichbares Begehren nach sich selbst zum Ausdruck bringt, ist der große Andere das Symbolische, das das Ich überformt. Die radikale Alterität des großen Anderen stellt Lacan der Sprache und dem Gesetz gleich. Die erste Verkörperung des Symbolischen ist die Mutter, die dem Kind als großer anderer Wille begegnet und dieses in die symbolische Ordnung der Sprache und der Sozialität einführt. Damit betont Lacan die Verfasstheit des Sub‐ jektums als eines unter die symbolische Herrschaftsordnung Unterworfenes. Vgl. Jacques Lacan: Das Seminar X. Die Angst. Wien: Turia + Kant 2011. dung des Lebenswillens gegenüber. Als Antidot des Suizids, für Schopenhauer nicht Verneinung, sondern „ein Phänomen starker Bejahung des Willens“ 51 , da sein Initiator nichts mehr als das Leben wolle, „aber die Verflechtung der Um‐ stände“ 52 dies nicht zulasse, erklingt das Vorspiel zu Wagners Tristan und Isolde (1865). Einzig die Kunst, so scheint es die Szene in romantisierender kunstreli‐ giöser Manier zu deklarieren, vermag den Selbstmordgedanken als transzen‐ dierende Überwindung des Lebenswillens zu sublimieren. Über die orchestrale Tonbandspur legt sich in diesem Sinne eine live gesprochene Sequenz von An‐ gela Winkler, die an Schlingensiefs Mutter (nunmehr verkörpert von Cars‐ tensen) folgenden Imperativ adressiert: Dein Sohn wird von seiner Liebesleidenschaft befreit werden, wenn Aphrodites heißes Liebesfeuer in seinem Herzen niedergebrannt ist. Mildere du nun deinen finster drein blickenden Groll und höre auf, deinen Sohn zurückhalten zu wollen. Denn damit er‐ reichst du gerade das Gegenteil von dem, was du anstrebst. Wenn du ganz ruhig und gelassen bist, wird er bald alle Liebeszauber vergessen und ablassen von seiner schlimmen Leidenschaft. 53 Die Aufforderung, den Sohn gehen zu lassen, alludiert an das von Schlingensief zu Beginn der Inszenierung etablierte Berührungsverbot, spielt mit Schopen‐ hauers und Wagners Idee des Erhabenen als „der ‚höchsten Lust’ des Eintau‐ chens in die Leere“ 54 sowie mit dem symbolischen Akt einer Ablösung vom Ur‐ sprungsprinzip der Mutter, die seit Lacan als „die große Andere“ 55 für den Willen jenseits der Individuation steht. Es folgt eine Bekräftigung des Motivs der Welt‐ flucht. Der Schauspieler Stefan Kolosko betritt in einer symbolischen Doppel‐ rolle als Alter Ego Schlingensiefs und Wagners Amfortas die Bühne und expo‐ niert die Funktionsebene der Automythographie als autobiotheatralen Darstellungsmodus, mit der Schlingensief sich als Sujet der Inszenierung in ein 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 144 <?page no="145"?> 56 Schlingensief: Regiebuch zu „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“, 14. 57 Žižek: Parallaxe, 292. 58 Wagner: „Parsifal“, 375. mythologisches Narrativ einschreibt. Durch die Maske des Amfortas hindurch, der, in Wagners Bühnenweihfestspiel seines Amtes als Erhalter der Gemein‐ schaft überdrüssig und der Qual seiner Schmerzen beinahe erlegen, nichts sehn‐ licher als den Tod wünscht, wird Schlingensiefs Weltschmerz in den diegeti‐ schen Rahmen des Parsifal implantiert. Kolosko profiliert die von Carstensen vorgebrachte Autonomiedeklaration sowie Winklers Apostrophierung der Mutter, dem Sohn die Loslösung von irdischen Lebensleidenschaften zu ermög‐ lichen, zu einem solipsistischen Credo. Zu den Klängen des Tristan-Vorspiels ruft er die von Schlingensief im Tagebuch festgehaltene und im Programmheft zur Inszenierung als Credo abgedruckte Abwendung vom christlichen Glauben im Zustand der Verzweiflung aus: Jesus ist nicht da und Gott ist auch nicht da und Mutter Maria ist auch nicht da. Ist keiner mehr da. Alles ist tot. Und es ist gut so, dass es so ist. Ich will einmal ganz alleine sein. Ich will alleine dastehen und alleine sagen, so, das ist mein Leben … Dann bin ich wenigstens einmal ganz alleine. Ich hab das Recht dazu! 56 Dem Ausruf vollkommener Negation korrespondiert auf musikalischer Ebene der Übergang in das Finale des Parsifal, der die Symbolik der Weltflucht aus dem Tristan umkehrt: „Die intime metaphysische Erfahrung wird […] hier gewaltsam externalisiert und in ein Ritual verwandelt“ 57 . Die akustische Überblendung des Tristan durch die Musik zur Gralsenthüllung im dritten Aufzug des Parsifal, in dem Wagner zugleich mit dem Stellvertreter-Prinzip eine neue Form des Sozi‐ alen entworfen hat, markiert schlussendlich die Transformation der Inszenie‐ rung in ein pseudokatholisches Messritual. Im Unterschied zu Wagners Fassung, in der Amfortas stellvertretend für die Gemeinschaft büßt, reklamieren in der Verwandlungsszene von Eine Kirche der Angst gleich mehrere Figuren die Wunde für sich. Zu den Worten aus dem Lib‐ retto des Parsifal „Nicht soll der mehr verschlossen sein: Enthüllet den Gral, öffnet des Schrein! “ 58 wird die Szene der Gralsenthüllung aus Schlingensiefs Bayreuther Parsifal-Inszenierung auf die Bühne projiziert (vgl. Abb. 19). Achim von Prachensky, einer von Schlingensiefs „Freakstars“, beschwert sich als Par‐ sifal darüber, dass ihm seine Wunde gestohlen wurde. Der Schauspieler Kolosko wiederum geht als automythographisches, erlösungsbedürftiges Alter Ego Schlingensiefs schmerzerfüllt zu Boden. Zusätzlich zu dem von Kolosko figural skizzierten Amfortas, von dessen Wunde sich bei Wagner die Gralsgemeinschaft 3.3 Die Verwandlung 145 <?page no="146"?> 59 Elfriede Jelinek: „Parsifal: (Laß o Welt o Schreck laß nach! )“. http: / / www.a-e-m-gmbh.com/ wessely/ farea.htm (Zugriff am 7. März 2015). 60 Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung 1, 488. nährt, tritt also noch ein zweiter Amfortas hinzu. Beide beanspruchen ihre Wunde für sich; beide wollen erlöst werden. So zeigt Schlingensief einerseits das Leiden des Amfortas zugunsten der Ge‐ meinschaft auf und stellt andererseits durch die Dopplung der Wunde seine Überzeugung vor, dass niemand Stellvertreter für das Leid eines anderen sein könne. Selbst Parsifal will seine Wunde, wie Elfriede Jelinek in ihrem für Schlin‐ gensief wichtigen Intertext Parsifal: (Laß o Welt o Schreck laß nach) (2006) schreibt, „ums Verrecken nicht mehr her[geben].“ 59 Auf diese Weise dekompo‐ niert Schlingensief am Ende der Verwandlungsszene in Eine Kirche der Angst den Gedanken des Sozialen aus Wagners Parsifal, wo sich die Gemeinschaft auf Kosten des Einen reinigt. Abb. 19: Mehrfachbelichtung durch die Projektion der Gralsenthüllung aus Schlingen‐ siefs Parsifal-Inszenierung Im philosophischen Kosmos Schopenhauers, der der Mitleidstopik des Parsifal zugrunde liegt, erwächst die Haltung der Selbstaufgabe aus der „Erkenntnis des Ganzen“ 60 als leidvollem Dasein. Während für den Philosophen eine notwendige Verbindung zwischen dieser Erkenntnis und dem allgemeinmenschlichen Ge‐ fühl des Schmerzes besteht, der Erkennende „die endlosen Leiden alles Lebenden als die seinen betrachten und so den Schmerz einer ganzen Welt sich zueignen 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 146 <?page no="147"?> 61 Ebd. 62 „Denn, wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulend Was‐ serberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Fischer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt voll Qualen, ruhig der einzelne Mensch, ge‐ stützt und vertrauend auf das principium individuationis, oder die Weise wie das Indi‐ viduum die Dinge erkennt, als Erscheinung. Die unbegränzte Welt, voll Leiden überall, in unendlicher Zukunft, ist ihm fremd, ja ist ihm ein Mährchen: seine verschwindende Person, seine ausdehnungslose Gegenwart, sein augenblickliches Behagen, dies allein hat Wirklichkeit für ihn: und dies zu erhalten, thut er Alles, solange nicht eine bessere Erkenntniß ihm die Augen öffnet“. Ebd., 457. 63 Ebd., 488. 64 Richard Wagner, „Parsifal“, 375. 65 Ebd. muß“ 61 , zentriert Schlingensief die Empfindung des Leids ins Persönliche. Der solipsistischen Perspektive auf die Wunde gehorchen sämtliche ins Dialogische transponierten Stimmen der Inszenierung. Wie schon im Fall des Symbols der Fußwaschung verlegt der Regisseur den Topos des Weltschmerzes in die intime Erfahrungswelt, in der er nur für sich selbst eintritt. Während Schopenhauers philosophische Konzeption das principium individuationis als Übel der Welt ausweist, 62 wird es von Schlingensief zum eigentlichen Movens der Erkenntnis nobilitiert. Wagners Parsifal, der im Sinne Schopenhauers „nicht mehr den ego‐ istischen Unterschied zwischen seiner Person und der fremden macht“ 63 , ist dazu bereit, seine Individualität zu opfern. Schlingensief hingegen, der durch sein persönliches Leid das Leiden der Welt, d. h. die Sterblichkeit erkennt, erscheint durch die Summe seiner autofiktionalen Spiegelgestalten in der Verwandlungs‐ szene von Eine Kirche der Angst als Anti-Parsifal, und erst recht als Anti-Am‐ fortas. Sowohl die szenischen Vorgänge als auch die filmischen Projektionen unter‐ stützen die Absetzbewegung von Wagners weltumspannender Einheitsutopie der Erlösung. Zwei Opernsängerinnen und ein Kinderchor singen die Stimmen des eingespielten Schlusschores „Höchsten Heiles Wunder: Erlösung dem Er‐ löser“ 64 live mit, intonieren ihre Partien allerdings nicht, wie Wagners Libretto vorsieht, „kaum hörbar leise“ 65 , sondern derart kraftvoll, dass sie die Aufnahme beinahe dominieren, jedenfalls aber überblenden. Die visuelle Projektion der Gralsenthüllung wird ebenso übermalt. Der überblendende Film Drei Sonnen/ Prozession (Letzte Bilder vor der Vollnarkose) (2008) zeigt eine rätselhaft diony‐ sische Kunstprozession, an der Schlingensiefs Freakstars, unter anderem in den Rollen Nam June Paiks und Joseph Beuys’, ein Reenactment von George Maci‐ unas’ Piano Activities vorführen und einer Ästhetik der Zerstreuung Ausdruck verleihen. 3.3 Die Verwandlung 147 <?page no="148"?> 66 Alexander Kluge: „Die vollständige Fassung eines barocken Einfalls von Christoph Schlingensief “. In: Susanne Gaensheimer (Hrsg.): Christoph Schlingensief. Deutscher Pa‐ villon 2011: 54. Internationale Kunstausstellung La Biennale di Venezia. Köln: Kiepen‐ heuer & Witsch 2011, 245. 67 Mit dieser Idee verband Nietzsche - im Unterschied zur Nietzsche-Rezeption im 20. Jahrhundert - noch eine Dystopie: „Das grösste Schwergewicht - Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und unzählige Male leben müssen“. Nietzsche: „Die fröhliche Wissenschaft“, 370. 68 Kluge: „Die vollständige Fassung eines barocken Einfalls von Christoph Schlingensief “, 245. Der Gegenentwurf zu Wagners Parsifal-Finale endet schließlich mit der Pro‐ jektion eines verwesenden Hasen. Diese für Schlingensiefs Bayreuther Par‐ sifal-Inszenierung entstandene Arbeit Alexander Kluges verleiht dem religiösen Aussagegehalt des Bühnenweihfestspiels eine entscheidende Wendung. Der von Kluge mit einer Zeitraffer-Kamera gefilmte Verwesungsprozess eines Hasen zeigt in den Worten des Künstlers die „‚Weiterführung des Lebens in den Formen des Zerfalls‘: Andere leben von dem, was starb.“ 66 Mit der Projektion symbo‐ lisierte Schlingensief in Bayreuth den zyklischen Zusammenhang von Verfall und Entstehung, um jeglichen teleologischen Erlösungsgedanken zu konterka‐ rieren. Während der Verwesungsfilm in Bayreuth letztlich das Konzept einer „ewigen Wiederkunft“ 67 unterminieren sollte, da auch die parasitären Würmer mit der vollständigen Verwesung des Hasen „todgeweiht“ 68 sind, so erwächst in der Verwandlungsszene in Eine Kirche der Angst ein Symbol der Auferstehung aus dem verwesenden Hasen, eine Tänzerin wie Phönix aus der Asche. Die Er‐ fahrung des Absoluten - in der entsprechenden Szenenanweisung in Wagners Parsifal-Partitur heißt es „Lichtstrahl: hellstes Erglühen des Grales“ - wird erst durch diese menschliche Erscheinung in Gang gebracht (vgl. Abb. 20). 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 148 <?page no="149"?> Abb. 20: Aus dem verwesenden Hasen entsteht neues Leben 3.3 Die Verwandlung 149 <?page no="150"?> 69 Schlingensief: Regiebuch zu „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“, 16. 70 So etwa in der Münchner Abendzeitung vom 13. Februar 1976, der Bayerischen Staats‐ zeitung vom 26. Oktober 1976 und im Münchner Merkur vom 28. Januar 1980. Vgl. dazu Joseph Beuys: Joseph Beuys. Zeige deine Wunde. Katalog zur Ausstellung der Galerie Schellmann & Klüser im Kunstforum Maximilianstraße München, Januar 1976, Bd. 2: Re‐ aktionen, hg. von Armin Zweite. München: Schellmann & Klüser 1980. 71 Jeweils zu Doppelobjekten arrangiert sind: Werkzeuge, Leichenbahren, mit Fett gefüllte Zinkkästen an den Kopfenden der Bahren, aufgeklappte, mit Fett gefüllte Zinkkästen unter den Bahren, in denen ein Fieberthermometer steckt und ein Reagenzglas so ein‐ gefügt ist, dass es über den Rand der Kiste hinausragt und wiederum auf einem daneben stehenden Weckglas aufliegt; mit Gaze abgedeckte Einmachgläser, gerahmte, an Joseph Beuys adressierte Zeitungen mit dem Titel La Lotta Continua („Der ständige Kampf “), Schultafeln mit der Aufschrift „zeige deine Wunde“. 3.4 Die Messe (2. Teil) 3.4.1 Das künstlerische Schmerzens-Ich Gegen Ende der musikalischen Apotheose von Wagners Parsifal, die Schlingen‐ sief durch Überblendung der Szene mit Filmprojektionen seiner Bayreuther Re‐ giearbeit als selbstreferentiellen Kommentar inszeniert und dem persönlich-in‐ timen Rahmen auf diese Weise den künstlerischen und religiösen gleichzeitig überlagert, zeigt die Drehbühne eine Apsis. Zur Interpretation des Gospels „We are marching“ zieht zwischen den Kirchenbänken ein in seiner Zusammenset‐ zung äußerst heterogenes, ökumenisches Messpersonal ein und platziert sich auf der nunmehr hell erleuchteten Bühne. Unter der Projektion des als Mons‐ tranz verkleideten Röntgenbilds von Schlingensiefs entferntem Lungenflügel als mahnendem memento mori spricht Stefan Kolosko eine Grußformel, die von der Messgemeinde auf der Bühne als Antiphon erwidert wird: „Wer seine Wunden zeigt, wird geheilt, wer sie verbirgt, wird nicht geheilt“ 69 . Mit dieser akustisch durch Hallwirkung intensivierten Botschaft geht die Wunde aus dem Parsifal - versinnbildlicht durch die Monstranz als Gefäß des Allerheiligsten - in das übergeordnete, von Joseph Beuys entlehnte Motto der Inszenierung ein. Der vom Feuilleton wiederholt als „Schmerzensmann der Kunst“ 70 bezeich‐ nete Aktionskünstler Beuys, der die Grenzen seiner eigenen Leidensfähigkeit wiederholt performativ auslotete, richtete im Jahr 1976 im Münchner Kunst‐ forum das Environment Zeige deine Wunde ein. Die in Folge eines kurz zuvor erlittenen Herzinfarkts des Künstlers entstandene Arbeit, die seit 1980 dauerhaft im Lenbachhaus installiert ist, zeigt einen klinisch anmutenden Raum, in dem verschiedene für Beuys’ Arbeiten typische Materialien und Gegenstände, wie Fett, Einmachgläser und Tafeln, zu Doppelobjekten arrangiert sind. 71 Im Zentrum des Raumes stehen zwei Leichenbahren als Symbolisierung des Todes. 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 150 <?page no="151"?> 72 Joseph Beuys zit. nach: Gerald Schröder: Schmerzensmänner. Trauma und Therapie in der westdeutschen und österreichischen Kunst der 1960er Jahre. Baselitz, Beuys, Brus, Schwarzkogler, Rainer. Paderborn: Fink 2011, 237. 73 Vgl. Beuys: Joseph Beuys, o. S. 74 Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! , 243. 75 Vgl. dazu Anne-Rose Meyer: Homo dolorosus. Körper - Schmerz - Ästhetik. München u. a.: Fink 2011, 12, 200. Beuys selbst bezeichnete die Installation als „Röntgenbild einer Leichenhalle“ 72 , die den homöopathischen Lehrsatz similia similibus curantur („Gleiches wird von Gleichem geheilt“) durch die Dopplung der Gegenstände ästhetisch zur Darstellung bringt. Die traumatische Todesevokation birgt die von Beuys wie‐ derholt zum Ausdruck gebrachte Überzeugung in sich, dass man seine Schmerzen zeigen müsse, um Heilung von ihnen zu erfahren. 73 Dem vom Aktionskünstler eingeforderten therapeutischen Akt der künstle‐ rischen Selbstoffenbarung im Schmerz kommt Schlingensief mit einem Setting nach, das die medizinische Kühle der Leichenhalle durch katholische Sakralität ersetzt (vgl. Abb. 21 mit Abb. 22). Neben Beuys dienen Schlingensief im Verlauf der Inszenierung auch andere moderne Schmerzensikonographien von Günter Brus und Rudolf Schwarzkogler als Material für Übermalungen seines öffentli‐ chen Dienstes (griech. leiturgía). Zudem wird er sich über den christlichen Vor‐ stellungskomplex der Passion zu einem Double des Schmerzensmannes Jesus Christus stilisieren und im Sinne des Beuysschen Desiderats des Sich-Zeigens communitas evozieren. Schlingensiefs Credo, „Ich gieße eine soziale Plastik aus meiner Krankheit“ 74 , womit er die von Beuys aus der Anthroposophie heraus entwickelte Idee einer Kunst aufgreift, die jede menschliche Tätigkeit in das „Gesamtkunstwerk Gesellschaft“ integriert, führt ihrerseits direkt auf die christ‐ liche Ikonographie des Schmerzensmannes zurück. Spätestens seit dem Humanismus gehört das mit dem Kreuzestod Jesu ver‐ bundene Insignium der Wunde zum metaphorischen Darstellungsinventar des leidenden Künstlers. Das Zeigen des in der Monstranz gleichsam aufbewahrten Lungenkarzinoms evoziert über das von Schlingensief ausschnittweise zitierte Repertoire an Schmerzensdarstellungen in der Bildenden Kunst hinaus die As‐ soziation an die mittelalterliche meditatio vulnerum Christi. Die aus der mittel‐ alterlichen Mystik überlieferte Passionspraxis, bei der die Wundmale von Jesus Christus beschrieben wurden, sollte den Gläubigen einen geistig-spirituellen Zugang zu den Schmerzen des Erlösers eröffnen. 75 Neben der Stiftung von com‐ passio beglaubigte die symbolische Präsenz des gemarterten Körpers das Leiden Christi. In dieser Tradition der Ikonen der Schmerzensvergewisserung stehen die Lungenflügel Schlingensiefs. Mit der bildlichen Erscheinung des malträ‐ 3.4 Die Messe 151 <?page no="152"?> 76 Vgl. hierzu die deutsche Übersetzung: „Meine Angelegenheiten nehmen den Gang, der von oben (vom Himmel, von Gott und den Gestirnen) her vorgezeichnet ist.“ Ernst Rebel: Albrecht Dürer. Maler und Humanist. München: Bertelsmann 1996, 54. 77 Gemeint sind damit v. a. das Selbstbildnis mit Landschaft (1498) mit der Inschrift „Das malt’ ich nach meiner Gestalt. Ich war 26 Jahr’ alt.“; das Selbstbildnis im Pelzrock (1500), in dem der Maler den Betrachter im Zeichen christlicher Imitatio frontal anblickt, mit der Beschriftung „Albertus Durerus Noricus ipsum me propriis sic effin gebam coloribus aetatis anno XXVIII“. Vgl. hierzu die deutsche Übersetzung: „Ich, Albrecht Dürer von Nürnberg, habe mich selbst mit unvergänglichen > = eigentümlichen< Farben so gemalt, im 28. Jahr meines Lebens.“ Ebd., 157. tierten Körpers und dem Zeugnis des tatsächlich Erlittenen fordert er nicht nur das Mitleid des Betrachters ein, sondern transzendiert die persönliche Schmer‐ zensspur in eine imitatio christi. Schlingensief begegnet der großen christlichen Metaerzählung vom erduldeten Schmerz dabei mit der Beuysschen Waffe einer ostentativen Demonstration der eigenen Wunde. Als einer der ersten neuzeitlichen Künstler präsentiert sich Albrecht Dürer aus einem geradezu emphatischen Ichverständnis heraus als homo dolorosus. Die Gattung des Selbstbildnisses, die er im Zeichen erstarkenden Individualbe‐ wusstseins recht eigentlich begründet hat, speist sich aus der auch bei Schlin‐ gensief vorherrschenden Spannung zwischen zweifelnder, leidvoller und selbst‐ bewusster Haltung, die sich im Laufe von Dürers künstlerischer Entwicklung in ein immer deutlicheres Bekenntnis zum Ich verwandelt. So ist die existentielle Skepsis seinem Selbstbildnis mit Eryngium (1493), in dem er den Betrachter im Alter von zweiundzwanzig Jahren im Halbprofil seitlich anblickt, noch deutlich eingeschrieben. Zusammen mit der Jahreszahl prangt die Inschrift „My sach die gat/ Als es oben schtat“ 76 am oberen Bildrand und stellt einen direkten Konnex zwischen dem irdischen Sein und dem göttlichen Wirken her. Demgegenüber zeugen spätere autoporträtistische Darstellungen von einer rhetorischen Be‐ kräftigung des Künstler-Ichs, das zwischen faktualer Dokumentation, symbo‐ lischer Stilisierung und dem Anspruch auf Überzeitlichkeit vermittelt. 77 Sowohl Studium als auch Inszenierung der eigenen Gestalt bleiben dem christologischen Vorbild eng verbunden, sodass sich Dürers Selbstporträts mitunter als Alloport‐ räts Christi zu erkennen geben. So erscheint etwa der Bremer Schmerzensmann (1522) nicht lediglich als Dürers persönliche Interpretation des leidenden Mes‐ sias, sondern gar als dessen automythographische Anverwandlung. Gesicht und Physiognomie des Schmerzensmannes zeigen schließlich deutliche Ähnlich‐ keiten zu Dürers Selbstbildnissen und der Studie seines nackten Körpers. Das Motiv des psychischen Schmerzes in Form der Melancholie wiederum verarbeitete Dürer nicht nur in seinem berühmten gleichnamigen Kupferstich aus dem Jahr 1514, sondern auch als Erfahrungsform des Ichs in seinen Selbst‐ 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 152 <?page no="153"?> 78 Vgl. hierzu den Katechismus der Katholischen Kirche Nr. 2473: „Das Martyrium ist das erhabenste Zeugnis, das man für die Wahrheit des Glaubens ablegen kann; es ist ein Zeugnis bis zum Tod. Der Märtyrer legt Zeugnis ab für Christus, der gestorben und auferstanden ist und mit dem er durch die Liebe verbunden ist. Er legt Zeugnis ab für die Wahrheit des Glaubens und die christliche Glaubenslehre. Er nimmt in christlicher Stärke den Tod auf sich. ‚Laßt mich ein Fraß der wilden Tiere sein, durch die es möglich ist, zu Gott zu gelangen! ‘ (Ignatius v. Antiochien, Rom. 4,1) „Katechismus der Katholi‐ schen Kirche“. http: / / www.vatican.va/ archive/ DEU0035/ __P8P.HTM (Zugriff am 1. April 2017). bildnissen. Auf einer undatierten Zeichnung zeigt der nur mit einem Lendentuch bekleidete Maler auf seine Milz und legt schriftlich dar: „Do der gelb fleck ist und mit dem finger drawff dewt do ist mir we“. Ungeachtet der unterschiedli‐ chen Lesarten, wonach die Milz auf der Zeichnung entweder ein Hinweis auf das melancholische Gemüt Dürers sei oder eine Variation der christlichen Sei‐ tenwunde darstelle, widmet der Künstler seinem Schmerz ein beträchtliches Maß an Aufmerksamkeit. Dürer negiert dabei letztlich den im katholischen Ka‐ techismus festgehaltenen Glaubensgrundsatz, wonach das Martyrium das er‐ habenste Zeugnis des Glaubens sei. 78 Er stilisiert sich mit der Zur-Schau-Stellung des eigenen Schmerzes recht eigentlich zum autoporträtistischen Substitut des Märtyrers. Mit seinem Auftritt als Priester am liturgischen Höhepunkt der Eu‐ charistiefeier formt sich auch Schlingensief zum Passionsdarsteller um. Nur handelt es sich bei seinem Auftritt nicht um eine Darstellung in effigie, die sym‐ bolisch den Platz des Sterbenden besetzt. Vielmehr übernimmt er im eigentli‐ chen Sinne die Rolle Jesu Christi. 3.4 Die Messe 153 <?page no="154"?> Abb. 21: Der Schmerzensraum von Beuys Abb. 22: Der Schmerzensraum von Schlingensief 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 154 <?page no="155"?> 79 Kultur Ruhr GmbH (Hrsg.): Christoph Schlingensief: Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir, o. S. 80 Vgl. Meister: „Zirkulationen des Schmerzes“. Ralfs: „‚WIR SIND EINS‘ - TOTAL TOTAL“. 81 Žižek: Parallaxe, 21. 3.4.2 Die autobiotheatrale Übermalung des liturgischen Ablaufs Der von Kolosko artikulierte Apell, die eigene Wunde zu zeigen, übernimmt die Funktion des im christlichen Ritus verankerten L ITU R GI S CHE N G R U S S E S und stellt nach dem I NT R OITU S der Gemeinde den zweiten formalen Baustein von Schlin‐ gensiefs in struktureller Hinsicht eng an die katholische Liturgie angelehnter Messe dar. Entgegen der im Programmzettel zur Inszenierung festgehaltenen Bezeichnung „Liturgie-Fragmente“ 79 , die in der Forschungsliteratur zum Werk weitestgehend als Dispositiv übernommen wurde, 80 verbleibt Schlingensiefs theatrale Messkomposition grosso modo innerhalb des strengen formalen Kor‐ setts der katholischen Missa (vgl. dazu Abb. 23) So markiert die Messe in Eine Kirche der Angst aufgrund ihrer klaren Abschnittsbildung Schlingensiefs Bruch mit der für den ersten Teil des Fluxus-Oratoriums kennzeichnenden formalen Netzstruktur. Trotz seiner Orientierung an der katholischen ordo subvertiert er allerdings deren Sinngehalte. Schlingensief führt die funktional-floskelhaften katholischen Botschaften mit seinem persönlichen Stationendrama eng. Er macht sich das Strukturgerüst des Gottesdienstes zunutze, um den Effekt zere‐ monieller Würde mittels metaphorischer Verdichtungen zu ironisieren und au‐ tothematische Fluchtlinien in das dogmatische Gebäude einzukomponieren. Zu einer Oppositionshaltung gegen die katholische Erlösungsreligion, die dem Menschen einen Platz als Hoffendem, nicht aber als Tätigem zuweist, ge‐ langt Schlingensief somit nicht durch Abkehr, sondern gerade unter Rekurs auf die christliche Dogmatik. Sein kritischer Blick auf die katholische Lehre, für die er als langjähriger Messdiener ein tieferes Verständnis entwickelt hatte, ist mit Slavoj Žižek als parallaktisch zu bezeichnen. Für Schlingensief hat sich das Ob‐ jekt seiner Betrachtung transformiert, allerdings nicht etwa, weil dieses selbst seine Position verändert hätte, sondern weil der Regisseur seinen Gesichtspunkt auf die Position eines Beobachters verlagerte, der auf das Göttliche hofft und gleichzeitig autonom bleiben will und damit „neue Sichtlinien“ 81 geschaffen hat. 3.4 Die Messe 155 <?page no="156"?> 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 156 <?page no="157"?> Abb. 23: Die katholische Liturgie und Schlingensiefs Übermalung 3.4 Die Messe 157 <?page no="158"?> 82 Die Hieroskopie beschreibt ein kultisches Verfahren antiker und indigener Gesell‐ schaften zur Ermittlung der Zukunft anhand einer Schau der Eingeweide von Opfer‐ tieren. 83 Schlingensief: Regiebuch zu „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“, 16. 84 Ebd., 17. Schlingensiefs Identifikation mit der christlichen Erlösungsgestalt verschränkt die Imitatio Christi folglich mit dessen Kontrafaktur. So überschreibt schon die während des L ITU R GI S CHE N G R U S S E S sichtbare Projektion einer Monstranz die Gegenwart Jesu mit einer Reliquie von Schlingensiefs Körper. Der in die Monst‐ ranz eingefasste fotografische Abdruck des von Metastasen befallenen Innen‐ raums des Ichs liefert hier das Inbild technisch-prothetischer Hieroskopie. 82 So blickt Stefan Kolosko als Zelebrant der Messe hieroskopierend in die Zukunft, apostrophiert den „zukünftig Verstorbenen, der vieles leisten wollte, kaum, dass er wieder weg war“ 83 . Nur durch das Tempus der Rede wird zu diesem Zeitpunkt deutlich, dass es sich beim theatral gespiegelten Ritus keineswegs um ein Re‐ quiem handeln soll. Das Futurum Exactum etabliert darüberhinaus den zu‐ künftig Sterbenden als Gegenfigur zum bereits gestorbenen Jesus, zu dessen Gedenken eine Messfeier üblicherweise abgehalten wird. Auf die Begrüßung folgt eine Umschreibung des T AG E S G E B E T S , das in der katholischen Liturgie den Lobpreis Gottes sowie die Bitte, seine Herrlichkeit zu erfahren, zur Sprache bringt. Zur parallel sich ereignenden neuerlichen Projektion der kindlichen Fußwaschung (vgl. Abb. 24) verleiht Kolosko als Alter Ego Schlingensiefs nun seiner Abwendung vom Glauben Ausdruck. Die Verneinungsformel „Ich will nicht. Ich habe keine Lust mehr. Ich will kein Stellvertreter sein“ 84 , kulminiert in der Negation göttlicher Existenz, die als Autonomiedeklaration positiv be‐ wertet wird. Das von zwei Sängerinnen in psalmodischem Ton vorgetragene K Y R I E dann, nicht wie üblich dem T AG E S G E B E T voran-, sondern nachgestellt, leitet die erste L E S UNG der Messe ein. 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 158 <?page no="159"?> 85 Es handelt sich dabei entweder um eine Lesung aus dem Alten Testament, der Apostel‐ geschichte, den neutestamentarischen Briefen oder der Offenbarung des Johannes. Abb. 24: Projektion der Fußwaschung im „Liturgie-Teil“ Vom Ambo aus, dem Verkündigungsort der Heiligen Schrift, trägt Margit Cars‐ tensen eine in Schlingensiefs Krebstagebuch festgehaltene Kindheitserinnerung vor. Die Schriftlesung, die sich im katholischen Wortgottesdienst der Erinnerung an das vergangene und künftige Wirken Gottes widmet und mit einer Dank-Ak‐ klamation schließt, 85 dient in Eine Kirche der Angst keiner liturgischen, sondern einer autothematischen Anamnese, die Schlingensiefs kindliche Präsenz mit seinem gegenwärtigen Zustand kurzschließt. Der Regisseur erweist sich als profunder Kenner der metaliturgischen Konventionen der katholischen Lesung, indem er seine Kindheitserinnerung als gleichnishafte Erzählung strukturiert. Die L E S UNG vergegenwärtigt ein Kindheitsmoment, das zur allegorischen Vo‐ rausschau seines Krankheitszustandes stilisiert wird. Die Episode parallelisiert das Kind Schlingensief, das in eine Falkenfalle gegriffen hat, mit dem krebs‐ kranken erwachsenen Regisseur, der von seiner Diagnose erfährt und dabei gleichsam „in die Falle geht“. Mit dem anschließenden A NTWO R T P S ALM , der die schlechte Nachricht des Arztes ironisch kommentiert, schließt die Paraphrase der Lobpreisung des göttlichen Wirkens. Auf das H ALL E LU J A , den sogenannten R U F VO R DEM E VANG E LIUM , folgt die E VANG E LI ENL E S UNG . Als letzte der in der katholischen Liturgie verankerten Schriftlesungen bildet sie den Höhepunkt des Wortgottesdienstes, an dem das 3.4 Die Messe 159 <?page no="160"?> 86 Friedhelm Mennekes: „Im Gespräch mit Joseph Beuys“. In: Beuys zu Christus. Eine Po‐ sition im Gespräch. Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk 1984, 44. 87 Schlingensief: Regiebuch zu „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“, 19. Wort Christi aus einem der vier Evangelien des Neuen Testaments wiederge‐ geben wird. In Schlingensiefs Theatermesse bringt das Evangelium das Beuys‐ sche Emblem der Inszenierung variierend zur Sprache. Eingeleitet durch eine feierliche E VANG E LI E N P R OZ E S S ION deklamiert die Schauspielerin Maria Partecke das vom Regisseur so bezeichnete „5. Evangelium von Joseph Beuys“. Es handelt sich dabei um den Abschnitt eines Interviews mit dem Theologen Friedrich Mennecke, in dem Beuys über den Bezug zwischen dem Leiden Christi und dem Leiden in der Welt spricht: Es wäre eine große Frage, wer die Welt mehr bereichert: die Aktiven oder diejenigen, die leiden? Ich habe ja immer entschieden: die Leidenden. Der Aktive mag Unendliches für die Welt erreichen. Aber ein krankes Kind, das sein Leben lang im Bett liegt und gar nichts tun kann, das leidet und erfüllt durch sein Leiden die Welt mit christlicher Substanz […]. Übrig bleibt, wenn man das in eine Formel bringt, dass dem Menschen nur zwei Weisen seines schöpferisches Verhaltens gegeben sind, und das natürlich in allen Abschattierungen, in jeder Biografie in einer anderen Mischung: das eine ist das Tun, das andere ist das Erleiden. 86 Beuys’ Diktum vom Leiden als „christlicher Substanz“ findet ihren Widerhall in der Filmprojektion eines Reenactmens, das die E VANG E LI E NL E S UNG in einen ei‐ genwilligen künstlerischen Kontext stellt. Auf der mittig über der Bühne posi‐ tionierten Leinwand ist eine Aktion mit von Beuys als Materialisierung des Leids konnotiertem Fett zu sehen, die die Ästhetik des Fluxus durch eine rituelle Geste übermalt: Zu erkennen ist neben einem Akteur, der durch die Typisierungen von Hut und Anglerweste unverkennbar an Beuys anspielt, Schlingensief selbst, der die rituelle Weihehandlung am Material Fett anstatt mit einem Weihrauch‐ gefäß mit einer von der Decke herabhängenden Lampe vollzieht (vgl. Abb. 25). Angela Winklers P S ALM reagiert auf das Filmdokument aus dem automytho‐ graphischen Archiv, in dem Schlingensief einem künstlerisch belebten Ding durch zeichenhaftes Handeln Gnade verleiht. Ihre Evokation des menschlichen Körpers als „Brücke zur göttlichen Offenbarung und zur Annäherung an Gott“ 87 umspielt die Vorstellung einer begnadeten Materie und weist damit auf die Au‐ topräsenz Schlingensiefs als Priester voraus, mit der er die christliche Epiphanie ostentativ durch seine eigene ersetzen wird. 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 160 <?page no="161"?> 88 Ebd., 20 f. Vgl. Kultur Ruhr GmbH (Hrsg.): Christoph Schlingensief: Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir; Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! , 20. Abb. 25: Schlingensiefs filmischer Kommentar zu Beuys’ Arbeit mit Fettecken In der P R E DIGT , die am Höhepunkt des Wortgottesdienstes eine lebensweltlich relevante Exegese der Lesungsinhalte zu leisten hat, wird der vielfach artiku‐ lierte Autonomiegedanke Schlingensiefs schließlich mit dessen Auslegung des Kreuzestodes Jesu enggeführt. Parallel zur Projektion eines Films, in dem Men‐ schen mit Körperbehinderung die christliche Kreuzigung nachstellen - ein Film, den Schlingensief für sein im Jahr 2007 realisiertes Projekt Fremdverstümmelung gedreht hat -, spricht ein Schauspieler mit einer elektronisch verzerrten Stimme in das doppeldeutige Gefäß des lebensspendenden Abendmahlskelchs und hei‐ ligen Grals und bringt Schlingensiefs Lesart der „Sieben letzte Worte Jesu“ aus dem Krebstagebuch vor: Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Diesen Satz hat Jesus am Kreuz nicht gesagt, davon bin ich fest überzeugt. Das ist einfach Quatsch. Das ist nicht das Zeichen: Ja, ich bin auch so schwach wie ihr. Ich glaube, er ist einfach ganz still da oben ge‐ hangen, hat Aua gesagt und was weiß ich, aber er hat nie den Vorwurf gemacht, dass man ihn verlassen hat. Er hat einfach gesagt: Ich bin autonom. 88 Jesus, so die Interpretation, habe seinem Vater im Moment vor seinem Tod keinen Vorwurf gemacht, sondern sich erstmals im Zustand der Autonomie er‐ 3.4 Die Messe 161 <?page no="162"?> 89 Schlingensief: Regiebuch zu „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“, 21. 90 „Das, worauf man sich im Theater einigen kann […], das ist eigentlich die Todesangst, also die Angst vor der Verwandlung, die letzte Verwandlung ist der Tod […]. Das Spe‐ zifische von Theater ist nicht nur Präsenz des lebenden Schauspielers und des lebenden Zuschauers, sondern die Präsenz des sterbenden Schauspielers und des sterbenden Zu‐ schauers“. Heiner Müller, Ute Scharfenberg: „Theater ist Krise. Heiner Müller im Ge‐ spräch mit Ute Scharfenberg, 16. Oktober 1995“. In: Joachim Fiebach (Hrsg.): Manifeste europäischen Theaters. Grotowski bis Schleef. Berlin: Theater der Zeit 2003, 333. lebt, in dem er die Verantwortung für sein Handeln selbst zu tragen hatte. Auf das Kerygma, in dem Christus auf die eben beschriebene Weise zur Identifika‐ tionsfigur Schlingensiefs umgeformt wird, folgt eine Einspielung des „Pie Jesu“ aus Gabriel Faurés Requiem op. 48 (1887). Mit der Implementierung des „Pie Jesu“ - die Vertonung des letzten Halbverses des „Dies irae“ stellt eine Eigenart der französischen Liturgie der missa pro defunctis dar - lässt Schlingensief auf musikalischer Ebene ein Element des Requiems in seine theatrale Liturgie ein‐ dringen. Schroff konterkariert wird der Versuch einer positiven Umwertung des Kreuzestodes in eine Autonomieerklärung außer mit dem „Pie Jesu“ auch durch das sich anschließende G LAU B EN S B E K E NNTNI S . Margit Carstensen, die nunmehr auf einem Krankenbett inmitten der Apsis liegt, spricht dabei nicht aus dem Geist einer Befestigung des Glaubens heraus, sondern proklamiert die existen‐ tielle Leere: „Es ist alles ganz tot. Es ist alles ganz kalt. Es ist keiner mehr da.“ 89 Mit den F ÜR BITTE N , die gerade nicht, wie traditioneller Weise in der katholi‐ schen Liturgie vorgesehen, Bitten für Andere darstellen, sondern in denen die lesenden Schauspieler im Sinne der Parsifal-Kontrafaktur der zur Messe über‐ leitenden Verwandlung ihre eigenen Anliegen zu Gehör bringen, ist der Wort‐ gottesdienst beendet und die E U CHAR I S TI E F EI E R steht bevor. Nach einer Einspie‐ lung des Kyrie aus Bachs h-Moll-Messe ( BWV 232, 1749) formuliert Angela Winkler zunächst das kunstphilosophische Programm der Wandlung der Mess‐ feier. Unter einer auf allen drei Leinwänden über der Bühne simultan proji‐ zierten Klavierzertrümmerungsaktion, die das Fluxus-Motiv neuerlich aufgreift, trägt die Schauspielerin eine Paraphrase von Heiner Müllers Gedanken zur Ver‐ wandlung im Theater vor. Die theatrale Grundidee der Verwandlung fasst Müller bekanntlich als Nukleus für die letzte Verwandlung des Menschen im Tod. Die Metamorphose zeige daher nicht so sehr auf die Kopräsenz Lebendiger, sondern potentiell Sterblicher. 90 Die Ansprache Winklers übersetzt das theatrale Dispositiv im Rahmen des G AB E NG E B E T S wieder in den um Priester und Ge‐ meinde zentrierten liturgischen Diskurs zurück: Das Wesentliche ist die Verwandlung. Das Sterben. Und die Angst vor dieser letzten Verwandlung ist allgemein, auf die kann man sich verlassen, auf die kann man bauen. 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 162 <?page no="163"?> 91 Schlingensief: Regiebuch zu „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“, 23. 92 Ebd., 27. Und das ist auch die Angst des Priesters und die Angst der Gemeinde. Und das be‐ sondere ist eben nicht die Anwesenheit des lebenden Priesters und des lebenden Ge‐ meindemitgliedes, sondern die Anwesenheit des potentiell Sterblichen. 91 Der einzige Auftritt Schlingensiefs in Eine Kirche der Angst verleiht der in der theatralen wie liturgischen Wandlung stets anwesenden potentiellen Sterblich‐ keit Faktualität. An die Stelle einer Transsubstantiation tritt Schlingensief für sich selbst in Erscheinung und plädiert mit seinem persönlichen E IN S E TZUNG S B E‐ R ICHT als Teil des E U CHAR I S TI S CHE N H O CHG E B E T S für die Autonomie der Ge‐ meinde: „Nehmet und trinket euer eigenes Blut. Vor und nach der Diagnose. Lasst euch nichts vormachen. Bleibt autonom! Fluxus! “. Dem „So sei es“ des Amens steht mit dem emphatischen Ausruf „Fluxus! “ die Apostrophe an das Leben als Kunst gegenüber. Die lediglich angedeutete K OMMUNION , die in eine von Schlagzeugmusik begleitete tumultartige Szene übergeht, beschließt die Messe als liturgisches Metatheater. Schlingensief, der abtritt, beendet die Ver‐ suchsanordnung einer Umwertung der christlich-katholischen Werte zum Zweck seiner Lebensbeschwörung. Die letzten Bilder der Inszenierung lassen den in der P R E DIGT durch Ausle‐ gung der Worte Jesu rhetorisch vorbereiteten und schließlich von Schlingensief im E IN S E TZUNG S B E R ICHT artikulierten Appell zur Selbstsorge („trinkt euer ei‐ genes Blut“) allerdings überraschend ins Leere laufen. Das Motiv der Autonomie wird vom Topos der vollkommenen Orientierungslosigkeit im Zustand des Zweifels abgelöst. „Alles ist Nichtigkeit“ (vgl. Koh 1-3), lauten die Worte Margit Carstensens aus dem Buch Kohelet als einem der letzten Intertexte der Insze‐ nierung (vgl. dazu Abb. 26). Ein Nachbild der Inszenierung schließt sich an: Angela Winkler sitzt auf einem Krankenbett und bringt eine Tagebuchaufzeich‐ nung Schlingensiefs über eine Begebenheit während seines Krankenhausauf‐ enthaltes vor. Ihr Bericht entspricht zugleich einer Reprise des „5. Evangelium von Joseph Beuys“. Das Schreien eines Kindes im Zimmer nebenan regte derart Schlingensiefs Mitleid an, dass er seinen Tod gegen dessen Leben eintauschen wollte. Kaum hatte er sein Schicksal herausgefordert, so berichtet die selbst‐ schreibende Märtyrerlegende aus dem Tagebuch weiter, konnte er nicht umhin, sich im Gebet doch wieder an eine höhere Instanz zu wenden, die ihm das Leben schenken möge. Am Ende dieses von Winkler übermittelten privatmythologi‐ sierenden Erlebnisses steht die konkomitante Erkenntnis, dass die Selbstsorge das Mitleid dominiert: „Das Kind und ich, wir wollen beide nichts mehr, als einfach zu leben.“ 92 3.4 Die Messe 163 <?page no="164"?> Mit Bildern der Zerrissenheit zwischen Eigenliebe und Sozialität, zwischen Autonomiebestreben und der fundamentalen Bindung an das Prinzip Hoffnung endet der Epilog der Inszenierung. Eine Verschaltung aus dem autopräsenten Archiv wird von mehreren Reenactments überblendet. Die Bündelung der Ich-Zeiten und künstlerischen Kontexte steht wider alle Befestigung der Auto‐ nomie im Dienst eines Erbarmen-Rufs -, die verschaltete Lebensgeschichte wird am Ende zur captatio benevolentiae. Vor der neuerlichen Einspielung des „Kyrie“ aus der h-Moll-Messe kulminieren das auf Tonband festgehaltene noli me tangere Schlingensiefs, die Projektion einer filmischen Appropriation von Rudolf Schwarzkoglers 6. Aktion als künstlerische Verschlüsselung des Berührungs‐ verbots (vgl. Abb. 27 und Abb. 28), die filmische Projektion eines Reenactments von Günter Brus’ Zerreißprobe und die neuerliche Projektion des auf Super-8-Film gebannten, im Spiel tödlich verwundeten Kindes Schlingensief. Die beiden durch einen szenischen Verwandlungsvorgang vermittelten Teile der Inszenierung Eine Kirche der Angst zeigen also einerseits eine mythologische Reflexion der Prozesse des Beginnens und Endens und andererseits den Akt einer rituellen Befestigung des Ichs im Angesicht des Todes. Das „Protokoll einer Selbstbefragung“ führt Dokumente aus der persönlichen Entwicklungsge‐ schichte mit unterschiedlichen Mythemen des Beginnens und Endens eng. In das dichte Geflecht des assoziativen Bildmaterials, das maßgeblich von Über‐ blendungen durch künstlerische Fremdbilder aus dem Umfeld der Fluxus-, und Aktionskunst sowie appropriativen Aneignungen derselben strukturiert wird, webt Schlingensief in Form von autopräsenten Dokumenten und autofiktio‐ nalen Abspaltungen seine Krankengeschichte, seine Ängste, seine Erinne‐ rungen an seine gewesenen privaten und künstlerischen Ichs. Der Regisseur legt die Spur zu einem auf sein Selbst zentriertes kunstreligiöses Verständnis der Messfeier mithilfe eines Verwandlungsvorgangs, in dem Mehrfachbelichtungen durch die Musik des Tristan und Parsifal sowie Schlingensiefs eigene filmische Fassung der Gralsenthüllung das dramaturgische Drehmoment bilden. Ist die Autonomiedeklaration im Rahmen der Verwandlungsszene noch durch die In‐ teraktion der Figuren verschlüsselt, so wird sie am Höhepunkt des Messteils als Gegengift zur assertorischen Gewissheit des Sterbenmüssens dogmatisch exemplifiziert. 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 164 <?page no="165"?> Abb. 26: Zentrale Intertexte in Eine Kirche der Angst In seiner Multimedia-Kunstmesse formt Schlingensief die Einsetzungsworte zu einem Manifest der Autonomie und des Lebenswillens um. Seine künstlerische 3.4 Die Messe 165 <?page no="166"?> 93 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt am Main: Fischer 1993, 19. Überblendung des Stellvertreters Jesus Christus, der das Leid des Menschen auf sich nehme, erhält mithin die Funktion eines kritischen Bibel-Kommentars. Letzterer übernimmt mit Michel Foucault die Aufgabe, „das schließlich zu sagen, was dort schon verschwiegen artikuliert war“ 93 . In diesem Sinne legt Schlingen‐ sief durch seine kritische Auseinandersetzung mit der christlichen Erlösungs‐ religion innerhalb eines bestehenden Diskurses einen unorthodoxen, in sich widersprüchlichen Zugang zur Soteriologie frei: Aus dem Geist einer gottver‐ lassenen Autobiotheatralität definiert er die im Kreuzestod symbolisierte Erlö‐ sung probeweise als Unabhängigkeitserklärung des potentiell Sterbenden von höheren Mächten, um das Ich allerdings am Ende in einer abrupten Wendung doch wieder an die göttliche Barmherzigkeit zurückzubinden. Abb. 27: Rudolf Schwarzkogler, 6. Aktion, 1966 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 166 <?page no="167"?> 94 Brock: „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“, 24. 95 Vgl. dazu Lyotard: Das postmoderne Wissen. 96 Ernst Tugendhat: Über den Tod. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, 53. Abb. 28: Reenactment von Schwarzkoglers 6. Aktion 3.5 Sich nach außen stemmen - Das narzisstische Begehren des Ichs Hinter der, die Komplexe „Kunst“ und „Religion“ verschränkenden, Regiearbeit steht offensichtlich der auktoriale Wunsch, die mythische Erzählung des Ichs zur Sprache zu bringen. Mit der anachronistischen Architektur der Messe, die die Dokumente aus dem autopräsenten und automythographischen Archiv ver‐ schaltet, verkürzt der Regisseur die im katholischen Ritus verankerten religiösen Wahrheiten letztlich in egozentrierte Motivkomplexe. Die mit theatralen wie technisch-medialen Mitteln erwirkte Ich-Diffundierung, die sogar die Stilisie‐ rung als Doppelgänger Jesu Christi mit sich bringt, führt auf den totalitären Anspruch zurück, das Ganze „in die eigene Lebensrealität aufzunehmen (wie ein Heiliger das tut)“ 94 . Das totale Ich aus Eine Kirche der Angst, das die postmoderne Rede vom „Ende der großen Erzählungen“ 95 unterminiert, wird dabei gleichsam vom Tod her gedacht. Folgt man den Ausführungen des Philosophen Ernst Tu‐ gendhat, der im Überlebenstrieb die Bedingung individuellen Lebens überhaupt verortet, so basiert dieser als „Grenzmöglichkeit“ 96 verstandene Widerstand 3.5 Sich nach außen stemmen - Das narzisstische Begehren des Ichs 167 <?page no="168"?> 97 Ebd. 98 Ebd., 53. 99 Vgl. dazu etwa Platon: „Phaidon“. In: Ders.: Platon. Sämtliche Dialoge, Bd. 2, hg. von Otto Apelt. Hamburg: Meiner 1998, 38 ff. 100 Slavoj Žižek: „Ich höre Dich mit meinen Augen“. Anmerkungen zu Oper und Literatur. Paderborn: Fink 2010, 27. Vgl. dazu Michel Chion: La voix au cinéma. Paris: Édition de l’Étoile 1982, 29 ff. 101 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, 116. 102 Žižek: Die Tücke des Subjekts, 44. gegen den Tod auf dem lebensnotwendigen Irrtum, sich selbst als Zentrum des Universums zu sehen. Laut Tugendhat setze „jeder Weg hinauf, alle Kreativität, jeder Einsatz, aber wohl auch alles Obensein, alles Glück […] diese Selbstzen‐ triertheit voraus“ 97 . Wer sich selbst nicht über alles wichtig nehme, so der Phi‐ losoph, wäre gar nicht erst fähig, „sich nach außen zu stemmen“ 98 , und würde mit seiner aktiven Haltung zugleich auch die Möglichkeit des Existierens auf‐ geben. Von dieser Haltung eines bedingungslos exzentrischen Ichs zeugt die Inszenierung, die weder post festum auf Schlingensiefs vergangenes Leben zu‐ rückführt, noch einer von Platon im Dialog Phaidon übermittelten „Einübung in den Tod“ 99 zuarbeitet, sondern mit theatral-medialen Mitteln unbedingt gegen die destabilisierte Position des Ichs vorgeht. Schlingensiefs Dissemination seiner selbst in das tonlose Filmbild seiner Kindheit und die köperlose Stimme des Tonbands sowie die Transgression seiner „Stimme“ in die Körper von Darstellern parzellieren die Positionen seines Ichs. Der Vorgang des Abspaltens zeigt das Ich nicht in seiner Ganzheit, sondern als partikulare Einheiten. Dabei simulieren die dokumentarischen Filmbilder aus der Kindheit nicht lediglich das trügerische „Es-ist-so-gewesen“, sondern die wahnhafte Vervielfältigung des Subjekts: das Bild der glücklichen Kindheit wird, da ihm der Ton fehlt, zum dissoziierten Imago des Ichs und die körperlose Ton‐ bandstimme zur ubiquitären voix acousmatique, die nach Žižek „vom Sinn nicht eingeholt werden kann.“ 100 Der Lacanianer Žižek untermauert die subjektkonstituierende Funktion dieser Ich-Dissoziation. In seinen Augen unterschlägt das unbedingte Streben der kantianischen Philosophie nach der „Synthesis eines Mannigfaltigen“ 101 durch die Aktivität des Verstandes die „entgegengesetzte Kraft der Imagina‐ tion“ 102 , die erst von Hegel in den Blick genommen wurde. Kant geht in der Kritik der reinen Vernunft (1781) in der Tat noch davon aus, dass die Verbindung des Mannigfaltigen aus der Leistung des Denkens selbst evolviert und dieses Denken wiederum Durchschlag der transzendentalen Einheit der Apperzeption, des Selbstbewusstseins sei. In der berühmten Formulierung zu Beginn des Pa‐ 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 168 <?page no="169"?> 103 Kant: Kritik der reinen Vernunft, 136. 104 Georg W. F. Hegel: „Jenaer Systementwürfe III“. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 8, hg. von Rolf-Peter Horstmann. Hamburg: Meiner 1976, 186 f. 105 Georg W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Werke 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, 36. 106 Žižek: Die Tücke des Subjekts, 51. 107 Ebd., 46. ragraphen 16 fasst er das „Ich denke“ dementsprechend als irreduzible Voraus‐ setzung für den synthetischen Verstandesakt. „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können“ 103 , lautet die für die Subjektphilosophie lange Zeit prägende Überzeugung Kants. Demgegenüber liegt schon in Hegels sprach‐ lichem Bild von der „Nacht der Welt“ eine Metapher der Subjektwerdung als Ausgang des Subjekts aus dem Wahnsinn eingeschlossen. In den Manuskripten seiner Jenaer Realphilosophie (1905/ 1906) analysiert der deutsche Idealist die Struktur des reinen Seins und weist den Rückbezug des Geistes in diese „Nacht der Welt“ als präimaginäre Phase der reinen Anschauung aus. In der „Nacht der Aufbewahrung“ gebe es nichts außerhalb des Selbst: […] reines selbst -, in phantasmagorischen Vorstellungen ist es rings um Nacht, hier schießt dann ein Blutig Kopf, - dort eine andere weisse Gestalt plötzlich hervor, und verschwinden ebenso - Diese Nacht erblickt man, wenn man dem Menschen ins Auge blickt - in eine Nacht hinein, die furchtbar wird, - es hängt die Nacht der Welt hier einem entgegen. 104 Unter dieser Qualität der Vernunft, die den Geist nur zur Wahrheit kommen lässt, „indem er in der absoluten Zerissenheit sich selbst findet“ 105 , erscheint der Wahnsinn nicht mehr als Abweichung von der Normalität. Normalität, so Žižek, müsse sich das Subjekt vielmehr erst erarbeiten -, eine Aufgabe, die aber niemals ans Ziel führen kann, da der Wahnsinn für immer Teil der Subjektivität bleibt und alle Bemühungen, sich selbst transparent zu werden, zum Scheitern verur‐ teilt sind. An der Geburtsstätte des modernen Subjekts steht so gesehen nicht die Vernunft, sondern der Wahnsinn in seiner ungezügelten Form. Das Hegel‐ sche Subjekt ist nicht Ausdruck des Lichts der Vernunft, sondern „sein innerster Kern, die Geste, die den Raum für das Licht des lógos öffnet, ist absolute Nega‐ tivität“ 106 . Mit der wahnhaften Fassung des reinen Selbst hat Hegel die Kehrseite der synthetischen Einbildungskraft als „Herausreißung sinnlicher Elemente aus ihrem Kontext, [als] Zerstückelung der unmittelbaren Erfahrung eines orga‐ nisch Ganzen“ 107 beschrieben. Demnach liegt die radikale Selbsterfahrung des Subjekts in seiner fundamentalen Zerrissenheit. 3.5 Sich nach außen stemmen - Das narzisstische Begehren des Ichs 169 <?page no="170"?> 108 Vgl. Ebd., 44. 109 Žižek: „Ich höre Dich mit meinen Augen“, 9. 110 Vgl. Lacan: Das Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 86 ff. 111 Dominik Finkelde: Slavoj Žižek zwischen Lacan und Hegel. Politische Philosophie - Me‐ tapsychologie - Ethik. Wien: Turia & Kant 2009, 110. 112 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper 1983, 15. 113 Tugendhat: Über den Tod, 53. Žižek bringt diese Zerrissenheit - Hegels geisterhafte Erscheinungen, den blutigen Kopf, die weiße Gestalt - mit Lacans Partialobjekten in Verbindung. 108 Die für Freud zentralen Partialobjekte Brust, Phallus und Fäces erweiterte be‐ reits Lacan um Blick und Stimme. Blick und Stimme weisen aus der Sicht des Psychoanalytikers Lacan die Eigenschaft auf, kein Spiegelbild zu besitzen und als körperlose Organe nicht in die narzisstische Illusion des Subjekts als Ganz‐ heit einzugehen. Für das Subjekt fungieren diese Partialobjekte vielmehr als Objekte des Begehrens (als „Objekt klein a“), eines nie erlöschenden Begehrens danach, sich selbst als Objekt zu fassen. Die dem Selbst als blinde Flecke der Selbstbeobachtung entgegenstehenden Partialobjekte gleichen phantasmagori‐ schen Objekten, die „nicht auf der Seite des sehenden/ hörenden Subjekts, son‐ dern auf der Seite dessen, was das Subjekt sieht oder hört“ 109 , stehen. Mit den Partialobjekten Blick und Stimme fingiert das Selbst eine autoreferentielle Kom‐ munikation. Vor dieser Folie scheint die Ubiquität Schlingensiefs in Form von medialen Konserven in Eine Kirche der Angst auf mediatisierte Fassungen der Partialob‐ jekte Blick und Stimme zurückzugehen. Als phantasmagorisches Element seines Selbst trägt das dokumentarische Filmbild die Spuren des Ich-Verlustes in sich (der unwiederbringlich verlorenen Lebensgeschichte, der nicht einholbaren Kindheit). Sein Objektstatus ist dem Wunsch geschuldet, als Betrachteter im eigenen Bild „sich sich sehen zu sehen“ 110 ; aus dem appropriativen Filmmaterial begegnet Schlingensief sein Blick aus seiner künstlerischen Vergangenheit; die Tonspur, die Eine Kirche der Angst zur Otobiographie macht, sucht den Körper. Schlingensiefs Stimme schließlich, die durch die Darsteller hindurchtönt, steht ebenfalls offensichtlich für die Fantasie eines Dialoges mit sich selbst. Als „ver‐ lustige Fremdkörper“ 111 des narzisstischen Subjekts, das sich im Angesicht des Todes in die Dialogisierung des Ichs verflüchtigt und dabei vergisst, dass Leben unter anderen Menschen weilen, „inter homines esse“ 112 bedeutet, stehen das Filmbild, die Tonkonserve und die Stimme im fremden Körper für die Suche nach einer Restitution von Integrität. In der die gesamte Inszenierung prägenden fragmentierten Selbstzentriertheit zeigt sich mit Tugendhat das Bestreben des Subjekts, sich im Angesicht des Todes „nach außen zu stemmen“ 113 und zugleich 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 170 <?page no="171"?> 114 Lacan: Das Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 93. 115 Ebd., 94. die Vergeblichkeit eines exzentrischen Ich-Sagers, sich selbst als Ganzes zu fassen. Dem Geflecht aus Ich-Fragmenten liegt deshalb metaphorisch die Bewegung der „Umkehrung der Perspektive“ 114 des cartesischen, sich selbst greif- und be‐ herrschbaren Subjekts zugrunde. Die von Lacan zur Darstellung des Narzissmus herangezogene darstellungsästhetische Funktion der Anamorphose liefert ein Bild für Schlingensiefs integralen Zusammenschluss seiner Partial-Ichs in Eine Kirche der Angst. Diese perspektivische Praxis ist aufgrund ihrer doppelten Be‐ deutung als Umformung und Verdopplung (griech. ana, wieder; morphe, Gestalt, Form) geradezu prädestiniert, um Schlingensiefs verschaltete und mehrfachbe‐ lichtete Ich-Präsentation kunsthistorisch zu parallelisieren. Die der Anamor‐ phose zugrunde liegende umformende und verdoppelnde Bildpraxis treibt so‐ wohl mit dem Betrachter eines Gemäldes als auch mit dem Theaterbesucher von Eine Kirche der Angst ein geheimnisvolles Spiel, indem sie divergierende Per‐ spektiven verschränkt. Eine anamorphotische Rätselaufgabe gibt etwa die Be‐ trachtung von Hans Holbeins Die Gesandten (1533) auf. Das Gemälde zeigt die beiden titelgebenden Gesandten, die in prunkvollem Ornat an den beiden äu‐ ßeren Enden eines mit den Insignien der septem artes liberales bestückten Regals stehen. Im Bildvordergrund ist ein längliches diagonal positioniertes Objekt zu sehen, das nur aus distanzierter Blickposition als verzerrte Darstellung eines Totenschädels zu identifizieren ist (vgl. Abb. 29). Das Doppelporträt komponiert dem ansonsten frontalperspektivisch konstruierten Bild also mittig einen ver‐ zerrten Totenschädel ein und bringt dieses Vanitas-Symbol erst auf den zweiten Blick deutlich zur Erscheinung. Die Praxis der Anamorphose, „die sämtliche paranoische Doppeldeutigkeiten zur Entfaltung bringt“ 115 , erhellt die perspek‐ tivische Verschachtelung von Schlingensiefs Blick auf sich selbst. Seine ego‐ zentrische Zentralperspektive subsumiert eine Fülle an imaginären Gesichts‐ punkten, die die verzerrten Fluchtlinien seiner fragmentierten Ichs freigeben. 3.5 Sich nach außen stemmen - Das narzisstische Begehren des Ichs 171 <?page no="172"?> Abb. 29: Hans Holbein, Die Gesandten, 1533 3 Eine Kirche der Angst - Anrufung der Mytheme von Anfang und Ende 172 <?page no="173"?> 1 Vgl. Richard Wagners Ausführung zur Gattungsbezeichnung des Parsifal: „Ich habe das Werk Bühnenweihfestspiel genannt; es ist undenkbar auf unseren Theatern und ist sehr kühn; doch wenn [man] so leichtfertig mit unseren süßen Geheimnissen umgeht, sehe ich nicht ein, warum man sie nicht im höchsten Sinne verwerten sollte“. Cosima Wagner: Die Tagebücher [1878-1883], Bd. II. München u. a.: Piper 1977, 523. 2 Carl Hegemann in: Burgtheater GesmbH (Hrsg.): Christoph Schlingensief: Mea Culpa. Eine ReadyMadeOper. Programmheft zur Uraufführung am 20. März 2009 am Burgtheater, Wien. Wien 2009, 9. 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 4.1 Einführung Mit der ReadyMadeOper Mea Culpa, uraufgeführt am Wiener Burgtheater im Jahr 2009, bettete Schlingensief seine Selbstthematisierung neuerlich in einen religiösen Kontext ein. Der rituelle gemeinschaftsbildende Raum der Messfeier, in dem er als Priester an einer (post-)wagnerschen Kontrafaktur der katholi‐ schen Erlösungstheologie arbeitete, ist dabei einem Ort des innerlichen Beken‐ nens gewichen. Den religiösen wie autobiographischen Fluchtpunkt von Mea Culpa bildet die katholische Technik des Bekennens der eigenen Schuld. Ver‐ pflichtet sich Schlingensief in Eine Kirche der Angst durch die Verschränkung seines Lebens mit dem Eigenleben seiner Kunst einerseits dem Fluxus-Gedanken und andererseits - trotz der Verkürzung der geistlichen Handlung ins Ich - der erzählend-dramatischen Gattung des Oratoriums, so in Mea Culpa einer avant‐ gardistischen Ästhetik des Aufbruchs und einer weiteren traditionsreichen mu‐ sikdramatischen Gattung. Hierin am Gattungsneologismus des Parsifal orien‐ tiert, 1 erfindet Schlingensief nach dem Begriff „Fluxus-Oratorium“ für die dritte seiner thanatographischen Inszenierungen die Legierung aus „Readymade“ und „Oper“. In der Arbeit montiert er die bereits prononciert in den Inszenierungs‐ titel eingelassenen „Fundstücke“ aus seiner künstlerischen Vergangenheit zu einem Musiktheater, das im Unterschied zum Fluxus-Oratorium einen kontu‐ rierten diegetischen Rahmen inklusive Figurenpersonal vorweist. Die Oper als Kunstgattung wurde dem Regisseur spätestens seit seiner intensiven Beschäf‐ tigung mit dem Parsifal in Bayreuth zur Chiffre für die intermediale Verfugung unterschiedlicher medialer Zeichenträger und Themenfelder. So verklausuliert der Titel seine Vorgehensweise in der Inszenierung, „aus verschiedensten Ver‐ satzstücken [etwas] zusammen[zu]bauen“ 2 . <?page no="174"?> 3 Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! , 171. 4 Burgtheater GesmbH (Hrsg.): Christoph Schlingensief: Mea Culpa, 9. Schlingensief stellt in Mea Culpa als einem Hypertext von Wagners Bühnen‐ weihfestspiel einen engen Konnex zwischen seiner Erkrankung und seiner Tä‐ tigkeit als Regisseur her. Mit seiner am 10. Februar 2008 auf Tonband einge‐ sprochenen Tagebuchaufzeichnung brachte er erstmals die Überzeugung zum Ausdruck, dass seine Beschäftigung mit dem Parsifal die Entstehung seines Tu‐ mors bedingt habe: Heute habe ich vor allen Dingen darüber nachgedacht, was bei mir der Anlass war, warum ich Krebs bekommen habe. So etwas zu überlegen, einen Grund zu suchen, ist natürlich auch schwierig, aber ich bin inzwischen der festen Überzeugung, dass ich genau in der Bayreuth-Zeit eine Grenze in meinem Leben überschritten habe. Ich habe in meiner Fantasie ja schon immer ein bisschen mit der Todessehnsucht gespielt. Das ist auch okay, wenn man es spielerisch transformiert. Aber beim „Parsifal“ war es eben kein Spiel mehr. Ich glaube, da ist Folgendes passiert: Ich wollte die Inszenierung so gut machen, dass ich mich von dieser Musik genau auf den Trip habe schicken lassen, den Wagner haben will. Er selbst war vielleicht abgebrüht genug und hat das abre‐ agieren können. Aber ich glaube inzwischen, dass es sich tatsächlich um Todesmusik handelt, um gefährliche Musik, die nicht das Leben, sondern das Sterben feiert. Das ist Giftzeugs, was der Wagner da verspritzt hat. Das ist Teufelsmusik, die einen wirk‐ lich zerreißt, dann noch das Zeug mit dem Karfreitagszauber, der ja wirklich zur völ‐ ligen Auflösung auffordert. 3 Im Rückblick betrachtete Schlingensief den Parsifal als „Todesmusik“, die zu‐ gleich mit der Erlösungsbedürftigkeit der Protagonisten „nicht das Leben, son‐ dern das Sterben“ reflektiere. Er exemplifizierte mit dieser persönlichen My‐ thologie rund um den „Krankheitsstifter“ Bayreuth nicht zuletzt die Diagnose Paul de Mans, wonach die narrative Konstruktion das Leben in der Rückschau recht eigentlich hervorbringe, da sie dessen Zusammenhänge erst nachträglich stifte. Da die Genese seiner Krankheit aus dieser Perspektive von seinem künst‐ lerischen Schaffen als Regisseur nicht zu trennen war, setzte er sich in Mea Culpa auf der Grundlage des katholischen Schuldbekenntnisses intensiv mit seiner im Jahr 2004 realisierten Bayreuther Inszenierung auseinander. Wagners Werk und Schlingensiefs Parsifal-Inszenierung wurden dabei zum Verhandlungsort für ei‐ gene Zwiespälte umgewidmet. In der Art von objet trouvés sammelt der Regis‐ seur in Mea Culpa die autothematisch aufgeladenen ideellen Bausteine des Par‐ sifal. Im Akt einer ostentativen Abgrenzung zeigt er dabei, „was früher für [ihn] wichtig war und was [ihm] jetzt gar nichts mehr bedeutet“ 4 . 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 174 <?page no="175"?> 5 Dass es sich bei der ReadyMadeOper um den künstlerischen Akt des Zeigens anstelle des Formens und Umformens handle, dachten im Anschluss an Schlingensief etwa Boris Groys und Carl Hegemann: „Er tritt insofern als einziger Autor auf und instrumenta‐ lisiert oder integriert Wagner beziehungsweise seine Musik als Ready-made. Wir haben aber in unserer Kultur einen anderen Begriff der Autorschaft, der besagt, dass allein die Benutzung von Werken oder Gegenständen schon von selbst etwas aussagt, ohne dass sie manipuliert werden müssten. Denn die bloße Benutzung bereits vorhandener Ele‐ mente, also Dinge einfach als Ready-made zu zeigen, ist genauso ein kreativer Akt, wie jede andere Art des Zeigens auch. Insofern ändert sich grundsätzlich nichts, wenn ich die Ready-mades als Teil eines eigenen Projektes zeige oder auf der Nullebene, in der nur die Musik gezeigt beziehungsweise gespielt wird, ohne jede eigene Zutat. Denn auch die Musik als solche zu zeigen, ist schon ein auktorialer Akt“. Boris Groys, Carl Hegemann: „Der erweiterte ‚Wir‘-Begriff. Ein Gespräch von Carl Hegemann und Boris Groys am Tag nach der Bayreuther ‚Parsifal‘-Premiere 2004.“. In: „Parsifal 2005“ Ver‐ lagsbeilage des Nordbayerischen Kuriers in Zusammenarbeit mit Christoph Schlingensief und Carl Hegemann, 29. Juli 2005. 6 Wagner: „Parsifal“, 375. 7 „Und ich - ich bin’s, / der all dies Elend schuf! / Ha! Welcher Sünden, / welcher Frevel Schuld / muß dieses Toren-Haupt / seit Ewigkeit belasten, / da keine Buße, keine Sühne / der Blindheit mich entwindet, / mir, selbst zur Rettung auserkoren, / in Irrnis wild verloren/ der Rettung letzter Pfad verschwindet! “ Ebd., 369. Der Zusammenstellung von Readymades, die fälschlicherweise suggeriert, Schlingensief habe die Objekte im Zuge seiner Gewissensforschung lediglich vorgefunden und nicht autothematisch auf seinen momentanen Krankheitszu‐ stand perspektiviert, 5 ist deutlicher noch als der Messe in Eine Kirche der Angst die Struktur der petitio principii unterlegt. Die Teleologie der Inszenierung zeichnet den Erlösungsweg des Amfortas bis hin zu der von Parsifal artikulierten Erkenntnis nach, dass „[n]ur eine Waffe taugt“ 6 . Ausgehend von der Thematik des Parsifal parallelisiert Schlingensief seine Person mit den Figuren der Kundry, des Amfortas und des Parsifal. In Anlehnung an die welthellsichtige Klage Par‐ sifals, „[I]ch bin’s, der all dies Elend schuf “ 7 , stilisiert er sich selbst zum Schul‐ digen, dem allerdings nicht die Wunde der Welt, sondern die eigene im Herzen brennt, und deutet auf der Grundlage dieser Selbsterkenntnis seine Opferrolle in die eines produktiv Tätigen um, der die Vergangenheitsbewältigung wie den Blick in die Zukunft einzig und allein im künstlerischen Akt vollziehen kann. An der ästhetisch-formalen Anlage der ReadyMadeOper lässt sich neuerlich ein disparates Mischungsverhältnis aus subjektiver Begrenzung einerseits und fiktional-figurativer sowie mythographischer Entgrenzung andererseits ab‐ lesen. Der egozentrierten Haltung, die bis zur Bündelung der Schuld im eigenen Ich reicht, steht die anamorphotische Anlage der Inszenierung entgegen: auf einer animatographischen Drehbühne, die durch wechselnde filmische Über‐ blendungen bespielt wird, zeigen das autopräsente und -fiktionale Ich verschie‐ 4.1 Einführung 175 <?page no="176"?> 8 Vgl. dazu exemplarisch Gordian Beck: „In der Bilderflut ertrunken“. In: Nordbayerischer Kurier, 27. Juli 2004; Reinhold Brembeck: „Erlösung suchen hier alle“. In: Süddeutsche Zeitung, 27. Juli 2004; Manuel Brug: „Mit der Demut eines Lehrlings“. In: Die Welt, 4. August 2007; Eleonore Büning: „Vom Gral zum Kral in hundertzwanzig Umdre‐ hungen“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Juli 2004; Peter Huth: „Blut-und-Busen-Parsifal schockt Bayreuth“. In: Bild Zeitung, 24. Juli 2004; Julia Spinol: „Wahnsinn ist, dass Wagner nicht zu ändern ist“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. August 2006; Götz Thieme: „Hasifal in Afrika: Der Multiaktionist Christoph Schlin‐ gensief inszeniert Wagners ‚Parsifal‘ in Bayreuth“. In: Stuttgarter Zeitung, 27. Juli 2004. dene Zugänge zu ihrem Leben und ihrem Tod auf, sodass der Zuschauer, der der Drehung der Bühne folgt, ein multiperspektivisches Panoptikum der Innenan‐ sichten betrachtet. Das aus Eine Kirche der Angst bekannte Verfahren der Auf‐ splittung des Ichs in unterschiedliche, miteinander in Widerstreit geratende Bühnenfiguren führt nun im Zuge des umfassenden Rekurses auf die Diegese von Wagners synkretistischem Erlösungswerk vermehrt zu automythographi‐ schen Abspaltungen. Schlingensiefs automythographische Selbstdarstellung er‐ folgt durch die Masken von Wagners Charakteren, und diese Masken inkorpo‐ rieren ihrerseits zahlreiche Intertexte von Johann Wolfgang von Goethe über Elfriede Jelinek bis hin zu Derek Jarman (vgl. Abb. 30). Die szenische Re-Lektüre seiner kontrovers diskutierten Bayreuther Insze‐ nierung 8 in Form einer Parsifal-Probe verortet Schlingensief in einer ayurvedi‐ schen Heilanstalt, dessen Insassen zu selbsttherapeutischen Zwecken Wagners Bühnenwerk einstudieren. Über das Dispositiv der Probe, das Mea Culpa im Hinblick auf seine Autothematik äußerst symbolträchtig als work in transit aus‐ weist, dekonstruiert Schlingensief das dem Parsifal zugrunde liegende und ver‐ meintlich seinen Krebs bedingende Mythem der Erlösung. Die Rahmenakte der Inszenierung verknüpfen den „Blick aus dem Jenseits ins Hier“ (erster Akt) mit dem „Blick von hier ins Jenseits“ (dritter Akt), der zu einer entschiedenen Ster‐ beverweigerung und Bekräftigung des Lebenswillens führt. Zwischen erstem und drittem Akt vermittelt ein dionysischer Zustand „Jenseits der Grenze“ (zweiter Akt). Im fiktionalen Spiel setzt sich Schlingensief dabei künstlerisch-ex‐ perimentell über die Erfahrungslosigkeit des eigenen Todes hinweg und sich selbst als Betrachter seines eigenen Todes szenisch ins Bild. Das Futurum Exactum der Drehbühne, das die Sphären von Dies- und Jenseits ineinander übergehen lässt, dient ihm als Mittel, um schließlich geläutert aus dem Jenseits zurückzukehren. Das Sterben wird dabei, wie es die Formulierung des Produk‐ tionsdramaturgen Carl Hegemann nahelegt, als Kunstvorgang exemplifiziert: 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 176 <?page no="177"?> 9 Hegemann: „STERBEN LERNEN? Christoph Schlingensiefs Beschäftigung mit dem Tod“, 338. Ästhetisch betrachtet, ist der Tod das Höchste, aber für den zerbrechlichen Menschen in der Wirklichkeit ist er einfach nicht zu akzeptieren. ‚Ich will noch nicht’ ist die Quintessenz des Abends. 9 4.1 Einführung 177 <?page no="178"?> Abb. 30: Zentrale Intertexte in Mea Culpa 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 178 <?page no="179"?> 10 Richard Wagner: „Das Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth. Nebst einem Bericht über die Grundsteinlegung desselben“. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen, von Ri‐ chard Wagner, Bd. 9. Leipzig: Breitkopf und Härtel 1911, 337. 11 Ebd., 327. 12 Ebd., 338. 13 Die Rede vom afrikanischen Heilkraut ist selbstverständlich ein Verweis auf die Opern‐ dorf-Vision. Vgl. dazu die Worte Kundrys in Wagners Parsifal: „Hilft der Balsam nicht, Arabien birgt nichts mehr dann zu seinem Heil.“ Wagner: „Parsifal“, 326 f. 4.2 Die autofiktionale Fabel von Mea Culpa Der erste Akt der autofiktionalen Projektionsfläche Mea Culpa eröffnet sogleich den Blick über die Grenze. Über den „mystischen Abgrund“ 10 hinweg, den Wagner in Bayreuth installierte, um den Effekt einer „erhabene[n] Täu‐ schung“ 11 zu evozieren, führt auch Schlingensief sein Publikum in die verstö‐ rende Traumwelt der Inszenierung ein. Unter der musikalischen Leitung von Arno Waschk erklingen aus dem verdeckten Orchestergraben des Wiener Burg‐ theaters die Anfangstakte des ersten Aufzugs des Parsifal, ehe sich der Vorhang öffnet und den Blick auf die Szene ermöglicht. Allein, in den „Zustand des Hell‐ sehens“ 12 , den Wagners unsichtbares Orchester erwirken sollte, gelangen die Zuschauer und Zuhörer im sprichwörtlichen Sinne nicht: Die szenisch-musi‐ kalische Präsentation von Gurnemanz’ Weckruf wird von mehrfach gesplitteten Film-Projektionen eines Insekts in monströser Größe überblendet. In der größten Ayurvedaklinik Mitteldeutschlands in Bad Schandau probt man den ersten Aufzug des Parsifal. Die von Patienten und Pflegepersonal der Klinik unter der Leitung von Regisseur Hermann (Hermann Scheidleder) einzustudie‐ rende Inszenierung ist Teil des therapeutischen Programms. Wie Amfortas in Wagners Bühnenwerk, so sollen die Kranken dabei nach einer Linderung ihrer Schmerzen streben. Durch die Beschäftigung mit dem Parsifal werden die Pati‐ enten der Komplexität des Heilungsprozesses schrittweise gewahr. Die Grals‐ ritter um Gurnemanz wissen sich keinen Rat, vertrauen auf Kundry, deren afri‐ kanisches Heilkraut jedoch wirkungslos bleibt. 13 Vom aussichtslosen therapeutischen Kunstexperiment desillusioniert, brechen die Patienten die Probe ab und versammeln sich im Speisesaal der Klinik. Dort begrüßt die von Margit Carstensen verkörperte langjährige Leiterin des Ayurverdazentrums, Angelika Freifrau von Weinzierl, gemeinsam mit ihrer Freundin Ann Kathrin Shiva Kosma Irma Sherman (Irm Hermann) alle neuen Patienten und verweist auf die langjährigen Erfolge der Heilstätte. Das afrikanische Ayurveda-Prinzip zeitige fantastische Behandlungserfolge, sodass das Sterben bald vollumfänglich abgeschafft werden könne. 4.2 Die autofiktionale Fabel von Mea Culpa 179 <?page no="180"?> Abb. 31: Christoph und seine Verlobte bei der Beichte Unter den Patienten befinden sich auch der von Joachim Meyerhoff dargestellte Christoph Schlingensief und dessen von Fritzi Haberlandt verkörperte Verlobte. Das Paar legt all seine Hoffnungen in die unorthodoxe Behandlungsmethode der „Quadrophonie der Heilung“. Die Methode basiert 1. auf den Giften der Me‐ dizin, nach dem Prinzip „Fremdes vernichtet Fremdes“; 2. auf der Mistel und dem homöopathischen Lehrsatz Wagners und Beuys’, „Ähnliches wird durch Ähnliches bekämpft“; 3. auf der Arbeit mit Fett und Filz, da jegliche Kreativität Heilkraft entfalte, und schließlich 4. auf der Religion. Gemeinsam mit seiner Verlobten durchläuft Christoph die verschiedenen Stadien des Heilungspro‐ zesses, die von Gesprächstherapien (Bekenntnissen und Beichten) bis hin zu Entspannungsübungen durch Musik reichen (vgl. dazu Abb. 31). Bald erkennt er, dass er sich gemäß der Mythologie des similia similibus curantur aus dem Parsifal mit sich selbst und seinem vergangenen Leben auseinandersetzen muss. Das Fremde, den Krebs, der sich ohne Einladung gewaltsam Zutritt zu seinem Inneren verschafft hat, kann er zugleich nur besiegen, indem er ihn als Figur externalisiert. Im Sinne der Überzeugung des herzkranken Philosophen 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 180 <?page no="181"?> 14 „Dies Ich = Ich ist […] die sich in sich selbst reflektierende Bewegung; denn indem diese Gleichheit als absolute Negativität der absolute Unterschied ist, so steht die Sichselbst‐ gleichheit des Ich diesem reinen Unterschiede gegenüber, der als der reine und zugleich dem sich wissenden Selbst gegenständliche, als die Zeit auszusprechen ist, so daß […] das Wesen als Einheit des Denkens und der Ausdehnung ausgesprochen wurde, es als Einheit des Denkens und der Zeit zu fassen wäre; aber der sich selbst überlassne Un‐ terschied, die ruhe- und haltlose Zeit fällt vielmehr in sich zusammen; sie ist die ge‐ genständliche Ruhe der Ausdehnung, diese aber ist die reine Gleichheit mit sich selbst, das Ich - Oder Ich ist nicht nur das Selbst, sondern es ist die Gleichheit des Selbsts mit sich; diese Gleichheit aber ist die vollkommne und unmittelbare Einheit mit sich selbst oder dies Subjekt ist ebensosehr die Substanz“ Hegel: Phänomenologie des Geistes, 572. 15 Nancy: Der Eindringling. Das fremde Herz, 43. 16 Ebd., 17. 17 Vgl. dazu die Worte Christophs: „Wenn der Mensch es nicht schafft, in den Krebs hi‐ neinzukommen, wird der Krebs den Menschen besiegen. Wenn du es schaffst in den Krebs einzudringen, dann kannst du ihn von innen heraus zerstören. Du bist der Ein‐ dringling. Du musst in den Eindringling eindringen, um den Eindringling zu besiegen. Du musst zum Krebsgeschwür deines Krebses werden. Der Krebs muss Krebs be‐ kommen.“ Christoph Schlingensief: Regiebuch zu „Mea Culpa. Eine Ready-Made-Oper“. Stand: Premiere am 20. 03. 2009 [unveröff.]. 2008, 26. 18 Elfriede Jelinek: „Tod-krank.Doc“. http: / / www.elfriedejelinek.com/ ftodkrank.htm (Zu‐ griff am 15. April 2017). Jean-Luc Nancy, der das Hegelsche „Ich=Ich“ 14 im Zustand der Krankheit sich verflüchtigen sieht, da das „Ich leide“ zwei Ichs beinhalte, „die beide einander fremd sind - und die sich dennoch berühren“ 15 , wird der ungebetene Gast an‐ thropomorphisiert. Christoph möchte sogar selbst zum Eindringling seines fremden Gastes werden. Nicht mehr in sich selbst ruhend, sondern bereits „von außerhalb, von einem anderen Ort“ 16 auf sich selbst blickend, tauscht er die Positionen des Innen und Außen also kurzerhand um. Das Krebsgeschwür wird Christoph zu einer Skulptur, in die er hineinschlüpfen will, um sie von innen heraus zu zerstören und in weiterer Folge selbst zum „Krebsgeschwür [s]eines Krebses“ 17 zu werden (vgl. Abb. 32). Die objekthafte Externalisierung des Krebses als Partialobjekt reflektiert unter anderem den für die Inszenierung verfassten Text Jelineks mit dem Titel Tod-krank.Doc (2009). Dieser handelt von der Frage, ob der Wirt des Parasiten nicht auch sich selbst töte, wenn er seinen Gast zu entfernen versuche. Christoph trägt eine Passage daraus vor: Soll ich etwa die Krankheit in mir ermorden? Nein. Sonst muß ich vielleicht mit ihr mitgehen! […]. Ich muß mit der Krankheit ohnedies mitgehen, ich kann sie nicht kränken, ich kann sie nicht wegstoßen, sie hängt so an mir. Ich kann sie nicht ent‐ täuschen, na, komm halt mit, Krankheit! Sonst müßte ich töten mein Teuerstes: mich. 18 4.2 Die autofiktionale Fabel von Mea Culpa 181 <?page no="182"?> Der Gedanke einer todbringenden Unsterblichkeit, den die Inszenierung Sterben Lernen! unter dem Emblem „Unsterblichkeit kann töten“ näher beleuchtet, wird in Mea Culpa also zunächst ex negativo aufgerufen, indem sich der Krebs als nicht abtötbares Teil-Ich erweist. Das auf ganzheitliche Entspannung hin angelegte Therapiezentrum, das den Tod eliminieren soll, wird Christoph indes zur Folterkammer. Das Sterbeverbot macht die Kehrseite des Lebens für ihn nur umso begehrenswerter. Nicht nur Christoph, sondern auch der Chor der Patienten begreift, dass man sich trotz abgebrochener Probe nach wie vor inmitten des mythologischen Kosmos des Parsifal befindet. Wie die Burg der Gralsritter, so erscheint nun auch das Ayur‐ vedaheim als ein Ort, der zum Leben zwingt. Christoph findet schließlich zu seiner Rolle als Regisseur zurück und verkündet, den ersten Akt abschließend, die auf das diesseitige Leben abzielende Botschaft, Heil im selbstvergessenen Exzess zu suchen und verweist auf das von Schlingensief zu diesem Zeitpunkt bereits avisierte Operndorf-Projekt in Afrika. Die Patienten folgen seinem Aufruf, nach Afrika zu flüchten, um dort jene exzessive Freiheit wiederzuer‐ langen, derer sie durch ihr leidvolles Dasein als Leben-Müssende beraubt wurden. Abb. 32: Der Krebs als begehbare Skulptur 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 182 <?page no="183"?> 19 Michel Foucault verwendet den Begriff der Heterotopie zur Beschreibung von Räumen, die gesellschaftliche Verhältnisse durch Negation oder Umkehrung reflektieren und somit die Problematisierung von gegebenen Normen ermöglichen. Diese „anderen Orte“ sind im Gegensatz zu Utopien allerdings „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze inner‐ halb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können“. Michel Foucault: „Andere Räume“. In: Karlheinz Barck (Hrsg.): Aisthesis: Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam 1991, 39. 20 „Das ist die Welt; / Sie steigt und fällt / Und rollt beständig; / Sie klingt wie Glas - / Wie bald bricht das! Ist hohl inwendig. / Hier glänzt sie sehr, / Und hier noch mehr: ‚Ich bin lebendig! ’ / Mein lieber Sohn, / Halt dich davon! / Du mußt sterben! / Sie ist von Ton, / Es gibt Scherben“ (Faust I, Hexenküche). Im zweiten Akt sind die Patienten des Ayurvedaheims nach Afrika aufge‐ brochen, werden, dort angelangt, allerdings wieder auf die motivische Welt des Parsifal zurückgeworfen. Der zweite Akt des Parsifal steht nunmehr auf dem Probenplan. Klingsors Zauberreich hat mit der Verlagerung seines Standortes nach Afrika nichts an seiner dämonisch-verführenden Atmosphäre eingebüßt. Als Ort der Entgrenzung und Sünde fungiert ein afrikanisches Bordell. Klingsors Verfügungsgewalt erstreckt sich über die als Playboy-Häschen verkleideten Blumenmädchen. Die Probe gestaltet sich als schwierig: Die Darsteller, allen voran Schlingensiefs automythographische Abspaltung Kundry, leiden an ihrem selbstzerstörerischen Wanken zwischen dem Wunsch nach Leben und der Hoff‐ nung auf Erlösung. Auch das diktatorische Regieteam rund um Klingsor vermag dagegen nichts auszurichten. So droht die von Christoph geforderte selbstver‐ gessene Lebensbejahung des Kollektivs im Geiste dionysischer Entgrenzung ins Gegenteil umzuschlagen. Die Darstellerin der Kundry erschießt sich und auch Christophs Verlobter bleibt lediglich der Selbstmord als Ausweg aus ihrer Ver‐ zweiflung. Eine neue Erkenntnis macht sich breit: auf die tödliche Krankheit Krebs wirke die Triebentladung verheerend. Die verschwiegenen Wahrheiten des afrikani‐ schen „Heterotopos“ 19 kommen zunehmend ans Tageslicht. Ann Kathrin Shiva Kosma Irma Sherman flüchtet sich in maßlosen Alkohol- und Tablettenkonsum. Freifrau von Weinzierl beschwört - nun als intertextueller Verweis auf die Messe in Eine Kirche der Angst - die im Buch Kohelet beschriebene umfassende Nich‐ tigkeit der Welt und Hermann stößt auf die Weisheit des Katers in Goethes Faust I . 20 Auf Christoph üben die traumatischen Erlebnisse inmitten der Ge‐ meinschaft eine kathartische Wirkung aus. Wie Parsifal vor dem Kuss der Kundry, so schreckt er vor sich selbst, der durch seine Wunde das Elend schuf, zurück. Er gesteht seine Schuld und bekennt sich zum Guten. 4.2 Die autofiktionale Fabel von Mea Culpa 183 <?page no="184"?> 21 Richard Wagner: „Tristan und Isolde“. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 7. Leipzig: Breitkopf und Härtel o. J., 81. 22 Alain Badiou: „Fünfte Vorlesung: Das Rätsel des Parsifal“. In: Ders.: Fünf Vorlesungen zum „Fall“ Wagner. Zürich: Diaphanes 2012, 137. Der dritte und letzte Akt inszeniert den Blick ins Jenseits. Doch zunächst steht die ersehnte Eröffnung des Opernhauses bevor. Den Weg dorthin leitet die Pro‐ jektion eines fahrenden Schiffes thematisch ein. Es handelt sich dabei um Film‐ material, das Schlingensief 2007 für seine Inszenierung des Fliegenden Holländer in Manaus gedreht hat und das unter dem Titel My Fitzgeraldo den imperialis‐ tischen Gestus der afrikanischen Opernutopie ironisch kommentiert. Christoph und seine Verlobte knien auf einer Kirchenbank. Er gesteht ihr seine Liebe und verspricht, endlich ein Anderer zu werden, das Sterben hinter sich zu lassen und sich fortan auf sein Festspielhaus zu konzentrieren. Die folgende feierliche Er‐ öffnung seines Opernhauses in Afrika erscheint ihm allerdings als unwirklich. In Goethes Apotheose des Augenblicks aus Faust II , die Christoph im Rahmen seiner Eröffnung vorträgt, dringen geisterhafte Stimmen längst Verstorbener, die ihm Widersprüchliches aus dem Jenseits berichten. Er trifft auf seinen ver‐ storbenen Vater, der ihn zu sich holen möchte, doch Christoph will am Leben bleiben. In den Abgrund des Todes möchte er nur aus sicherer Distanz, innerhalb der Kunst blicken. Auf einer kleinen Bühne versammeln sich die Figuren der Parsifal-Übermalung Mea Culpa, die ihn auf seinem Erkenntnisweg begleitet haben. Elfi, eine ältere Dame, singt ihm sein Lieblingslied, „Isoldes Verklärung“ vor. Christoph lässt sich von der Musik allerdings nicht dazu verführen, „in des Weltathems wehendem All“ 21 aufzugehen, und zieht den Vorhang hinter den mythologischen Gestalten zu. 4.3 Von der Drehbühne des Parsifal zum abgekühlten Animatographen 4.3.1 Die Bühne des Bayreuther Parsifal als Chiffre des nunc stans Den im Zuge der raumgreifenden Autofiktionalisierung in Mea Culpa mit per‐ sönlichen Mythemen übermalten Hypotext des Parsifal hat Schlingensief schon im Rahmen seiner Bayreuther Inszenierung als „unreine Kunstform“ 22 im Sinne Alain Badious aufgefasst und mit einer heterogenen Vielheit an Motivkom‐ plexen szenisch akzentuiert. So extrahierte er in Bayreuth aus Wagners Werk etwa das Doppelgänger-Motiv und versah jeden der Protagonisten mit Doubles, um den Figuren durch die Trennung von Körper und Stimme eine gespaltene 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 184 <?page no="185"?> 23 „[D]ieser Parsifal ist jetzt einer von Syberberg und ist auf Film. Ich habe Wagner dazu benutzt, wie Wagner die Texte des Mittelalters benutzt hat. Also eine Neuschöpfung.“ Hans Jürgen Syberberg: „Filmisches bei Richard Wagner“. In: Richard Wagner: Mittler zwischen Zeiten. Festvorträge und Diskussionen aus Anlaß des 100. Todestages, Schloß Thurnau 1983. Salzburg: Müller-Speiser 1990, 76. 24 Syberberg wollte Parsifals „Naivität und Narrenreinheit [mit] Christus-ähnlicher Klar‐ heit und Reinheit“ zusammenführen, Kundry als „Zerrissene von Ton und Bild, Maske und ihrer Musik“, Amfortas als „Kenner und leidende[n] Held[en]“ und Klingsor als „Sänger nahe der Oper, als Darsteller von Shakespeare-Trauer“ darstellen. Vgl. Hans-Jürgen Syberberg: Parsifal. Ein Filmessay. München: Wilhelm Heyne Verlag 1982, 242. 25 Syberberg: „Filmisches bei Richard Wagner“, 78. 26 Badiou: „Fünfte Vorlesung: Das Rätsel des Parsifal“, 138. Identität zu verleihen. Ein solcher Zugriff auf den Parsifal weist auf die Auto‐ fiktionalisierung seiner thanatographischen Inszenierungen voraus und zu‐ gleich auf das filmische Schaffen Hans-Jürgen Syberbergs zurück, der Wagners Musiktheaterwerk explizit zum Ausgangspunkt einer transmedialen Eigen‐ schöpfung machte. 23 Um das „Zerrissene von Ton und Bild“ 24 darzustellen, zeigt Syberberg in seiner filmischen Parsifal-Fassung (1982) gedoppelte Figuren. Der vom Regisseur gewünschte Effekt, „andere Bilder zu den bestehenden Tönen“ 25 zu komponieren, evolviert aus dem eminent filmischen Bauprinzip der Ablö‐ sung von Bild- und Tonebene. Mit seiner Konzeption der Bühne im Rahmen der Bayreuther Inszenierung übernahm Schlingensief das Schichtungsprinzip Syberbergs und löste das in Wagners Bühnenweihfestspiel enthaltene „seltsame Sammelsurium christlicher Elemente“ 26 darüber hinaus in eine die Kategorien von Raum und Zeit ver‐ schränkende Ästhetik auf. Mittels einer in der Bayreuther Festspielgeschichte erstmalig zum Einsatz gelangenden Drehbühne wurden unterschiedliche Räume und Sphären in einer für Schlingensiefs Ästhetik typischen Material‐ landschaft miteinander verknüpft: ein durch Stacheldraht abgezäunter Bretter‐ verschlag, Turm- und Schlossfassaden, eine Slumlandschaft aus Wellblech‐ hütten und Zelten, ein Hospiz, ein „Friedhof der Kunst“ mit Da Vincis Mona Lisa, Dürers Feldhasen, Warhols Suppendosen und Duchamps Urinoir. Die perma‐ nente Drehbewegung der Bühne ließ die einzelnen szenischen Orte fortwährend ineinander übergehen und arrangierte Wagners Zwei-Welten-Dichotomie zu einem hybriden räumlichen Hypertext um. Neben dieser räumlichen Disposi‐ tion sorgten die zahlreichen filmisch erwirkten Mehrfachbelichtungen für ein thematisches Fortspinnen der Fabel, das die christlich-buddhistische Ideenwelt mit weiteren künstlerischen und rituellen Kommentaren versah und in einen ausufernden Synkretismus münden ließ. So wurde etwa der szenische Vorgang der Gralsenthüllung im Verbund mit den überblendenden überbelichteten Film‐ 4.3 Von der Drehbühne des Parsifal zum abgekühlten Animatographen 185 <?page no="186"?> 27 Wagner: „Parsifal“, 375. 28 Kluge: „Die vollständige Fassung eines barocken Einfalls von Christoph Schlingensief “, 245. 29 Carl Hegemann: „‚Alles schreit.‘ Notizen zu Christoph Schlingensiefs Parsifal-Insze‐ nierung“. In: Parsifal 2004. Sonderbeilage des Nordbayerischen Kuriers zur Eröffnung der Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele in Zusammenarbeit mit Carl Hegemann und Chris‐ toph Schlingensief, 24. Juli 2004, 2. 30 Ebd. 31 Wagner: Die Tagebücher, Bd. II, 573. 32 Hegemann: „‚Alles schreit.‘ Notizen zu Christoph Schlingensiefs Parsifal-Inszenierung“, 2. bildern eines Voodoo-Rituals aus dem kryptochristlichen Kontext herausge‐ rissen und in ein universalistisches rituelles Dispositiv überführt. Die in Eine Kirche der Angst dann neuerlich gezeigte Projektion des im Zeitraffermodus verwesenden Hasen wiederum übersetzte die Formel „Erlösung dem Erlöser“ 27 in das bestürzende Bild von der „Weiterführung des Lebens in den Formen des Zerfalls“ 28 . Schlingensiefs szenische Interpretation des Parsifal verstand sich selbst als künstlerische Transkription der Todessehnsucht und des Lebenswillens eines jeden Einzelnen. Aus Wagners Bühnenwerk las der Regisseur das „Ritual nicht des erhabenen, sondern des schreienden Schmerzes“ 29 heraus. Das Vorhaben, „Schmerz und Tod nicht abstrakt zu überhöhen und im Ungefähren ver‐ schwinden […], sondern sie konkret werden zu lassen, persönlich und auf jeden einzelnen Zuschauer und Akteur bezogen“ 30 , glaubte er aus verständlichen Gründen unmittelbar von Wagner selbst entlehnt zu haben: „Alles schreit! “, soll bereits Wagner laut Cosimas Tagebuchnotiz vom 20. Juli 1880 in Bezug auf die Atmosphäre des Parsifal gesagt haben, „[e]s ist dasselbe im Venusberg wie im Tristan, hier verliert es sich in die Anmut, dort in den Tod - überall der Schrei, die Klage“ 31 . Dieser Eintrag Cosimas gab der Konzeption der Inszenierung als Sterbe-Erlebnis, in dessen Zentrum „Parsifal selbst, stellvertretend für uns alle“ 32 , den Weg zur Vollendung durchläuft, offensichtlich den entscheidenden Impuls. Auf der Folie der Erlösungssehnsucht des durch Mitleid wissenden reinen Toren sollte die individuelle Begegnung mit dem Tod jenseits jeder er‐ kenntnistheoretischen Prämisse ästhetisch erfahrbar werden. Schlingensief las den Parsifal dementsprechend als Nahtod-Erfahrung, die sowohl seine Idee vom Erinnern als Vergessen, wie auch die Nobilitierung chaotischer Strukturprinzi‐ pien einlöst: Der „Parsifal“ hat die Struktur einer Nahtod-Erfahrung. Vielleicht läuft das alles im Kopf eines einzigen Menschen ab. Das Gehirn entleert sich, alle Bilder, die es gespei‐ 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 186 <?page no="187"?> 33 Peter Laudenbach: „‚Ich bin die Musik‘. Christoph Schlingensief probt Richard Wagners ‚Parsifal‘ - ein Gespräch über singende Leichen und die Firma Bayreuth“. In: Tages‐ spiegel, 19. Juli 2004, 23. 34 Vgl. dazu die Ausführungen Hegemanns: „Die Inszenierung rekonstruiert, besser gesagt präkonstruiert, mit film-, kunst- und zeitgeschichtlichen Elementen, die den Regisseur bewegen und [ihm] nahe gehen, ganz naiv, wie ein ‚Film‘ aussehen könnte, der in un‐ serer Todesstunde abläuft. Jeder wird einen anderen Film sehen.“ Hegemann: „‚Alles schreit.‘ Notizen zu Christoph Schlingensiefs Parsifal-Inszenierung“, 2. 35 Vgl. Hegemanns Ausführungen zum Nahtod als Durchkreuzung der Zeitflut. Ebd. chert hat, flackern noch einmal auf, alles liegt offen vor einem, ohne dass man darin eine Ordnung erkennen muss. 33 Die Darstellung eines solchen Nahtoderlebnisraumes wurde mit der mehrfach‐ belichteten Drehbühne erreicht. Die Drehbühne simulierte einen momenthaft eintretenden Bewusstseinsstrom und vergegenständlichte das nunc fluens der Zeit auf diese Weise räumlich. Die um die Drehbühne zentrierte Inszenierung war somit dazu angetan, den „Film der letzten Stunde“ ästhetisch zu präkon‐ struieren. 34 Der Missing Link zwischen Wagners Parsifal und Schlingensiefs in die je ei‐ gene Sterbestunde konzentrierter Inszenierung lieferte der Erfahrungsbericht des ungarischen Schriftstellers Peter Nádás. 35 In seinem Buch Der eigene Tod (2002) versucht der Autor sein persönliches Nahtoderlebnis in Folge eines Herz‐ infarktes sprachlich zu fassen. Nádás beschreibt den Zustand zwischen dem Hier des Lebens und dem Dort des Todes darin als fundamentales Herausfallen aus jeglichem begrifflichen Denken. Gemäß dieser Prämisse erlebt der Mensch im Übergang zum Tod den totalen Augenblick, der das herkömmliche Zeitemp‐ finden außer Kraft setzt. Der gleichsam „auf Probe“ Sterbende findet sich in einer allumfassenden, die Dichotomien von Zeit und Raum, aber auch von Subjekt und Objekt unterminierenden Ich-Sphäre eingeschlossen. So gesehen scheinen sowohl Hegels „Nacht der Welt“ als auch der im Textbuch des Parsifal festge‐ haltene Umschlag der Zeit in den Raum im Moment des Todes innerlich auf‐ zublitzen. Der Sterbende, so Nádás, werde im Zustand der Selbst-Präsenz von seiner Vergangenheit regelrecht eingehüllt und noch einmal der unüberschau‐ baren Dichte seines Lebens ansichtig. Da sich die Erfahrung des Umschlossenseins des Ichs von seinem Leben jen‐ seits des chronologischen Rasters der Zeit ereigne und ebenso die syntaktische Struktur von Gedankenketten vollkommen aufgehoben sei, grenzt der ungari‐ sche Autor die Vergangenheitsschau im Nahtod von einem herkömmlichen Be‐ griff von Erinnerung dezidiert ab. Dieser in der Schwellenerfahrung des Sterbens kurzzeitig erfahrene Austritt aus der symbolischen Ordnung des Lebens brachte 4.3 Von der Drehbühne des Parsifal zum abgekühlten Animatographen 187 <?page no="188"?> 36 Peter Nádás: „Gebären rittlings über dem Grabe. Das minutiöse Protokoll eines Nahtod-Erlebnisses“. In: Parsifal 2004. Sonderbeilage des Nordbayerischen Kuriers zur Eröffnung der Bayreuther Richard-Wagner-Festspiele in Zusammenarbeit mit Carl Hege‐ mann und Christoph Schlingensief, 24. Juli 2004, 3. 37 „[U]n jour nous sommes nés, un jour nous mourrons, le même jour, le même instant, ca ne vous suffit pas? Elles accouchent à cheval sur une tombe, le jour brille un instant, puis c’est la nuit á nouveau.“ Samuel Beckett: En attendant Godot. Paris: Minuit 1952, 117. 38 Vgl. dazu die Aussage Nádás’: „Zu erleben, dass meinem Gehirn alle Inhalte zur Verfü‐ gung stehen und zwar gleichzeitig, das ist wirklich großartig. Der Tod war das schönste Erlebnis, das ich im Leben hatte.“ Thomas David, Peter Nádás „‚Der Tod war das schönste Erlebnis‘.“ In: Cicero Online, 19. Februar 2012. http: / / www.cicero.de/ salon/ der-tod-war-das-schoenste-erlebnis/ 48272 (Zugriff am 25. Februar 2015). 39 Ebd., 339. Nádás die Erkenntnis über die kausale Zusammenhangslosigkeit der eigenen Lebensgeschichte. Seine Einsicht erhält bei der Dechiffrierung der autobio‐ theatralen Praxis in Mea Culpa hohe Relevanz: Mein Sehen kannte keine zeitlichen und räumlichen Grenzen mehr. Die Einzelheiten meines Lebens standen nicht mit der Geschichte meines eigenen Lebens in Zusam‐ menhang. Eine solche Geschichte gibt es und gab es nämlich nicht. […]. Mir war, als würde ich plötzlich begreifen, was Rilke mit den stummen Engeln wollte, die uns über die Schulter schauen. Das rein sinnliche Erfassen hat mit seiner neutralen Anschauung immer schon von dort herübergesehen, wohin ich nun glücklich und verstummt zu‐ rückkehre. 36 Außer auf Rilkes Engel als Bildner der Ewigkeit greift Nádás zur Verdeutlichung des Allerfahrungsraums im Nahtod auch auf die Worte Pozzos aus Becketts Warten auf Godot (1949) zurück. Im Satz „Sie gebären rittlings über dem Grabe“ 37 liege, so Nádás, die fundamentalste Fassung von der Raumwerdung der Zeit eingeschlossen. Die mit Beckets poetischem Bild indizierte anachronisti‐ sche Verschränkung der Zeiten zum Raum, die Nádás in einem Interview als das schönste Erlebnis seines Lebens bezeichnete, da ihm „alle Inhalte zur Verfü‐ gung“ 38 standen, wiedersteht der Vorstellung eines kognitiven Durchschreitens des Gedächtnisraumes und basiert stattdessen auf der unwillkürlich entgegen‐ kommenden Erinnerung, die das Leben des Ichs ohne dessen Zutun augenblick‐ lich aktualisiert. Als kunstphilosophisches Programm liegt die von Nádás lite‐ rarisch ausgemalte momenthafte Gesamtschau Wagners Parsifal selbst schon zugrunde. Gurnemanz, der hellsichtige Begleiter Parsifals, verkündet es im ersten Aufzug des Bühnenweihfestspiels: Parsifal: Ich schreite kaum, - doch wähn’ ich mich schon weit. Gurnemanz: Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit. 39 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 188 <?page no="189"?> 40 Cosima Wagner: Die Tagebücher [1869-1877], Bd. I. München u. a.: Piper 1976, 1098. 41 Ebd. 42 Vgl. dazu William Kindermann: „Gral und Gegengral. Die Klangräume des ‚Par‐ sifal‘-Dramas“. In: Wagnerspectrum, 1 (2008), 41-67. 43 Wolfgang Rihm zit. nach: Eckart Kröplin: Richard Wagner. Musik aus Licht Synästhesien von der Romantik bis zur Moderne, Bd. 3, 2. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, 1938. Zwar handelt es sich bei diesen Worten Gurnemanz’ offensichtlich um einen performativen Sprechakt, der jene Verwandlung der Bühne bewirkt, durch die Parsifal und sein Begleiter in kürzester Zeit von der Waldlichtung in die Grals‐ burg gelangen. Dort jedoch walten, nachdem Wagner „seinen rhythmischen Kampf “ 40 im Zuge der Komposition der Verwandlungsmusik überstanden hat, wie Cosima in ihrem Tagebuch festhält, andere, der Zeit der Musik enthobene Gesetze, wo „die ‚dramatischen Flausen‘ […] nichts helfen.“ 41 Die musikalische Statuarik der C-Dur/ As-Dur-Sphäre in der Gralsburg ist als musikalische Alle‐ gorie der im Textbuch deklarierten Konzentration der Zeit in den Raum zu ver‐ stehen und erhellt die letzte Konsequenz von Wagners Musikphilosophie. Wäh‐ rend an anderen Stellen des Parsifal das synthetisierende Bewusstsein des Hörers der von leitmotivischen Beziehungen geprägten Musik eine räumliche Dimension zu verleihen mag, 42 so verklärt sich dieses musikalische Zeitgeflecht im Sinne der Topoi der Entwicklungs- und Zeitlosigkeit in der Gralsburg in der Tat zum Raum. Der Komponist Wolfgang Rihm lieferte ein treffendes Bild für Wagners kunstphilosophisches Credo, dem Schlingensiefs Ästhetisierung der Nahtoderfahrung verbunden bleibt: Wagners Formel biete Raum „für letztlich undarstellbares Unendlich. Alles, All, Allumfassendes, All-Lösendes“ 43 . Für die momenthafte Repräsentation des eigentlich nicht darstellbaren Le‐ bens des Ichs, die der Nahtod als rational nicht fassbarer Bewusstseinsstrom leistet, griff Schlingensief auf montagierende Techniken zurück, die die Dreh‐ bühne mit surrealistischen Effekten übermalten und die Arhythmizität und An‐ tirationalität eines instantan aufblitzenden und sich jäh wieder verflüchti‐ genden filmisch-szenischen Erfahrungsraums fingierten. Konstitutiv für die ästhetische Simulation des Nahtods war einmal mehr seine Technik des sze‐ nisch-filmischen Palimpsestierens. Die parataktisch strukturierten Filme, die die verschiedenen Räume auf der Drehbühne überblendeten, weisen den Parsifal im Sinne der Freudschen „Dauerspur des Gedächtnisses“ als archetypisches Netz‐ werk der Ideen aus, das allerdings im Geiste Derridas einem fortwährenden metamorphotischen Prozess des Aufschubs weicht. Während die filmisch-über‐ blendenden Sinnschichten das Vorbild des Todes simulierten, trat die Fabel des Parsifal bisweilen fast bis zur Unverfügbarkeit ihres Sinns in den Hintergrund. 4.3 Von der Drehbühne des Parsifal zum abgekühlten Animatographen 189 <?page no="190"?> 44 Jacques Rancière: Politik der Bilder. Berlin: Diaphanes 2005, 59. 45 Groys, Hegemann: „Der erweiterte ‚Wir‘-Begriff.“ 46 Ebd. 47 Schlingensief: Ich weiß, ich war’s, 152. Vgl. dazu die Formulierung von Elfriede Jelinek: „Ich sah und sehe Christoph ja als Bildenden Künstler, seine Theaterarbeit ist immer mehr in diese Richtung gegangen, in Richtung von etwas Prozessualem, das im Fortgang etwas entstehen läßt, das sich zwar immer auf dem Theater realisieren ließ, aber Theater nicht war, sondern etwas anderes.“ Elfriede Jelinek: „Schlingensief “. http: / / www.elfriedejelinek.com/ fschlings.htm (Zugriff am 15. April 2017). Die mit dem Drehen der Bühne permanent sich umcodierenden filmisch-szeni‐ schen Gemälde verhielten sich zum gesungenen Wort auf der Bühne in der Art eines Bild-Satzes nach Jacques Rancière. Die Wort-Bild-Relation von Schlingen‐ siefs Parsifal zeichnet sich wie schließlich jene in Mea Culpa durch ihre Funk‐ tionszusammengehörigkeit zwischen Chaos und wechselseitiger Repräsenta‐ tion aus, die in den Worten des französischen Philosophen das „Alles-hältaneinander-fest der Kunst von dem Alles-berührt-sich des explosiven Wahn‐ sinns […] trennt“ 44 . Mit Boris Groys siedelte sich der vom Strom der Bilder erfüllte Bühnenraum „strukturell gesehen, zwischen Szene und Installation, das heißt, zwischen einem begehbaren und einem nichtbegehbaren Raum“ 45 an: Man muss den Raum selbst besuchen und zwischen den dort angeordneten Gegen‐ ständen spazieren gehen, um all die Videos und Gegenstände genau betrachten zu können wie in einer Installation. Darum ist der szenische Raum einerseits eine Ein‐ ladung, weil man ohne in die Szene einzusteigen, sie auch nicht wahrnehmen kann und andererseits wird man durch die Konvention des materiellen Raumes gleichzeitig ausgeladen. Man ist also gleichzeitig ein- und ausgeladen, und es entsteht eine Mi‐ schung aus Versprechen und Frustration, die wir Verführung nennen. Denn die Ver‐ führung ist nichts anderes als eine Einladung, Räume zu besuchen, die sich dann als versperrt erweisen. 46 Groys’ Metapher der Verführung bezieht sich auf einen Bühnenraum, der sich in seiner sinngebenden Dichte - durch die Räume im Raum, die Fülle an Requi‐ siten und die fragmentarischen Einheiten der überblendenden Projektionen - dem Zuschauer aus der Distanz verschloss. Er hätte betretbar sein müssen, um als Erfahrungsraum tatsächlich wirksam zu werden. Schlingensiefs Par‐ sifal-Lektüre setzte schließlich in der Tat die Idee zu einem mehrteiligen Projekt in Gang, mit dem die Drehbühne als ästhetisierter Nahtoderfahrungsraum be‐ gehbar wurde. So arbeitete Schlingensief an einer Bühne als sozialer Skulptur, bei der sich „die Verwandlung ‚Zum Raum wird hier die Zeit‘ nicht mehr im geschlossenen Theaterraum vollziehen“ 47 sollte. Im Parsifal sah er in Anver‐ 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 190 <?page no="191"?> 48 Schlingensief: Ich weiß, ich war’s, 152. 49 Gerhard Ahrens: „Das Universum hat keinen Schatten. Christoph Schlingensief im Ge‐ spräch mit Gerhard Ahrens“. In: Stiftung Schloss Neuhardenberg (Hrsg.): Der Anima‐ tograph - Odins Parsipark. Neuhardenberg 2005, 6. 50 Vgl. dazu die Aussage Beuys’: „Es wird keine brauchbare Plastik mehr hienieden geben, wenn dieser SOZIALE ORGANISMUS ALS LEBEWESEN nicht da ist. Das ist die Idee des Gesamtkunstwerks in dem JEDER MENSCH EIN KÜNSTLER IST.“ Johannes Süttgen: „Das Kraftfeld des ‚Erweiterten‘ Kunstbegriffs von Joseph Beuys“. In: Muse‐ umsverein Mönchengladbach (Hrsg.): Sieben Vorträge zu Joseph Beuys 1986. Mönchen‐ gladbach 1986, 118. wandlung der maximalistischen Terminologie Richard Wagners nunmehr den „Vorabend“ 48 seiner die Grenzen von Theater, Film, Bildender Kunst, Skulptur, Installation und mythischer Erzählung überschreitenden Animatographen. 4.3.2 Die Animatographen Die „Ur-Animatographie“ 49 der Parsifal-Inszenierung, die das Theater als be‐ wegtes Gemälde mit den Mitteln des Films überschrieb, überführte Schlingensief im Anschluss an seine Bayreuther Regiearbeit in eine Installation, die tatsächlich betretbar war. Dieser noch für die Zeiten durchdringende, mehrfachbelichtete Drehbühne in Mea Culpa impulsgebende erste Animatograph sollte nicht nur das von Groys angesprochene Verführungsspiel von Zeigen und Verbergen me‐ dial verkörpern, sondern die Grenzen zwischen Bewusstem und Unbewusstem sowie letztlich jene zwischen Akteur und Rezipient aufheben. Im Jahr 2005 ließ Schlingensief seine künstlerischen Glaubenssätze - Über‐ reizung als Potential, Opposition der Perspektiven, Transformation als Mate‐ rial - erstmals in der Kunstform des Animatographen kulminieren. Das anima‐ tographische Großprojekt, das sich zwischen 2005 und 2007 im Wesentlichen in fünf sogenannten Editionen realisierte, synthetisiert das filmische Denken des Regisseurs mit Wagners erkenntnistheoretisch-ästhetischem Paradigma des Zeitraums. Außer Wagner sind diese installativen Arbeiten als soziale Plastiken dem erweiterten Kunstbegriff von Joseph Beuys verpflichtet. 50 Die Island-Edi‐ tion House of Obsession (Reykjavik, 2005), die Deutschland-Edition Odins Parsi‐ park (Neuhardenberg, 2005), die Afrika-Edition The African Twintowers (Lü‐ deritz, 2005), Area 7. Matthäusexpedition mit Christoph Schlingensief (Wien, 2006) sowie Kaprow City (Berlin, 2006/ 07) weisen trotz ihrer divergierenden ortsspezifischen Ausprägungen allesamt denselben konzeptuellen Rahmen auf (vgl. Abb. 33, Abb. 34). 4.3 Von der Drehbühne des Parsifal zum abgekühlten Animatographen 191 <?page no="192"?> 51 Ilja Kabakov: Über die „totale“ Installation. Ostfildern: Cantz 1995, 16. Abb. 33: Christoph Schlingensief, Area 7, 2006 Abb. 34: Christoph Schlingensief, Area 7, 2006 In seiner elementaren Grundform besteht der Animatograph aus einer Dreh‐ bühne, die, mit Bauteilen und zahlreichen Requisiten ausgestattet sowie durch Filmprojektionen belichtet, einen begehbaren Raum bietet, der die Atmosphäre einer gerade noch bespielten, nunmehr verlassenen Szene versprüht, „die der Zuschauer während der Pause inspiziert“ 51 . Dem Besucher der sich drehenden Apparatur von neun Metern Durchmesser bleibt die Möglichkeit versagt, sich 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 192 <?page no="193"?> 52 Jörg van der Horst: „Der Animatograph. Eine ‚Lebensmaschine‘ von Christoph Schlin‐ gensief “. In: Stiftung Schloss Neuhardenberg (Hrsg.); Der Animatograph - Odins Parsi‐ park. Neuhardenberg 2005, 3. 53 Dieter Roth zit. in: Ahrens: „Das Universum hat keinen Schatten. Christoph Schlingen‐ sief im Gespräch mit Gerhard Ahrens“, 8. einen Überblick über das labyrinthisch strukturierte, durch Bretter- und Lein‐ wände in mehrere Räume parzellierte Gebilde zu verschaffen. Mit der Ein‐ schränkung der Sichtmöglichkeit einerseits und der Fülle an Requisiten in Form von provisorischem Mobiliar andererseits ergeht an den Betrachter, der die Bühne nunmehr als Akteur erkundet, zugleich die Aufforderung, sich seinen eigenen Weg durch die rotierende Bühnenlandschaft zu bahnen. Die aufproji‐ zierten Filme beleuchten nicht lediglich die Sperrholz- und Leinwände, sondern auch den Besucher selbst. Das multisensuale Bombardement, dem der sich dre‐ hende Raum mitsamt seinen Akteuren ausgesetzt ist, bringt der Idee nach einen wechselseitigen Austauschprozess zwischen menschlichem und filmischem Blick und schließlich sogar die gegenseitige Belebung von Mensch und Ma‐ schine in Gang. Der Besucher wird durch die filmische Belichtung ebenso zum Körper medialer Einschreibung wie dieser, umgekehrt, den Animatographen durch seine Anwesenheit erst zum Leben erweckt: „Der Mensch ist das Organ, das den Raumkörper, die ‚Lebensmaschine‘ aktiviert. Sein Auge ist die Kamera, das die Welt aufnimmt.“ 52 Das grundlegende Bewegungsmoment - die sich fortwährend drehende Bühne, der sich bewegende Akteur, die in unterschiedliche Richtungen proji‐ zierten Filme - erfährt seine Multiplikation durch die Gleichzeitigkeit der ver‐ schiedenen Bewegungsgeschwindigkeiten, -richtungen und -rhythmen der Ak‐ teure. Die Raum- und Lebenswelt, die der Mensch durch seine Bewegungen stetig neu codiert, unterliegt dadurch einem permanenten Wandel. Das Motto für eine solche wechselseitige Erhellung des Menschlichen und Künstlerischen entlehnte Schlingensief dem Schweizer Aktionskünstler Dieter Roth. Dessen transgressiver künstlerischer Leitsatz, „die Umgebung wird zum Werk und das Werk zur Umgebung“ 53 , den er in seinen Solo Szenen umfassend erprobte, kon‐ kretisierte sich mit dem Island-Animatographen House of Obsession als eine Raum und Zeiten durchdringende Lebensmaschine: Hier an dieser Stelle, wo sich Neue und Alte Welt jedes Jahr um 8 mm entfernen, entsteht der Prototyp des Animatographen. Ein Seelenschreiber. Eine begehbare Fo‐ toplatte. Ein organischer Körper zwischen dem ältesten Menschheitswunsch nach Verwaltung (Pingvellir) und dem Haus der unverwaltbaren Obsessionen (Holmur). Hier, an dieser Erdkruste, reiten die Geister mit unseren Körpern; hier beginnt der 4.3 Von der Drehbühne des Parsifal zum abgekühlten Animatographen 193 <?page no="194"?> 54 Christoph Schlingensief: „Pressemitteilung Schlingensiefs Animatograph. Island Edi‐ tion - ‚House of Obsession‘“. http: / / www.schlingensief.com/ projekt.php? id=t05 (Zu‐ griff am 15. April 2017). 55 Jelinek: „Schlingensief “. größte Film, den ich jemals drehen werde. Vom Rand der Kruste reisen wir durch die Erde, durchqueren kulturelle und zivile Vergewaltigungen, erreichen im Oktober die afrikanische Unterwelt, suchen den Hammer, öffnen Löcher in den Wänden zur Nach‐ barwohnung und fliegen nach der Weltverkündung des Straußeneis nach Nepal, von da aus zu den Plastiksärgen in der amerikanischen Zwillingsgruft … Ein Traum, den ich mir erfülle. Denn jeder, der den Animatographen sieht, belichtet ihn. Und Jeder, der ihn betritt, wird belichtet. 54 Durch die Bezeichnung des Animatographen als „Seelenschreiber“ (lat. anima, Seele; animatus, beseelt, belebt; griech. graphein, schreiben) und „begehbare Fo‐ toplatte“ betonte der Künstler den konstitutiven Konnex zwischen der Seele der Akteure als Unterlage für seinen filmischen Schreibgriffel sowie die Auflösung der Grenzen zwischen Produzent und Rezipient, zwischen Sehen und Gesehen‐ werden. Auch der Animatograph versagt seinem beobachtend-beobachteten Bewohner grundsätzlich die Möglichkeit, sich ein Bild von seiner Umgebung zu machen, da dieser selbst zum blinden Fleck seiner Beobachtung gerät, indem er Teil jener Umgebung wird, die sich um ihn herum in drehender Bewegung auf‐ spannt. Die Rotationsmaschine, die erst durch ihre Besucher belebt wird, trans‐ formiert das Projektionsdispositiv des Films auf diese Weise in eine interaktive Installation. Das Prinzip reziproker Einschreibung und Übertragung von Kunst und Umgebung macht den Animatographen aus der Sicht Elfriede Jelineks zum Prototypen einer Übersetzungs- und Transformationsmaschine, die alles um‐ codiert, was man ihr gibt: Eine sich drehende Fotoplatte, auf die alles draufkann, was da ist, alles einsteigen! Er stellt, gerade in dieser permanenten Drehung als ein sich ständig bewegender „Trans‐ formationskörper“ (also einer, der alles aufnimmt und widergibt, gerade darin, dass er einem nichts wiedergibt, was er einmal hat, denn er gibt es ständig her, er nimmt und gibt, unaufhörlich, alles, was möglich ist, nimmt er und gibt er, […] er schreibt auf, was da ist, was es aber nicht gibt), eine Art Mittelpunktskoordinate dar, die aber nur von einem einzigen Ort aus als Mittelpunkt gesehen werden kann, von einem anderen schon wieder nicht mehr, ja, nur eine Koordinate, also eigentlich auch wieder: keine, […] dieses Schlingensief-Animatographengebilde ist wie ein schwankendes Mobile, alles bewegt sich, die Mittelpunkte verrutschen, es gibt eine Sekunde einen Mittelpunkt und dann schon wieder keinen mehr[…]. 55 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 194 <?page no="195"?> 56 Van der Horst: „Der Animatograph“, 2. 57 Vgl. dazu Antonin Artaud: Das Theater und sein Double. München: Matthes & Seitz 1996, 89. 58 Erwin Piscator: „Bühne der Gegenwart und Zukunft (1928)“. In: Klaus Lazarowicz, Christopher Balme (Hrsg.): Texte zur Theorie des Theaters. Stuttgart: Reclam 1991, 632. 59 „Erster Versuch einer elektro-mechanischen Kulisse. Die Bildstarre ist zum Leben er‐ weckt. Die Kulisse ist aktiv, spielt mit. De la nature morte vivante.“. Friedrich Kiesler: Als ich die Raumbühne erfand. Zit. nach: „Österreichische Friedrich und Lilian Kiesler Privatstiftung“. http: / / www.kiesler.org/ cms/ index.php? idcat=18. (Zugriff am 11. März 2017). 60 Walther Gropius: Die Bauhausbühne - Erste Mitteilung. 1922, o. S. Schlingensiefs Animatographie, die seiner Auffassung nach nicht mit, sondern durch den Menschen entsteht, geht namentlich auf den die Grenzen von Theater und Film überschreitenden Projektionsapparat von Robert W. Paul zurück. In den 1890er Jahren entwickelte der englische Filmpionier gemeinsam mit dem Fotografen Birt Acres als Alternative zu Edinsons Kinetoskop ein Projektions‐ gerät, das zunächst unter der Bezeichnung „Theatrograph“ firmierte. Im Rahmen seines Programms England’s Home of Mystery in der Londoner Egyptian Hall projizierte der englische Zauberkünstler David Devant mit dem Theatrographen erstmals Filme auf die Bühne. Unter dem Eindruck des von Devant ausge‐ schöpften Potentials, die Theaterbühne mit Filmen zu beleben, bedachte Paul sein Projektionsgerät fortan mit den Namen „Animatograph“. Der „medienübergreifende Kulturapparat“ 56 ruft darüberhinaus ästhetische Entwürfe von Film- und Theaterpionieren wie Sergej Eisenstein, Wsewolod Meyerhold, Bertolt Brecht, Erwin Piscator, Antonin Artaud und Lászlo Mo‐ holy-Nagy auf. So rekurriert die im Animatographen aufgehobene Trennung von Bühne und Zuschauerraum innerhalb ihrer theaterästhetischen Notation ebenso auf Artauds programmatisch anti-voyeuristisches Theaterverständnis 57 wie auf das Totaltheater-Konzept, mit dem Erwin Piscator „das Hineinreißen jedes einzelnen Zuschauers in die Handlung“ 58 anstrebte. Im Feld der Bezüge steht nicht zuletzt auch Friedrich Kieslers Utopie einer Raumbühne, die er unter der Chiffre „de la nature morte vivante“ 59 als Belebung des starren Bildes im Zeichen einer umfassenden Dynamisierung des Lebens konzipierte (vgl. Abb. 35). Neben den theaterhistorischen Anknüpfungspunkten, die neue Bühnenkon‐ zeptionen aus der Erforschung der „einzelnen Probleme des Raumes, des Kör‐ pers, der Bewegung, der Form, des Lichtes, der Farbe und des Tones“ 60 destil‐ lierten, trägt das Modell des Animatographen freilich zahlreiche Entgrenzungsbewegungen avantgardistischer und neo-avantgardistischer 4.3 Von der Drehbühne des Parsifal zum abgekühlten Animatographen 195 <?page no="196"?> 61 Juliane Rebentisch: Ästhetik der Installation. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, 15. 62 Vgl. hierzu auch Eva Ebersberger, Daniela Zyman (Hrsg.): Figura cuncta videntis: The all-seeing eye. Homage to Christoph Schlingensief [Thyssen-Bornemisza Art Contempo‐ rary, Wien, 16. 11. 2010-16. 4. 2011]. Köln: Walther König 2011. Kunst zusammen, die „Widerstand gegen einen objektivistischen Werkbegriff “ 61 leisten. Das räumliche und erfahrungsästhetische Dispositiv der Installation, das den Betrachterraum explizit in ihr Konzept miteinschließt, reflektiert die Be‐ dingungen der ästhetischen Praxis des Betrachtens ex negativo. Abb. 35: Friedrich Kieslers Raumbühne, Internationale Ausstellung neuer Theater‐ technik, Wien 1924 4.3.3 Das externalisierte Gedächtnis des abgekühlten Animatographen Der dem Animatographen im Rückgriff auf die erwähnten technischen wie äs‐ thetischen Bezugspunkte zugrunde liegende Gedanke der Evokation unter‐ schiedlicher Blickperspektiven führt letztlich auf das philosophisch-theologi‐ sche Konzept des umfassenden Sehen Gottes des Nikolaus von Kues zurück. 62 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 196 <?page no="197"?> 63 Nikolaus von Kues: Nikolaus von Kues/ 3. Das Sehen Gottes. Trier: Sonnenburg 1985, 7. 64 „Und da Dein Sehen Dein Sein ist, bin ich also, weil Du mich anschaust.“ Ebd., 10. Der spätmittelalterliche Mystiker Cusanus bindet die Vorstellung der göttlichen Ubiquität in seiner Schrift De Visione Dei (1453) an das absolute und je zuvor‐ kommende Sehen Gottes. Der göttliche Blick, so der Autor, umfasse als absolutes Sehen jeden menschlichen Blick und sei diesem insofern immer vorausgeworfen. Der menschliche Blick könne das göttliche Sehen nämlich nur erwidern. Um‐ gekehrt sei die menschliche Anrufung des Göttlichen überhaupt nur durch ein zuvorkommendes göttliches Sehen denkbar. Die grammatikalische Struktur des Titels der Schrift - „Dei“ ist darin ebenso als genitivus subjectivus wie objectivus lesbar - verleiht der allmächtigen Ubiquität des göttlichen Auges auf sprachli‐ cher Ebene Ausdruck: das Sehen von Gott hängt vom Sehen des Gottes unmit‐ telbar ab. Zur Untermauerung seiner theologischen Blick-These führte der Mystiker ein Experiment durch. Er sandte den Benediktinermönchen am Tegernsee, denen er seine Schrift zueignete, ein kleines Tafelgemälde und forderte die Brüder in einem begleitenden Schreiben auf, die Ikone so im Raum zu platzieren, dass ihr jeder einzelne Mönch direkt in die Augen blicken könne. Jeder der Betrach‐ tenden, so die beigelegte Prophezeiung, würde die Erfahrung machen, dass er sich einzig angeschaut fühle und der Blick der Ikone auch dann auf ihn geheftet bleibe, wenn er sich im Raum bewege. Aus dem geglückten Experiment leitete Cusanus die Gewissheit ab, dass die Anrufung Gottes stets nur in Reaktion auf das Sehen Gottes erfolge, da dieses den menschlichen Blick antizipiere. Darüber hinaus lehre das permanente Angeschautsein des Menschen, dass das absolute Sehen Gottes jede erdenkliche Sehweise in sich einschließe: [D]as von aller Verschränkung gelöste Sehen (visus … absolutus) umfasst als das an‐ gemessenste Maß und das wahrste Urbild aller Sehvermögen zugleich und auf einmal alle Sehweisen und jede einzelne. Ohne das absolute Sehen kann es ja kein ver‐ schränktes Sehen geben. 63 Der in das absolute Sehen Gottes eingeschlossene Blick des Menschen bestimmt in der Vorstellung des Cusanus dessen Existenzgrund. Cusanus’ vides ergo sum, 64 das anders als das cartesische cogito den Existenzgrund nicht an das Selbst, sondern an den radikal Anderen bindet, kehrt im philosophischen Denken des 20. Jahrhunderts als Motiv des zuvorkommenden Blickes in gewandelter Gestalt wieder. So führt Schlingensiefs Animatograph neuerlich auf die von Lacan ausge‐ hende psychoanalytische Theorie zurück. Auf der Basis von Jean-Paul Sartres 4.3 Von der Drehbühne des Parsifal zum abgekühlten Animatographen 197 <?page no="198"?> 65 Vgl. Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Onto‐ logie. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 2005, 508 ff. 66 Lacan: Das Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 78. 67 Ebd., 80. 68 Vgl. Georges Didi-Hubermann: Was wir sehen blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes. München: Fink 1999. 69 Lacan: Das Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 81. 70 Die Formulierung fiel im Zuge der Aktion Passion Impossible. 7 Tage Notruf für Deutsch‐ land. Eine Bahnhofsmission: „Der Raum überprüft uns und nicht wir den Raum“. Schlin‐ gensief: Ich weiß, ich war’s, 113. 71 Lacan: Das Seminar XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 102. 72 Schlingensief: Ich weiß, ich war’s, 152. 73 Mirjam Schaub: „Sich in den Weltzusammenhang hineindrehen“. In: Pia Janke, Teresa Kovacs (Hrsg.): Der Gesamtkünstler Christoph Schlingensief. Wien: Praesens 2011, 194. phänomenologischer Analyse des Blicks arbeitete der Psychoanalytiker die für den Philosophen Žižek prägende Vorstellung aus, dass Auge und Blick nicht identisch miteinander seien. 65 Ausgehend von der Trennung von Auge und Blick fokussiert Lacan den Umstand, dass das Sehen einer symbolischen Ordnung angehöre, die den Blick des Menschen lenke. Die „Präexistenz eines Blicks“ 66 sorge dafür, „daß vor dem Gesehenen ein Zu-sehen-Gegebenes […] existiert“ 67 . Lacans Analyse des Blicks geht über den Zusammenhang von Selbsterkennung und Selbstverkennung entschieden hinaus. Als symbolischer Anderer begegnet der Blick dem Subjekt nun nicht mehr in Gestalt des Göttlichen, sondern in Form einer anderen Person, aber auch durch die Dinge, Bewegungen und Geräusche. Insofern blickt uns das, was wir sehen, immer an. 68 Dem Akteur auf Schlingensiefs Animatographen erscheint, in den Worten Lacans, „das Schauspiel der Welt als allsehend“ 69 . Mit seiner Formulierung, dass der Raum die Akteure überprüfe und nicht die Akteure den Raum, 70 spitzt Schlingensief Cusanus’ mystisches Konzept im Sinne der psychoanalytischen Lesart Lacans radikal zu. Demnach definiert zwar der Akteur seinen Blick auf die Dinge, doch tut er dies nach Maßgabe des absoluten Auges des Seelen‐ schreibers, der jede erdenkliche Sehweise in sich einschließt. Alles „[w]as Licht ist, blickt mich an“ 71 , soll der Sehende im Animatographen wissen. So wird er zum „Dokumentationszentrum“ 72 seines gelenkten Blickes. Die in wesentlichen Einzelheiten die Ur-Animatographie des Parsifal zitie‐ rende Drehbühne von Mea Culpa hat sich der Funktion der Betretbarkeit wieder entledigt und behält nicht mehr den Blick von Akteuren auf, die noch in Reyk‐ javik, Neuhardenberg, Lüderitz, Wien und Berlin „in einen anderen Medien-, Welt- und Mythenzusammenhang“ 73 versetzt wurden. Die Räume auf der Bühne, die vielfach aus der Bayreuther Inszenierung übernommenen Objekte und film‐ ischen Überblendungen, bewahren nunmehr ausschließlich Schlingensiefs au‐ 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 198 <?page no="199"?> 74 Vgl. dazu Foucaults Ausführungen zum Panoptismus in Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 241 ff. 75 Vgl. Alois Hahn: „Identität und Selbstthematisierung“. In: Ders., Volker Kapp (Hrsg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis. Bekenntnis und Geständnis. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, 18 ff. 76 Schlingensief: Ich weiß, ich war’s, 153. 77 „Darum ist der Animatograph auch ein Bekenntnis zur Übermalungsstrategie und deren Unterwanderung, das heißt, Wahrheit gäbe es, wenn überhaupt, nur als schon über‐ pinselte. Wenn ich sie haben will, muss ich an ihr kratzen und in dem Moment wo ich an ihr kratze, verändere ich schon wieder die Oberfläche. Und das bedeutet: Erinnern heißt Vergessen“. Christoph Schlingensief: „18 Happenings in einer Sekunde“. In: Volks‐ bühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin (Hrsg.): Kaprow City. Berlin 2006, o. S. 78 Gilles Deleuze, Felix Guattari: Rhizom. Berlin: Merve 1977, 35. tofiktionale Blickpositionen zwischen Jenseits und Diesseits auf. Die vom Re‐ gisseur als objet trouvés seiner Krankenbiographie automythographisch übermalten Figuren aus Wagner Parsifal betreten jetzt die verschiedenen Räume der Drehbühne und werden vom Seelenschreiber geformt. Diese Abspaltungen des Ichs durchqueren die mythologischen Sphären und zeigen anhand ihrer Wege über die sich drehende Bühne die rätselhafte Verbindung der verschie‐ denen Motive auf: den Zusammenhang zwischen der sich nicht schließen wol‐ lenden Wunde, der Hoffnung auf Erlösung und des Wissens durch Mitleid. Der bei Wagner und Nádás aufgefundene ästhetische Nahtoderfahrungsraum aus dem Parsifal zeigt dabei seine statische Seite: das ästhetische Erleben des nunc stans invertiert in ein Archiv der Schlingensiefschen Blicke. Die übermalte Drehbühne gerät zum filmisch-szenischen Panoptismus der Innenansichten des Ichs, 74 das seine Sündenbiographie im Modus der Autofiktion rekapituliert. 75 Schlingensief übergibt die Erzählung seines Lebens dabei symbolisch an eine andere Instanz. „‚Das ist mein Gedächtnis’“ 76 scheint der um seine essentielle Begehbarkeit reduzierte und ins Theater zurückgeführte Animatograph dem Ich zuzurufen. Als gleichsam wieder abgekühlter Animatograph, der die autofikti‐ onalisierten Blicke als Fundstücke aufbewahrt, ähnelt sein Erfahrungsraum der von Jorge Luis Borges entworfenen Universalbibliothek, mit der das Subjekt sein Gedächtnis externalisiert. Diesem Befund steht Schlingensiefs Noblitierung des Vergessens widersprüchlich gegenüber. Das Reservoir von Erinnerungen in Mea Culpa richtet sich gegen die Obliviologie des Regisseurs, die genuin hinter seiner Ästhetik der Mehrfachbelichtung steht. Der im Animatographen durch Mehr‐ fachbelichtung erwirkte dynamische Prozess des Palimpsestierens heterogener Sinnschichten, den Schlingensief mit der Formel „an der Wahrheit kratzen“ 77 als einen der künstlerischen Umformung und Überformung von Inhalten um‐ schrieben hat und dem kein „organisierendes Gedächtnis“ 78 übergeordnet zu 4.3 Von der Drehbühne des Parsifal zum abgekühlten Animatographen 199 <?page no="200"?> 79 Schlingensief: Regiebuch zu „Mea Culpa. Eine Ready-Made-Oper“, 2. Vgl. dazu Slavoj Žižek: Liebe dein Symptom wie dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien. Berlin: Merve 1991, 115: „Das Subjekt kommt im Traum dem traumatisch-realen Ding nahe, und es erwacht in der Realität deshalb, um noch weiter träumen zu können, d. h. um der Begegnung mit dem Realen auszuweichen. Wenn wir in der Realität aufgewacht sind, meinen wir, ‚es seien doch nur Träume gewesen‘, und machen uns damit […] für die Tatsache blind, dass wir ja im Wachzustand nichts anderes sind als genau das ‚Be‐ wußtsein dieser Träume‘.“ 80 Richard Wagner: „Parzival [27. August-30. August 1865]“. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 11. Leipzig: Breitkopf und Härtel o. J., 404. sein scheint, wird in Mea Culpa zunehmend von der Zentralinstanz für zu-fin‐ dende Erinnerungen verschlungen. 4.4 Die Automythographie der Kundry Den Blick auf die pseudo-animatographische Multilokalität des zweiten Aufzugs von Mea Culpa gibt die Figur Sachikki frei. Die asiatische Mitarbeiterin des Ayurvedaheims tritt vor den geschlossenen Vorhang, um das dionysische Er‐ fahrungsmoment des Schreckens und der Entgrenzung zu reflektieren. Auf der Grundlage von Žižeks Lesart psychoanalytischer Erkenntnisse deklariert sie den Traum als Einstieg in die Sphäre des Unbewusst-Realen, die den traumatischen Kern der Realität freilege und somit eine kathartische Wirkung zu entfalten vermöge. Ihre Prophezeiung, die schließlich das Realitätsbewusstsein als Fluchtort des Traumbewusstseins ausweist, lautet: „Es fängt damit an, dass Träume für die Leute da sind, die für die Realität nicht stark genug sind, es endet damit, dass die Realität für die existiert, die ihre Träume nicht aushalten.“ 79 Damit hat Sachikki das autothematische Programm des zweiten Aktes artiku‐ liert. Er handelt von dem im Zwischenstadium von Leben und Tod erfahrbaren Kern des Realen, der, darin Hegels „Nacht der Welt“ neuerlich aufrufend, die traumatische Dimension des Ichs zu Tage fördert. Die Drehbühne beinhaltet heterotope Orte, die Standort- und Zustandsbestimmungen zwischen Traum und Wahnsinn vorgeben: neben dem Bordell Klingsors - bei Wagner der „Dämon der verborgnen Sünde“ 80 - und einer Voodoo-Bar auch eine Kranken‐ station, eine Folterkammer und ein an die Architektonik des Bayreuther Fest‐ spielhauses angelehntes Opernhaus. Im Zentrum des Aktes mit dem Schauplatz Afrika steht die Figur der Kundry, mit der Wagner in den Augen Thomas Manns „ein Stück mythischer Patho‐ 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 200 <?page no="201"?> 81 Thomas Mann: „Leiden und Größe Richard Wagners“. In: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. IX. Oldenburg: Fischer 1960, 371. 82 Ebd. 83 Wagner: „Parzival“, 399. 84 Wagner: Die Tagebücher, Bd. II, 84. 85 Ebd., 351. 86 Mann: „Leiden und Größe Richard Wagners“, 370. 87 Ebd., 371. logie“ 81 und das Bild „schauerlich krankhaften Seelenlebens“ 82 auskomponiert hat. In seine Lesart der Kundry schließt Schlingensief nun, auf der Suche nach seiner Schuld, seine Identitätskonstrukte ein. Ihre Rede, die deutlich auf die Idio‐ matik und Thematik seiner Selbstbekenntnisse in Interviews, in seiner Autobi‐ ographie und seinem Tagebuch referiert, kreist um die Motive der Missdeutung und Selbstverkennung und versieht diese Zuschreibung, die der Figur bei Wagner ohnehin zuteil wird, mit autothematischem Gehalt. Im Modus der dop‐ pelten Verfremdung wird Kundry in der Darstellung von Mira Partecke zur Verhandlungsoberfläche für das ambivalente Ich Schlingensiefs. Der Fiktion einer dialogischen Selbstdurchleuchtung aus Eine Kirche der Angst weiterhin verpflichtet, legt Schlingensief zugleich mit der automythographischen Über‐ malung eine weiterführende Interpretation der ihrerseits komplexen und wi‐ dersprüchlichen Opernfigur vor. Der Ausgangspunkt liegt dabei in der existen‐ tiellen Spaltungserfahrung von Wagners Kundry selbst. „Wer dieses Weib sei und woher sie stamme, weiß Niemand“ 83 , notiert Wagner in seinem Prosaentwurf aus dem Jahr 1865 und thematisiert damit den im Ver‐ borgenen liegenden Existenzgrund seines „alten Ur-Frauenzimmers“ 84 . Un‐ durchschaubar ist die Existenz Kundrys vor allem deshalb, da sie sprichwörtlich Alles und Nichts vereint. Cosima notiert über die rätselhafte Wandlungsqualität ihres Erscheinens am 17. Mai 1979: „die Gralsbotin ist dieselbe wie Amfortas’ Verführerin“ 85 . Dieser hybride Subjektstatus der Kundry findet bei Thomas Mann seinen Widerhall, der die Doppelexistenz der Figur als der „stärksten, dichterisch kühnsten, die Wagner je konzipiert hat“ 86 , in die Formel „instru‐ mentum diaboli und heilssüchtige Büßerin“ 87 fasst. Wagners Kundry wird so‐ wohl im Zauberreich Klingsors als auch in der Sphäre der Gralsritter einem männlichen Machtsystem unterworfen. In beiden Ordnungen verkörpert sie je unterschiedliche Rollen, die sich kontradiktorisch ausschließen. Als Dienerin bleibt das Zwei-Welten-Geschöpf jeder der Ordnungen treu, als Wesen jedoch bleibt sie in beiden Fällen fremd. Ihre Schuld aus dunkler Vorzeit zu büßen, erscheint sie als willenloses Werkzeug, das, selbst nicht zur Erkenntnis fähig, hin und hergerissen wird von den Neigungen Anderer. 4.4 Die Automythographie der Kundry 201 <?page no="202"?> 88 Ebd. 89 Wagner: „Parsifal“, 326. 90 Ebd. 91 Ebd., 328. 92 Ebd., 329. 93 Ebd. 94 Ebd., 330. 95 Ebd., 328. 96 Ebd., 345. 97 Ebd., 346. 98 Wagner: „Parzival“, 406. 99 „Man hört sie einen gräßlichen Schrei ausstoßen, wie eine aus tiefstem Schlafe aufge‐ schreckte Halbwache“. Wagner: „Parsifal“, 346. Der Erfahrung einer „qualvollen Zweiheit und Zerrissenheit“ 88 korrespon‐ diert aus subjektphilosophischer Perspektive Kundrys Mangel an einem uner‐ schütterlichen Grund. Wegen ihrer fortwährenden Wandlungen, ihres Hin- und Hergleitens zwischen den Sphären von Gral und Zauberreich ist Kundry nicht Trägerin von Subjektmerkmalen, sondern Behältnis für Benennungen und Pro‐ jektionen ihrer Beherrscher. Von den Gralsrittern wird sie im ersten Aufzug zunächst als „wilde Reiterin“ 89 , „Teufelsmähre“ 90 , „wildes Weib“ 91 und „wildes Thier“ 92 eingeführt. Die Attribute des Kreatürlichen und Asozialen werden komplettiert durch den ihr vorausgeworfenen Status als „Heidin“, „Zauber‐ weib“ 93 und „Verwünschte“ 94 . Diese Charakterisierungen geben nicht lediglich Aufschluss über ihr unreligiöses Wesen, sondern verdeutlichen ihren Status jenseits der erhabenen Gralsordnung, der sie als „rastlos scheue Magd“ 95 dienen muss und dabei Sphären abseits des Denkbaren durchquert. Auch Klingsor versucht Kundry über ihre mythischen Schatten zu greifen und ruft sie unter stets wechselnden Namen herbei. Ihre archaische Existenz jenseits von Individualität artikuliert er im klimatisch strukturierten Ruf „Na‐ menlose: Ur-Teufelin! Höllen-Rose“ 96 zu Beginn des zweiten Aufzugs. All diese Benennungen durch ihre männlichen Beherrscher stiften als performative Sprechakte gleichsam von außen Kundrys multiple Identität. Ihre Biographie wird ihr von Klingsor mit den Worten zugeschrieben: „Herodias warst du, und was noch? / Gundryggia dort, Kundry hier“ 97 . Dem circulus vitiosus, der ihre Identität an Appellative bindet, kann sie deshalb nicht entkommen, da sie sich selbst reflexiv nicht zu durchdringen vermag und weder weiß, wer sie ist noch war. Der Figur ist ihre Geschichte, in den Worten Wagners, „wie ein im tiefsten Schlaf erlebter Traum, von dem der Erwachte keine Erinnerung, sondern nur ein dunkles, ohnmächtiges, nur das tiefste Innere beherrschendes Gefühl hat.“ 98 Im zweiten Aufzug des Parsifal erwacht sie aus einem ihrer bewusstlosen Zustände mit einem Schrei. 99 Dieser Schrei, mit dem sie in Klingsors Reich erst‐ 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 202 <?page no="203"?> 100 Wagner: „Beethoven“, 69. 101 Ebd., 69 f. 102 „Ach! - Ach! / Tiefe Nacht - / Wahsinn! - Oh! - Wuth! - / Oh! Jammer! - / Schlaf - Schlaf! - / tiefer Schlaf! - Tod! “ Wagner: „Parsifal“, 346. 103 Schlingensief: Regiebuch zu „Mea Culpa. Eine Ready-Made-Oper“, 3. mals musikalisch in Erscheinung tritt, stellt Kundrys Begriffslosigkeit meta‐ phorisch zur Schau. Den Zustand, in dem sie über ihre Sprache nicht mehr oder noch nicht verfügen kann, bringt Wagner in seiner Beethoven-Schrift (1870) ex‐ plizit mit der Sphäre des Traums zusammen. Einem Gedanken Schopenhauers folgend, sah er im Schrei die Entladung einer „somnambulen Hellsichtigkeit“ 100 . Der Erfahrungsqualität des Dionysischen darin durchaus vergleichbar, verbleibt diese Regung notwendigerweise in einem vorbegrifflichen Stadium und dient der Vermittlung einer expressiven Urkraft als „die allerunmittelbarste Äußerung des Willens“ 101 . Mit Kundrys Schrei im zweiten Aufzug des Parsifal fasst Wagner die wahnhafte Verkörperung einer bewusstlosen Exzentrik als textlich nicht auskomponiertes lautliches Emblem. Seine Trägerin, kaum aus dem Todesschlaf erwacht, muss ihre Sprachfähigkeit erst (wieder) erlangen. Ihr Schrei figuriert als Zeichen des psychischen Zusammenbruchs im Moment der Subjektgenese und mithin als Inversionsfigur des cartesischen cogito. Der Sprachwerdung wird auf textlicher Ebene durch die rhetorischen Stilmittel der Akkumulation, Asyn‐ deta und der Interjektion Ausdruck verliehen. Im Gestammel gibt Kundry ihrer Existenz unter Zwang zum ersten Mal umfänglich sprachlichen Ausdruck. 102 In Mea Culpa wird der Schrei der Kundry als Zeichen eines Ringens um Be‐ wusstsein und Identität in Alltagssprache übersetzt. Zu Beginn des zweiten Aktes erscheint Klingsor als Meister Kundrys und ruft sie mit der Original-Partie des Basses zu sich herauf. Musik und Text Wagners werden dabei jäh durch extemporierte Ausrufe des nunmehr in Afrika wohnenden, dunkelhäutigen Klingsor-Darstellers unterbrochen: „Where is Kundry? Where is my woman? Where are you, Bitch? I need you now“ 103 . Dieser Transposition des dramati‐ schen Tonfalls aus Wagners Partitur korrespondiert die Transformation von Klingsors Zauberreich. Zum Bordellbesitzer mutiert, verfügt er im samtenen Morgenmantel über seine Playboy-Bunnies. Kundry unterbricht das wilde Treiben dieser übermalten Blumenmädchen, die gerade damit beschäftigt sind, einen ihrer Freier zu bezirzen. Mit dem Hallwirkung entfaltenden, Raum und Zeit durchdringen Ruf, „Haaaalloooo, ich bin die Kundry! “, führt sie sich selbst ein. Akustisch kaum vernehmbar, wird der Schrei von einer musikalischen Ein‐ spielung des Auftritts der Kundry im zweiten Aufzug von Wagners Parsifal unterlegt. Die Schauspielerin Mira Partecke gibt sich gemäß des übergeordneten Probenrahmens von Mea Culpa als Darstellerin der Wagnerschen Figur zu er‐ 4.4 Die Automythographie der Kundry 203 <?page no="204"?> 104 Ebd., 6. 105 Ebd. 106 Ebd. kennen. Da sie ihren Auftritt nicht richtig getimt hat und nun zu spät auf der Bühne erschienen ist, holt sie zu einer umfassenden Klage darüber aus, den an sie gerichteten Anforderungen nie gerecht zu werden. Zwischen ihrem Bild in den Augen der Anderen und ihrem Bild von sich selbst klafft eine schmerzhafte Lücke. Ihre Verzweiflung über die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdbild und ihre Trauer darüber, immer nur als Provokateurin angesehen zu werden („das tut mir so weh, dass ihr immer alle glaubt, dass ich immer nur provozieren will“ 104 ), kulminieren in der hoffnungslosen Einsicht, dass sie als Mensch wohl nicht dazu fähig sei, sich zu verändern: [I]ch möchte mich verändern. Das ist doch, was ich euch immer gesagt hab. Und ihr habt auch gesagt, dass ich anders geworden bin. Aber jetzt glaub ich einfach, dass das überhaupt nicht geht, dass man sich überhaupt nicht verändern kann. Dass man immer die Gleiche ist. 105 Ihren Monolog schließt sie mit einem emphatischen Bekenntnis zu Wahrhaf‐ tigkeit („dabei mein ich das alles ganz ehrlich! Das ist einfach meine Art mich auszudrücken! “ 106 ). Die Spannung zwischen Kundrys Wunsch nach einer Ver‐ änderung ihres Charakters einerseits und dem Gefühl der Verkennung durch die Umwelt andererseits wird auf filmischer Ebene durch die Videoprojektion des bereits in Eine Kirche der Angst zentralen Reenactments von Günter Brus‘ Zerreißprobe bekräftigt. In dieser Appropriation überlagert Schlingensief einem für Beuys typischen Setting - mit einer Tafel im Zentrum, Relikten vorange‐ gangener Aktionen in Form von bodenbedeckenden Papierschnipseln und der Figur Beuys mit Anglerweste und Hut - seine Aneignung von Günter Brus’ Zerreißprobe, in der sich der Wiener Aktionist einer masochistischen Streckung seines Körpers aussetzte (vgl. Abb. 36). Wie schon bisweilen in Eine Kirche der Angst bebildert Schlingensief sein Ich-Bekenntnis dabei in einer intermedialen Eins-zu-eins-Umsetzung mit wichtigen Dokumenten seiner künstlerischen So‐ zialisation. 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 204 <?page no="205"?> Abb. 36: Filmische Komposition Schlingensiefs (oberes Segment) aus einem für Joseph Beuys typischen Setting, hier: Sibirische Symphonie 1. Satz (mittleres Segment) und Günter Brus’ Zerreißprobe (unteres Segment) 4.4 Die Automythographie der Kundry 205 <?page no="206"?> Abb. 37: Kundrys Monolog mit der Projektion der übermalten Zerreißprobe im Bildhin‐ tergrund Am Ende ihrer Verteidigungsrede nimmt sich Kundry mit einem Pistolenschuss in den Mund nicht nur das Leben, sondern symbolisch auch ihre Artikulations‐ fähigkeit und tritt aus dem Netz von Fremdbestimmungen aus. An der automy‐ thographischen Aufladung des Kundry-Schreis (vgl. Abb. 37) zeigt sich einer‐ seits Schlingensiefs Erwartungshaltung gegenüber seinen Kritikern, verstanden zu werden und andererseits exemplarisch die gebrochene Wiederaufnahme einer Rechtfertigungsrhetorik aus der europäischen Autobiographie seit Rous‐ seau. Schlingensief verlagert seine Gewissheit über die fundamentale Verken‐ nung des Selbst in die Spiegelgestalt seiner automythographischen Metarefle‐ xion. Dabei wird ein Spezifikum der theatralen Selbstreflexion als Autofiktion offensichtlich. Die Fokussierung auf das Selbst kippt in das Spiel mit dem Refe‐ renten des theatralen Spiels selbst um, der nicht nur Körper hat, sondern Leib ist. Die Stimme der Schauspielerin, die „ich“ sagt, verweist auf drei Referenten: auf Schlingensief, auf Kundry und sich selbst. Das Selbstbekenntnis Schlingen‐ siefs entwickelt dadurch sein polyvalentes autofiktionales Eigenleben. Er ver‐ leiht seiner confessio, die zugleich mit dem Traum des Ichs von der Vervielfälti‐ gung des Selbst sein Begehren nach einer restitutio ad integrum zum Ausdruck bringt, im Körper der Schauspielerin Alterität und in der Figur der Kundry 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 206 <?page no="207"?> 107 Ebd., 7. 108 Vladimir Jankélévitch: Der Tod. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, 38. 109 Schlingensief: Regiebuch zu „Mea Culpa. Eine Ready-Made-Oper“, 10. Überindividualität. Dieses narzisstische Selbstverständnis des Ichs in Mea Culpa kehrt auch das Verhältnis zwischen Schlingensiefs und Wagners Kundry um. Während sich diese von den Männern widersprüchlich benennen lässt, vollzieht jene demgegenüber einen Akt beispielloser emanzipatorischer Usurpation, indem sie selbst ihre Zerrissenheit zur Sprache bringt. Vor diesem Hintergrund erhält auch der epiloghafte Abschluss der Kundry-Szene in der ReadyMadeOper, der das Gestammel von Wagners Figur paraphrasiert, eine dem Bühnenweih‐ festspiel gegenläufige Konnotation. Der von einer älteren Dame aufgegriffene Intertext des traumhaften Wahns, „Tiefe Nacht … Wahnsinn … […] Schlaf … Schlaf … tiefer Schlaf … Tod …! “ 107 , kommentiert Kundrys aus dem Zwiespalt sich herausschälende beginnende Subjektwerdung, ehe sie Selbstmord begeht, um der Bemächtigung durch Andere endgültig zu entgehen. Der von den künst‐ lerischen Vervielfältigungstechniken des narzisstischen Ichs gestützte Solip‐ sismus Schlingensiefs, der im „Selbstgespräch gefangen ist wie in einer bela‐ gerten Stadt“ 108 , zeigt sich im zweiten Akt an den Aussagen einer Reihe weiterer Frauenfiguren, die den Nachhall zu Mira Parteckes Rede bilden und die Zerris‐ senheit des Kundry-Ichs weitertreiben. Ihr gemeinsames Merkmal bildet die Suche nach sich selbst und das Ringen um Sprache. Unterdessen gerät Klingsors Zauberreich zu einer traumatischen Innenansicht subjektiver Dezentrierung, die alle Figuren zu Gefangenen ihres eigenen unerreichbaren Begehrens nach dem moi macht. Gegen Ende des zweiten Aktes tritt die von Fritzi Haberland verkörperte na‐ menlose Verlobte Christophs auf. Ihr ist die Position einer Spiegelfigur zuge‐ dacht, die das Ich Schlingensiefs aus einer Perspektive vis-à-vis beleuchtet. Die Verlobte, die sich durch ihre Lebenserzählung noch im ersten Akt zugleich als Witwe des Bildenden Künstlers Jörg Immendorf zu erkennen gab und zu den Klängen von Schuberts „Hymne an die Jungfrau“ ein Lebensresümee zog, betritt eine Kanzel, die sich auf der Hinterseite des Opernhauses über einem Table‐ dance-Lokal befindet. Sie beginnt einen Monolog der Verzweiflung über den schwierigen psychischen Zustand ihres Geliebten, den die Einspielung der Arie „Erbarme dich“ aus Bachs Matthäus-Passion (1727) pathetisch überhöht. Als ab‐ gespaltenes Spiegel-Ich bringt sie das für die Inszenierung zentrale Selbstbe‐ kenntnis mangelnder Selbstliebe in der dritten Person vor: „Eigentlich hat er sich fertig machen wollen. Alle die ihn verrissen haben, hat er eigentlich geliebt. Weil er sich selbst nicht mochte“ 109 . Das ausgelagerte Schuldbekenntnis fasst mit demonstrativem Gestus die den Körper der Schauspielerin überblendende Pro‐ 4.4 Die Automythographie der Kundry 207 <?page no="208"?> 110 Ebd., 15. 111 Thomas Mann: „Der Zauberberg“. In: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. III. Oldenburg: Fischer 1960, 685. 112 Thomas Mann: „Joseph und seine Brüder“. In: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden: Reden und Aufsätze, Bd. XI. Oldenburg: Fischer 1960, 658. jektion des Reenactements von Rudolf Schwarzkoglers 6. Aktion (1966) ins Bild. Es handelt sich um dieselbe Projektion, die in Eine Kirche der Angst mit der Formel des noli me tangere in Verbindung steht. Der im Film gezeigte, vollständig in Mullbinden eingewickelte Körper vermag seinen Mund lediglich zu einem stummen Schrei zu öffnen und schließt als Symbolisierung eines sich selbst nicht gewissen Ichs die Klammer zu Kundrys vorsprachlichem Schrei in Wagners Parsifal. Das externalisierte Schuldbekenntnis leitet, den zweiten Akt abschließend, Christophs Erkenntnisweg ein: In einem Bordell unterhalb der Kanzel ereignet sich eine Verführungsszene. Ähnlich Wagners Parsifal, der „welthellsichtig“ wird, indem er sich dem Kuss der Kundry entzieht, widersteht Joachim Meyer‐ hoff als Christoph der Verführung und erkennt in seiner mangelnden Selbstliebe im Wortlaut von Wagners Parsifal die Ursache für sein Leid: „Ich bin’s, der all dies Elend schuf “ 110 . Begleitet wird dieser Erkenntnisweg durch eine chorische Komposition Arno Waschks über den Menschen als Grenzwesen zwischen Tod und Leben. Der zugrunde gelegte Text geht auf eine Passage in Thomas Manns Zauberberg (1924) zurück. Dessen Protagonist Hans Castorp gelangt während seines „Schneetraums“ zu der Gewissheit, dass der Mensch „Herr der Gegen‐ sätze“ 111 sei und dass er, indem er die Gegensätze erst hervorbringe, ein homo dei sei. Als Replik auf die Kundry-Szene erkennt die Figur des Christoph sich selbst als diesen die Gegensätze vereinenden göttlichen Menschen, der, wie Thomas Mann schreibt, mit nichts weniger als „mit seiner religiösen Frage nach sich selbst, nach seinem Woher und Wohin, seinem Wesen und Ziel, nach seiner Stellung im All, dem Geheimnis seiner Existenz, der ewigen Rätselaufgabe der Humanität“ 112 befasst ist. In einem zum dritten Akt überleitenden Zwischenspiel betritt schließlich Schlingensief selbst über einen Steg vom Zuschauerraum aus die Bühne, um sein entschiedenes „ja“ zum Leben zu bekräftigen und somit als jener „Herr der Gegensätze“ zu erscheinen, den sein Alter Ego unmittelbar zuvor apostro‐ phierte. Eingeleitet wird der Auftritt durch die Einblendung einer kurzen Szene aus seinem Film Menu Total (1986). Anders als im Fluxus-Oratorium verkörpert er bei seinem Erscheinen in Mea Culpa allerdings nicht die Rolle des Priesters, sondern die des Regisseurs, der das Publikum über seine ästhetischen Maximen aufklärt. Auf einer die gesamte Bühne füllenden Filmaufnahme, die er im Jahr 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 208 <?page no="209"?> 113 Barthes: Die helle Kammer, 87. 114 Nietzsche: „Die fröhliche Wissenschaft“, 481. 115 Ulrich Müller, Oswald Panagl: Ring und Gral. Texte, Kommentare und Interpretationen zu Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“, „Tristan und Isolde“, „Die Meistersinger von Nürnberg“ und „Parsifal“. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, 73. 116 Der gezeigte Film trägt dementsprechend den Titel Holländer 2C - Ausweitung der Dunkelphase (2007). 2007 mit einer 16-Millimeter-Kamera für seine Inszenierung von Der fliegende Holländer im brasilianischen Manaus gedreht hat, ist Schlingensief beim Erteilen von Regieanweisungen zu sehen. Schlingensiefs Blick auf die mediale Konserve akzentuiert abermals das „interfuit“ 113 („es ist so gewesen“) des eigenen Lebens, das er nun in Echtzeit für das Publikum von Mea Culpa kommentiert. Als Tonspur dem Film unterlegt ist nicht Wagners Komposition des Flie‐ genden Holländer, sondern eine von Arno Waschk musikalisierte Fassung von Nietzsches Aphorismus über den Tod Gottes aus Die fröhliche Wissenschaft (1882). Über der Spur der chorisch intonierten Phrase „Stürzen wir nicht nach allen Seiten fortwährend ins Nichts? “ 114 präsentiert Schlingensief mit seiner Au‐ topräsenz den Ertrag seiner automythographischen Selbstbespiegelung als Ab‐ kehr vom weltanschaulichen Kerngedanken des Parsifal. Dem, wie Ulrich Müller es ausdrückt, „Sieg der ruhesuchenden Weltverneinung“ 115 am Ende von Wag‐ ners Parsifal stellt er das kreative Potential der Krise gegenüber. Mit seinem Live-Kommentar zum gezeigten Film, der die Diskrepanz zwischen seinem me‐ dial archivierten gesunden Ich und seinem autopräsenten kranken Ich unter‐ streicht, klärt er das Auditorium über die im Zentrum seiner Filmästhetik ste‐ hende Dunkelphase zwischen zwei Bildern als symbolisch-rituelles betwixt and between auf. Bereits in Manaus arbeitete Schlingensief an einer Ausweitung der Dunkelphase, der Zeitspanne zwischen zwei Filmbildern. 116 Er lässt das Pub‐ likum wissen, dass ihm die Folge von 24 Bildern pro Sekunde, die einem ironi‐ 4.4 Die Automythographie der Kundry 209 <?page no="210"?> 117 Den berühmten Satz, „La photographie, c’est la vérité, et le cinéma, c’est 24 fois la vérité par seconde“, legt Godard dem Protagonisten Bruno in Le petit soldat (1960) in den Mund. Vgl. Jean-Luc Godard: Le petit soldat, Frankreich 1960. Schlingensief unterschlägt die ironische Implikation Godards und benutzt dessen Worte stattdessen, um seine Filmästhetik von derjenigen Godards abzugrenzen: „Laut Godard besteht ein Film aus 24 Bildern pro Sekunde. Er sagt ‚24 Wahrheiten pro Sekunde‘. Aber da irrt sich Godard, das sind mindestens 6 Bilder zuviel, weil der Mensch ja schon ab 18 Bildern pro Se‐ kunde, ja fast schon ab 12 Bildern pro Sekunde anfängt, eine flüssige Bewegung zu sehen. Also bitte merken: ab 12 Bildern fast flüssig, ab 16 Bildern ziemlich flüssig, ab 18 Bildern flüssig. Aber bei 24 ist es schon überflüssig, sodass es gar nicht mehr zur Dunkelphase kommt und die ist entscheidend. 18 Bilder pro Sekunde sind richtig“. Schlingensief zit. nach: Chris Dercon: „Kameraden“. In: Susanne Gaensheimer (Hrsg.): Christoph Schlingensief. Deutscher Pavillon 2011: 54. Internationale Kunstausstellung La Biennale di Venezia. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2011, 175 f. 118 Joachim Kaiser: „Ich bin eigentlich ein metaphysisch obdachloser Metaphysiker. Afrika, Voodoo und der ‚Parsifal‘ in Bayreuth: Christoph Schlingensief im Gespräch mit Joa‐ chim Kaiser“. In: Süddeutsche Zeitung, 25. Juli 2004, 13. 119 Schlingensief zit. nach: Stephanie Rosenthal: „18 Bilder pro Sekunde. Christoph Schlin‐ gensief - Der Bildermacher“. In: Susanne Gaensheimer (Hrsg.): Christoph Schlingensief. Deutscher Pavillon 2011: 54. Internationale Kunstausstellung La Biennale di Venezia. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2011, 319. schen Kommentar Godards zufolge die filmische Wirklichkeit darstellen, 117 mehr Information bieten, als für ihn nötig wäre. Der Mensch könne bereits ab 18, er selbst sogar ab sechs Bildern alles wunderbar im Fluss sehen. Das Filmbild, so die Quintessenz von Schlingensiefs Manifest, ist von der Dunkelphase, dem dialektischen Negativ des Informationsflusses, fundamental abhängig. Die Dun‐ kelphase, als Zeitraum vor dem Eintritt neuen Lebens, habe sich mittlerweile in seinem Leben installiert und nehme in Anbetracht seiner Krankheit immer mehr Raum in Anspruch. Die in der Dunkelphase aufgehobenen „Informationen zwischen den Bil‐ dern“ 118 , die den Fluss der Zeit unterminieren, durchkreuzen in Schlingensiefs existentiell gewendeter Interpretation nicht nur den narrativen Fluss filmischer Erzählungen, sondern als künstlerische Chiffre des Nahtoderlebnisses auch seine Lebenszeit. In die Dunkelphase der inszenierten Parsifal-Probe (zwischen zweitem und drittem Akt) fällt dementsprechend sein Auftritt in der Rolle des Regisseurs als performativer Lebensbeweis. Der die Kunst und das Leben über‐ formende Zwischenraum der Bilder, der für Schlingensief Kraft seiner Negation erst „Lebendigmachung ermöglicht“ 119 , motiviert im dritten Akt, der die sym‐ bolische Eröffnung des Festspielhauses in Afrika feiert, schlussendlich auch die Realisierung einer utopischen Vision von Gemeinschaft. Der Regisseur nutzt seinen Auftritt in Mea Culpa allerdings nicht nur, um sich als körperliches Zei‐ chen seiner selbst gegen die mediale Konserve der eigenen Vergangenheit zu 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 210 <?page no="211"?> 120 Jankélévitch: Der Tod, 38. 121 Christoph Schlingensief zit. in: Burgtheater GesmbH (Hrsg.): Christoph Schlingensief: Mea Culpa. Eine ReadyMadeOper, 18 f. behaupten und sich als Beobachter seiner selbst zu inszenieren, sondern auch dazu, die Zuschauer im direkten Adressieren mit der je eigenen Sterblichkeit zu konfrontieren. Dem Tod, der einer Aussage Vladimir Jankélevitschs zufolge das „ökumenische Ereignis“ 120 schlechthin darstellt, wird abschließend seine Allge‐ meingültigkeit zurückerstattet. Schlingensief liest gemeinsam mit Schauspie‐ lerinnen Texte von krebskranken Patienten und versucht im Übergang vom Egozentrismus zum Allozentrismus sein Problem zum fundamentalen Problem aller zu machen. 4.5 Mea Culpa vor der Folie der europäischen Bekenntnistradition Mea Culpa stellt nicht nur eine automythographische Künstlervita vor, in der das künstlerische Grundprinzip der Schichtung von Diskrepanzen auf den ver‐ schiedenen gezeigten Ebenen durchexerziert wird, sondern gemäß dem titel‐ gebenden Bekenntnis auch den Versuchsraum einer Auseinandersetzung mit der eigenen Sündenbiographie dar. Die in Eine Kirche der Angst zum Ausdruck gebrachte Fassungslosigkeit über die Krankheit wird am Ende des zweiten Aktes der ReadyMadeOper nach eingehender Gewissensforschung durch eine perfor‐ mative Schuldübernahme entkräftet. Der dramaturgische Weg dorthin verläuft über Schlingensiefs Auseinandersetzung mit den Fundstücken seiner Sünden‐ biographie, allen voran mit den Ideenträgern aus Wagners Oper Parsifal, der er einen ursächlichen Stellenwert für seine Krankheit als die von ihm so bezeich‐ nete „ultimative perverse Kunstform“ 121 zugewiesen hat. Schlingensiefs auto‐ mythographische Abspaltungen in Wagners Figurenpersonal, vor allem in die Figur der Kundry, die als krankheitsbedingende objets trouvés im Pseudo-Ani‐ matographen von Mea Culpa die Summe der Blicke des Ichs lenken, externali‐ sieren das Gedächtnis des Sünders in Form eines beschreitbaren Traums. So schließen die auf der Drehbühne dicht zusammengedrängten Räume, die in eine Flut aus eigenen und fremden Filmbildern getränkt werden, auch die Zeiten des Ichs bis ins Jenseits zusammen. In diesem Zwischenreich von Traum, Trauma und Wahnsinn scheinen die vergessenen und zukünftigen Subjektpositionen Schlingensiefs, wie in der bekannten Formulierung Canettis, um Hilfe zu 4.5 Mea Culpa vor der Folie der europäischen Bekenntnistradition 211 <?page no="212"?> 122 „Alles, was man vergessen hat, schreit im Traum um Hilfe.“ Elias Canetti: Die Provinz des Menschen: Aufzeichnungen 1942-1972. München: Hanser 1973, 269. 123 Nietzsche: „Ecce homo. Wie man wird, was man ist“, 297. 124 Nietzsche: „Die fröhliche Wissenschaft“, 587. 125 Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, 378. schreien. 122 Im simulierten Nahtoderfahrungsraum momenthaft zu Bewusstsein gelangend, initiieren die symbolischen Stimmen und Zeichen der Vergangenheit das Bekenntnis über die eigene Schuld, das dem Ich seine Souveränität zurück‐ erstatten soll. Bei Nietzsche bildet die Denkfigur des amor fati den Garanten für eine der‐ artige Hoheitsgewalt dem eigenen Lebensverlauf gegenüber. Bis in Schlingen‐ siefs Umwertung von Heteronomie (die Krankheit) in die Autonomie wirkt die Nietzscheanische Formel, „dass man nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht“ 123 nach. Der Philosoph sah in der maxi‐ malen Entfernung von sich selbst, die von der christlichen Beichtpraxis als einem Vorgang der Selbstobjektivierung implizit eingefordert wird, die Gefahr der Selbstvergessenheit. In einem seiner lakonischen Kommentare dazu heißt es: „[D]er Mensch, der ‚sich mittheilt‘, wird sich selber los; und wer ‚bekannt’ hat, vergisst.“ 124 Die von Nietzsche forsch kritisierte Tendenz, den bekennenden Teil von sich abzutrennen, um diesen im Du des Priesters aufgehoben zu wissen, zeigt sich bei Schlingensief in Form eines Outsourcing seiner Erinnerungen in den Raum der Kunst. Über die programmatische Behandlung der „Dinge“, die für ihn früher wichtig waren und die er nun hinter sich gelassen habe, arbeitet der Regisseur in Mea Culpa an einer Distanzierung von seinen früheren Hal‐ tungen. Gleichzeitig jedoch blickt er im Rahmen seiner Re-Lektüre des Parsifal entgegen Nietzsches Diagnose auf die Abspaltungen seines Selbst, um sich aus der Jetzt-Position sehen sehen zu können und dabei zu verändern. Als Zeichen thymotischen Aufbegehrens gegen seine Krankheit schreibt er die Fabel des Parsifal um und lässt an die Stelle des Motivs der Erlösungsbedürftigkeit dasje‐ nige des Bekenntnisses zum Leben treten. So bleibt hinter Schlingensiefs De‐ monstration seiner Liebe zum Schicksal, die mit Nietzsche die retrospektive und prospektive Akzeptanz des Lebens zu umfassen hat, zugleich sein entschiedenes „odium fati“ 125 nicht verborgen. Die Gattungsbezeichnung ReadyMadeOper, die darauf verweist, dass Fundstücke als Katalysatoren des Ichs eingesetzt werden, lässt sich ebenso sehr auf der Folie dieses odium fati lesen. 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 212 <?page no="213"?> 126 Das vollständige Allgemeine Schuldbekenntnis lautet in deutscher Sprache: „Ich be‐ kenne Gott, dem Allmächtigen, / und allen Brüdern und Schwestern, / dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe/ - ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken - / durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld. / Darum bitte ich die selige Jungfrau Maria, / alle Engel und Heiligen / und euch, Brüder und Schwestern, für mich zu beten bei Gott, unserm Herrn.“ 127 Hahn: „Identität und Selbstthematisierung“, 12. 128 Ebd., 18. 129 Ebd. 130 Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit I: Der Wille zum Wissen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, 79 f. Der im Titel der Inszenierung fragmentarisch eingeschlossene lateinische Wortlaut des klimatisch aufgebauten Allgemeinen Schuldbekenntnisses, 126 das die Gemeinde in der katholischen Messliturgie nach dem Introitus spricht, um die Barmherzigkeit Gottes zu erbitten, ruft die katholische Bekenntnis- und Beichtpraxis expressis verbis auf. Die daraus evolvierende europäische Bekennt‐ nistradition ist über den kommunikativen und rituellen Akt der Vermittlung des eigenen Inneren an eine äußere Instanz eng verbunden mit der Herausbildung eines spezifischen Individualitätsbewusstseins. Der Soziologe Alois Hahn sieht in der katholischen Beichte, deren Ziel darin liegt, die eigene Schuld zu erkennen und zu reflektieren, aus historischer Sicht einen der elementaren „Biographie‐ generatoren“ 127 des europäischen Kulturraumes. Als erzwungene Praktik, die eigene „Vergangenheit zum Thema zu machen“ 128 und sie zu rekonstruieren, reiht sich die Beichte in eine Linie mit anderen institutionalisierten autorefle‐ xiven Praktiken. Neben der Autobiographie, der psychoanalytischen talking cure und der gerichtlichen Verteidigungsrede zählt sie in der Tat zu den zentralen abendländischen Selbstdarstellungsformen, die unter je spezifischen histo‐ risch-gesellschaftlichen Bedingungen „Muster für das Reden und Denken über sich selbst zur Verfügung“ 129 stellen. Der christlichen Beichte, die seit dem vierten Laterankonzil (1215) mindestens einmal jährlich für alle Christen vorgeschrieben war, liegt funktional die Erfor‐ schung des Gewissens zugrunde, die der Idee nach Aufschluss über das eigene Tun und Lassen sowie dessen Motive und Ziele geben soll und von Foucault dementsprechend auf ihre Selbstüberwachungsmechanismen hin untersucht wurde. Auf der Grundlage eines zumindest virtuell vorhandenen Adressaten, der das Geständnis einfordere, bezeichnet Foucault das beichtende Bekenntnis als „Diskursritual […], das sich innerhalb eines Machtverhältnisses entfaltet“ 130 , und betont, dass in ihm etwas Individuelles durch ein mit sich selbst identifi‐ zierendes Subjekt einer intersubjektiven Instanz mitgeteilt werde. Aufgrund ihrer intersubjektiven Funktionalität dienen Beichte und Bekenntnis als Modelle 4.5 Mea Culpa vor der Folie der europäischen Bekenntnistradition 213 <?page no="214"?> 131 „Pastorale Konstitution Gaudium et Spes über die Kirche in der Welt von heute“, (GS 16). Zit. nach: http: / / www.vatican.va/ archive/ hist_councils/ ii_vatican_council/ documents/ vat-ii_const_19651207_gaudium-et-spes_ge.html (Zugriff am 15. April 2017). 132 Behrendt: „Ich gieße meine soziale Skulptur“, 39. 133 „Und ich hoffe natürlich, dass sich durch das Mitteilen etwas umformt oder dass man das etwas kräftiger oder besser erleben und ertragen kann“. Ebd. nicht lediglich für gerichtliche, medizinische und therapeutische Geständnis‐ formen, sondern schon seit Augustinus auch für die literarische Textsorte der Autobiographie. Der nach innen gewendete Blick in „die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen“ 131 macht nach dogmatisch christlicher Auffassung die Vergangenheit erst analysierbar und ist im Sinne der Läuterung zugleich prospektiv auf die Zukunft hin ausgerichtet. Bereits im Brief des Jakobus wird dabei der Konnex zwischen dem Bekenntnis der eigenen Schuld und der Möglichkeit einer Gesundung durch den Akt der Mitteilung selbst hergestellt. Dort heißt es entsprechend: „Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der HERR wird ihn aufrichten; und so er hat Sünden getan, werden sie ihm vergeben sein. Bekenne einer dem andern seine Sünden und betet füreinander, daß ihr gesund werdet“ ( Jak 5,15-5,16). Schlingensief knüpfte die Hoffnung auf Gesundung demgegenüber keineswegs an die göttliche Gnade, sondern erwartete sich von der kommunikativen Of‐ fenbarung und der reflexiven Ausleuchtung seiner selbst recht eigentlich die Möglichkeit seines Eingriffs in sein Schicksal. Die Antwort auf die Frage, wer schuld an der Krankheit sei, könne zwar nicht konkret am Lebensstil festge‐ macht werden, so der Regisseur, doch zu stellen sei sie unbedingt: Das hat nichts mit der Schuldfrage im Rechtswesen zu tun, das ist das Bedürfnis des Menschen, etwas tragen zu wollen. Schuldbewusstsein heißt deswegen auch, wissen, wie man eingreifen kann. Das ist doch die große Hoffnung. 132 Die Mitteilung von Schuld, die in der ReadyMadeOper auf verschiedenen Ebenen durchexerziert wird, stellt im szenischen Kosmos das Versprechen einer Umgestaltung des Lebens auf der Basis neu erlangten Wissens in Aussicht. So liegt der in theatrale Äußerungsformen gegossenen Schuldübernahme nicht le‐ diglich der entschuldigende Akt der Gewissenserforschung zugrunde, sondern auch der Versuch, die Kontingenz des Lebensverlaufs abzuwehren. Das Mitteilen könne, so die Gewissheit des Regisseurs, „etwas umformen“ 133 , das durch Ver‐ schweigen lediglich in der Latenz verbleibe. Nach exzessiv zur Schau gestelltem Widerstand gegen und Zorn über seine Krankheit in Eine Kirche der Angst trat er mit Mea Culpa in eine Phase ein, in der die Auseinandersetzung mit der ei‐ 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 214 <?page no="215"?> 134 Nietzsche: „Ecce homo. Wie man wird, was man ist“, 273. 135 Ebd. 136 Nancy: Der Eindringling. Das fremde Herz, 27. 137 Rainer Maria Rilke: „Archaïscher Torso Apollos“. In: Rainer Maria Rilke: Die Gedichte. Frankfurt am Main: Insel 2006, 483. 138 Vgl. dazu die Formulierung Nietzsches: „Als ich fast am Ende war, dadurch dass ich fast am Ende war, wurde ich nachdenklich über die Grund-Unvernunft meines Lebens […]. Die Krankheit brachte mich erst zur Vernunft.“ Nietzsche: „Ecce homo. Wie man wird, was man ist“, 283. 139 Als der Regisseur im Jahr 1998 mit der Partei „Chance 2000 - Partei der letzten Chance“ für die deutschen Bundestagswahlen kandidierte, fungierten die Schlagworte „Wähle Dich selbst“ und „Scheitern als Chance“ als Subversion der politischen Slogans. Vgl. dazu Christoph Schlingensief, Carl Hegemann: Chance 2000. Wähle Dich selbst. Köln: Kiepenheuer und Witsch 1998. genen Schuld in der Tat darauf ausgerichtet war, zu erfahren, wie man eingreifen kann. Mit dem Bekenntnis der Schuld akzeptierte er nicht lediglich den Lauf der Dinge, sondern wandelte ihn sogar zur notwendigen Folge seines Tuns und Denkens um. So führt Mea Culpa neuerlich auf Friedrich Nietzsche zurück. Das „Sich selbst wie ein Fatum nehmen, nicht sich ‚anders‘ wollen“ 134 bezeichnet Nietzsche als die „grosse Vernunft selbst“ 135 , da lediglich die Bejahung des ei‐ genen Lebens den Menschen zur Akzeptanz seiner Person als Schicksal führen könne. Unter Rekurs auf Jean-Luc Nancys Diktum „Ich bin, weil ich krank bin“ 136 arbeitete der Regisseur von Mea Culpa nicht an einer Einübung in den Tod, sondern an einem Leben mit der Krankheit. Dabei formte er die Sinnlosigkeit seiner Krankheit ebenso zu einer Bedingung seiner jetzigen Lebensführung um, wie er jene schuldigen vergangenen Ichs, die ihn zu dem gemacht haben, was er ist, aus der gegenwärtigen Perspektive heraus dekonstruierte. Daran zeigt sich sowohl die Überführung seines Lebenslaufs in eine Biographie als auch die Setzung seiner selbst als eines autonomen Ichs. Gemäß dem an sich selbst ge‐ richteten Imperativ „Du musst dein Leben ändern! “ 137 reflektiert Schlingensief in Mea Culpa die Krankheit als notwendige Zäsur, um zur Vernunft gekommen zu sein und greift somit den Topos vom Schmerz als produktiver Kraft auf. 138 Seine künstlerischen Losungsworte „Scheitern als Chance“ 139 spitzte er dabei zu einer an sich selbst gerichteten Handlungsanweisung zu: Man kann meines Erachtens voller Lust, Freude und Vorsatz scheitern. In meiner Ar‐ beit war das immer ein Scheitern, das durch die Aufhebung von Zielgerade und Ziel‐ punkt, von Raum und Zeit entstanden ist. Wenn man es innerlich schafft zu akzep‐ 4.5 Mea Culpa vor der Folie der europäischen Bekenntnistradition 215 <?page no="216"?> 140 Obrist: „Meine Arbeit hat immer mit dem Blickwechsel zu tun“, 11 f. 141 Nietzsche: „Ecce homo. Wie man wird, was man ist“, 257. tieren, dass es eines Scheiterns bedarf, um Kräfte nutzbar zu machen, wird viel passieren. 140 Der von Schlingensief in Mea Culpa schließlich reklamierten kraftvollen Ich-Po‐ sition, die sich über die automythographischen Fundstücke des Lebens kom‐ mentierend erhebt, liegt nichtsdestoweniger die intrinsische Spaltung des Be‐ kenntnisaktes zugrunde, die das Ich in doppelter Gestalt als beobachtendes Subjekt und beobachtetes Objekt exponiert. Einerseits will er die Fäden nicht aus der Hand geben und, um die Wunde zu schließen, bekennen, wer er „wirk‐ lich“ sei, andererseits jedoch soll das moi-seul im Rahmen seiner dritten auto‐ biotheatral-thanatographischen Inszenierung in seinem Verwandlungs- und Transformationsprozess begriffen werden. So dringt durch den Pseudo-Anima‐ tographen in Mea Culpa unentwegt die äußerst paradoxale Anweisung des Au‐ tobiographen Nietzsche: „H ö r t m i c h ! d e n n i c h b i n d e r u n d d e r . V e r‐ w e c h s e l t m i c h v o r A l l e m n i c h t ! “ 141 4 Mea Culpa - Künstlervita und Sündenbiographie 216 <?page no="217"?> 5 Sterben lernen? 5.1 Gewandelte Vorzeichen in Sterben lernen! Zwischen der Wiener ReadyMadeOper und dem Zürcher Projekt Unsterblichkeit kann töten. Sterben lernen! Herr Andersen stirbt in sechzig Minuten im Dezember des Jahres 2009 hatte Schlingensiefs Gesundheitszustand eine zunächst positive Wendung genommen. Durch wirksame medikamentöse Behandlung wurden seine Metastasen vorerst zum Verschwinden gebracht. Die Inszenierung, die als Koproduktion des Theater Neumarkt mit René Polleschs Calvinismus Klein am Schauspielhauses Zürich entstand, bot eine Vielzahl an Spielorten auf und knüpfte insofern an Schlingensiefs frühere Arbeiten an, als dass sie den ge‐ schützten Raum des Theaters erstmals seit seiner Krebsdiagnose wieder sprengte und der Regisseur als Akteur wieder verstärkt präsent war. Die Auf‐ führungen fanden nicht lediglich in den beiden Zürcher Theaterhäusern statt, sondern beinhalteten eine Prozession durch die engen Gassen der Zürcher Alt‐ stadt sowie eine Performance vor und im Kunsthaus Zürich. In ihrer thanato‐ graphischen Stoßrichtung schloss die Inszenierung an Mea Culpa an, doch auf‐ grund der nunmehr distanzierteren Perspektive Schlingensiefs auf den Tod unterschied sie sich doch erheblich von der ReadyMadeOper. Während der erste Teil des Titels Schlingensiefs Vorliebe für paradoxe Sprachkonstruktionen Aus‐ druck verlieh, zitierte der zweite die philosophische wie pädagogische Praxis der meditatio mortis. Der dritte Teil des Titels wiederum trug dem Umstand Rechnung, dass anstelle von Schlingensief selbst nun der sprichwörtlich Andere im Zentrum der thanatologischen Reflexionen stehen sollte. Die vierte Produktion, in der sich der krebskranke Regisseur mit seinem möglichen Sterben auseinandersetzte, war mit dem Ausrufezeichen eines sich auf dem Wege der Besserung befindenden Künstlersubjekts versehen. Der Abend fokussierte das Sterben von „Herrn Andersen“. Als symbolischer Jeder‐ mann sollte sich die Figur unter Zuhilfenahme der Sterbelehrer Meister Eckhart, Friedrich Nietzsche, Richard Wagner, Bertolt Brecht und Hugo Ball innerhalb von sechzig Minuten auf seinen eigenen Tod vorbereiten. Doch schließlich betrat doch Schlingensief mitsamt seiner Prozessionsgemeinde die Bühne des Schauspielhauses und wurde von Martin Wuttke, dem Protagonisten von Cal‐ vinismus Klein, als potentiell Sterblicher dem Publikum vorgestellt. Simone Meier sah in diesem Moment im Sinne des Stellvertreter-Prinzips „recht eigent‐ <?page no="218"?> 1 Simone Meier: „Rührung ist zwar voll yesterday, aber doch nicht ganz zu vermeiden“. In: tagesanzeiger.ch, 7. Dezember 2009. http: / / www.tagesanzeiger.ch/ kultur/ theater/ Ruehrung-ist-zwar-voll-yesterday-aber-doch-nicht-ganz-zu-vermeiden/ story/ 28352131 (Zugriff am 15. April 2017). 2 Ebd. 3 Ebd. 4 tan/ sda: „Schwerkranker Schlingensief spielt im Schauspielhaus“. In: Tagesanzeiger, 5. Dezember 2009. http: / / www.tagesanzeiger.ch/ kultur/ theater/ Schwerkranker- Schlingensief-spielt-im-Schauspielhaus/ story/ 29486892 (Zugriff am 15. April 2017). 5 Christian Gampert: „Sterbelehre einmal anders“. In: deutschlandfunk.de, 5. Dezember 2009. http: / / www.deutschlandfunk.de/ sterbelehre-einmal-anders.691.de.html? dram: article_id=53583 (Zugriff am 15. April 2017). 6 Barbara Villiger Heilig: „Gebetsmühlentheater: René Pollesch zeigt am Schauspielhaus Zürich ‚Calvinismus Klein‘“. In: Neue Zürcher Zeitung, 7. Dezember 2009. 7 Ulrich Weinzierl: „Seid nett zu den Eidgenossen! “. In: Welt Online, 7. Dezember 2009. http: / / www.welt.de/ kultur/ theater/ article5448961/ Seid-nett-zu-den-Eidgenossen.html (Zugriff am 15. April 2017). lich Christus auf der Bühne“ 1 stehen und schloss mit dem unverkennbar ironisch konnotierten Ausruf: „Was für ein Theatermoment.“ 2 Der scharfzüngige Tonfall im Kommentar Meiers entspricht dem Tenor der vorwiegend lokal rezensierten Produktion. Der von der Journalistin so bezeichnete „Pollensief “ 3 zeigte aus der Sicht der meisten Kritiker nur mehr am Rande jene schonungslose, mitunter kitschig und pathetisch überhöhte Selbstentblößung, die noch das Publikum von Eine Kirche der Angst, Der Zwischenstand der Dinge und Mea Culpa unweigerlich zur Gemeinde von Mitfühlenden gemacht hatte. So fanden die Kritiker, nicht zuletzt bedingt durch den nunmehr stabilen Gesundheitszustand des Regisseurs, wieder zu jenen Kategorisierungen zurück, die Schlingensiefs Schaffen seit je als überspannt disqualifizierten. Christian Gampert bezeichnete den Abend in einer Meldung des Tagesanzeiger als „sinnige[n] Nonsens“ 4 und sah in Schlin‐ gensiefs Gebrauchsanweisung, innerhalb von sechzig Minuten das Sterben zu lernen, „eine seiner typisch ambivalenten Parolen“ 5 . Für Barbara Villiger Heilig lag der tiefere Sinn des Exerzitiums von Herrn Andersen sogar gänzlich im Ver‐ borgenen. Im Rahmen der Koproduktion würden „Insider sich selber auf Kosten der Theatergäste“ 6 feiern. Für Ulrich Weinzierl hatte die Produktion nur mehr den „Beigeschmack emotionaler, existenzieller Wahrhaftigkeit“ 7 , der offensicht‐ lich mache, dass es um den Künstler nicht schlecht bestellt sein kann, solange er seine Krebskrankheit noch zum Tod des Anderen inszeniere. Erst in der Betrachtung der Produktion Sterben lernen! , in der Schlingensief seine existentielle Verfassung zumindest dem Titel nach in die des Anderen auf‐ löste, fanden die Kritiker wieder zu normativen Bewertungskriterien zurück und subsumierten Schlingensiefs Wirken unter die Labels der lauten Provokation 5 Sterben lernen? 218 <?page no="219"?> 8 Vgl. Jankélévitch: Der Tod, 12. und des maßlosen Spektakels. Die kunstreligiöse Ritualisierung des leidenden Ichs hatte sich in den Augen der Rezensenten in ein Event transformiert, das aufgrund der gestärkten physischen Position des Regisseurs wieder nach den Maßstäben eines Kontroversen auslösenden Theaterabends zu begutachten war. Trotz der propositional im Titel angedeuteten Verlagerung vom Ich (mea res agitur) zum Er (sua res agitur) blieb das Rezeptionsmotiv der Selbstinszenierung in den Besprechungen ungebrochen präsent. Die Art und Weise jedoch, in der die Inszenierung den philosophischen Diskurs des Sterbenlernens inkorporierte, kam nicht zur Sprache. In der Tat war die theatrale Fiktionalisierung des Auto‐ biographischen in der Zürcher Inszenierung nach wie vor konstitutiv. Allerdings hatte sich die Erscheinungsweise des Autobiotheatralen im Vergleich zu den vorangegangenen Arbeiten erheblich modifiziert. Mit der Titelfigur Herr An‐ dersen verlagerte Schlingensief den Diskurs um Krankheit und Sterben voll‐ ständig in das Metaporträt des Sterbenden, das er selbst aus fingierter Distanz kommentierte. Auf diese Weise entstand ein metareflexives Spiel um das Ich, das lernen muss, zu sterben. 5.2 Nachdenken über den Tod - Die philosophische Formel des Sterbenlernens Die Beschäftigung mit dem unerhörten factum brutum des Sterbens bildet nicht lediglich eines der zentralen abendländischen Rahmenthemen der Kunst. Die Auseinandersetzung des Ichs mit dem eigenen Tod stellt geradezu das originäre Movens der Philosophie seit Platon/ Sokrates dar. Je nach philosophischer Schule, gedanklicher Ausrichtung, historischer und theologischer Dispositive haben die philosophischen Denker über die Jahrhunderte hinweg eine Vielzahl an Ansätzen ausformuliert, wie der Mensch sein Sterben denken und der Vor‐ stellung vom Tod begegnen soll. Im Wie der Frage nach dem Tod zeigt sich der enge Konnex zwischen den künstlerischen und philosophischen Todesmetaphern. Von Anfang an rückten die Philosophen nicht die Ergründung eines transzendenten Wissens und den Zugang zur jenseitigen Welt in den Mittelpunkt ihrer Abhandlungen, sondern zuallererst die tröstende Auseinandersetzung mit dem Tod, 8 die aus der Refle‐ xion von Bildern für die unvorstellbare Vorstellung vom Nichts erwachsen sollte. Auch die abendländische Philosophie als Thanatologie operiert bei der Vermittlung lebenspraktischer Maximen für die adäquate Einstellung zum ei‐ 5.2 Nachdenken über den Tod - Die philosophische Formel des Sterbenlernens 219 <?page no="220"?> 9 Georg Scherer: Das Problem des Todes in der Philosophie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988, 92. 10 Vgl. Platon: „Phaidon“, 38 ff. 11 Karl Jaspers: Plato. München: Piper 1976, 44. 12 Macho: Todesmetaphern, 51. 13 Platon: Apologie des Sokrates. München: Beck 2011, 61. genen Sterben seit jeher mit Metaphern und Symbolen. Erst Heidegger, der für Schlingensiefs Sterben lernen! zentrale Bezugspunkte liefert, wird sich im 20. Jahrhundert im Rahmen seiner Fundamentalontologie als einer der ersten Philosophen von der vergleichenden Rede über den Tod abgrenzen. Mit den Dialogen Die Apologie des Sokrates (399 v. Chr.) und Phaidon (385-378 v. Chr.) stellt Platon die ersten beiden fundierten Auseinanderset‐ zungen mit dem subjektiven Todesbezug in der europäischen Geistesgeschichte vor und verleiht dem Todesbedenken aus der Sicht Georg Scherers dabei „jene Gestalt, welche das abendländische Denken bis in die Gegenwart bestimmt.“ 9 Platon legt Sokrates als Protagonist seiner Schriften Reflexionen über die Frage des Verhältnisses zum eigenen Tod in den Mund und antizipiert mit der Quint‐ essenz der Dialoge, dass Philosophie nämlich nichts anderes sei als eine „Ein‐ übung in den Tod“ 10 , die philosophisch-therapeutische Formel vom Sterben‐ lernen. Seiner Zwei-Welten-Lehre verpflichtet, ordnet Platon dabei den Leib des Menschen einem sichtbaren Teil und dessen Seele „der ewigen Welt der blei‐ benden Ideen“ 11 zu. Im Tod verlasse der Mensch lediglich die sichtbare Welt, die unsterbliche Seele jedoch lebe weiter und könne zur Ideenschau gelangen. Der Tod als Ausgang der Seele aus dem Korsett des Körpers macht das Sterben für Platon zum erstrebenswerten Telos des Lebens. In der Apologie des Sokrates betritt erstmals ein Denker das philosophische Parkett, der den Tod nicht als fehlenden sinngebenden Baustein in den kosmo‐ logischen Weltzusammenhang einbettet, sondern das eigene Verhältnis zum Sterben ins Zentrum seiner Reflexionen rückt. Dieser Umschlag von einer ob‐ jektivitätsorientierten Todesbeschäftigung in eine subjektiv perspektivierte er‐ kenntnistheoretische Auseinandersetzung geschieht durch Sokrates im Ange‐ sicht seines tatsächlich bevorstehenden Todes. Vom athenischen Gericht zum Tod verurteilt, wandelt der Philosoph seine Strafe „in einen beispielhaften und autarken Tod“ 12 um und gelangt in dialogisch abwägender Auseinandersetzung mit dem Todesgedanken zum Schluss, dass der Tod einen wünschenswerten Zustand darstelle: „Entweder ist es eine Art Nichtsein, sodass der Tote keinerlei Empfindung hat von irgend etwas, oder es ist […] eine Art Verpflanzung und Übersiedelung der Seele von hier nach einem anderen Ort.“ 13 Platons Sokrates 5 Sterben lernen? 220 <?page no="221"?> 14 Ebd. 15 André Ruellan: Die Kunst zu sterben. Ein Lehrbuch. Wiesbaden: Limes 1980, 60. 16 Vgl. dazu Hans Ebeling: „Einleitung: Philosophische Thanatologie seit Heidegger“. In: Hans Ebeling (Hrsg.): Der Tod in der Moderne. Königstein 1979, 11-31. 17 Platon: Apologie des Sokrates, 63. 18 Platon: „Phaidon“, 44. 19 Ebd., 43. trifft die Entscheidung, dass der Tod so gesehen „ein wunderbarer Gewinn“ 14 sei, ganz im Sinne des ironischen Kommentars von André Ruellan: „Ein beson‐ nener Mensch wählt sein Jenseits vor dem Tode, um zu vermeiden, dass er an einen Ort gelangt, den er nicht kennenzulernen wünschte.“ 15 Sowohl der Zu‐ stand vollkommener Anästhesie wie auch die Vorstellung, durch den Tod in eine andere Sphäre zu gelangen, erscheinen Sokrates als aussichtsreich. Der im Kon‐ text seiner Entstehungszeit einzigartige subjektivierte Todesbezug, in dem das Gute die wahrscheinlichste Möglichkeit darstellt, formt den Tod zum Korrelat eigener Erwartungen und Wünsche um und präfiguriert zwei machtvolle phi‐ losophisch-metaphorische Todesbezüge: den bewusstlosen Schlaf, den spätes‐ tens Shakespeares Hamlet von dessen friedlicher Implikation befreit, und die christliche Jenseitsvorstellung, deren Zusammenbruch im 20. Jahrhundert durch Heidegger mit einer „Inversion der Thanatologie“ 16 zusammenfällt. Im Phaidon weicht der Tod als traumloser Schlaf der in der platonischen Ide‐ alitätsphilosophie verankerten verheißungsvollen Gewissheit, durch das Sterben in eine andere Welt zu gelangen, in der die Lösung der Seele vom Körper eine Reinigung bewirke. In Entsprechung zu Platons metaphysischer Konstruk‐ tion der Ideenwelt liege in der Loslösung vom Materiellen das eigentliche Telos des philosophischen Lebens. Da es „für den rechtschaffenen Mann kein Übel gibt, weder im Leben noch im Tode“ 17 , müsse der philosophierende Mensch den Tod nicht fürchten. Nach mäeutischem Prinzip gelangt Sokrates ausgehend von der Überzeugung, dass „nur die wahren Philosophen […] beständig und intensiv danach [streben], die Seele zu befreien“ 18 , zur Einsicht, dass sich der Mensch, der seine reflexive Autonomie im Akt des Denkens erreiche, den Tod wünschen müsse: Wenn sie [die Philosophen] vollkommen vom Körperlichen unabhängig wären und wünschten, die Seele frei vom Körper zu haben, wäre es dann nicht die größte Dumm‐ heit, statt in Freuden dahin gehen zu wollen, sich zu fürchten und sich unwillig zu gebärden? Denn sie haben doch genau die Hoffnung, genau das zu erlangen, was sie im Leben an Weisheit ersehnten, und frei von der Abhängigkeit von alledem zu werden, was ihnen zuwider war, nicht wahr? 19 5.2 Nachdenken über den Tod - Die philosophische Formel des Sterbenlernens 221 <?page no="222"?> 20 Epikur: „Brief an Menoikeus“. In: Ders.: Von der Überwindung der Furcht. Katechismus, Lehrbriefe, Spruchsammlung, Fragmente. Zürich: Artemis 1968, 101. 21 Ebd. Durch diese positive Jenseitsausmalung präfigurieren Platon und Sokrates die christliche Vorstellung vom Paradies. Mit der Vision vom Tod als Übersiedelung der Seele entwerfen sie das Bild vom Sterbenden als einem (Aus)-Wanderer, der im Jenseits nicht nur seinen Freunden wiederbegegnet, sondern auch Bekannt‐ schaft mit all jenen macht, die schon lange tot sind. Im platonisch-sokratischen Entwurf des Lebens nach dem Tod geht die chronologische Welt-Zeit in einer anachronistische All-Zeit auf, die einem Gefäß gleich die Fülle der Erfahrungen des Lebens enthält. Durch die Projektion von Wunschbildern auf das Jenseits wird das philosophierende Denken in eine metaphorisierende Tätigkeit über‐ führt, die den Tod sinnbildlich mit Leben füllt und bildlich fassbar macht. Der Metaphorik Platons, die den Tod zu einer im Leben nicht zugänglichen Fülle euphemisiert, hält Epikur ein leeres Bild entgegen. Da der Mensch im Tod kein Bewusstsein mehr habe, könne er zwar als das „schauerlichste Übel“ 20 imaginiert, nicht aber als solches erfahren werden. Die vollkommene Taubheit widerstehe jedem Bild. Da der Tod nicht sei, solange der Mensch Bewusstsein habe, und das Bewusstsein nicht mehr existiere, sobald der Tod eingetreten sei, gelangt Epikur zu dem schlichten Schluss, „dass der Tod uns nichts angeht“ 21 . So erfolgt die Nivellierung der Todesfurcht bei Epikur paradoxerweise in Kon‐ sequenz einer radikalen Negation von postmortaler Erfahrungsmöglichkeit. Das von Epikur formulierte nihil ad nos zeigt die wahrnehmungsästhetische Un‐ möglichkeit, im Sterben die Positionen des Erlebenden und Beobachtenden, wie Schlingensief in Mea Culpa fingiert, aufzuspalten und gleichzeitig einzunehmen. Da er nicht Zeuge seines eigenen Gestorbenseins wird, kann er vom Tod auch nichts wissen. Gerade dieses Nichtsein des Todes ermögliche es dem Menschen, sich dem Leben zuzuwenden und dieses nach epikureischem Lustprinzip zu ge‐ stalten. Epikurs dezidierte Lebensbejahung basiert freilich auf einer tenden‐ ziös-sensualistischen Position, wonach die Empfindung im Hier und Jetzt Grundlage jeglicher Wahrnehmung sei und jedes transzendentale oder meta‐ physische Nicht-Wissen, wie es am Ursprung der Metapherngeschichte des Ab‐ soluten steht, von Vornherein aus der Rechnung ausgeklammert bleiben müsse. Noch die Philosophie Wittgensteins ist von den Spuren des epikureisch-sensu‐ alistischen Diktums von der Unreflektierbarkeit des Todes durchzogen. Ausge‐ hend von seinem Bonmot, wonach über dasjenige zu schweigen sei, über das man nicht sprechen könne, kommt der Sprachanalytiker zu dem exklusivie‐ renden Schluss, dass der Tod, indem er sich dem direkten Erlebnis und infolge‐ dessen der Erkenntnis entziehe, philosophisch überhaupt nicht sinnvoll behan‐ 5 Sterben lernen? 222 <?page no="223"?> 22 Ludwig Wittgenstein: Logisch-philosophische Abhandlung. Kritische Edition (= Tractatus logico-philosophicus). Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, 6.4312. 23 „Tota enim philosophorum vita, ut ait idem, est commentatio mortis“. Marcus T. Cicero: Gespräche in Tusculum. München u. a.: Artemis 1984, I, 75. 24 Seneca: Über die Kürze des Lebens. München: Hueber 1949, 7. 25 Manfred Wacht: „Meléte thanátou - Meditatio mortis. Zur Wirkungsgeschichte einer platonischen Bestimmung der Philosophie“. In: Georg Schöllgen u. a. (Hrsg.): Jahrbuch für Antike und Christentum. Münster: Aschendorff 2011, 13. delt werden könne: „Die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit.“ 22 Die römische Philosophie fasste den platonisch-sokratischen Imperativ des reflektierenden Einübens schließlich als Vorübung des Todes. Der römische Konsul Cicero spitzte das melete thanatou mit der Formel des mori discere zu. Unter explizitem Bezug auf Platon/ Sokrates äußert er seine Überzeugung, dass „das ganze Leben der Philosophen […] eine Bekümmerung um den Tod“ 23 sei und bezieht das Prädikat des Lernens unmittelbar auf den Vorgang des Sterbens. Die im Phaidon als Kern philosophischer Tätigkeit ausgewiesene Bewusstwer‐ dungstechnik des „wiederholten Todesgedenkens“ (griech. meléte, Wiederho‐ lung; thanátou, Tod) erhält spätestens in der lateinischen Umformung zur me‐ ditatio mortis den Charakter einer konkreten Aneignungsübung. Der sich mit dem Leben wahrhaft reflexiv auseinandersetzende Mensch sollte sich der Idee nach bewusst auf das Sterben hin einrichten. Zur meditatio mortis nicht lediglich sprachlich, sondern mit dezidiert pädagogischer und konsolatorischer Ausrich‐ tung umgeformt, hatte sich die Maxime Platons im römischen Denken erheblich transformiert. Die Meditation, nun explizit als Probe verstanden, folgte dem Ziel, auf die Erfahrung des Todes vorauszuschauen, um sich schließlich von der Angst zu befreien und bewusster zu leben. Der römische Stoiker Seneca gelangte zur Überzeugung, dass man „[e]in Leben lang […] sterben lernen“ 24 müsse. Das „seelsorgerliche Anliegen“ 25 Senecas verlieh Platons/ Sokrates’ Auffassung von der Einübung in den Tod als einer Vorausschau auf die gedankliche Trennung von Seele und Leib eine bis dahin ungekannte lebenspraktische Dimension. Der römische Philosoph erhoffte sich von der philosophischen meditatio mortis als praktischem Lernziel eine permanente Todesbereitschaft. Der Übende soll zwei‐ erlei lernen: Zum einen soll ihn die Vorübung mit dem Tod vertraut machen, zum anderen soll sie ihn den bewussten Genuss des ohnehin zu kurzen Lebens lehren. Seneca gelangt zu dem Schluss, dass es wenig sinnvoll sei, den Genuss des Lebens auf später zu verschieben, da sich in diesem Später die Zeit immer mehr verkürze. In einer Apostrophe an sein Lesepublikum bringt er den inneren Widerspruch zum Ausdruck, der jeder Lebensführung eignet, die nicht aus dem 5.2 Nachdenken über den Tod - Die philosophische Formel des Sterbenlernens 223 <?page no="224"?> 26 Seneca: Über die Kürze des Lebens, 9. 27 Vgl. dazu Michel Foucault: „Die Hermeneutik des Subjekts“, 434 ff. 28 Jacques Derrida: Aporien. Sterben - auf die „Grenzen der Wahrheit“ gefaßt sein. München: Fink 1998, 16. 29 Michel de Montaigne: Essais. Erstes Buch. München: dtv 1998, 126. Gefühl der Endlichkeit heraus operiert: „Alles fürchtet ihr wie Sterbliche, alles wünscht ihr euch wie Unsterbliche.“ 26 Die von Michel Foucault als Topos gefasste „Übung des letzten Tages“ 27 hat Senecas Desiderat längst in die floskelhafte Rede „Lebe jeden Tag, als sei es dein letzter“ aufgelöst. In diesem Imperativ fungiert der Tag als Metonymie für das ganze Leben. Der große Kreislauf des Lebens wird ins Bild des einen Tages ge‐ bannt und der einzelne Tag ist, umgekehrt, Nukleus und Möglichkeitsform für das gesamte Leben. Das pars pro toto eines einzigen geglückten Tages, der als möglicher letzter bewusst imaginiert wird, biete, so die optimistische Hypothese dieser Haltung, die Voraussetzung für eine befriedete Rückschau am Ende eines Lebens. Die Pointe von Senecas philosophischem Therapieangebot liegt in der Synthese aus platonisch-sokratischem und epikureischem Todesbedenken. Zum einen konkretisiert Seneca die Forderung Platons, dass der Tod ständig bedacht werden müsse, und nimmt dabei eine Gegenposition zu Epikur ein, dessen me‐ lete thanatou gerade in der Ignoranz des Todes liegt. Zum anderen schließt sich Seneca Epikurs Auffassung vom Tod als einem Übel an und sieht die Essenz des Sterbenlernens nicht mehr wie Platon/ Sokrates in der Erfahrung des höchsten Ziels des Philosophierens. Die Übernahme von Epikurs Negation transzenden‐ taler Existenz führt, gepaart mit dem platonisch-sokratischen Imperativ, den Tod vor dem inneren Auge zu fokussieren, vielmehr zu der Position, dass ein glück‐ liches Leben nur für denjenigen möglich sei, der ständig auf den Tod gefasst sei, ohne dessen Eintreten jedoch zu fürchten. Jacques Derrida hat die der Thana‐ tologie Senecas zugrunde liegende „Rhetorik der Grenze“ 28 darin zu erkennen geglaubt, dass der Philosoph das diesseitige Leben als individuelles Eigentum begreife, das der Tod raube. Der Kern von Senecas Rede vom Leben als Eigentum, das innerhalb der bildlichen Ordnung vom raubenden Tod bedroht ist, liegt in der Zuweisung von Verantwortung an den Menschen. Übernimmt der Mensch die Verantwortung für sein Leben nicht, so verliert sein Eigentum an Wert. Ein letztes Mal in der europäischen Philosophiegeschichte greift Michel de Montaigne die Idee des Sterbenlernens explizit auf. In der von ihm erfundenen philosophischen Schriftgattung des Essais prägt Montaigne unter konkretem Bezug auf Ciceros discendi mori den Leitsatz „Philosophieren heißt sterben lernen“ 29 . Für den Philosophen des 16. Jahrhunderts war das Denken ein Antidot gegen die Verdrängung des Todes durch den Menschen, der dem Irrglauben 5 Sterben lernen? 224 <?page no="225"?> 30 Ebd., 130. 31 Nassehi, Weber: Tod, Modernität und Gesellschaft. Entwurf einer Todesverdrängung, 11. aufsitze, „aufgeschoben sei aufgehoben“ 30 . Montaigne empfiehlt, den Tod überall zu erwarten und benennt drei Faktoren, die eine geistige Versöhnung mit dem Todesgedanken befördern können: 1. verhindere die Gewöhnung an den To‐ desgedanken den Zustand permanenten Schreckens, 2. gebe die Natur dem Menschen durch das Altern ohnehin die Möglichkeit, sich schrittweise an den Tod zu gewöhnen und 3. schütze die Einrichtung der Sterblichkeit vor der Lan‐ geweile. Die Position Montaignes, die der epikureischen Ignoranz gegenüber dem Tod diametral entgegensteht, ist bis heute für folgendes naheliegende Pos‐ tulat in Soziologie, Anthropologie, Psychologie, Biologie und Medizin gültig: „Sterblich ist nur der Lebende. Ihn geht der Tod unbedingt an.“ 31 Die Formulie‐ rung der Soziologen Armin Nassehi und Georg Weber besagt im Kern nichts anderes, als dass Sterbenlernen und Lebenlernen ein- und dieselbe Sache seien. 5.3 Kunst als Können des Nichtkönnens 5.3.1 Theatrales Sterbeexperiment des Anderen Schlingensiefs vierte thanatographische Inszenierung inkorporiert die wech‐ selvolle und dabei doch stets auf das Konstrukt der reflektierenden Einsicht in das Unsagbare fokussierte Geschichte der philosophischen Rede vom Sterben‐ lernen seit der Antike. Auf das Fluxus-Oratorium Eine Kirche der Angst, in dem die Gefahr des drohenden Todes durch ein theatrales Mess-Ritual gebannt werden sollte und die ReadyMadeOper Mea Culpa, in der Schlingensief mit ver‐ schiedenen autofiktionalen Blickpositionen den symbolischen Tausch als wech‐ selseitige Transgression zwischen Jenseits und Diesseits erprobt, folgt mit der vieraktigen Inszenierung am Zürcher Theater Neumarkt Ende des Jahres 2009 eine theatrale Auseinandersetzung mit philosophischen, mystisch-religiösen und künstlerischen Modi der Einübung in den Tod. Bereits im dritten Akt von Mea Culpa löst sich die Figur des Christoph von jenem platonischen Bild der Auswanderung an einen besseren Ort, das der christlichen Jenseitsvorstellung zugrunde liegt, und akzeptiert stattdessen seine Begrenzung im Diesseits. In Sterben lernen! schließlich werden gleich mehrere verschiedene Wege der phi‐ losophischen Einübung in den Tod erprobt. Der Regisseur selbst erscheint mithin als theatraler Sterbelehrer, der die Fäden in der Hand hält. Das selbst‐ inszenatorische Moment des Autobiographischen, das nunmehr am Anderen 5.3 Kunst als Können des Nichtkönnens 225 <?page no="226"?> 32 Im entsprechenden Blogeintrag stellt er überdies eine Verbindung zwischen den beiden Recherchearbeiten Der Zwischenstand der Dinge und Sterben lernen! Herr Andersen stirbt in sechzig Minuten her. Vgl. Christoph Schlingensief: „Proben haben begonnen“, 18. November 2009. In: Schlingenblog. Persönliches Blog von Christoph Schlingensief. https: / / schlingenblog.wordpress.com/ (Zugriff am 15. April 2017). 33 Theater Neumarkt (Hrsg.): Christoph Schlingensief: „Unsterblichkeit kann töten“ Sterben lernen! Herr Andersen stirbt in sechzig Minuten [Programmheft zur Produktion]. Zürich 2009, o. S. durchexerziert wird, hat sich dabei auf eine Metareflexion des sterbenden Künstlers verlagert. Wie bereits den Zwischenstand der Dinge, der die mediale und textliche Vor‐ lage des Fluxus-Oratoriums darstellt, wies Schlingensief Sterben lernen! mit dem Etikett „Brainstorming“ 32 als Recherchearbeit aus. Der investigative Charakter der Nachforschungen über die Möglichkeiten des Sterbenlernens zeigt sich indes im mystisch-philosophischen Duktus der Inszenierung. Die nach nur kurzer Konzeptionsphase auf die Bühne gelangte „spontane Koproduktion“ 33 mit René Polleschs Calvinismus Klein am Schauspielhaus Zürich war zunächst sogar als einmalige Veranstaltung geplant, in der Ergebnisse einer halböffentlichen Lek‐ türe von Texten über das Sterben vorgestellt und diskutiert werden sollten. Der kurzfristig auf den Spielplan gesetzten Produktion entspricht das erheblich vom Fluxus-Oratorium und der ReadyMadeOper abweichende Setting. Hatte Schlin‐ gensief zuvor noch Kirchenraum und Drehbühne für die Untersuchung seiner Todesangst aufgeboten, so verfügte Sterben lernen! nicht einmal über ein eigenes Bühnenbild. Bespielt wurde stattdessen die mit Plüschboden überzogene Bühne von Martin Kušejs Inszenierung von Theo van Goghs Das Interview, die nur wenige Tage zuvor Premiere feierte. Die Inszenierung überführt die traditionsreiche thanatologische Denkfigur des Sterbenlernens in ein theatrales Experiment über die lebenspraktische Wirk‐ samkeit des philosophisch-therapeutischen Konzepts der melete thanatou. Auf programmatische Weise wird das Sterbenlernen im Rahmen der Theaterarbeit allerdings delegiert. Der dem Tod geweihte Herr Andersen muss sterben, und zwar in einer Weise, die Shakespeares Macbeth thematisiert: „As one that had been studied in his death“ (Macbeth, I, IV ). Trotz des bereits durch den Titel ostentativ angekündigten Rückzugs Schlingensiefs gehört bereits der erste Auf‐ tritt in Sterben lernen! nichtsdestotrotz ihm selbst. Als Conférencier klärt er das Publikum über seinen aktuellen Gesundheitszustand auf, stellt das ideelle Grundgerüst des Abends vor, die Alleinstellungsmerkmale seiner Kunst, in der es in erster Linie um „Selbsterfahrung“ gehe, und skizziert den Ablauf der Auf‐ führung. Im experimentell-theatralen Modus des Als-ob wolle er mit seiner In‐ szenierung verschiedene reflexive Zugänge zu den letzten Fragen des Menschen 5 Sterben lernen? 226 <?page no="227"?> 34 Ebd. 35 Kurt Tucholsky: „Befürchtung“. In: Weltbühne, 28 (9. Juli 1929), o. S. 36 Ebd. durchspielen. Nicht er selbst, sondern der titelgebende Andere stehe dabei al‐ lerdings im Zentrum. Mit dem Rahmen der erzählten Zeit fasst er die Formel mors certa hora incerta ironisch. Der von Jean Chaize verkörperte Protagonist erfährt in Folge einer akuten Magenkrebsdiagnose, dass ihm lediglich eine Stunde zu leben verbleibt und wird sich gewahr, dass er innerhalb kürzester Zeit das Sterben lernen muss. Dabei entpuppt sich die im Zuge des einstündigen Theaterabends in die Übung der letzten Stunde verkürzte philosophische Rede von der Übung des letzten Tages als unlösbare Aufgabe. Trotz der Unterstützung seiner Ehefrau, der beiden gemeinsamen Töchter sowie Beuys von Hagens - einer der Ästhetik der Über‐ malung verpflichteten Kreuzung aus Joseph Beuys und dem Leichenplastinator Gunther von Hagen - sowie des prophetischen Heilsbringers Graf von Hospiz, der die Propädeutik des Sterbens versinnbildlicht, gelingt ihm die Einübung in den Tod nicht. Die Spielvorlage der Inszenierung, die Textfragmente von im Programmheft so bezeichneten „Sterbelehrern“ 34 , von den Mystikern Meister Eckhart und Nikolaus von Kues, über die Philosophen Friedrich Nietzsche, Jean-Luc Nancy, Slavoj Žižek und Boris Groys bis hin zu den Künstlern Johann Wolfgang von Goethe, Bertolt Brecht, Robert Gernhardt und Hugo Ball zu einer dramatischen Collage zusammenschließt (vgl. Abb. 38), vermittelt philosophi‐ sche, nicht aber praktische Einsichten in das Herrn Andersen unmittelbar Be‐ vorstehende. Seine Beschäftigung mit diesen selbstbewussten „Botschaftern des Todes“ 35 offenbart sich im Angesicht seines eigenen Todes als konsolatorisches Paradox. Denn die Lehrer haben ihrem Schüler gegenüber gerade keinen Er‐ kenntnisvorsprung, weshalb Tucholsky im Tod „die wahrste aller Demokra‐ tien“ 36 sieht. 5.3 Kunst als Können des Nichtkönnens 227 <?page no="228"?> Abb. 38: Zentrale Intertexte in Sterben lernen! Von dieser Erkenntnis getragen, wendet sich Andersen von der theoretischen Beschäftigung mit dem Sterbenlernen zunächst ab, um sich in künstlerisch tä‐ 5 Sterben lernen? 228 <?page no="229"?> tiger Weise mit dem Tod auseinanderzusetzen und das Sterben auf Probe the‐ atral-rituelle Wirklichkeit werden zu lassen. Graf von Hospiz stellt ihm ein per‐ sönliches „Adventure des Sterbens“ in Aussicht. Und tatsächlich, begleitet vom Choral „Es ist soweit. Nun musst du Abschied nehmen“, kanalisiert er sein Leid in eine performative Passion. Den Kopf mit einem Dornenkranz besetzt, flüchtet er sich in die mythologische Identifikationsfigur Jesus. Er nimmt das Kreuz auf die Schultern, um sich gemeinsam mit seiner als Jungfrau Maria verkleideten Frau, seinen Kindern und Sterbelehrern, sowie einem Chor aus Ministranten und dem Theaterpublikum auf die Spuren Jesu Christi zu begeben (vgl. Abb. 39). Der Aktionszug, der die Rezipienten der Aufführung zu Beteiligten eines quasi-religiösen Happenings macht - ähnlich ritualisiert wurden schon die Besucher der Messe in Eine Kirche der Angst -, zitiert zwar die religiöse Notation einer Prozession, ersetzt die Kreuzwegstationen und den Kirchenraum als deren konzentrisches Zentrum allerdings durch Stätten der Kunst. Die von Kirchengesang sowie der wechselnden Einspielung von Filmmusiken Nino Rottas und James Horners begleitete „Aktion Aufrecht Sterben“ führt den unter der Last seines Kreuzes mitunter zusammenbrechenden Andersen und die Pilgergemeinde durch die Gassen der Zürcher Altstadt hindurch und schließlich zur ersten und einzigen Kreuzwegstation im nahegelegenen Kunsthaus, wo die Einübung in den Tod zu einer Sterbeperformance gerät: Hinter einer zur Straße hin offenen Glaswand, auf der die Aufschrift „Das Sterbenlernen in der Kunst“ prangt, stirbt Andersen probeweise im Beisein seiner Familie zum Klang von „Isoldes Verklärung“. Das artifizielle Sterbebild überlagert die Dimension mys‐ tischer Innerlichkeit mit ästhetischen Metareflexionen. Mit verklärter Miene formuliert Andersen im Beisein der trauernden Familie, seinen Zustand kör‐ perlicher und geistiger Entrückung. Doch auch als Protagonist dieses gro‐ tesk-kitschigen tableau vivant des Todes - Andersen liegt in einem von Kerzen umgebenen Sarg - vermag er keine Vor-Erfahrung des Sterbens zu erhalten (vgl. Abb. 40). Das Pathos der mit dem Tristan-Finale ausgemalten unio mystica schürt in Beuys von Hagen allerdings die Assoziation zur Kunst, die dem labilen Zu‐ stand des Weder-hier-noch-da Form zu verleihen vermag: Das muss man mal in einer Installation rüberbringen. In einer Installation, die keine stringente Logik hat. Also auch keine Drehbühne, was ich ja sonst so liebe am Theater. Diese Wechsel. Da guckt man in einen Kasten rein und dann denkt man, jetzt hat man die Lösung. Nein doch nicht. Jetzt hat man die Lösung. Nein auch nicht. Was ist’n los? Warum spielt denn der nicht weiter. Wo ist denn jetzt der Gedanke hin? 5.3 Kunst als Können des Nichtkönnens 229 <?page no="230"?> Abb. 39: Herr Andersen trägt das Kreuz Abb. 40: Herr Andersen erprobt das Sterben im Rahmen einer Performance 5 Sterben lernen? 230 <?page no="231"?> 37 Zur Allmachtsfigur Mabuse vgl. Chion: La voix au cinéma, 26 ff. 38 Mit den Worten „Bleiben Sie hier und kommen Sie mit! “ handelt es sich abermals um eine ambivalente Aufforderung. 39 Vgl. hierzu die Publikationen: Robert Pfaller: Ästhetik der Interpassivität. Hamburg: Philo Fine Arts 2008; Ders. (Hrsg.): Interpassivität. Studien über delegiertes Genießen. Wien: Springer 2000. 40 Robert Pfaller: „Einleitung“. In: Ders. (Hrsg.): Interpassivität. Studien über delegiertes Genießen. Wien: Springer 2000, 4. Schlingensief unterbricht den Sterbeversuch in der Kunst. Unterlegt vom O-Ton „Habemus Papam“ verkündet er als Papst Mabuse verkleidet - eine Namens‐ kombination aus Chiffren der Allmacht 37 - über Megafon, dass auch er dem Anderen beim Sterben nicht helfen könne (vgl. Abb. 41). Die Prozessionsge‐ meinde animiert er dazu, ihm stattdessen in das Schauspielhaus Zürich zu folgen, um dort künstlerische Impulse aufzuspüren. 38 Die in das Gemeinschafts‐ projekt mit Schlingensiefs Sterben lernen! eingehende Aufführung von René Polleschs Calvinismus Klein hält eine zweifelhafte Anregung für die theatrale Sterbeübung bereit. Der Inszenierung liegt das philosophische Theorem der „Interpassivität“ 39 als Spielvorgang zugrunde. Die beiden Darsteller Martin Wuttke und Carolin Conrad treten unter dem philosophischen Überbau von Robert Pfaller und Slavoj Žižek als Interpassive auf und arbeiten daran, ihre Gefühle durch „stellvertretende Instanzen“ 40 auszulagern. Als Gegenentwurf zum Modell der Interaktivität basiert das Konstrukt der Interpassivität auf der Annahme, dass es kulturelle Praktiken gebe, die Menschen eine Delegation ihrer Gefühle an Andere ermöglichen, um selbst nicht mehr emotional involviert, sondern lediglich voyeuristisch beteiligt zu sein. 5.3 Kunst als Können des Nichtkönnens 231 <?page no="232"?> Abb. 41: Schlingensief unterbricht Andersens Sterbeversuch Abb. 42: Schlingensief und die Andersens unterbrechen Calvinismus Klein 5 Sterben lernen? 232 <?page no="233"?> 41 Vgl. Thekla Heineke, Sandra Umathum (Hrsg.): Christoph Schlingensiefs „Nazis rein“. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002. 42 Vgl. dazu ebd. sowie Wolfgang Behschnitt: „‚Nazis rein‘. Subjekte auf der Bühne bei Lars Norén und Christoph Schlingensief “. In: Achim Geisenhanslüke u.a. (Hrsg.): Das Subjekt des Diskurses. Beiträge zur sprachlichen Bildung von Subjektivität und Intersubjektivität. Heidelberg: Verlag der Autoren 2008, 259-272. In radikaler Umkehrung des Interpassivitäts-Dispositivs jedoch verblasst zu‐ gleich mit Schlingensiefs raumgreifender Autopräsenz während des Gastspiels von Sterben lernen! das theatral-fiktionale Sterben von Herrn Andersen zu‐ gunsten einer Beleuchtung der Künstlerfigur Schlingensief. Die Prozessionsge‐ meinde betritt die Bühne mit den Worten der Schauspieltruppe aus Shakespeares Hamlet: „Für uns und unsere Vorstellung/ Mit untertäniger Huldigung/ Ersuchen wir Genehmigung.“ Die Worte stiften Erinnerung und holen einen vergangenen künstlerischen Akt für einen kurzen Moment aus der Vergessenheit hervor: Im klerikalen Gewand sinniert der Regisseur von der Bühnenrampe aus nämlich über seine Erfahrungen mit dem Zürcher Theaterpublikum und erinnert an seine skandalträchtige Hamlet-Inszenierung aus dem Jahr 2001 41 (vgl. Abb. 42). Seinem künstlerischen Credo der Selbstprovokation treu, inszenierte Schlin‐ gensief damals unter dem Motto „Nazis rein! “ die Schauspielszene in Shakes‐ peares Tragödie mit ausstiegswilligen Neonazis und reagierte damit spiegel‐ bildlich zu seiner Wiener Containeraktion auf den zu jener Zeit aktuellen Wahlerfolg der rechtspopulistischen Schweizerischen Partei SVP . 42 Die im Zusammenhang mit dem Hamlet durchgeführten Interventionen im öffentlichen Raum der Zürcher Innenstadt riefen damals einen Sturm der Ent‐ rüstung hervor, den Schlingensief nunmehr mit der aktuellen politischen Situ‐ ation engführt. Die anschließende Lektüre fremdenfeindlicher Leserbriefe gerät zum Manifest des eigenen künstlerischen Handelns. Wie schon im Jahr 2001, so konfrontiert er das Theaterpublikum auch im Rahmen seiner autopräsenten Er‐ scheinungsweise in Polleschs Calvinismus Klein mit dem Vorwurf der Frem‐ denfeindlichkeit und des Konservatismus. Die seiner Ansicht nach bedenkliche politische Haltung des Schweizer Volkes führt er am Beispiel eines jüngst be‐ schlossenen Minarettverbots vor. Die „Stimme des Volkes“ entnimmt er frem‐ denfeindlichen Leserbriefen der populistischen Zeitung Blick und wendet sie stellvertretend für die gesamte politische Nation gegen das Publikum. Der von ihm selbst im Rahmen seines Auftritts als Conférencier zu Beginn angekündigte Rückzug aus dem Zentrum seiner theatralen Auseinandersetzung mit dem Sterben hat sich spätestens zu diesem Zeitpunkt als kokettes Spiel entlarvt. Sich allmählich wieder daran erinnernd, dass es nicht um sein eigenes Sterben gehe, weist er die Prozessionsgemeinde und das Pollesch-Ensemble an, Andersen zu‐ 5.3 Kunst als Können des Nichtkönnens 233 <?page no="234"?> 43 Christoph Schlingensief: „Sterben lernen - Herr Andersen stirbt in 60 Minuten. Ein Stück in 4 Akten für bis zu 7 Personen und einen Chor“. http: / / www.schlingensief.com/ weblog/ ? p=436 (Zugriff am 24. März 2015). 44 Vgl. Theodor W. Adorno: „Philosophie der neuen Musik“. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 12, hg. von Rolf Tiedemann. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesell‐ schaft 1998, 36-126. rück in das Neumarkttheater zu begleiten, damit dieser dort schließlich zu den Klängen der Wagner-Opern Parsifal und Tristan und Isolde sterben könne. Zugleich mit dem Weckruf des Gurnemanz wird, wie bereits in Mea Culpa, die Projektion eines ins Monströse vergrößerten Insekts auf der Bühne sichtbar. Unter das bedrohliche Gliedertier wird nun allerdings eine erheblich retardierte Projektion von Sequenzen aus Giuseppe de Liguoros Stummfilm L’Inferno (1911) gelegt, die den Vorschein des Todes in ein Szenario des Grauens übersetzt. Beuys von Hagen und Graf von Hospiz sowie Andersens Angehörige schlüpfen in die Figuren von Wagners Oper und übertragen die vergebliche Suche nach dem Heilkraut für Amfortas auf die Diegese rund um Jean Andersen. Ein mittig im Bühnenraum aufgestellter Sarg visualisiert unterdessen die Dringlichkeit ihrer Suche nach Heilung. Die Figuren spielen sich zu modernen Mystikern auf, indem sie die Ubiquität und Unendlichkeit Gottes abwechselnd anrufen und negieren. Schlingensief selbst unterbricht ihre Phrasen und trägt seinen mehrfach geäu‐ ßerten Gedanken vor, dass die Einswerdung mit Gott und somit die Offenbarung des Geheimnisses nur um den Preis des Todes zu erlangen sei. Wie Homer im Sirenenkapitel der Odyssee, so vertritt der Mythologe Schlingensief die Auffas‐ sung, dass man das arcanum nicht erschauen kann, ohne zu sterben. Sodann wird die Diskrepanz zwischen dem Versuch, an sich fest zu halten und dem Bewusstsein über die Unzugänglichkeit der Prozessualität des Lebens ein letztes Mal ästhetisch diskursiviert. Eine (verkürzende) Interpretation der Krebsgestalt aus der Dodekaphonie dient Andersen als Gleichnis seiner Krebs‐ erkrankung: „Krebs ist rückwärts spielen. Eine Melodie, wenn man sie dann rückwärts liest und vorwärts notiert, dann nennt man das Krebs. Und das habe ich.“ 43 Adornos vernichtende Kritik am strengen Formgesetz von Schönbergs Reihentechnik, mit dem der Komponist die Musik um das Prinzip der Freiheit betrogen habe, wird dabei versatzstückartig auf das persönliche Dilemma des Sterbenmüssens appliziert. In Schönbergs Verherrlichung des musikalischen Fortschritts sah Adorno den dialektischen Umschlag in eine Mythologisierung des Absoluten, gegen die der Komponist eigentlich aufbegehren wollte. 44 In An‐ lehnung an Adornos Verdikt wird Schönbergs Zwölftontechnik im Rahmen der 5 Sterben lernen? 234 <?page no="235"?> 45 Schlingensief: „Sterben lernen - Herr Andersen stirbt in 60 Minuten“. 46 Ebd.; Vgl. hierzu die Originalpassage in: Slavoj Žižek: Das Reale des Christentums. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, 58 f. Inszenierung zur „12-Tod-Reihe“ 45 und damit zum Emblem des unausweichli‐ chen Todes und der Bändigung jeden Entwicklungsgedankens. Noch bevor das Stundenglas des Herrn Andersen ausgelaufen ist, erscheint Schlingensief mit einer Sonnenbrille über Monitor als moderner Mystiker und verkündet in den Worten Slavoj Žižeks in verschlüsselter Form seine Trauer über das Sterbenmüssen. Er verurteilt das mori discere dabei letztlich zum Schei‐ tern: Wir sind nur dann eins mit Gott, wenn dieser nicht mehr eins ist mit sich selbst, sondern sich selbst aufgibt, den radikalen Abstand „verinnerlicht“, der uns von Ihm trennt. Unsere radikale Erfahrung der Trennung von Gott ist genau jenes Merkmal, das uns auch mit ihm vereint. Es ist anmaßend, zu glauben, ich könne mich mit der göttlichen Glückseligkeit identifizieren - nur dann, wenn ich den unendlichen Schmerz der Trennung von Gott erlebe, teile ich eine Erfahrung mit Gott selbst, mit Christus am Kreuz. 46 5.3.2 Das interpassive Sterbenlernen Die Zusammenführung der beiden Aufführungen Sterben lernen! und Calvi‐ nismus Klein transformiert die von Schlingensief so bezeichnete „Zimmeroper“ rund um die Familie Andersen und den Leidensweg des Ehemanns und Vaters nicht nur in eine die Grenzen des Theaters sprengende performative Sterbe‐ probe, sondern liefert der Inszenierung das ihr widersprüchlich zugrunde lie‐ gende Konzept der Interpassivität. Der dem kommunikativen Modell der Inter‐ aktivität als wechselseitigem und aufeinander bezogenem Verhalten von Akteuren (oder Systemen) gegenüber komplementäre philosophische Entwurf beinhaltet im Kern die Überzeugung, dass sich Gefühle objekthaft externali‐ sieren lassen. Slavoj Žižek erläutert die Möglichkeit, die Tätigkeiten des Glau‐ bens, Genießens und Leidens derart an interpassive Instanzen zu delegieren, dass der seiner Aktivität enthobene Agent seine Gefühle durch Andere erfährt. Objekthafte Externalisierungen eigenen Fühlens und Handelns erkennt Žižek in unterschiedlichen, mehr oder weniger institutionalisierten Kulturpraktiken. So können etwa Klageweiber unsere Trauer, eine tibetanische Gebetsmühle unser Beten oder das in US -amerikanischen Sitcoms beheimatete canned laughter unser Lachen übernehmen. Hier wie dort, so Žižek, „erfüllen wir, durch 5.3 Kunst als Können des Nichtkönnens 235 <?page no="236"?> 47 Žižek: Liebe dein Symptom wie dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, 50. 48 Pfaller: „Einleitung“, 2. 49 Ebd. 50 Slavoj Žižek: „Die Substitution zwischen Interaktivität und Interpassivität“. In: Robert Pfaller (Hrsg.): Interpassivität. Studien über delegiertes Genießen. Wien: Springer 2000, 19. 51 Christoph Schlingensief: „Sterben lernen - Herr Andersen stirbt in 60 Minuten“. 52 Ruellan: Die Kunst zu sterben. Ein Lehrbuch, 18. das Medium des anderen, unsere Verpflichtung zur Trauer“ 47 , zur Andacht oder zur Freude und ersetzen überdies einen spontanen durch einen vorgegebenen Akt. Für den Interpassivitätstheoretiker Robert Pfaller ist mit Blick auf das Do‐ sengelächter gar evident, „dass es Kunstwerke gibt, welche die Betrachtenden nicht nur nicht zur Interaktion einladen, sondern ihnen darüber hinaus auch noch die ‚Passivität‘ des Betrachtens ersparen“ 48 . Der im interaktiven Kunst‐ prozess angelegte Transfer „der gestaltenden Aktivität vom Werk zu den Be‐ trachtenden“ 49 scheint sich im interpassiven Werk ins Gegenteil verkehrt zu haben. So liegt die Pointe der Interpassivität, die sich auch durch Kunstwerke ziehen kann, darin, dass die Substitution des eigenen durch einen fremden Akt dessen „symbolische Wirksamkeit“ 50 nicht aufhebt. Auf der Grundlage dieser erweiterten Katharsis-Theorie reflektiert Schlin‐ gensiefs theatral-thanatologische Versuchsanordnung anstelle von Formen, Möglichkeiten und Praktiken delegierten Genießens, das Abkommandieren einer im Rahmen des Heterotopos Theater existentiell unbedrohlichen Todes‐ erfahrung: „Im Theater“, so pointiert Andersens Ehefrau in diesem Sinne, „hat die Wahrheit ihre Grenzen“ 51 . Maßgeblich über das Theorem der Interpassivität treibt die Inszenierung schließlich auch ein dekonstruktives Spiel mit der Wirk‐ samkeit der philosophischen und religiösen Tröstformel des Sterbenlernens. So misslingt Herrn Andersen als dem Interpassiven Schlingensiefs das Sterben‐ lernen. Damit wird die Autorität der seit der griechischen Antike anzutreffenden Denktradition des melete thanatou, die den Übergang in das Jenseits reflexiv vorbereiten soll, ausgehebelt. „Das Leben ist niemals lang genug, um zu lernen, wie man es verlässt“ 52 -, diese Erkenntnis wird im Rahmen der Aufführung auf gleich mehreren Ebenen durchgespielt. Dennoch leihen sich die Figuren rund um Jean Andersen die Worte von phi‐ losophischen und künstlerischen Sterbelehrern. Herr Andersen führt etwa zu Beginn der Aufführung seinen Darmkrebs über das Gedicht „Finger weg“ von Robert Gernhardt ein, während seine Frau auf der Grundlage von Nietzsches Gleichnis vom Künstler als Seekrebs, der fortwährend nach allen Seiten hin 5 Sterben lernen? 236 <?page no="237"?> 53 Vgl. Friedrich Nietzsche: „Nachgelassene Fragmente 1880-1882“. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 9, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München u. a.: dtv 1988, 53. 54 Philippe Ariès: Geschichte des Todes. München: dtv 1982, 35. 55 Emmanuel Lévinas: Die Zeit und der Andere: Hamburg: Meiner 1995, 47. 56 Seneca: „An Lucillus. Briefe über Ethik“. In: Héctor Wittwer (Hrsg.): Der Tod. Philoso‐ phische Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Stuttgart: Reclam 2014, 82. taste, ohne dabei etwas zu fangen, 53 über „das Können des Nichtkönnens“ der Kunst sinniert, die es im Angesicht des Todes zu lernen gelte. Im Zeichen einer umfassenden Genieästhetik, die selbst noch sämtliche Formen der gescheiterten Aktivität umfasst, verweist sie auf die zentralen Losungsworte von Schlingen‐ siefs Selbstverständnis als Künstler, der das produktive Scheitern zum Grund‐ prinzip seiner paradoxen Theaterästhetik erhob. Mit Schönbergs Dodekaphonie, in der der „Krebs“ die Grundgestalt der Zwölftonreihe rückläufig zitiert, dient Andersen sogar eine Kompositions‐ technik als Gleichnis des Sterbenmüssens. Fremde Weisheiten über das Sterben‐ lernen brechen auf diese Weise in den familiär-privaten, um die Krankheit des Ehemannes und Vaters kreisenden Jargon ein. Der aus der Kollision von philo‐ sophischer und alltäglicher Rede hervorgehende ironisch gebrochene Kommu‐ nikationsgestus der Familie Andersen stellt die von Philip Ariès in seiner um‐ fassenden mentalitätsgeschichtlichen Studie diagnostizierte Tabuisierung des Todes durch die „Komödie ‚Es ist alles beim Alten‘ oder ‚Das Leben geht weiter wie zuvor‘“ 54 regelrecht aus. Die Vergeblichkeit des Sterbenlernens wird außer durch die Sprache der Andersens, die die Worte der Lehrer als Angehörige des Sterbenden nur in hohle Floskeln überführen können, mit dem metafiktionalen Passionsspiel des Herrn Andersen zur Schau gestellt. Der Forderung einer tä‐ tigen Einübung in den Tod, die das ziellose Nachplappern philosophischer Weis‐ heiten unterminieren soll, kommt Andersen mit einer Sterbeperformance nach, in der er als Rollenträger Jesu Christi mit den Mitteln der Kunst, zu „Isoldes Verklärung“ aus Wagners Tristan und Isolde, den Vorschein des Todes sucht. Mit dieser mise en abyme in das Feld der Kunst werden die Möglichkeiten der Ein‐ übung in den Tod endgültig demontiert. Das „nicht mehr können können“ 55 , das mit Emmanuel Lévinas den Einschnitt des Todes markiert, wird dabei zum Er‐ eignis der Kunst stilisiert. Aus dem schon für den Sterbelehrer Seneca drohenden Vorschein des Todes, verkörpert durch die Erkenntnis des „Ich werde nicht mehr krank sein können“ 56 , erwächst die Kunst, verstanden als Chance, zu scheitern. Das verklärte Bild des scheiternden Künstlers aktualisiert den aus Mea Culpa bekannten existentiellen wie künstlerischen Appell, Herr der Gegensätze zu bleiben. Mit der Figur des Andersen entwirft Schlingensief also eine Projekti‐ 5.3 Kunst als Können des Nichtkönnens 237 <?page no="238"?> 57 Schlingensief: „Sterben lernen - Herr Andersen stirbt in 60 Minuten“. 58 Ebd. 59 Ebd. onsfläche, die nicht mehr vordergründig mit den Mythologemen des persönli‐ chen Lebens gefüllt ist, sondern sich stattdessen als übergeordnetes Metaporträt des sterben Künstlers zu erkennen gibt, der dem ästhetischen Prinzip des Wi‐ derspruchs verbunden bleibt. In diesem Sinne parallelisiert Jean Andersen die totbringende Unsterblichkeit des Tumors zunächst mit der Unsterblichkeit der Kunst und erkennt, dass sowohl das Leben als auch die Kunst organische Ent‐ wicklungsvorgänge darstellen und sich deshalb gleichermaßen einem kontrol‐ lierten Zugriff in letzter Konsequenz entziehen: Der Krebs lebt weiter, nur mein Bewusstsein davon lebt nicht weiter, das Leben der Leiche können nur Fremde sehen, nicht die Leiche selbst. […] Und so ist das auch in der Kunsthalle, dass die Kunst auch dann noch existiert, wenn wir nicht mehr da sind. 57 Die vorgeführte Analogie der Unsterblichkeit von Kunst und Krebs erhellt sich erst durch den Blick auf die mystischen Positionen, die im Laufe der Inszenie‐ rung dekonstruiert werden. So gibt sich die priesterliche Figur Graf von Hospiz im ersten Akt noch mit den Worten „Ich sehe was, was Sie nicht sehen! Ich sehe die Wahrheit über das Jenseits“ als gottgleiche Figur zu erkennen und Frau An‐ dersen apostrophiert Gott im vierten Akt als namenloses Sein über allem Sein. Dieser Vorstellung des Absoluten entspricht das von Andersen bereits im ersten Akt gezeichnete Bild einer unendlichen Kunst, deren Wirken die menschliche Existenz überdauert: Die Kunstwerke unterhalten sich auch noch miteinander, wenn wir schon zuhause sind, wenn ihnen keiner mehr zuguckt. Und das sind dann Tumor-Sprachen. Die Kunst hat sich verselbständigt und wirft uns immer nur Bröckchen hin und wir sammeln die auf und sind dann glücklich mit den Kuratoren und den ganzen Sachverständigen, dass wir was gefunden haben. Da ist keine Lösung in Sicht, denn dieses Leben findet ohne mich statt. 58 Der Fortbestand und das unbezähmbare Prozessgeschehen der Kunst figurieren als Echo sowohl der göttlichen Ubiquität als auch der Unsterblichkeit der Krank‐ heit Krebs, die es zu demontieren gilt. Im Verlauf der Handlung opponieren die Figuren rund um Herrn Andersen folglich immer vehementer gegen eine Rhe‐ torik des Absoluten und gelangen zu einer neuen negativen Erkenntnis: „Gott ist entweder nicht gut, oder er ist nicht allmächtig, oder er existiert nicht.“ 59 Mit der Einsicht in den „Tod“ des numinosen allmächtigen Gottes selbst geht schließ‐ 5 Sterben lernen? 238 <?page no="239"?> 60 Christoph Menke: Kraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, 122 f. 61 Vgl. dazu den Text der Rockgruppe Laibach: „Wer kalkuliert ist ein Feigling. Kalkulieren besteht in Gewinn- und Verlustrechnungen. Sterben ist Verlust, Leben Gewinn. Wer kalkuliert, beschließt, nicht zu sterben, stirbt aber trotzdem. Der Jäger, der zwei Hasen jagt, verfehlt beide. Wenn Du schon scheitern musst, scheitere glanzvoll: Jage zwei Tiger“. Laibach: „Jage zwei Tiger! Das Kapital der neuen Kunst“. In: Parsifal 2004. Son‐ derbeilage des Nordbayerischen Kuriers zur Eröffnung der Bayreuther Ri‐ chard-Wagner-Festspiele in Zusammenarbeit mit Carl Hegemann und Christoph Schlin‐ gensief, 24. Juli 2004, 5. lich die Vision eines trostspendenden Jenseits verloren und eine Emanzipation vom Gedanken der Unsterblichkeit einher, der bereits in Mea Culpa als „der wahre Albtraum“ ausgewiesen wird. Darüber hinaus wird die überindividuelle und -zeitliche Wirkkraft der Kunst paradoxerweise negiert. Der Imperativ des mori discere verwandelt sich im Zuge der Performance des Herrn Andersen nämlich sukzessive in denjenigen des „Könnens des Nichtkön‐ nens“ im Feld der Kunst. Andersens theatraler Vollzug, in dem das Tätigsein entgegen seiner ursprünglichen Zweckbestimmung, das Sterben zu lernen, ge‐ rade nicht mit zielgerichtetem Handeln zusammenfällt, zeigt das letzte arcanum jenseits der produktiven Handlungsfähigkeit des Lebenden auf. Beleuchtet wird erneut die von Nietzsche in das Gleichnis des Seekrebses gefasste Kraft des tra‐ gischen Künstlers: „Er bleibt lebendig, wo er scheitert.“ 60 So ist mit Andersens Performance zugleich Schlingensiefs Leitspruch des „glanzvollen Scheiterns als Chance“ 61 als radikal ästhetische Gegenoffensive zum Sterbenlernen exponiert. 5.3.3 Das Ich, das Andere, das Man - Sterben Lernen! vor der Folie der Thanatologie im 20. Jahrhundert Schlingensiefs Zugriff auf das Spiel mit dem Tod liegt nunmehr im störenden Eingriff, mit dem er jede Tendenz zur Synthese unterläuft. In Gestalt des Papst Mabuse sabotiert er die Sterbeübung und besetzt somit erstmals seit seiner Krebserkrankung wieder durch eine unterbrechende Aktion seines eigenen künstlerischen Outputs als Performer das Zentrum seiner Inszenierung. Wäh‐ rend der Regisseur in seinen vorangegangenen thanatographischen Inszenie‐ rungen vermehrt mediatisierte Doubles seiner Selbst gegen das eigene Sterben mobilisiert hat, so bricht er nunmehr das labile Gerüst des theatralen Scheins wie in seinen Inszenierungen vor der Diagnose auf. Damit trägt er den einzelnen Aufführungen nicht lediglich einen höheren Grad an Spontaneität ein, sondern treibt die Unentschiedenheit seiner Perspektive auf das Sterbenlernen in der Kunst auf die Spitze. Aufgrund seines verbesserten Gesundheitszustandes le‐ diglich dem Anschein nach nicht mehr Sujet der Aufführung, blickt er aus der 5.3 Kunst als Können des Nichtkönnens 239 <?page no="240"?> 62 Jankélévitch: Der Tod, 12 f. 63 Lévinas: Gott, der Tod und die Zeit, 20. 64 Vgl. dazu die grundlegenden Abschnitte §§ 1, 3 und 5 in: Heidegger: Sein und Zeit. 65 Ebd., 7. kommentierenden Außenperspektive auf seinen inszenatorischen Entwurf. Im Zuge der von ihm unterbrochenen Sterbeperformance untermauert er die Un‐ möglichkeit eines künstlerischen Sterbenlernens. Er könne Herrn Andersen beim Sterben nicht helfen. Dieser von Schlingensief zur Sprache gebrachten Hilflosigkeit für den Anderen korrespondiert spiegelbildlich die durch seinen Auftritt demontierte Zweckbestimmung Andersens als Stellvertreter. Schlin‐ gensiefs Auftritt erzeugt ein wechselseitig vermitteltes Spannungsfeld zwischen ihm als leiblich anwesendem Krebskranken und Herrn Andersen als theatralem interpassiven Leidensbeauftragten: Jeder, so scheint es die dazwischentretende Geste Schlingensiefs nahezulegen, ist nach dem Prinzip der Selbsthaftung (nur) für sein eigenes Leid verantwortlich. Schlingensief verweist einerseits mit der misslungenen Sterbeübung An‐ dersens auf die metaempirische Uneinholbarkeit der eigenen Todeserfahrung und dementiert andererseits im Zuge seiner Störaktion, in der er Herrn An‐ dersen seine Ohnmacht als Helfer bekennt, die Auffassung, dass der Tod des Anderen als vertrautes Ereignis, „das erfahrungsgemäß eintritt und sich bis‐ weilen vor unseren Augen vollzieht“ 62 , intersubjektiv wirksam werde. So laufen in der Figur des Herrn Andersen als personifiziertem Jedermann die kritischen philosophischen Stimmen zum Diskurs des Sterbenlernens aus dem 20. Jahr‐ hundert zusammen. Die trostspendende Funktion der propädeutischen Todes‐ philosophie ist dabei hinter die Frage zurückgetreten, ob der eigene oder der Tod des Anderen der „erste Tod“ 63 sei. Allen voran Martin Heidegger sah in der Rede vom Tod als „man stirbt“, auf die letztlich die Sterbelehrer von Platon bis Montaigne rekurrierten, ein Indiz mangelnden Todesbewusstseins. Mit seiner Inversion der Thanatologie findet die moderne Tendenz zur Individualisierung des Todesgedankens ihren Höhe- und vorläufigen Endpunkt. Die von ihm emp‐ fohlene Abkoppelung der philosophischen Todesbeschäftigung von der vergeb‐ lichen Frage nach der postmortalen Existenz des Man hat das philosophische Postulat der melete thanatou in ihren Grundfesten erschüttert. Im Zentrum der Thanatologie Heideggers steht das lebenslängliche persön‐ liche Verhältnis jedes Einzelnen zu seinem Tod. Seine fundamentalontologische Analyse, die der Frage nach der per se unzugänglichen postmortalen Existenz diejenige nach dem Sinn von Sein opponiert, 64 geht vom „Dasein“ als dem „Sei‐ ende[n], das wir je selbst sind“ 65 aus, das sich erst im Tod in seinem Ganzsein 5 Sterben lernen? 240 <?page no="241"?> 66 Ebd., 249. 67 Ebd., 42. 68 Ebd., 250. 69 Ebd. 70 Ebd., 253. 71 Ebd., 248. zeige und daher a priori ein „Sein zum Ende“ 66 darstelle. Neben dem von Hei‐ degger etablierten Existential der „Jemeinigkeit“ 67 , das dem Man die fundamen‐ tale Unvertretbarkeit des Daseins entgegenhält, steht der Tod als letzter Bevor‐ stand des Daseins, als „Seinsmöglichkeit, die je das Dasein selbst zu übernehmen hat“ 68 , im Mittelpunkt von Sein und Zeit (1927). In der Projektionsform der Po‐ tentialität gedacht, gehöre der Tod im Modus des Noch-Nicht dem Dasein immer schon an: Das Sein zum Tode jedes Einzelnen ist für den Philosophen „eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit“ 69 . Demgegenüber werde in der sprachlich konstruierten Distanz zwischen dem Ich der Aussage und dem „man“ der je nur eigene Tod aus dem persönlichen Erfahrungshorizont ausgeklammert: Das ‚man stirbt‘ verbreitet die Meinung, der Tod treffe gleichsam das Man. Die öf‐ fentliche Daseinsauslegung sagt: ‚man stirbt‘, weil damit jeder andere und man selbst sich einreden kann: je nicht gerade ich; denn dieses man ist das Niemand. Das ‚Sterben‘ wird auf ein Vorkommnis nivelliert, das zwar das Dasein trifft, aber niemandem eigens zugehört. 70 Im Rahmen seiner rein diesseitigen Analyse des Todes, die „das Phänomen le‐ diglich daraufhin interpretiert, wie es als Seinsmöglichkeit des jeweiligen Da‐ seins in dieses hereinsteht“ 71 , ließ Heidegger nicht nur die philosophische Frage nach dem Jenseits hinter sich zurück, sondern etablierte einen bis dahin in der Philosophiegeschichte ungekannten intrinsischen Konnex zwischen Sterblich‐ keits- und Individualitätsbewusstsein. In Heideggers radikal formulierter Un‐ vertretbarkeitsthese, die den Tod von der Herrschaft des Niemand befreien sollte, liegt nicht nur die mittlerweile zum Allgemeinplatz nivellierte Auffassung eingeschlossen, dass der Mensch im Sterben alleine ist. Heideggers Verschrän‐ kung von Individualität und Tod impliziert zugleich, dass die rückschauende Selbstbeschreibung von der Vorausschau auf die letzte Grenze abhängig ist. Gerade der nicht-kommunikative Kern von Heideggers Thanatologie rief im zeitgeschichtlichen Kontext der Veröffentlichung von Sein und Zeit, der die Er‐ fahrung des kollektiven Todes durch Krieg mit sich brachte, vehemente Kritik hervor. Aus der Sicht Karl Jaspers’ verschüttete Heidegger mit seinem egozent‐ rierten Entwurf letztlich gerade das, „was wirklich existentiell ist: […] Das 5.3 Kunst als Können des Nichtkönnens 241 <?page no="242"?> 72 Karl Japsers zit. nach: Ebeling: „Einleitung: Philosophische Thanatologie seit Hei‐ degger“, 20. Vgl. dazu die Formulierung Karl Jaspers: „Den Tod als Vorgang gibt es nur als den des Anderen. Mein Tod ist unerfahrbar für mich, ich kann nur in Beziehung auf ihn erfahren.“ Karl Jaspers: „Tod“. In: Hans Ebeling (Hrsg.): Der Tod in der Moderne. Königstein: Athenäum 1979, 65. 73 Lévinas: Gott, der Tod und die Zeit, 20. 74 Augustinus: Bekenntnisse. Confessiones, 70. 75 Jankélévitch: Der Tod, 35. 76 Vgl. Freud: „Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915)“, 49. Freundseinkönnen“ 72 . Der Todesentwurf Heideggers erhielt sein philosophi‐ sches Echo demnach in Form einer radikalen Umkehrung der Ich-Ethik in eine Ethik der Sozialität. Der Tod des Anderen, der das kommunikative Band zwi‐ schen zwei Menschen unwiederbringlich durchtrenne, so lautet die Gegen‐ stimme Lévinas’, evoziere „das affektive Betroffensein par excellence“ 73 . Lévinas vertritt dabei die Ansicht, dass sich das Selbst grundsätzlich erst durch den Tod des Anderen seiner eigenen Grenzen bewusst werde. Das führt nicht zuletzt auf Augustinus zurück, der sich durch den Tod eines Freundes „zur großen Frage“ 74 wurde und mit dem Bericht über dieses Wendemoment in seinem Leben zugleich das metapoetologische Movens seiner Autobiographie offenlegte. Vermittelt durch das Credo der Interpassivität als letzte Konsequenz von Lé‐ vinas’ Theorie interaktiven Betroffenseins spielt Sterben lernen! mit der Diskre‐ panz zwischen dem Theorem der Jemeinigkeit des Todes (Heidegger) und der Theorie des sozialisierten Todes durch den Anderen (Lévinas). Das exzessive und distanzlose mea res agitur, das Schlingensief im selbstreferentiellen Modus der ersten Person Singular den autobiotheatralen Produktionen Eine Kirche der Angst und Mea Culpa zugrunde legte, wird in Sterben lernen! zunächst in ein sua res agitur transformiert. Mit dieser Absetzbewegung zeigt Schlingensief an, nicht mehr als sterbendes Ich, als „Quelle der Angst“ 75 , zu agieren, sondern die Einübung in den Tod an die dritte Person Singular, die theatrale persona abzu‐ geben. Dabei erweisen sich sowohl die Strategie der interpassiven Übernahme durch Herrn Andersen als auch, innerhalb des fiktionalen Rahmens, Herrn An‐ dersens jemeiniges Vordringen zum Tod als aussichtslos. Mit seinem Eintritt in die interpassive Sterbeübung des Protagonisten treibt Schlingensief die letztlich auf die grundsätzliche Unvorstellbarkeit des Todes verweisende interpassive Sehnsucht des Ichs, als Zuschauer seines Todes dabeizubleiben, 76 ironisch auf die Spitze und stellt damit zugleich die Unmöglichkeit seines Rücktrittes von der Verpflichtung, zu sterben, performativ zur Schau. Herr Andersen als der im fiktionalen Gerüst Jemeinige wiederum kann sein Sterben übend ebenso wenig prospektieren. Auf der Basis der in den Thanatologien des 20. Jahrhunderts do‐ minierenden diesseitigen Durchleuchtung des Todes werden sowohl das Ster‐ 5 Sterben lernen? 242 <?page no="243"?> 77 Boris Groys: „Todeskollektivierung. Kryptokommunistisches in den Religionen und das Ende des Kapitalismus. Gespräch mit Carl Hegemann“. In: Lettre International, 75 (2006), 32. 78 Christoph Schlingensief: „Proben haben begonnen! “. In: schlingenblog, 18. November 2009. http: / / schlingenblog.wordpress.com/ page/ 11/ (15. April 2017). benlernen durch das gesichtslose Man als je Anderem als auch die Todesübung des Ichs im Rahmen der Inszenierung dekonstruiert. Sterben lernen! unterstreicht die Auffassung, dass „[d]er eigene Tod […] kein Ereignis in unserem Leben“ 77 darstellt und auch nicht durch eine interpassive Performance zugänglich wird. So bezieht Schlingensief eine Haltung der Verweigerung gegenüber der exis‐ tentiellen Übung der letzten Stunde in die Aufführung mit ein. Nunmehr in stabilem gesundheitlichen Zustand löst er die Frage der Sterbelehrer nach dem Geheimnis des Todes, das, so Schlingensief bezeichnenderweise in seinem pro‐ benbegleitenden Blog, „besser nicht gelöst werdem [sic! ] sollte, weil man sonst sterben muß ….“ 78 , erstmals in die rein artifizielle Markierung des Todes als Können des Nichtkönnens, als glanzvolles Scheitern auf. Weder der Gesang noch das Schweigen der Sirenen können jemals gehört werden. 5.3 Kunst als Können des Nichtkönnens 243 <?page no="244"?> 6 Ausblick: Schlingensiefs sozialkünstlerisches Vermächtnis - Auf der Suche nach dem universalen Bethaus Mit der Produktion Sterben lernen! ereignete sich eine Zäsur im Korpus von Schlingensiefs Weltabschiedswerken. Auf der einen Seite steht die totale Fo‐ kussierung auf die Erzählung des eigenen Lebens, die sich Formen der auto‐ biographischen Selbstaussprache von der Beichte über das Bekenntnis bis hin zur Verteidigungsrede leiht. Auf der anderen Seite zeigt sich die theatrale Me‐ tareflexion eines durch Erfahrung Geläuterten, der sich aufgrund seines ver‐ besserten Gesundheitszustandes im rehabilitierten Modus am philosophischen Diskurs über das Leben als Einübung in den Tod beteiligen kann. Im Fluxus-Oratorium setzte Schlingensief zu einer umfassenden Selbstbefra‐ gung an, mit der er die medialen Konserven privater und künstlerischer Mo‐ mentaufnahmen seiner Geschichte herbeizitierte. Schlingensiefs Ubiquität als Sujet der Inszenierung manifestierte sich über eine disseminative Inszenie‐ rungsstrategie, die sich außer auf die Verschaltung von technisch-medialen Do‐ kumenten auch auf das im Rollenspiel verfremdend repräsentierte, fraktalisierte Teil-Ich stützte. Gemäß dem existentiellen Paradoxon einer gebrochenen Iden‐ tität, das den abendländischen Autobiographen von Augustinus bis Goethe das größte Schwergewicht war und erst im Zuge der autofiktionalen Schreibpraxis und automedialen Inszenierungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als poetologischer Möglichkeitsraum der Entgrenzung entdeckt wurde, entzog er sich durch die Streuung seines Ichs einer konkreten Verortung und sedimen‐ tierte sich stattdessen flächendeckend im Raum. Dabei bestätigt Schlingensiefs verschleiernde Vervielfältigung seines Ichs nicht zuletzt eine der folgenreichsten Diagnosen über das Selbstverhältnis des modernen Subjekts. Mit Lacan und später mit Žižek ist das Ich narzisstisch geworden und vom Begehren besessen, seines Selbst in seinen verlustigen Partialgestalten habhaft zu werden. Bereits in Eine Kirche der Angst verfasste Schlingensief durch die Mehrfach‐ belichtungen seines Ichs mit Projektionen von Fluxus-Filmen und Reenactments neoavantgardistischer Aktionen sein Leben als eine Künstlerbiographie. In Mea Culpa mündete seine Selbstsuche in ein pseudo-katholisches Schuldbekenntnis und die Aufzählung des Sündenregisters eines Künstlers. Schlingensief kon‐ zentrierte seine Lebenserzählung dabei in eine Automythographie, die er aus <?page no="245"?> der Summe der weltanschaulichen Topoi aus Wagners Parsifal konstruierte. Mit der Vernetzung der Blickpositionen zwischen Diesseits und Jenseits umspielte er im Feld der Kunst die odysseische Sehnsucht nach dem symbolischen Über‐ tritt der letzten Grenze. Im Unterschied zu Eine Kirche der Angst wurde das au‐ tothematische Material nicht mehr in erster Linie aus dem Tagebuch und den technisch-medialen Archiven generiert, sondern aus den Gestalten des Parsifal, des Amfortas und vor allem der Kundry extrahiert. Auf der Basis der privatre‐ ligiösen Legende, dass die Auseinandersetzung mit Wagners Musiktheaterwerk seinen Krebs bedingt habe, reflektierte er durch das Figurenpersonal des Parsifal hindurch seine künstlerische Vergangenheit, um diesen Readymades im Prozess der künstlerischen Auseinandersetzung schließlich seine restitutio ad integrum abzugewinnen. Während das Ich am Ende von Eine Kirche der Angst in einer abrupten Wendung doch noch zur Invokation des göttlichen Erbarmens zu‐ rückkehrt, nimmt die Bühnenfigur Christoph in Mea Culpa das Geschick seines Lebens selbst in die Hand und zieht als vorläufig letzte Konsequenz von Schlin‐ gensiefs autobiotheatraler Selbsttherapie hinter den automythographischen Ab‐ spaltungen der Vergangenheit den Vorhang zu. In Sterben lernen! schließlich verlagert sich die autobiotheatrale Transposition eigenen Lebens in das theatrale Metaporträt eines Sterbenden. Auf‐ grund der Delegation der bestimmenden Sterbethematik an den Anderen lieferte Schlingensiefs Tagebuch nicht mehr die Textgrundlage der Inszenierung. Statt‐ dessen erschien der Regisseur darin als Experte in Fragen der Lebensreflexion und kommentierte nunmehr das Sterben des Anderen. Hinter der ins Groteske verzerrten meditatio mortis bleibt seine persönliche Auseinandersetzung mit seinem Leben und seinem Tod freilich manifest. Mit der nunmehr distanzier‐ teren Selbstreflexivität ging die Wiederaufnahme einer Reihe von Darstellungs‐ prinzipien einher, die in den Arbeiten vor seiner Krebsdiagnose bestimmend gewesen waren. So verweisen die Sterbeprozession und die inszenierte Inter‐ vention im Schauspielhaus Zürich auf jene Bespielung des öffentlichen Raums, die für seine Theaterarbeiten seit jeher charakteristisch war. Die Brücke zum Schaffen vor seiner Erkrankung schlug Schlingensief im Verlauf der Auffüh‐ rungen nicht zuletzt auch aufgrund seiner widersprüchlichen Rollen als stö‐ render Performer und allesüberblickender Regisseur. Hatte die Dezentrierung seines Subjekts durch die Krankheit Krebs in den Inszenierungen Eine Kirche der Angst und Mea Culpa zu seinem weitgehenden Verschwinden von der Bühne als leiblich anwesender Mensch geführt, so bewirkte der positive Gesundheits‐ verlauf die Rückkehr seiner Autopräsenz. Nach Sterben lernen! konzentrierte sich Schlingensief bis hin zu seinem Tod vorrangig auf sein Projekt des Baus eines afrikanischen Operndorfes in Burkina 6 Ausblick: Schlingensiefs sozialkünstlerisches Vermächtnis 245 <?page no="246"?> 1 Neben dem Operndorf-Projekt plante er die Inszenierung von Jens Joneleits Oper ME‐ TANOIA - über das denken hinaus an der Staatsoper Berlin. Die Regiearbeit konnte Schlingensief, der nur wenige Tage vor Probenbeginn verstarb, allerdings nicht mehr realisieren. 2 Christoph Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! , 16 f. 3 Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit, 97. 4 Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! , 32. 5 Vgl. Richard Wagner: „Das Kunstwerk der Zukunft“. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd. 3. Leipzig: Breitkopf und Härtel o. J., 60. Faso, das bereits in Mea Culpa symbolisch eingeweiht wurde. 1 Es sollte zu seinem sozialkünstlerischen Vermächtnis, zu seinem Überlebenswerk werden. Am Grab seines Vaters, so berichtet Schlingensief im Tagebuch, habe er das Versprechen abgelegt, seine Krankheit nicht zu erdulden und seinen Tod nicht zu erwarten, sondern vielmehr den Bau des afrikanischen Operndorfes für den Preis seiner Gesundheit einzusetzen: Weil ich gestern Nacht rumgebrüllt habe, dass er das doch nicht ernst meinen kann, dass er was tun soll, habe ich mich jedenfalls heute bei meinem Vater entschuldigt. […] Und dann habe ich versprochen, dass ich eine Kirche, eine Schule, ein Krankenhaus und ein Theater, ein Opernhaus, in Afrika bauen werde, wenn das hier gut ausgeht. Das habe ich wirklich als Gelübde am Grab meines Vaters abgelegt. Dreimal habe ich angesetzt, dreimal konnte ich es nicht sagen, aber dann habe ich es wirklich ausge‐ sprochen: ‚Ich verspreche euch…‘ 2 Mit dem Gelübde zur Realisierung seiner sozialkünstlerischen Utopie verwan‐ delte er sein Sein-zum-Tode in ein Sein-zum-Ziele, das sich mit Peter Sloterdijk darin äußert, „etwas vorzuhaben“ 3 . Die Aktivierung des Ich-Gefühls, dem in seinen thanatographisch-autobiotheatralen Inszenierungen epistemologischwelterschließende Qualität zugekommen war, speiste sich fortan aus der Hal‐ tung, sich nicht ohne ein bleibendes Zeichen aus dem Leben gehen lassen zu wollen. In dem von Schlingensief geäußerten Wunsch, „[a]m Ende, egal wann, möchte ich sicher sein können, dass meine Arbeit einen sozialen Gedanken hatte“ 4 , zeigt sich exemplarisch der Wille zu einer regelrechten Institutionali‐ sierung und Verewigung seiner künstlerischen Intentionen. . Mit dem Entwurf des Operndorfes, das Oper und Gesellschaft wagneristisch in ein symbiotisches Verhältnis treten lassen sollte, 5 war der maximalistische Anspruch einer in die Strukturen der afrikanischen Gesellschaft tief eingreifenden testamentarischen Verfügung verbunden. Der von Schlingensief kreierte Neologismus des „Operndorfes“ führte die Festspielidee Wagners mit Beuys’ Idee der „Sozialen Plastik“ eng. Letzterer fasste den Kunstbegriff derart weit, „dass er jede menschliche Tätigkeit umgreifen 6 Ausblick: Schlingensiefs sozialkünstlerisches Vermächtnis 246 <?page no="247"?> 6 Joseph Beuys zit. nach: Uwe M. Schneede: Joseph Beuys. Die Aktionen. Ostfildern-Ruit: Gerd Hatje 1994, 8. 7 „Jeder Mensch sollte Künstlers seyn. Alles kann zur schönen Kunst werden“ Novalis: „Glauben und Liebe oder Der König und die Königin“. In: Ders.: Schriften, Bd. 2: Das philosophische Werk I, hg. von Richard Samuel. Stuttgart u. a.: Verlag W. Kohlhammer 1981, 497. 8 Nikolaus Witty: „Remdoogo - Via Intolleranza II. Ein Projekt von Christoph Schlin‐ gensief “. In: Gesellschaft zur Förderung der Münchner Opernfestspiele und der Baye‐ rischen Staatsoper (Hrsg.): Pavillon 21. MINI Opera Space. Materialien 2. München: Verlag Stiebner 2010, 7. kann“ 6 und bezog sich dabei auf das romantisch kunstreligiöse Diktum, wonach jeder Mensch ein Künstler sein sollte. 7 Schlingensiefs Vision richtete sich auf die Erschaffung eines Ortes, an dem die verschiedenen Künste mit dem Leben zusammenfließen würden. Dezidiert nicht als soziales Hilfsprojekt konzipiert, wollte er das afrikanische Opernprojekt in seinen konturierten Voraussetzungen zwar skizzieren, dessen Begrenzungen jedoch konzeptionell nicht abstecken und auf diese Weise dem Gedanken Beuys’ entsprechend plastizierend auf die Gesellschaft Burkina Fasos einwirken. Ausgehend von seiner nichtsdestowe‐ niger als romantisierend-kolonialistisch zu bezeichnenden Lesart des außereu‐ ropäischen Lebens setzte er zu einer Durchstreichung des Heterotopos Bayreuth an, den er nunmehr als dekadente Verkörperung der europäischen Kunst ansah, und konzentrierte sich auf die Errichtung des Gegen-Heterotopos Afrika. Die Grundsteinlegung am 8. Februar 2010 erfolgte mit keinem geringerem Anspruch als „eine Geschichte weiter zu schreiben, bei der die Oper emotionale, politische und gesellschaftsverändernde Strategien verfolgt“ 8 . Das Wagnersche Totalkon‐ zept einer Oper, die alle Medien vereint, blieb dafür ironischerweise konstitutiv. Im Zuge einer theatralen Reflexion des afrikanischen Operndorfes lancierte Schlingensief noch einmal eine gebrochene politische Geste. In seiner letzten realisierten Bühnenarbeit Remdoogo - Via Intolleranza II (2010) widmete er sich dem Bauprojekt auf ostentativ selbstkritische Weise. Dem Titel nach bezog er sich dabei auf Luigi Nonos Intolleranza 1960 und schrieb sich auf diese Weise explizit in die Tradition der politischen Oper des 20. Jahrhunderts ein. Der ita‐ lienische Avantgardist hatte sich in seiner 1961 im Rahmen der Biennale in Ve‐ nedig uraufgeführten Azione scenica mit der Gefahr einer faschistischen Res‐ tauration auseinandergesetzt. Intolleranza 1960 zeigt auf der Grundlage einer fragmentarischen Textcollage den Weg eines Emigranten auf, der nach seiner Rückkehr in die Heimat Italien ein gesellschaftliches Untergangsszenario erlebt. Das philosophisch-ideologische Grundgerüst für das als Stationendrama ge‐ baute Musiktheater bezog Nono maßgeblich vom neokommunistischen Philo‐ sophen Antonio Gramsci. Ausgehend von Gramscis gesellschaftsphilosophi‐ 6 Ausblick: Schlingensiefs sozialkünstlerisches Vermächtnis 247 <?page no="248"?> 9 Antonio Gramsci: „Hefte 12-15“. In: Ders.: Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 7. Hamburg: Argument 1996, 1497-1788. Vgl. dazu Edward W. Said: Götter, die keine sind. Der Ort des Intellektuellen. Berlin: Berlin Verlag 1997. 10 „Ich habe nicht das Geringste zu tun mit jenen ‚Musikästheten‘, die über allem stehen und in die Zukunft weisen. In Übereinstimmung mit den Vorstellungen Gramscis ver‐ suche ich, ein ‚Intellektueller, der zur Arbeiterklasse gehört‘, zu sein, indem ich mich am kulturellen und politischen Kampf dieser Arbeiterklasse beteilige und alle objek‐ tiven und subjektiven Widersprüche, die sich daraus ergeben, die ganze Verantwortung akzeptiere.“ Luigi Nono zit. in: Mateo Taibon: Luigi Nono und sein Musiktheater. Wien u. a.: Böhlau 1993, 43. 11 Zit. nach: Susanne Gaensheimer: „Vorwort“. In: Dies.: Christoph Schlingensief. Deutscher Pavillon 2011: 54. Internationale Kunstausstellung La Biennale di Venezia. Köln: Kiepen‐ heuer & Witsch 2011, 21. schen Thesen realisierte er mit der Komposition sein Ideal eines „organischen Intellektuellen“ 9 , der seine erhabene Beobachterposition verlässt und statt‐ dessen in organischer Einheit mit dem Proletariat die Umstände der Zeit re‐ flektiert. Nono, der sich als einen der Arbeiterklasse zugehörigen Intellektuellen be‐ griff, hegte den Anspruch, aus der Mitte der Gesellschaft heraus zu wirken. Seinem künstlerischem Selbstbekenntnis nach wollte er nichts zu tun haben mit „jenen ‚Musikästheten‘, die über allem stehen“ 10 . Dieser Standpunkt diente Schlingensief als Projektionsfläche einer nunmehr im theatralen Als-ob reflek‐ tierten kritischen Haltung gegenüber seinem eigenen Operndorfprojekt. In Remdoogo - Via Intolleranza II unterzog der Regisseur sein Bauvorhaben einer zynisch gebrochenen Revision. Knapp fünfzig Jahre nach der Uraufführung von Nonos Werk hatte sich in Schlingensiefs Übermalung (in der Nonos Musik so gut wie gar nicht vorkam) das Verständnis von politischer Kunst allerdings er‐ heblich gewandelt. Mit der Frage „[w]arum wollen wir ständig dem afrikani‐ schen Kontinent helfen, obwohl wir uns selber nicht helfen können? “ 11 ging der Regisseur über Nonos Appell an die Gemeinschaft zur Humanität entschieden hinaus und nutzte den Blick des organischen Intellektuellen vielmehr dazu, sich selbst, sein Helfersyndrom zu thematisieren. Hatten bereits seine früheren Filmprojekte United Trash (1995/ 96) und The African Twintowers (2002) zur kritischen Auseinandersetzung mit imperialisti‐ schen Herrschaftsverhältnissen geführt, so stellte Schlingensief nunmehr seinen eigenen künstlerischen Kompensationsakt öffentlich zur Disposition. Dabei de‐ klarierte er seine Vision zum Resultat einer Verschiebung seiner krankheitsbe‐ dingten Machtlosigkeit und dekonstruierte letztlich auch seinen kolonialisti‐ schen Standpunkt als wohltätiger Europäer. Sein Vorhaben, im Angesicht des bevorstehenden Todes etwas Bleibendes errichten zu wollen, wies er implizit als eine die Kontingenz seiner Krankheit symbolisch abwehrende Ersatzhandlung 6 Ausblick: Schlingensiefs sozialkünstlerisches Vermächtnis 248 <?page no="249"?> 12 Vgl. hierzu die Erklärung Carl Hegemanns: „Egomania heißt einer der ersten Spielfilme von Christoph Schlingensief. Er wird im Kino des Deutschen Pavillons gezeigt. Der Titel ist in seiner Ambivalenz programmatisch für den Künstler Schlingensief. Er ist die eine Seite der Medaille. Die andere wäre dann ‚der erweiterte Wir-Begriff ‘ aus der Par‐ sifal-Inszenierung. Egomania wäre die Aufhebung von ‚Germania‘ in der Kunst.“ Carl Hegemann: „Egomania. Kunst und Nichtkunst bei Christoph Schlingensief “. In: Su‐ sanne Gaensheimer (Hrsg.): Christoph Schlingensief. Deutscher Pavillon 2011: 54. Inter‐ nationale Kunstausstellung La Biennale di Venezia. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2011, 208. 13 Susanne Gaensheimer: „Vorwort“, 21. aus. Trotz dieser szenischen Demontage seines Afrika-Projekts in Remdoogo - Via Intolleranza II , die er als leiblich Anwesender in die Parole „Raus aus Afrika! “ zuspitzte, hielt er an seinem Vermächtnis allerdings nach wie vor fest. Der im Zuge der Inszenierung vollzogene Akt der Selbstprovokation, indem sich die Bilder gegen dessen Schöpfer selbst wandten, hinderte den Regisseur auch nicht daran, im Anschluss an die Aufführungen in persona Spenden zu erbitten und entgegenzunehmen. Sein buchstäblich letzter Wille führte zu einem bis in die Gegenwart hinein fortschreitenden Bauprojekt. Nur mehr die Spur der Präsenz von Schlingensiefs auktorialer Geste blieb in den Wiederaufnahmen von Mea Culpa und Via Intolleranza II nach seinem Tod erhalten. Die Symptome seiner Hinterlassenschaft wurden dabei mithilfe fil‐ mischer Einspielungen seiner Auftritte untermauert. Den statuarischen Cha‐ rakter des Vermächtnisses trug schließlich auch die Übersetzung der Inszenie‐ rung Eine Kirche der Angst in eine Installation anlässlich der Biennale in Venedig im Jahr 2011. Unter der programmatischen Aufschrift „Egomania“ 12 invertierte das lebendige Kunst-Ritual im theatralen Bethaus der Duisburger Gebläsehalle in den Nachlass eines Ich-Sagers, der wie ein autobiotheatrales Museum be‐ gehbar war (vgl. Abb. 43). Schlingensiefs Entwurf für den Deutschen Pavillon sah ursprünglich im Innenraum ein afrikanisches Wellnesszentrum und im Au‐ ßenraum in Anlehnung an die Hagenbeckschen Völkerschauen und Kolonial‐ ausstellungen des 19. Jahrhunderts käfigähnliche Strukturen vor, „in denen Af‐ rikaner als Künstler, als Schauspieler oder als Computerdoktor[en]“ 13 ausgestellt würden. Aus der Idee einer Überzeichnung des westlichen Hedonismus, der in der Vorstellung des exotischen Kontinents Afrikas zum Ausdruck kommt, wurde letztlich nichts. Stattdessen war ein Gedächtnisraum, ein Ort der Aufbewahrung von Reliquien des Künstlers zu erleben. Schlingensiefs Dramaturg Carl Hege‐ mann kommentierte das im Deutschen Pavillon installierte Projekt im Geist einer apodiktischen Mythologisierung des Theaterregisseurs. So könne die zur Installation umgewandelte Kirche der Angst „zum Beten und zum Meditieren 6 Ausblick: Schlingensiefs sozialkünstlerisches Vermächtnis 249 <?page no="250"?> 14 Carl Hegemann: „Egomania. Kunst und Nichtkunst bei Christoph Schlingensief “, 208. 15 Ebd. benutzt werden“ 14 . Dabei bleibt von Schlingensiefs emphatischer und gleichsam gebrochener Ich-Geste in seinem kunstreligiösen Fluxus-Oratorium letztlich das bewegungslose Standbild eines universalistischen Bethauses des Ichs übrig, das „für alle geeignet [sei], auch für die, die an nichts glauben“ 15 . 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S. 108 Abb. 4: Hyphologisches Raster für Eine Kirche der Angst und Mea Culpa © Johanna Zorn 111 Abb. 5: Mehrfachbelichtung durch Schuberts Lied „Nebensonnen“ und Valie Exports Aktionshose: Genitalpanik © ZDF Thea‐ terkanal, Screenshot 114 Abb. 6: Hyphologisches Raster zu Abb. 5 © Johanna Zorn 114 Abb. 7: Schlingensiefs letzter Blogeintrag vor seinem Tod am 7. Au‐ gust 2010 116 Abb. 8: Mehrfachbelichtungen des Ichs durch Fluxfilms und Re‐ enactments in Eine Kirche der Angst © Johanna Zorn 123 Abb. 9: Zellteilung 1 © ZDF Theaterkanal, Screenshot 126 Abb. 10: Zellteilung 2 © ZDF Theaterkanal, Screenshot 126 Abb. 11: Triptychon aus Fußwaschung und Röntgenbildern © ZDF Theaterkanal, Screenshot 128 Abb. 12: Hervé Guibert, Rue de Vaugirard, 1980 [Röntgenbild des Brustkorbs], aus: Hervé Guibert: Photographien, München u. a.: Schirmer/ Mosel 1993, o. S. 128 Abb. 13: Überblendung des Triptychons durch George Brechts Ent‐ rance to Exit © ZDF Theaterkanal, Screenshot 131 Abb. 14: Schlingensiefs noli me tangere © ZDF Theaterkanal, Screenshot 135 Abb. 15: Filmische Doppelprojektion der glücklichen Kindheit © david baltzer/ bildbuehne.de 138 Abb. 16: Filmische Projektion des im Spiel tödlich verwundeten Kindes © ZDF Theaterkanal, Screenshot 139 <?page no="274"?> Abb. 17: Mehrfachbelichtung durch filmische Projektion einer Zyto‐ kinese © ZDF Theaterkanal, Screenshot 142 Abb. 18: Mira Partecke zeigt auf den Leuchtkasten mit den Röntgen‐ bildern © ZDF Theaterkanal, Screenshot 143 Abb. 19: Mehrfachbelichtung durch die Projektion der Gralsenthül‐ lung aus Schlingensiefs Parsifal-Inszenierung © ZDF The‐ aterkanal, Screenshot 146 Abb. 20: Aus dem verwesenden Hasen entsteht neues Leben 149 Abb. 21: Der Schmerzensraum von Beuys [ Joseph Beuys, zeige deine wunde, 1974/ 1975] © Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München 154 Abb. 22: Der Schmerzensraum von Schlingensief © ZDF Theater‐ kanal, Screenshot 154 Abb. 23: Die katholische Liturgie und Schlingensiefs Übermalung © Johanna Zorn 158 Abb. 24: Projektion der Fußwaschung in der Messe © ZDF Theater‐ kanal, Screenshot 159 Abb. 25: Schlingensiefs filmischer Kommentar zu Beuys’ Arbeiten mit Fettecken 161 Abb. 26: Intertexte in Eine Kirche der Angst © Johanna Zorn 165 Abb. 27: Rudolf Schwarzkogler, 6. Aktion, 1966, aus: Gerald Schröder: Schmerzensmänner. München: Fink 2011, 447. 166 Abb. 28: Reenactment von Schwarzkoglers 6. Aktion 167 Abb. 29: Hans Holbein, Die Gesandten, 1533, aus: Rolf H. Johannsen: 50 Klassiker Gemälde. Hildesheim: Gerstenberg 2010, 85. 172 Abb. 30: Intertexte in Mea Culpa © Johanna Zorn 178 Abb. 31: Christoph und seine Verlobte bei der Beichte © Georg Soulek/ Burgtheater 180 Abb. 32: Der Krebs als begehbare Skulptur © Georg Soulek/ Burgthe‐ ater 182 Abb. 33: Christoph Schlingensief, Area 7, Burgtheater Wien, 2006 © Georg Soulek/ Burgtheater 192 Abb. 34: Christoph Schlingensief, Area 7, Burgtheater Wien, 2006 © Georg Soulek/ Burgtheater 192 Abb. 35: Friedrich Kieslers Raumbühne, Internationale Ausstellung neuer Theatertechnik, Wien 1924 © Österreichische Fried‐ rich und Lilian Kiesler-Privatstiftung 196 Abbildungsverzeichnis 274 <?page no="275"?> Abb. 36: Filmische Komposition Schlingensiefs (oberes Segment) aus einem für Joseph Beuys typischen Setting, hier: Sibirische Symphonie 1. Satz (mittleres Segment) und Günter Brus’ Zerreißprobe (unteres Segment) 205 Abb. 37: Kundrys Monolog mit der Projektion der übermalten Zer‐ reißprobe im Bildhintergrund © Georg Soulek/ Burgtheater 206 Abb. 38: Intertexte in Sterben lernen! © Johanna Zorn 228 Abb. 39: Herr Andersen trägt das Kreuz © Adrian Ehrat 230 Abb. 40: Herr Andersen erprobt das Sterben im Rahmen einer Per‐ formance © Adrian Ehrat 230 Abb. 41: Schlingensief unterbricht Andersens Sterbeversuch © Ad‐ rian Ehrat 232 Abb. 42: Schlingensief und die Andersens unterbrechen Calvinismus Klein © Matthias Horn 232 Abb. 43: Deutscher Pavillon, Biennale di Venezia, 2011 © Christiane Breul 250 Abbildungsverzeichnis 275 <?page no="276"?> In seinen letzten, nach der Krebsdiagnose im Jahr 2008 entstandenen Inszenierungen rückte der Theaterregisseur Christoph Schlingensief das persönliche Aufbegehren gegen den eigenen Tod in das Zentrum seines Schaffens. Die Publikation widmet sich dieser totalen künstlerischen Ich-Geste und stellt Schlingensiefs theatrale Selbstinszenierung dabei einerseits in den Horizont autobiographischer Selbstkonstruktion und beleuchtet andererseits die Relevanz der philosophischen Formel des Sterbenlernens für seine letzten Bühnenarbeiten. Forum Modernes Theater Schriftenreihe | Band 49 ISBN 978-3-8233-8047-4 Zorn Sterben lernen Johanna Zorn Sterben lernen: Christoph Schlingensiefs autobiotheatrale Selbstmodellierung im Angesicht des Todes