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Didaktik und Neurowissenschaften

Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis

1127
2017
978-3-8233-9048-0
Gunter Narr Verlag 
Petra A. Arndt
Michaela Sambanis

Didaktik und Neurowissenschaften ist das Ergebnis intensiver Auseinandersetzung mit Forschungsbeständen der Neurowissenschaften, Didaktik, Psychologie und Erziehungswissenschaft. Erkenntnisse, die für die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen relevant sind, werden in verständlicher Sprache zugänglich gemacht und Knotenpunkte im Wissen geschaffen. In sog. "Praxisfenstern" wird die Bedeutung der empirischen Befunde für den Unterricht diskutiert, Impulse für die Unterrichtsgestaltung werden entwickelt.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-8233-8048-1 Didaktik und Neurowissenschaften ist das Ergebnis intensiver Auseinandersetzung mit Forschungsbeständen der Neurowissenschaften, Didaktik, Psychologie und Erziehungswissenschaft. Erkenntnisse, die für die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen relevant sind, werden in verständlicher Sprache zugänglich gemacht und Knotenpunkte im Wissen geschaffen. In sog. „Praxisfenstern“ wird die Bedeutung der empirischen Befunde für den Unterricht diskutiert, Impulse für die Unterrichtsgestaltung werden entwickelt. Arndt / Sambanis Didaktik und Neurowissenschaften Didaktik und Neurowissenschaften Petra A. Arndt / Michaela Sambanis Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis <?page no="1"?> Dr. Petra A. Arndt ist geschäftsführende Gesamtleitung des ZNL TransferZentrums für Neurowissenschaften und Lernen, Universität Ulm. Prof. Dr. Michaela Sambanis ist Lehrstuhlinhaberin für die Didaktik des Englischen an der Freien Universität Berlin. <?page no="4"?> Petra A. Arndt, Michaela Sambanis Didaktik und Neurowissenschaften Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis <?page no="5"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Internet: www.narr-studienbuecher.de E-Mail: info@narr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISBN 978-3-8233- 048 - 9 0 <?page no="6"?> 5 Inhalt 0. Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Verortung und Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.1 Rezeption von Gehirnforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.1.1 Distanzierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.1.2 Direkte Aufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.1.3 Kritische Übersetzung und Begründung der angestrebten Verbindung zwischen Neurowissenschaften und Didaktik . . . . . . . . . . . 20 Ausgewählte Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2. Gehirn und Hirnentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.1 Ein Gehirn entsteht: Von einer dünnen Zellschicht zur komplexen Struktur . . 25 2.2 Verbindung ist alles: Ein gigantisches neuronales Netzwerk wächst zusammen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.3 Ein Schritt nach dem anderen: Hirngebiete entwickeln sich nacheinander . . . . 34 2.4 Vom Feldweg zur Schnellstraße: Myelinisierung von Nervenfasern . . . . . . . . . . 36 2.5 Die Verschränkung neuronaler und kognitiver Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.5.1 Stabilität und Störanfälligkeit: Beispiel Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . 38  Praxisfenster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.5.2 Nutzung alternativer Hirnstrukturen und Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.5.3 Was lange währt… : Der präfrontale Cortex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.6 Adoleszenz: Eine ganz besondere Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.7 Umgebungseinflüsse und Förderung der Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Ausgewählte Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3.1 Aufmerksamkeit in Pädagogik und Hirnforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3.2 Wachheit, Kapazität und Grenzen von Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 3.3 Aufmerksamkeit als Auswahlprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3.3.1 Sensorische Auswahl und Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3.3.2 Aufmerksamkeits- und Handlungskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.4 Aufmerksamkeit und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3.4.1 Aufmerksamkeit und Hirnreifung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3.4.2 Zusammenspiel der verschiedenen Aufmerksamkeitssysteme . . . . . . . . . 68 3.5 Aufmerksamkeit und Verhaltenssteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.5.1 Verankerung von exekutiver Aufmerksamkeit und exekutiver Kontrolle im Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 3.5.2 Exekutive Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 <?page no="7"?> 6 Inhalt 3.6 Förderung von Aufmerksamkeit, Konzentration und exekutiven Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.6.1 Förderung der Entwicklung von Aufmerksamkeit, Konzentration und exekutiven Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.6.2 Gestaltung aufmerksamkeitsförderlicher Rahmenbedingungen . . . . . . . 76 3.7 Aufmerksamkeit oder Langeweile: Was passiert im Unterricht? . . . . . . . . . . . . . 78 3.7.1 Ist Langeweile positiv oder negativ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3.7.2 Tritt Langeweile in allen Schulfächern auf ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.7.3 Welche Charakteristika von Unterricht könnten Langeweile begünstigen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3.7.4 Was machen Schülerinnen und Schüler, wenn sie sich langweilen? . . . . 84 3.7.5 Was tun? -- Maßnahmen gegen Langeweile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86  Praxisfenster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Ausgewählte Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4. Emotionen und Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4.1 Emotionsstudien im Kindergarten- und Grundschulalter . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 4.1.1 Erkenntnisse aus der Bildungshaus-Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4.2 Akzeptanz von Schule: die Willingham-These . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4.3 Sprachverwendungsangst in der Fremdsprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4.3.1 Diskursfähigkeit und Sprachverwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4.3.2 Foreign Language Anxiety als situationsspezifische Angst . . . . . . . . . . . 109 4.4 Mathematikphobie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112  Praxisfenster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 4.5 Selbstbestimmungstheorie der Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4.5.1 Motivationsstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 4.5.2 Grundbedürfnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 4.5.3 Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung im Unterricht . . . . . . . . . . . . 123 4.6 Emotionen im Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Ausgewählte Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 5. Bewegung und Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 5.1 Welche Erkenntnisse liegen zu Bewegungen als Ausgleich vor? . . . . . . . . . . . . 129 5.2 Welche Erkenntnisse liegen für Bewegungen zu Inhalten vor? . . . . . . . . . . . . . 133 5.2.1 Szenisches Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 5.2.2 Effekte beim Fremdsprachenlernen im Kindergartenalter . . . . . . . . . . . 138 5.2.3 Effekte beim Erwerb von numerischen Kompetenzen auf der Elementar- und Primarstufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 5.2.4 Wie lassen sich die Effekte erklären? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141  Praxisfenster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Ausgewählte Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 <?page no="8"?> 7 Inhalt 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 6.1 Wie ist Wissen eigentlich im Gehirn gespeichert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 6.2 Wo genau steckt jetzt das Wissen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 6.3 Nicht-deklaratives Gedächtnis: Wahrnehmen, Zusammenhänge kennen, Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 6.3.1 Habituation: Anpassung an das, was ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 6.3.2 Perzeptuelles Gedächtnis: Abbildung von Wiederkehrendem . . . . . . . . 153 6.3.3 Lernen durch Assoziationsbildung: schnell zugreifen können . . . . . . . . 154 6.3.4 Prozedurales Gedächtnis: etwas können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 6.4 Deklaratives Gedächtnis: Ich weiß, was ich weiß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 6.5 Denken und Gedächtnis: Strukturierung von Repräsentationen . . . . . . . . . . . 162 6.6 Enkodierung: Aufnahme von Information ins Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 6.6.1 Sensorische Aufnahme und Mustererkennung als Basis der Enkodierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 6.6.2 Einfluss von Weiterverarbeitung und Vertiefung enkodierter Information auf die Gedächtnisbildung . . . . . . . . . . . . . . . 167 6.7 Konsolidierung: Festigen von Gedächtnisinhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 6.7.1 Stärkung neuronaler Gedächtnisspuren als Basis der Langzeitspeicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 6.7.2 Lernen im Schlaf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 6.8 Abruf, Erinnern und Vergessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186  Praxisfenster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Ausgewählte Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Epilog im Praxisfenster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 <?page no="10"?> 9 0. Prolog Über das Gehirn gibt es zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen, außerdem auch weniger um Wissenschaftlichkeit bemühte Publikationen, die aber zumindest in der Öffentlichkeit oftmals größere Beachtung finden als die eigentliche „wissenschaftliche Kost“. Das ist einerseits irgendwie verständlich, andererseits kann es mitunter auf Irrwege führen. Nicht alles, was sich leicht lesen lässt und interessant daherkommt, was vom Gehirn, unserer Steuer- und Lernzentrale, berichtet, die all das repräsentiert, was wir tun, denken und erleben, trifft auch zu. Umgekehrt muss allerdings auch eingeräumt werden, dass vieles von dem, was die Forschung an Wissen hervorbringt, gar nicht nach außen kommt und somit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern anderer Disziplinen sowie Praktikerinnen und Praktikern nicht bzw. nicht immer auf geeignete Weise zugänglich gemacht wird. Mit Didaktik und Neurowissenschaften möchten wir Ihnen von Befunden berichten, die im Kontext des Themas Lernen (einschließlich der Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen) bedeutsam erscheinen. Außerdem möchten wir zum Dialog, insbesondere zwischen Wissenschaft und Praxis, aber auch zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, anregen und einen Beitrag dazu leisten. Bei einigen Leserinnen und Lesern rufen diese Anmerkungen zur Zielsetzung des Buchs wahrscheinlich die Assoziation „Neurodidaktik“ hervor, was nicht falsch ist und doch auch nicht ganz zutreffend. Inwiefern der vorliegende Band sich von bisherigen Transferversuchen unterscheidet, welchen Weg er wählt und aus welchen Gründen, das wird in Kapitel 1, der Einleitung, dargelegt. An die methodischen Überlegungen und eine Orientierung der Leserinnen und Leser schließen sich ab Kapitel 2 inhaltliche Darstellungen an: Hier erschien es folgerichtig, bei dem anzusetzen, mit dem alles beginnt, nämlich bei Stammzellen und Neuroblasten, kurzum bei der Hirnentwicklung. Kapitel 3 befasst sich mit Aufmerksamkeit und Langeweile. Kapitel 4 geht dann nicht kognitiven Aspekten von Lernen, nämlich Emotionen und Motivation, nach, während Kapitel 5 Befunde verschiedener Disziplinen zu Bewegung beim Lernen selbst sowie zwischen einzelnen Lernphasen darstellt. Kapitel 6 schließlich ergänzt Kapitel 4 und knüpft zugleich an Kapitel 5 an, indem es sich mit dem Gedächtnis befasst. Die genannten Themen werden nicht nur aus Sicht der Hirnforschung, sondern ebenso mit dem Blick aus der Didaktik und in die Didaktik bearbeitet. „Benutzen Sie Ihr Gehirn nicht nur, verstehen Sie es auch! “, lautet eine Empfehlung Manfred Spitzers (2013). 1 Auch wir möchten zum Benutzen des Gehirns einladen, denn es wird durch Gebrauch immer leistungsfähiger, aber dazu später mehr. Darüber hinaus möchten wir mit dem vorliegenden Band etwas zur Verfügung stellen, das das Verstehen des Gehirns unterstützen soll und zwar nicht nur um des Verstehens willen, sondern um im Dialog Anwendungsmöglichkeiten und Möglichkeiten der gegenseitigen Bereicherung zu entdecken und auszuloten. Didaktik und Neurowissenschaften richtet sich an Studierende- - an Lehramtsstudierende verschiedener Fächer für alle Schularten, an Studierende der Erziehungs- 1 Es handelt sich um ein Zitat aus der Ankündigung bzw. aus dem Klappentext seines Buchs Das (un) soziale Gehirn. <?page no="11"?> 10 0. Prolog wissenschaft, der Frühen Kindheit, Frühpädagogik, Sozialen Arbeit, der pädagogischen und biologischen Psychologie--, an Referendare, Lehrkräfte, Bildungsverantwortliche, Lehrwerkskonzipierende sowie Aus- und Fortbildende. Als Autorinnen blicken wir auf die spannende, erhellende und arbeitsreiche Phase der Recherche, des Austauschs und des Schreibens am Manuskript zu diesem Buch zurück und wir hoffen, dass dessen Publikation Anstöße geben kann. Wir möchten es an dieser Stelle auf keinen Fall versäumen, uns bei jenen zu bedanken, die uns unterstützt haben: Ein herzliches Dankeschön an Laura Wendland für die kritische Lektüre des Manuskripts und die Unterstützung bei der Formatierung, an Annika Jäkel für die Erstellung von Graphiken zur Neurobiologie und an Anastasia Sambanis für die Übersetzung unserer teilweise kryptischen Bildbeschreibungen in stimmige Zeichnungen. Bedanken möchten wir uns außerdem bei unseren Kolleginnen und Kollegen in der Didaktik des Englischen an der FU Berlin und am ZNL TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen Ulm sowie bei den vielen Studierenden, Lehrkräften, Erzieherinnen etc., die uns mit ihren Fragen und ihren Berichten aus der Praxis bestätigen, dass es ein lohnendes und wichtiges Unterfangen ist, Didaktik und Neurowissenschaften zusammen in den Blick zu nehmen. Ulm / Berlin, im Sommer 2017 Petra Arndt Michaela Sambanis <?page no="12"?> 11 1. Verortung und Zielsetzung Der vorliegende Band ist das Ergebnis intensiver Recherche und Auseinandersetzung mit Forschungsbeständen verschiedener Disziplinen, darunter im Besonderen die Neurowissenschaften sowie die Didaktik, die Psychologie und die Erziehungswissenschaft. Durch das Zusammenführen von Wissensbeständen soll, Schlaglichter setzend auf Fragen, die für die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen relevant erscheinen, der Versuch unternommen werden, Erkenntnisse zugänglich zu machen und zusammen zu bringen. Das Referieren in verständlicher Sprache, jedoch ohne unzulässige Vereinfachungen, bildet eine der Zielsetzungen des vorliegenden Bandes. 1 Verschiedene Aspekte dessen, was unter Lernen subsumiert wird, sind in den zurückliegenden Jahren erforscht worden, und unterschiedliche Disziplinen, darunter die Neurowissenschaften, haben mit ihren jeweiligen Herangehensweisen und Methoden der Erkenntnisgewinnung dazu beigetragen, dass das Verständnis wachsen kann. Aber es ist nicht immer der Versuch unternommen worden, relevante Wissensbestände auch aufzuschlüsseln, sodass z. B. Studierende, Lehrkräfte etc. in geeigneter Form davon erfahren konnten. Ebenso ist es nicht immer gelungen, Knotenpunkte herzustellen, bei denen Evidenzen 2 unterschiedlicher Disziplinen zusammengeführt wurden. Ein wesentlicher Grund dafür ist die Komplexität des Unterfangens. Bereits angesichts der Fülle an neurowissenschaftlichen Publikationen jährlich-- die Zahlen variieren zwischen 40.000 und etwa dem Doppeltem (vgl. Sambanis 2015: 155)-- wird erkennbar, dass eine Orientierung in diesem Feld und die Kenntnisnahme von Evidenzen und Gegenevidenzen eine immense Herausforderung darstellt. Hinzu kommt die Frage, wie Befunde angemessen aufgeschlüsselt werden können, damit sie auch für die Praxis des Lehrens und Lernens nutzbar werden, ohne unzulässige Verzerrungen oder Verkürzungen zu erfahren. Die Neurowissenschaften zeichnen sich als eine forschungsaktive Disziplin mit mehreren Teildisziplinen und Ebenen dadurch aus, dass sie, einfach formuliert, zumeist anders forschen als-[…] [z. B.] die Fremdsprachendidaktik, in einer anderen Forschungstradition stehen und eine beachtliche Menge an Publikationen und spezifischen Erkenntnissen hervorbringen, die oftmals nur nachvollziehbar sind, wenn der Rezipient zumindest mit üblichen Vorgehensweisen, Arten der Datengenerierung und typischen Studiendesigns in dieser Disziplin vertraut ist. (ebd.) 1 Dieser Versuch könnte als Neurodidaktik klassifiziert werden, wählt aber methodisch, wie im Weiteren noch dargelegt wird, einen anderen Weg als bisherige Neurodidaktiken. Der bekannte, aber nicht unumstrittene Begriff Neurodidaktik wurde vor fast dreißig Jahren, nämlich 1988, von dem Freiburger Professor für Mathematikdidaktik Gerhard Preiß geprägt. Preiß forderte, eine Brücke zwischen Gehirnforschung und Didaktik zu bauen. 2 Evidenz wird hier im Sinne von evidence verwendet mit der Bedeutung „die durch empirische Forschungsmethoden gewonnenen Belege oder Hinweise,-[…] die durch Forschungsmethoden vermittelten Erkenntnisse, die- […] eine interpretationsbedürftige Grundlage für bestimmte Schlussfolgerungen“ bilden (Bellmann & Müller 2011: 11). <?page no="13"?> 12 1. Verortung und Zielsetzung „The time for evidence-based education has arrived“, konstatieren Sigman et al. (2014: 497), denn nach wie vor stellt Schule „the largest learning experiment ever attempted“ (ebd.) dar, d. h. es wird vieles gemacht, wie es schon immer gemacht wurde oder Neues beherzt implementiert. Vor Innovationsentscheidungen liegt es eigentlich nahe und erscheint vernünftig, die Frage nach verfügbarem Wissen zu stellen, allerdings wird dieser Schritt mitunter übergangen oder bestenfalls hastig genommen. Der vorliegende Band möchte dazu anregen, rechtzeitig und konsequent die Frage zu stellen: Was wissen wir eigentlich schon? Die Neurowissenschaften können einen spezifischen Beitrag zur „Aufklärung über die Natur des Lernens selbst“ leisten (Blakemore & Frith 2006: 197) und zwar durch „kontraintuitive Erkenntnisse über das Lernen“ (ebd.: 21). „[…] neuroscience provides important insights for psychological and educational research by describing the general neurophysiological preconditions of successful learning“ (Stern et al. 2007: 32). Diese Einsichten sind für die Didaktik von zentraler Bedeutung, denn: „Education is about enhancing learning, and neuroscience is about understanding the mental processes involved in learning“ (The Royal Society 2011: V). Dennoch darf bei dem Versuch, eine Verbindung zwischen Neurowissenschaften und Didaktik herzustellen, nicht in Vergessenheit geraten, dass die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zwar dazu beitragen, die beim Lernen ablaufenden Vorgänge und damit die neurophysiologischen Voraussetzungen von Lernen zu erfassen. Die Didaktik muss dann aber als „die Wissenschaft vom pädagogisch angeleiteten Lehren und Lernen“ (Friedrich 2009: 272) Antworten auf die Frage finden, wie das angestrebte learning enhancement unter Berücksichtigung der identifizierten neurophysiologischen Vorgänge sowie der Anforderungen an Unterricht und der gegebenen Kontextfaktoren erreicht werden kann. Aus unserer Sicht besteht die vordringliche Aufgabe darin, die Fragen nach dem Was wissen wir? und dem Was kann daraus auch unter Einbezug weiterer Wissensstände und Sichtweisen für das Lehren und Lernen geschlossen werden? aufzugreifen und in einer wechselseitigen Transferdiskussion zu verankern. Bei dem Versuch, mögliche Antworten auf die Frage nach Konsequenzen für die Praxis zu finden, werden sich neue Fragen ergeben und mit ihnen der Wunsch, diese so beantworten zu können, dass auch sie zu einer „evidence-informed practice“ (Nevo & Slonim-Nevo 2011) beitragen können. Dies verweist auf die Prozessualität des gesamten Unterfangens: Evidenzbasierte Didaktik kann nicht statisch sein. Sie speist sich aus Forschungsfeldern, die sich durch Dynamik auszeichnen. Sie kann daher nicht beanspruchen, eine Art unerschütterlicher Heilslehre zu vermitteln. Ein zeitgemäßes Verständnis von einer sich auch auf Erkenntisse der Neurowissenschaften stützenden Didaktik bedarf eines Weiterdenkens und teilweise auch Ablegens dessen, was gemeinhin mit dem Begriff Neurodidaktik assoziiert wird, nämlich, auf eine einfache Formel gebracht, das Ziehen von Schlussfolgerungen aus Befunden der Neurowissenschaften, oftmals ohne vorherige Auseinandersetzung mit möglichen Vorgehensweisen und ohne bewusste Entscheidung für ein Prozedere. Das eher intuitive und vor allem rein lineare Übertragen neurowissenschaftlicher Erkenntnisse, z. B. in die „Pädagogik als Anwendungsfeld“ (Müller 2009: 56), scheint zu kurz zu greifen und wird schon Ende der 1990er-Jahre in dem vielzitierten Artikel von Bruer (1997: 5) als „a bridge too far“ bezeichnet. <?page no="14"?> 13 1.1 Rezeption von Gehirnforschung Seit einiger Zeit wird zum Umdenken aufgefordert: „knowledge needs to go in both directions“ (The Royal Society 2011: 18, kursiv im Original). Daraus ergibt sich beim Verbinden von Neurowissenschaften und Didaktik die Aufgabe, sich von dem linearen Modell zu lösen, den Blick zu erweitern, d. h., wie oben erwähnt, den Versuch zu unternehmen, Knotenpunkte im Wissensstand herzustellen. Anstelle einer einspurigen Kommunikationsführung, bei der die Gehirnforschung ihre Befunde anderen Disziplinen vermittelt, sollte es die Neurodidaktik als ihre Aufgabe verstehen, den Dialog zwischen den Neurowissenschaften, der Didaktik, Psychologie und Erziehungswissenschaft sowie zwischen Wissenschaft und Praxis anzuregen, weiter zu befördern und zu moderieren: 3 […] when asking how neuroscience can be useful to education it is insufficient to focus solely on our current understanding of brain function. Efforts to make change may be wasted if they are not accompanied by a reflection on how the translational process can be efficiently organized. (Sigman et al. 2014: 500) Um darstellen zu können, wo sich der vorliegende Band verortet und wie versucht wird, den translationalen, reflektierenden und vermittelnden Auftrag zu erfüllen, werden im Folgenden zunächst kurz bisherige Entwicklungsströmungen und mögliche Positionen im Feld der bisherigen Neurodidaktik umrissen und vor diesem Hintergrund eine Positionierung vorgenommen. 1.1 Rezeption von Gehirnforschung In seinem Beitrag zu pädagogischen Implikationen der Hirnforschung stellt Müller (2005) systematisch dar, wer zu den Rezipienten der Neurowissenschaften zählt, warum und wie die Befunde der Hirnforschung jeweils rezipiert wurden bzw. werden. Im Folgenden sollen einige wichtige Entwicklungen nachgezeichnet und in Orientierung an der von Müller vorgelegten Unterscheidung dreier Rezeptionsmuster dargestellt werden. Die Analyse der Art und Weise, wie die Schulpädagogik, die Didaktik-- streng genommen müsste man von Allgemeiner Didaktik und den einzelnen Fachdidaktiken sprechen (vgl. Arnold & Roßa 2012: 11 ff.)-- und die Allgemeine Erziehungswissenschaft, ursprünglich vor allem zum Zwecke der „empirische[n] Abstützung radikal-konstruktivistischer Konzeptionen“ (Müller 2005: 71), neurowissenschaftliche Befunde rezipiert haben, erlaubt die Identifikation dreier möglicher Rezeptionsmuster: die kritische Begrenzung und Distanzierung, die direkte Aufnahme und die kritische Übersetzung (vgl. Müller 2005: 73). Während Letztere 3 2015 wurde von einer der beiden Autorinnen, M. Sambanis, zusammen mit ihrem Kollegen H. Böttger von der KU Eichstätt die Tagungsreihe Focus on Evidence (FoE)-- Fremdsprachendidaktik trifft Neurowissenschaften ins Leben gerufen. Die Tagung findet alle zwei Jahre statt und erreicht vor Ort und via Webinar weltweit hohe Teilnehmerzahlen. In kompakten Vorträgen werden Erkenntnisse aus der Hirnforschung vorgestellt und im Anschluss von Expertinnen und Experten aus den Neurowissenschaften, der Didaktik, Psychologie und Erziehungswissenschaft sowie mit Vertreterinnen und Vertretern aus der Praxis gemeinsam diskutiert. FoE setzt auf „partizipative Transferstrategien“ (Bellmann & Müller 2011: 27). <?page no="15"?> 14 1. Verortung und Zielsetzung noch weitgehend als Entwicklungsaufgabe zu betrachten ist, sind die beiden erstgenannten Rezeptionsmuster seit einigen Jahren existent und gut voneinander abgrenzbar. 1.1.1 Distanzierung In den o. g. Disziplinen sowie in weiteren finden sich Vertreterinnen und Vertreter, die den Neurowissenschaften skeptisch bis verschlossen gegenüber stehen. 4 Der Wert, teils auch die Aussagekraft und Finalität (vgl. Schirp 2003: 304) oder Genauigkeit neurowissenschaftlicher Studien wird von ihnen infrage gestellt. Oftmals wird die Relevanz der eigenen Disziplin für die Erkenntnisgewinnung hervorgehoben und argumentiert, dass die Hirnforschung keine Erkenntnisse erbrächte, die nicht durch Studien innerhalb der eigenen Domäne mit mindestens ebenso hoher Genauigkeit und Aussagekraft zu erreichen seien. Ein Vertreter dieser Argumentationslinie ist der Psychologe Bowers (2015), der im Zuge seiner die Meriten der experimentellen Psychologie unterstreichenden Argumentation feststellt, dass „understanding the brain-[…] irrelevant to designing and assessing teaching strategies“ (Bowers 2015: 601) sei. Er begründet seine Distanznahme u. a. dadurch, dass aus seiner Sicht die Hirnforschung zum Feld der education nichts beizutragen habe, „above and beyond what psychology has already established“ (Bowers 2015: 602) oder jenseits dessen, was die Erziehungswissenschaft und Pädagogik 5 sowie jede erfahrene Praktikerin und jeder erfahrene Praktiker ohnehin schon längst wisse (vgl. Schirp 2003: 304). Oft bestätigen neurowissenschaftliche Erkenntnisse die von anderen Disziplinen generierten Befunde bzw. von Praktikerinnen und Praktikern gewonnene Erfahrungen. Von Neuro- Skeptikern wird die Bestätigung auf neurowissenschaftlichem Weg als obsolet betrachtet und nicht als eine Verdichtung des Kenntnisstandes beurteilt (vgl. z. B. Bowers 2015: 603). Der „Tendenz nach betrachtet man Hirnforschung als eine Gefahr“ (Müller 2005: 91) für das eigene wissenschaftliche Fachgebiet, dessen Eigenständigkeit und Relevanz. Aus manchen neuro-skeptischen Argumentationen spricht die Sorge, mit der eigenen Disziplin in den Schatten einer populären und zudem noch sehr medientauglichen Wissenschaft zu geraten. 6 4 Als Vertreter der distanzierenden Position seitens der Pädagogik und Erziehungswissenschaft nennt Müller (2005: 91) die beiden inzwischen im Ruhestand befindlichen bzw. emeritierten Professoren Meyer-Drawe und Ruhloff. 5 Die Begriffe Pädagogik und Erziehungswissenschaft werden häufig synonym verwendet, was jedoch eigentlich nicht korrekt ist. Pädagogik ist, wissenschaftshistorisch gesprochen, der ältere Begriff, während die Erziehungswissenschaft noch vergleichsweise jung ist. Letztere widmet sich als wissenschaftliche Disziplin der Erforschung von Bildungsfragen, während Pädagogik eher auf der Ebene des pädagogischen Handelns, also des Erziehens und Bildens, anzusiedeln ist. Bereits seit einigen Jahren wird diskutiert, ob diese Ko-Existenz und Unterscheidung Sinn macht oder eher Verwirrung stiftet, und ob die Pädagogik nicht sogar als Auslaufmodell zu betrachten sei. Für Systematisierungsversuche vgl. Lenzen 1989. 6 Beispielsweise Becker (2006: 9) spricht in kritischer Abgrenzung zu den Neurowissenschaften von „Legitimationsproblemen“ der Erziehungswissenschaft. Sie stellt die Popularität und Expansion der Neurowissenschaften dem Abbau der Ressourcen der Erziehungswissenschaft gegenüber, die trotz „Verschlechterung“ der Konditionen immer „mehr leisten“ solle (ebd.), was die Vorstellung eines kausalen <?page no="16"?> 15 1.1 Rezeption von Gehirnforschung Die große Popularität der Neurowissenschaften (vgl. u. a. Becker 2006, Heinemann 2012) seit der durch den Senat der USA ausgerufenen Decade of the Brain (1990-2000), gefolgt von der Decade of the Mind (vgl. Sambanis 2015: 153), bricht zwar trotz neuro-skeptischer Stimmen nicht ein, aber in letzter Zeit kann ein gewisser Rückgang des Interesses bzw. der Akzeptanz beobachtet werden. Dafür scheinen zwei Gründe maßgeblich zu sein: zum einen die (Omni-)Präsenz der Neurowissenschaften bis hinein in die Alltagswelt, die nach der anfänglichen, durch die Entdeckung der bildgebenden Verfahren ausgelösten Faszination zu einer Sättigung oder gar Übersättigung geführt hat und zum anderen die Kritik an der bisweilen zweifelhaften Art der Übertragung von Erkenntnissen bzw. an den Neurowissenschaften selbst. 7 Die Neurowissenschaften entwickelten sich seit den 1990ern zu einer „populäre(n) Wissenschaft“ (Heinemann 2012: 42), die in viele Forschungs- und auch Lebensbereiche hineindrängte bzw. hinzugezogen wurde: Hirnforschung und Rechtsprechung (Haben wir einen freien Willen und wo zeigt er sich? ), Hirnforschung und Religion (Warum sind gläubige Menschen resilienter? ), Hirnforschung und Partnersuche (Partnerwahl mit Hirnscan? ), Neurogastronomie (Können durch Aromen biochemische Prozesse ausgelöst und z. B. Stimmungen beeinflusst werden? ) und natürlich gehirngerechtes Lernen-- was wie ein Widerspruch in sich klingt, denn womit, außer mit dem Gehirn, sollte man denn lernen? In der Tat kann man sich fragen: Wo wird die Hirnforschung eigentlich noch nicht bemüht und was kommt noch alles? (Sambanis 2015: 154) Die Distanzierung von den Neurowissenschaften wird u. a. durch die Vorläufigkeit mancher Befunde begründet (vgl. Müller 2005: 91), durch die Frage nach deren Geltungsbereich, der Relevanz ihres Beitrags sowie teilweise durch eine Problematisierung im Hinblick auf die Kompatibilität neurowissenschaftlicher Befunde mit denen anderer Disziplinen bzw. mit der Praxis. Häufig werden von Skeptikern Beispiele aufgegriffen, bei denen sehr beherzt oder vorschnell (teilweise von Befunden, ohne Berücksichtigung von bereits vorliegenden Gegenbefunden) auf andere Bereiche, z. B. die Gestaltung von Unterricht, geschlossen wurde. Auch die mitunter ungenügende Bewusstmachung der Tatsache, dass das „Wissen der Hirnforschung über Entwicklung und Lernen-[…] oftmals ein „negatives“ Wissen ist“ (Müller 2009: 59), d. h. dass es sich um Wissensbestände handelt, die nicht am gesunden Gehirn gewonnen wurden, sondern an Gehirnen mit Beeinträchtigungen, wird als Argument gegen eine Berücksichtigung neurowissenschaftlicher Befunde ins Feld geführt. Die von Skeptikern vorgebrachten Argumente können keineswegs generell als trivial betrachtet werden, aber sie müssen nicht zwangsläufig zu einer Ablehnung der Neurowissenschaften und zu einem Sich-Verschließen ihren Befunden gegenüber veranlassen. Bowers (2015: 601) bemängelt, educational neuroscience sei unwarrented, misleading und trivial. Im Zuge der Konzeption eines Neuansatzes zur Aufschlüsselung neurowissenschaftlicher Zusammenhangs zwischen Zuwendungen für die Neurowissenschaften und Verschlechterung der Ausstattung der Erziehungswissenschaften suggeriert. 7 In diesem Zusammenhang werden methodische Unzulänglichkeiten ins Feld geführt oder z. B. mögliche Ungenauigkeiten von bildgebenden Verfahren bemängelt etc. <?page no="17"?> 16 1. Verortung und Zielsetzung Evidenz für die Didaktik kann dieses Urteil, selbst wenn es auf den ersten Blick tendenziell recht pauschal abwertend anmutet, nicht leichtfertig übergangen werden, zumal es vom Autor minutiös untermauert wird. 8 Vielmehr sollte es zur kritischen Auseinandersetzung anregen und zu der Frage veranlassen, wie es gelingen könnte, Fehlinterpretationen, mangelnde wissenschaftliche Absicherung und Trivialität als mögliche Störfaktoren ernst zu nehmen und im Bemühen um Qualität nach Kontrollmaßnahmen zu suchen (vgl. 1.1.3). 1.1.2 Direkte Aufnahme Die Gegenposition zur Distanzierung bildet die direkte Aufnahme. Sie ist in der Erziehungs- und Bildungstheorie seit den 1990er-Jahren in der Regel als „eine selektive und sporadische Rezeption“ (Müller 2005: 85) zu finden. Dabei rückt u. a. der Gedanke des Anreicherns der „Bildungstheorie um empirisches Wissen“ (Müller 2005: 88) in den Fokus, verbunden mit dem Ziel, einem „Bedeutungsverlust“ der Bildungstheorien (Müller 2005: 89) entgegenzuwirken. Die Neurowissenschaften werden hier, anders als von Vertreterinnen und Vertretern der unter 1.1.1 referierten Position, nicht z. B. aus Sorge um den Bedeutungsverlust der eigenen Disziplin abgelehnt, sondern im Gegenteil als Ressource betrachtet, um die eigene Relevanz zu erhöhen. Eine Auswertung der erziehungswissenschaftlichen Publikationen mit Bezügen zu den Neurowissenschaften veranlasst Becker (2006: 11) dazu, von einer „zunehmenden Rezeptionsbereitschaft“ ab den 1990er-Jahren zu sprechen: Erste Rezeptionsversuche finden sich seit Anfang der 1990er-Jahre insbesondere im Bereich der Bildungstheorie und der pädagogischen Anthropologie, seit Ende der 1990er-Jahre lassen sich zudem verstärkte Rezeptionsbemühungen hinsichtlich schulpädagogischer, insbesondere unterrichtsmethodischer Fragestellungen beobachten. (ebd.) Hirnforschung und Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft sowie Didaktik haben „mit dem Lernen einen gemeinsamen Gegenstand“ (Müller 2005: 74, kursiv im Original). Preiß prägt, wie weiter oben schon erwähnt, Ende der 1980er-Jahre, den Begriff der Neurodidaktik und regt u. a. seinen Schüler Friedrich dazu an, sich mit „Applikationen [von Wissensbeständen der Hirnforschung] in der Didaktik“ (Müller 2005: 75) auseinander zu setzen. Friedrich (1995) betrachtet sowohl die hier unter 1.1.1 beschriebene Distanzierung, also das Ablehnen und Ausblenden der Neurowissenschaften, als auch eine unreflektierte Akzeptanz als Gefahr: Das Sich-Verschließen vor den Erkenntnissen der Hirnforschung belasse, bildlich gesprochen, den Ball im Feld der Neurowissenschaften und zwar dann, wenn er von der Erziehungswissenschaft und Didaktik zu übernehmen wäre. Das führe dazu, dass sich Nicht-Experten für das institutionalisierte Lernen zuständig fühlten und „kenntnisfrei über pädagogische Sachverhalte“ äußerten (Müller 2005: 75). Viele Befürworterinnen und Befürworter der direkten 8 Bowers Kritik hat eine Diskussion unter Fachleuten ausgelöst, die zum Zeitpunkt des Abfassens des Manuskripts noch nicht abgeschlossen war (vgl. Howard-Jones et al. 2016, Gabrieli 2016, gefolgt von einer Replik von Bowers ebenfalls 2016). <?page no="18"?> 17 1.1 Rezeption von Gehirnforschung Aufnahme beurteilen dies kritisch und sehen sich mit ihrer Expertise für pädagogische Sachverhalte in der Pflicht, tätig zu werden und sich sozusagen vor Übergriffen zu schützen-- obschon, zumindest bei einer engen Auslegung, die Entlehnung von Wissensbeständen aus den Neurowissenschaften auch als Übergriff gedeutet werden könnte. Bei unreflektierter Akzeptanz der Neurowissenschaften bestehe die Gefahr darin, „Begriffe und Erkenntnisse im Sinne einer Modeerscheinung-[…] naiv zu übernehmen“ (Müller 2005: 76). Aber nicht nur mangelndes Verständnis für neurowissenschaftliche Forschung, sondern auch fehlende pädagogische und didaktische Expertise können zu falschen Schlüssen und trivialen Applikationsversuchen führen. In der Tat stellt die Übertragung von einer Disziplin in die andere eine Herausforderung dar, die als Prozess sorgsam gestaltet werden muss. Gleiches gilt für die Übersetzung von Wissenschaft in die Praxis, die, damit ein Anwendungsbezug zum Praxisfeld möglich wird, oftmals dazu zwingt, Hochkomplexes auf eine einigermaßen griffige Formel zu bringen und in verständlicher Sprache zu kommunizieren. Kritiker von Applikationsbemühungen greifen aus Neurodidaktiken mitunter Passagen heraus, die, zumindest isoliert betrachtet, den Vorwurf der Trivialität stützen. Beispielsweise schreibt Grein (2013: 8) in ihrer Neurodidaktik, dass „[z]wei Faktoren für das Lernen eine bedeutsame Rolle [spielen]: einmal das Gehirn bzw. genauer der Cortex-[…] und zum anderen die Neuronen- […].“ Aus zwei Gründen mag diese Aussage in Kritikeraugen naiv oder trivial erscheinen: Zum einen besagt sie, dass es zum Lernen ein Gehirn braucht, was in etwa genauso erhellend ist, wie die Feststellung, dass Lungen recht vorteilhaft sind, wenn man gerne atmen möchte. Zum zweiten sind beide genannten Faktoren, nämlich „einmal das Gehirn- […] und zum anderen die Neuronen“ (ebd.) unter dem einen Faktor namens Gehirn bereits subsummiert. Analog braucht man zum Atmen die Lungen samt ihren Lungenbläschen, ohne die Bläschen wäre Atmen ein ebenso fruchtloses Unterfangen wie der Versuch, ohne Neuronen im Gehirn lernen zu wollen. Die Tatsache, dass stellenweise solche eher wenig gehaltvollen Aussagen in Neurodidaktiken zu finden sind, muss aber nicht unbedingt als Naivität interpretiert werden, sondern kann- - dies ist als Denkimpuls, nicht als Rechtfertigung oder Ausrede gemeint-- auch als ein Hinweis darauf gewertet werden, wie schwierig dieses Unterfangen des Übersetzens auf mehreren Ebenen im Grunde ist. Ähnlich verhält es sich mit dem Kritikpunkt der geringen Spezifität und hohen Allgemeingültigkeit von manchen Neurodidaktiken: Entweder, die Neurodidaktik bezieht sich nur auf einen umgrenzten Gegenstandsbereich, z. B. das Sprachenlernen, bzw. auf einen Bildungsabschnitt (frühe Kindheit, Schulzeit, Erwachsenenbildung, Lernen im Alter) oder sie leitet aus den Forschungsergebnissen eher allgemeingültige „Lehren für die Didaktik“ ab (Müller 2005: 77). Dieser „eher moderaten neurodidaktischen Position“ (ebd.) werden u. a. Preiß und Friedrich zugeordnet, die daneben auch speziell zum Bereich der frühen mathematischen Bildung entwickelnd und publizierend tätig waren (u. a. 2004, 2009). Im Jahr 2009 erschien die erste Auflage des „Handbuch[s] für den Schulerfolg“, in dem der Professor für zelluläre Neurobiologie Korte u. a. die „sieben Säulen des kindlichen Lernens“ (Korte 2011: 31 ff.) herausarbeitet und in gut verständlicher Sprache viel Wissenswertes aus seinem Fachgebiet und angrenzenden Teildisziplinen darstellt. Obschon der Titel nicht ausdrücklich auf eine Neurodidaktik schließen lässt und das Buch sich vorrangig an Eltern, <?page no="19"?> 18 1. Verortung und Zielsetzung richtet, 9 enthält es doch zahlreiche, mithin recht konkrete Hinweise, die als pädagogisch oder didaktisch einzuordnen und auch unterrichtsmethodisch nutzbar sind. Beispielsweise rät der Autor, komplexe Aufgaben zu untergliedern (vgl. ebd.: 55), Neues mit bereits Bekanntem zu verknüpfen (vgl. ebd.: 79), Lernen durch Lehren zu ermöglichen (vgl. ebd.: 251) und Methodenwechsel einzuplanen, um damit die Neugierde zu wecken und die Aufmerksamkeit zu erhöhen (vgl. ebd.: 296). Mit Kortes Buch liegt ein weiteres Beispiel für eine moderate Position der direkten Applikation vor. Zugleich steht seine Erwähnung an dieser Stelle stellvertretend für jene Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler, die das Übersetzen der Erkenntnisse in das Feld der Erziehung und Bildung selbst übernehmen. Eine weniger gemäßigte Position vertritt u. a. die Schulpädagogin Arnold, die einen „Paradigmenwechsel“ (2002: 129) fordert und letztlich ein hohes Konkretisierungsniveau anstrebt. Sie nimmt Bezug auf zu jener Zeit aktuelle Erkenntnisse der amerikanischen Gehirnforschung und fordert Konsequenzen auf verschiedenen Ebenen, nämlich auf Ebene der Lehrkräfteausbildung, der des „gehirngemäße[n] Lernen[s]“ (Arnold 2002: 235) und der der Curriculumsentwicklung. In Aspekte einer modernen Neurodidaktik stellt Arnold Kriterien zusammen, die sich ihr zufolge „direkt aus der Gehirnforschung ableiten lassen“ (ebd.: 236). Dazu zählen u. a. „Emotionen als ‚Türöffner‘ “ (ebd.), die Relevanz von „unmittelbarer Gegenwartserfahrung“ (ebd.: 238), die Multiple Intelligences nach Gardner (vgl. ebd.: 239) und der Einfluss der eigenen Persönlichkeit auf das Lernen (vgl. ebd.: 241). Darauf aufbauend zieht sie didaktische Schlüsse in Form von „acht gehirnmäßigen Elementen“, darunter Angstfreiheit, sinnvolle Inhalte, Wahlmöglichkeiten und unmittelbare Rückmeldung (ebd.: 242). Müller (2005: 77 f.) kritisiert, dass Arnold sehr schnell zur Frage nach Schlussfolgerungen übergehe ohne die eigene Position zu analysieren. Als Gegenbeispiel führt er die Allgemeine Pädagogin Scheunpflug an, ebenfalls eine Vertreterin der Aufnahme von Erkenntnissen aus der Gehirnforschung. Sie stellt fest, dass „die Psychologie oder die Soziologie [schon lange] erklärte Bezugswissenschaften der Erziehungswissenschaft“ seien (Scheunpflug 2000: 47). Anders verhalte es sich mit der Biologie, deren „Erkenntnisse- […] für die Pädagogik rezipiert und [ebenfalls] fruchtbar gemacht werden“ sollten (ebd.). Scheunpflug strebt einen „Kompromiss zwischen Genauigkeit und Verständlichkeit“ (ebd.: 48) an und äußert sich „didaktischen Rezeptologien“ (Müller 2005: 81) gegenüber skeptisch. Dennoch formuliert auch sie im Sinne einer didaktischen Aufschlüsselung neurowissenschaftlicher Wissensbestände zum Zwecke der Applikation mehrere Folgerungen, die sie für plausibel erachtet. Schnittmengen finden sich mit anderen neurodidaktisch ausgerichteten Arbeiten, z. B. bei dem Hinweis auf den Einfluss von Emotionen auf Lernprozesse oder bei der Bestätigung der Sinnhaftigkeit des Nutzens unterschiedlicher Lernzugänge. Allen erwähnten sowie weiteren Vertreterinnen und Vertretern des in diesem Teilkapitel umrissenen Rezeptionsmusters ist gemein, dass sie zumindest einen Teil der von den Neurowissenschaften generierten Befunde für relevant erachten, diese aufschlüsseln und 9 Kortes Buch trägt den Titel Wie Kinder heute lernen und den Untertitel Was die Wissenschaft über das kindliche Gehirn weiß. <?page no="20"?> 19 1.1 Rezeption von Gehirnforschung in Lehr-Lern-Kontexten nutzbar machen wollen, wobei das lineare Modell des „Import[s] neurowissenschaftlichen Wissens in die Didaktik“ (Müller 2005: 83, kursiv im Original) zur Anwendung kommt. Vertreterinnen und Vertreter dieses Vorgehens haben vor allem dazu beigetragen, ausgewählte Befunde ins Licht der Aufmerksamkeit jener zu rücken, die auf unterschiedlichen Ebenen, z. B. in der Bildungspolitik, in Bildungsinstitutionen, in der Lehrkräfteausbildung etc. bis hinein in die Familien, Erziehung und Bildung gestalten. Dieser Beitrag ist, ohne die Begrenzungen des linearen Ansatzes negieren zu wollen, zu würdigen und stellt gewissermaßen wissenschaftshistorisch-- falls der Begriff in diesem Zusammenhang als zulässig erscheint-- einen wichtigen Meilenstein dar. Die Kritik an dieser Position setzt bei der Linearität des Vorgehens an, die das neurodidaktische Unterfangen letztlich auf eine Entlehnung von Wissen reduziert, was dazu führt, dass nicht wirklich der Versuch unternommen wird, einen wechselseitigen Dialog in Gang zu bringen. Das Ziel der direkten Applikation ist vielmehr das Vorlegen einer „neurowissenschaftlich ausgewiesene[n] Didaktik“ (Müller 2005: 83) oder, je nachdem worin Ausgangspunkt und Ziel liegen, der Versuch einer zumindest augenscheinlichen wissenschaftlichen Absicherung von didaktischen Überzeugungen, Beliefs oder methodischen Konzepten bzw. unterrichtlichen Impulsen. Diese Intention verfolgten, um ein konkretes Beispiel, in diesem Fall aus der Fremdsprachendidaktik, zu nennen, Vertreterinnen und Vertreter der Suggestopädie. Es handelt sich dabei um einen Ansatz, der beeindruckende Lernerfolge in Aussicht stellt und mit Suggestion zur Steigerung der Gelingenszuversicht der Lernenden sowie dem Induzieren von Entspannungszuständen durch klassische oder barocke Musik arbeitet. Musik soll außerdem als ein „Katalysator für die Langzeitspeicherung von Wissen“ wirksam werden (Jäncke 2008: 203). Um die Glaubwürdigkeit des Ansatzes und den Marktwert zugehöriger Produkte zu erhöhen, wurden neurophysiologische und neuropsychologische Befunde entlehnt. Die direkte Anwendung ist in diesem und ähnlichen Fällen sehr kritisch als Legitimationsversuch durch Befunde der Hirnforschung, als Bemühen um Aktualität und als Erhöhung der Attraktivität durch den Anstrich der Wissenschaftlichkeit zu deuten. Sie stellt ein Beispiel für die- - ohne Euphemismus formuliert- - „Instrumentalisierung neurowissenschaftlicher Wissensbestände“ (Müller 2005: 84) dar. Dabei ist in der Regel in solchen Fällen das Vorgehen höchst selektiv, d. h. es wird ausschließlich nach Befunden gesucht, die die eigene Position stützen und diese werden isoliert dargestellt, was ethisch fragwürdig erscheint, dem Ansehen der eigenen Disziplin schadet und mitunter auch die Glaubwürdigkeit neurowissenschaftlicher Evidenz in Mitleidenschaft zieht (vgl. Sambanis 2015: 157). Auch die Vorläufigkeit mancher Befunde- - die Neurowissenschaften sind überaus forschungsaktiv, das Feld ist hochdynamisch und die Erforschung des Lernorgans Gehirn noch lange nicht abgeschlossen 10 - wird in solchen Fällen selten in der gebotenen Weise berücksichtigt. Im Hinblick auf die Suggestopädie kommt daher der Musikneurologe Jäncke (2008: 233-234) 10 Einen Eindruck von der Immensität des Vorhabens, das menschliche Gehirn zu erforschen, vermitteln die beiden milliardenschweren Großprojekte The Human Brain Project ( HBP ) in Europa und die amerikanische BRAIN -Initiative, die Anlass zu sehr kontroversen Diskussionen gegeben haben. Das HBP verfolgt das überaus hochgesteckte Ziel, das menschliche Gehirn zu simulieren. Es bleibt abzuwarten, <?page no="21"?> 20 1. Verortung und Zielsetzung zu folgendem Schluss: „Die von der Suggestopädie und verwandten Methoden propagierte Wirkung von passivem Musikhören auf das Lernen (vielfältiger Inhalte) hält keiner ernsten wissenschaftlichen Überprüfung stand.- […] Auch die immer wieder propagierte Wirkung des passiven Hörens von Barockmusik auf das Lernen ist wissenschaftlich nicht bestätigt.“ 11 Auf der Basis der mit der direkten Applikation in den zurückliegenden Jahren gewonnenen Erfahrungen ist es möglich, Überlegungen zu einer Weiterentwicklung der neurodidaktischen Vorgehensweise anzustellen. Als Ansatzpunkt dafür soll das dritte Rezeptionsmuster dienen. 1.1.3 Kritische Übersetzung und Begründung der angestrebten Verbindung zwischen Neurowissenschaften und Didaktik Die „kritische Übersetzung“ (Müller 2005: 102) beschreibt eine Herangehensweise, die darauf basiert, „den Neurowissenschaften sowohl aufgeschlossen als auch kritisch gegenüber[zu] stehen“ (ebd.). 12 Eine kritische Auseinandersetzung mit den Neurowissenschaften kann jedoch nur gelingen, wenn man mit deren Methoden, den Forschungszugängen, Designs usw. vertraut ist, sodass auf dieser Basis eine fundierte Einschätzung möglich wird. Zugleich bedarf es bei der kritischen Übersetzung einer ebenso soliden Kenntnis des Feldes der Didaktik bzw. der Erziehungswissenschaft, je nachdem, worauf die Übersetzung zielt. Während Applikationen und Integrationen suggerieren, neurowissenschaftliches Wissen ließe sich bruchlos in pädagogisches Wissen übertragen, werfen kritische Übersetzungen die Frage auf, was die Neurowissenschaften selbst nicht in den Blick bekommen, für eine pädagogisch sinnvolle Rezeption aber unabdingbar ist. (Müller 2005: 103) Um das in den Blick nehmen zu können, was außerhalb des Feldes der Neurowissenschaften liegt, scheinen zwei Maßnahmen von Bedeutung zu sein: zum einen der wechselseitige Dialog, zum anderen wäre ein Beitrag der Didaktik im Sinne von translationaler Forschung wünschenswert. Die Didaktik verfolgt keineswegs nur das Ziel, Unterrichtsimpulse hervorzubringen, sondern sie ist eine forschende Disziplin und als solche in der Lage, zu einer kritischen Übersetzung beizutragen sowie Fragen zu konkretisieren, deren Beantwortung auf interdisziplinär kumulativem Weg erfolgversprechend erscheint. Dort, wo die Expertise der Gehirnforschung endet, können Didaktik, Erziehungswissenschaft etc. ansetzen, und die Anwendbarkeit bzw. Aussagekraft von Erkenntnissen der Neurowissenschaften in Lehr-Lernwelche Teilkomponenten des menschlichen Gehirns am Ende der Projektlaufzeit (2013-2023) als Computersimulation vorzeigbar sein werden. 11 In Böttger & Sambanis (2017) findet sich eine Zusammenführung von Wissensbeständen zum Einsatz von Musik beim Lernen. 12 Als ein Vertreter der kritischen Übersetzung aus pädagogischer Perspektive wird Schirp angeführt. Er macht auf die Vorläufigkeit mancher neurowissenschaftlicher Befunde aufmerksam, sieht es aber dennoch als möglich und relevant an, darüber nachzudenken, wie Ergebnisse der Hirnforschung „in professionsbezogene Wissens- und Handlungsmodelle von Lehrerinnen und Lehrern zu überführen“ seien (Schirp 2003: 304). <?page no="22"?> 21 1.1 Rezeption von Gehirnforschung Kontexten insbesondere mittels Studien im Praxisfeld prüfen. 13 Ebenso ist es möglich, dass didaktische Studien Fragen aufwerfen, deren Klärung unter Mitwirkung der Neurowissenschaften vorangebracht werden könnte. Auf diese Weise lassen sich neurowissenschaftliche und didaktische Erkenntnisse koppeln (Translation zwischen den Disziplinen) und der Gefahr des rein intuitiven Übersetzens von Erkenntnissen der Hirnforschung in die Unterrichtspraxis entgegenwirken (Translation zwischen Wissenschaft und Praxis). Auf der Grundlage von zusammengeführten Wissensbeständen kann entschieden werden, „ob in einem weiteren Schritt Hinweise für die Unterrichtsgestaltung formuliert- […] werden können“ (Sambanis 2015: 157). Der vorliegende Band sucht nach verfügbaren Wissensbeständen, die für die Gestaltung von Unterricht, verstanden als effektive Intervention, bedeutsam erscheinen. Im Zuge der Auseinandersetzung werden auch Forschungsbedarfe, insbesondere solche für translationale Forschung, benannt. Eine planvolle Verbindung von Neurowissenschaften und Didaktik, die im Zuge der Interpretation von Befunden und des Aufschlüsselns für die Praxis auch Befunde weiterer Disziplinen in den Blick nimmt, könnte sich gegebenenfalls sogar zu einer Disziplin entwickeln, die als Ergänzung zu den einzelnen Fachdidaktiken und als ein Bindeglied zwischen Didaktik und Neurowissenschaften fungiert. Neurodidaktiken fokussieren in der Regel die Frage nach dem Wie? , also streng genommen die der Unterrichtsmethodik. 14 Während die Hirnforschung als „natural science“ (Willingham 2008: 544) forscht, um beschreiben zu können, gehen die Erwartungen an eine Neurodidaktik in eine andere Richtung: Sie soll Orientierung geben, Entscheidungen zumindest erleichtern, wenn nicht sogar abnehmen. Das Abnehmen von Entscheidungen erscheint uns als Autorinnen problematisch, denn es vereinfacht komplexe Zusammenhänge oftmals auf unzulässige Weise, reduziert sie auf die eine, vermeintlich richtige Lösung und das gesamte komplexe Gefüge pädagogischen Handelns auf ein scheinbar einfaches kausales Schema: Wenn man Unterrichtsmethode A anwendet, bekommt man B als Effekt. Dennoch würde ein Werk wie das vorliegende sein Ziel verfehlen, würde nicht der Versuch unternommen, mögliche Schlussfolgerungen für die Handlungsebene zumindest zu diskutieren. Die Verfasserinnen von Didaktik und Neurowissenschaften sind sich des Balanceakts zwischen geforderter Konkretisierung und gebotener Vorsicht sowie notwendiger Offenheit bewusst und möchten, statt fertiger Rezepte, Möglichkeiten in den Vordergrund stellen, die im Dialog zwischen Praktikerinnen und Praktikern sowie zwischen Praxis und Wissenschaft entwickelt werden. Es sollen Anstöße gegeben werden zum Dialog, zum Weiterdenken der Impulse, zum weiteren Erforschen und zum Abgleich mit Erfahrungen. Als Kontrollmaßnahme gegen den Sog der Rezeptorientierung, wählt der vorliegende Band das Format der Praxisfenster: 13 Ein Beispiel für didaktische Studien, die durch neurowissenschaftliche Befunde angestoßen wurden und mit dem Ziel durchgeführt worden sind, auszuloten, ob die unter Laborbedingungen gewonnenen Erkenntnisse eine Relevanz für den Schulalltag besitzen, bildet das Bewegungslernen, also das Koppeln von Inhalten an Bewegungen (vgl. Hille et al. 2010, Sambanis 2015: 158 ff.). 14 Die Frage nach dem Was? wird durch Curricula, die Definition von Standards etc. geregelt (zur Bedeutung der Frage nach dem Wozu? vgl. Biesta 2011: 101 ff.). <?page no="23"?> 22 1. Verortung und Zielsetzung  Praxisfenster: 15 Zwei Lehrkräfte, eine Didaktikerin und eine Neurowissenschaftlerin tauschen sich in einem fiktiven Kommunikationsprozess aus: 16 Peter ist Lehrer an einem Gymnasium und verfügt über langjährige Erfahrung. Claudia hat vor kurzem ihre erste Stelle als Lehrerin an einer Grundschule angetreten. Dianne ist Fremdsprachendidaktikerin, lehrt und forscht an einer Universität. Sie ist in der Lehrkräfteaus- und -fortbildung tätig und sehr an Knotenpunkten in Wissensbeständen unterschiedlicher Disziplinen interessiert. Gesa ist Neurowissenschaftlerin. Sie legt Wert darauf, dass die generierten Erkenntnisse diffundieren, am besten auf dem Weg des Dialogs aufgeschlüsselt und genutzt werden können. Der Text des Buches außerhalb der Praxisfenster lässt sich wie das Skript zu einer Fortbildungsveranstaltung lesen. An größere Sinnabschnitte, die eine unmittelbare Bezugnahme auf die Praxis nahelegen, schließt sich ein Praxisfenster an. Hier treten die genannten vier Personen in einen Dialog: Kernbotschaften aus dem vorher Referierten werden zusammengefasst, kurz, möglichst verständlich und prägnant diskutiert. Offene Fragen werden im wechselseitigen Dialog zwischen den Disziplinen sowie zwischen Wissenschaft und Praxis aufgegriffen. Sich abzeichnender Forschungsbedarf und blinde Flecken werden zumindest exemplarisch angesprochen, Fragen der Praxis an die Forschung und der Forschung an die Praxis gestellt. Darüber hinaus wird innerhalb dieses Dialogs ausgelotet, wo Praktikerinnen und Praktiker Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen ihrem Erfahrungswissen und den referierten Erkenntnissen sehen. Außerdem werden Vorschläge gemacht und diskutiert, welche möglichen Schlüsse sich für die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen ziehen lassen, welche Impulse generiert werden können, ohne diese als allgemeingültige Rezepte verstehen zu wollen. Das Einrichten der Praxisfenster ermöglicht es, die verschiedenen Betrachtungsebenen-- Ebene der Erkenntnisse, Ebene möglicher Applikationen- - textgestalterisch immer wieder voneinander zu trennen. Trotzdem können beide Ebenen inhaltlich im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung und eines evidenzbewussten Fokussierens und Reflektierens der 15 Das Konzept der Praxisfenster wurde von einer der Autorinnen für die Publikation Fremdsprachenunterricht und Neurowissenschaften im Jahr 2013 entwickelt und stieß auf positive Resonanz bei Praktikerinnen und Praktikern sowie bei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Für den vorliegenden Band wird es entsprechend adaptiert. 16 Die Personen, die „in den Praxisfenstern immer wieder zu Wort kommen, sind frei erfunden und können das Spektrum möglicher- […] [P]ersönlichkeiten natürlich nicht abbilden. Es wurde bewusst mit einer Auswahl gearbeitet. Sollten Leserinnen und Leser streckenweise eine gewisse Tendenz zur klischeehaften Darstellung wahrnehmen, so sei versichert, dass dies stets im Dienste der exemplarischen Herausarbeitung möglicher Folgerungen für den-[…] [U]nterricht mit allergrößter Wertschätzung-[…] geschieht“ (Sambanis 2013: 8). Die Repräsentation der Gender durch die fiktiven Charaktere ist auf Ebene der Praxis ausgewogen, auf Ebene der Wissenschaft spiegelt sie die Konstellation des Autorentandems des vorliegenden Bandes. <?page no="24"?> 23 1.1 Rezeption von Gehirnforschung Praxis (evidence-aware, vgl. Biesta 2011: 98) aufeinander bezogen werden. Dadurch soll mehr Gewicht auf die geforderte Diskussion in both directions (The Royal Society 2011: 18) gelegt werden und zwar, wie gesagt, zum einen im Sinne einer Diskussion zwischen den Wissenschaften, wobei die Verbindung zwischen Neurowissenschaften und Didaktik eine Hauptachse bildet und im Feld der Didaktik ein Schwerpunkt auf die Fremdsprachendidaktik gelegt wird, was aber die Bezugnahme auf Befunde anderer Fachdidaktiken nicht ausschließt. Zum anderen soll ein wechselseitiger Dialog auch zwischen Forschung und Praxis geführt werden. Die Praxisfenster verstehen sich in diesem Sinne auch als Impulsgeber, um die Diskussion z. B. in Seminaren, bei Tagungen oder Fortbildungsveranstaltungen weiter zu tragen, denn die Praxisfenster müssen gezwungenermaßen exemplarisch und überschaubar bleiben. Wie später noch ausgeführt wird (vgl. Infobox Kap. 3), können viele der im Praxisfenster vorgeschlagenen Unterrichtsimpulse in Aktionsforschungsprojekten (vgl. Altrichter et al. 2006) von Praktikerinnen und Praktikern sowie Studierenden, wenn diese z. B. im Rahmen des Praxissemesters ein Lernforschungsprojekt durchzuführen haben, hinsichtlich ihrer Eignung, Akzeptanz durch die Lerngruppe und der intendierten Effekte im Praxisfeld beleuchtet werden. Dadurch können zu einzelnen praxisrelevanten Fragestellungen im Unterricht mit oftmals überschaubarem Aufwand Erkenntnisse generiert werden, die, in ihrer eigenen Art und Weise und mit dem jeweils angemessenen Geltungsbereich, als komplementär zu den Erkenntnissen der Neurowissenschaften betrachtet werden können. 17 Der vorliegende Band verfolgt nicht das Ziel, eine bestimmte Unterrichtsmethode zu legitimieren oder zu propagieren. Vielmehr begeben sich die Autorinnen unvoreingenommen auf Spurensuche nach Wissensbeständen, die für das Lehren und Lernen, insbesondere in institutionalisierten Kontexten, bedeutsam erscheinen. Dabei werden Schwerpunkte gesetzt, die einerseits grundlegende Aspekte des Themas Lehren und Lernen fokussieren, andererseits werden aber auch Schlaglichter gesetzt auf Einzelfragen, die das pädagogische Handeln und ein planvolles Innovieren von Unterricht betreffen. Einige Informationen werden, vom sonstigen Text graphisch abgesetzt, in Infoboxen bereitgestellt. Sie enthalten vertiefende bzw. ergänzende Informationen oder erläutern Hintergründe. Als Autorinnen haben sich zwei Wissenschaftlerinnen zusammengetan, die im Bereich der interdisziplinären und auf Transfer ausgerichteten Forschung bereits seit Jahren tätig sind. Gemeinsam decken sie mit ihrer Expertise das Spektrum dessen, was für eine sich aus kritischer Rezeption speisende Verbindung von Neurowissenschaften und Didaktik samt Verankerung eines wechselseitigen Dialogs unverzichtbar erscheint, wie folgt ab: Neurobiologie, 17 Damit wird die Frage der Evidenzgrade angesprochen: „Ein wichtiger Weg zu einem Effizienznachweis wird durch randomisierte kontrollierte Studien oder randomized controlled trials, RCT s abgekürzt, eröffnet“ (Pulvermüller 2016: 85). Ein wesentliches Merkmal von RCT s ist die zufällige Zuordnung der Probandinnen und Probanden zur Experimental- oder Kontrollbedingung. RCT s gelten, besonders in der Medizin, als Goldstandard des Studiendesigns für experimentelle Studien. Da bildgebende Studien Korrelationsstudien sind (vgl. Goswami 2008: 386), nutzen manche Vertreterinnen und Vertreter der unter 1.1.1 beschriebenen Position der Distanzierung und Ablehnung dies als Argument, um damit den Wert neurowissenschaftlicher Evidenz bzw. den von Bemühungen um einen Anwendungsbezug infrage zu stellen. <?page no="25"?> 24 1. Verortung und Zielsetzung Psychologie, Erziehungswissenschaft, Fremdsprachendidaktik sowie langjährige Tätigkeit als Lehrkraft, in der Lehrkräfteausbildung sowie im Coaching und der wissenschaftlichen Begleitung von Bildungseinrichtungen. Didaktik und Neurowissenschaften lädt zu einer Spurensuche ein, die von Interesse und Neugier getragen ist, sich um eine kritische Auseinandersetzung mit Wissensbeständen sowie um ein Zusammenführen von Erkenntnissen bemüht und die sich bei der Frage nach Konsequenzen für die Praxis und beim Abgleich mit Praxiserfahrungen statt der Rezeptorientierung dem divergenten Denken verpflichtet fühlt. Ausgewählte Literaturhinweise Blakemore, S.-J. & Frith, U. (2006): Wie wir lernen. Was die Hirnforschung darüber weiß. München: Deutsche Verlags-Anstalt. Müller, T. (2005): Pädagogische Implikationen der Hirnforschung. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse und ihre Diskussion in der Erziehungswissenschaft. Berlin: Logos. <?page no="26"?> 25 2.1 Ein Gehirn entsteht: Von einer dünnen Zellschicht zur komplexen Struktur 2. Gehirn und Hirnentwicklung In diesem Kapitel werden die grundlegenden Prinzipien des Gehirns vorgestellt. Allerdings reicht es für unsere Zwecke nicht aus, das „fertige“ Gehirn von Erwachsenen zu betrachten, allein schon deshalb, weil sich sehr viele Lehr-Lernarrangements und didaktische Vorgehensweisen an junge, sich entwickelnde Menschen richten. Hinzu kommt, dass sich viele Lernprozesse besser verstehen und einordnen lassen, wenn man die Entwicklung des Gehirns berücksichtigt. Jeder neue Lerninhalt bringt eine (mehr oder weniger große) Umstrukturierung des Gehirns mit sich. Die dabei wirkenden Mechanismen werden durch die Betrachtung der Hirnentwicklung sehr deutlich. Der Schwerpunkt der Darstellungen liegt daher auf der Beschreibung der Entwicklung des Gehirns. Sowohl das Gehirn an sich als auch sein Entwicklungsprozess ist ein faszinierendes Wunder der Natur. Mitunter wird kritisiert, Wissenschaft „entzaubere“ die Welt, beraube sie ihrer „Magie“ und reduziere das Wunder des Lebens auf physikalische, chemische und biologische Zusammenhänge. Für das Gehirn und seine Entwicklung besteht das Risiko einer solchen Entzauberung nicht. Vielmehr ist das Gehirn eine Welt, die mindestens ebenso wundersam ist wie das Wunderland, in dem Alice ihre Abenteuer erlebte (vgl. Carroll 1999). 2.1 Ein Gehirn entsteht: Von einer dünnen Zellschicht zur komplexen Struktur Das menschliche Gehirn enthält ein kompliziertes Geflecht aus etwa 86 Milliarden Nervenzellen (vgl. Azevedo et al. 2009). 1 Diese Zahl ist so groß, dass man sie sich schlicht nicht vorstellen kann. Würde man für jede Nervenzelle eine 1-Euro-Münze nehmen und die Münzen wie Perlen auf eine Kette auffädeln, dann wäre die Kette so lang, dass sie fünf Mal um die Erde herumreichte. 2 Eine andere Möglichkeit, ein Gefühl für die enorme Anzahl an Nervenzellen zu entwickeln, ist es, sich zu verdeutlichen, dass während der Schwangerschaft ab der 4. Woche (das ist der Zeitpunkt, ab dem Gehirn und Rückenmark angelegt sind) bis zur Geburt pro Minute etwa 250.000 Nervenzellen gebildet werden. Umgerechnet bedeutet das: In jeder einzelnen Sekunde entstehen durchschnittlich etwas über 4000 neue Nervenzellen. Linderkamp, Janus et al. (2009) fassen diesen Vorgang so zusammen: Das fetale Gehirn entwickelt sich in wenigen Wochen aus einer dünnen Zellschicht zu einem gigantischen und komplexen Netzwerk mit Milliarden von Nervenzellen (Neuronen) und Billionen von Verbindungen (Synapsen). 1 Die ältere Angabe von 100 Milliarden, die gelegentlich noch in der Literatur zu finden ist, gilt inzwischen als überholt. Genauere Methoden haben zu einer Korrektur des Wertes nach unten geführt. Der Wert bezieht sich auf das ausgewachsene Gehirn von Männern. Frauen haben im Durchschnitt etwas weniger Nervenzellen, was sich schlicht auf die geringere Körpergröße und eine geringere Muskelmasse zurückführen lässt, für deren Steuerung bei Männern zusätzliche Nervenzellen benötigt werden. 2 Faktisch ist das allerdings schon deshalb nicht möglich, weil gar nicht so viele 1-Euro-Münzen im Umlauf sind. <?page no="27"?> 26 2. Gehirn und Hirnentwicklung Während dieser Zeit entstehen: ▶ das Rückenmark voller Neurone, die Signale an die Muskulatur leiten und solchen, die Informationen von den Tastsinneszellen auf unserer Körperoberfläche aber auch aus unserm Körperinneren weiterleiten, ▶ der Hirnstamm, der Rückenmark und Groß- und Kleinhirn verbindet und lebenswichtige Funktionen wie Atmung, Herzschlag und Reflexe wie den Hustenreflex steuert, ▶ das Zwischenhirn, das mit dem Thalamus eine wichtige Umschaltstation für Informationen von den Sinnesorganen beheimatet und mit dem Hypothalamus und der Hypophyse das Bindeglied zwischen Nervensystem und Hormonhaushalt bildet, ▶ das Kleinhirn, dessen dichtgepackte Neurone Bewegungskoordination und Gleichgewicht steuern, ▶ und das Großhirn, das wir in seiner Entwicklung im Folgenden genauer betrachten wollen. Die vielen Neurone, die später unsere Großhirnrinde (den Cortex) bilden, unsere berühmten „grauen Zellen“, werden von Stammzellen gebildet, die in einem sehr dünnen Häutchen auf der Innenseite einer bläschenartigen Struktur liegen, aus der sich später einmal das Gehirn entwickelt. Die Stammzellen teilen sich unablässig und bilden Zellen, aus denen sich Nervenzellen entwickeln, aber auch weitere Stammzellen. Die neu entstandenen, noch unreifen Nervenzellen, die sogenannten Neuroblasten, können nicht in dem dünnen Häutchen bleiben, in dem sie „geboren“ wurden. Der Platz ist von den Stammzellen bereits belegt. Also begeben sich die Neuroblasten auf Wanderschaft, um zu der Stelle der Hirnrinde zu gelangen, an der sie später als Neurone ihre Arbeit verrichten sollen. Wie bei den großen Wanderbewegungen der Menschheit auch, nennt man diesen Vorgang Migration. Allerdings finden die jungen Neuroblasten ihren Weg nicht alleine. Vielmehr erhalten sie bei ihrer Wanderschaft zum ersten Mal in ihrem Leben Unterstützung durch sogenannte Gliazellen. Eigentlich ist der Begriff Gliazellen recht unspezifisch: Man fasst darunter all jene Zellen des Gehirns zusammen, die eben nicht Nervenzellen sind. Gliazellen sind wichtige Helfer und Unterstützer der Nervenzellen. Sie haben sehr unterschiedliche Formen und vielfältige Aufgaben. Im menschlichen Gehirn gibt es etwa ebenso viele Gliazellen wie Nervenzellen (vgl. Azevedo et al. 2009). Sie versorgen die Nervenzellen mit Nährstoffen, halten die Umgebung sauber und frei von Krankheitserregern, dienen als Schutz und Stützgewebe, unterstützen die Kommunikation der Nervenzellen untereinander usw. Die ersten Gliazellen, die den Neuroblasten bei ihrer Wanderung helfen, sind langgestreckte Radialgliazellen, deren eines Ende bis in die Schicht ragt, in der die Neuroblasten entstehen und deren anderes Ende an der Außenseite der späteren Großhirnrinde angeheftet ist. So liegen die Radialgliazellen wie die Speichen eines Rades nebeneinander und durchziehen alle Schichten der künftigen Großhirnrinde. Die jungen Neuroblasten hangeln sich entlang dieser Speichen an ihren Bestimmungsort. Dazu wandern sie so lange, bis sie in eine Schicht kommen, die noch nicht von anderen, früher geborenen Nervenzellen besetzt ist. 3 Dort ange- 3 In bestimmten Hirngebieten, etwa dem Kleinhirn, sind die Wanderbewegungen etwas komplizierter. Dort gibt es im Anschluss an die beschriebene Wanderung zusätzlich Zellen, die sich an Gliazellfasern <?page no="28"?> 27 2.2 Verbindung ist alles: Ein gigantisches neuronales Netzwerk wächst zusammen kommen, entwickeln sie ihre endgültige Form und werden zu erwachsenen Nervenzellen, den Neuronen. 2.2 Verbindung ist alles: Ein gigantisches neuronales Netzwerk wächst zusammen Zum „Erwachsenwerden“ von Nervenzellen gehört es, dass sie Verbindungen zu anderen Nervenzellen ausbilden. Sie verknüpfen sich zu einem riesigen neuronalen Netzwerk aus Nervenfasern und Synapsen (Verbindungsstellen). Dieses Netzwerk bildet die Grundlage aller Hirnfunktionen, egal ob Wahrnehmung, Denken, Lernen, die Steuerung von Handlungen oder auch automatische und unwillkürliche Prozesse. Über die Synapsen sammeln Neurone Informationen und geben sie weiter. Veränderungen und Umbau der Synapsen setzen sich während des gesamten Lebens fort. Um Synapsen mit anderen Nervenzellen aufzubauen, bilden Neurone verschiedene Arten von Ausläufern aus. Die Ausläufer, die Informationen von anderen Nervenzellen einsammeln, also sozusagen die „Antennen“, nennt man Dendriten. Dendriten bilden Verästelungen, die je nach Lage im Gehirn und künftiger Funktion des Neurons eine sehr unterschiedliche Form haben (Abb. 1). Abb. 1: Abbildung von zwei Neuronen. Je nachdem, wo sie im Gehirn lokalisiert sind und wie sie Informationen aufnehmen und verarbeiten, bilden Nervenzellen unterschiedlich geformte Dendritenbäume aus. Dendriten sind Zellfortsätze von Neuronen, über die Signale von anderen Nervenzellen oder von Sinneszellen aufgenommen werden. Über das Axon werden Signale an andere - auch weiter entfernt liegende - Neurone weitergegeben. Axone können unterschiedlich lang sein und Verzweigungen aufweisen. Die Endigungen der Axone werden als Axonterminalen bezeichnet. entlanghangeln, die quer zu den Radialgliazellen liegen. Auf ihrem Weg in ihre Endposition bilden sie bereits Axone aus, sodass sie gleich bei ihrer Ankunft am Zielort eine „gute Verbindung“ zu weiter entfernt liegenden Nervenzellen aufgebaut haben. Aktuell wird diskutiert, ob diese sogenannte tangentiale Wanderung auch bei bestimmten Zellen der Großhirnrinde eine Rolle spielt. Das zeigt: Die Hirnforscherinnen und -forscher bleiben dran und stehen selbst auch immer wieder vor neuen Rätseln. <?page no="29"?> 28 2. Gehirn und Hirnentwicklung Um Informationen weiterzugeben, entwickeln Neuronen einen mehr oder weniger langen Fortsatz, das Axon. Über die Axone laufen die Informationen im Nervensystem in Form elektrischer Impulse. An ihrem Ende sind Axone mal stärker, mal weniger verzweigt und bilden den Kontakt mit einem oder mehreren Dendriten oder der Zelloberfläche eines nachgeschalteten Neurons aus (oder auch mit einem Muskel oder einer Drüse). Auch in der Länge und Verzweigung ihrer Axone unterscheiden sich Neurone je nach Lage und Funktion. Damit auch lange Axonfäden ihren Weg finden und z. B. verschiedene Hirngebiete miteinander vernetzen können, sind sie wieder auf die Hilfe von Gliazellen angewiesen. Einige Gliazellen liegen wie Streckenposten an bestimmten Stellen im Gehirn und „weisen“ die auswachsenden Axone in eine bestimmte Richtung, andere locken Axone über chemische Botenstoffe an oder geben Substanzen ab, die als eine Art „Schreckstoff “ verhindern, dass Axone in die falsche Richtung wachsen. So wird sichergestellt, dass die heranwachsenden Neurone sich in der richtigen Art und Weise miteinander verbinden. Abb. 2: Die Axonterminale (blau) bilden mit der Oberfläche eines Informationen empfangenden Neurons (nachgeschaltetes Neuron, rosa) Verbindungsstellen, die sogenannten Synapsen. Nervenimpulse laufen über das Axon bis zur Synapse und lösen dort die Ausschüttung von Neurotransmittern aus. Wird (über alle Synapsen zusammen) ausreichend Neurotransmitter ausgeschüttet, entsteht im nachgeschalteten Neuron ein elektrischer Impuls, der über das Axon des nachgeschalteten Neurons (nicht abgebildet) erneut weitergegeben wird. <?page no="30"?> 29 2.2 Verbindung ist alles: Ein gigantisches neuronales Netzwerk wächst zusammen 2.1 Warum chemische Synapsen? Neurone leiten Informationen in Form elektrischer Signale, der sogenannten Aktionspotentiale, teilweise über weite Strecken. Die Übertragung der Aktivität erfolgt aber in den meisten Fällen nicht direkt, indem der elektrische Impuls zwischen Neuronen überspringt. 4 Vielmehr führt der elektrische Impuls, der über ein Axon zur Synapse läuft, dazu, dass am Ende des Axons Botenstoffe (Neurotransmitter) ausgeschüttet werden. Die Dendriten der nachgeschalteten Nervenzelle (und evtl. auch noch andere Stellen auf ihrer Zelloberfläche) nehmen den Neurotransmitter über Rezeptoren auf, die in der Synapse lokalisiert sind. In Abhängigkeit von der Menge des Neurotransmitters öffnen sie einige oder viele Kanäle in der Zelloberfläche. Durch diese Kanäle strömen positiv geladene (Natrium-)Ionen in die Nervenzelle ein und verändern die elektrische Spannung zwischen Innenseite und Außenseite der Nervenzelle. Wenn das an mehreren Stellen der Zellmembran geschieht, strömt so viel Natrium in die Zelle ein, dass ein neuer elektrischer Impuls in die Informationen empfangenden Zelle ausgelöst wird, der dann als sogenanntes Aktionspotential über das Axon der Nervenzelle wieder an weitere Neurone geschickt wird. Auf diese Weise wechseln sich elektrische und chemische Signale ab, wenn Informationen zwischen Nervenzellen weitergegeben werden. Die Umwandlung braucht einige Zeit und beeinflusst die Verarbeitungsgeschwindigkeit des Nervensystems deutlich. Wo aber liegt der Vorteil dieser komplizierten und zeitraubenden Umwandlung der Signale? Zum einen sind chemische Synapsen gut regulierbar. Eine Reduktion oder Anhebung der im Axon verfügbaren Neurotransmittermenge hat umgehend Einfluss auf die Intensität der weitergegebenen Signale. Andere Stoffe z. B. Hormone oder Botenstoffe, die von anderen Neuronen oder Gliazellen ausgeschüttet werden, können die Wirkung von Neurotransmittern verstärken oder verringern. Eine solche Feinregulierung ist bei direkter elektrischer Übertragung nicht möglich. Zum zweiten können chemische Synapsen ihre Übertragungseigenschaften durch Umbau langfristig und dauerhaft verändern. Diese Fähigkeit zum Umbau wird als synaptische Plastizität bezeichnet. Sie ist die Grundlage von Lernprozessen und erlaubt es, neue Erfahrungen und Lerninhalte im Gehirn zu verankern, indem Synapsen vergrößert werden. Von den größeren Synapsen werden Nervenimpulse schneller und effektiver weiterleitet. In diesen Verbindungen zwischen Nervenzellen ist das Wissen repräsentiert und kann durch Aktivierung des entsprechenden Nervennetzes abgerufen werden. Bei der Geburt eines Menschen sind die meisten Neuronen bereits vorhanden. Auch grundlegende Verbindungen sind bereits angelegt, darunter die Verbindungen zwischen verschiedenen Arealen der Großhirnrinde, Verbindungen von den Sinnesorganen zur Großhirnrinde 5 und von der Großhirnrinde über das Rückenmark zur Muskulatur. 4 Eine Ausnahme bilden die elektrischen Synapsen, die im Embryonalstadium eine Rolle spielen und beim Erwachsenen in der Netzhaut und im Herzmuskel vorkommen. 5 Für die meisten Sinnesinformationen gibt es auf diesem Weg eine Zwischenstation: den Thalamus. Er ist nicht nur eine „Umschaltstelle“, sondern fungiert auch als Filter, der gerade relevante Signale weitergibt und unwichtige blockiert (z. B. bei der Nahrungssuche oder als Abschirmfunktion in Schlafphasen). <?page no="31"?> 30 2. Gehirn und Hirnentwicklung Ab der Geburt nimmt die Anzahl der Synapsen in der Großhirnrinde rasant zu (vgl. Casey et al. 2005). Das bedeutet, dass sich die Vernetzung zwischen den Nervenzellen sinnvollerweise überwiegend erst nach der Geburt vollzieht, denn so hat das Gehirn die Möglichkeit, seine Vernetzung auf die vorhandene Umwelt auszurichten. Unter diesem Aspekt ist es auch alles andere als verwunderlich, dass der motorische Cortex, also der Teil der Großhirnrinde, der Signale an die Muskulatur sendet, um willkürliche Bewegungen zu erzeugen, bei der Geburt bereits eine intensive Vernetzung aufweist (vgl. Casey et al. 2005). Schließlich hat sich das Kind im Mutterleib schon viele Male bewegt. Ähnlich ist es beim sogenannten somatosensorischen Cortex, der Berührungs- und Tasteindrücke verarbeitet, u. a. eben die Berührung mit Fruchtblase oder Nabelschnur, aber auch die Eindrücke, die entstehen, wenn das Kind sich selbst berührt. Diese beiden Gehirngebiete sind in Abb. 3 dunkelrot und dunkelblau gefärbt. Direkt nach der Geburt folgt die Zunahme der Vernetzung der Hirngebiete, Eine Ausnahme bildet unser Riechsinn. Hier kommt das Gehirn dem Sinnesorgan sozusagen entgegen, indem es eine Ausstülpung, den Bulbus olfaktorius, bildet, der direkt mit den Sinneszellen der Riechschleimhaut verbunden ist. Abb. 3: Seitenansicht der linken Großhirnhälfte. Das Großhirn ist in vier Bereiche unterteilt: Frontallappen (auch Stirnlappen, rot), Parietallappen (Scheitellappen, blau), Temporallappen (Schläfenlappen, grün) und Okzipitallappen (Hinterhauptslappen, pink / rosa). Im Frontallappen (hier links abgebildet) finden schwerpunktmäßig Prozesse statt, die mit Handlungen und Bewegungen im Zusammenhang stehen, die anderen Bereiche dienen überwiegend der Verarbeitung und Analyse von Sinnesinformationen. Die primären Areale, also die Ein- und Ausgangsgebiete des Cortex sind in dunklen Farben gekennzeichnet (motorisch: rot, somatosensorisch / taktil: blau, auditorisch: grün, visuell: pink, die olfaktorischen und gustatorischen Areale liegen weiter unten bzw. innen im Großhirn und sind daher in dieser Seitenansicht nicht erkennbar). <?page no="32"?> 31 2.2 Verbindung ist alles: Ein gigantisches neuronales Netzwerk wächst zusammen die Signale von Auge und Ohr erhalten, des primären visuellen Cortex (Sehcortex, pink in Abb.-3) und des primären auditorischen Cortex (Hörcortex, dunkelgrün in Abb. 3). Zwar gibt es im Mutterleib schon viel zu hören und auch ein bisschen was zu sehen, aber diese Sinneseindrücke unterscheiden sich von dem, was ein Säugling nach der Geburt wahrnimmt. Der primäre Hörcortex und der primäre Sehcortex, die als erste Areale der Großhirnrinde die Signale der jeweiligen Sinnesorgane empfangen, 6 haben zum Zeitpunkt der Geburt knapp die Hälfte der Verbindungen erstellt, die während des Reifungsprozesses zwischen den Neuronen gebildet werden und erreichen die höchste Anzahl an Verbindungen, wenn das Kind etwa sechs Monate alt ist (vgl. Huttenlocher & Dabholkar 1997). 2.2 Woher wissen eigentlich die Cortexgebiete, was ihre Aufgabe ist? 6 Daher „primär“, lat. „primarius“: zu den Ersten gehörig, „primus“: der Erste. 7 Spontane Aktivität, die sich in Form einzelner Nervenimpulse äußert, gibt es im Gehirn häufiger. Das bedeutet noch nicht, dass eine relevante Information vorliegt, sondern hat einfach mit dem Stoffwechsel von Nervenzellen und der Struktur des Nervensystems zu tun. Beim erwachsenen Menschen unterscheiden sich die Regionen der Großhirnrinde sowohl in ihrer Funktion als auch in ihrem zellulären Aufbau, z. B. in der Dicke bestimmter Schichten oder der Häufigkeit bestimmter Neuronentypen (vgl. Brodmann 1909). Während ihrer Entstehung dagegen sind die kortikalen Regionen einander noch sehr ähnlich und im Prinzip könnte jeder Cortexbereich jede Art von Information verarbeiten. Welche Aufgabe eine Hirnregion letztlich übernimmt, hängt davon ab, welchen Input sie bekommt. Manche Cortexregionen erhalten als Input die Informationen von einem Sinnesorgan, andere haben als Eingangssignal bereits vorverarbeitete Sinnesinformationen oder auch schon vollständig verarbeitete Eingänge aus mehreren Sinnessystemen, die die entsprechende Cortexregion dann zu „Gesamteindrücken“ zusammenfügen kann. Je nachdem, welche Art von Input eine Region erhält, entwickeln sich die Nervenzellen und ihre Verbindungen unterschiedlich. Aber nicht nur das Eingangssignal hat Einfluss auf die Funktion eines Hirngebietes. Es ist auch notwendig, dass das Ergebnis der Arbeit einer Nervenzelle sozusagen einen Empfänger hat, der etwas damit anfangen kann. Dieser Empfänger ist eine andere Nervenzelle, entweder im selben Hirngebiet oder in einer anderen, sogenannten nachgeschalteten Hirnregion, die die Ausgangssignale der ersten Hirnregion erhält. Die groben Verbindungen zu der Region, die das Ausgangssignal erhält, sind durch Gene und die darauf aufbauenden Entwicklungsprozesse bereits festgelegt (vgl. Infobox 2.3). Wie aber weiß eine Nervenzelle, dass ihre Botschaft empfangen wurde? Der gesamte Vorgang lässt sich am einfachsten an einem Beispiel erklären: Angenommen, eine Nervenzelle im primären visuellen Cortex, also in der Sehrinde, erhält über den Thalamus ein Eingangssignal von einer Sinneszelle des Auges. Sie reagiert beispielsweise auf rotes Licht. Auf ein einzelnes Eingangssignal reagiert unsere Nervenzelle zunächst noch nicht. 7 Wenn aber gleichzeitig oder auch kurz nacheinander mehrere Impulse eintreffen, ist das ein Hinweis darauf, dass „da draußen etwas ist“. Unser Neuron erzeugt daraufhin selbst einen elektrischen Impuls, den es als Signal „rotes Licht gesehen“ über das Axon an andere, nachgeschaltete Nervenzellen weiterschickt. <?page no="33"?> 32 2. Gehirn und Hirnentwicklung Mit der Ausbildung der größtmöglichen Anzahl an Verbindungen zwischen den Nervenzellen ist ein Gehirngebiet aber noch längst nicht fertig mit seiner Entwicklung. Das Gehirn funktioniert nämlich nicht dann am besten, wenn möglichst viele Verbindungen bestehen, sondern dann, wenn die richtigen Verbindungen gut und stark ausgeprägt sind. Daher folgt der Phase der Synapsenentstehung, der Synaptogenese, ein weiterer Schritt, bei dem etwa 40 % der Synapsen wieder abgebaut werden: das sogenannte Pruning. Das klingt zunächst einmal wenig sinnvoll, hat aber durchaus Relevanz und Vorteile (vgl. Casey, Giedd & Thomas 2000). Es ist ein bisschen so wie bei einem Gärtner, der zunächst einmal sehr viele Samen ausbringt und schaut, wie sich die Pflänzchen entwickeln. Die Kräftigsten werden dann von der Anzuchtschale in Blumentöpfe gesetzt, weiter gepflegt und als besonders schöne und üppige Pflanzen gewinnbringend verkauft (vgl. Infobox 2.3). Wer aber ist im Gehirn der Gärtner, der die Auswahl trifft? Wie wird dort gewählt? Bestehen bleiben diejenigen Verbindungen, die häufig genutzt werden. Synapsen, über die viel Information läuft, und Verbindungen zwischen Neuronen, die gleichzeitig aktiv sind, werden immer größer und stärker (vgl. Infobox 2.1). Diejenigen Synapsen, die wenig genutzt werden, also auch wenig zur Kommunikation zwischen Nervenzellen beitragen, verkümmern und sterben ab. In letzter Konsequenz bedeutet das, dass die Synapsen bestehen bleiben, die das repräsentieren, was der sich entwickelnde Mensch erlebt, wahrnimmt und tut. Auf diese Weise tragen das entstehende Übermaß an Verbindungen und der anschließende Abbau Der Nervenzelle ist, bildlich gesprochen, natürlich nicht bewusst, dass sie gewissermaßen eine Entscheidung gefällt hat. Vielmehr haben die Eingangssignale dazu geführt, dass ein Aktionspotential gebildet wurde, das über das Axon der Nervenzelle u. a. an die benachbarten Neurone weitergeleitet wird (vgl. Infobox 2.1). Dieses Aktionspotential ist ein Signal für die benachbarten Neurone, die möglicherweise ebenfalls auf rotes Licht reagieren. Auf diese Weise bestätigen benachbarte Zellen sich gegenseitig, dass sie dieselbe Information erhalten haben. Ein solcher Abgleich ist nützlich, wenn man in seiner Wahrnehmung sicherer, schneller und genauer werden will. Da die Verbindungen wechselseitig sind, hat die Nervenzelle nicht nur die Information bestätigt, sondern auch eine Bestätigung für ihr Signal erhalten. Außerdem wird das Signal an Nervenzellen im nachgeschalteten Hirngebiet geschickt. Dabei erhalten die nachgeschalteten Nervenzellen nicht nur Impulse von der einen Nervenzelle, sondern auch von weiteren. So kann man sich vorstellen, dass einige der nachgeschalteten Nervenzellen nicht nur die Information „rot“ sondern auch noch die Informationen „rund“ und „ungefähr 8-12 cm groß“ erhalten. Diese würden dann bevorzugt auf rote Äpfel aber auch auf kleine rote Bälle reagieren. Diese Zellen geben nun die Information „kleines, rotes, rundes Objekt“ wiederum an andere Hirngebiete weiter, die vielleicht zusätzliche Informationen über den kleinen braunen Stiel des Apfels oder den braunen Blütenrest erhalten (unimodale Assoziationsareale) oder gar Informationen zum Geruch, der Glattheit einer typischen Apfelschale oder zum Geschmack (multimodale Assoziationsareale). Zusätzlich geben die Neurone aber auch Signale an die vorgeschalteten Hirngebiete zurück. Das Gehirn ist keine „Einbahnstraße“, sondern Informationen laufen in der Regel in beide Richtungen. <?page no="34"?> 33 2.2 Verbindung ist alles: Ein gigantisches neuronales Netzwerk wächst zusammen zu Lernprozessen bei, bei denen die „überlebenden“ Synapsen die gemachten Erfahrungen und gelernten Inhalte repräsentieren. Diese hohe Formbarkeit- - die Hirnforscher nennen sie Plastizität-- ermöglicht enorme Lernleistungen. Daher erscheint es oft so, als würde das kindliche Gehirn sozusagen wie ein Schwamm alles aufsaugen, was es an Informationen bekommen kann. Und in gewisser Weise stimmt dies auch. Relevant ist die tatsächliche Erfahrung. Das Maß dafür, ob etwas behalten wird, ist, wie häufig es erlebt wird sowie die emotionale Wirkung des Erlebten (vgl. Kap. 4 & 6). Eine Bewertung der Inhalte, etwa hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes oder der Vertrauenswürdigkeit einer Informationsquelle, ist jungen Kindern dagegen noch nicht möglich. 2.3 Etwa 40 % der Synapsen werden „umsonst“ erzeugt! Lohnt sich der Aufwand tatsächlich? Der anfängliche Überschuss an synaptischen Verbindungen zwischen Neuronen ermöglicht hohe Lernleistungen. Aber das Übermaß an Verbindungen hat auch direkte Nachteile. So führt der anfängliche Überschuss an Synapsen zunächst zu einer ungenauen Abbildung der Sinnesinformationen im Gehirn. Dadurch wird die Exaktheit der Wahrnehmung stark beeinträchtigt. Da zudem auch ein Überschuss an Verbindungen zwischen den Hirngebieten und von den Sinnesorganen zum Cortex entsteht, kommt es dazu, dass Informationen, die etwa vom Ohr kommen, nicht nur im Hörsystem landen und dort verarbeitet werden, sondern zusätzlich z. B. im Sehsystem, sodass sie dort u. U. Farb- oder Formeindrücke hervorrufen können, oder auch umgekehrt, dass visuelle Informationen im auditorischen Cortex ankommen und dort als Geräusche wahrgenommen werden (vgl. Siegler, Eisenberg et al. 2016). Dies ist nur in Ausnahmefällen von sofort einleuchtendem Nutzen, nämlich wenn eines der Sinnessysteme ausfällt. Wenn etwa aufgrund einer angeborenen Blindheit oder Gehörlosigkeit ein Gehirngebiet nicht die erwarteten Informationen erhält, oftmals nicht einmal die Verbindungen vom Sinnesorgan zum Gehirn hin aufgebaut werden, dann kann das Gehirngebiet die eigentlich aufgrund überzähliger Verbindungen eintreffenden Signale eines anderen Sinnesorgans verarbeiten und so zu einer besseren Wahrnehmungsfähigkeit in den noch verbleibenden Sinnen beitragen. Wir haben es also mit einer Mischung aus Vor- und Nachteilen zu tun, aus der ein biologischer Nutzen des Überschusses an Synapsen nicht sofort sichtbar wird. Aus Biologensicht ist diese Art des Hirnwachstums sogar ein riskantes Unterfangen. Immerhin benötigen Kinder während der Entwicklung für die Versorgung ihres Gehirns etwa 1,5-mal so viel Energie wie Erwachsene - trotz des geringeren Körper- und Gehirngewichts. Am höchsten ist der Energieverbrauch des Gehirns im Alter von 4 bis 5 Jahren. Zu der Zeit werden 43 % der insgesamt aufgenommenen Energiemenge vom Gehirn verbraucht (vgl. Kuzawa, Chugani et al. 2014). Das ist, biologisch betrachtet, ein hohes Risiko. Schließlich ist in der Natur die Versorgung mit Nahrung nicht immer gesichert. Welche Konsequenzen Mangelernährung für die Hirnentwicklung hat, kann man leider immer noch, besonders in anderen Teilen der Welt, beobachten. Angesichts dessen muss es einen guten Grund für den luxuriösen Wachstumsüberschuss im Gehirn des Säuglings geben. <?page no="35"?> 34 2. Gehirn und Hirnentwicklung 2.3 Ein Schritt nach dem anderen: Hirngebiete entwickeln sich nacheinander Auch wenn Babys von Geburt an sehen und hören können, haben der primäre auditorische und visuelle Cortex erst mit etwa 10 Jahren die Synapsendichte erreicht, die für Erwachsene typisch ist (vgl. Huttenlocher 1990). Und trotzdem sind die Wahrnehmungsleistungen auch mit 10 Jahren immer noch nicht auf dem Niveau von Erwachsenen. Das liegt unter anderem daran, dass unsere Wahrnehmung nicht allein auf der Verarbeitung in den primären Arealen beruht. Die primären Areale sind von sekundären Wahrnehmungsarealen umgeben, in denen weitere wichtige Verarbeitungsschritte stattfinden. Im visuellen System gibt es eine Vielzahl untereinander vernetzter nachgeschalteter Areale. Hier werden z. B. Formen, Farben, Bewegungen, räumliche Positionen und Ausdehnung von Objekten getrennt weiterverarbeitet und bis ins Detail analysiert. Im auditorischen System dienen die nachgeschalteten Areale u. a. der Analyse von Geräuschen, Klängen und Melodien und der Sprachverarbeitung. Diese Leistungen basieren nicht nur auf dem Sinneseindruck an sich, sondern insbesondere auch auf dem Abgleich der aktuellen Wahrnehmung mit bereits gespeicherten Informationen, also vorhandenem Wissen. Diese Vergleiche erlauben es, Sinnesinformation zu bewerten (etwa als neu oder vertraut) und hinsichtlich ihrer Bedeutung zu interpretieren. Unser Vorwissen ermöglicht es, z. B. das Maunzen einer Katze zu erkennen oder das Klingeln der Türglocke vom Telefon zu unterscheiden. 8 Die sekundären Wahrnehmungsareale können mit ihrem Reifungsprozess, insbesondere mit dem Pruning, erst starten, wenn die primären Areale ihre 8 Weil die Sinnesinformation in diesen Arealen mit bereits gespeicherten Informationen aus demselben Sinnessystem verknüpft wird, werden diese Cortexbereiche gelegentlich auch als unimodale Assoziati- Aktuelle Theorien gehen davon aus, dass der eigentliche Grund für dieses Wachstumsmuster sozusagen technischer Natur ist. Die filigrane und detailreiche Struktur unseres Gehirns, die uns Denken und intelligentes Verhalten erst erlaubt, ist so komplex, dass die dazu notwendigen Informationen in all ihren Einzelheiten überhaupt nicht in den Genen abgelegt werden können (vgl. Changeux & Danchin 1976). Daher nehmen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an, dass die Informationen, die in Form von Erfahrungen und Erlebnissen ohnehin jedem Menschen zu Verfügung stehen, - etwa Licht (hell und dunkel, Farben, Formen), Geräusche (Klänge, Töne, Tonhöhen, Rhythmus) usw. - genutzt werden, um die korrekte Verknüpfung sicherzustellen, ohne dass alles im Detail in den Genen vorweggenommen werden und in den Vernetzungen genetisch gesteuert repräsentiert werden muss (vgl. Karmiloff-Smith 2006). Das bedeutet aber nicht, dass der genetische Einfluss unerheblich wäre. Die grundlegenden, bei der Geburt bereits angelegten Verbindungen (z. B. die großen Verbindungsstränge zwischen Hirngebieten, die Verbindungen von den Sinnesorganen zum Gehirn und vom Gehirn zur Muskulatur) sind genetisch vorgegeben, ebenso, wenn auch in geringerem Umfang (vgl. van den Heuvel et al. 2013), ein Teil der kürzeren Verbindungen. Damit ist eine Grundstruktur, sozusagen ein „Raster“ festgelegt, innerhalb dessen Umwelteinflüsse Details des Wachstums anregen können. Zudem wirken genetische Faktoren über den gesamten Entwicklungsverlauf, initiieren und beeinflussen immer wieder Wachstums- und Veränderungsprozesse im Gehirn (vgl. z. B. Sowell et al. 2003). <?page no="36"?> 35 2.3 Ein Schritt nach dem anderen: Hirngebiete entwickeln sich nacheinander Arbeit bereits aufgenommen haben. Dazu brauchen die primären Areale noch nicht ausgereift zu sein, müssen aber ein Synapsennetz besitzen, das dicht genug ist, um Informationen zu verarbeiten und an die nachgeschalteten Areale weiterzugeben (vgl. Casey et al. 2005). Erst, wenn die nachgeschalteten Areale, hier also die sekundären Wahrnehmungsareale, „Input“ in Form von Nervenimpulsen bekommen, können sie feststellen, welche Verbindungen dabei häufig genutzt werden und welche Verbindungen weniger nützlich sind. Der aufeinander aufbauende Entwicklungsverlauf der Areale bringt es mit sich, dass bestimmte Leistungen selbst der Sinnessysteme erst recht spät entwickelt werden. Ein frappierendes Beispiel hierfür ist die Schätzung der Geschwindigkeit sich bewegender Objekte durch das Sehsystem: Erst mit etwa 16 Jahren kann ein junger Mensch ebenso verlässlich wie ein Erwachsener einschätzen, mit welcher Geschwindigkeit sich ein Objekt (z. B. ein Auto) nähert. Abb. 4: Die multimodalen Assoziationsareale (angegeben ist die ungefähre Lage im Gehirn) dienen der Vernetzung zwischen den Sinnessystemen bzw. zwischen Sinnesinformationen und Bewegungen/ Handlungen. Die Verbindung dieser Informationen ist die Basis für höhere kognitive Leistungen. Der präfrontale Cortex, die u. a. für die Handlungsplanung bedeutsame Region, lässt sich in den dorsolateralen präfrontalen Cortex ( DLPFC ), den lateralen präfrontalen Cortex ( LPFC ), den ventrolateralen präfrontalen Cortex ( VLPFC ) und den orbitofrontalen Cortex ( OFC ) untergliedern. Sobald die sekundären sensorischen Areale wenigstens grundsätzlich funktionieren, nehmen als letzte Bereiche der Großhirnrinde die (multimodalen) Assoziationsareale ihre Arbeit auf onsareale oder Assoziationsareale erster Ordnung bezeichnet. Wir werden im Folgenden, um Verwechslungen zu vermeiden, weiterhin den Begriff „sekundäre Wahrnehmungsareale“ verwenden. <?page no="37"?> 36 2. Gehirn und Hirnentwicklung (vgl. Gogtay et al. 2004). Sie verbinden die Informationen aus mehreren Sinnessystemen, ordnen sie, speichern Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Sinneseindrücken 9 und bilden so nach und nach Kategorien und Konzepte aus. Ihre Arbeit ist die Basis für höhere kognitive Funktionen, planvolles Handeln, strategische Vorgehensweisen und langfristige Planungen. Eines der Assoziationsareale liegt im Parietallappen (vgl. Abb. 4) und grenzt an visuelle, auditive und somatosensorische Areale. Hier findet die Integration dieser Sinnesinformationen vorrangig im Hinblick auf räumliche Aspekte statt. Ein weiteres Assoziationsareal liegt im Temporallappen und ist schwerpunktmäßig an der Erkennung und Kategorisierung von Objekten beteiligt. Das frontale Assoziationsareal, der präfrontale Cortex, ist zentral für die Steuerung planvollen Handelns. Die Assoziationsareale reifen erst während der Pubertät aus, einige Bereiche des Parietallappens und des präfrontalen Cortex sogar erst im frühen Erwachsenenalter (vgl. Gogtay et al. 2004; Huttenlocher 1979, 1990; Sowell et al. 2003). Ausgewählte Aspekte der Hirnreifung in der Pubertät und Adoleszenz werden in Kap. 2.6 dargestellt. 2.4 Vom Feldweg zur Schnellstraße: Myelinisierung von Nervenfasern Parallel zum Aufbau des Neuronennetzes hat bereits ein weiterer Prozess begonnen, der die Verarbeitungsgeschwindigkeit beeinflusst, aber auch die Intensität der neuronalen Aktivierung erhöht (vgl. Olesen, Nagy et al. 2003): Die Nervenfasern erhalten ihre Myelinschicht, die wie eine Art Isolierung die Leitfähigkeit der Nervenfasern verbessert. So können die elektrischen Impulse über die Axone schneller und verlässlicher weitergegeben werden. Auch hier sind die Gliazellen wieder von immenser Bedeutung. Spezielle Gliazellen, die Oligodendrocyten, wickeln sich spiralförmig um die Axone, sodass ihre Zellmembran schließlich in vielen Schichten um das Axon herum liegt. Die Gliazellen lagern in ihren Zellmembranen einen sehr hohen Anteil an Lipiden ein, die die Isolierung gewährleisten. Da Myelin eine weißliche Farbe hat, spricht man von der weißen Substanz des Gehirns. Durch die Myelinisierung steigt die Geschwindigkeit, mit der Nervenimpulse von einem Neuron zum anderen weitergegeben werden, von 3 Metern pro Sekunde auf bis zu 115 Metern pro Sekunde. Damit werden Wahrnehmungs-, Denk- und Entscheidungsprozesse um ein Vielfaches schneller und effektiver. Die Myelinisierung beginnt im motorischen und somatosensorischen System (vgl. Abb. 4), also in den Bereichen, in denen auch die Synaptogenese begonnen hat. Das ist nur folgerichtig, denn schließlich sind hier die Axone, die umhüllt werden sollen, bereits ausgebildet. Im Kernspinbild ist die beginnende Myelinisierung in diesen beiden Regionen schon bei der Geburt sichtbar (vgl. Staudt, Krägeloh-Mann & Grodd 2000). Darauf folgt die Myelinisierung der Axone des primären auditorischen und visuellen Cortex (im Alter von 5 Monaten, vgl. Dubois et al. 2014; Staudt et al. 2000). Die Myelinisierung der Assoziationsareale verläuft tendenziell von hinten nach vorne. Die Myelinisierung des parietalen, hinteren Assoziations- 9 Als ein konkretes Beispiel ließen sich das Aussehen, die Geräusche und haptischen Informationen zu verschiedenen Hunden anführen, die alle im Konzept „Hund“ vereinigt werden. Mit zunehmender Erfahrung wird das Konzept erweitert und von anderen Kategorien (z. B. Katze, Pferd) deutlicher abgegrenzt. <?page no="38"?> 37 2.5 Die Verschränkung neuronaler und kognitiver Entwicklung cortex beginnt also vor der des frontalen Assoziationscortex. Der frontale Cortex reift als Letztes aus. Anders als bei der Reifung der Neurone, ist die Myelinisierung nicht an einzelne Areale der Großhirnrinde gebunden, sondern betrifft vielmehr das „Innere“ des Großhirns, das sogenannte Mark. Hier verlaufen die großen Nervenbahnen aus vielen langen Axonen, die die Informationen von einem Hirngebiet zum anderen übertragen. Diese Bahnen ermöglichen die Kommunikation zwischen den Hirnarealen und bilden so die Grundlage für eine ganzheitliche Wahrnehmung, die Berücksichtigung unterschiedlicher Informationen, etwa bei Entscheidungsprozessen, die Verbindung von Emotionen und Vernunft usw. Darüber hinaus erlauben sie auch Rückkopplungen von den Assoziationsarealen zu den sekundären und primären Arealen. Auf diese Weise werden Wahrnehmungen verfeinert, aber auch bestimmte Aufgaben effektiver erledigt. Wer schon einmal in einem vollen Regal vergeblich ein Buch gesucht hat, von dem er glaubte, es habe z. B. einen roten Rücken, obwohl dieser tatsächlich grün oder blau war, versteht leicht, welchen Effekt die-- in diesem Fall falsche-- Information haben kann, die von präfrontalen Planungsarealen an das Sehzentrum gegeben wird. Die Myelinisierung der großen Verbindung zwischen der linken und rechten Hälfte des Großhirns, des Corpus callosum mit ca. 200 Millionen Nervenfasern, beginnt früh, zeitgleich mit der Myelinisierung der primären sensorischen Areale und endet erst im Jugendalter. Das Corpus callosum ist u. a. an der Integration von Wahrnehmungsprozessen, an Speicherung und Abruf von Informationen aus dem Gedächtnis und an Aufmerksamkeitsprozessen beteiligt. Im Gegensatz zu kortikalen Nervenzellen, die einem Aufbau und einem anschließenden, gezielten Abbau unterliegen, lässt sich bei der weißen Substanz ein Anstieg bis ins junge Erwachsenenalter ohne nachfolgenden Abbau feststellen (vgl. Lenroot & Giedd 2006). 10 2.5 Die Verschränkung neuronaler und kognitiver Entwicklung Zusammenfassend lässt sich an diesem Punkt festhalten, dass bei der Entwicklung des Gehirns bis ins frühe Erwachsenenalter hinein zwei Prozesse leicht zeitlich versetzt, aber in ihrer Abfolge mehr oder weniger parallel ablaufen, nämlich die Entwicklung der Gehirngebiete mit den Nervenzellen einerseits-- das Wachstum unserer „grauen Zellen“-- und die Myelinisierung der Verbindungen zwischen den Nervenzellen andererseits-- die Ausbildung der weißen Substanz des Gehirns. Während des Wachstums ist die Entwicklungsgeschwindigkeit nicht gleichbleibend hoch. Zu Beginn der Entwicklung wächst das Gehirn-- so wie die anderen Körperteile auch-- besonders schnell. Bis zum Alter von 9 bis 10 Jahren hat es ca. 95 % der Größe des erwachsenen Gehirns erreicht (vgl. Huttenlocher 1979), die Anzahl der Neurone im Gehirn und die Dichte der weißen Substanz ändern sich aber weiterhin. Zudem haben bereits frühe Untersuchungen mittels EEG und einfache Messungen des Kopfumfangs auf Entwicklungsschübe im Hirnwachstum im Alter von etwa 3, 7, 11 bis 12 und ca.15 Jahren hingewiesen (vgl. Epstein 1986). In den folgenden Abschnitten soll die Bedeutung der sukzessiven Reifung der Hirnareale und der Wachstumsschübe für die Entwicklung von Denk- und Lernprozessen beschrieben werden. 10 Erst ab dem Alter von 40 oder mehr Jahren findet ein altersbedingter Abbau statt. <?page no="39"?> 38 2. Gehirn und Hirnentwicklung 2.5.1 Stabilität und Störanfälligkeit: Beispiel Wahrnehmung Das kindliche Gehirn ist keine verkleinerte Version eines erwachsenen Gehirns. Da bestimmte Funktionen noch nicht oder nicht in der endgültigen Form zur Verfügung stehen, ergeben sich viele Unterschiede. Das gilt sogar für die Verarbeitung von Sinnesinformationen. Obwohl Kinder ja von Geburt an sehen, hören usw., erreichen die primären Sinnesareale, wie oben beschrieben, die Zelldichte, die für Erwachsene typisch ist, erst im Alter von 10 Jahren. Daher erreicht auch die Verarbeitung von Informationen in diesen Bereichen schlicht nicht die Geschwindigkeit oder die Qualität (im Sinne von Genauigkeit, geringer Fehlerzahl u. Ä.) des erwachsenen Gehirns. Hieraus ergeben sich Unterschiede in grundlegenden Wahrnehmungsleistungen, die zum Teil auch für Lehr-/ Lernsettings von praktischer Relevanz sind. Ein Beispiel hierfür ist die Verarbeitung im Hörsystem. Bis zum Ende des Grundschulalters sind Kinder in lauter Umgebung relativ „schwerhörig“. Sie haben Probleme, gesprochene Sprache zu verstehen, wenn viele Hintergrundgeräusche etwa in einem lauten, hallenden Klassenraum stören (vgl. Klatte, Hellbrück et al. 2010). Um unter schlechten akustischen Bedingungen einem Sprachfluss zu folgen, müssen Richtungshören (basierend auf der Verrechnung der Information von linkem und rechtem Ohr), Aufmerksamkeitsprozesse und Prozesse des Sprachverstehens, die mit den sprachlichen Fertigkeiten verknüpft sind, in geregelter Weise ineinandergreifen. Daher sind besonders Kinder mit Problemen in der selektiven, gerichteten Aufmerksamkeit und Kinder, deren Muttersprache nicht die Unterrichtssprache ist, unter schlechten akustischen Bedingungen zusätzlich beeinträchtigt (vgl. Klatte, Bergström & Lachmann 2013). Ähnliche Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern finden sich auch für die Verarbeitung von Detailinformationen in Bildern oder anderen visuell präsentierten Informationen, insbesondere bei kurzzeitiger Darbietung etwa in Filmen bzw. Videos. Auch können schmückende, scheinbar kindgerechte visuelle Details wie niedliche Tierchen oder knallige Farben Kinder viel stärker von der eigentlichen Aufgabe ablenken, als dies von Erwachsenen vielleicht angenommen wird. Selbstverständlich kann man solche Elemente einsetzen-- aber in einem den Prozess unterstützenden Sinn und nicht als ablenkendes Beiwerk nur, weil etwas schön aussieht. Alles spricht dafür, die wichtigen Teile eines Arbeitsblattes wunderbar bunt zu drucken oder eine Figur auf den nächsten Arbeitsschritt hinweisen zu lassen. Nichts spricht dafür, „Dekoelemente“ einfach gleichmäßig über ein Arbeitsblatt zu verteilen. Es lohnt sich, Lehrwerke für Grundschüler einmal daraufhin kritisch unter die Lupe zu nehmen. Besonders ablenkend sind auch Bewegungen im Blickfeld, also der zappelnde Nachbar, die wehenden Vorhänge, und selbst Vögel oder Eichhörnchen im Baum vor dem Fenster können jüngere Lerner ablenken. In solchen Fällen kann es sinnvoll sein, den Unterricht kurz zu unterbrechen, die Tiere im Baum zwei Minuten lang zu beobachten, sich dabei über die Beobachtungen auszutauschen und dann zur Arbeit zurückzukehren. Aber nicht nur die Aufnahme von Sinnesinformationen kann leicht durch allerlei Störreize beeinträchtigt werden. Gleiches gilt auch für Lernprozesse. Sinneseindrücke, die im Augenblick unnütz sind, aber nicht so leicht abgeschirmt werden können, beanspruchen Hirnkapazitäten, die dann nicht für andere Aufgaben zur Verfügung stehen. So ist das Aus- <?page no="40"?> 39 2.5 Die Verschränkung neuronaler und kognitiver Entwicklung wendiglernen beeinträchtigt, wenn im Hintergrund gesprochen wird, selbst dann, wenn nur leise gesprochen wird. Die Lernleistung von Erwachsenen sinkt bei einer solchen Störung um 11 %, die von Zweitklässlern sogar um 39 % (vgl. Elliott 2002). Diese natürlichen Einschränkungen von Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsprozessen bei Kindern bis zu 10 Jahren gilt es zu berücksichtigen, wenn man die Lernleistungen und -möglichkeiten von Kindern im Grundschulalter richtig einschätzen und durch die Schaffung einer guten Unterrichtsumgebung unterstützen möchte. Die beschriebenen Unterschiede erscheinen in dem bisher Ausgeführten als Einschränkungen. Vom regulären Schulalltag aus betrachtet, sind sie das wohl auch. Zum einen kann das ein Anlass sein, die Struktur des Schulalltags noch einmal zu überprüfen. Ebenso wichtig allerdings ist anzuerkennen, dass die vermeintlichen Einschränkungen, biologisch gesehen, durchaus eine Funktion haben. Für die natürliche Entwicklung der Wahrnehmungsleistungen ist es wichtig, dass die Sinnessysteme alle Sinneseindrücke aufnehmen und bearbeiten, die häufiger in der Umgebung vorkommen. Hier gibt es drei zugrunde liegende Mechanismen, deren Wirkung so relevant für die Hirnentwicklung ist, dass die relativ geringfügigen Nachteile leicht aufgewogen werden: 1. Jedes flexible System ist leicht von außen beeinflussbar-- oben wurde das als störanfällig beschrieben. Zugleich ist es aber absolut notwendig, dass die Hirnstrukturen von Kindern relativ flexibel sind. Nur so haben sie noch die enorme Anpassungsfähigkeit, die es ihnen erlaubt, sehr schnell neue Erfahrungen zu integrieren, in Wissen umzuwandeln und ihre Handlungen daran anzupassen. Ein stabileres Verarbeitungssystem wäre weniger störanfällig, aber auch weit weniger lernfähig, was für einen sich entwickelnden Organismus überhaupt nicht sinnvoll wäre. 2. Was im Leben vorkommt, also zum Leben dazugehört, muss aufgenommen, verarbeitet und in seiner Bedeutung und möglichen Nützlichkeit eingeschätzt werden. Nur so gelangt man zu einer guten Orientierung in der Welt. In vielen Fällen steht am Ende vielleicht die Bedeutungszuweisung „Unwichtig! Einfach ignorieren! “. Bis aber diese Unterscheidung verlässlich gefällt werden kann, bedarf es der Verarbeitung der zunächst noch neuen Sinneseindrücke. Unser Organismus ist darauf ausgerichtet, dass er diese Entscheidung nicht leichtfertig fällt. Es könnte sich als äußerst nachteilig erweisen, wenn man etwas als unwichtig kategorisiert, das zu einem späteren Zeitpunkt nützlich wäre-- oder sogar gefährlich. 3. Die an manchen Punkten noch „ungenaue“ Verarbeitung von Sinnesreizen erlaubt es, die seh-, hör-, und tastbaren Objekte in der Umgebung zunächst auf einer übergeordneten, globalen Ebene zu betrachten und sich nicht in den Details zu verlieren. Anschaulich wird dieser Mechanismus, wenn man sich vorstellt, dass man als Erwachsener ein Tier aus weiter Ferne sieht oder auf einem unscharfen Foto. Man kann noch recht gut erkennen, dass es sich um ein Tier handelt. Ob es nun aber ein Fuchs, eine Katze, ein nicht allzu großer Hund oder vielleicht doch etwas anderes ist, lässt sich manchmal nur schlecht feststellen. Hier sieht man sehr schön, dass eine gewisse Ungenauigkeit Gemeinsamkeiten einzelner Objekte hervorhebt. Solche Gemeinsamkeiten wiederum sind die <?page no="41"?> 40 2. Gehirn und Hirnentwicklung Basis für die Bildung von Kategorien (in unserem Beispiel die Kategorie Tier). Besonders im Spracherwerb, aber auch in vielen anderen Bereichen ist ein solcher Mechanismus sehr nützlich.  Praxisfenster 11 Zu „Lärm in Bildungsstätten“ vgl. Schönwälder et al. 2004. 12 Vgl. hierzu u. a. Klatte & Lachmann (2009: 141), die den Lärmpegel bei Gruppenarbeit mit bis zu 77dB(A) angeben, der einer stark befahrenen Straße liegt bei 80dB(A). Für eine bessere Einordnung sei außerdem erwähnt, dass die Schwelle, ab der die Konzentration gestört werden kann, bei ca. 40dB(A) liegt, die für mögliche Herz-Kreislaufbelastungen und Stressreaktionen bei etwa 65dB(A). Die Schmerzgrenze ist bei 120dB(A) erreicht. A steht übrigens für eine Schallbewertung mit A-Filter, d. h. für eine Bewertung, bei der die Gegebenheiten des menschlichen Ohrs berücksichtigt werden. Claudia: Ich möchte gerne das Thema Lärm nochmal aufgreifen. 28 Ich habe den Eindruck, dass es oft im Zusammenhang mit der Lehrergesundheit betrachtet wurde, was zweifellos wichtig ist. Aber Lärm wirkt sich auch auf die Kinder aus, auf ihr Befinden und den Lernerfolg. Manchmal ist es schon etwas laut im Klassenzimmer, und wenn man, mal abgesehen von möglichem Stresserleben durch Lärm, bedenkt, wie sehr der Unterrichtsertrag auf dem Erfolg der sprachlichen Interaktion beruht, ist das beunruhigend. Gesa: Kolleginnen und Kollegen aus der Psychologie haben Studien durchgeführt mit Messungen des Lärmpegels, mit dem Ergebnis, dass in einem durchschnittlichen Grundschulklassenzimmer der mittlere Lärmpegel in verschiedenen Phasen, ganz besonders bei Gruppenarbeit, dicht bei dem einer viel befahrenen Autostraße liegt. 29 Dianne: Und wir wissen, dass der Lärmpegel für jüngere Kinder ein größeres Problem darstellt als für ältere. Hintergrundgeräusche stören sie mehr und ungünstige Nachhallzeiten im Raum sind besonders abträglich. Peter: Wenn ich z. B. vorne im Klassenzimmer spreche und der Raum hat eine lange Nachhallzeit, dann überlagern sich meine Sprechsilben, weil Silbe 2 sich sozusagen schon auf den Weg macht, während Silbe 1 noch immer in der Luft hängt, mal ganz einfach gesagt. So habe ich das mit der Nachhallzeit jedenfalls verstanden, als wir vor zwei Jahren einen Sanierungszuschlag erhalten haben und die Klassenräume renovieren durften. Ich konnte mit einer Schüler- AG in einigen gemeinsamen Sitzungen mit dem Architekten zusammenkommen, Ideen entwickeln und einige davon sind auch umgesetzt worden. Ein wichtiges Thema in den Arbeitssitzungen waren physikalische Umwelteinflüsse, besonders Farben, Licht und eben die Nachhallzeit. Wir haben dann tatsächlich ein paar schallabsorbierende Wände und Deckenverkleidungen bekommen. Claudia: Das sei euch von Herzen gegönnt, aber ich frage trotzdem mal nach: Dianne hat gerade gesagt, dass jüngere Kinder stärker beeinträchtigt werden. Hätten dann nicht zuerst wir an der Grundschule die schallschluckenden Wände bekommen müssen? Wie gesagt, ich denke nur mal quer und frage mich, ob die Investition nicht in einer Grundschule mindestens genauso gut platziert gewesen wäre. Peter: Ich finde es absolut legitim, diese Frage zu stellen. Was weiß man dazu? <?page no="42"?> 41 2.5 Die Verschränkung neuronaler und kognitiver Entwicklung 13 Vgl. Böttger & Sambanis 2017; Klatte & Lachmann 2009. 14 Zu Nutzen und Risiken von Hintergrundmusik vgl. Böttger & Sambanis 2017: 54-55. Dianne: Man weiß, dass Jugendliche erst ab ca. 14 Jahren in der Lage sind, Hintergrundgeräusche sowie Nachhall besser zu unterdrücken, um dadurch auch bei weniger günstigen Verhältnissen trotzdem recht gut zu verstehen. Gesa: Die zur Erbringung des Unterdrückens von Störreizen und des Herausfilterns und Verarbeitens von Sprachreizen erforderlichen auditiven, sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten kommen erst im Laufe des Jugendalters zur Entfaltung. 13 Die Kinder verbringen also die Zeit, in der Hintergrundgeräusche besonders abträglich sein können, sowohl in der Grundschule als auch in der weiterführenden Schule. Abgesehen davon, darf man nicht vergessen, dass Kinder mit ADHS , LRS , Sprachverarbeitungsstörungen, einer Sprachenbiografie, in der das Deutsche erst spät dazukam usw. auch in höheren Klassen noch durch eine ungünstige Raumakustik sehr beeinträchtigt werden können. Claudia, du hattest darauf hingewiesen, dass im Unterricht viel an der Sprache hängt, und Studien haben gezeigt, dass Hintergrundgeräusche dann besonders störend sind, wenn es darum geht, sprachliche Informationen im Arbeitsgedächtnis zu halten. Dianne: Und das betrifft ganz viele Aufgabenstellungen in unterschiedlichen Fächern, z. B. alle, bei denen es um sinnentnehmendes Lesen geht, also z. B. auch Textaufgaben in der Mathematik oder Zahlenoperationen, die im Kopf versprachlicht werden. Natürlich betrifft es auch das Vokabellernen und das Einprägen von Fakten. Dann scheint Ruhe wichtig und z. B. Gruppenarbeit oder Hintergrundmusik eher schlecht platziert zu sein. 14 Man sollte aber die Kinder auch nicht ständig um Ruhe bitten und keineswegs generell auf Gruppenarbeit usw. verzichten, sondern vielmehr abwägen, wann Ruhe nötig ist. Peter: Beispielsweise vor Inputphasen versuche ich, meine Schülerinnen und Schüler zur Ruhe kommen zu lassen. Wir haben uns im Kollegium auf einige Stille-Techniken verständigt, die wir jeweils für altersangemessen halten. Außerdem erkläre ich meinen Schülerinnen und Schülern im Bedarfsfall kurz, warum ein niedriger Lärmpegel für eine bestimmte Arbeitsphase wichtig, sinnvoll und letztlich in ihrem eigenen Interesse ist. Bei meinen Klassen stieg dadurch die Bereitschaft, Stille- Techniken anzunehmen und auf eine gemäßigte Sprechlautstärke bei der Gruppenarbeit zu achten. Dianne: In Unterrichtsbesuchen habe ich den Eindruck gewonnen, dass es in Inputphasen nicht schlecht ist, wenn z. B. eher zappelige Kinder nicht ausgerechnet zwischen der oder dem Vortragenden und der Klasse sitzen, sondern wenn sie eher außen platziert sind. Claudia: Da ist was dran. Bei meinen Grundschulkindern muss ich außerdem bedenken, dass manche das leise Sprechen, wie es z. B. in Partnerarbeit gebraucht wird, noch gar nicht in ihrem Repertoire haben. Manche können nicht einschätzen, wie laut sie sprechen, als hätten sie noch nie geflüstert. Im Übrigen kann das Einteilen des Klassenzimmers in ein paar Zonen hilfreich sein, z. B. eine, in der leise miteinander gesprochen werden darf und eine, in der die Kinder Ruhe suchen und allein dadurch, dass sie sich in die Stille-Zone begeben, schon anzeigen, dass sie Ruhe brauchen. Wir haben auch einige Lärmschutzkopfhörer für die Kinder angeschafft, die gerne genutzt werden. <?page no="43"?> 42 2. Gehirn und Hirnentwicklung Peter: In einer Fortbildungsveranstaltung hat uns ein Referent einmal einen ziemlich simplen, aber aus meiner Sicht schönen Rat gegeben, wie es besser gelingen kann, von Anfang an etwas mehr Ruhe in die Klasse zu bringen: Die Lehrkraft solle, wenn sie die Klasse morgens oder nach der Hofpause ins Zimmer lässt, die Schülerinnen und Schüler nicht hineinstürmen lassen, sondern das Eintreten ins Klassenzimmer als einen kleinen Moment des Ankommens gestalten. Als Lehrkraft stehe ich bei der Türe und zeige, dass ich sie alle wahrnehme, spreche den einen oder anderen kurz an, keine langen Gespräche, sondern z. B. Mia, bist du wieder gesund? Das freut mich aber! Oder Na Ben, Englischbuch noch nicht vermisst? Liegt seit Freitag unter deinem Tisch. Ich dachte zuerst, dass das eher etwas für die Grundschule wäre, habe es aber ausprobiert und muss sagen: nicht übel. Schon das Reinkommen ins Zimmer ist viel weniger hektisch und deutlich ruhiger. Ich mache das nicht immer, aber in bestimmten Klassen, wie gesagt, in der ersten Stunde, nach der Hofpause und ganz besonders im Nachmittagsunterricht. Dabei achte ich darauf, nicht immer dieselben anzusprechen, sondern meine Aufmerksamkeit mal diesem, mal jenem zu schenken. Es ist, als würde ich dadurch Dampf rausnehmen, diejenigen, die um Aufmerksamkeit buhlen schon ein bisschen einfangen und denjenigen, die sich im Unterricht nicht gerne in den Fokus stellen, kann ich durch Blickkontakt, freundliches Zunicken oder einen kurzen Smalltalk Aufmerksamkeit schenken. Claudia: Morgens oder nach Zäsuren im Schulalltag kann ich mir das gut vorstellen. Aber was mache ich, wenn’s im Unterricht selbst zu laut wird? Eine Binsenweisheit in diesem Zusammenhang ist die, niemals Lärm mit Lärm bekämpfen zu wollen. Dadurch wird es nur noch lauter - es sei denn, es ist ein bemerkenswertes, kurzes Signal. Ich hatte im Referendariat einen Seminarleiter, der hat plötzlich eine alte Hupe aus seiner Schublade geholt und mit dem Tröten-Ton alle überrascht. Gesa: Das war ein akustischer Novitäten-Effekt, etwas Unerwartetes und in der Schulumgebung eigentlich Abwegiges. Darauf achten wir automatisch, aber wir gewöhnen uns auch daran, wenn es uns wiederholt begegnet. Dianne: In der Theaterpädagogik gibt es eine Technik, die ganz gut in Klassenzimmern, Seminarräumen oder Hörsälen klappt: Man fängt an zu klatschen und bittet einfach ein paar, sich zu beteiligen. Alle schauen in die Richtung, aus der plötzlich Applaus kommt und man kann alle einladen, sich zu beteiligen. Das ist eine schöne Technik, wenn man Gruppenarbeit beenden und zu einer anderen Phase überleiten möchte. Claudia: Und natürlich gibt es die Klassiker Handzeichen, z. B. der stille Fuchs, wo man mit ausgestrecktem Zeigefinger und kleinem Finger einen Tierkopf nachahmt, der als stummer Impuls für mehr Ruhe sorgen soll, das Runterzählen oder auch den Geduldsfaden, der an die Tafel gezeichnet, dann nach und nach ausgewischt und dadurch verkürzt wird, bis er weg ist. Dann muss es ruhig sein. Peter: Mit dem stillen Fuchs könnte ich meine Klassen nicht mehr zur Ruhe bringen, eher im Gegenteil. Claudia: Klar, aber meine Lieblings-Stille-Technik könnte zumindest deinen Fünft- und vielleicht auch den Sechstklässlern noch gefallen: Zu Beginn des Monats erklären wir ein beliebiges Wort zum Stille-Wort des Monats und notieren es für alle sichtbar. Das Stille-Wort ist eine Art Codewort, das nicht nur die Lehrkraft verwenden darf, sondern auch die Kinder. Wann immer jemand auf die Wortkarte zeigt bzw. wann immer es ausgesprochen oder angeschrieben wird, empfindet es <?page no="44"?> 43 2.5 Die Verschränkung neuronaler und kognitiver Entwicklung 2.5.2 Nutzung alternativer Hirnstrukturen und Strategien Dass bei Kindern bestimmte Gehirnstrukturen noch nicht so ausgebildet sind wie bei Erwachsenen, führt nicht nur zu Unterschieden innerhalb der einzelnen Bereiche im Sinne einer teilweise globaleren oder flexiblen bzw. störanfälligen Arbeitsweise. Einige Dinge können Kinder überhaupt nicht bewältigen-- ja manchmal nicht einmal verstehen-- da es noch keine Repräsentation dafür in ihren Gehirnen gibt. Bei anderen Aufgaben verwenden Kinder andere Hirnareale für die Bearbeitung als Erwachsene, mit der Konsequenz, dass sie zu einem anderen Ergebnis kommen. Ein sehr frühes Beispiel hierfür ist die Fähigkeit von Kindern, sich einen Ort zu merken. Bis zum Abschluss des ersten Wachstumsschubes des Gehirns, also etwa bis zum Alter von 3 ½ Jahren können sich Kinder die räumliche Lage eines Ortes, an dem z. B. eine Belohnung versteckt ist, nur schlecht merken. Wenn alle Orte gleich aussehen und sich nur in ihrer Position unterscheiden (z. B. Vertiefungen, die alle durch gleich aussehende Deckelchen abgedeckt sind), finden die Kinder die Belohnung kaum. Wenn der Ort gesondert markiert ist, etwa durch ein zusätzliches Objekt oder eine bestimmte Deckelfarbe, finden die Kinder die Belohnung verlässlich (vgl. Ribordy, Jabès et al. 2013). Letztlich ist das ein Hinweis darauf, dass Kinder die räumlichen Positionen entweder nicht erinnern oder die Erinnerung nicht nutzen können, um versteckte Gegenstände zu finden. Offensichtlich fällt es ihnen aber leicht, die visuelle Objekterkennung zu nutzen, um den Ort wiederzufinden, an dem ein Gegenstand versteckt ist. Objekterkennung wird von Hirnregionen geleistet, die im Temporallappen jemand als zu laut. Wie bei allem, muss man natürlich auch hier darauf hinwirken, dass es nicht inflationär gebraucht wird, sondern, wie ein Hilferuf, nur im Notfall. Wir wechseln ab zwischen englischen und deutschen Wörtern, z. B. hatten wir kürzlich Funkstille ausgesucht, davor war es Hängebauchschwein - hat nichts mit Stille zu tun, muss es auch nicht. Ist ja schließlich unser geheimer Code. Auf Englisch waren es schon lullaby und bumblebee. Es können auch Wörter aus den Familiensprachen der Kinder sein. Ich google dann kurz die anderssprachigen Vorschläge, um sicherzugehen, dass wir kein „schlimmes“ Wort verwenden. Peter: Hat Potenzial, gerade die Möglichkeit, auch Wörter aus anderen Sprachen zum Stille-Wort des Monats zu erklären, gefällt mir. Das ist zugleich eine kleine Geste, um Herkunftssprachen zu würdigen. Auch der Überraschungseffekt, wenn das Stille-Wort einfach in den sonstigen Redefluss eingebaut wird, ist sicher netter als der mahnend erhobene Zeigefinger. Ich stelle mir gerade vor, wie ich einen Text an die Tafel schreibe, den die Klasse abschreiben soll. Dann wird es, was ja manchmal vorkommt, wenn man sich als Lehrer auf die Tafel konzentriert, hinter mir laut, aber ich interveniere nicht verbal, sondern schreibe einfach mitten in den Satz hinein das Stille-Wort, sagen wir Hängebauchschwein. Jede Wette, dass die Hälfte es schon abgeschrieben, hat, bevor sie merken, dass Hängebauschwein gar nicht in den Kontext passt, sondern eine subtile Botschaft ist und zugleich ein Beleg dafür, dass die Konzentration nicht ausreichend hoch ist. Ich denke, das kann man mit der richtigen Mischung aus Ernst und Humor dann dazu nutzen, dass die Klasse sich daran erinnert, dass bei Aufgaben, bei denen Sprache im Arbeitsgedächtnis gehalten werden muss, also z. B. beim Abschreiben, weniger Lärm mehr bringt. <?page no="45"?> 44 2. Gehirn und Hirnentwicklung liegen. Räumliche Positionen und räumliche Beziehungen werden dagegen im Parietallappen verarbeitet. Letztere Informationen stehen für die Suche nach versteckten Objekten scheinbar noch nicht bzw. nur stark eingeschränkt zur Verfügung. 15 Aber nicht nur bei den ganz kleinen Kindern stehen bestimmte Areale für bestimmte Aufgaben noch nicht zur Verfügung. 16 So können auch Kinder vor dem dritten Wachstumsschub des Gehirns, also vor dem Alter von 11 bis 12 Jahren auf bestimmte Funktionen nicht so zugreifen wie Erwachsene, weil die entsprechenden Areale oder Verbindungen zwischen Hirnbereichen noch nicht ausgereift sind. Beispielsweise nutzen Erwachsene bei der Entscheidung, ob ein Objekt unter natürlichen Bedingungen in einer bestimmten Farbe vorkommt, Assoziationsareale im Parietallappen und im präfrontalen Cortex. Kinder im Alter von 8 bis 11 Jahren dagegen nutzen für dieselbe Aufgabe Hirnbereiche, die früheren Verarbeitungsstufen entsprechen: die sekundären visuellen Areale (vgl. Maril et al. 2011). Die Nutzung unterschiedlicher Hirngebiete bei der gleichen Aufgabe hat zwei Auswirkungen: Zum einen machen die Kinder insgesamt mehr Fehler. Zum anderen berichten Kinder häufiger als Erwachsene, dass sie sich in ihrer Entscheidung unsicher sind und zwar selbst dann, wenn sie eigentlich die richtige Antwort gegeben haben. Die Unsicherheit ist darauf zurückzuführen, dass die Wahrnehmungsareale, die die Kinder zum Lösen der Aufgabe verwenden, nur eingeschränkt dem Bewusstsein zugänglich sind. Natürlich werden wir uns vieler Dinge bewusst, die unsere Sinne aufnehmen. Das liegt aber daran, dass unsere Wahrnehmungsareale sie sozusagen aktiv an die Assoziationsareale „weiterreichen“, deren Inhalte unserem Bewusstsein zugänglich sind. 17 Vieles von dem, was unsere Wahrnehmungsareale verarbeiten, wird uns aber überhaupt nicht bewusst. Dementsprechend ist es schwierig, auf die Informationen und Zusammenhänge zuzugreifen, die nur in den primären und sekundären Wahrnehmungsarealen abgelegt sind und keine Entsprechung in den Assoziationsarealen haben. Das bedeutet, dass es nur schlecht gelingt, sich diese Inhalte und Zusammenhänge bewusst zu machen oder sie willentlich zu erinnern. Das dort gespeicherte Wissen ist, wenn wir es denn abrufen können, eher „gefühltes“ Wissen und wird nicht als tatsächlich sicher „gewusst“ empfunden. Und genau das macht das Gefühl der Unsicherheit bei den Kindern in der oben beschriebenen Untersuchung aus. Als Erwachsener hat man ein solches Gefühl auch gelegentlich, z. B. wenn man in einer Stadt, die man nur flüchtig von einem lange zurückliegenden Besuch kennt, seinen Weg sucht. Bestimmte Ecken und Straßen scheinen vertrauter als andere: „Ich glaube, wir müssen da lang.“-- Aber so ganz sicher ist man sich nicht und die Wahrscheinlichkeit einen Fehler zu machen, also sich zu verlaufen, ist ziemlich hoch. 15 Bei vier Verstecken können 3 ½ jährige die Belohnung noch finden, bei 18 Verstecken ist ihnen das nicht mehr möglich. 16 Die Unterschiede im Verhalten und den kognitiven Leistungen zwischen Erwachsenen und Kindern, die in ihrer Entwicklung zwischen zweitem und drittem Wachstumsschub stehen, sind dabei allerdings im „alltäglichen Umgang“ weniger offensichtlich als die Unterschiede zu den sehr jungen Kindern. 17 Viele Neurowissenschaftler würden formulieren „… weiterreicht an die Areale, die unser Bewusstsein ausmachen.“ Hier öffnet sich die Diskussion des Zusammenhangs von Gehirn und Bewusstsein, der im Rahmen dieses Bandes nicht bearbeitet werden kann. (Literaturtipp: Roth & Strüber 2017; Audiotipp: Spitzer, Schrenk & Lesch 2011) <?page no="46"?> 45 2.5 Die Verschränkung neuronaler und kognitiver Entwicklung Im Grunde spiegelt die unterschiedliche Aktivierung der Hirnregionen nur das wider, was Pädagoginnen und Pädagogen, Entwicklungspsychologinnen und Entwicklungspsychologen häufig beobachten: Das Wissen von Jugendlichen und Erwachsenen ist, als semantische Information gespeichert, ein mehr oder weniger abstraktes Wissen, abgelegt in Form von Symbolen (in den Assoziationsarealen), die es erlauben, vielfältige theoretische und abstrakte Gedankenspiele damit zu treiben, neue Verknüpfungen herzustellen, deduktiv Schlüsse zu ziehen usw. Zudem kann man über dieses Wissen berichten, sich mit anderen austauschen und es reflektieren, sodass man weiß, wie gut man sich auf einem bestimmten Gebiet auskennt. Das Wissen von Kindern dagegen ist überwiegend der Wahrnehmung verhaftet. Es handelt sich um anschauliches Wissen und sehr konkrete, in der realen Welt erfahrbare Zusammenhänge. Sehr vieles wird von Kindern gewusst und kann auch angewendet werden, ohne dass die Kinder einen direkten, bewussten Zugang dazu hätten oder ohne weiteres in Worten darüber berichten könnten. 18 Während bei manchen Aufgaben Kinder und Erwachsene unterschiedliche Hirnstrukturen nutzen, werden bei anderen, ganz ähnlichen Aufgaben die gleichen Strukturen aktiv: Kernspinuntersuchungen (vgl. Golarai et al. 2007) zeigen, dass Kinder und Jugendliche für das Wiedererkennen von Objekten dieselben Hirnareale nutzen wie Erwachsene (z. B. den seitlichen Okzipitallappen, also Bereiche, die zum Sehsystem gehören) und ähnliche Leistungen erbringen. Beim Wiedererkennen von Gesichtern und Orten (Landschaften) dagegen schneiden Kinder (7 bis 11 Jahre) und Jugendliche (12 bis 16 Jahre) schlechter ab. Die schlechten Leistungen gehen damit einher, dass die Bereiche, die bei Erwachsenen derartige Informationen verarbeiten, bei den Kindern deutlich und bei den Jugendlichen etwas kleiner sind als bei Erwachsenen. Es handelt sich um die Gesichtserkennungsregion auf dem Gyrus fusiformis im Temporallappen, die auch fusiform face area genannt wird, und um die Ortsregion, die etwas weiter vorne im Temporallappen liegt und wegen ihrer Nähe zum Hippocampus als parahippocampal place area bezeichnet wird. 19 Während der Entwicklung im Jugendalter ist eine Vergrößerung dieser Hirnareale zusammen mit einer Verbesserung der Leistungen zu beobachten. Nun sollte man ja denken, dass Kinder diese noch unreifen Regionen nicht so stark nutzen und auf andere Areale zurückgreifen. Das ist aber seltsamerweise nicht immer der Fall. Kinder (8 Jahre und 10 bis 11 Jahre) nutzten in einer Studie sowohl für das Wiedererkennen von Bildern (Zeichnungen verschiedener Tiere, Objekte und Körperteile, entweder in rot oder in 18 Auch das Wissen von Erwachsenen besteht zu einem sehr großen Teil aus dieser Art von Wissen. Denken wir allein an die Sprache, deren komplexe Regeln wir ohne großes Nachdenken anwenden können. Menschen, die sich für Sprachwissenschaften interessieren oder beispielsweise Deutsch studiert haben, haben außerdem die zugrundeliegenden Regeln als abstraktes Wissen gelernt und können über diese berichten. 19 Beide Regionen sind bei Kindern so klein und so schlecht zu erkennen, dass man anfangs bezweifelte, dass sie bei Kindern vor dem dritten Wachstumsschub vorhanden sind. Inzwischen kann man die Regionen aber bei etwa 85 % der Kinder zwischen 8 und 11 Jahren nachweisen. Bei den fehlenden Nachweisen könnte es sich durchaus um Messprobleme handeln. Es ist eher davon auszugehen, dass diese Regionen noch sehr klein sind, als davon, dass sie bei Kindern tatsächlich fehlen würden. <?page no="47"?> 46 2. Gehirn und Hirnentwicklung grün dargestellt) als auch für den Abruf zusätzlicher Detailinformationen zu den Bildern (der Farbe der Zeichnung) dieselben, noch kleinen und unreifen Hirngebiete im Temporallappen (vgl. Ghetti, DeMaster et al. 2010). Vierzehnjährige und junge Erwachsene nutzten diese Areale nur für den Abruf der Detailinformation, das eigentliche Wiedererkennen dagegen hing mit Aktivierungen im präfrontalen Cortex zusammen. In der Studie wurde sichergestellt, dass die Kinder und Erwachsenen die Farbe berücksichtigen, indem mit der Farbe eine Aufgabe verbunden war: Waren die Zeichnungen in der einen Farbe dargestellt, musste entschieden werden, ob das Dargestellte im Haus vorkommt oder nicht (Ja-Nein-Antwort), bei der anderen Farbe ob das Dargestellte belebt oder unbelebt ist (wieder Ja-Nein-Antwort). Möglicherweise hat diese semantische Aufgabe dazu geführt, dass bei Erwachsenen und auch bei den Jugendlichen eine zusätzliche Kodierung im präfrontalen Cortex gespeichert wurde, der ja unter anderem an der Handlungsplanung und an Entscheidungsprozessen beteiligt ist. Den Kindern aber stand die Information aus dieser Cortexregion bei der Aufgabe, sich zu erinnern, nicht zur Verfügung, mit der Folge, dass sie wesentlich mehr Fehler machten. An diesem Beispiel sieht man zweierlei: (1) Welche Hirnregionen genutzt werden, hängt oft von kleinen Details der Aufgabe ab. (2) Das kindliche Gehirn nutzt die Regionen, die zur Verfügung stehen, auch wenn sie im Einzelfall noch nicht völlig ausgereift sind. Das ist ja auch ausgesprochen sinnvoll, denn ohne Training würden diese Hirnregionen ihre Aufgabe nie gut erfüllen können. Auch hier gehören die entstehenden Fehler zum Lernprozess dazu. 2.5.3 Was lange währt… : Der präfrontale Cortex Viele Unterschiede zwischen dem sich entwickelnden und dem erwachsenen Gehirn hängen mit dem präfrontalen Cortex zusammen. Das ist auf die lange Entwicklungszeit des präfrontalen Cortex zurückzuführen. Die Bezeichnung präfrontaler Cortex umfasst die Hirngebiete im Frontallappen, die nicht zu den motorischen Arealen gehören (vgl. Abb. 4). Ihre Aufgabe ist die Handlungsplanung und -steuerung im engeren wie im weiteren Sinne. Die Gebiete des präfrontalen Cortex, die direkt vor den motorischen Bereichen liegen, sind mit der Planung ganz konkreter Handlungen, Bewegungen und Bewegungsfolgen befasst. Sie wählen die passenden Handlungen oder Bewegungen aus und geben diese Information an die motorischen Bereiche weiter. Auch „geistige Handlungen“ wie Kopfrechnen, Problemlöseaufgaben, Nachdenken und Überlegen laufen in den präfrontalen Arealen ab, die dabei mit anderen Hirnarealen zusammenarbeiten, in denen das jeweils benötigte Wissen gespeichert ist. Je weiter vorne im präfrontalen Cortex ein Areal liegt, umso weniger stark ist es mit der konkreten Bewegungs- und Handlungsumsetzung verbunden. Die weiter vorne und unten liegenden Areale dienen dazu, Pläne zu machen, um Neues auszuprobieren oder Unbekanntes zu untersuchen und um Handlungen im Geiste durchzuspielen. Ebenso verläuft das Abwägen vor Entscheidungen im präfrontalen Cortex. Bei diesen Prozessen werden Fakten, die zum Teil in anderen Hirnbereichen gespeichert sind, abgerufen und im präfrontalen Cortex kognitiv und emotional bewertet. Die möglichen Folgen der geplanten Handlung oder der Entscheidung werden antizipiert und moralische und soziale Aspekte werden bei der Handlungsplanung oder Entscheidung berücksichtigt. Die verschiedenen Komponenten dieser <?page no="48"?> 47 2.5 Die Verschränkung neuronaler und kognitiver Entwicklung komplexen Prozesse sind in verschiedenen Bereichen des präfrontalen Cortex repräsentiert (vgl. Abb. 4). Die weiter vorne liegenden Bereiche des präfrontalen Cortex erlauben es, mittel- und langfristige Pläne zu entwickeln und zu verfolgen. Dazu gehört es, ein Ziel über längere Zeit im Auge zu behalten und konsequent immer wieder Entscheidungen zu treffen und Handlungen auszuführen, die der Verwirklichung der Pläne dienen. Je weiter vorne im präfrontalen Cortex ein Areal liegt, umso länger dauert der Reifungsprozess. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der präfrontale Cortex von Kindern inaktiv wäre. Vielmehr zeigen Untersuchungen mittels Kernspin, dass er bei vielen Aufgaben äußerst aktiv ist und dass bei Kindern im Vergleich zu Erwachsenen oft eine stärkere Aktivierung in großen Bereichen des präfrontalen Cortex zu finden ist (vgl. Durston et al. 2006). Die Ausdehnung der Aktivierung im präfrontalen Cortex nimmt zwischen dem Ende des zweiten und dem Ende des dritten Hirnwachstumsschubes merklich ab (ebd.). Die hohe Aktivierung in Verbindung mit schlechteren Ergebnissen und höheren Fehlerraten zeigt, dass bestimmte Aufgaben für das kindliche Gehirn eine große Herausforderung darstellen, während Erwachsene mit einem ausgereiften präfrontalen Cortex im wahrsten Sinne des Wortes „nur wenig Hirnschmalz verwenden müssen“, um die Aufgaben ohne große Anstrengungen erfolgreich zu erledigen (vgl. Blakemore & Choudhury 2006). Das bedeutet, dass bis zum Alter von etwa 11 bis 12 Jahren die Funktionen zwar zur Verfügung stehen, aber nur eingeschränkt, dass sie weniger verlässlich sind und ihre Nutzung mit einer hohen Anstrengung verbunden ist. Da der präfrontale Cortex eine entscheidende Rolle bei der Verhaltenssteuerung und der bewussten Lenkung von Aufmerksamkeit spielt, ergibt sich daraus automatisch, dass Kinder, egal wie sehr sie sich anstrengen, noch nicht in der Lage sind, sich in dem Ausmaß und mit der Dauer zu konzentrieren wie Jugendliche oder Erwachsene. Ebenso ist es ihnen einfach aufgrund ihrer Hirnstrukturen schlicht unmöglich, ihr Verhalten zu jedem Zeitpunkt zu kontrollieren. Besonders deutlich wird das dann, wenn Kinder unangemessene oder gerade unpassende Handlungen nicht ausführen sollen. Die Hemmung nicht erwünschter Handlungen ist auch bei Kindern im Alter von 9 bis 12 Jahren noch mit hohen Aktivierungen im Frontallappen verbunden (vgl. Booth et al. 2003), was sehr schön zeigt, dass Handlungskontrolle und -inhibition auch in diesem Alter noch mit größeren Anstrengungen verbunden ist-- und trotz der Anstrengung außerdem mehr Fehler auftreten. Dem kann man mit Ermahnungen „Streng dich mehr an! Konzentriere dich doch endlich! “ nicht entgegenwirken, da die dazu nötige hohe Aktivierung sehr ermüdend ist und nur begrenzte Zeit aufrechterhalten werden kann. Auch ausführliche Erklärungen, z. B. über die Risiken im Straßenverkehr oder das korrekte Verhalten, sind nur von eingeschränkter Wirksamkeit, da die Verhaltenssteuerung eben nicht immer zuverlässig greift. Das bedeutet natürlich nicht, dass man darauf verzichten sollte. Je besser Kinder Risiken oder den Sinn von Regeln verstehen, umso eher besteht die Chance, dass sie motiviert sind und es ihnen eher und länger gelingt, ihr Verhalten entsprechend zu steuern. Dennoch ist der Zeitraum, in dem das gelingen kann, begrenzt und die Ablenkbarkeit groß. Insgesamt zeigen Studienergebnisse für Kinder bis zum Ende des zweiten Wachstumsschubes, also etwa bis zum Alter von 11 bis 12 Jahren, dass bestimmte Hirnregionen für bestimmte Aufgaben entweder aufgrund der Reifung der Regionen oder aufgrund noch fehlender Ver- <?page no="49"?> 48 2. Gehirn und Hirnentwicklung netzung nicht verfügbar sind. Um dies zu kompensieren, verwendet das sich entwickelnde Gehirn die verfügbaren Hirngebiete stärker und trainiert sie durch die verstärkte Nutzung zusätzlich. Hierbei gibt es durchaus individuelle Unterschiede in Abhängigkeit vom jeweiligen Entwicklungsstand der einzelnen Hirnbereiche (vgl. Blumenfeld, Booth & Burman 2006). Zu Beginn der Entwicklung laufen kognitive Prozesse stärker in lokalen Hirngebieten ab, im Alter von 8 ½ bis etwa 11 Jahren findet eine Verschiebung von der lokalen Verarbeitung hin zu einer immer stärkeren Vernetzung der Hirngebiete statt (vgl. Khundrakpam et al. 2013). Einige Hirnforscher sehen in dieser Veränderung eine wichtige Voraussetzung für die umfangreichen Änderungen im Gehirn, die während der Pubertät stattfinden (vgl. Blakemore & Choudhury 2006, Böttger & Sambanis 2017). 2.6 Adoleszenz: Eine ganz besondere Zeit Siegler et al. (2016: 100) schreiben über den nachfolgenden Entwicklungszeitraum „Erst seit relativ kurzer Zeit weiß man, dass auch in der Pubertät im Gehirn explosionsartige Veränderungen vor sich gehen; insbesondere gibt es eine Welle von Überproduktion bzw. Eliminierung, die denen in den ersten Lebensjahren gleichen (Giedd et al. 1999; Gogtay et al. 2004)“. Ab dem 11. oder 12. Lebensjahr lässt sich in den sich immer noch entwickelnden Gehirnen ein dramatischer Anstieg der grauen Substanz, also der Nervenzellen, feststellen, der seinen Höhepunkt während der Pubertät erreicht, gefolgt von einer Abnahme der grauen Substanz. Dabei wird ein Teil der grauen Substanz in weiße Substanz, also in myelinisierte Verbindungen zwischen Nervenzellen umgewandelt. Der Schwerpunkt der Entwicklung liegt in den präfrontalen Arealen, den Hirngebieten, die für Planung, Handlungssteuerung, bewusste Aufmerksamkeit, Impulskontrolle, Voraussehen von Konsequenzen, Setzen von Prioritäten usw. zuständig sind (vgl. Choudhury, Charman & Blakemore 2008; Gogtay et al. 2004; Sowell et al. 2003). Alle diese Funktionen sind während der Adoleszenz von neuronalen Entwicklungsprozessen betroffen. Dennoch würde es zu kurz greifen, Adoleszenz ausschließlich auf der Basis der neuronalen Entwicklung verstehen zu wollen. Sie ist ebenso mit hormonellen, psychologischen, behavioralen und sozialen Prozessen verbunden (vgl. Böttger & Sambanis 2017). Die Adoleszenz erstreckt sich vom Einsetzen der Veränderungen, die zur Geschlechtsreife führen, bis zur Unabhängigkeit von den Eltern. Der Übergang von der hohen Abhängigkeit von den Eltern während der Kindheit zur (relativen) Unabhängigkeit des Erwachsenenalters ist eine Aufgabe, die alle Säugetiere zu bewältigen haben. Bei nichtmenschlichen Säugetieren lassen sich ähnlich wie beim Menschen Konflikte zwischen Jungtieren und erwachsenen Tieren beobachten und Veränderungen in den sozialen Beziehungen. Was man im Tierreich aber nicht findet, ist eine deutlich erhöhte Sterblichkeit von Heranwachsenden aufgrund veränderten, unangemessenen Risikoverhaltens und aufgrund tödlich endender sozialer Auseinandersetzungen. Als Grund für die beim Menschen auftretenden Risiken und Schwierigkeiten wird diskutiert, dass diese Entwicklungsphase beim Menschen, ebenso wie andere Reifungs- und Entwicklungsprozesse, ausgesprochen lang ist. Hierzu trägt auch bei, dass die Pubertät zumindest in westlichen Gesellschaften aufgrund der guten Gesundheits- und Ernährungsbedingungen <?page no="50"?> 49 2.6 Adoleszenz: Eine ganz besondere Zeit aber auch aufgrund sozialer Bedingungen und möglicherweise auch beschleunigt durch Umweltgifte sehr früh einsetzt (vgl. Parent, Franssen et al. 2015). Casey et al. (2010) argumentieren, dass es durch den frühen Beginn der Pubertät zu einer Diskrepanz zwischen den bisher gemachten, altersabhängigen Erfahrungen, also dem kognitiven Entwicklungsstand bei Pubertätsbeginn, und den hormonell bedingt neu entstehenden Verhaltensweisen und emotionalen Änderungen komme. Diese Diskrepanz, die einem Ungleichgewicht zwischen den für die Handlungskontrolle zuständigen präfrontalen Hirngebieten und den kortikalen und subkortikalen emotionalen Hirnstrukturen entspricht, sehen sie als Ursache für einen möglicherweise problematischen Pubertätsverlauf an. Betrachtet man das Verhalten von Jugendlichen genauer und untersucht es in experimentellen Studien, dann stellt man fest, dass die kognitiven Funktionen nicht durch pubertäre Vorgänge beeinträchtigt werden. Ganz im Gegenteil schreitet die Entwicklung auch in der Jugendzeit weiter voran und führt zu einer Verbesserung der kognitiven Leistungen (vgl. Geier 2013). Die Ursachen für die auftretenden Verhaltensänderungen liegen zu einem großen Teil im emotionalen und motivationalen Bereich (Smith, Chein & Steinberg 2013). Emotionen und motivationale Faktoren beeinflussen die kognitive Kontrolle, also die bewusste Kontrolle von Handlungen, aber auch von Denkmustern, während der Adoleszenz stärker als vor und nach dieser Phase. Die zugrunde liegenden Faktoren sind zunächst einmal hormoneller Natur. Die während der Pubertät ausgeschütteten Geschlechtshormone wirken bekanntermaßen auf viele Prozesse im ganzen Körper; die Wirkung auf das Nervensystem ist nur eine darunter. Die Geschlechtshormone beeinflussen die Übertragung von Informationen zwischen den Nervenzellen ebenso wie bestimmte Wachstumsprozesse im Gehirn. Die Rezeptoren, über die die Hormone ihre Wirkung entfalten, befinden sich vor allen Dingen in eben den Regionen, die mit der Verarbeitung von Emotionen und mit Motivation zusammenhängen (vgl. Abb. 4): in subkortikalen Strukturen wie der Amygdala (Angst und emotionale Lernprozesse), dem Hippocampus (Lernen und Verarbeitung emotionaler Reize), dem Nucleus accumbens (Erwartung von Belohnung und positiven Gefühlen) und zudem im Frontalhirn (Planung, Handlungskontrolle, vgl. Ahmed, Bittencourt-Hewitt & Sebastian 2015). Die Auswirkungen der Veränderungen im Gehirn finden sich zum einen im emotionalen und sozialen Bereich, u. a. in Veränderungen der Beziehungen zu Gleichaltrigen und zu Erwachsenen und zum anderen in Handlungsplanung und vorausschauendem Verhalten. Zu beiden Bereichen gibt es eine Vielzahl an Studien, von denen hier nur einige wenige genannt werden können. Im Bereich der Handlungssteuerung entstehen Veränderungen des bisherigen Verhaltens dadurch, dass Jugendliche Versuchungen nur schlecht widerstehen können (vgl. Steinberg 2008). Gehirnbereiche, die auf emotional anziehende und „Spaß machende“ Reize reagieren, befinden sich in einer Phase des Wachstums und der steigenden Aktivität. Hirngebiete, die auch bei Erwachsenen auf erstrebenswerte Objekte oder zu erwartende angenehme Zustände reagieren, zeigen bei Jugendlichen verstärkte Reaktionen (vgl. Somerville, Jones & Casey 2010). Der biologische Sinn dessen ist, dass Heranwachsende stärker auf mögliche Sexualpartner reagieren (um sich möglichst früh „den besten Partner zu angeln“) oder auch auf geeignete Beute, leckere Früchte usw. Immerhin werden sie später eine Familie zu ernähren <?page no="51"?> 50 2. Gehirn und Hirnentwicklung haben und man muss die guten Techniken, um Beute zu jagen und Früchte aus dem Baum zu holen, ja rechtzeitig üben. Dass wir inzwischen nicht mehr als Jäger und Sammler leben, sondern in einer Welt, in der auf der einen Seite langfristige Ziele anzustreben sind und die in widersprüchlicher Weise auf der anderen Seite voller verlockender Versuchungen ist, ist von der Natur nicht vorgesehen. Aufgrund der Hirnprozesse, die durchaus einmal ihren Sinn hatten, gelingt es jungen Menschen z. B. nicht gut, Belohnungen aufzuschieben, um ein wichtigeres und erstrebenswerteres Ziel zu erreichen. Vielmehr tendieren sie dazu, sich einem attraktiven Objekt oder einer angenehmen Tätigkeit oder sonstigen Belohnung sofort zuzuwenden, selbst wenn das auf lange Sicht nicht vorteilhaft ist. In Experimenten neigen Jugendliche beispielsweise viel stärker als Erwachsene zu riskanten Wetteinsätzen, wenn sie den Gewinn sofort erhalten. Die hohe Affinität zu positiven, belohnenden Objekten und Situationen bringt Jugendliche dazu, auch sehr riskantes Verhalten im Alltag zu akzeptieren, wenn eine Belohnung in Aussicht gestellt ist (vgl. Geier 2013)-- manchmal genügt dafür bereits die bewundernde Anerkennung der Freunde (vgl. Steinberg 2005, Sambanis 2013). Das erklärt das vermehrte Auftreten von übermäßigem Alkohol- und Drogenkonsum, ungeschütztem Sex (bei dem die Hormone selbstverständlich großen Anteil haben), Todesfällen durch allzu riskante sportliche Manöver, Mutproben und anderen lebensgefährlichen Aktivitäten-- wobei es selbstverständlich erhebliche individuelle Unterschiede gibt. Diese spiegeln sich auch in der Vernetzung innerhalb des Gehirns von Jugendlichen: Im erwachsenen Gehirn hat der präfrontale Cortex eine inhibitorische, also hemmende Verbindung zum limbischen System, welches die emotionalen Reaktionen auslöst. Je stärker diese Verbindung bereits bei Jugendlichen ist, umso stärker ist die Selbstkontrolle der jungen Menschen und umso später bzw. seltener fangen sie an, Drogen und Alkohol zu konsumieren (vgl. Lee & Telzer 2016). In Bezug auf die emotionale Entwicklung werden Emotionswahrnehmung und Emotionsregulation als zentrale Bereiche der Veränderung diskutiert (vgl. Böttger & Sambanis 2017: 68 ff.). Um Emotionen regulieren zu können, müssen emotionale Signale (eigene und die anderer) und die Notwendigkeit, auftretende Emotionen zu regulieren, erkannt werden und es bedarf einer Strategie, die diese Regulation ermöglicht (vgl. Sheppes, Suri & Gross 2015). Bereits bei der Emotionswahrnehmung gibt es Einschränkungen in der Zeit der Pubertät. Teenager haben vorübergehend mehr Probleme als vorpubertäre Kinder und als Erwachsene, den emotionalen Ausdruck in Gesichtern oder auch den emotionalen Gehalt von Wörtern schnell zu erkennen (vgl. McGivern, Andersen et al. 2002). Die Korrektheit, mit der ein emotionaler Ausdruck erkannt wird, steigt aber mit dem Alter an, ist also bei Jugendlichen je nach ausgedrückter Emotion ebenso gut oder besser als bei Kindern, aber noch nicht so gut wie bei Erwachsenen. Am ehesten bereitet es Jugendlichen noch Probleme, den Unterschied zwischen Angst und Wut zu erkennen. Zudem gibt es Geschlechtsunterschiede: Insgesamt erkennen Mädchen Emotionen zuverlässiger als Jungen. Mit dem Einsetzen der Adoleszenz steigt die Sensitivität für soziale Erfahrungen (vgl. Blakemore & Mills 2014). Diese erhöhte Sensitivität ist eine Voraussetzung dafür, die mit dem Erwachsenwerden verbundenen Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, nämlich einen anderen, reifen Umgang mit anderen Menschen zu entwickeln, also andere Arten sozialer Beziehungen zu knüpfen und zudem das eigene Selbstkonzept als erwachsene Person zu ent- <?page no="52"?> 51 2.6 Adoleszenz: Eine ganz besondere Zeit wickeln (vgl. Sebastian, Burnett & Blakemore 2008). Auch hierbei spielen die Peergroup und weitere soziale Beziehungen eine wichtige Rolle. Die Bedeutsamkeit, die die (angenommene) Meinung Gleichaltriger für die Entwicklung des jugendlichen Selbstkonzepts hat, lässt sich sogar hirnphysiologisch nachweisen: Beschäftigen sich Jugendliche mit dem Bild, das Freunde von ihnen und ihren Eigenschaften haben, so sind mehr und andere Hirnstrukturen aktiv als bei Erwachsenen (vgl. Jankowski et al. 2014). Unter anderem ist auch das Belohnungszentrum aktiv, was die hohe Wichtigkeit der Meinung anderer deutlich widerspiegelt (zur Rolle der Peergroup in der Jugend vgl. Böttger & Sambanis 2017: 25 ff.). Mit der Sensitivität steigt allerdings auch die emotionale Anfälligkeit (vgl. Nelson & Guyer 2011). In der Adoleszenz treten vermehrt psychische Probleme auf, sowohl internalisierende Probleme wie Angststörungen und Depressionen, als auch externalisierende Störungen wie antisoziales Verhalten (vgl. Lee et al. 2014, Paus et al. 2008, Powers & Casey 2015). Angesichts der starken Veränderungen im Gehirn, die mit hoher Flexibilität, aber auch mit erhöhter Störanfälligkeit verbunden sind, kann das nicht verwundern (vgl. 2.5.1). In einem Review zur Entwicklung von Jugendlichen beschreiben Schriber & Guyer (2016) die Licht- und Schattenseiten der hohen Flexibilität. Ausgehend davon, dass die Beeinflussbarkeit durch die Umgebung-- auch aufgrund neurobiologischer Faktoren-- individuell verschieden ist (vgl. Ellis, Boyce et al. 2011), erarbeiten sie auf der Basis der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse ein Modell der Entwicklung während der Adoleszenz. Diejenigen Jugendlichen, die besonders sensitiv sind, haben ein erhöhtes Risiko, psychische Krankheiten auszuprägen, in der Schule zu versagen, antisoziales oder übermäßig riskantes Verhalten zu entwickeln usw. Schriber & Guyer (2016) gehen davon aus, dass hierbei negative soziale und emotionale Einflüsse eine entscheidende Rolle spielen. Zu diesen negativen Einflüssen gehören ablehnendes und feindseliges Verhalten der Eltern, problematische kulturelle und soziale Werte, mangelnder Kontakt zu Gleichaltrigen und Ablehnung durch diese. Für Ausgrenzung durch Gleichaltrige und für negatives Erziehungsverhalten konnten Auswirkungen auf das Gehirn nachgewiesen werden (vgl. Casement et al. 2014, Whittle et al. 2011). Andererseits profitieren ebendiese besonders sensitiven Jugendlichen überdurchschnittlich von positiven Einflüssen wie unterstützenden und warmherzigen Eltern, positivem Familienklima, passenden soziokulturellen Werten und positiven Beziehungen zu Gleichaltrigen (vgl. Schriber & Guyer 2016). Diese positiven Faktoren führen bei entsprechend sensitiven Jugendlichen zu einer besonders positiven und erfolgreichen Entwicklung. Verschiedene Arbeiten bieten Belege für die Interaktion zwischen Hirnreifung und elterlichem Verhalten, die den Ansatz des Modells unterstützen (vgl. Tan et al. 2016, Whittle et al. 2011, 2014, Yap et al. 2008). Aktuell wird auf der Basis dieser Überlegungen vermehrt darauf hingewiesen, dass geeignete pädagogischpsychologische Unterstützungsmaßnahmen in der Jugendzeit eine lohnenswerte Option sind, um psychischen Störungen und ungünstigen Entwicklungsverläufen entgegenzuwirken (vgl. Ahmed et al. 2015, Groschwitz et al., 2017). Diese Diskussion ist auch im Hinblick auf die Entwicklung von Maßnahmen in der Schule relevant (zum Umgang mit Ängsten im Unterricht und zur Unterstützung von heranwachsenden Lernenden vgl. Böttger & Sambanis 2017). <?page no="53"?> 52 2. Gehirn und Hirnentwicklung 2.7 Umgebungseinflüsse und Förderung der Entwicklung In diesem Kapitel wurde ausführlich beschrieben, wie die Hirnreifung Lernprozesse anregt und unterstützt, aber auch, dass bestimmte Abläufe und deren zeitliche Bedingungen verschiedentlich zu Einschränkungen führen. Wichtig ist, dabei anzuerkennen, dass bestimmte Abfolgen zwar festgelegt sind, man der Hirnreifung aber nicht hilflos ausgeliefert ist. Sowohl die Entwicklungsgeschwindigkeit als auch die Qualität der Entwicklung lässt sich beeinflussen. Allerdings helfen weder gutes Zureden noch Ermahnungen und kurzfristig ist ohnehin nichts zu erreichen. Langfristig jedoch ist das Gehirn, wie etwa auch die Muskulatur, trainierbar. Eine Vielfalt an Anregungen, Freiräume für eigene Erfahrungen und gezielte Herausforderungen unterstützen und beschleunigen die Entwicklung des Gehirns. Um genauer zu sein: Das Gehirn ist in seiner Entwicklung auf den Einfluss der Erfahrung angewiesen. Die Anregungen und Anforderungen der Umwelt formen das Gehirn (vgl. Diamond & Amso 2008). Dabei ist es wichtig, nicht von der Herausforderung in die Überforderung zu geraten. Wenn das passiert, weichen die kindlichen Gehirne, wie oben beschrieben, auf alternative Strategien aus und die Entwicklung profitiert nicht in der gewünschten Weise. Vielmehr werden die alternativen Strategien und damit die Verbindungen gestärkt, die zur Verhaltensweise der früheren Entwicklungsstufe gehören. Das behindert logischerweise den Fortschritt der Entwicklung. Die Effekte von Anregungen sind vielfach nachgewiesen. Beispielsweise zeigen Dreibis Fünfjährige, denen zu Hause viel vorgelesen wird, eine höhere Aktivierung der Hirnareale, die an Vorstellungsvermögen und auditivem Textverständnis beteiligt sind (vgl. Hutton et al. 2015). Verschiedene auf neurobiologisches Wissen aufbauende Programme fördern erfolgreich die Entwicklung kognitiver Fertigkeiten und Grundlagen der weiteren Lernfähigkeit bei Kindern (vgl. Diamond et al. 2007, Hermida et al. 2015). Die Diskussion um den spontanen Entwicklungsverlauf und die Bedeutung der „künstlichen“ Förderung und Beschleunigung der Entwicklung- - durch welche Form an Unterricht im weiteren Sinne und kommunikativer, sozial unterstützter Auseinandersetzung mit Erfahrungen und Konzepten auch immer-- ist beileibe nicht neu. Ausführlich dokumentiert ist sie seit den Arbeiten von Wygotski (1964) und Piaget (1995)-- was nicht bedeutet, dass sich Lehrkräfte früherer Epochen nicht bereits damit auseinandergesetzt hätten. Während Piaget seine Arbeit überwiegend in dem Sinne versteht, dass er den spontanen Entwicklungsverlauf beschrieben habe, betont Wygotski die Wichtigkeit von Lehrprozessen für die (kognitive) Entwicklung. Aus Sicht der Hirnforschung allerdings ist diese Abgrenzung nur sehr eingeschränkt nachvollziehbar. Das menschliche Gehirn ist sozusagen darauf programmiert, genau das aufzunehmen, zu lernen und als Basis seiner Entwicklung zu nutzen, was in der Welt, die das sich entwickelnde Gehirn um sich herum wahrnimmt, vorkommt. Käme in unserer Welt oder Teilen unserer Welt die Farbe Blau nicht vor, würde die Fähigkeit, diese Farbe wahrzunehmen, verkümmern. Bei Menschen, die im Dschungel aufwachsen und nie große freie Flächen sehen, entwickelt sich das Sehsystem anders als bei Menschen die in Savannen, Wüsten oder in einer gerodeten Kulturlandschaft groß werden. Oder, um ein aktuelleres Beispiel zu wählen: 80 % der Kinder in Singapur sind am Ende der Grundschul- <?page no="54"?> 53 2.7 Umgebungseinflüsse und Förderung der Entwicklung zeit kurzsichtig, weil sie sich wenig außerhalb geschlossener Räume aufhalten und selten in die Ferne blicken können, sondern stattdessen viele Stunden lernen müssen (in der Schule, zusätzlichen Nachhilfeschulen und abends mit den Eltern) und dabei nur in Bücher und auf Tablets starren (vgl. Spiewak 2017, Spitzer 2016). Letztlich geht es darum, dass sich der Lernprozess und damit die Hirnentwicklung den tatsächlich vorgefundenen Bedingungen anpassen. Ein weiteres Beispiel hierfür ist die Sprache. Kommen in einer Sprache bestimmte Laute nicht vor oder sind die Grenzen zwischen Lauten nicht bedeutsam, werden sie in den sprachverarbeitenden Hirnarealen nicht gespeichert, z. B. die Trennung von / l/ und / r/ im Chinesischen. Die menschliche Sprache ist ein Kulturgut, das Erwachsene benutzen, oftmals während Kinder anwesend sind, teilweise zur Kommunikation mit anderen, teilweise zur Kommunikation mit dem Kind. Hier könnte man im Sinne Piagets von einer spontanen Aneignung ausgehen. Trennscharf ist die Abgrenzung zwischen spontanem und „künstlich“ angeregtem Entwicklungsprozess aber nicht. Gut untersucht ist, dass es für die Sprachaneignung wichtig ist, dass Sprache im sozialen Kontext genutzt wird (vgl. Kuhl 2010). In vielen Kulturen wird auch mit den Kindern gesprochen, um die Sprachentwicklung zu fördern. In diesem Fall wird der Lern- und Erfahrungsvorgang von einer anderen Person bewusst angeregt und wir würden ihn nicht als spontanen Entwicklungsvorgang bezeichnen. Dem kindlichen Gehirn ist das letztlich gleichgültig. Die andere Person, ebenso wie die Anregungen, die von ihr ausgehen, sind Teil der Umwelt und wenn sie regelmäßig vorkommen-- egal, ob mit dem Ziel, einen Entwicklungsprozess anzuregen oder zu einem anderen Zweck--, sind sie es wert, beachtet zu werden. Das, was in der Welt existiert, wird wahrgenommen. Wenn viel gesprochen wird, lernt das Kind schnell, egal, warum viel gesprochen wird. Wenn weniger gesprochen wird, lernt es langsamer und weniger Wörter (vgl. Spitzer 2015). Je nach Anregung aus der Umgebung lernen Kinder unterschiedliche Objekte, Fertigkeiten, Kategorien und Konzepte. Ein Kind, dessen Eltern einen Bauernhof besitzen, lernt ganz andere Dinge als ein Stadtkind. Ein Kind, dessen Vater Schreiner ist und der in seinem Beruf aufgeht, erfährt vielleicht schon sehr früh etwas über Werkzeuge, Holzarten und Hobeltechniken. Ein Kind, dessen Mutter Biologin ist, mag neben dem Namen Gänseblümchen auch den lateinischen Namen Bellis perennis kennen. Vielleicht hat ihm seine Mutter auch erklärt, dass das Gänseblümchen zur Familie der Korbblütler gehört und z. B. mit dem Löwenzahn und der Aster verwandt ist. Ohne größere Schwierigkeiten wird das Kind auch eine Margerite oder eine Ringelblume als Korbblütler erkennen-- ebenso leicht wie ein kleiner Autofan das neueste Modell einer bestimmten Automarke zuordnen kann. An den Beispielen sieht man, dass es in der Welt vieles gibt, das vielleicht relevant ist, aber nicht regelmäßig in der Umwelt aller Kinder vorkommt. Um dem zu begegnen, haben Menschen eine Art Katalog des notwendigen Wissens aufgestellt, dieses Wissen systematisiert und sich überlegt, wie sie es an die Kinder und Jugendlichen herantragen. Zu diesem Zweck schicken wir Kinder und Jugendliche in Bildungseinrichtungen wie Kindergärten, Schulen und Hochschulen. Damit erzeugen wir allerdings eine Situation, die von unserer Seite aus mit der Erwartung verbunden ist, dass das Gehirn etwas Bestimmtes lernt, dass ein exakt definiertes Lernziel erreicht oder auch eine bestimmte Kompetenz erworben wird. Darauf sind Gehirne aber nicht ausgerichtet. Sie lernen nicht das, was man ihnen zu lernen aufträgt, sondern die <?page no="55"?> 54 2. Gehirn und Hirnentwicklung Dinge, die häufig vorkommen oder die sie selbst häufig tun (zu Üben und Wiederholen im Unterricht vgl. das Praxisfenster in Kap. 6). Ein wichtiger Aspekt hierbei ist, dass der sich entwickelnde Organismus im Rahmen seiner Möglichkeiten genau die Erfahrungen erzeugt, aufsucht oder wiederholt, die seiner Entwicklung im gegenwärtigen Moment von allen in der jeweiligen Situation verfügbaren Erfahrungen am dienlichsten sind. Der Organismus sucht sich also einen Teil seiner Erfahrungen selbst. Dabei können die Beschränkungen der in einer Umgebung möglichen Erfahrungen ebenso negative und beeinträchtigende Effekte auf die Entwicklung haben wie ungeeignete und schädliche Erfahrungen. Beispielsweise kann ein Kind, das die Veranlagung besitzt, ein virtuoser Pianist zu werden, dies nicht umsetzen, wenn in seiner Umgebung nicht die Möglichkeit besteht, das Klavierspiel zu erlernen-- etwa aufgrund kultureller Gegebenheiten, wenn es in seiner Kultur keine Klaviere gibt, oder aufgrund sozialer Gegebenheiten, wenn die Familie sich weder ein Klavier noch die Kosten der Klavierstunden leisten kann. Auch die Frage nach dem „relativen Anteil“, den genetische Voraussetzungen und (gesellschaftlich geprägte) Erfahrungseinflüsse auf die Ausbildung von Eigenschaften haben, lässt sich nicht ganz eindeutig beantworten. Für viele Eigenschaften bewegt sich der Einfluss der Umwelt in westlichen Gesellschaften zwischen 40 und 60 %. In der-- rein hypothetischen-- „besten aller Welten“, in der jeder heranwachsende Mensch zu jeder Zeit genau die Möglichkeiten und Lernanreize bekäme, die er in dem Moment zur optimalen Entwicklung benötigte, würden alle Unterschiede zwischen den Individuen nur noch auf genetische Faktoren zurückgehen, denn die Umwelteinflüsse würden der Entwicklung keine Grenzen mehr auferlegen (vgl. Asendorpf et al. 2012). Um in der Entwicklung weiterzukommen, greift das Gehirn zu einem Trick: Dinge, Konzepte und Ereignisse, die längst bekannt und gelernt sind, sind langweilig (zu Langeweile vgl. 3.7). Kinder wenden sich von ihnen ab. Neues löst Interesse und Zuwendung aus, es sei denn, es ist so fremd und anders, dass man davor Angst haben müsste oder dass man es, wenn es sich um eine Tätigkeit handelt, einfach nicht hinbekommt. Wir nennen die Hinwendungsreaktion auf Neues „Neugier“. Das, was gerade noch nicht gelernt ist, aber nahe genug am schon Bekannten ist, suchen Kinder aktiv auf bzw. wählen die entsprechenden Anregungen aus dem vorhandenen Angebot. In dieser Weise formt und fördert das kindliche Gehirn seine eigene Entwicklung sozusagen selbst (vgl. Johnson 2003), es sei denn, es wird durch ungünstige Umgebungsbedingungen daran gehindert. Dabei ist von außen oft nicht einmal zu erkennen, dass das Kind beispielsweise gerade etwas über Satzbau oder soziale Beziehungen lernt, wenn es sich das immer selbe Märchen zum einhundertsten Mal vorlesen lässt oder dass es gerade etwas über Statik oder Mengen und Gewichte lernt, wenn es im Sand spielt. An den Beispielen sieht man aber auch sehr gut, dass der Austausch mit Erwachsenen oder mit erfahreneren Kindern durchaus wichtig für das sich entwickelnde Kind ist, etwa, wenn Zusammenhänge erklärt oder soziale Situationen gemeinsam reflektiert werden. Diese gemeinsame Auseinandersetzung, der soziale Austausch, ist für die Hirnentwicklung und die Lernprozesse sogar zwingend notwendig. Kinder, die ohne soziale Unterstützung ihrer Lern- und Entwicklungsprozesse auskommen müssen, bleiben in ihrer Entwicklung zurück. Dabei ist Sprache, die die Wahrnehmung, das Denken und Konzepte verdeutlicht, ein zen- <?page no="56"?> 55 2.7 Umgebungseinflüsse und Förderung der Entwicklung trales Element. Wie wichtig Sprache ist, lässt sich an den verheerenden Folgen erkennen, die sich zeigen, wenn ein Kind nicht hören und sprechen kann und zudem keine Gebärdensprache als Kommunikationsmittel zur Verfügung steht, wenn also keine Anregung durch Kommunikation möglich ist. Aber auch eine eingeschränkte Anregung, etwa aufgrund von Vernachlässigung oder, je nach Qualität der Einrichtung möglicherweise auch durch Heimunterbringung, führt zu Defiziten sowohl in der kognitiven als auch in der sozialen Entwicklung, die oft nur schwer auszugleichen sind (vgl. Marshall & Kenney 2009). Ebenso hat die Benachteiligung etwa durch niedriges Familieneinkommen und niedrigen Bildungsstand der Eltern nachweisbare Auswirkungen auf die Entwicklung des Gehirns (vgl. Noble et al. 2015). Selbst die übliche Variationsbreite in der Form und Intensität der elterlichen Zuwendung führt zu Unterschieden in der Hirnstruktur von Kindern (vgl. Kok et al. 2015). Das menschliche Gehirn ist also tatsächlich darauf ausgerichtet, derartige Anregungen zu erhalten. Nur so kann ein Kind sich normal entwickeln und nur so kann es unser kulturelles Erbe antreten. Dass wir Kindern in der sozialen Situation Wissen zur Verfügung stellen, sie also unterrichten, ist für das Gehirn nicht unerwartet und nicht das „Problem“ an der Schule. Allerdings lassen wir in der Schule die aktive Suche nach der gerade passenden Anregung und dem zugehörigen sozialen Austausch häufig nicht zu. Vielmehr wird oft vorgeschrieben, was der nächste Lernschritt sein soll-- und der passt manchmal zu dem, was im Gehirn vorhanden ist, manchmal auch nicht. Dabei ist der Prozess der Aneignung aus „Sicht des Gehirns“ immer derselbe, egal, ob es sich um eine natürliche Anregung oder um einen didaktischen, von Eltern oder Lehrkräften angeregten Prozess handelt. Die Art des Aneignungsprozesses wird vom Inhalt bestimmt und davon, ob man sich alleine oder im Austausch mit anderen mit diesem Inhalt beschäftigt. Ob irgendjemand anderes eine lehrende Absicht mit der Situation verbindet, ist emotional und motivational bedeutsam und kann zu Versagensängsten, Widerstand oder auch zu einem Anstieg der Motivation führen (Ich tue das, weil ich der Lehrkraft eine Freude machen will). Bei didaktischen Situationen mit bestimmten Lernzielen sind verschiedene Ebenen und Details zu beachten. Hierzu ein Beispiel aus dem Bereich der Konzeptbildung: Wörter, Sätze und Satzstrukturen werden gelernt, indem man mit der Sprache in Kontakt kommt, sie hört und versucht, sie selbst als Kommunikationsmittel zu nutzen-- egal ob als Kleinkind in der Familie, später im Unterricht oder bei einem Urlaub in einem fremdsprachigen Land. Sprache ist die Basis für die Konzeptbildung und bereits hier gibt es, wie wir oben gesehen haben, Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern. Sowohl die Bildung spontaner Konzepte, z. B. Hund, Spielzeug, wie auch die Bildung komplexerer Konzepte einschließlich wissenschaftlicher Konzepte, wie Leben, Energieerhaltungssatz etc., beginnt im Grunde mit dem Erlernen des zugehörigen Wortes und seiner Grundbedeutung (vgl. Shayer 2003). Dem folgt die Sammlung von Beispielen, etwa verschiedene Hunderassen, und die Abgrenzung zu Tieren, die nicht in die Kategorie gehören, z. B. Katzen und Füchse oder auch die Sammlung von Beispielen für Energieerhaltung. Man sammelt so lange Beispiele, bis sich das Konzept verfestigt hat. Ein Blick in die Physikbücher zeigt, dass dieses Vorgehen im Prinzip didaktisch aufgegriffen wird, allerdings haben Schülerinnen und Schüler, die ein Konzept sehr schnell und umfassend verstehen, in der Regel keine Chance, auf die zusätzlichen, für <?page no="57"?> 56 2. Gehirn und Hirnentwicklung den individuellen Lernprozess dann letztlich überflüssigen Beispiele zu verzichten. Hier wird also nicht mehr gelernt, sondern allenfalls das Durchhaltevermögen trainiert. Andererseits stehen den Lernenden, die mehr Beispiele benötigen würden, diese oftmals nicht zur Verfügung, sodass auch hier nicht gelernt wird-- wenn auch aus völlig anderen Gründen. Angenommen, der Lernprozess gelingt und ein Konzept ist anhand von Beispielen hinreichend eingegrenzt, dann kann man im nächsten Schritt beginnen, die Eigenschaften des Konzepts zu verbalisieren, um eine Grundlage dafür zu schaffen, das Konzept flexibel in unterschiedlichen Zusammenhängen einzusetzen. Bei Grundschulkindern ist das für konkrete Konzepte gut möglich und es ist gut, das Vorgehen im Grundschulalter bereits einzuüben. Abstrakte Konzepte können erst ab dem dritten Wachstumsschub des Gehirns, also um das Alter von 11 bis 12 Jahren, bewältigt werden. Interessant ist, dass das Erlernen grammatikalischer Regeln im Fremdsprachenunterricht häufig auch die Ausbildung von Konzepten verlangt, also auch hier die Prozesse bei der Konzeptbildung einschließlich der jeweils notwendigen Anzahl verschiedener Beispiele zu berücksichtigen ist. Wie viele Beispiele es braucht, wann es an der Zeit ist, das Konzept umfassend zu verbalisieren und wann der Prozess vollständig abgeschlossen ist, sodass man ein neues Konzept einführen kann, ist eine schwierige Frage, die nur individuell beantwortet werden kann. Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass Lernprozesse in der Entwicklung des Gehirns angelegt sind und ohne sie eine gesunde Entwicklung des Gehirns völlig unmöglich ist. Je nach Alter des Kindes stehen unterschiedliche Inhalte im Vordergrund. Auch die Art der möglichen Lernprozesse und der Grad der möglichen Komplexität des jeweiligen Inhalts ist altersabhängig. Lernen und Entwicklung vollziehen sich dabei nicht nur in der individuellen Auseinandersetzung mit der Umwelt. Vielmehr sind Kinder und Jugendliche auf eine kommunikative Interaktion mit anderen Menschen angewiesen, die ihnen z. B. helfen, Beobachtungen richtig einzuordnen, Zusammenhänge zu verstehen, Konzepte zu entwickeln und Hypothesen zu generieren. Insofern ist (schulischer) Unterricht keine Situation, die den normalerweise beim Lernen auftretenden Hirnprozessen zuwiderlaufen würde- - das zur Beruhigung alle Didaktikerinnen und Didaktiker in der Leserschaft. Allerdings ist zu beachten, dass einige der Rahmenbedingungen, die in natürlich auftretenden Lernprozessen normalerweise vorhanden sind, im Unterricht u. U. fehlen. Hierzu gehören z. B. die spontane Bindung der Aufmerksamkeit (vgl. Kap. 3) und die damit zusammenhängende Motivation (vgl. Kap. 4), die Lernprozesse und die Verankerung von Gedächtnisinhalten unterstützen (vgl. Kap. 6). Ausgewählte Literaturhinweise Johnson, M. H. & De Haan, M. (2015): Developmental cognitive neuroscience: An introduction. Chichester: Wiley-Blackwell. Price, D. J., Jarman, A. P., Mason, J. O. & Kind, P. C. (2011): Building brains: an introduction to neural development. Oxford u. a. : Wiley-Blackwell. Siegler, R., Eisenberg, N., DeLoache, J. & Saffran, J. (2016): Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Berlin; Heidelberg: Springer-Verlag. <?page no="58"?> 57 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns „Das Gehirn lernt immer, es kann gar nicht anders“, formuliert der Hirnforscher Manfred Spitzer in einem Artikel der Zeit 2003. Das ist sicherlich richtig. Jede Erfahrung, jedes Erlebnis, jeder eigene Gedanke und jedes Gefühl hinterlässt Spuren im Gehirn-- Spuren in Form veränderter Verbindungen zwischen Nervenzellen. Unwillkürlich leitet unser Gehirn aus den Wahrnehmungen Regelmäßigkeiten, Muster und Wiederholungen ab (vgl. Shanks & John 1994). Selbst dann, wenn wir gar nicht das Ziel haben zu lernen. Auf diese Weise erlernen Kinder beispielsweise die Grammatik ihrer Umgebungssprache(n). Ihre Aufmerksamkeit gilt den sprachlichen Inhalten und noch stärker der sozialen Interaktion. Kein Kleinkind versucht bewusst, grammatikalische Regeln mitzulernen. Das geschieht ganz nebenbei, ohne Anstrengung, ohne Lernintention und ohne dass der Lernprozess bewusst wird. Dieses implizite Lernen führt zu anwendbarem Wissen, es ist aber nicht möglich, die dem Wissen zugrunde liegenden Regeln oder Gesetzmäßigkeiten zu verbalisieren (vgl. Reber 1989). Für gezielte Lernprozesse, planvolles Lernen, den Aufbau von bewusstem, komplexem und abstraktem Wissen, von Wissen, das sich nicht direkt aus der täglichen Anschauung ableiten lässt, braucht es aber mehr als das rein ereignis- und zufallsgesteuerte implizite Lernen. Es bedarf der Fähigkeit, relevanten Inhalten und Tätigkeiten geplant und gezielt Aufmerksamkeit zuzuwenden und Lernprozesse ganz bewusst zu steuern. Damit das gelingt, sind Aufmerksamkeits- und Handlungssteuerung (exekutive Funktionen, vgl. 3.5.2) notwendig. In diesem Kapitel werden die neurowissenschaftlichen Grundlagen von Aufmerksamkeitsprozessen, ihre Bedeutung und mögliche Maßnahmen zur Unterstützung derselben besprochen. 3.1 Aufmerksamkeit in Pädagogik und Hirnforschung „Die Aufmerksamkeit ist für die Erziehung ein so wichtiger Gegenstand, dass ihr eine ausführlichere Betrachtung muss gewidmet werden“ (vgl. Herbart 1841: 49). Dieser Aussage des deutschen Pädagogen und Philosophen Herbart (1776-1841) werden sicherlich ebenso viele Praktikerinnen und Praktiker wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen zustimmen. Umso interessanter ist es, dass der pädagogisch-didaktische Diskurs zum Thema Aufmerksamkeit, der bis in 19. Jahrhundert intensiv geführt wurde, bis zum 21. Jahrhundert zum Erliegen gekommen war (vgl. von Stechow 2015). Teilweise mag das darin begründet liegen, dass die bis zu dem Zeitpunkt erarbeiteten Konzepte der Praxis ausreichende Orientierung boten, teilweise auch daran, dass veränderte Unterrichtsformen den Blick auf andere Aspekte des Lernens lenkten. Inzwischen ist der Bedarf, sich mit dem Thema Aufmerksamkeit zu beschäftigen, wieder angestiegen, insbesondere im Zusammenhang mit zunehmenden Klagen aus der Praxis über mangelnde Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeitsprobleme vieler Schülerinnen und Schüler. Während im 19. Jahrhundert „die Herstellung von Aufmerksamkeit und Disziplin im Klassenzimmer als originäre pädagogische Aufgabe angesehen wurde“ (von Stechow 2015: 11), wird Aufmerksamkeit bzw. Unaufmerksamkeit in der aktuellen Debatte „als die in der Disposition <?page no="59"?> 58 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns der Person verankerte Antwort auf Erscheinungen des modernen (Großstadt-)Lebens“ (Reh 2015: 71) verstanden. Dabei stehen der medizinische Diskurs und als Reaktion darauf der gesellschafts- und kulturkritische Diskurs im Vordergrund. Zwischen den Vertreterinnen und Vertretern der beiden Richtungen sowie auf der Seite der rezipierenden pädagogischen Fachkräfte sind im Laufe der Zeit einige Irrtümer und Missverständnisse entstanden, die dem Dialog und der Nutzung der Erkenntnisse der unterschiedlichen Disziplinen zur Erlangung eines vollständigen und ganzheitlichen Bilds des Phänomens Aufmerksamkeit im Wege stehen. Gemäß ihrem Auftrag beschäftigt sich die Medizin mit Diagnose und Therapie von Erkrankungen. Daher kann es nicht verwundern, dass in der Medizin im Hinblick auf die Aufmerksamkeit Untersuchungen zum Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätssyndrom ( ADHS , früher Hyperkinetisches Syndrom HKS ) einen Schwerpunkt darstellen und diesem Syndrom ein Krankheitswert zugeschrieben wird. Auch aus neurowissenschaftlicher Sicht sind Studien und Erklärungsmodelle zu ADHS äußerst interessant. Die Untersuchung von ADHS eröffnet die Möglichkeit, neuronale Grundlagen eines wichtigen Aspekts von Aufmerksamkeit zu untersuchen, nämlich die Grundlagen der bewussten Aufmerksamkeits- und Handlungskontrolle. Selbstredend sind dabei neuronale und neurophysiologische Aspekte von ADHS der Untersuchungsgegenstand, etwa die Verbindungen zwischen Nervenzentren und die Rolle neuronaler Botenstoffe für die funktionierende oder eben nicht funktionierende Aufmerksamkeitskontrolle. Dabei werden auch die genetischen Grundlagen dieser neurobiologischen Prozesse einbezogen. Ein erstes, grundlegendes Missverständnis besteht nun darin, dass angenommen wird, medizinisch-neurowissenschaftliche Studien und die daraus erwachsenden Erklärungsmodelle für Erkenntnisse zu ADHS könnten als Erklärung für alle Formen von Unaufmerksamkeit und Desinteresse bei Schülerinnen und Schülern betrachtet werden. Das ist sicherlich nicht der Fall. In medizinischen Kreisen wird nicht übersehen, dass vielfältige andere Ursachen körperlicher und nichtkörperlicher Art Unaufmerksamkeit hervorrufen können (z. B. Schlafmangel, Fehlernährung, psychische Erkrankungen, Störungen der Schilddrüsenfunktion, Schädel- Hirn-Traumata, psychische Traumata, mangelnde Motivation, psychische oder familiäre Belastungssituationen, Mobbing). 1 Das zweite Missverständnis entsteht, wenn man die oben beschriebene medizinische Perspektive und den gesellschafts- und kulturkritischen Diskurs, der gesellschaftliche Veränderungen und damit Veränderungen der Lebensbedingungen als Ursache für ADHS / Aufmerksamkeitsprobleme betrachtet, 2 als miteinander unvereinbar gegenüberstellt (z. B. von Stechow 2015: 12). Auch wenn diese Interpretation einer Unvereinbarkeit der Positionen des Öfteren vorgebracht wird, entbehrt sie doch jeder wissenschaftlichen Grundlage und hat keinerlei Erklärungswert. Sie ist lediglich eine Variante der Nature-versus-Nurture-Debatte, die im vergangenen Jahrhundert geführt wurde. Seit Beginn des aktuellen Jahrhunderts liegen ausreichend Belege dafür vor, dass das Zusammenspiel natürlicher Anlagen und umweltbe- 1 Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass differentialdiagnostische Maßnahmen in der Praxis oft nicht ausgeschöpft werden. 2 Leider wird hier oft nicht hinreichend unterschieden. <?page no="60"?> 59 3.2 Wachheit, Kapazität und Grenzen von Aufmerksamkeit dingter Erfahrungen so eng und wechselseitig rekursiv verwoben ist, dass eine Trennung oder Gegenüberstellung der Positionen das Verständnis der Entstehung von Merkmalen lebender Organismen nicht unterstützt, sondern vielmehr behindert. Wie in Kapitel 2 ausführlich beschrieben, entwickeln sich sämtliche Hirnfunktionen unter dem Einfluss der von außen kommenden Erfahrungen. Das gilt auch für die Entwicklung der Aufmerksamkeit. Ohne Erfahrungen und die Auseinandersetzung mit der Umwelt finden Entwicklung, neuronale Verknüpfungen und Lernprozesse nicht statt und sind daher ohne eine Berücksichtigung der Lebens- und Erfahrungsbedingungen auch nicht zu verstehen (vgl. 2.7). Insgesamt gilt es, die Diskurse und die Erkenntnisse der verschiedenen Disziplinen zusammenzuführen und dabei Aufmerksamkeit sowohl als Eigenschaft des lernenden Individuums als auch im pädagogisch-didaktischen Sinne als Bestandteil und Voraussetzung des Lehr-und Lernprozesses zu betrachten. Das ist kein einfaches Unterfangen, zumal unter dem Begriff Aufmerksamkeit unterschiedliche Konstrukte zusammengefasst werden, die sich teilweise ergänzen, teilweise unabhängig voneinander sind und unterschiedliche Funktionen haben. Die Gemeinsamkeit der verschiedenen Konstrukte wird in einem Zitat von William James (1842-1910) deutlich: Jeder weiß, was Aufmerksamkeit ist. Es ist das klare und lebhafte Besitzergreifen des Geistes von einem von mehreren scheinbar gleichzeitig möglichen Objekten oder Gedankengängen. Fokussierung, Konzentration, Bewusstsein sind ein wesentlicher Teil. Sie beinhaltet die Abwendung von einigen Dingen um sich effektiv mit anderen zu befassen. (vgl. James 1890: 381, Übersetzung durch die Autorinnen). Gemeinsam ist allen Konstrukten also die Hinwendung zu etwas Bestimmten und damit verbunden die Nichtbeachtung von etwas anderem. Dieses weist bereits auf die Bedeutung begrenzter Ressourcen des menschlichen Geistes hin, die bei Aufmerksamkeitsprozessen eine Rolle spielen. Zugleich werden in dem Zitat die verschieden Varianten von Aufmerksamkeit deutlich: Aufmerksamkeit kann sowohl (äußere) Objekte als auch Gedankengänge betreffen, sich also nach außen und auf die Wahrnehmung richten, oder auch nach innen. In diesem Kapitel sollen die unterschiedlichen Formen von Aufmerksamkeit dargestellt und in ihrer Bedeutung für Lernprozesse betrachtet werden, um so einen Beitrag für die Praxis, aber auch für den weiteren Diskurs zu leisten. 3.2 Wachheit, Kapazität und Grenzen von Aufmerksamkeit Aufmerksamkeitsprozesse sind notwendig, weil unsere Ressourcen, Wahrnehmungs- und Verarbeitungskapazitäten begrenzt sind (vgl. Broadbent 1958). Das hat sowohl strukturelle wie auch energetische Ursachen, die im Aufbau und der Funktionsweise unseres Gehirns als Organ begründet liegen. Der energetische Aspekt der Aufmerksamkeit ist direkt erfahrbar. Jeder, der sich schon einmal über längere Zeit konzentriert einer Aufgabe gewidmet hat, kennt das Phänomen der Ermüdung. Sind wir ermüdet, lässt unsere Fähigkeit, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, nach. Wie intensiv wir die prinzipiell vorhandenen Verarbeitungskapazitäten nutzen können, ist also abhängig von unserer Wachheit. Mehrere <?page no="61"?> 60 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns Aspekte tragen zu einem hohen Grad an Wachheit bei. Der eine ist schlicht die Versorgung des Gehirns mit Energie in Form von Glucose 3 und mit ausreichend Sauerstoff. Ohne diese beiden „Brennstoffe“ sind die Gehirnfunktionen deutlich eingeschränkt. Der zweite Aspekt ist unsere allgemeine Wachheit im Gegensatz zum Schlaf. Der Schlaf-Wach-Rhythmus wird vom Thalamus und Hypothalamus im Zwischenhirn und von der Formatio reticularis im Hirnstamm gesteuert. Bestimmte Teile der Formatio reticularis sind zentrale Signalgeber für Wachheit und unterstützen Aufmerksamkeitsprozesse. Dieses sogenannte aufsteigende retikuläre Aktivierungssystem besteht aus einem tonischen Anteil, der an der unspezifischen allgemeinen Wachheit oder Müdigkeit beteiligt ist, und aus einem phasischen Anteil, der über Botenstoffe spezifisch auf die verschiedenen Teile der Großhirnrinde einwirken kann und diese in einen Zustand erhöhter Aktivierung versetzt (vgl. Carter 2012: 303-304). Somit trägt das aufsteigende retikuläre Aktivierungssystem auf zwei Wegen zu unserer Aufmerksamkeit bei und bestimmt u. a. wie lange wir unsere Aufmerksamkeit aufrechterhalten können, z. B. auch unsere Aufmerksamkeitsspanne in langweiligen, reizarmen Situationen (zu Langeweile im Unterricht vgl. 3.7), unter Bedingungen, in denen immer das Gleiche passiert oder wenn monotone Handlungen gefordert sind (etwa bei der Fließbandarbeit). Natürlich sind Wachheit und Aufmerksamkeit nicht nur von automatisch ablaufenden biologischen Mechanismen abhängig. Vielmehr reagiert unser Organismus auf äußere Ereignisse ebenso wie auf innere „Ereignisse“, etwa eine emotionale Bewertung und emotionale Bedeutsamkeit einer Situation. Verschiedene positive und negative Emotionen (Schreck, Angst, Überraschung, Freude, Verliebtheit, vgl. Kap. 4) führen zu einer höheren Erregung und damit zu einer verbesserten Möglichkeit, aufmerksam zu sein. Auch unsere Motivation und das Interesse an einem Gegenstand oder Geschehen steigert die Aufmerksamkeitskapazität. Intrinsische Motivation und echtes Interesse spiegeln die interne Bewertung „wichtig“ und wenn etwas wichtig ist, dann unterstützt das Gehirn die Hinwendung der Aufmerksamkeit. Die bewertungsbasierte Hinwendung ist daher mit wenig Anstrengung verbunden. Ganz anders ist das, wenn wir uns bewusst einem Gegenstand, einer Handlung oder einem Geschehen zuwenden, weil wir das für notwendig halten, obgleich uns dieser Gegenstand nicht wirklich interessiert. Das passiert z. B. häufig, wenn wir uns ganz bewusst anstrengen, um etwas zu lernen. Vielleicht interessieren uns die Mechanik fester Körper oder die Zeitformen französischer Verben überhaupt nicht. Wir lernen sie aber trotzdem, weil wir eine gute Note brauchen, um unser Traumfach studieren zu können. In einer solchen Situation laufen zwei Prozesse parallel ab, nämlich erstens die Verarbeitung des Lernstoffs und zweitens die bewusste, willentliche Aufrechterhaltung von Wachheit und Aufmerksamkeit. Dadurch ist der Gesamtvorgang natürlich wesentlich energieraubender als ein Lernprozess, der ohne erzwungene Anstrengung abläuft, etwa weil eine große Neugier und Motivation uns dazu treiben, uns mit dem Lerngegenstand auseinander zu setzen. Dementsprechend erreichen wir bei bewusster Anstrengung schneller die Grenze unserer energetischen Erschöpfung und damit das Ende der Aufmerksamkeitskapazität. 3 In freiwilligen oder erzwungenen Fastenzeiten wird Glucose im Gehirn teilweise durch Ketonkörper ersetzt, die ein Abbauprodukt der Fettsäuren sind. <?page no="62"?> 61 3.2 Wachheit, Kapazität und Grenzen von Aufmerksamkeit Die strukturelle Begrenztheit der Aufmerksamkeitskapazität ist eng mit der neuronalen Struktur des Gehirns verbunden, d. h. mit der Struktur der Nervenzellen selbst und mit den Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Während die Informationsweiterleitung innerhalb der Neurone relativ zügig verläuft und durch die isolierende Myelinscheide optimiert ist (vgl. 2.4), setzt die Übertragung von Nervenimpulsen an den chemischen Synapsen der Verarbeitungsgeschwindigkeit zeitliche Grenzen. Zwar hat die chemische Übertragung erhebliche Vorteile, indem sie aufgrund der Plastizität, Umgestaltungs- und Wachstumsfähigkeit der Synapsen eine hohe lebenslange Lernfähigkeit sicherstellt und die Möglichkeit komplexer und adaptiver Vergleichs-, Berechnungs- und Entscheidungsprozesse bietet. Diese Vorteile bezahlen wir aber mit einer Einschränkung in der Verarbeitungsgeschwindigkeit. Man könnte bezüglich der Verarbeitungsgeschwindigkeit das Fazit ziehen „gut Ding will Weile haben“. Die zweite strukturelle Begrenzung der Aufmerksamkeit ergibt sich daraus, dass Wahrnehmungs- und Denkprozesse, wie in Kapitel 2 dargelegt, in den zwei Assoziationsbereichen im parietalen und frontalen Cortex zusammenlaufen. In diesen Zentren werden unsere Wahrnehmungs- und Denkprozesse koordiniert und zusammengefasst. So werden bewusste Wahrnehmung und bewusste Denkprozesse ermöglicht. Die Assoziationsareale aber können zu jedem Zeitpunkt nur eine bestimmte Menge an Informationen für den jeweils aktuellen bewussten Zugriff bereithalten. Um angesichts der begrenzten Kapazitäten mit der Informationsflut der Sinneseindrücke und der Vielfalt der möglichen Handlungen und Denkprozesse in geordneter Weise umgehen zu können, muss eine Auswahl aus den vorhandenen Möglichkeiten getroffen werden. Dazu werden im Bereich der Wahrnehmung ausgewählte Informationen aus den sensorischen Hirnarealen zusammen mit Vorwissen zu den jeweiligen Wahrnehmungsinhalten zu einer raum-zeitlichen Repräsentation der Umwelt verbunden, die der derzeitigen Lage sowie unseren Zielen und Bedürfnissen angemessen ist (vgl. Ernst & Bülthoff 2004, Tononi, Edelman & Sporns 1998, vgl. 3.3). Eine ähnliche Auswahl ist für Planungs- und Denkprozesse notwendig (vgl. 6.5). Im Gehirn sind verschiedene Netzwerke an der Steuerung der Aufmerksamkeitsprozesse beteiligt. Das sogenannte Arousal-Netzwerk trägt vor allen Dingen der energetischen Beschränkung unserer Aufmerksamkeitskapazität Rechnung. Es besteht aus subcorticalen Strukturen, wird aber auch von corticalen Bereichen beeinflusst, die im Zusammenhang mit Motivation stehen, und vom limbischen System, einem wichtigen Zentrum der Emotionsverarbeitung (vgl. Kap. 4). Sowohl auf der neurobiologischen Ebene als auch im Verhaltensexperiment lassen sich weitere Netzwerke nachweisen, die an Aufmerksamkeitsprozessen und deren Steuerung beteiligt sind. Diese sind z.T. auf die Wahrnehmung bezogen und z.T. auf die Planung und Ausführung von Handlungen (vgl. Fan et al. 2002, 2005). Diese Netzwerke und ihre Bedeutung werden im Folgenden beschrieben. <?page no="63"?> 62 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns 3.3 Aufmerksamkeit als Auswahlprozess Das Konzept der Aufmerksamkeit bezog sich ursprünglich auf eine einheitliche, übergreifende Funktion, die alle Prozesse umfasste, die dem Feld Aufmerksamkeit und Konzentration zuzurechnen waren. Wissenschaftliche Ergebnisse, insbesondere aus der Hirnforschung und die Untersuchungen dieser Ergebnisse hinsichtlich ihrer Bedeutung für Wahrnehmung und Handlung (z. B. im Verhaltensexperiment), machten im Laufe der Jahre zunehmend deutlich, dass mehrere getrennte Netzwerke unterschiedliche Formen der Aufmerksamkeit kontrollieren. Einen Überblick über die Entwicklung geben Raz und Buhle (2006). Je nach Anforderungen treten diese Netzwerke in dynamische Interaktionen, die entsprechend der jeweiligen Situation kooperativ oder auch antagonistisch sein können. Die Netzwerke werden in diesem Abschnitt vorgestellt. 3.3.1 Sensorische Auswahl und Orientierung Als sensorische Auswahl bezeichnet man die Filterung der eingehenden Sinnesreize. Nicht alles, was unsere Sinnesorgane erreicht, wird von den sensorischen Zentren des Gehirns so weit verarbeitet, dass es unserem Bewusstsein zugänglich wird. Vielmehr werden Sinnesreize vorverarbeitet, hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit eingestuft und nur zum Teil der vollständigen Verarbeitung und der Wahrnehmung zugeführt. Jedes Sinnessystem nutzt hierbei unterschiedliche Objekteigenschaften als Basis für die Auswahl. Das Sehsystem macht sich die visuellen Eigenschaften unserer Umwelt zunutze. So ziehen große, schnell bewegte, auffällig farbige aber auch ungewohnt aussehende Objekte automatisch Aufmerksamkeit auf sich. Taucht ein auffälliges oder unbekanntes Objekt auf, verschiebt sich unsere Aufmerksamkeit automatisch dort hin. Biologisch gesehen ist das sehr sinnvoll. Man muss zunächst einmal feststellen, ob eine Bedrohung naht oder ob sich eine wichtige und beachtenswerte Information präsentiert. Dinge, die wir schon oft gesehen haben, deren Bedeutung wir gut kennen und die in der aktuellen Situation nicht unerwartet sind, ziehen unsere automatische Aufmerksamkeit nicht oder nur ganz kurz auf sich. Anders ist es, wenn wir uns gerade für ein Objekt besonders interessieren. In dem Fall bestimmen Motivations- und Zielaspekte die Ausrichtung der Aufmerksamkeit, wobei oft andere Sinnesreize ausgeblendet werden. Das Sehsystem greift also auch auf Vorwissen zurück, das als sensorisches Wissen gespeichert ist (vgl. 6.3.2). Auch das Hörsystem wählt Reize zur Weiterverarbeitung aus. Dabei sind neben Lautstärke und Tonhöhe zeitliche Rhythmen und Muster wichtig und natürlich in Kommunikationssituationen die Sprachlaute. Auf der Basis des Richtungshörens, das einmal durch die Form der Ohren möglich wird (vorwiegend Unterscheidung von oben und unten, vorne und hinten), zum anderen durch den Abstand zwischen den Ohren, kann die auditorische Aufmerksamkeit auch auf bestimmte Stellen im Raum gerichtet werden, sodass wir das, was an diesen Stellen ist, verstärkt wahrnehmen. Das kann unser Gesprächspartner sein oder beispielsweise Musik, der wir zuhören, während wir die Umgebungsgeräusche etwas unterdrücken (vgl. 2.5.1 sowie das Praxisfenster in Kap. 2). Allerdings können Kinder bis zum Ende <?page no="64"?> 63 3.3 Aufmerksamkeit als Auswahlprozess der Grundschulzeit das lange nicht so gut wie Jugendliche und Erwachsene. Da ihre Ohren und ihr Kopfumfang und damit der Abstand zwischen den Ohren noch wachsen, kann das Gehirn noch nicht endgültig festlegen, welche akustischen Eigenschafen zu welcher Raumrichtung gehören. Damit ist die Möglichkeit der auditiven Fokussierung und der Ausblendung störender Nebengeräusche im Kindergarten- und Grundschulalter viel geringer als bei Jugendlichen und Erwachsenen. Ähnlich wie das visuelle System reagiert auch das Hörsystem auf laute, unbekannte, unerwartete oder auffällige Geräusche (u. a. auch auf unseren eigenen Namen) und sorgt dafür, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf die entsprechende Geräuschquelle richten. Kinder können aufgrund der mangelnden Fokussierung solche Geräusche nicht ausblenden. Geräusche aus allen Raumrichtungen werden vollständig verarbeitet und der bewussten Wahrnehmung zugeführt. Da das vom auditorischen System autonom entschieden wird, lässt sich der Prozess nicht willentlich unterdrücken. Wird von Kindern etwa im Unterricht gefordert, sich nicht bei jedem Geräusch umzudrehen, sondern sich auf die Arbeit zu konzentrieren, dann können sie der Anweisung durchaus folgen. Sie können mit bewusster Willensanstrengung verhindern, sich dem Geräusch durch Umdrehen und Hinschauen zuzuwenden. Die exogene, also von außen sichtbare Aufmerksamkeitsverschiebung wird unterdrückt. Dennoch findet automatisch die endogene, rein innerliche Aufmerksamkeitszuwendung statt und unterbricht den Arbeitsprozess. Für manche, insbesondere jüngere Kinder ist es anstrengender, das Umdrehen zu unterdrücken, als sich schnell umzublicken und dann weiterzuarbeiten. Die Aufmerksamkeitsleistung unserer taktilen Wahrnehmung wird insbesondere beim bewussten Tasten deutlich. Dann richten wir unsere Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Bereich unserer Körperoberfläche, nämlich die Hände oder sogar noch präziser, auf die Fingerspitzen. Wir können unsere Aufmerksamkeit aber ebenso gut auch auf andere Bereiche unseres Körpers richten, den Wasserstrahl der Dusche genießen oder die Sonne auf unseren Armen und sind uns der anderen taktilen Reize, z. B. der Fußsohlen auf dem Boden, der Kleidung auf unserem Körper, nicht oder kaum bewusst. Unerwartete Berührungen dagegen ziehen automatisch unsere Aufmerksamkeit auf sich. Dann richten wir unseren Blick auf die Stelle, die berührt wurde (und auch unsere auditive Aufmerksamkeit, aber das ist von außen nicht sichtbar). Bei plötzlichen Berührungen ist es wichtig, die Quelle der Sinneswahrnehmung und eine möglicherweise damit verbundene Gefahr schnellstens zu erkennen. Immerhin ist der Auslöser der Empfindung ganz nah bei uns. Beim Geruchs- und Geschmackssinn gibt es keine räumlich gerichtete Aufmerksamkeit wie bei den anderen Sinnessystemen. Aber wir können unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Gerüche oder einen Geschmack richten, etwa beim Abschmecken von Speisen. Nehmen wir unerwartet einen intensiven, unangenehmen Geruch wahr, so richten wir unsere Aufmerksamkeit und die Wahrnehmung der anderen Sinne darauf aus, die Quelle des Geruchs ausfindig zu machen, und tun anschließend in der Regel alles, um der Quelle möglichst fern zu bleiben oder sie zu beseitigen. Aus dem oben Gesagten geht hervor, dass wir zum einen bei intensiven, auffälligen, unerwarteten und potentiell gefährlichen Reizen unsere Aufmerksamkeit unwillkürlich auf die Quelle des Reizes richten. Dann verarbeiten wir das, was sich uns sozusagen aufdrängt. Zum <?page no="65"?> 64 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns anderen können wir unsere Aufmerksamkeit aber auch auf ein bestimmtes Objekt, bestimmte Objekteigenschaften (etwa eine Farbe) oder auf eine bestimmte Stelle im Raum richten. Das tun wir beispielsweise dann, wenn wir jemanden suchen, von dem wir wissen, dass er ein Kleidungsstück in einer bestimmten Farbe trägt oder wenn wir einen Gegenstand näher betrachten wollen, der für uns gerade interessant oder wichtig ist. Mit den beiden unterschiedlichen Formen der sensorischen Selektion sind unterschiedliche Netzwerke im Gehirn befasst. Die unwillkürliche Reaktion auf auffällige, intensive, unbekannte und bisher unbeachtete Reize, wird von Arealen kontrolliert, die relativ weit unten, also ventral im Gehirn liegen. Daher wird dieses Netzwerk häufig als ventrales Aufmerksamkeitsnetzwerk bezeichnet. Zu diesem Netzwerk gehört der Übergang zwischen Temporallappen und Parietallappen (temporoparietal junction) und der ventrale frontale Cortex (vgl. Corbetta & Shulman 2002, Vossel, Geng & Fink 2014). Sobald über ein Sinnessystem ein unerwarteter, auffälliger oder potentiell bedrohlicher Reiz wahrgenommen wird, sorgt das ventrale Aufmerksamkeitssystem dafür, dass wir unsere Wahrnehmung und die gesamte Aufmerksamkeit in die entsprechende Richtung lenken. Diese Aufmerksamkeitsverschiebung kann verdeckt bleiben, in der Regel aber ist die Aufmerksamkeitsreaktion damit verbunden, dass sich Augen, Kopf und Körper dem Reiz zuwenden. Sehr schön lässt sich die Hinwendungsreaktion beobachten, wenn beispielsweise in einem Klassenzimmer während des Unterrichts unerwartet jemand in den Raum kommt. Alle Augen richten sich auf die sich öffnende Tür und niemand widmet sich mehr dem Unterrichtsgeschehen oder der aktuellen Aufgabe. Gehirn und Körper werden darauf vorbereitet, im Bedarfsfall schnell zu reagieren: Alle bisherigen Handlungen und Denkvorgänge werden gestoppt, die Wahrnehmungsschwelle der Sinne wird gesenkt, sodass sie auch kleine Änderungen in der Umgebung sofort bemerken und der Muskeltonus im ganzen Körper wird erhöht, um schnell reagieren zu können, z. B. auszuweichen oder etwas abzuwehren. Diese Reaktion ist ein sehr wichtiger Schutzmechanismus, der dafür sorgt, dass wir Gefahren erkennen und ihnen ausweichen. Entsprechend seiner Aufgabe wird das Netzwerk auch als Alerting-Netzwerk bezeichnet. Der hauptsächliche Neurotransmitter (Botenstoff) in diesem System ist das Noradrenalin, also eines der Stresshormone, die es uns erlauben, schnell zu reagieren, falls das nötig ist (vgl. Posner & Fan 2008). Das zweite System zur Steuerung der sensorischen Aufmerksamkeit liegt dorsal, also weiter oben im Cortex und ist mit der top-down Komponente der sensorischen Auswahl befasst. Hier wird die Aufmerksamkeit nicht über die Wahrnehmungsareale von äußeren Reizen gesteuert, sondern es werden die Wahrnehmungsinhalte ausgewählt, die gerade für eine bestimmte Aufgabe relevant sind. Da dieses System die bewusste Orientierung hin auf ein Objekt oder ein Geschehen steuert, wird es als Orienting-Netzwerk bezeichnet. Der Neurotransmitter Acetylcholin spielt eine wichtige Rolle in diesem Netzwerk (vgl. Posner & Fan 2008). Beteiligt an diesem System sind das frontale Augenfeld und der intraparietale Sulcus. Das frontale Augenfeld steuert willkürliche Augenbewegungen und die räumliche Orientierung und repräsentiert die Position aktuell interessierender Objekte und Blickziele. Der intraparietale Sulcus ist sozusagen ein Interface zwischen Wahrnehmung und Motorik: Informationen aus verschiedenen Sinnessystemen laufen hier zusammen, aber auch komplexere, bereits verarbeitete und abgeleitete Informationen sind abgebildet, z. B. die Anzahl <?page no="66"?> 65 3.3 Aufmerksamkeit als Auswahlprozess von Objekten oder die soziale Bedeutsamkeit von Reizen (vgl. Grefkes & Fink 2005, Sui et al. 2015). Zugleich werden von hier aus Bewegungen, etwa der Augen und des Kopfes, aber auch Arm- und Handbewegungen gesteuert. All diese Bewegungen beziehen sich auf äußere Objekte und sind eng mit Aspekten der Wahrnehmung verknüpft. Je nach Situation richten wir mit Hilfe dieser Assoziationsareale unsere Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt im Raum oder ein bestimmtes Objekt (selektive oder fokussierte Aufmerksamkeit) oder „verteilen“ sie. Dabei können wir die sensorische Aufmerksamkeit aufteilen, etwa beim Autofahren auf die Straße achten und gleichzeitig unserem Beifahrer zuhören. Wir können sie sogar gleichmäßig verteilen, z. B. über das gesamte Sehfeld, wenn wir etwas suchen oder nicht wissen, aus welcher Richtung etwas auf uns zukommt. Die bewusste Fokussierung der Aufmerksamkeit auf bestimmte Objekteigenschaften ebenso wie die auf bestimmte Bereiche im Raum und damit auf bestimmte Objekte, die sich in diesem Bereich befinden, hat eine neurologische Basis. Die Nervenzellen in den Wahrnehmungsarealen, die Sinneseindrücke an einer bestimmten Position im Raum oder bestimmte Objekteigenschaften (Tonhöhe, Farbe, Schärfe einer Speise usw.) verarbeiten, zeigen eine erhöhte Antwortbereitschaft, wenn man diesen Eigenschaften Aufmerksamkeit zuwendet. Grundlage dafür ist die sog. Bahnung, die die Bereitschaft der Nervenzellen auf einen Reiz zu reagieren, verbessert. Die Nervenzellen, die auf andere Bereiche im Raum oder andere Objekteigenschaften reagieren, werden dagegen über Inhibitionsmechanismen gehemmt. Bei der Bahnung erhalten Nervenzellen über einen Teil ihrer Dendriten, sozusagen die Antennen oder Impulsempfänger der Nervenzelle (vgl. 2.2), Signale in Form von Neurotransmittern, die die elektrischen Eigenschaften der Nervenzellen etwas verändern. Die Änderung ist nicht so groß, dass die Nervenzellen diesen Impuls als Sinneseindruck interpretieren, Aktionspotentiale ausbilden und damit Signale an andere Nervenzellen weitergeben (zur Kommunikation zwischen Nervenzellen vgl. 2.2). Aber sie stehen kurz davor, ein Aktionspotential zu generieren. Sie sind sozusagen darauf vorbereitet, sofort zu reagieren, wenn ein passendes Signal von dem jeweiligen Sinnessystem kommt. Bei der Inhibition erhalten die Nervenzellen dagegen über andere Dendriten solche Neurotransmitter, die die Antwortbereitschaft der Nervenzellen vermindern: Die Zellmembran der Neurone wird so beeinflusst, dass sie schwächer und langsamer auf Impulse reagieren, die sie von anderen Nervenzellen erhalten. Dadurch reagieren sie oft gar nicht auf einen schwachen oder mittelstarken Sinnesreiz, auf den sie ohne diese Inhibition antworten würden. Für diese Prozesse der Bahnung und Inhibition gibt es spezielle Verbindungen zwischen den die Aufmerksamkeit steuernden Hirnarealen und den Wahrnehmungsarealen. Die bewusst auf Objekte oder bestimmte Ausschnitte der Umgebung gelenkte Aufmerksamkeit ist ein Teil dessen, was man unter Konzentration versteht: Wir entscheiden uns dafür, in eine bestimmte Richtung zu schauen, um etwa ein Buch zu lesen. Zugleich entscheiden wir uns dagegen, uns anderen Objekten zuzuwenden oder uns von anderen visuellen, akustischen oder sonstigen Reizen in der Umgebung ablenken zu lassen. Wie exemplarisch in der Formulierung „um ein Buch zu lesen“ deutlich wird, gehört neben der willentlichen Fokussierung der Wahrnehmung eine Zielsetzung, z. B. im Sinne eines Handlungsziels, zu dem, was unter Konzentration verstanden wird. Hier kommt eine weitere Form der Aufmerksamkeit ins Spiel. <?page no="67"?> 66 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns 3.3.2 Aufmerksamkeits- und Handlungskontrolle Die sogenannte exekutive 4 Aufmerksamkeit bezieht sich auf die Auswahl und Kontrolle bewusster Handlungen, also die Frage: „Was tue ich und wie? “ Diese Form der Aufmerksamkeit unterscheidet sich von der sensorischen Aufmerksamkeit, denn sie beinhaltet die Steuerung einer bestimmten Abfolge von Hirnaktivitäten. Zunächst einmal bedarf es der Intention, also der bewussten Absicht, eine bestimmte Handlung auszuführen. Handelt es sich um eine selbstgesteuerte Intention, so ist diese im medialen präfrontalen Cortex repräsentiert, also einer Region mittig und recht weit vorne im Frontallappen, in dem Bereich, in dem die Hirnhälften einander gegenüberliegen (vgl. Haynes et al. 2007). Folgt man dagegen Anweisungen, sind diese in eher seitlich liegenden Bereichen des präfrontalen Cortex repräsentiert (vgl. Abb. 4). In beiden Fällen muss, ausgehend von der Intention, die Umsetzung der gewünschten Handlung geplant und initiiert werden. Dazu entwirft das prämotorische Areal einen Bewegungsplan in Abstimmung mit dem Kleinhirn und den Basalganglien und unter Berücksichtigung der Informationen aus den sensorischen Hirngebieten, die ihm Auskunft über die Umwelt sowie über die Position und Haltung des Körpers geben. Bei komplexeren Bewegungsmustern und Handlungsabfolgen wird es dabei vom supplementärmotorischen Areal unterstützt. Das Kleinhirn übernimmt die Feinplanung des im prämotorischen Cortex entworfenen Bewegungsplans in Abhängigkeit von der Position des Körpers und der Gliedmaßen im Raum. Es berechnet den benötigten Kraftaufwand und die genaue Abfolge der Ansteuerung der einzelnen Muskelgruppen. Das sekundäre motorische Areal initiiert die Handlung, gibt also den „Startschuss“. Das primäre motorische Areal schließlich steuert die Bewegung, indem es entsprechende Nervensignale in der richtigen Reihenfolge und Stärke an die Muskulatur sendet. Aber damit nicht genug: Während der Ausführung der Handlung wird diese eng überwacht. Auch hierfür ist Aufmerksamkeit notwendig. Das weiß jeder, der schon einmal aus Unachtsamkeit etwas fallen gelassen oder umgestoßen hat. Bei der Kontrolle und Bewertung der Handlungsausführung aber auch hinsichtlich motivationaler und emotionaler Faktoren ist das anteriore 5 Cingulum (vgl. Abb. 6) von großer Bedeutung. Zusätzlich ist diese Region, die in einem der entwicklungsgeschichtlich ältesten Cortexbereiche liegt, an der Abschirmung von Ablenkung und damit an der Konzentration beteiligt. Auch bei der Unterdrückung möglicher konkurrierender Handlungen spielt das anteriore Cingulum eine Rolle. Dabei greift ein ähnlicher Mechanismus von Bahnung und Inhibition, wie er oben für die sensorische Aufmerksamkeit beschrieben wurde, aber eben nicht in den sensorischen Arealen, sondern in den Hirnarealen, die für die Initiation, Kontrolle und Steuerung der Bewegung zuständig sind. Neben den präfrontalen Arealen spielen bei diesem Prozess die 4 Exekutiv steht für ausführend, vollziehend. Der Begriff wurde gewählt, um die Form der Aufmerksamkeit, die sich auf die Kontrolle der Handlungsinitiation und Handlungsausführung bezieht, von wahrnehmungsbezogenen Aufmerksamkeitsprozessen abzugrenzen. Eine alternative Bezeichnung lautet Supervisory Attentional System ( SAS ). Sie macht deutlich, dass dieses Aufmerksamkeitssystem die gesamte Handlungsausführung überwacht. 5 anterior-= hinten liegend <?page no="68"?> 67 3.4 Aufmerksamkeit und Entwicklung subcortical liegenden Basalganglien eine wichtige Rolle, die Filterfunktionen übernehmen und ein wichtiges Zentrum für motorische Inhibition und Bahnung sind. Ähnlich wie bei der Wahrnehmung können wir auch bei Handlungen unsere Aufmerksamkeit scheinbar aufteilen. Tatsächlich möglich sind parallele Handlungen dann, wenn eine oder mehrere der zeitgleich ausgeführten Handlungen automatisiert sind, wenn sie also lange eingeübt und so vertraut sind, dass sie nicht permanent unserer Aufmerksamkeit bedürfen. Bei automatisierten Handlungen ist unsere Aufmerksamkeit nur zur Initiation und bei Störungen nötig. Damit ist genügend Aufmerksamkeitskapazität frei, um eine weitere, nicht automatisierte Handlung zu steuern. Diese Trennung zwischen automatisierten und nicht automatisierten Handlungen bzw. Bewegungen spiegelt sich auch im primären motorischen Cortex wider: Bei automatisierten Prozessen werden die Muskeln von weiter vorne liegenden Teilen des primären motorischen Cortex angesteuert, bei nicht automatisierten Handlungen und Bewegungen von den weiter hinten liegenden Anteilen. Dadurch stören automatisierte und nicht automatisierte Handlungen einander nicht. Mehrere nicht automatisierte Prozesse, die zu verschiedenen Aufgaben gehören, stören sich dagegen gegenseitig, und zwar umso mehr, je ähnlicher sich die Aufgaben sind. Es gibt viele Hinweise darauf, dass wir beim Multitasking unsere Aufmerksamkeit nicht tatsächlich teilen, sondern vielmehr mit unserer Aufmerksamkeit immer wieder zwischen den Aufgaben hin und her springen. Das führt dazu, dass bei Multitasking die Leistung in jeder Einzelaufgabe geringer ist als bei sukzessiver Bearbeitung, wobei alleine schon das Wechseln zwischen den Aufgaben Ressourcen bindet (vgl. Rogers & Monsell 1995). 3.4 Aufmerksamkeit und Entwicklung Sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen finden sich die drei oben beschriebenen Aufmerksamkeitsnetzwerke, das Alerting-Netzwerk, das Orienting-Netzwerk und die exekutive Aufmerksamkeit. Während die beiden erstgenannten Systeme schon im Babyalter Aufmerksamkeitsprozesse steuern, entwickelt die exekutive Aufmerksamkeit ihre volle Funktionsfähigkeit erst recht spät, da sie von der Reifung des präfrontalen Cortex abhängig ist. 3.4.1 Aufmerksamkeit und Hirnreifung Am ähnlichsten sind sich Kinder und Erwachsene hinsichtlich des Alerting Netzwerks. Kinder im Alter von 8 bis 12 Jahren nutzen dieselben corticalen Strukturen und zeigen ganz ähnliche Aktivierungen wie Erwachsene (vgl. Konrad et al. 2005). Allerdings ist die Verarbeitungsgeschwindigkeit insgesamt geringer, Kinder reagieren also etwas langsamer. Zudem beziehen sie die subcorticalen Areale weniger ein, die die corticalen Prozesse unterstützen und so schneller und effektiver gestalten (vgl. Phillips, Kambi & Saalmann, 2016), und sie können Warnhinweise, die darauf hindeuten, dass demnächst etwas passieren wird, nicht so gut nutzen. Dadurch können sie sich weniger gut vorher auf etwas einstellen. Erst ab dem Alter von etwa zehn Jahren nähern Kinder sich in der Verarbeitungsgeschwindigkeit nach und nach der der Erwachsenen an (Rueda et al. 2004). <?page no="69"?> 68 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns Im Orienting-Netzwerk, das die bewusste Hinwendung der Aufmerksamkeit zu Objekten oder Orten in der Umgebung steuert, sind die Aktivierungen im Parietallappen bei Kindern ganz ähnlich wie bei Erwachsenen. Auf der Wahrnehmungsseite gibt es also kaum Unterschiede. Allerdings ist die Aktivierung in den frontalen Regionen, die die Steuerung innehaben, höher (vgl. ebd.). Das bedeutet, dass die bewusste Hinwendung der Wahrnehmung für Kinder anstrengender ist und mehr Ressourcen benötigt und erklärt die schnellere Ermüdbarkeit der kindlichen Aufmerksamkeit. Wie in vielen anderen Bereichen auch reagieren Kinder langsamer und machen mehr Fehler. In der Altersspanne zwischen sechs und zehn Jahren verbessern sie ihre Leistung aber kontinuierlich (vgl. Rueda et al. 2004). Die größten Unterschiede gibt es in der exekutiven Aufmerksamkeit. Zwar gibt es einen Entwicklungsschub dieses Netzwerks im Alter von drei bis sieben Jahren, aber auch danach sind bei Kindern zum Teil andere Hirnregionen aktiv als bei Erwachsenen, die die gleichen Aufgaben lösen. Oft liegen die aktiven Hirngebiete in der Nähe der Regionen, die auch bei Erwachsenen aktiv sind, aber der genaue Ort und die Höhe der Aktivierungen unterscheiden sich doch erheblich. Alles deutet darauf hin, dass das exekutive Aufmerksamkeitsnetzwerk bis zum Alter von zwölf Jahren noch unreif ist (vgl. Durston et al. 2006, Konrad et al 2005, s. auch Kap. 2). Hierbei spielt zum einen sicherlich die lange Entwicklungsdauer des frontalen Cortex eine Rolle. Mit Einsetzen der Pubertät finden hier erhebliche Veränderungen statt (vgl. Böttger & Sambanis 2017). Relevant sind aber auch Reifungsprozesse im parietalen Cortex: Für verschiedene Aufgaben, die im Zusammenhang mit exekutiven Funktionen stehen, konnte gezeigt werden, dass die Leistungen von Kindern und Jugendlichen (8-19 Jahre) mit der Dicke und damit mit des Ausreifung von bestimmten Hirnarealen korrelieren. Das galt nicht nur für Areale im frontalen Cortex sondern auch für Gebiete im parietalen Cortex und bei einem Teil der visuellen Aufgaben auch für das Sehsystem im occipitalen Cortex (vgl. Tamnes 2010). 3.4.2 Zusammenspiel der verschiedenen Aufmerksamkeitssysteme Während also das Alerting-Netzwerk bereits ab 8 Jahren sehr stark ist, nähern sich das Orienting-Netzwerk erst in der späten Kindheit und die exekutive Aufmerksamkeit noch später, nämlich im Laufe der Pubertät einem Entwicklungsstand an, der ähnliche Leistungen erlaubt, wie wir sie bei Erwachsenen finden. Daher kann man sich leicht vorstellen, dass das Alerting-Netzwerk bei der Entscheidung, wohin ein Kind seine Aufmerksamkeit richtet, häufig die Oberhand gewinnt, besonders wenn starke äußere Reizen im Spiel sind. Damit können Konzentration und gezielte Handlungen relativ leicht durch äußere Reize gestört werden: Kinder sind leicht ablenkbar. Interessant ist dabei, dass Kinder (im Laborexperiment) bereits durch 1-2 ablenkende Reize so stark in ihrer Leistung beeinträchtigt werden wie Erwachsene bei 4 oder mehr verschiedenen ablenkenden Reizen (vgl. Huang-Pollock, Carr & Nigg 2002, zu Lärm beim Lernen vgl. das Praxisfenster in Kap. 2). Beim Erwachsenen arbeiten die Aufmerksamkeitssysteme Hand in Hand, wobei je nach Aufgabe und Umgebungsbedingungen unterschiedliche Cortexbereiche und subcorticale <?page no="70"?> 69 3.5 Aufmerksamkeit und Verhaltenssteuerung Strukturen einbezogen werden (vgl. Erickson et al. 2005). Inhibitionsmechanismen und spezifische Hirngebiete sorgen für eine geregelte Zusammenarbeit (vgl. z. B. Japee et al. 2015). Bei Erwachsenen ist das Wissen groß genug, um sicherzustellen, dass gefährliche Situationen umgehend erkannt werden, sodass das Alerting-Netzwerk im Bedarfsfall hinreichend schnell reagieren kann. Bis zur Pubertät sind die dazu notwendigen Inhibitionsmechanismen noch nicht in derselben Weise aktiv wie bei Erwachsenen. Dadurch ist das Alerting-Netzwerk immer antwortbereit- - mit dem Nachteil hoher Ablenkbarkeit und dem Vorteil in Gefahrensituationen schnell genug reagieren zu können. Erst im Jugendalter (13-17 Jahre) sind das Orienting-Netzwerk und das exekutive Netzwerk inhibierend mit dem Alerting-Netzwerk verknüpft und können dessen Aktivität vermindern (vgl. Chai et al. 2014). Dann kann der präfrontale Cortex, wie in 3.3.2 beschrieben, z. B. während der Konzentration auf eine bestimmte Sache die Antwortbereitschaft des parietalen Cortex auf Umgebungsreize vermindern. Neben dem Alter und den damit verbundenen Entwicklungsprozessen haben auch individuelle Unterschiede entscheidenden Einfluss auf das Zusammenspiel zwischen parietalem und frontalem Aufmerksamkeitsnetzwerk. Wie oben dargestellt, schützen bestimmte frontale Hirnareale vor Ablenkung, vorausgesetzt, sie sind bereits gut ausgereift und durch Erfahrung gestärkt. Aber auch Regionen im Parietallappen tragen zur Abschirmung vor Ablenkungen bei. Kanai et al. (2011) stellten fest, dass ein enger Zusammenhang zwischen der selbst empfundenen individuellen Ablenkbarkeit, der im Test gemessenen Ablenkbarkeit und dem Volumen der grauen Substanz im linken superioren parietalen Cortex besteht. Da der parietale Cortex früher ausreift als der frontale, ist davon auszugehen, dass diese Region im Parietallappen bedeutsamen Einfluss auf individuelle Unterschiede in der Ablenkbarkeit bei Kindern und Jugendlichen hat. Letztlich lassen sich Unterschiede in der individuellen Ablenkbarkeit von Schülerinnen und Schülern nicht allein durch das Alter erklären, ferner dürfte die individuelle Ablenkbarkeit als Eigenschaft relativ stabil sein. Trotz der natürlichen Entwicklungsabläufe und der dafür benötigten Zeit ist es möglich, die Entwicklung von Aufmerksamkeit und Konzentration zu unterstützen. Bevor darauf eingegangen werden kann, muss noch die Einbindung der exekutiven Aufmerksamkeit in die Steuerung des Verhaltens näher betrachtet werden. Nur wenn bei der Förderung von Aufmerksamkeit auch die Verhaltenssteuerung berücksichtigt wird, kann sie erfolgreich umgesetzt werden. 3.5 Aufmerksamkeit und Verhaltenssteuerung Die exekutive Aufmerksamkeit ist Bestandteil eines größeren Netzwerks, das für die Steuerung von Handlungsplanung, Entscheidungen, bewusstem Verhalten, Disziplin und ähnlichen höheren kognitiven Leistungen zuständig ist. Während die Aufgaben und Funktionen dieses Netzwerks bereits gut untersucht sind, besteht hinsichtlich der Beiträge der einzelnen Hirngebiete teilweise Uneinigkeit. Beide Aspekte werden im Folgenden dargestellt. <?page no="71"?> 70 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns 3.5.1 Verankerung von exekutiver Aufmerksamkeit und exekutiver Kontrolle im Gehirn Einige Autoren betrachten ausschließlich im Frontalhirn lokalisierte Areale als zugehörig zum exekutiven Aufmerksamkeitsnetzwerk (z. B. Posner et al. 2006), andere beziehen parietale Areale ein (anteriore Anteile des inferioren Parietallappens, z. B. Niendam et al. 2012, Vincent et al. 2008). Die unterschiedlichen Studienergebnisse hängen damit zusammen, dass je nach Aufgabenstellung die Beteiligung des Parietallappens mal stärker und mal schwächer ist. Daher kommen die Messungen im Kernspintomographen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Forschergruppen, die parietale Hirngebiete als Bestandteil des Netzwerkes einbeziehen, haben den Begriff frontoparietal control network geprägt. Einen Überblick über die Diskussion gibt die Meta-Analyse von Alvarez und Emory (2006), die sehr schön zeigt, dass (je nach Studie unterschiedliche) parietale Hirnareale fast immer beteiligt sind. Die Forschergruppen, die die frontalen Areale als die eigentlichen Kontrollareale oder exekutiven Aufmerksamkeitsareale betrachten, argumentieren, dass die Aktivität der Hirnareale im Parietallappen eben gerade dadurch zustande kommt, dass die Signale aus dem Frontallappen durch Bahnung und Hemmung die parietalen Areale beeinflussen und sie so kontrollieren. Die Verbindung zwischen frontalen und parietalen Arealen wird hier nicht als Hinweis auf ein Netzwerk gleichberechtigter, kooperierender Areale verstanden, sondern als ein Weg über den die Kontrolle und Aufmerksamkeitssteuerung, die vom Frontallappen ausgeht, in Handlung übersetzt wird oder über den sie die Wahrnehmung und die Verarbeitung der Sinnesreize so beeinflusst, wie es für die anstehende Aufgabe nötig ist (vgl. Banich et al. 2000). Diese Forschergruppen beziehen neben Kernspinergebnissen Studien aus der Neurologie ein, also aus dem medizinischen Bereich der Hirnforschung: Untersuchungen und Beobachtungen an Patienten, die etwa aufgrund eines Unfalls oder einer Krankheit Schädigungen des frontalen Cortex aufweisen, zeigen u. a. Defizite in der Handlungskontrolle, ihrer Fähigkeit zu planen, Regeln einzuhalten und ihre Aufmerksamkeit zu steuern. Teilweise führen die Schädigungen im Frontallappen zu deutlichen Veränderungen der Persönlichkeit, sodass etwa zuvor gut strukturierte, rücksichtsvolle, verantwortungsbewusste und aufrichtige Menschen plötzlich rücksichtslos, egoistisch, unüberlegt und kurzsichtig handeln. Schädigungen im Parietallappen dagegen führen eher zu Ausfällen der wahrnehmungsbezogenen Aufmerksamkeit, die so weit gehen können, dass bestimmte Teile der Umwelt überhaupt nicht mehr wahrgenommen werden (vgl. Posner & Raichle 1996). Trotz der unterschiedlichen Annahmen über die Rolle des Parietallappens innerhalb des Netzwerkes besteht Einigkeit dahingehend, dass das Netzwerk eine übergeordnete Steuerungsfunktion besitzt und die beiden wahrnehmungsbezogenen Aufmerksamkeitssysteme, das Alerting- und das Orienting-Netzwerk kontrolliert. Unter anderem wird dem übergeordneten Netzwerk die Regulierung des Gleichgewichts zwischen dem Alerting- und dem Orienting-Netzwerk zugeschrieben und damit die Kontrolle darüber, ob wir unsere Aufmerksamkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt eher von äußeren Reizen lenken lassen oder aufgrund unserer Ziele selbst ausrichten (vgl. Spreng et al. 2010, 2013). Lediglich bei potentiell bedrohlichen Reizen hat das Alerting-Netzwerk eine Art Veto-Funktion und stoppt alle anderen Prozesse. <?page no="72"?> 71 3.5 Aufmerksamkeit und Verhaltenssteuerung 3.5.2 Exekutive Funktionen Die übergeordnete Rolle, die dem frontoparietal control network zugeschrieben wird, zeigt eine große Übereinstimmung mit dem Konzept der exekutiven Funktionen (vgl. Seeley et al. 2007). Als exekutive Funktionen werden eine Anzahl zusammenwirkender geistiger Funktionen bezeichnet, die der Handlungssteuerung und Selbstkontrolle dienen (vgl. Böttger & Sambanis 2017: 76 ff.). Die oben beschriebene exekutive Aufmerksamkeit ist eine der Komponenten der exekutiven Funktionen. Eine einheitliche Definition der exekutiven Funktionen gibt es nicht, vielmehr wird versucht, sie über eine Auflistung der damit verbundenen Fähigkeiten zu charakterisieren, z. B. Planung, Setzen und Verfolgen von Zielen, strategische Vorgehensweisen, Priorisierung, Impulskontrolle, Belohnungsaufschub und Disziplin, emotionale Selbstkontrolle, bewusste Aufmerksamkeits- und Handlungssteuerung usw. Je nachdem, auf welcher Detailebene die Fähigkeiten betrachtet werden, kommt man zu unterschiedlich langen Listen von Fähigkeiten. Dennoch ist eine solche Auflistung hilfreich, um zunächst einmal ein Bild davon zu gewinnen, zu welchen Leistungen die exekutiven Funktionen beitragen. Man erkennt, dass die exekutiven Funktionen tatsächlich die Grundlage höherer kognitiver Leistungen bilden. Daher kann es nicht verwundern, dass die exekutiven Funktionen einen enormen Einfluss auf die schulisch-akademische Entwicklung und den Lebenserfolg haben. So ist etwa die Ausprägung der exekutiven Funktionen zum Zeitpunkt der Einschulung relevanter für den Lernerfolg als die Intelligenz oder das Vorwissen in Mathematik oder Lesen (vgl. Alloway et al. 2005; Blair 2002). Der positive Einfluss bleibt bis ins Studium hinein erhalten (vgl. Duckworth & Seligman 2005, Gathercole et al. 2004). In einer Langzeitstudie, die ca. 1000 Neuseeländer ab der Geburt bis zum Alter von etwa 30 Jahren begleitete (Dunedin Multidisciplinary Health and Development Study), konnte gezeigt werden, dass Menschen, die im Alter von zehn Jahren eine bessere Selbstkontrolle aufwiesen, in vielen Lebensbereichen erfolgreicher waren (vgl. Moffitt et al. 2011). Positive Zusammenhänge zeigten sich u. a. für die körperliche und geistige Gesundheit, das Einkommen und finanzielle Probleme, stabile Partnerschaften, geringere Neigung zu Drogenmissbrauch und zu Kriminalität (ebd.). Als Wirkmechanismus für diese starken Effekte werden insbesondere Eigenschaften wie Selbstkontrolle und die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub diskutiert, die Fähigkeit zu planen und Pläne gezielt umzusetzen, sich flexibel an neue Anforderungen und Aufgaben anzupassen sowie, im sozialen Bereich, die Fähigkeit sich zurücknehmen zu können und nicht unangemessen impulsiv zu handeln. Es ist offensichtlich, dass diese Eigenschaften, die auf die exekutiven Funktionen zurückgeführt werden, auch in Schule und Unterricht höchst bedeutsam sind, dass sie aber zugleich eine große Spannbreite an Fähigkeiten umfassen. Für das Verständnis sowohl der Funktionsweise exekutiver Funktionen als auch der Fördermöglichkeiten ist es nützlich, das Modell von Miyake et al. (2000) heranzuziehen, das auf der Analyse von Daten aus Verhaltenstests beruht. Miyake stellte fest, dass sich die exekutiven Funktionen aus drei Komponenten zusammensetzen: dem Aufrechterhalten und Aktualisieren von Information (Arbeitsgedächtnis), der Hemmung vorschneller und un- <?page no="73"?> 72 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns passender Antworten (Inhibition) und der flexiblen Anpassung an Veränderungen, z. B. in einer Aufgabenstellung (kognitive Flexibilität). Das Konzept des Arbeitsgedächtnisses ist ein relativ altes Konzept, das zunächst ohne einen Zusammenhang mit den exekutiven Funktionen entwickelt wurde. Im Arbeitsgedächtnis können Informationen für einen begrenzten Zeitraum repräsentiert und manipuliert werden. Ein gutes Beispiel sind Kopfrechenaufgaben, bei denen die Zahlen und Rechenvorschriften für eine Weile behalten und bearbeitet werden, sodass am Ende die Aufgabe gelöst ist. Ein anderes Beispiel ist das Kochen anhand eines Rezepts. Hier müssen die Angaben aus dem Rezept behalten, Mengen vielleicht abgemessen und Arbeitsanweisungen in der richtigen Reihenfolge befolgt werden. In beiden Fällen braucht man nicht nur die Anleitung aus dem Rezeptbuch oder die Zahlen, die die Lehrkraft genannt hat, sondern auch Wissen, das bereits im Langzeitgedächtnis gespeichert ist, z. B. wie rechne ich plus oder mal oder wie messe ich einen halben Liter ab und wie blanchiere ich Weißkohl? Im Arbeitsgedächtnis werden also Informationen, die über die Sinnessysteme bereitgestellt wurden, und Informationen aus dem Langzeitgedächtnis gleichzeitig gespeichert. Je nach aktueller Aufgabe arbeitet das Arbeitsgedächtniss im präfrontalen Cortex flexibel mit unterschiedlichen anderen corticalen Regionen und mit subcorticalen Strukturen zusammen (vgl. Funahashi 2001). Durchschnittlich sieben Elemente kann ein gesunder Erwachsener im Arbeitsgedächtnis zeitgleich bereithalten. Kinder im Kindergartenalter können zwei, Kinder im Einschulungsalter drei bis vier Elemente im Arbeitsgedächtnis aufrechterhalten. Bei der Menge an Informationen, die Menschen verarbeiten und angesichts der komplexen Handlungspläne, die Erwachsene, aber auch Kinder, entwickeln können, ist das tatsächlich nicht viel. Glücklicherweise sind Erwachsene, u. a. aufgrund ihres Vorwissens, in der Lage, Einzelinformationen zu Gruppen zusammenzubinden. So lässt sich die Zahlenfolge 7-2-5-3-6-9-1-5-0 viel schlechter merken als die drei Zahlen 725, 369 und 150. Ähnlich ist es mit anderen Aufgaben. Bekommt ein Kind z. B. den Auftrag „Hol die Malsachen, also Papier und Pinsel aus dem Regal, einen Becher mit Wasser, Wasserfarben, die Malunterlage und den Malkittel“, dann hat es eigentlich keine Chance, das alles zu behalten- - es sei denn, es hat schon im Langzeitgedächtnis gespeichert, was alles zu den Malsachen gehört. Dann braucht es nur ein Element aufrecht zu erhalten, nämlich „Malsachen“ und kann dieses wie einen Schlüsselbegriff verwenden, um die Dinge, die es braucht, nach und nach aus dem Langzeitgedächtnis abzurufen. Allerdings sind für die Verwendung dieser Strategie das Vorwissen im Langzeitgedächtnis und eine flexible Steuerung des Wissensabrufs nötig. An dieser Stelle kommt eine weitere Komponente der exekutiven Funktionen ins Spiel, die kognitive Flexibilität. Das Kind, das bereits weiß, was die Malsachen sind, muss zwischen verschiedenen Teilaufgaben wechseln. Erst muss es aus dem Langzeitgedächtnis einen Teil der Gegenstände abrufen und dazu den Ort, an dem diese aufbewahrt werden. Dann muss es dort hingehen, die Gegenstände holen und zum Tisch bringen. Anschließend werden die nächsten Objekte abgerufen und geholt. Spätestens jetzt muss das Kind kontrollieren, was schon da ist und was noch fehlt, bevor es wieder losgeht. Das Kind wechselt also zwischen Informationsabruf aus dem Langzeitgedächtnis, der Steuerung von Handlungen beim Holen der Gegenstände oder dem Füllen des Bechers mit Wasser und der Aufgabe zu kontrollieren, <?page no="74"?> 73 3.6 Förderung von Aufmerksamkeit, Konzentration und exekutiven Funktionen welche Teilschritte bereits erledigt sind. Nur mit Hilfe der kognitiven Flexibilität können komplexe Aufgaben überhaupt bewältigt werden. Ebenso ist kognitive Flexibilität notwendig, um sich schnell auf neue Anforderungen und Aufgaben einzustellen, aber auch auf neue Personen und Situationen. Damit leistet die kognitive Flexibilität auch einen wichtigen Beitrag zu den sozialen Kompetenzen einer Person. Beispielsweise trägt sie dazu bei, die eigene Sicht der Dinge beiseitezuschieben und sich in eine andere Person hineinzuversetzen. Insgesamt hilft eine gut ausgebildete kognitive Flexibilität dabei, offen zu sein für die Argumente anderer, aus Fehlern zu lernen und sich auf neue Lebenssituationen und Arbeitsanforderungen schnell und effektiv einzustellen. Der dritte Aspekt der exekutiven Funktionen wird als Inhibition bezeichnet. Damit sind an dieser Stelle nicht die Inhibitionsmechanismen im Nervensystem, also etwa zwischen einzelnen Nervenzellgruppen oder verschiedenen Hirnarealen gemeint, sondern die Unterdrückung von unpassenden oder unerwünschten Verhaltensweisen und vorschnellen, unbedachten Reaktionen. Diese Inhibition ermöglicht es erst, dem Grundsatz „erst denken, dann handeln“ zu folgen. Durch die Fähigkeit, Verhalten zu hemmen, gelingt es, Aktivitäten und Verhaltensweisen zu vermeiden, die mit einem angestrebten Ziel oder dem aktuellen Kontext nicht vereinbar sind. Eine gute Inhibition unterstützt die gezielte Aufmerksamkeitslenkung, und Störreize können besser ausgeblendet werden. Dadurch wird zielgerichtetes Handeln unterstützt. Auf diese Weise trägt Inhibition zum Durchhalten, auch in schwierigen Situationen, und zum Erreichen langfristiger Ziele bei. Sie schützt davor, unüberlegt zu handeln und sich in Gefahr zu bringen oder durch impulsives Verhalten soziale Konflikte heraufzubeschwören. 3.6 Förderung von Aufmerksamkeit, Konzentration und exekutiven Funktionen Die Förderung von Aufmerksamkeit und Konzentration umfasst zwei Aspekte, nämlich die Förderung der langfristigen Entwicklung und die Unterstützung in der aktuellen Situation. Beides wird im Folgenden berücksichtigt. Dabei werden auch die exekutiven Funktionen einbezogen, weil sie zum einen einen wichtigen Beitrag zur Konzentration leisten und zum anderen von hoher Relevanz für den (schulischen) Lernerfolg sind. 3.6.1 Förderung der Entwicklung von Aufmerksamkeit, Konzentration und exekutiven Funktionen Die von außen „getriebene“ Aufmerksamkeit, die durch das Alerting-Netzwerk gesteuert wird, ist, wie schon angedeutet, früh, nämlich von Geburt an vorhanden. Bei gesunden Kindern, die keine Einschränkungen der Sinnessysteme haben, bedarf dieses Aufmerksamkeitsnetzwerk keiner gesonderten Förderung. Die normalerweise in der Umgebung auftretenden, wechselnden Sinnesreize ermöglichen die Entwicklung dieser Form der Aufmerksamkeit. Bereits im Säuglingsalter nimmt auch das Orienting-Netzwerk seine Arbeit auf. Zunächst beginnt das Kind, sich mit seinem eigenen Körper, etwa seinen Fingern oder Zehen zu beschäftigen. Bald dehnt es seine Aufmerksamkeit auch auf andere Objekte aus und untersucht diese intensiv, zunächst unter Einsatz des Mundes, da dieser besonders empfindlich ist und <?page no="75"?> 74 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns viele Informationen liefert, später mit Händen, Augen und Ohren. Etwa 40 % seiner wachen Zeit verbringt ein Kleinstkind mit diesen Aktivitäten. Das Beste, was man für die Förderung dieses Netzwerks in dem Alter tun kann, ist dem Kind anregende Materialien zur Verfügung zu stellen 6 und es nicht unnötig in seinen Aktivitäten zu stören. Später beginnen Kinder dann, sich äußerst intensiv mit allen möglichen Objekten und Ereignissen zu beschäftigen. Stundenlang werden Züge im Bahnhof beobachtet oder Insekten, die man unter einem Stein gefunden hat. Unermüdlich werden dieselben Spiele gespielt oder dieselben motorischen Aktivitäten wiederholt und immer wieder muss eine bestimmte Geschichte vorgelesen oder bestimmte Lieder müssen immer wieder gehört werden. Dieses Verhaltens setzt sich bis ins Grundschulalter hinein fort. Neben anderen Entwicklungsbereichen (z. B. Motorik, Sprache, Wissen) wird hier auch die Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf ein ganz bestimmtes Objekt oder Geschehen trainiert. Oft fällt es den betreuenden Erwachsenen schwer, die langwierigen oder ständig sich wiederholenden Tätigkeiten auszuhalten. Dennoch hat das Verhalten der Kinder große Relevanz für die Förderung der gerichteten, gesteuerten Aufmerksamkeit. Daher ist es wichtig, Eltern zu ermutigen, die Kinder entsprechend zu unterstützen und auch als Lehrkraft Kindern genug Zeit und Raum zu geben, um sich mit einzelnen Themen intensiv, über längere Zeit und wiederholt auseinanderzusetzen (vgl. Posner & Rothbart 2014). Nur eine gut entwickelte willentliche Aufmerksamkeitsausrichtung kann der schnellen Antwort des Alerting-Netzwerks auf äußere Reize etwas entgegensetzen. In ähnlicher Weise ist die Stärkung der exekutiven Aufmerksamkeit und Konzentration als Vorbereitung auf erfolgreiche schulische Lernprozesse von großer Relevanz (vgl. Cragg & Gilmore 2014). So stehen die exekutiven Funktionen z. B. im Zusammenhang mit der Nutzung von Lernstrategien (vgl. Stone et al. 2016). Das soziale Umfeld stellt im Allgemeinen an die Handlungs- und Selbstkontrolle von Kindern, je nach Alter und kulturellen Regeln, Erwartungen und Forderungen, die geeignet sind, die Reifung der exekutiven Funktionen so zu fördern, dass sie sich in einer für die jeweilige Umgebung angemessenen Weise entwickeln. Unterschiede in den Anforderungen je nach Situation, kulturellen Bedingungen und sozioökonomischen Einflüssen können allerdings Probleme bereiten. Hierzu gehören auch die unterschiedlichen Anforderungen in Schule, Kindertageseinrichtung und Familie. Hinzu kommt, dass in der Zeit, in der wir aktuell leben, viele Einflüsse gegeben sind, die das Alerting-Netzwerk stärken. Dazu gehören etwa die intensive Nutzung audiovisueller Medien, die häufig passive Rezeption oder reizgesteuerte Reaktionen fördern, und eben nicht eine unabhängige Planung und Steuerung von Handlungen. Auch ein Zuviel an vorgefertigten Aktivitäten, das den Freiraum für die eigene Gestaltung von Tätigkeiten, für freies Spiel, Phantasie und eigene Entdeckungen einschränkt, wirkt sich nicht positiv auf die exekutiven Funktionen aus. Es ist durchaus gut, wenn Kinder sich einmal langweilen (zu Langeweile, auch im Unterricht, vgl. 3.7): Das zwingt sie, eigene Pläne und Spielideen zu entwickeln und die eigenen Interessen zu entdecken. Eltern sollten ermuntert werden, dem Förderdruck und Förderwahn standzuhalten und ihre Kinder nicht jeden Nachmittag mit einem anderen Lern-, Spiel- und Sportangebot zu beschäftigen. Eine kleine Auswahl geeigneter Angebote, 6 Das muss nicht immer Spielzeug sein. Auch Alltagsgegenstände können sich eignen. <?page no="76"?> 75 3.6 Förderung von Aufmerksamkeit, Konzentration und exekutiven Funktionen kombiniert mit Zeit zur freien Gestaltung ist ideal. In erster Linie sollten die Begabungen und Interessen des Kindes Richtschnur für die Auswahl von Angeboten sein. Zwar sind das Erlernen eines Musikinstruments und Mannschaftssportarten nachweislich förderlich für die Ausbildung der exekutiven Funktionen, aber das kann nicht das allein entscheidende Kriterium bei der Auswahl sein, zumal Versagen und Frustration durch unpassende Angebote dem eigentlichen Ziel der Entwicklungsstärkung zuwiderlaufen. Nicht nur auf familiärer, sondern auch auf institutioneller Ebene gewinnt die Förderung exekutiver Funktionen an Bedeutung. Das in den USA entwickelte Programm Tools of the Mind nutzt verschiedene Strategien und Hilfsmittel zur Förderung exekutiver Funktionen von Kindern aus benachteiligten Familien (vgl. Diamond et al. 2007). In dem Programm werden Hilfsmittel wie Plakate, Kalender und kleine Kärtchen verwendet, um mit den Kindern Pläne für den Tag oder eine Spielsequenz zu machen, Regeln und Aufgaben zu visualisieren usw. Auf diese Weise wird den Kindern der Einsatz ihrer exekutiven Funktionen erleichtert und diese werden dadurch trainiert, ohne dass Erwachsene eingreifen und die Selbststeuerung des Kindes durch eine Fremdsteuerung ablösen. Für Deutschland wurde das Programm EMIL - - Emotionen regulieren Lernen entwickelt, das ähnliche Ziele verfolgt, aber auf das deutsche Kindergartensetting und den Bildungs- und Erziehungsauftrag des Kindergartens hierzulande abgestimmt ist (vgl. Quante et al. 2016). Das Konzept bezieht alle Ebenen der pädagogischen Arbeit ein: die Haltung der Erzieherin und ihre Interaktion mit den Kindern, die strukturellen Bedingungen und die Gestaltung des Umfelds sowie die pädagogischen Angebote. So ist es bei der Interaktion wichtig, dass die Kinder dazu ermutigt werden, eigenständig Lösungen für Probleme zu finden, statt sich Lösungen vorschlagen zu lassen, selbst tätig zu werden, statt sich helfen zu lassen usw. Entsprechend sollen auch pädagogische Angebote die Selbsttätigkeit, Kreativität und Selbststeuerung fördern. Eine klare räumliche Strukturierung und Hilfsmittel, ähnlich wie bei Tools of the Mind, werden eingesetzt, um die Selbststeuerung zu erleichtern und einzuüben. Programme oder Konzepte zur Förderung exekutiver Funktionen in der Grundschule gibt es bisher noch nicht. Aus der Forschungslage und den Erfahrungen im Elementarbereich wird aber deutlich, dass exekutive Funktionen sich nur ausbilden können, wenn die Kinder selbst tätig werden und ihre Handlungen eigenständig kontrollieren, wobei klare Strukturen und kleine Hilfsmittel besonders für jene Kinder eine Unterstützung sein können, deren exekutive Funktionen weniger stark ausgeprägt sind. Zudem lassen sich die exekutiven Funktionen spielerisch fördern (vgl. Walk & Evers 2013). Mit Einsetzen der Pubertät, dem damit einhergehenden Umbau des Frontalhirns und den hormonellen Veränderungen, sinkt der Einfluss der exekutiven Funktionen auf das Verhalten zum Teil und vorübergehend ab. Hier bedarf es spezieller Fördermaßnahmen und Programme, deren Entwicklung in Deutschland allerdings gerade erst begonnen hat (vgl. Fäsche et al. 2017, zu exekutiven Funktionen im Jugendalter vgl. Böttger & Sambanis 2017: 72 ff.). <?page no="77"?> 76 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns 3.6.2 Gestaltung aufmerksamkeitsförderlicher Rahmenbedingungen Kurz- und mittelfristig lassen sich Aufmerksamkeit und Konzentration durch geeignete Rahmenbedingungen unterstützen. Im Allgemeinen ist die Aufmerksamkeit und damit die Leistung umso besser, je stärker wir uns auf eine Sache fokussieren. Das bedeutet aber nicht, dass alle Menschen sich dann am besten konzentrieren können, wenn es keine ablenkenden Reize gibt, rundum alles mucksmäuschenstill ist und wir uns in kahlen rein funktional eingerichteten Räumen befinden. Vielmehr ist es der Konzentration zuträglich, wenn man sich sicher fühlt, sich in einer Umgebung aufhält, in der man keine unangenehmen Überraschungen erwartet. Ansonsten ist immer ein Teil der Aufmerksamkeit auf die Umwelt gerichtet, um uns vor möglichen Gefahren zu beschützen. In Situationen, in denen wir uns bedroht fühlen oder die wir als gefährlich empfinden, in denen wir aber noch nicht wissen, woher die gefühlte Bedrohung kommt, tendiert unser Aufmerksamkeitssystem dazu, die gesamte Umgebung gleichmäßig einzubeziehen, also das gesamte Gesichtsfeld und alle Geräusche um uns herum. Zugleich werden alle Hirnfunktionen, die nicht auf die Entdeckung der möglichen Bedrohung gerichtet sind, gedämpft. Im Kernspintomographen oder dem EEG sieht man im Gehirn in solchen Situationen sehr wenig Aktivität, es wird im Gehirn ganz „ruhig“, sodass alle Kapazitäten für die erwartete, von außen kommende Bedrohung und ihre Verarbeitung bereitstehen. Dementsprechend ist es in (latent) angstbesetzten Situationen äußerst schwierig, seine Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Sache zu fokussieren, sich also zu konzentrieren oder über etwas anderes nachzudenken als über die mögliche Bedrohung. Eine solche Situation erlaubt es natürlich nicht, für Unterrichtsinhalte und Lernaufgaben offen zu sein. Daher sind Konflikte innerhalb von Klassen oder gar Ausgrenzung und Mobbing für die betroffenen Schülerinnen und Schüler nicht nur eine soziale und emotionale Belastung, sondern bringen darüber hinaus eine erhebliche Einschränkung des Lernerfolgs mit sich. Auch wenn Konflikte und Streitereien zur Kindheit und Jugend dazugehören und Teil des normalen Entwicklungsprozesses zum Erwerb sozialer Kompetenzen sind, müssen sie trotzdem bearbeitet werden, um jeder Schülerin und jedem Schüler ein störungsfreies Lernen zu ermöglichen. Entsprechende Maßnahmen sind nicht zusätzlich, optional oder gar überflüssig, sondern vielmehr eine Voraussetzung für erfolgreiche Lernprozesse. Viele Programme für Schulen sind darauf ausgerichtet, aggressives Verhalten einzugrenzen. Lehrkräften ist bewusst, dass Streitereien, die aus den Hofpausen mitgebracht werden, möglichst vor Unterrichtsbeginn gelöst werden und unterschiedliche Maßnahmen zur Förderung des Klassenklimas ergriffen werden sollten. Insbesondere gilt es, bei betroffenen Kindern und Jugendlichen das Gefühl der Sicherheit wiederherzustellen. Das gelingt umso besser, je stärker der Umgang in der Klasse von Wertschätzung, Respekt und Gewaltfreiheit geprägt ist. Hierbei spielt auch die Haltung und Vorbildfunktion der Lehrkraft eine erhebliche Rolle. Oft ist es angeraten, Schülerinnen und Schüler nach einem Streit oder in einer Konfliktphase räumlich zu trennen und sie in die Nähe von Personen zu setzen, mit denen sie positive soziale Beziehungen unterhalten. Soziale Nähe hat einen ungeheuer beruhigenden Einfluss und ist oft hilfreicher als allzu langes Diskutieren und Betrachten der Konfliktsituation. Ist die Situation allzu aufgeheizt, kann es eine gute Strategie sein, soziale Sicherheit zunächst durch <?page no="78"?> 77 3.6 Förderung von Aufmerksamkeit, Konzentration und exekutiven Funktionen die Zusammenarbeit oder die Nähe der jeweiligen Freunde zu erzeugen und den Konflikt anzugehen, wenn die Gemüter sich etwas beruhigt haben. Neben dem sozialen Umfeld kann man außerdem durch entsprechende Umgebungsgestaltung positiv sowohl auf das Sicherheitsgefühl als auch auf die Konzentrationsfähigkeit einwirken. Natürlich sind die Bedürfnisse der Lernenden dabei unterschiedlich. Wer vielleicht mit mehreren Geschwistern aufgewachsen ist und es gewohnt ist, dass es Hintergrundgeräusche gibt, für den kann es sehr hilfreich sein, wenn bei der Bearbeitung von Aufgaben keine völlige Ruhe herrscht. Andere dagegen benötigen absolute Ruhe. 7 Für das Lernen zu Hause muss sicherlich jede Schülerin und jeder Schüler eigene Lösungen finden. In Klassenräumen dagegen kann man nur allgemeine Maßnahmen treffen, aber auch hier gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse, die Orientierung bieten und Möglichkeiten der Gestaltung aufzeigen (vgl. Arndt 2012a,b). So gibt es gute wissenschaftliche Hinweise darauf, dass eine naturnahe Umgebung mit Pflanzen beruhigend und entspannend wirkt. Bereits der Blick auf einen Baum oder ein paar Büsche vor dem Fenster hat einen positiven Effekt. Kinder fühlen sich oft wohl, wenn sie in einer Kuschelecke, auf dem Fußboden oder unter Tischen sitzen können. Für Schulanfänger ist es hilfreich, wenn sie Elemente wiedererkennen, die ihnen aus der Kindertageseinrichtung bereits bekannt sind. Auch unterstützt es die Vertrautheit von Räumlichkeiten und damit das Geborgenheitsgefühl, wenn Kinder etwas selbst gestalten oder Dinge mitbringen können. Ebenso ist es hilfreich, wenn Ereignisse vertraut, vorhersagbar und kontrollierbar sind. Daher sind Rituale gerade im Grundschulalter noch von großer Bedeutung. Neben den oben beschriebenen neurowissenschaftlichen Ergebnissen zur Aufmerksamkeit unterstützen unterschiedliche theoretische Modelle die Bedeutsamkeit einer sicheren Umgebung. So besagt das sozialpsychologische Modell der Maslowschen Bedürfnishierarchie (Bedürfnispyramide), dass zunächst physiologische Bedürfnisse (z. B. Nahrung) und das Bedürfnis nach Sicherheit und sozialen Beziehungen erfüllt sein müssen, bevor Raum für weitere Motive, wie kognitive Bedürfnisse und Selbstverwirklichung, ist (vgl. Maslow 1943). Auch das aus der Verhaltensforschung abgeleitete Konzept des entspannten Felds weist in eine ähnliche Richtung. Tierforscher haben festgestellt, dass Tierkinder nur dann Neugier- und Spielverhalten entwickeln und dabei viel lernen, wenn ihre Grundbedürfnisse erfüllt sind und sie sich in einer völlig sicheren Umgebung befinden. Auf der neurophysiologischen Seite ist eine solche entspannte Situation mit der Ausschüttung bestimmter Neuromodulatoren verbunden. Aus den Beobachtungen bei Tieren wurde abgeleitet, dass auch das Lernen von Menschenkindern auf ein solches „entspanntes Feld“ angewiesen sei (vgl. Sachser 2004). Der Annahme des entspannten Felds als Voraussetzung für spiel- und neugierbasierte Lernprozesse widersprechen allerdings Beobachtungen in der Praxis wie die, dass Kinder auch in weniger entspannten und sicheren Situationen Spielverhalten entwickeln. Möglicherweise liegt das daran, dass Spiel- und Neugierverhalten beim Menschen stärker ausgeprägt ist als bei 7 Während die Präferenzen für die akustische Umgebung individuell verschieden sein können und eine vertraute Geräuschkulisse durchaus Sicherheit und Geborgenheit vermitteln kann, ist für visuelle Reize gezeigt worden, dass sie ein hohes Ablenkungspotential haben- - selbst dann, wenn die Aufgabe rein sprachlich ist (z. B. mündliche Beantwortung von Fragen, vgl. Vredeveldt & Perfect 2014). <?page no="79"?> 78 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns Tieren. Im Zusammenhang mit dem Konzept des entspannten Felds wurde allerdings darauf hingewiesen, dass es sowohl der Anregung als auch der Sicherheit bedarf, damit das Kind aktiv neue Situationen und Objekte aufsucht und aus eigenem Antrieb Lernprozesse initiiert. Die Bedeutung dieser Anregung und die Folgen, die entstehen, wenn sie nicht vorhanden ist oder von den Lernenden nicht wahrgenommen wird, werden im nächsten Kapitel behandelt. 3.7 Aufmerksamkeit oder Langeweile: Was passiert im Unterricht? Im vorangegangenen Teil des Kapitels wurde u. a. beleuchtet, wie das Gehirn Aufmerksamkeit herstellt. Auf die Relevanz von gezielter Aufmerksamkeitslenkung und planvollem Lernen neben dem zufallsgesteuerten impliziten Lernen wurde hingewiesen (vgl. auch Kap. 6). Sie gilt im Besonderen für das Lernen in institutionalisierten Kontexten. Lernvorgänge dieser Art bedürfen der Fähigkeit der Aufmerksamkeitsausrichtung. Folglich ist die Fähigkeit zur Aufmerksamkeitsherstellung und -ausrichtung eine Grundbedingung für viele Lernvorgänge, ganz besonders im institutionalisierten Kontext. Im Hinblick auf didaktische Überlegungen ist daher die Frage zu stellen, was passiert, wenn es nicht gelingt, Aufmerksamkeit in Situationen herzustellen, in denen sie vonnöten wäre. 8 In diesem Teilkapitel soll daher Langeweile als ein Zustand jenseits von Aufmerksamkeit genauer betrachtet werden. Langeweile und schulischer Unterricht bilden, das belegen neben anekdotischer Evidenz und Erfahrungswissen auch systematische Studien (vgl. Götz et al. 2007), keine Gegensatzpaare. Es handelt sich sogar um ein im Unterricht aller Schularten, auch schon in der Grundschule (vgl. Lohrmann 2017: 11), „sehr häufig auftretendes Phänomen“ (Götz et al. 2007: 313), dessen Größenordnung sich beziffern lässt: Langeweile betrifft etwa ein Drittel der Unterrichtszeit (vgl. Götz et al. 2007: 314). Folgende Anschlussfragen drängen sich sogleich auf: 1. Ist Langeweile negativ oder positiv, abträglich oder vielleicht sogar zuträglich für Lernprozesse? 2. Tritt Langeweile in allen Schulfächern auf bzw. in welchen Schulfächern? 3. Welche Charakteristika von Unterricht können Langeweile begünstigen? 4. Was machen Schülerinnen und Schüler, wenn sie sich langweilen? 3.7.1 Ist Langeweile positiv oder negativ? Die erste Frage mag überraschen, da Langeweile, spontan subjektiv beurteilt, eher als ein negatives Phänomen erlebt und betrachtet wird. Dennoch gilt es zu bedenken, dass Langeweile einen Zustand niedriger Beanspruchung bezeichnet, was, in einem gewissen Umfang, nicht per se negativ sein muss. Langeweile steht im Gegensatz zu konzentriertem, fokussiertem 8 Daran anknüpfend werden auch einige methodische Impulse zur Förderung von Aufmerksamkeit im Unterricht gegeben, aber zunächst wird im Sinne der angestrebten planvollen Übertragung und Applikation von Wissensbeständen über Betrachtungen zu „Langeweile im Unterricht“ eine Brücke von den Befunden der Neurowissenschaft zur Didaktik und schließlich weiter konkretisierend zu unterrichtsmethodischen Impulsen geschlagen. <?page no="80"?> 79 3.7 Aufmerksamkeit oder Langeweile: Was passiert im Unterricht? Denken und Arbeiten. Gehen Lernende hochfokussiert bei optimaler Passung von Anforderung und Fähigkeit in einer Tätigkeit auf, kann dies als Flow erlebt werden. Flow ist ein Zustand, der „jenseits von Langeweile und Angst“ erreicht werden kann (vgl. Csíkszentmihály 2010) und intensive Erfahrungen und Lernerlebnisse ermöglicht. Langeweile ist also nicht kompatibel mit Flow, könnte jedoch hierzu gegebenenfalls komplementär sein, nämlich dem Gehirn die Möglichkeit bieten, in den sog. Default-Mode zu wechseln (vgl. 5.1) und sozusagen in Ruhe, ohne allzu bedeutsame Impulse von außen bzw. unter deren Ausblendung, Nachbereitungsprozesse zu initiieren bzw. durchzuführen. Denkbar wäre, zumindest hypothetisch gesprochen, dass Langeweile in diesem Sinne entspannend wirkt und es z. B. vermag, kreative Prozesse anzustoßen bzw. diesen eine Sphäre zu bieten, um aufkeimen zu können (zu Chancen des Tagträumens vgl. Ayan 2016) 9 . Zumindest für den schulischen Kontext ist jedoch nicht davon auszugehen, dass Langeweile positive Effekte zeigt: Dass Langeweile als Inkubationsphase im Rahmen kreativer Prozesse gelten kann, möglicherweise Selbstreflexion initiiert, durchaus als erholend und entspannend erlebt werden und evtl. eine evolutionär sinnvolle Hinwendung zu „Aufregenderem“ initiieren kann, mag durchaus seine Berechtigung in der Freizeit haben-- aber ganz gewiss nicht im Unterricht. (Götz et al. 2007: 328) Langeweile ist als ein „mäßig negativer Affekt“ (Götz et al. 2007: 315), als schwach saliente Emotion zu klassifizieren, d. h. Langeweile wird, dafür liegt „kumulative empirische Evidenz [vor,]-[…] [in der Regel] subjektiv-[…] schwach negativ“ erlebt (ebd., vgl. Götz et al. 2007: 319). Langeweile zeichnet sich durch Monotonieerleben aus, was auf mangelnde Stimulation oder mitunter auch auf unzureichende Rezeptivität für Anreize zurückzuführen ist. Langeweile bei zu vielen Stimuli kann übrigens eine Reaktion auf ein Übermaß an Angeboten sein. Das Individuum wendet sich in der Folge von der aktuellen Situation ab (vgl. Lohrmann 2017: 12). „Wird Langeweile im Kontext von Lernen und Leistung erlebt, so kann sie als eine Lern- und Leistungsemotion bezeichnet werden“ (Götz 2012, o. Seitenangabe). Ein wesentliches Merkmal von Langeweile ist die Dilatation der Zeit (vgl. Götz et al. 2007: 313): Sie scheint nicht vergehen zu wollen. Dies ist ein Beispiel für eine der insgesamt fünf Komponenten von Langeweileerleben. Die Komponenten sind, in Orientierung an Götz (2012) gelistet, folgende: ▶ Kognitive Komponente, im Besonderen die Zeitdilatation ▶ Affektive Komponente, die Situation wird in der Regel als unangenehm erlebt 9 Studien, die die Effekte von Phasen des Tagträumens, z. B. als Konsolidierungsphase nach intensivem Generieren von Ideen, untersuchen, weisen vielfach in eine positive Richtung. Bei der Betrachtung der Wissensbestände gilt es jedoch, solche Befunde, die sich auf als angenehm wahrgenommene Offline- Phasen des Tagträumens beziehen, von solchen zu trennen, die das Langeweileerleben als negative Emotion abbilden. <?page no="81"?> 80 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns ▶ Motivationale Komponente, Langeweile ertragen bzw. Strategien zur behavioralen oder mentalen Flucht anwenden (vgl. 3.7.4) ▶ Expressive Komponente, in sich zusammensinken, ins Leere starren ▶ Physiologische Komponente, niedriges Arousal (Aktivierung, Wachheit) Zwei der Studien von Götz et al. (2007), nämlich eine mit Datenerhebung bei Gymnasiasten (Klasse 9) und die andere bei Haupt- und Realschülerinnen und -schülern (Klasse 9), liefern Nachweise dafür, dass Langeweile vorwiegend in Situationen auftritt, die subjektiv als eher unwichtig eingestuft werden (Götz et al. 2007: 324, vgl. auch Lohrmann 2017: 11). 10 Daraus lässt sich zum einen schließen, dass die Chancen auf Enkodierung und weitere Verarbeitung der im Unterricht in korrespondierenden Situationen thematisierten Inhalte als ungünstig einzustufen sind. Die Wahrscheinlichkeit eines positiven Einflusses von Langeweile auf den Lernprozess scheint gering. Daher sind Überlegungen dazu, wie das Langeweileerleben im Unterricht zumindest verringert werden kann, weder abwegig noch überflüssig, und der Wunsch, Langeweile in Lehr-Lern-Kontexten zu vermeiden, ist auch keineswegs neu. Bereits im 17. Jahrhundert empfahl Comenius (zitiert in Lohrmann 2017: 11): „Der Didaktik Regel ist, die Mittel so zu gebrauchen, dass der Fortschritt sei angenehm-[…], ohne Überdruss und Langeweile“. Denn Langeweile „verhindert eine inhaltsbezogene kognitive Aktivierung und ist damit das Gegenteil von situativ erlebtem Interesse“ (Lohrmann 2017: 12). Götz (2012) zufolge ist anzunehmen, „dass Langeweile über eine Reduktion von Aufmerksamkeit und Motivation-[…] zu schlechter Leistung führt.“ Beispielsweise seien für Mathematik Korrelationen zwischen Langeweile und Leistung in „einer Größenordnung von--.20 bis--.30“ nachgewiesen worden (ebd.). Die Erkenntnisse weisen darauf hin, dass bestimmte Unterrichtsmerkmale als Langeweile auslösend oder zumindest begünstigend zu betrachten sind. 10 „72% der Probanden beurteilten die [als langweilig erlebte Unterrichts-] Stunde als eher unwichtig-[…].“ (ebd.). Im Hinblick auf die unterrichtsmethodischen Gegebenheiten der Situationen, in denen die Lernenden Langeweile empfunden haben, wurde am häufigsten, nämlich bei 82 % der Antworten im Interview (vgl. Götz et al. 2007: 322) der Frontalunterricht genannt. Die Studie schlüsselt jedoch nicht auf, welchen Anteil Frontalunterricht in den befragten Klassen in Relation zu sonstigen Sozial- und Unterrichtsformen einnahm bzw. ob sonstige Formen überhaupt in allen Klassen in nennenswertem, dem Frontalunterricht vergleichbaren Maß zum Einsatz kamen. Ferner sind die Merkmale des von den Befragten erlebten Frontalunterrichts nicht abgebildet, da diese nicht Gegenstand der Studie waren, sodass es sich verbietet, an dieser Stelle unzulässig vereinfachende oder generalisierende Rückschlüsse auf den Frontalunterricht zu ziehen. <?page no="82"?> 81 3.7 Aufmerksamkeit oder Langeweile: Was passiert im Unterricht? 3.7.2 Tritt Langeweile in allen Schulfächern auf? Über die eingangs gestellte zweite Frage, nämlich die nach dem Auftreten von Langeweile in unterschiedlichen Unterrichtsfächern, soll eine erste Annäherung über die didaktisch überaus relevante Frage nach den Merkmalen von Unterricht geleistet werden, die das Aufkommen von Langeweile fördern könnten. Das Ansetzen bei verschiedenen Schulfächern erlaubt es, das mit den Fächern korrespondierende Vorkommen bzw. die Intensität von Langeweile vergleichend zu betrachten und diese Befunde in Verbindung zu setzen mit Charakteristika der jeweiligen Unterrichtsfächer, wie z. B. Stoffmenge, Relevanz des Faches, Lebensweltbezug, Abwechslungsreichtum. Allerdings ist die Forschungslage zur Frage nach Charakteristika von Unterrichtsfächern noch in Verdichtung befindlich, und einige der bereits vorliegenden Studien weisen methodische Begrenzungen auf, z. B. dergestalt, dass nur einzelne Fächer aus domänenspezifischer Sicht betrachtet werden oder dass es „an fundierten Begründungen für die untersuchten Kategorien“ mangelt (Haag & Götz 2012: 36). Um einige begründete Aussagen zu Charakteristika verschiedener Unterrichtsfächer treffen zu können, wird im Folgenden auf die Studie von Haag & Götz (2012) Bezug genommen. Sie ermöglicht einen Vergleich von sieben Fächern (Mathematik, Physik, Deutsch, Englisch, Biologie, Geschichte, Musik). Wesentliche Bildungsbereiche des schulischen Fachunterrichts sind darin jeweils exemplarisch durch Einzelfächer repräsentiert. Die Studie basiert auf Daten von mehr als 1000 Gymnasiasten. Ihr war außerdem eine „explorative Interviewstudie und eine Fragebogenstudie“ vorausgegangen (ebd.). Gekoppelt mit den von Götz (2012) referierten Befunden zum Erleben von Langeweile, Angst und Freude in den o. g. Unterrichtsfächern, können sodann über diesen Knotenpunkt in den Wissensbeständen einige aus didaktischer Sicht interessante Aussagen gemacht werden. In allen sieben Unterrichtsfächern wird Langeweile erlebt und zwar, auf einer Skala von 1 (gar nicht) bis 5 (sehr stark) in keinem Fach nennenswert unter 3. „Der Wert 3 ist hierbei ein Ankerpunkt, da er theoretischer Mittelwert aller Skalen ist“ (Haag & Götz 2012: 38). Dies bedeutet, dass das Langeweileerleben in einem Bereich liegt, der zu denken gibt und dass sich Langeweile „tatsächlich als ein Alltagsphänomen von Schule und Unterricht erweist“ (Lohrmann 2017: 11). Die Eingangsfrage, ob Langeweile in allen Fächern auftritt, muss, zumindest für diese sieben Fächer, bejaht und zugleich differenziert betrachtet werden, denn im Hinblick auf Langeweile gibt es Unterschiede zwischen den Fächern: Am stärksten ist Langeweile im Fach Musik ausgeprägt, mit einem gewissen Abstand gefolgt von Physik, Mathematik und Deutsch, drei Fächer zwischen denen sich hinsichtlich des Langeweileerlebens kaum Unterschiede zeigen. Etwas geringer ausgeprägt ist Langeweile in den Fächern Englisch und Biologie (vgl. Götz 2012). Betrachtet man die Mittelwerte zu Langeweile zusammen mit denen zum Angsterleben in den o. g. Unterrichtsfächern, so ergibt sich ein besonders ungünstiges Bild für das Fach Mathematik (vgl. Kap. 4): „Insgesamt zeigt sich für Mathematik ein aus emotionaler Perspektive ungünstiges Muster“ (Götz 2012, ohne Seitenangabe). Auch das Erleben von Freude erreicht in Mathematik keine hohen Werte. „Angst ist im Fach Mathematik im Vergleich zu den anderen Fächern stark ausgeprägt und Freude hingegen relativ gering“ (ebd.). <?page no="83"?> 82 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns Das Angsterleben ist also im Fach Mathematik am stärksten ausgeprägt, gefolgt mit kleinem Abstand von Physik sowie, mit größerem Abstand und auf der Skala deutlich dichter bei 2 liegend, Englisch, Deutsch und Geschichte, die, was die Ausprägung von Angst betrifft, dicht beieinanderliegen. Knapp unter 2 liegt Biologie und am geringsten ausgeprägt ist Angst im Fach Musik. Für die sieben untersuchten Unterrichtsfächer lassen sich die Ergebnisse wie folgt verdichten: ▶ Mathematik: Langeweile vergleichsweise stark ausgeprägt, Angst stärker ausgeprägt als in den anderen sechs Fächern, Freude im Vergleich zu den anderen Fächern am geringsten ausgeprägt, wobei sich Mathematik und Physik in dieser Hinsicht kaum unterscheiden. 47 ▶ Physik: Langeweile relativ stark ausgeprägt, Angst im Vergleich zu den anderen Fächern ebenfalls stark ausgeprägt, Freude vergleichsweise schwach ausgeprägt. ▶ Deutsch: Langeweile relativ stark ausgeprägt, Angst im Vergleich zu den anderen Fächern im mittleren Bereich, Freude nach Biologie und Englisch am drittstärksten ausgeprägt. ▶ Englisch: Langeweile im Vergleich weniger stark ausgeprägt, Angst im mittleren Bereich, Freude stark ausgeprägt. ▶ Biologie: Langeweile im Vergleich zu den anderen Fächern weniger stark ausgeprägt (sehr geringer Unterschied zu Englisch), Angst gering ausgeprägt (lediglich in Musik noch geringer), bei Freude höchster Wert. ▶ Geschichte: Langeweile relativ stark ausgeprägt, Angst ähnlich stark wir in Englisch und Deutsch, Freude im Vergleich zu den anderen Fächern im mittleren Feld, etwas weniger stark ausgeprägt als in Deutsch, etwas mehr als in Musik ▶ Musik: Im Vergleich zu den anderen Fächern Langeweile am stärksten ausgeprägt, Angst am geringsten, Freude ähnlich wie bei Geschichte ausgeprägt, etwas geringer. Basierend auf den oben genannten Quellen ergibt sich besonders für Biologie ein günstiges emotionales Muster, ein nahezu ebenso günstiges auch für Englisch, während die Muster für Physik und, wie schon gesagt, Mathematik ungünstig ausfallen. 11 Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass der Wert für Freude in beiden Fällen nicht allzu weit unter dem o. g. Ankerpunkt bleibt, er tendiert also nicht gegen Null. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass das Ergebnis im Vergleich zu anderen Unterrichtsfächern ein ungünstiges ist und auf Optimierungsbedarf hinweist (zu Emotionen vgl. Kap. 4). <?page no="84"?> 83 3.7 Aufmerksamkeit oder Langeweile: Was passiert im Unterricht? 3.7.3 Welche Charakteristika von Unterricht könnten Langeweile begünstigen? Warum zeigen die Unterrichtsfächer unterschiedliche Muster und warum scheinen manche, in o. g. Erhebung besonders Musik, Physik und Mathematik, mehr als andere Unterrichtsfächer ein regelrechter Nährboden für Langeweile zu sein? Bei dem Versuch, diese Fragen zu beantworten, ist die Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler, ihre Erfahrungen damit, was die einzelnen Schulfächer auszeichnet, d. h. ihr mentales Konzept samt emotionalem Erlebensprofil von den Fächern, von großer Bedeutung. Basierend auf den Ergebnissen ihrer Fragebogenerhebung bei einer beachtlichen Stichprobe (N- = 1228, Klassen 8 und 11) gelang es Haag & Götz (2012) via Korrespondenzanalyse, die Unterrichtsfächer gemäß der Kategorien zu clustern, bei denen sie sich platzieren, da diese als Merkmale des Faches von den Befragten gekennzeichnet wurden. Englisch und Deutsch bilden ein Cluster, mit ihnen korrespondieren „vor allem die Kategorien „Abwechslung“, „Meinungsaustausch“, „aktuelle Themen“ und „Alltagsbezug“ “ (Haag & Götz 2012: 41). Ein weiteres Cluster wird von Mathematik und Physik gebildet, bei denen sich die „Kategorien „Veranschaulichung“, „richtige Lösung“, „Schwierigkeit“, „Stoffmenge“ und „Zusammenhang der Themen“-[…] gruppieren“ (ebd.). Biologie zeichnet sich hinsichtlich der Charakteristika des Faches durch Nähe zum Cluster Mathematik und Physik aus, liegt aber zugleich „nicht allzu weit von den Merkmalen des Deutsch / Englisch-Clusters entfernt“ (ebd.). Musik und Geschichte fallen gewissermaßen aus den sich abzeichnenden Clustern heraus: Die sich ergebenden Profile weisen „sehr wenige Ähnlichkeiten zu den Profilen der anderen Fächer auf “ (ebd.) und gerade für Geschichte ist es schwierig, etwas Zusammenfassendes anzumerken. Auffallend und im Hinblick auf Langeweile im Unterricht wohl nicht unerheblich ist jedoch, dass in Geschichte u. a. die Mittelwerte für Alltagsbezug, Veranschaulichung, aktuelle Themen und Abwechslung unter dem Ankerpunkt von 3 bleiben. In Deutsch beispielsweise liegen sie alle, mit einer Ausnahme (Veranschaulichung), über 3. Den zweiten Ausreißer bildet das Fach Musik, das laut Schülereinschätzung „mit Abstand unwichtigste Fach-[…] (M = 2.18; SD = 1.35)“, dem übrigens „Englisch als das mit Abstand wichtigste (M = 4.17; SD = 1.00)“ Fach gegenübersteht (ebd.). Auch für Musik liegen die Mittelwerte für Alltagsbezug, Veranschaulichung, aktuelle Themen und Abwechslung unter 3 (vgl. Haag & Götz 2012: 40), sogar noch deutlicher als für Geschichte. 12 Hier scheint sich bei den niedrig bewerteten Merkmalen eine Parallele herauszukristallisieren. In ihrer Studie mit Grundschulkindern sammelte Lohrmann (2008) durch die von ihr generierten Daten Hinweise zu langeweileinduzierenden Situationen im Unterricht auf der Primarstufe. Ihre Studie ermöglicht es, ergänzend zu den bereits referierten Wissensbestän- 12 Erstaunlich und besonders nachdenklich stimmend ist, dass es aus Schülersicht im Fach Musik kaum gelingt, einen Alltagsbezug herzustellen, obschon Musik zweifellos ein Bestandteil des täglichen Lebens der meisten Schülerinnen und Schüler ist. Beispielsweise belegen Erhebungen zur Smartphonenutzung, dass Jugendliche ihr Handy neben dem Versenden und Empfangen von Nachrichten am häufigsten zum Abspielen von Musik nutzen (für weitere Quellen und eine Zusammenfassung vgl. Böttger & Sambanis 2017: 36 ff.). Auch der Mittelwert für die Hilfsmittelbenutzung bleibt beim Schulfach Musik erstaunlicherweise unter 3. <?page no="85"?> 84 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns den, schulfachunabhängig einige Merkmale von Unterrichtssituationen zu benennen, die im Hinblick auf Langeweile von Bedeutung sein können: ▶ Unterforderung ▶ Überforderung ▶ Wiederholung 13 ▶ methodische Monotonie ▶ ungenutzte Lernzeit ▶ fehlende Disziplin ▶ fehlende Lehrer-Schüler-Interaktion (zitiert nach Lohrmann 2008: 71). 3.7.4 Was machen Schülerinnen und Schüler, wenn sie sich langweilen? In Orientierung an „etablierte[n] Taxonomien zu Verhaltensweisen der Stressbewältigung“ unterscheiden Götz et al. (2007: 315) drei Formen der Bewältigung, nämlich problem-, emotions- und meidensorientierte Copingstrategien. Die ersten beiden können zumeist als lern- und leistungsförderlich eingestuft werden. Als Beispiel für eine problemorientierte Bewältigungsstrategie kann die Refokussierung bzw. Intensivierung der Aufmerksamkeit genannt werden (vgl. 3.5 und 3.6). Eine förderliche emotionsorientierte Copingstrategie wäre das Herbeiführen einer „Veränderung des Langeweileerlebens-[…] z. B. durch Sich-Strecken“ (Götz et al. 2007: 316, zu Bewegung als Ausgleich vgl. 5.1). Dies weist auf energetische Aspekte von Aufmerksamkeit hin, wie sie unter 3.2 dargestellt wurden und macht einen Vorschlag, wie z. B. durch Langeweilempfinden induzierte Ermüdung durchbrochen werden kann. Eine meidensorientierte Form der Bewältigung stellt die gedankliche oder körperliche Flucht aus der Situation dar, Letzteres z. B. durch einen Toilettengang während des Unterrichts. Flucht aus der Situation oder andere meidensorientierte Formen der Bewältigung wirken sich natürlich nicht lernförderlich aus. Viele Schülerinnen und Schüler wenden gar keine der Copingstrategien an, sondern ertragen die Langeweile einfach, Götz et al. zufolge „ein besorgniserregendes Ergebnis“ (2007: 328). Das Ertragen von Langeweile ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass Langeweile zumeist lediglich als schwach negative Emotion wahrgenommen wird, d. h. der Handlungsdruck ist entsprechend moderat: Relativ viele Schülerinnen und Schüler zeigen keine Regulationsaktivitäten und nennen im Fall einer Regulation fast ausschließlich Bewältigungsstrategien, die als nicht lern- und leistungsförderlich zu bezeichnen sind. (Götz et al. 2007: 327) Ferner sind die Einflussmöglichkeiten der Lernenden im Hinblick auf ein Modifizieren der Situation, in der Langeweile empfunden wird, zumeist eingeschränkt, was wohl ein weiterer Grund dafür ist, dass die Schülerinnen und Schüler gar nicht tätig werden. Je nachdem, wel- 13 Warum das Gehirn dem Wiederholen von Lerninhalten eigentlich eher ablehnend gegenübersteht und welche Maßnahmen ergriffen werden können, wird in 6.7.1 dargelegt. <?page no="86"?> 85 3.7 Aufmerksamkeit oder Langeweile: Was passiert im Unterricht? che Möglichkeiten ihnen der umgebende Kontext bietet, versuchen Menschen mit Langeweile umzugehen, sich mit ihr zu arrangieren oder ihr zu entfliehen. Eine Forschergruppe um den amerikanischen Psychologen Wilson publizierte 2014 in Science einen Artikel, der 11 Studien umreißt und deren Ergebnisse knapp darstellt. Die Studien untersuchen Aspekte der Frage, was Menschen tun, wenn sie ihren eigenen Gedanken überlassen bleiben: Langweilen sie sich oder empfinden sie die Gedankenspaziergänge als angenehm? In Studie 10 der Reihe wurden Probanden in einen leeren Raum geführt und gebeten, dort wartend ihren Gedanken freien Lauf zu lassen, „to entertain themselves with their thoughts (in this case for 15 minutes)“ (Wilson et al. 2014: 76). In dem Raum gab es keine Anregungen, Handys und andere persönlichen Gegenstände mussten vorher abgegeben werden, es gab keine Zeitschriften oder dergleichen zum Füllen der dead time, nichts neben den eigenen Gedanken und einem Elektroschocker als „opportunity to experience negative stimulation (an electric shock) if they so desired“ (ebd.). Die Frage war nun, ob es den Probanden gelänge, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen und den „inward-directed thought, called default-mode processing“ als „enjoyable“ (Wilson et al. 2014: 75) zu erleben, d. h. keinen lastenden Leerlauf, keine Langeweile zu empfinden und folglich auch keine Ablenkung und Flucht daraus zu suchen. Innerhalb der nur 15 Minuten Wartezeit hatten sich etwa zwei Drittel der männlichen Probanden (67 %, Wilson et al. 2014: 76) und ein Viertel der weiblichen Probanden selbst mindestens einen Stromschlag versetzt, einer der Probanden brachte es auf 190 Elektroschocks (vgl. ebd.)-- aus purer Langeweile, genauer gesagt, um der Langeweile zu entfliehen und das, obwohl sie wussten, dass die Stromschläge nicht angenehm sein würden und eigentlich das Wandernlassen der Gedanken anempfohlen worden war. Unternehmen Lernende etwas gegen die Langeweile, anstatt sie zu erdulden, so versuchen sie sich ebenfalls am häufigsten durch Ersatztätigkeiten abzulenken, allerdings glücklicherweise nicht durch Elektroschocks, sondern z. B. durch Zeichnen oder das Kommunizieren mit dem Nebensitzenden (individuelle bzw. interaktive Ablenkung). Beide Varianten der Ablenkung stellen eine Flucht aus der Situation dar, zählen also zu den meidensorientierten Strategien, die nicht als lernförderlich eingestuft werden. Es gibt Hinweise darauf, dass sich Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Schularten in dieser Hinsicht wenig unterscheiden: Die Stichprobe von Götz et al. (2007) setzte sich aus Lernenden an Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien zusammen. Das „Häufigkeitsmuster [für die zur Anwendung kommenden Strategien zum Umgang mit Langeweile ist] für die drei Schularten sehr ähnlich“ (Götz et al. 2007: 227). Im Bereich der problemorientierten Copingstrategien gaben die Befragten an, bei aufkommender Langeweile gelegentlich den Versuch zu unternehmen, die Aufmerksamkeit wieder auf das Unterrichtsgeschehen zu fokussieren (zu exekutiver Aufmerksamkeit vgl. 3.3.2). Vereinzelt gab es außerdem Hinweise auf problemorientierte Bewältigungsversuche in Form von Unterrichtsstörungen, Zwischenrufen etc., die in der Hoffnung getätigt wurden, dadurch etwas zu ändern (vgl. ebd.). Nur wenige Schülerinnen und Schüler gaben an, Formen der emotionsorientierten Bewältigung von Langeweile anzuwenden, wie z. B. das Nutzen von als langweilig empfundenen Situationen zur Erholung. <?page no="87"?> 86 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns Langeweile im Kontext Schule ist als „eine nicht verantwortbare Verschwendung wertvoller Humanressourcen“ zu betrachten (Götz et al. 2007: 328). 14 Überdies birgt Langeweile die Gefahr, sich zu generalisieren, d. h. sich letztlich auf ganze Inhaltsbereiche oder Unterrichtsfächer zu beziehen. Schon bei Grundschulkindern zeichne sich ab, dass Langeweile im Unterricht die „vielfach hoch ausgeprägte Schul- und Lernfreude- […] reduzieren und die weitere Einstellung gegenüber Schule und Lernen prägen kann“ (Lohrmann 2017: 11). Selbst wenn es wohl nicht gelingen wird (und möglicherweise auch nicht zu 100 % muss), Langeweile komplett aus Schule und Unterricht zu verbannen, ein simples Hinnehmen von Langeweile als Begleiterscheinung schulischen Unterrichts stellt sich auf keinen Fall als produktiver Ansatz dar. Aus diesem Grund werden im Folgenden einige Überlegungen zu möglichen Maßnahmen angestellt, gefolgt von ersten pragmatischen Vorschlägen, die die Brücke zu dem das Teilkapitel abschließenden Praxisfenster schlagen und dort exemplarisch konkretisiert werden. 3.7.5 Was tun? - Maßnahmen gegen Langeweile Sowohl die Lehrkraft als auch die Schülerinnen und Schüler können dazu beitragen, dass Langeweile im Unterricht reduziert bzw., falls sie auftritt, möglichst oft auf förderliche Weise reguliert werden kann. In der Fachliteratur wird vorrangig zur Prävention geraten, wobei hierzu vor allem die Lehrkraft durch die Unterrichtsplanung, die Auswahl und Aufbereitung von Materialien usw. beitragen kann. Denn anders als z. B. bei Prüfungsangst, „deren Ursache primär [, wenn auch nicht ausschließlich,] den Schülerinnen und Schülern im Sinne eines Persönlichkeitsmerkmals zugeschrieben wird-[…], werden die Ursachen von Langeweile im Unterricht wohl primär in langweiligem Unterricht- […] gesehen“ (Götz et al. 2007: 329). 15 Eine Beschränkung auf die Lehrkraft greift aber zu kurz, weswegen im Folgenden alle Akteure im Klassenzimmer in den Blick genommen werden. Maßnahmen, die die Lehrkraft ergreifen kann: ▶ Differenzierende und individualisierende Unterrichtsangebote einsetzen, um Langeweile durch Unter- oder Überforderung zu vermeiden bzw. auszubalancieren. ▶ Bedeutsamkeit der Unterrichtsinhalte und der Unterrichtsaktivitäten erhöhen (vgl. u. a. Grein 2013: 11), z. B. indem „auf die Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler gezielte-[…] Elaborations- und Transferaktivitäten“ (Götz et al. 2007: 329) initiiert werden. 14 Während z. B. Götz et al. (2007) von, wie oben referiert, negativen Zusammenhängen zwischen Langeweile und Leistung ausgehen, gibt es andere Studien, z. B. Gläser-Zikuda (2001), in denen Zusammenhänge nicht bzw. nicht klar nachgewiesen werden konnten. Ein negativer Zusammenhang ist jedoch wahrscheinlich und plausibel. 15 Warum manche Jugendliche häufig antriebslos wirken und sich mitunter selbst durch anregende und vielfältige Unterrichtsangebote nur streckenweise aus der Lethargie reißen lassen, wird in Böttger & Sambanis (2017: 68 ff.) dargelegt (vgl. außerdem im vorliegenden Band 2.6). <?page no="88"?> 87 3.7 Aufmerksamkeit oder Langeweile: Was passiert im Unterricht? ▶ Begeisterung zeigen: Mit ihrer passion kann die Lehrkraft beeindrucken und motivieren: “Passion-[…] can be infectious-[…]. It is among the most prized outcomes of schooling and-[…] it influences many of the influences that make the difference to the outcomes” (Hattie 2012: 16). Im Grunde ist diese Leidenschaft der Lehrkraft-[…] eine Art Meta-Einflussfaktor auf schulisches Lernen insgesamt. Es besteht Grund zu der Annahme, dass die Leidenschaft, mit der die Lehrkraft unterrichtet, auf die emotionale Bereitschaft der Lernenden, am Unterricht teilzunehmen, rückwirkt-[…]. (Böttger & Sambanis 2017: 71) Tatsächlich belegen „Befunde aus der Lehr- und Lern-Forschung- […], dass Lehrkräften, die begeistert unterrichten, eine bessere Unterrichtsgestaltung gelingt“ (Textor 2017: 5). Beachtenswert und für die Didaktik von besonderer Relevanz ist, dass „diese Befunde nur für den Unterrichtsenthusiasmus, also die Begeisterung für die Tätigkeit des Unterrichtens, nicht für den Fachenthusiasmus“ der Lehrkraft gelten (Textor 2017: 5). ▶ Unterricht interessenförderlich gestalten, d. h. insbesondere „Anreize zur Entstehung situationalen Interesses“ (Großmann & Wilde 2017: 17) setzen. Interesse lässt sich als „Beziehung zwischen einer Person und einem Gegenstand beschreiben“ (Großmann & Wilde 2017: 16). Insbesondere in naturwissenschaftlichen Fächern sei über die Schulzeit hinweg ein Absinken des Fachinteresses zu beobachten (vgl. ebd.), was zu vermehrtem Langeweileerleben führen kann. Die Idee, diesem Absinken durch interesseförderlichen Unterricht entgegenzuwirken, scheint keineswegs abwegig, allerdings ist im Sinne einer realistischen Zielsetzung zwischen dem o. g. stituationalen Interesse und einem längerfristigen, sogar dauerhaften Interesse an einem Gegenstand bzw. an einem Schulfach allgemein zu unterscheiden. Letzteres muss als Disposition betrachtet werden. Das individuelle, dispositionale Interesse prägt sich oft jenseits der Schule aus (vgl. Großmann & Wilde 2017: 17) und ist durch Unterrichtsangebote kaum spontan zu beeinflussen. Den geeigneten Ansatzpunkt bilden daher situationale Interessenslagen. Es sei „ein realistisches Ziel“ (ebd.), selbst bei „geringen (oder gar keinen) dispositionalen Interesseausprägungen“ positive Interessenszustände herbeiführen zu wollen. Entscheidend für ein Gelingen von Interessenförderung seien eine anregende Lernumgebung, der Einsatz von catch-Momenten im Unterricht, z. B. „durch Überraschungsmomente oder Diskrepanzerleben“ sowie einer „hold-Komponente“ zur „Aufrechterhaltung des situationalen Interesses-[…] [vor allem durch] motivationale Anreize in der Unterrichtsgestaltung und der didaktischen Aufbereitung des Arbeitsmaterials“ (Großmann & Wilde 2017: 17-18). Auch die weiter oben thematisierte Begeisterung und Freude der Lehrkraft am Unterrichten, die Erhöhung der Bedeutsamkeit der Inhalte usw. können zur Aufrechterhaltung des situationalen Interesses beitragen. ▶ Psychologische Grundbedürfnisse der Lernenden berücksichtigen, d. h. Autonomie, Kompetenzerleben und soziale Eingebundenheit (zur Selbstbestimmungstheorie vgl. 4.5). „Aus Studien zur Befriedigung der psychologischen Grundbedürfnisse können verschiedene Gestaltungshinweise-[…] abgeleitet werden“ (Großmann & Wilde 2017: 18), <?page no="89"?> 88 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns u. a. sprechen für den Einsatz von kooperativen Lernformen, aber auch für das Schaffen von Entscheidungs- und Wahlmöglichkeiten: Die Biologiedidaktikerin Inga Desch und ihre Kollegen (2016) zeigten am Biologieunterricht der Sekundarstufe I, dass durch das Gewähren von inhaltlichen Wahlmöglichkeiten das situationale (bzw. aktualisierte) Interesse sowohl von Schülerinnen und Schülern mit hohem als auch von Schülerinnen und Schülern mit niedrigem individuellem Interesse am Fach positiv beeinflusst werden kann. (Großmann & Wilde 2017: 19) Ergänzend sei im Zusammenhang mit der Frage nach Ansatzpunkten und Maßnahmen gegen Langeweile erwähnt, dass sich die fünf Fächer, in denen Langeweile laut der Erhebung von Götz (2012) am stärksten ausgeprägt ist (Musik, Physik, Mathematik, Deutsch und Geschichte) in folgenden Kategorien durch Mittelwerte unter oder nur geringfügig über 3, dem Ankerwert, auszeichnen (vgl. Haag & Götz 2012). Auch sie liefern somit Hinweise darauf, wo Maßnahmen ansetzen könnten: ▶ Alltagsbezug ▶ aktuelle Themen ▶ Meinungsaustausch ▶ Abwechslung Maßnahmen, die die Schülerinnen und Schüler ergreifen können: ▶ „Langeweile als Herausforderung sehen“ (Götz 2012, ohne Seitenangabe), d. h. die eigene Einstellung überdenken. Schule ist keine Unterhaltungsshow, sondern Unterricht bedeutet Interaktion, teilnehmen, sich einbringen, mitgestalten und bei möglicherweise dennoch aufkommender Langeweile, den Handlungsbedarf nicht sofort oder ausschließlich bei der Lehrkraft zu sehen, sondern sich selbst auch auf förderliche Copingstrategien zu besinnen, die angewendet werden können. ▶ Sich über förderliche Formen der Bewältigung von Langeweile im Unterricht austauschen, sodass die Schülerinnen und Schüler in kognitiver und emotionaler Sicht günstigere Alternativen kennenlernen und anwenden können. Götz et al. (2007) weisen zu Recht darauf hin, dass ein Thematisieren von Langeweile und geeigneten Bewältigungsstrategien als Eingeständnis der Lehrkraft gedeutet werden könnte, dass ihr Unterricht langweilig sei. Sie empfehlen daher, beim Thema Heterogenität anzusetzen und der Klasse vor diesem Hintergrund aufzuzeigen, dass es selbst im abwechslungsreichsten Unterricht Momente geben könne, die von manchen subjektiv als langweilig empfunden werden. Sollte es dazu kommen, ist oftmals zunächst ein gewisses Maß an Geduld und Zurückhaltung, also Inhibition (zu exekutiven Funktionen vgl. 3.5.2 und 3.6), aus Rücksicht und Respekt vor den anderen geboten. Ein Verharren in purer Erduldung muss hingegen nicht sein, da Langeweile durch das Ergreifen von Bewältigungsstrategien vielfach ausbalanciert werden kann. Ähnlich, wie es Modelle zur Vermittlung von Lernstrategien, z. B. das von Kleppin & Tönshoff (1998), nahelegen, erscheint es auch im Hinblick auf förderliche Strategien zum Umgang mit Langeweile erfolgversprechender, ein systematisches Vorgehen anzuwenden als <?page no="90"?> 89 3.7 Aufmerksamkeit oder Langeweile: Was passiert im Unterricht? ein intuitives, wiederholtes und dann oftmals selbst Langeweile auslösendes „Wiederkäuen“ der Problematik: 16 1. Bei den Lernenden ein Bewusstsein für die bei aufkommender Langeweile von ihnen eingesetzten Strategien sowie für deren Effekte auf den Lernfortschritt und das Erleben der Situation herbeiführen. 2. Vorstellen alternativer Strategien und ihrer Wirkung auf Kognition und Emotionen. 3. Hinweise von den Lernenden einholen, welche für die Lehrkraft als Impulse zur Entwicklung präventiver Maßnahmen wertvoll sein können, ggf. Vereinbarung eines Signals, wenn im Unterricht dringend eine kurze Bewegungspause gebraucht wird. 4. Anwenden der Strategien und gemeinsames Reflektieren zu gegebener Zeit, evtl. kann sich ein Aktionsforschungsprojekt anschließen, um besonders wirksame Strategien zu identifizieren bzw. mehr über die Wirkung einzelner Maßnahmen auf die jeweilige Klasse zu erfahren. Abschließend und als Brücke zum Praxisfenster werden im Folgenden einige grundlegende, auf die Vermeidung bzw. ein unterrichtsmethodisches Abfedern von Langeweile zielende Vorschläge für die Lehrkraft unterbreitet: ▶ Unterrichtsmethodischer Monotonie entgegenwirken: Auf einen geeigneten Wechsel von Sozialformen und Interaktionskonstellationen, Aufgabenformaten, Material- und Medieneinsatz usw. sowie auf Ausgleichsmöglichkeiten nach längeren Phasen des Arbeitens im Sitzen achten. ▶ Dem Unterricht ein angemessenes Tempo geben: Manchmal ist es wichtig, „dem Lernen Zeit zu geben“ (Lohrmann 2017: 13), damit sich die Schülerinnen und Schüler ungehetzt auf Inhalte einlassen, sich in Aufgaben, Texte usw. vertiefen können. Es ist richtig, dass Lernprozesse Zeit brauchen, aber es ist nicht zielführend, ihnen „einfach nur mehr Zeit“ zu geben, vielmehr bedarf es „gut und sinnvoll gestalteter Zeit“ (Lohrmann 2017: 10). Das bedeutet, Leerläufe, ungenutzte Lernzeiten und unnötige Längen im Unterricht zu identifizieren und Handlungsstrategien zu entwickeln. Denn ineffiziente Zeitnutzung kann Langeweile begünstigen (vgl. u. a. Lohrmann 2008: 71). Um ein angemessenes Unterrichtstempo, sozusagen ein gutes „Lauftempo“ zu erreichen, ohne Hektik, aber auch ohne große Trödelei-- sowohl Unterals auch Überforderung kann Langeweile induzieren 17 -, empfiehlt es sich, z. B. Input-Phasen gut zu strukturieren. Geeignete Visualisierungen sowie das Schaffen von Klarheit im „Hinblick auf Ziele, Inhalte, Methoden und Medien“ (Zierer 2015: 62) sorgen dafür, dass Lernende Input nicht als Geduldsprobe erleben müssen und dass die Unterrichtsphasen zeitlich nicht ausufern (zu Kriterien guter direct instruction vgl. Hattie 2009, Zierer 2015). Auch 16 Bei diesem Vorgehen zum Entdecken und Entwickeln von Strategien bei Langeweile bzw. zu deren Vermeidung, erhalten Lernende und die Lehrkraft voneinander Hinweise und stellen sich gemeinsam der Herausforderung. 17 In der Studie von Lohrmann (2008: 71) bei Drittklässlern ist Unterforderung die „am häufigsten genannte Ursache von Langeweile“. <?page no="91"?> 90 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns bei der Gestaltung von Wiederholungsphasen sollten diese Kriterien berücksichtigt sowie Maßnahmen zur Differenzierung ergriffen werden, denn auch Wiederholungen können, darauf weisen Studien wie die von Lohrmann (2008) hin, Langeweile induzieren. ▶ Redezeiten im Blick behalten: „Teachers talk between 70 and 80 per cent of class time, on average“, denn, so Hattie (2012: 72), „Teachers love to talk“. Viele Lehrende tendieren dazu, das Unterrichtsgeschehen dadurch in Schwung zu halten, dass sie selbst viel sprechen. Diese Tendenz, als Lehrkraft viel zu reden, um, bildlich gesprochen, den Wagen am Rollen zu halten, wird u. a. durch Befunde gestützt, die belegen, dass Lehrkräfte umso mehr selbst sprechen, je weniger Schülerinnen und Schüler in der Klasse sind (vgl. ebd.). Dies scheint einerseits paradox, denn bei weniger Kindern im Klassenzimmer wären die Bedingungen optimal, um jeden Lernenden viel zu Wort kommen zu lassen und sich selbst zurückzunehmen. Andererseits ist es aber auch nachvollziehbar, dass Lehrkräfte gerade dann nicht weniger sprechen, denn bei weniger Schülerinnen und Schülern scheint die Gefahr, dass das Unterrichtsgespräch versiegt, größer. Besonders lange Lehrermonologe können aber Langeweile begünstigen, daher ist es ratsam, einen kritischen Blick auf die Redeanteile zu werfen und methodische Alternativen zu nutzen, insbesondere je nach Fach und Unterrichtsgegenstand passende Möglichkeiten zur Schülerbeteiligung. Ziel ist es, eine „diskursive Unterrichtskultur“ (Lohrmann 2017: 13) zu schaffen, denn durch die Beteiligung der Lernenden kann „kognitive Aktivierung-[…] [erreicht und] das gedankliche Ausscheiden aus der Lernsituation“ verhindert werden. ▶ Strategien anwenden, anstatt in Passivität zu erstarren oder kollektiv zu lamentieren: Oben wurde gezeigt, dass im Hinblick auf Langeweile im Unterricht Handlungsbedarf besteht und es wurden Maßnahmen vorgestellt, die lehrer- und schülerseitig ergriffen werden können, um handlungsfähig zu werden und, falls bzw. wann immer nötig, auf eine Optimierung hinzuwirken. Das Verstricken in wiederkehrende Lamentos hingegen erscheint in diesem wie auch in anderen Kontexten als wenig fruchtbar. Im Übrigen ist, das sei ergänzend erwähnt, Langeweile keine Ausrede für schlechtes Benehmen und grenzüberschreitendes Verhalten (siehe oben zu Rücksichtnahme, Geduld und Respekt vor anderen). Auch Unterrichtssituationen, die durch fehlende Disziplin geprägt sind, werden von Schülerinnen und Schülern als Langeweile induzierend klassifiziert (vgl. Lohrmann 2008: 71). ▶ Notbremse ziehen: Sollte es einmal gar nicht gelingen, die Lernenden zu aktivieren und zu interessieren, sollten Langeweile und Antriebslosigkeit trotz aller Maßnahmen wider Erwarten fortbestehen, dann ist von einem besonders ungünstigen Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren auszugehen. Die Lehrkraft kann in einem solchen Fall die Notbremse ziehen, d. h. sich von der Unterrichtsstunde, wie sie eigentlich geplant war, komplett lösen und dadurch einen freien Blick dafür gewinnen, was angesichts der aktuellen Lage und Tagesform der Lernenden machbar erscheint. Notbremsungen können in solchen Fällen auf alle Beteiligten befreiend wirken, auch auf die Lehrkraft, aber sie sollten nicht zur Gewohnheit werden, sondern die letztmögliche Maßnahme bleiben. <?page no="92"?> 91 3.7 Aufmerksamkeit oder Langeweile: Was passiert im Unterricht?  Praxisfenster Peter: Ich möchte gleich etwas zu dem Ziehen der Notbremse sagen: Eine der Studien, von denen berichtet wurde, hat ja ergeben, dass fehlende Lehrer-Schüler-Interaktion Langeweile induzieren kann, wie es im Fachjargon so schön heißt. Genau das ist meiner Erfahrung nach oft das Problem, wenn man eine methodische Notbremsung im Unterricht vornehmen muss. Manchmal herrscht völlige Flaute im Klassenzimmer, alle sind müde und antriebslos und es will einfach keine Interaktion zustande kommen. Das kommt z. B. nach einer schweren Klausur oder an sehr heißen Sommertagen eben manchmal vor. Man kann dann schon mal einen radikalen Schnitt machen, bei gutem Wetter nach draußen gehen und dort, je nach Schüleralter und Fach, etwas spielerisch wiederholen oder sich mit der Klasse über ein Thema austauschen. Ich verwende diese Maßnahme allerdings sparsam, weil ich nicht das Signal setzen möchte, dass man bei jeder kleinen Stagnation im Unterricht sofort nach draußen rennen müsste. Claudia: Ja, es darf nicht zu einem Fluchtmechanismus werden, zumal wir aufkommender Langeweile mit förderlichen Strategien begegnen wollen und Flucht ist, wie wir gehört haben, nicht förderlich. Aber welche Ideen haben wir denn für das Umsteuern nach einer Notbremsung? Wie könnte es gelingen, die Lernenden, methodisch zwar ganz anders als geplant, aber doch bei der Sache zu halten und zu aktivieren? Also bei mir in der Grundschule klappt das manchmal, wenn sich die Kinder bequem hinsetzen dürfen und ich ihnen eine Geschichte erzähle, die auf spannende oder lustige Weise an das Unterrichtsthema heranführt bzw. Aspekte des Themas aufgreift. Peter: Respekt, wenn es dir gelingt, spontan Geschichten zu erfinden, die die Kinder begeistern. Das, finde ich, ist ein Talent. Du solltest deine Geschichten sammeln und zugänglich machen, das wäre ein richtiger Schatz für andere Lehrkräfte. Ganz im Ernst. Zumal das Gehirn, so jedenfalls habe ich das gehört, Geschichten liebt. Oder irre ich mich da? Gesa: Nein, das ist schon richtig: Beispielsweise beim deklarativen Gedächtnissystem sprechen wir ausdrücklich von einem semantischen und einem episodischen Gedächtnis. Und wir wissen inzwischen auch, dass wir Informationen nicht isoliert speichern. Eine Geschichte kann das Verknüpfen von Informationen sowie, durch das Erleben der Erzählsituation, von Kognition und Emotionen unterstützen. Dianne: Dass dieses Erleben von narrativen Situationen maßgeblich zur Entwicklung der Sprachkompetenz und weiterer Kompetenzen beiträgt, zeigen Befunde zum Vorlesen bzw. gemeinsamen Erzählen ab der frühen Kindheit und auch solche zu Erzählprojekten an Schulen oder Ganztageseinrichtungen wie das Projekt Sprachlos in Berlin-Wedding. 18 Peter: Ich bin in einer Didaktikzeitschrift auf eine Idee gestoßen, die sich Lesson in a box nennt, 19 für unterschiedliche Unterrichtsfächer und Altersgruppen geeignet ist und auch als Aktivität nach einer Notbremsung bei mir schon gut funktioniert hat. Die Grundidee ist einfach: Man nimmt einen Schuhkarton und gibt dort Materialien hinein, die in Verbindung mit dem Unterrichtsthema 18 Zum dialogischen Lesen im Kindergartenalter und den Effekten eines entsprechenden Interaktionstrainings für Erzieherinnen und Erzieher vgl. Simon (2014), zu Sprachlos siehe Wardetzky & Weigel u. a. unter: www.erzaehlen.de/ erzaehlen.de/ Wardetzky_Sprachlos_files/ Wardetzky_Sprachlos_1.pdf. 19 Vgl. Matz 2017: 47. <?page no="93"?> 92 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns stehen, also Bilder, Zeitungsartikel, Gegenstände usw., in Sachfächern, wenn man möchte, auch didaktische Materialien in der Fremdsprache, die die Schülerinnen und Schüler lernen. Es können auch Zitate auf Satzstreifen ausgedruckt in die Box gelegt werden. Jedenfalls macht so eine Kiste neugierig. Das Erkunden kann einen methodischen Wechsel nach einer Notbremsung ermöglichen, aber auch sonst z. B. ein schöner Einstieg in ein Thema oder Teilthema sein. Ergänzend lassen sich, in den Deckel oder auf den Boden des Kartons geklebt, Aufgabenstellungen vorbereiten, die im Anschluss an das Entdecken dessen, was in der Box steckt, bearbeitet werden können, z. B. in Kleingruppen. Claudia: Ich finde, das ist eine sehr schöne Idee, zumal man bei der Unterrichtsvorbereitung oft weitere Materialien sichtet und davon dann einfach einiges in die Kiste geben könnte. Dianne: Interessant, dass du als Gymnasiallehrer die Lesson in a box vorschlägst, und nicht Claudia als Grundschullehrerin, denn oft verbindet man - zumindest mir geht das so - solche sinnlich-haptischen Dinge spontan eher mit der Grundschule. Dabei haben Heranwachsende einfach andere Möglichkeiten, mit so etwas zu arbeiten und ich denke nicht, dass die Lesson in a box, sofern die Materialien darin altersgemäß sind, als kindisch empfunden wird. Du berichtest von guten Erfahrungen damit, aber was die Erforschung von Langeweile im Unterricht angeht, gibt es schon noch blinde Flecken. Beispielsweise liegen insgesamt recht wenige Studien aus der Primarstufe vor, von der Elementarstufe einmal ganz zu schweigen. Das hat natürlich methodische Gründe: Es ist nicht einfach bzw. ziemlich aufwändig, verlässliche Daten bei jungen Kindern zu generieren. Claudia: Außerdem wäre es interessant und wichtig, nicht nur mögliche Zusammenhänge zwischen Unterrichtsfächern und Langeweile zu erkunden. Ich wüsste vor allem gerne mehr darüber, wann Langeweile in unterschiedlichem Alter erlebt wird, also welche situationsspezifischen Merkmale in welchem Alter entscheidend sind. Gesa: Absolut und auch die Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und Langeweile sind erst in Ansätzen erforscht. Das soll aber nicht bedeuten, dass man wegen weiterer Forschungsfragen die Hände in den Schoß legen und Langeweile im Unterricht ertragen soll. Ich finde es gut, wenn wir uns bzw. besonders ihr beiden euch als Experten für die Unterrichtspraxis über Handlungsoptionen austauscht. Dianne: Zumal die Vorschläge auf unterrichtsmethodische Vielfalt, das Steigern oder Herstellen von Aufmerksamkeit usw. zielen, also auf Maßnahmen, die im Bereich der Strategien angesiedelt sind, die als förderlich gelten. Natürlich lässt sich auch im Hinblick auf die Wirksamkeit einzelner Strategien unser Wissen noch erweitern und verfeinern. Eine Aufgabe, die m. E. wohl am besten gemeinsam von Forschenden und Praktikern gemeistert werden kann. Aber ich wollte euch nicht unterbrechen, im Gegenteil: Ich finde die Überlegungen und Ideen für den Unterricht sehr spannend und wichtig, zumal wir ja eben gehört haben, dass es auf das Wie ankommt. Als Didaktikerin möchte ich das nochmals ausdrücklich betonen: Es liegen empirische Belege dafür vor, dass es aufs Unterrichten ankommt und darauf, dass Lehrkräfte Freude an dieser Tätigkeit empfinden können. Der Lehrkraft nützt Fachkompetenz alleine gar nichts. Das musste einfach mal gesagt werden. So, und jetzt steure ich auch einen Praxisimpuls bei zu unserer Diskussion: In einem Unterrichtsbesuch in der Sekundarstufe habe ich ein Vorgehen beobachtet, das, wie ich finde, gut gegen Langeweile war und zur Steigerung der Aufmerksamkeit beitrug. Die Klasse hatte arbeitsteilig in <?page no="94"?> 93 3.7 Aufmerksamkeit oder Langeweile: Was passiert im Unterricht? 20 Matz (2017: 47) empfiehlt Lights out, spot on vor allem für die Sekundarstufe I, das Vorgehen kann aber auch schon, wie oben dargestellt, in der Grundschule eingesetzt werden. Gruppen Kurzvorträge vorzubereiten, die danach im Plenum zu halten waren, wodurch das Thema mosaikartig erarbeitet werden sollte. Peter: Was nicht immer ganz so gut funktioniert, denn nicht nur Lehrermonologe sorgen mitunter für Langeweile, sondern auch bei Schülervorträgen, dem Vorstellen von Arbeitsergebnissen in der Klasse usw. kommt, besonders wenn sich eine Präsentation an die nächste reiht, nicht immer Freude, sondern Langeweile auf. Dianne: Genau, deshalb fand ich diese Idee so gut. Der Arbeitsauftrag an die Lernenden umfasste nämlich Folgendes: Die Gruppenvorträge sollten mit einer Zusammenfassung enden. Darin sollten die Vortragenden die beiden wichtigsten Inhalte ihres Vortrags als Kernbotschaften auf den Punkt bringen und diese ergänzen durch eine möglichst gut getarnte dritte Botschaft, nämlich eine falsche. Die beiden korrekten Informationen und die falsche Botschaft sollten so zusammen präsentiert werden, dass nur jene, die dem Vortrag Aufmerksamkeit geschenkt hatten, die Fehlinformation enttarnen konnten. Gesa: Und? Wie ist es gelaufen? Dianne: Abgesehen von einer Gruppe, die versucht hat, durch ihre Fehlinformation einen wirklich abwegigen Scherz zu platzieren, war das für alle Beteiligten eine echte kognitive Herausforderung und von den beobachtbaren Effekten her beurteilt, eine wirklich gute Idee. Die Lernenden haben besser zugehört, waren aktiviert, nicht ständig in der Rolle der Zuhörenden, und wenn eine Fehlinformation identifiziert wurde, gab es spontanen Beifall. Claudia: Die Idee notiere ich mir, wäre wahrscheinlich schon bei den Älteren in der Grundschule einsetzbar. Eine meiner Kolleginnen arbeitet viel mit Visualisierung und manchmal benutzt sie eine Taschenlampe, schaltet überraschend das Licht im Zimmer aus und zeigt mit dem Spot der Taschenlampe auf das, was gerade wichtig ist, 20 z. B. auf eine wesentliche Information im Tafelbild, auf Materialien im Regal, die verwendet werden können oder sie leuchtet eine der Impulskarten an, die neben der Tafel hängen und auf Klassendienste, Verhaltensregeln oder verschiedene Sozialformen hinweisen. Die Kinder sind jedes Mal neugierig darauf, wohin der Lichtpegel wandert und welchen Hinweis sie dadurch erhalten. Ihre Aufmerksamkeit ist dann sozusagen genauso angeknipst wie die Taschenlampe! Das Vorgehen fordert sie in besonderer Weise heraus, zumal sie, z. B. bei Klassenregeln, nur einen Impuls bekommen, die Botschaft dahinter, beispielweise „nehmt eure Stühle, wir treffen uns im Sitzkreis“, selbst entschlüsseln müssen. Gesa: Könnte man die Taschenlampe nicht auch einsetzen, um mündlichen Lernstandskontrollen oder dem Wiederholen von Inhalten eine spielerische Note zu geben? Ich stelle mir z. B. ein Tafelbild mit vielen Informationen vor. Aus der Darstellung soll das Wichtigste nochmals herausgeholt oder es sollen Verbindungen zwischen einzelnen Punkten hergestellt werden. An die Stelle eines traditionellen Vorgehens träte eines, bei dem die Taschenlampe eingesetzt und die Situation auf lustige oder außergewöhnliche und bemerkenswerte Weise interessanter machen würde. Macht das für euch Sinn? Claudia: Absolut. Man kann sich viele Variationen der Taschenlampennutzung einfallen lassen, auch beim Mitlesen eines Textes, beim Zeigen von Noten in einem Musikstück, beim Finden von <?page no="95"?> 94 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns Schlüsselwörtern oder Identifizieren richtiger Lösungen, z. B. in Mathe. Bei schlechten Lichtverhältnissen im Klassenzimmer muss man nicht einmal verdunkeln. Peter: Die schlechten Lichtverhältnisse hätte ich, denn mein Klassenzimmer liegt im Schatten des neu eingeweihten Erweiterungsbaus. Wenn man anfängt, darüber nachzudenken, was im Unterricht gegen Langeweile helfen könnte, wird es wahrscheinlich fast unerschöpflich. Es gibt so viele Aktivitäten und Ideen, daran mangelt es eigentlich nicht, aber es genügt eben auch nicht, eine Ideenkiste im Kopf zu haben, sondern man muss die Aktivitäten auch passend auswählen, zur richtigen Zeit einsetzen können und gut beobachten und reflektieren, wie etwas gewirkt hat. Wenn meine Schülerinnen und Schüler z. B. Ideen sammeln oder Vorwissen zusammentragen sollen, dann bringe ich sie gerne in variierende Personenkonstellationen. Möglich ist das z. B., indem in den Ecken des Klassenzimmers auf Flipchartpapier Aufgaben, die zu lösen sind, Impulswörter oder -fragen aufgehängt werden, zu denen sich die Lernenden austauschen und Notizen auf das Flipchartpapier machen sollen. Beim Erarbeiten von Texten in Gruppen verteilen wir vorher verschiedene Rollen, sodass jeder für etwas zuständig ist: Jemand stellt Fragen zum Text, jemand fasst zusammen, jemand macht Vorhersagen usw. Das Vorgehen ist als reciprocal teaching bekannt. Beim Arbeiten mit Bildermaterial habe ich in letzter Zeit festgestellt, dass die Lernenden sich besonders gern und intensiv mit den Bildern befassen, wenn sie den Personen im Bild Sprech- und Gedankenblasen zuordnen. Sind keine Personen im Bild zu sehen, kann es entsprechend ergänzt werden oder Objekten werden Gedankenblasen zugeordnet. Gesa: Weil du gerade das Generieren von Ideen erwähnst: In der Forschung hat sich gezeigt, dass es beim Hervorbringen von möglichst vielen Ideen nicht unbedingt ein Vorteil sein muss, wenn dazu Gruppen gebildet werden. Man spricht von der Illusion des Gruppenvorteils. In der Gruppe zeigen sich in der Regel Trittbrettfahrereffekte, d. h. manche bringen sich nicht ein, sei es aus Faulheit oder weil sie ihre Ideen im Vergleich zu denen anderer in der Gruppe für weniger interessant oder für unwichtig halten. Ein zumindest zweischrittiges Vorgehen, bei dem der Einzelne zuerst für sich nachdenken muss, ohne sich auf andere verlassen zu können, gefolgt von einem Teilen der Ideen, schneidet zumeist besser ab. Claudia: Das wäre dann so etwas wie think-pair-share, am besten in Variationen. Dianne: Eine letzte Frage möchte ich in Verbindung mit dem Thema Langeweile gerne noch stellen. Als eine der Maßnahmen, die die Lehrkraft ergreifen kann, wurden differenzierende Angebote erwähnt. Sie sollen die Gefahr von Langeweile durch Unter- oder Überforderung verringern. Differenzierung ist ein komplexes Thema, das ja auch kritisch diskutiert wird, da es gar nicht so einfach ist, die Balance zu finden zwischen differenzierenden Maßnahmen, bei denen die Unterschiedlichkeit in den Fokus rückt und der Grundidee von Inklusion, die das Gemeinsame, die Durchmischung und die Zugehörigkeit aller zu einer sozialen Gruppe betont. Wir können diese Diskussion an dieser Stelle nicht führen, sie würde uns zu weit vom Thema Langeweile entfernen, daher meine bewusst verengte Frage: Wie sieht bei euch differenzierendes Material aus? Claudia: Ich arbeite mit Wochenplänen, bei denen es immer möglich ist, die Zeitressourcen flexibel zu nutzen. Außerdem gibt es oftmals Pflicht- und Zusatzaufgaben, die Möglichkeit mit oder ohne unterstützende Materialien zu arbeiten und bei vielen Aufgaben auch das Angebot, selbst zu entscheiden, ob man alleine, mit einem Partner oder in der Kleingruppe arbeiten möchte. <?page no="96"?> 95 3.7 Aufmerksamkeit oder Langeweile: Was passiert im Unterricht? Aktionsforschung 21 21 Vgl. Sorrentino et al. 2012: 93. Peter: Da deckst du eigentlich schon die wichtigsten Differenzierungsmöglichkeiten ab, die man z. B. auch bei einem Arbeitsblatt anwenden kann. Entweder man differenziert quantitativ, also im Hinblick auf die Anzahl der verpflichtenden Aufgaben bzw. die zur Verfügung stehende Zeit oder qualitativ, d. h. beim Erstellen eines Arbeitsblattes macht man mindestens zwei Versionen mit unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad. Auch das Maß an Unterstützung kann variieren, z. B. in Mathematik das Offenlassen oder teilweise Vorgeben des Lösungswegs. Was mir an der Wochenplanarbeit gefällt, ist, dass die Kinder selbst entscheiden und seltener in die Verlegenheit kommen, sich verantworten zu müssen, warum sie z. B. etwas nicht alleine lösen wollen und Hilfe brauchen. Im Regelunterricht finde ich es manchmal gar nicht so einfach, z. B. ein Arbeitsblatt in unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen so einzusetzen, dass es keine unnötigen Kommentare gibt und nicht zu einem Aufsplittern in Kompetenzgruppen kommt. Für mich ist es sozusagen eine Grundhaltung, Lernziele innerhalb eines Spektrums flexibel zu betrachten. Außerdem ist es wichtig, dass man unterschiedliche Wege zum Ziel zulässt und als Lehrkraft nicht zu festgefahren ist. Natürlich kann man auch beim Arbeiten mit dem Schulbuch Aufgaben ergänzen oder weglassen bzw. den Lernenden diese Option eröffnen und dadurch Entscheidungsräume und Wahlmöglichkeiten schaffen: Aus dem Aufgabenblock 2 löst ihr bitte mindestens zwei, welche, das entscheidet ihr. Wer flott vorankommt, kann gerne mehr oder gleich alle Aufgaben bearbeiten. Claudia: Auch ergänzende Materialien und altersgerechte Sachbücher bieten Möglichkeiten, um flexibel zu differenzieren. Wir haben im Zimmer verschiedene Sachbücher, Lieder- und Kinderbücher usw. Die Bücher markiere ich mit einem bunten Klebepunkt, z. B. steht blau für „wenig Text, viele Bilder, leichte Lektüre“. 21 Als neue Idee nehme ich mir jetzt noch die Lesson in a box mit, denn auch die kann zur Differenzierung genutzt werden durch die enthaltenen Materialien und Aufgaben sowie durch weiterführende Rechercheaufträge. Dabei könnten dann die Sachbücher gleich nützlich sein. Im Wintersemester wird eine Studentin ihr Praktikum bei mir absolvieren. Das wäre eine gute Gelegenheit, um Lesson in an box in einem Aktionsforschungsprojekt gemeinsam im Hinblick auf Akzeptanz und Ertrag genauer unter die Lupe zu nehmen. Wie bereits im einleitenden Kapitel erwähnt, können viele der im Text, insbesondere in den Praxisfenstern, gegebenen Hinweise mit überschaubarem Aufwand im Rahmen von Aktionsforschungsprojekten erprobt und vor allem zu einer planvollen Weiterentwicklung der Unterrichtspraxis genutzt werden. Was aber bedeutet Aktionsforschung eigentlich, welchem Zweck dient sie und wie muss man dabei vorgehen? Aktionsforschung, auch Handlungs- und Aktionsforschung, Action Research ( AR ) oder Praxisforschung genannt, „ist eine Art von Forschung, die von professionell Handelnden (z. B. Lehrenden) direkt in ihrem Praxisumfeld durchgeführt wird“ (Boeckmann 2016: 592). Sie ist „weniger auf ein differenziertes grundlagentheoretisches Erkenntnisinteresse, vielmehr auf die Verwendbarkeit der Forschungsergebnisse für die Schulpraxis“ ausgerichtet (Böhme 2004: 140). Wesentliche Ziele bilden die Sicherung von Unterrichtsqualität, das Weiterentwickeln und <?page no="97"?> 96 3. Aufmerksamkeit und Konzentration als Leistungen des Gehirns planvolle Innovieren von Unterricht sowie die Erweiterung und „Aufwertung professionellen Handlungswissens“ (Boeckmann 2016: 594). Im pädagogischen Kontext wird AR (vgl. Altrichter et al. 2005, Burns 2010) besonders dann eingesetzt, wenn sich konkreter Handlungsbedarf abzeichnet und zwar in vielen Fällen vor allem dann, wenn intuitiv ergriffene Lösungsversuche nicht zum Ziel geführt haben. Unzufriedenheit und der Wunsch, eine konstruktive Lösung für ein Problem zu finden, geben in vielen Fällen den Anstoß zur Durchführung eines Aktionsforschungsprojekts im Unterricht. AR kann bzw. sollte als Tool jedoch auch ohne akute Problemlage oder sich manifestierende Unzufriedenheit im Sinne formativer, also einen Prozess begleitender und auf die Gestaltung des Prozesses rückwirkender, Forschung zur Evaluation von Aspekten des unterrichtlichen Handelns und zur Qualitätssicherung genutzt werden. AR nutzt Möglichkeiten, um, wie gesagt, mit überschaubarem Aufwand Daten zu generieren und diese im Sinne eines acting on evidence (vgl. Ferrance 2000: 9) zur Grundlage der Entwicklung von unterrichtlichen Maßnahmen zu machen. AR bildet nicht nur eine Alternative zum intuitiven Handeln, sondern auch zur Resignation. Aktionsforschung setzt bei einer konkreten Frage an, umfasst das Entwickeln und Ausprobieren von Handlungsideen, das Beobachten sowie das Reflektieren und Auswerten der Wirksamkeit der jeweils ergriffenen Maßnahme (um Effekte auf eine Maßnahme rückführen zu können, sollte jeweils nur eine Handlungsoption getestet werden). In diesem Sinne beinhaltet AR Vorgänge, die ohnehin das tägliche Handeln von Lehrkräften prägen, aber Aktionsforschung unterscheidet sich vom sonstigen Alltagshandeln durch ihre Systematik (vgl. Riemer 2010: 361, Boeckmann 2016: 592). Aktionsforschung bedient sich der Forschungsmethoden der qualitativen wie auch der quantitativen Forschung. Dazu gehören sowohl qualitative Zugänge, z. B. Tagebücher, Interviews oder Gruppendiskussionen, als auch quantitative Verfahren, z. B. standardisierte Fragebögen oder Quasi-Experimente […]. [Die Forschungsfragen werden in der Praxis mit jeweils passenden] […] möglichst unaufwendigen Methoden erforscht und reflektiert. (Boeckmann 2016: 594) Verschiedene Datenquellen können zur Evaluation der ergriffenen Maßnahme beitragen, außer der Lehrkraft (mittels Beobachtung, auch Videographie, Tagebuch etc.) vor allem die Schülerinnen und Schüler (z. B. durch Fragebogen, Interviews), hospitierende Kolleginnen und Kollegen oder Studierende (mittels Fragebogen oder Beobachtungsraster etc.). Wie im Bild unten gezeigt wird, bietet AR die Möglichkeit eines zyklischen Vorgehens: Erweist sich eine ergriffene Maßnahme nicht als im gewünschten Sinne zielführend und kann die Forschungsfrage nach dem ersten AR -Durchgang noch nicht zufriedenstellend beantwortet werden, lassen sich weitere Zyklen anschließen. <?page no="98"?> 97 3.7 Aufmerksamkeit oder Langeweile: Was passiert im Unterricht? Abb. 5: Action Research-Cycle Ausgewählte Literaturhinweise Bietz, C. & Textor, A. (Hrsg.) (2017): Begeisterung und Langeweile. Themenheft von Lernende Schule 71. Seelze: Friedrich Verlag. Mischel, W. (2015): Der Marshmallow-Test: Willensstärke, Belohnungsaufschub und die Entwicklung der Persönlichkeit. München: Siedler Verlag. <?page no="100"?> 99 4. Emotionen und Motivation Lange Zeit wurde dem Thema Emotionen von der Didaktik wenig Beachtung geschenkt. Dies mag, vom aktuellen Diskussionsstand aus betrachtet, verwundern, liegt aber in der Tradition des europäischen und teilweise auch des angloamerikanischen Denkens begründet. 1 „Vor allem die im 19. Jh. aufsteigenden Naturwissenschaften begünstigten eine rationale Grundhaltung“ (Donnerstag 2010: 45). Auch in der Didaktik herrschte lange Zeit eine Fokussierung auf die Rationalität vor, wobei Emotionen und Rationalität sogar als Gegensätze betrachtet wurden. Ab den 1960er-Jahren erlebten die Fachdidaktiken eine kognitive Wende, die über viele Jahre hinweg nachwirkte. In der Geschichtsdidaktik beispielsweise wurde emotionales Lernen „skeptisch beäugt und galt als problematisch. In den 1970er-Jahren führte ein Rationalitätsschub [u. a.] in der geschichtsdidaktischen Debatte dazu, völlig auf »asketischen Emotionsverzicht« zu setzen“ (Brauer & Lücke 2013: 15). Ab den 1990er-Jahren zeichnet sich dann in verschiedenen Fachdidaktiken, z. B. in der Fremdsprachen- und Geschichtsdidaktik, auf die im Folgenden exemplarisch der Blick gerichtet wird, die Tendenz zum Umdenken ab und damit das Bemühen, „bisher vernachlässigte Dimensionen stärker zu berücksichtigen“ (Volkmann 2009: 61). In der Fremdsprachendidaktik finden sich erste Spuren des Umdenkens in den 1980er-Jahren. Zum einen gibt Krashen (1985) mit seiner Affective Filter-Hypothese, die auf den Einfluss affektiver Variablen auf den Zweitspracherwerbsprozess hinweist, einen Denkanstoß. Zum anderen entwickelt sich das Prinzip der Handlungsorientierung „seit Ende der 1980er-Jahre zu einem der einflussreichsten Konzepte“ und etabliert sich nach und nach sowohl „in der fachdidaktischen Grundlagenforschung als auch in der Methodenentwicklung“ (Lütge 2010: 98). In Zusammenhang mit dem emotional turn in der Fremdsprachendidaktik ist das Prinzip der Handlungsorientierung deshalb von Bedeutung, weil es starken Einfluss hatte und als eines der postmethod principles (Grimm et al. 2015: 84 ff.) weiterhin Bedeutung hat. Eines der zentralen Elemente dieses Prinzips ist die Ganzheitlichkeit, die wiederum der „‚Verkopfung‘ des Unterrichts“ (ebd.) entgegensteht. Handlungsorientierter Fremdsprachenunterricht ist ein „ganzheitlicher, schüleraktivierender Unterricht, in dem sinnvolles, alltagsrelevantes Tun im Vordergrund steht und Wissen und Können gleichermaßen gefordert sind“ (Thaler 2012: 335). Während sich die Handlungsorientierung als ein Unterrichtsprinzip bzw. als übergeordnetes Konzept in der Fremdsprachendidaktik etabliert und in unterschiedlichen Bereichen Anstöße gibt, z. B. in der Literaturdidaktik zur Handlungs- und Produktionsorientierung veranlasst oder im task-based language teaching or learning ( TBLT , TBLL , vgl. Grimm et al. 1 Die USA sahen sich ab 1957, ausgelöst durch den Sputnik-Schock-- den Russen war es, zur Überraschung der USA , die sich auf diesem Gebiet als führend wahrgenommen hatten, gelungen, als erste Nation einen Satelliten ins All zu befördern-- dazu veranlasst, rasch Maßnahmen zum Ausgleich ihres offenbar existierenden technologischen Rückstandes zu ergreifen. Durch Wissenschaftsförderung sowie umgreifende Reformen des Bildungssystems, das als wichtige Ressource zur Absicherung der Machtposition betrachtet wurde, sollte es gelingen, weiteren Rückschlägen im Konkurrenzkampf der Supermächte im Kalten Krieg vorzubeugen und den Machtkampf letztlich für sich zu entscheiden. Das Interesse richtete sich im Besonderen auf den naturwissenschaftlichen Bereich und dort auf kognitive Erträge. <?page no="101"?> 100 4. Emotionen und Motivation 2015: 68) zu einer systematischen Weiterentwicklung auf unterrichtsmethodischer Ebene geführt wird (vgl. Lütge 2010: 99), 2 dauert es noch einige Jahre, bis 2004 schließlich ein Sammelband veröffentlicht wird, der sich mit Emotion und Kognition im Fremdsprachenunterricht befasst. Die Herausgeber des Bandes (Börner & Vogel 2004) führen aus, dass sich die Sprachlehrforschung und Fremdsprachendidaktik auf kognitive Verarbeitungsprozesse konzentriert haben, Einfluss und Beitrag von Emotionen auf sprachliche Lehr- und Lernprozesse hingegen weitgehend ausgeblendet geblieben seien. Da sich jedoch gezeigt habe, dass das „kognitive Verarbeitungsparadigma“ (Börner & Vogel 2004: IX ) zu kurz greife, bildeten Emotionen einen zentralen, wenngleich noch vernachlässigten Forschungsbereich (Börner & Vogel 2004: X). Unter Berufung auf Erkenntnisse der Neurobiologie wird argumentiert, dass es nicht gerechtfertigt sei, Kognition und Emotion zu trennen. Vielmehr verhielten sich beide Bereiche zueinander funktionell komplementär, und sie beeinflussten sich auch auf struktureller Ebene gegenseitig (vgl. ebd.). Der Band, dessen Veröffentlichung in der Fremdsprachendidaktik das sich abzeichnende Lösen von der Fokussierung auf das kognitive Verarbeitungparadigma als eine Art Meilenstein sichtbar macht, richtet den Blick auf Emotionen im Lehr- und Lernprozess sowie auf Emotionen als Bestandteil von Kommunikation (vgl. Börner & Vogel 2004: 10). Emotionen können in mehrfacher Hinsicht Einfluss auf das Sprachenlernen nehmen: Erstens bedingen und begleiten Emotionen den Lernprozess u. a. in Form von Neugier, Lernbereitschaft und Motivation. Zweitens können Emotionen kognitive Prozesse anstoßen und als emotionale Erinnerungsspuren zusammen mit Inhalten im Gehirn abgelegt werden. Drittens begleiten Emotionen unterrichtliche und außerunterrichtliche Kommunikationsprozesse, was dazu veranlasst hat, das Phänomen der Sprechangst in Zusammenhang mit fremdsprachiger Kommunikation in- und außerhalb des institutionellen Kontexts zu erforschen (vgl. 4.3). Schließlich sind Emotionen für die Fremdsprachendidaktik deshalb interessant, weil Sprache, Emotionen und Identitätsbildung sowie Fremdverstehen und Perspektivwechsel eng zusammenhängen. Ähnlich wie Identitätsbildung eng mit Sprachlichkeit, sprachlicher Zugehörigkeit und Emotionen verwoben ist, hat auch, das ist in der Geschichtsdidaktik inzwischen common sense, „Geschichtsbewusstsein ‚etwas mit Gefühlen zu tun‘-[…]“ (Brauer & Lücke 2013: 12). Die einstige „Dominanz kognitiver Lernprinzipien und -ziele gegenüber den Emotionen“ schlug sich jedoch noch vor einigen Jahren nicht nur im Geschichtsunterricht nieder, sondern z. B. auch „in historischen Repräsentationen in Museen und Gedenkstätten“ (Brauer & Lücke 2013: 15): „Die bundesdeutsche Geschichtsdidaktik verbannte bis in die 1990er-Jahre hinein Emotionen fast vollends aus ihren Konzepten und Modellen“ (Brauer & Lücke 2013: 14). Als Wendepunkt von der Kognitivierung hin zu dem Bemühen, auch „Emotionen einen Ort in der Geschichtskultur zuzuweisen“ (Brauer & Lücke 2013: 16), wird von Geschichtsidaktikern eine Braunschweiger Tagung im Jahr 1991 betrachtet, die unter dem Motto Emotionen und Historisches Lernen stand. Gefühle gelten mittlerweile als ein substanzieller Teil von Ge- 2 „ TBLT conforms to the aim of holistic and humanistic language teaching, which is to unfold „the students’ full potential for growth by acknowledging the importance of the affective dimension in learning as well as the cognitive (Ellis 2003: 13)“. The teacher creates opportunities for authentic interaction.“ (Grimm et al. 2015: 69). <?page no="102"?> 101 3.7 Aufmerksamkeit oder Langeweile: Was passiert im Unterricht? schichtskultur. Geschichte werde „emotional rezipiert, präsentiert und erzählt“ (Brauer & Lücke 2013: 11). Geschichtsdidaktisch betrachtet, können Emotionen sowohl Thema als auch Gegenstand von historischem Lernen sein, außerdem sind Emotionen „konstitutiver Teil des Lernprozesses selbst“ (Brauer & Lücke 2013: 14). Hasberg (2013: 61) kommt in seiner Bestandsaufnahme elf Jahre nach der Veröffentlichung des Bandes zu oben genannter Braunschweiger Tagung allerdings zu dem Schluss, dass „eine empirisch reliable Grundlagenforschung zur Rolle der Emotionalität beim historischen Lernen einstweilen Desiderat bleibt“. 3 Den „Emotionen [sei in der geschichtsdidaktischen Forschung] nach 1991 keineswegs die verstärkte Aufmerksamkeit zuteilgeworden, die ihnen die Braunschweiger Tagung verschaffen wollte“ (Hasberg 2013: 65). Als Grund dafür werden weniger die Formate fachdidaktischer Emotionsforschung ins Feld geführt, z. B. die Aussagekraft und Übertragbarkeit retrobzw. introspektiv gewonnener Daten, 4 die in der fachdidaktischen Emotionsforschung eine nicht unerhebliche Rolle spielen (insbesondere weil Emotionen „nicht direkt beobachtbar“ sind, Riemer 2016: 267), als vielmehr die Schwierigkeit, den Emotionsbegriff eindeutig und definitorisch klar zu fassen (vgl. Cronjäger 2007: 14), sodass Emotionen überhaupt operationalisierbar werden (vgl. Sambanis 2010: 19). Hinzu kommt, dass sich affektive Faktoren wie Motivation oder Angst dynamisch verhalten, also Veränderungen unterliegen können (vgl. Schutz & Pekrun 2007: 323, Beermann & Cronjäger 2011). 5 Unter Bezugnahme auf die Pädagogische Psychologie unternimmt Hasberg (2013: 49) folgenden Definitionsversuch: Emotionen seien „interne Bedingungen, mit anderen Worten: Dispositionen der Lernenden (und Lehrenden),-[…] die einen zunächst unbestimmten Einfluss auf das Lernen nehmen.“ „Ulich & Mayring (1992) beschreiben Emotionen als vorübergehende Gefühlsregungen, die relativ präzise benannt werden können, z. B. Wut, Trauer, Erleichterung. Emotionen seien zumeist auf ein spezifisches Ereignis rückführbar“ (Sambanis 2010: 19). Es sei außerdem möglich, gegenstandsbezogene von leistungsbezogenen, epistemischen (das Wissen betreffenden), 6 und sozialen Gefühlen zu unterscheiden (vgl. Hasberg 2013: 49). In der Psychologie wird außerdem eine Unterscheidung zwischen Emotionen, 3 Ähnlich muss auch seitens der Fremdsprachendidaktik eingeräumt werden, dass sich die Forschung insgesamt noch auf einer recht allgemeinen Ebene bewegt (vgl. Riemer 2016: 270). 4 „Self-report- […] cannot render real-time estimates of emotional processes.- […] they are subject to response-biases, and are not well suited to assess emotional processes that have limited access to consciousness.“ (Schutz & Pekrun 2007: 323 f.) 5 Die dem Beitrag zugrundeliegende mehrebenenanalytische Längsschnittstudie in der Sekundarstufe I erforschte die Fachwertschätzung als „Entstehungsbedingung“ (Beermann & Cronjäger 2011: 19) von Freude, Angst und Langeweile im Unterrichtsfach Französisch. Die untersuchten Emotionen veränderten sich über die Zeit. Beispielsweise wurde bei Lernenden mit einer besonders hohen Wertschätzung für das Fach Französisch und die Sprache zum Zeitpunkt des Beginns des Französischunterrichts (hier: Klasse 6) „im weiteren Verlauf der Sekundarstufe I ein[en] besonders starke[n][r] Verlust an Freude“ gemessen, was die Forschenden als Enttäuschungseffekt bezeichnen (Beermann & Cronjäger 2011: 31). 6 Momente, in denen man z. B. den Namen einer Person erinnern soll und dieser förmlich auf der Zunge liegt, aber trotzdem nicht abgerufen werden kann, illustrieren beispielhaft, was mit dem Begriff epistemisches Gefühl bezeichnet wird. <?page no="103"?> 102 4. Emotionen und Motivation Stimmungen und Dispositionen vorgenommen: „Das Kriterium der Unterscheidung liegt in der zeitlichen Dauer der jeweiligen Zustände“ (Donnerstag 2010: 45, für eine Definition und Abgrenzung der Begriffe vgl. auch Volkmann 2009: 60). Überdies können Emotionen nach ihrer Valenz, Intensität, Häufigkeit, zeitlichen Dimension, Referenz und dem Kontext klassifiziert werden (vgl. Hascher 2005). 7 „In der aktuellen Pädagogisch-Psychologischen [sic] Forschung werden in Anlehnung an die allgemeine Emotionspsychologie Ansätze wie das Vier-Komponentenmodell (Götz 2004) favorisiert, in denen Emotionen anhand voneinander unterscheidbarer Komponenten definiert werden: 1. Affektive Komponente 2. Kognitive Komponente 3. Motivationale Komponente 4. Physiologisch-expressive Komponente.“ (Beermann & Cronjäger 2011: 19) Die weitere Erforschung von Emotionen beim Lehren und Lernen stellt eine wichtige interdisziplinär zu bewältigende Aufgabe dar. Es braucht „better interdisciplinary collaboration of researchers in many different scientific disciplines that are, or should be, involved in studying emotions in education“ (Schutz & Pekrun 2007: 9). […] den affektiven Faktoren kommt von Seiten der Unterrichtspraxis eine besondere Bedeutung zu, da sie-- anders als etwa die viel stabileren und weniger beeinflussbaren kognitiven Faktoren-[…]-- als durch Unterricht und / oder andere Lernumgebungen veränderbare Bereiche gelten können. (Riemer 2016: 269) In diesem Sinne bilden affektive Faktoren Stellschrauben für unterrichtliches Handeln und eröffnen „Chancen für verbesserte und schnellere Lernergebnisse“ (ebd.). Sie betreffen alle zentralen Dimensionen von Unterricht, nämlich Unterrichtsklima und Interaktion, Unterrichtsmethoden, Unterrichtskonzeption, Lern- und Unterrichtsziele, Sozialformen, Medien und Materialien sowie die Frage nach der Authentizität (vgl. Volkmann 2009: 61). Ein möglichst weitreichendes Verständnis dessen, wie Emotionen auf Lernprozesse Einfluss nehmen können, erscheint vor diesem Hintergrund als unerlässlich. Zu diesem Zweck werden im Folgenden ausgewählte Wissensbestände aus unterschiedlichen Disziplinen referiert und einige davon im Praxisfenster aufgegriffen und weiter konkretisiert. 4.1 Emotionsstudien im Kindergarten- und Grundschulalter Da Emotionsstudien in der Regel auf Befragungsdaten basieren-- aus zeitökonomischen Gesichtspunkten wird häufig die schriftliche Befragung präferiert, insbesondere bei qualitativen Designs sind hingegen oft Interviews zu führen-- stellt die Generierung reliabler Daten bei 7 Bei der Frage nach der Valenz werden Emotionen den Kategorien positiv, negativ oder ambivalent zugeordnet. „Mit der zeitlichen Dimension wird die Frage beantwortet, ob eine Emotion als prospektiv, aktuell oder retrospektiv einzustufen ist“ (Sambanis 2010: 19 f.). Referenz wiederum klassifiziert Emotionen danach, ob sie sich auf die Person, die sie empfindet, selbst oder auf andere bezieht. <?page no="104"?> 103 4.1 Emotionsstudien im Kindergarten- und Grundschulalter jüngeren Kindern eine besondere forschungsmethodologische Herausforderung dar. Aus diesem Grund erscheint es nachvollziehbar, dass „Zielgruppen- […] vorrangig Jugendliche und junge Erwachsene [sind], von denen eher als von jüngeren Kindern erwartet wird, dass sie bei Interviews oder beim Einsatz digitaler Tagebücher kongruente Sätze formulieren bzw. schon selbst schreiben können“ (Sambanis 2010: 20). Außerdem gibt es nur wenige Längsschnittstudien, die die emotionale Entwicklung über die Zeit erfassen. Besonders interessant, auch im Hinblick auf die Effekte pädagogischer Maßnahmen auf die soziale und emotionale Entwicklung im Kindergarten- und Grundschulalter, ist eine 2016 publizierte, in die wissenschaftliche Begleitung des Modells „Bildungshaus 3-10“ eingebettete Teilstudie (vgl. Arndt & Kipp 2016). 4.1.1 Erkenntnisse aus der Bildungshaus-Studie An der Evaluation des baden-württembergischen Modellprojekts „Bildungshaus 3-10“ haben insgesamt über 10.000 Kinder aus 129 Kindertageseinrichtungen und 77 Grundschulen teilgenommen. Ziel des Modellprojekts war die Verzahnung der pädagogischen Arbeit von Kindergarten und Grundschule in Form regelmäßiger gemeinsamer pädagogischer Angebote für Kindergarten- und Grundschulkinder. Die Wirkung des Modellkonzeptes auf die Entwicklung der Kinder wurde längsschnittlich in einem Kontrollgruppen-Design untersucht. Die sozialen und emotionalen Kompetenzen der Kinder wurden jährlich über einen Elternfragebogen erfasst, sodass Entwicklungsverläufe abgebildet werden konnten (vgl. Rehm et al. 2016): Bestimmte Kompetenzen, wie Empathie und damit einhergehendes prosoziales Verhalten, zeigen klare Entwicklungsverläufe im Sinne eines Zuwachses an Kompetenz über die Zeit. In ähnlicher Weise zeigte sich insgesamt betrachtet eine Abnahme der Ängstlichkeit mit zunehmendem Alter der Kinder. Andere Aspekte, wie emotionale Stabilität (im Gegensatz zu Irritierbarkeit) und positive Emotionalität (im Sinne von Unbeschwertheit und Optimismus), zeigen dagegen im untersuchten Altersbereich keine klare Entwicklung. Daher kann man annehmen, dass es sich um Persönlichkeitsmerkmale oder individuelle Dispositionen handelt. Allerdings werden diese emotionalen Merkmale z.T. deutlich durch äußere Faktoren, z. B. den Wechsel vom Kindergarten in die Grundschule, beeinflusst. So nehmen nach dem Wechsel die emotionale Stabilität der Kinder ab und die Ängstlichkeit zu. Sehr schön zeigt sich an diesen emotionalen Merkmalen die Wirkung der Intensivkooperation im Bildungshaus auf die Kinder: Die Ängstlichkeit ist bei Kindern, die ein Bildungshaus besuchen, in der ersten Klasse weniger ausgeprägt als bei Kindern der Kontrollgruppe und nimmt in den späteren Klassenstufen schneller wieder ab. Auch die emotionale Stabilität ist bei Kindern im Bildungshaus nach der Einschulung höher und steigt zu Klasse 2 an, wogegen sie bei Kindern, die nicht in ein Bildungshaus gehen, mit der Einschulung absinkt und auf diesem niedrigen Niveau bleibt. Ähnliches gilt für positive Emotionalität, die bei Bildungshauskindern über die Einschulung hinweg recht stabil bleibt, wogegen sie bei einem Teil der Kinder der Kontrollgruppe im Schulalter deutlich absinkt. Insgesamt betrachtet hat das Konzept Bildungshaus mit seiner Intensivkooperation zwischen Kindergarten und Grundschule einen stabilisierenden Effekt auf die emotionalen Merkmale der Kinder. <?page no="105"?> 104 4. Emotionen und Motivation Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass pädagogische Maßnahmen Emotionen und emotionsbezogene Kompetenzen beeinflussen können. Zudem konnte gezeigt werden, dass sich Kinder anhand ihrer emotionalen Kompetenzen und Schwächen in verschiedene Gruppen einteilen lassen, denen die Anpassung an das schulische Umfeld besser oder schlechter gelingt (vgl. Sturmhöfel 2017). Die Bedeutsamkeit emotionaler Kompetenzen für die Bewältigung schulischer Anpassungsleistungen und Anforderungen ebenso wie die Beeinflussbarkeit durch pädagogische Maßnahmen sprechen dafür, sich sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis intensiver mit dem Thema auseinander zu setzen. 4.2 Akzeptanz von Schule: die Willingham-These Emotionen bedingen und beeinflussen die Lernbereitschaft, die Lernfähigkeit und letztlich auch den Lernerfolg, z. B. gemessen daran, wie gut Inhalte vernetzt werden, wie schnell sie abrufbar und wie flexibel sie anwendbar sind und ob sie über längere Zeit bzw. dauerhaft erhalten bleiben oder wieder gelöscht werden. Doch dem schulischen Lernen fehle oft die „wichtige emotionale Komponente“ (Donnerstag 2010: 46). Das kann dazu führen, dass Schülerinnen und Schüler institutionelle Lernangebote als weniger bedeutsam oder lohnenswert einschätzen. Insbesondere heranwachsende Lerner zeigen sich mitunter ablehnend und rasch gelangweilt von Unterricht, wenn aufgrund der Umbauprozesse des Gehirns während der Adoleszenz die emotionale Beurteilung einen anderen Stellenwert einnimmt (vgl. 2.6) und wenn Emotionen entwicklungsbedingt weniger gut ausbalanciert und kontrolliert werden (vgl. Böttger & Sambanis 2017). Die Frage, ob und wie sehr Schülerinnen und Schüler Schule mögen, wird bereits seit fast hundert Jahren erforscht. Die gewonnenen Erkenntnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: „[…] students neither love nor hate school. They tolerate school-[…]“ (Hattie & Yates 2014: 3). Diese neutrale Bewertung, zwar mit einer leichten Tendenz zum Positiven (vgl. z. B. Attwood & Croll 2011), aber auch einer gewissen Streuung, ist in Anbetracht der Bedeutung von schulischer Erziehung und Bildung (vgl. Schutz & Pekrun 2007: 9) nicht sonderlich erfreulich. Auch im Hinblick auf die Lebenszeit, die Kinder und Jugendliche in der Schule verbringen und angesichts der Anstrengungen, die viele Lehrkräfte unternehmen, erscheint die Frage, warum Schule lediglich hinnehmbar erscheint, klärungsbedürftig. In diesem Zusammenhang wird mitunter auf die sogenannte Willingham-These (2009) verwiesen. Sie liefert mögliche Erklärungen dafür, warum Schülerinnen und Schüler Schule weder mögen noch hassen. Willingham, ein amerikanischer Kognitionspsychologe, leitet daraus überdies einige Hinweise für die Planung und Durchführung von Unterricht ab. Seiner These zufolge besteht ein wichtiger, plausibel erscheinender Grund dafür, dass Lernende Schule nicht wirklich mögen, darin, dass Denken „effortful,-[…] slow and unreliable“ sei (Willingham 2009: 5, vgl. Hattie & Yates 2014: 8), aber schulisches Lernen verlangt nach „solving problems, reasoning, reading something complex, or doing any mental work that requires some effort“ (Willingham 2009: 4). Ressourcenschonender wäre es, „[to] rely on memory, and follow paths that we have taken before“ (Hattie & Yates 2014: 8), d. h. sich auf bereits gespeicherte „personal events- […] and facts“ sowie „procedures“ (Willingham <?page no="106"?> 105 4.2 Akzeptanz von Schule: die Willingham-These 2009: 6) zu verlassen. Für Aufgaben, die wiederholt bearbeitet werden, wird im Gehirn ein entsprechendes Aktivierungsmuster aufgebaut, das bei Bedarf wieder abgerufen und immer wieder genutzt werden kann (vgl. Kap. 6). Durch wiederholte Nutzung nimmt die Automatisierung zu. Ein ökonomischer Umgang mit den verfügbaren Ressourcen ist unverzichtbar und entspricht einem der Grundprinzipien, nach denen das Gehirn arbeitet: „The dominant motive is often to conserve energy“ (Hattie & Yates 2014: 5). Das Gehirn verbraucht bereits unter Ausschöpfung aller ressourcenschonenden Möglichkeiten 20 % der zugeführten Energie, obwohl es, betrachtet man sein Gewicht in Relation zum Körpergewicht, nur etwa 2 % der Masse ausmacht. Das Nutzen bereits angelegter Aktivierungsmuster erlaubt es, Energie einzusparen, denn Anforderungen, die schon oft gemeistert wurden, können mit wenig Energie, oftmals durch die erreichte Automatisierung sogar ohne bewusstes Zutun, gemeistert werden. Daher macht es Sinn Anforderungen, die so auf ressourcenschonende Weise gemeistert werden können, tendenziell zu präferieren und in den übrigen Fällen gut abzuwägen, wann eine darüber hinausgehende Investition lohnend erscheint (vgl. hierzu auch 6.7.1). Das zwischen den beiden Großhirnhälften gelegene Zwischenhirn (Diencephalon) 8 ist die Instanz, in der eingehende Informationen dahingehend bewertet werden, ob gezieltes Denken, Aufmerksamkeit usw. zu investieren ist: Aufmerksamkeit nötig? Dann in den Stirnbereich schicken. Simple Standardaufgabe? Dann ab in-[…] [jene] Großhirnbereiche, die auch ohne Bewusstsein klarkommen-[…]. Bewusstsein und Aufmerksamkeit sind-[…] die höchsten Ehren, die einem Reiz zuteilwerden können. (Beck 2014: 200) Streng genommen bringen die Anforderungen schulischen Lernens Schülerinnen und Schüler also ständig in einen Konflikt zwischen den von ihnen geforderten Denkleistungen und der vom Zwischenhirn getroffenen Bewertung, ob angelegte Muster ausreichen oder ob thinking tatsächlich nötig ist und einen lohnenden Ertrag in Aussicht stellt. Das Zwischenhirn muss sich zum Schutz der verfügbaren Ressourcen eher träge zeigen. Aus didaktischer Sicht ist von besonderem Interesse, dass Schülerinnen und Schüler unter bestimmten Bedingungen dem Denken, hier als Sammelbegriff für lernrelevante Anstrengungen unterschiedlichster Art (intensive Recherche, konzentriertes Rezipieren von Texten, Erstellen eigener Darstellungen von Inhalten etc.) verstanden, nicht ablehnend gegenüberstehen: Die Aussicht auf positive Emotionen bewirkt, dass „we actually like to think- […] [because] [t]here is a sense of satisfaction, of fulfillment, in successful thinking“ (Willingham 2009: 7). Die emotionale Reaktion auf erfolgreich gemeisterte Herausforderungen wird durch das körpereigene Belohnungssystem im Gehirn vermittelt (zu Belohnung vgl. 6.3.3 sowie insbesondere 6.7.1, außerdem Sambanis 2013: 49 ff.). Stimmen die Bedingungen, wird eine passende und reizvolle Herausforderung gestellt, angenommen und gemeistert, kommt es auf einem bestimmten Pfad im Gehirn zur Freisetzung des Neurotransmitters Dopamin und 8 Das Zwischenhirn wird vom limbischen System, einem funktionalen Zusammenschluss verschiedener neuronaler Strukturen und Kerngebiete, darunter die Amygdala, der Nucleus accumbens und der Hippocampus, umsäumt (vgl. 4.6). Limbisch heißt übrigens umsäumend (vgl. Beck 2014: 34). <?page no="107"?> 106 4. Emotionen und Motivation damit zu einem guten Gefühl, zu satisfaction, fulfillment, Belohnungserleben. Dieses Erleben nährt das Verlangen, Vergleichbares erneut erleben zu können und daraus resultiert wiederum der Wunsch, immer wieder passende Herausforderungen zu finden, anzunehmen und Energie dafür aufzuwenden, um wieder in den Genuss des Belohnungserlebens zu kommen. Allerdings muss bei jeder Herausforderung, bei jeder Aufforderung zum Denken geprüft werden, ob sich der Einsatz lohnt, und in der Tat stellt sich schulisches Lernen häufig als unsicheres Unterfangen dar. Belohnungserleben ist kein Selbstläufer und kann nicht garantiert werden, vielmehr besteht auch das Risiko, an schulischen Aufgaben zu scheitern und „[a]voiding failure is a robustly strong motive“ (Hattie & Yates 2014: 5). […] thinking in a ‚school way‘ is not what comes naturally or happily for many individuals.- […] For many students, these are heavy expectations that may well stand in direct contrast to what their homes have expected of them to this point. (Hattie & Yates 2014: 9) An dem Erklärungsansatz der Unterschiedlichkeit zwischen außerschulischen und schulischen Anforderungen knüpfen manche Didaktiker an. Es gelte, „methodisch und thematisch Gegenstrategien“ (Donnerstag 2010: 46) zu ergreifen. In der Fremdsprachendidaktik werden in diesem Zusammenhang methodische Maßnahmen empfohlen, die u. a. die Authentizität erhöhen sollen, z. B. durch Projekte oder virtuelle Begegnungen und solche, die mehr Handlungsorientierung ermöglichen, z. B. der Einsatz reizvoller Formate von Gruppenarbeit oder das Einbinden von Bewegungen und dramapädagogischen Vorgehen in den Unterricht. Inhaltliche Maßnahmen können, z. B. im Berücksichtigen aktueller und altersspezifischer Themen, verschiedener Textsorten, einschließlich Visual Literacy, Liedtexte etc. bestehen. Neugier aktiviert „die „Lernzentralen“ des Gehirns“ und führt „tatsächlich zu besserem Lernen“ (Spitzer & Bertram 2010: VIII ). „Our curiosity is provoked when we perceive a problem that we believe we can solve“ (Willingham 2009: 12). Übrigens gilt auch: Wissen zieht mehr Wissen an, d. h. in Bereichen, in denen bereits Wissen aufgebaut und Kompetenzen angelegt worden sind, überprüft das Gehirn, ob es Anknüpfungsmöglichkeiten und Lücken gibt, die bewältigbar erscheinen: „This effect is strong if the new knowledge can be acquired in the short term with relatively low cost“ (Hattie & Yates 2014: 7). Die Willingham-These kann dahingehend ausgelegt werden, dass sie die Relevanz von unterrichtsmethodischen Maßnahmen unterstreicht, durch die Aufmerksamkeit erzeugt, auf einen Inhalt gelenkt und aufrechterhalten werden kann. Auch das Wecken und Wahren von Neugier stellt eine didaktische Herausforderung dar, wobei nicht nur zum Einstieg in ein Thema oder eine Aktivität Neugier adressiert werden sollte. Oftmals sei der richtige Moment für Neugier generierende oder stützende Maßnahmen dann gegeben, wenn die Lernenden sich bereits erste Kenntnisse auf einem Gebiet erarbeitet haben und sie diese nutzen können, um z. B. einen Versuch in der Physik nicht nur als „Zaubertrick“ anzusehen, sondern auf der Basis ihres Wissens verstehen und sich die Zusammenhänge erklären zu können. 9 9 Willingham nennt als Beispiel den Versuch, bei dem ein Stück Papier in einer Flasche verbrannt wird, während ein hartgekochtes Ei oben auf der Flaschenöffnung liegt. Das Ei wird in die Flasche hineingesogen. <?page no="108"?> 107 4.2 Akzeptanz von Schule: die Willingham-These Willingham (2009: 7) weist mehrfach darauf hin, dass the „right level of difficulty“ entscheidend sei (vgl. 4.5), denn selbst wenn Neugier als treibende Kraft wirkt, wird stets auch kalkuliert, ob die Kosten-Nutzen-Relation stimmt. Aufforderungen zum Denken in der Schule scheitern z. B. dann, wenn Lehrkräfte Vorwissen oder Allgemeinwissen voraussetzen, über das die Lernenden (noch) nicht verfügen, außerdem überlasten „multistep instructions“ (Willingham 2009: 12) in vielen Fällen das Arbeitsgedächtnis der Lernenden (vgl. 3.5.2), das dadurch keine Kapazitäten hat, um die Informationen aus der Umgebung mit passenden aus dem Langzeitspeicher auf neue Weise zu verbinden, also thinking zu erbringen. Außerdem erscheint es wichtig auszuloten, ob und welche unterrichtsmethodischen Maßnahmen ergriffen werden können, damit bei den Lernenden-- im Sinne von noticing-- der Prozess des Wahrnehmens von bereits vorhandenem Wissen und angelegten Kompetenzen unterstützt werden kann, sodass Schülerinnen und Schüler tatsächlich wissen, was sie können (vgl. Scholz & Weber 2015). Auch Rückmeldungen, die den Schülerinnen und Schüler vor Augen führen, dass ihr Einsatz Fortschritte ermöglicht, sind sowohl in kognitiver als auch in emotionaler Hinsicht wichtig. Das Sichtbarmachen von Erreichtem spielt im Hinblick auf die weitere Lernbereitschaft, die Selbstwahrnehmung und die Gelingenszuversicht der Lernenden eine wichtige Rolle. Die Selbsteinschätzung des eigenen Leistungsniveaus ist „mit Blick auf die Effektstärke von 1,44 der Spitzenreiter unter allen Faktoren“ (Zierer 2015: 47), die Hattie in Visible Learning (2009) als einflussreich identifiziert. „Ist diese zu niedrig und fehlt das Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit, ist ein zögerliches, zurückhaltendes und unsicheres Handeln die Folge. Fehler werden demgemäß als Bestätigung für die eigenen Schwächen gesehen und nicht als Chance, um an sich zu arbeiten“ (Zierer 2015: 48). Riemer (2016: 269) zufolge wird speziell der „Angst Fehler zu begehen, [noch] zu wenig Beachtung geschenkt“. Die meisten Studien zu Angst in Verbindung mit schulischem Lernen befassen sich mit der Prüfungsangst/ test anxiety (vgl. Zeidner 2007). Students’ test anxiety has been the only emotion- […] that strongly and continously attracted researchers’ interest. From more than 1,000 empirical studies conducted over a span of more than five decades, we have evidence on-[…] this emotion-[…]. (Schutz & Pekrun 2007: 3) 10 Prüfungsangst bildet somit eine Ausnahme im Feld der Erforschung von Emotionen in Lehr- und Lernkontexten. Während der Forschungsstand zu Emotionen insgesamt als ein sich noch in einem recht frühen Stadium befindlicher bezeichnet werden muss (vgl. Schutz & Pekrun 2007: 314), liegen zur test anxiety bereits sich verdichtende Befunde vor (vgl. Zeidner 2007), und während es an Messinstrumenten zur Erfassung anderer Emotionen nach wie vor mangelt, liegen bereits verschiedene Tests zur Erfassung von Angst vor (vgl. u. a. TAI -- Test Anxiety Inventory von Spielberger 1980 sowie insbesondere PAF -- Prüfungsangstfragebogen von Hodapp et al. 2011). Forschungs- und Testentwicklungsbedarf zeichnet sich hingegen 10 Die unter 4.1 erwähnte Lücke bei Längsschnittstudien besteht trotz der nicht unerheblichen Anzahl an Studien auch hier: „[…] even in reserach on test anxiety, which has been studied so often, there is a clear need for more longitudinal studies analyzing the reciprocal relations of students’ anxiety and learning over the school years“ (Zeidner 1998 zitiert in Schutz & Pekrun 2007: 327). <?page no="109"?> 108 4. Emotionen und Motivation im Hinblick auf die meisten anderen Emotionen ab, z. B. Langeweile oder Stolz bei Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften, Schulleitern, auf „patterns of emotions“ (Schutz & Pekrun 2007: 325), das emotionale Klima im Klassenzimmer (zu classroom climate und scaffolding emotions in classrooms vgl. Meyer & Turner 2007), kollektive Emotionen (Schutz & Pekrun 2007: 323) etc. 11 Auch die Evaluation von unterrichtlichen Interventionen muss weiter vorangebracht werden (zu psychotherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten von Prüfungsangst vgl. Fehm & Fydrich 2011), besonders durch die Fachdidaktiken, und in einem weiteren Schritt müssen Befunde zusammengeführt, bei Erreichen der entsprechenden Dichte der Evidenz Metaanalysen erstellt werden. Im Folgenden werden zwei Schlaglichter auf bereits vorliegende Wissensbestände gesetzt, nämlich auf Fremdsprachenverwendungsangst und, im Anschluss daran, auf Matheangst. 4.3 Sprachverwendungsangst in der Fremdsprache Auch für die fremdsprachendidaktische Forschung gilt, dass die Untersuchung „der Emotion „Angst“, insbesondere-[…] Prüfungsangst“ (Beermann & Cronjäger 2011: 19) einen Schwerpunkt bildet, andere Emotionen innerhalb des Spektrums bislang weniger Berücksichtigung gefunden haben. Das Fokussieren von Angst, insbesondere der Sprachverwendungsangst, durch die Fremdsprachendidaktik ist keineswegs abwegig, denn das vorrangige Ziel von Fremdsprachenunterricht ist die Entwicklung einer „umfassende[n] Kommunikationsfähigkeit“ (Kultusministerkonferenz 2012: 11). Damit rückt die Sprachverwendung ins Zentrum und mit ihr geraten Faktoren in den Blick, die die Sprachverwendung begünstigen oder beeinträchtigen können. 4.3.1 Diskursfähigkeit und Sprachverwendung Die im Fremdsprachenunterricht zu erreichende Diskursfähigkeit umfasst u. a. die beiden Kompetenzbereiche „funktionale kommunikative Kompetenz“ und „interkulturelle kommunikative Kompetenz“ (Kultusministerkonferenz 2012: 12). Das oberste Ziel des Unterrichts in den modernen Fremdsprachen besteht also, vereinfacht ausgedrückt, in möglichst hohen, situativ anpassungsfähigen Sprachverwendungskompetenzen. Um diese entwickeln zu können, muss in der zur Verfügung stehenden Unterrichtszeit und nach Möglichkeit auch außerunterrichtlich, die Fremdsprache so viel wie möglich verwendet werden. Die Fremdsprache ist nicht nur Inhalt des Unterrichts, sondern zugleich auch Kommunikations- und Interaktionsmedium. Der intendierte Kompetenzaufbau zielt nicht nur und nicht vorrangig auf deklaratives Wissen (vgl. 6.4), sondern ist auf die Sprachverwendung durch die Lernenden selbst angewiesen (vgl. 6.3). Neben dem Lernen durch Beobachten kommt dem Lernen durch Nachahmung, vielfältigem Üben und Sprachhandlungsversuchen zentrale Bedeutung zu. Bereits auf Ebene der Laute einer Fremdsprache gilt: Ausschließlich durch Hören gelingt es nicht, die entsprechenden 11 Schutz & Pekrun (2007: 320) empfehlen multimethodische Ansätze zur weiteren Erforschung von emotionalen Aspekten von Lernen. <?page no="110"?> 109 4.3 Sprachverwendungsangst in der Fremdsprache Repräsentationen im Gehirn samt erforderlicher motorischer Prozesse aufzubauen (vgl. 6.3.4). Für diese und weitere für die angestrebte Diskursfähigkeit unentbehrliche Prozesse muss Automatisierung erreicht werden. Zur Automatisierung bedarf es der wiederholten Ausführung, stützend kommt das gedankliche Nachvollziehen hinzu, denn auch Gedanken beeinflussen die Hirnarchitektur und können zum Aufbau von Aktivierungsmustern beitragen. Beim Erstspracherwerb rechnet man mit etwa 10 000 Kontaktstunden zum Aufbau der Kommunikationsfähigkeit. Der Fremdsprachenunterricht hingegen umfasst z. B. in der Grundschule zwei Wochenstunden und setzt in den meisten Bundesländern in Klasse 3 ein. Wenn nahezu kein Unterricht ausfällt, bedeutet das, dass in den Klassen 3 und 4 etwa 150 Schulstunden à 45 Minuten als Kontaktzeiten zur Fremdsprache zusammenkommen. 12 Das ist ein enormes Gefälle, selbst wenn es in der Grundschule noch nicht um umfassende, sondern um basale Kommunikationsfähigkeit in der Fremdsprache geht (A1, vereinzelt A2 gefordert), das nochmals so verdeutlicht werden kann: Die durchschnittliche Kontaktzeit mit der Familiensprache / der deutschen Sprache pro Lebenswoche entspricht in etwa der Kontaktzeit mit der Fremdsprache, die einem Dritt- oder Viertklässler in einem ganzen Schuljahr zur Verfügung steht (vgl. Sambanis 2007: 57). Es stellt daher eine methodische Notwendigkeit dar und ist „allgemeiner Konsens, dass die Fremdsprache als Arbeitssprache des Unterrichts durchzusetzen ist“ (Butzkamm 2010: 41). Daneben wird auch die Frage der Rolle und des Ausmaßes des Einsatzes der deutschen Sprache bzw. zunehmend auch von Herkunftssprachen im Fremdsprachenunterricht immer wieder neu und teilweise kontrovers diskutiert. Wenn die Fremdsprache weitgehend zur Arbeits- und Unterrichtssprache wird, bedeutet das, dass Lernende sich nicht auf ihre soliden oder in der Regel zumindest vergleichsweise soliden Kompetenzen in der deutschen Sprache verlassen können, um Inhalte darzustellen und Beiträge in den Unterricht einbringen zu können. 13 Vielmehr müssen sie sich eines Mediums bedienen, das Lerngegenstand und Ziel des Unterrichts ist, in dem sie es schon gebrauchen sollen. „Sprache im Unterricht ist wie ein Werkzeug, das man gebraucht, während man es noch schmiedet“ (Butzkamm 1989: 110). Nachvollziehbarerweise kann dies „affektive Reaktionen-[…] [hervorrufen, denn Lernende begeben sich dadurch in Situationen], in denen sie mit einer Sprache bzw. dem Lernen und Gebrauch dieser Sprache konfrontiert werden, die nicht beherrscht wird“ (Riemer 2016: 269). 4.3.2 Foreign Language Anxiety als situationsspezifische Angst In der Fremdsprachendidaktik hat sich der Begriff der Foreign Language Anxiety etabliert (seltener Xenoglossophobie). Er subsummiert die in das Spektrum Angst fallenden emotionalen Reaktionen (Unbehagen, Nervosität, Anspannung usw.), die durch das Verwenden 12 Die Berechnung basiert auf dem Mittelwert (39,6) der Anzahl der Schulwochen in den deutschen Bundesländern im Schuljahr 2015 / 2016. Diese variierte zwischen 37 (Sachsen) und 42 (Brandenburg). 13 Kinder mit geringen Deutschkenntnissen, z. B. Flüchtlingskinder, stehen in den meisten Schulfächern vor der Herausforderung, sich in einer Sprache ausdrücken zu müssen, die ihnen zumindest in Teilen noch fremd ist. Das schränkt auf inhaltlicher Ebene ein, kann Druck und Frustration aufbauen, möglicherweise in unterschiedlichen Fächern zu Sprachverwendungsangst führen. <?page no="111"?> 110 4. Emotionen und Motivation bzw. Lernen einer Fremdsprache ausgelöst werden können. In den 1970er-Jahren werden hierzu erste Studien durchgeführt (vgl. Nerlicki & Riemer 2012: 89, Riemer 2016: 268). Fremdsprachenängste sind „situationsspezifischer und sozialer Natur“ (ebd.). Sie können in- und außerhalb des institutionellen Kontexts auftreten und sich, wie Nerlicki & Riemer (ebd.) unter Bezugnahme auf MacIntyre (1995: 91, zitiert ebd.) ausführen, auf verschiedene Bereiche auswirken, nämlich den kognitiven (z. B. verminderte Verarbeitungskapazität), den emotionalen (u. a. geringe Erfolgszuversicht, Versagensängste), den somatischen (z. B. Erröten) und den behavioralen (z. B. Erregung). 1986 veröffentlichen Horwitz und Kollegen die Foreign Language Classroom Anxiety Scale ( FLCAS ), ein seitdem in Studien viel genutztes Instrument zur Erfassung von Fremdsprachenangst im Unterricht. Weitere, spezifische Teilkompetenzen fokussierende Instrumente folgen, z. B. zur Erfassung von Foreign Language Reading Anxiety ( FLRAS ) oder Foreign Language Listening Anxiety ( FLLAS ). Die FLCAS umfasst drei Variablen, nämlich „communication apprehension,- […], test anxiety“ (Horwitz et al. 1986: 127), also Kommunikationsangst und Angst vor Testsituationen sowie „fear of negative evaluation“ (ebd.), die Angst vor „negativer Bewertung durch Mitlernende und Lehrer“ (Riemer 2016: 269). Fremdsprachenverwendungsängste beschränken sich überdies nicht zwingend auf das Sprechen. Sie können auch bei der Sprachrezeption, also beim Hören / Hör-(Seh-)Verstehen und Lesen, auftreten. Der Lernende empfindet dann Unsicherheit und ist besorgt, dass er beim Zuhören oder Lesen nicht alles oder nicht schnell genug versteht. Die Auseinandersetzung mit Fremdsprachenverwendungsängsten stellt auch vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen und noch bevorstehender beachtlicher Integrationsaufgaben ein Thema von großer Relevanz dar. Ziel ist es, Angst auslösende oder Angst begünstigende Faktoren zu identifizieren und den Unterricht entsprechend weiterzuentwickeln, d. h. auch unterrichtliche Interventionen hinsichtlich ihrer Effektivität zu evaluieren. Eine auf eine Minimierung von Sprachverwendungsängsten und eine Optimierung von Sprachbildung und Sprachförderung zielende Weiterentwicklung von Unterricht darf sich dabei nicht auf die Sprachenfächer beschränken, sondern bildet eine Aufgabe, der sich alle Fachdidaktiken stellen und darüber miteinander sowie mit Bezugswissenschaften noch intensiver in den Dialog kommen müssen. People who typically have trouble speaking in groups are likely to experience even greater difficulty speaking in a foreign language class where they have little control of the communicative situation and their performance is constantly monitored. (Horwitz et al. 1986: 127) Das Gefühl, kontrolliert und beurteilt zu werden, das Horwitz und Kollegen hier ansprechen, nimmt bei vielen Lernenden in der Pubertät zu (zur Adoleszenz vgl. 2.6). Besonders in der frühen Adoleszenz (11-14 Jahre) sind viele Heranwachsende recht selbstzentriert und gehen davon aus, die Umwelt wäre in gleicher Weise auf sie fokussiert wie sie selbst. „Sie fühlen sich, als stünden sie permanent auf einer Bühne, würden beobachtet und beurteilt. In der Psychologie spricht man in diesem Zusammenhang vom Imaginary-Audience-Konzept“ (Böttger & Sambanis 2017: 51). Beim Fremdsprachenlernen kann auch Angst vor der Kommunikation mit Muttersprachlern auftreten, z. B. in der Schule, wenn Muttersprachlerinnen und Muttersprachler als <?page no="112"?> 111 4.3 Sprachverwendungsangst in der Fremdsprache Lehrkräfte eingesetzt werden. Im Grunde stellen sie eine wertvolle Ressource dar, aber fremdsprachige Muttersprachlerinnen und Muttersprachler sollten sich bewusst sein, dass durch ihre hohe Kompetenz Angst ausgelöst werden kann. Fremdsprachenverwendungsängste können ebenso außerhalb der Schule bei sprachlichem Kompetenzgefälle auftreten. Außerdem kann es in nahezu allen Unterrichtsfächern zu Sprechangst kommen, etwa dann, wenn ein Lernender einen Sachfachinhalt darstellen soll und fürchtet, in fachsprachlicher Hinsicht unter dem Niveau der Hörerinnen und Hörer einschließlich der Lehrkraft zu bleiben. Die sogenannten learner beliefs spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Ängsten: Da, wo die Lernerüberzeugungen [z. B. im Hinblick auf die in den Lernprozess zu investierende Zeit] und die Lernwirklichkeit (z. B. die Gestaltung des Unterrichts) stark auseinandergehen, kann es in der Folge zu einem Absinken der Motivation und zu negativen Gefühlen kommen. (Nerlicki & Riemer 2012: 90, vgl. die Befunde von Beermann & Cronjäger 2011) Zur Beantwortung der Frage, wie sich Lernende selbst ihre Sprechängste in Bezug auf eine Fremdsprache erklären, haben Nerlicki & Riemer (2012: 91 ff.) qualitative Daten aus unterschiedlichen Studien zusammengeführt. Folgende Erklärungsmuster können daraus abgeleitet werden: Die von Lernenden meistgenannte Ursache, die sie an einer unbeschwerten Verwendung der Sprache hindert, ist die Angst vor Fehlern. Im Umgang mit Fehlern zeigten sich interindividuelle Unterschiede, wobei besonders ängstliche Lernerinnen und Lerner zwecks Kompensation zur Anwendung von Vermeidungsstrategien tendierten. Die Daten bestätigen außerdem, dass die Art und Weise, wie im Unterricht mit Fehlern umgegangen wird, zu Ängsten führen kann. Bemerkenswert erscheint dabei u. a., dass das sogenannte Timing, mit dem Korrekturen eingebracht werden, als sensibler Punkt wahrgenommen wird. Das Unterbrechen des Sprachflusses wird vielfach nicht nur emotional, sondern auch kognitiv als störend empfunden. Unterbricht die Korrekturmaßnahme den Gedankengang, empfinden es viele Lernende als schwierig oder unmöglich, inhaltlich fokussiert zu bleiben und die angestrebte Qualität des Beitrags trotz der Unterbrechung zu erreichen. Außerdem nehmen viele Fremdsprachenlernerinnen und -lerner, wie weiter oben schon angesprochen, eine Diskrepanz zwischen dem wahr, was sie gerne ausdrücken möchten und dem, was sie bereits in der Lage zu sagen sind. Auch der Vergleich mit anderen Lernern kann Angst begünstigen, wobei besonders ängstliche Schülerinnen und Schüler dazu zu neigen scheinen, sich zu unterschätzen (Nerlicki & Riemer 2012: 93). Im Übrigen zeigen z. B. asiatische oder osteuropäische Lernerinnen und Lerner relativ häufig Fremdsprachenverwendungsangst- - eine Beobachtung, die mit der gebotenen Vorsicht im Hinblick auf den Einfluss von Gesellschaftsstrukturen zu deuten ist. Die aufgeführten Erklärungsansätze liefern erste Hinweise darauf, wo bei der Entwicklung von Maßnahmen angesetzt werden kann, z. B. beim Hinwirken auf realistische Erwartungen an den Verlauf des Lernprozesses, ein gesundes Maß an Gelassenheit im Hinblick auf Fehler, geeignete Korrekturmaßnahmen (einige Prinzipien der mündlichen Korrektur finden sich bei Böttger & Sambanis 2017: 114 ff.) etc., aber umfassende didaktische Lösungsansätze müssen noch gefunden werden (vgl. Nerlicki & Riemer 2012: 96). <?page no="113"?> 112 4. Emotionen und Motivation Hattie (2009: 50) fordert Lehrkräfte auf, „to consider methods to reduce anxiety, as it can be an important barrier to learning“ (für Anregungen vgl. das sich an 4.4 anschließende Praxisfenster). Die Effektstärke von „reducing anxiety“ (ebd.) liegt bei d = 0.40, d. h. sie entspricht genau dem Schwellenwert, „where effects of innovation enhance achievement in such a way that we can notice real-world differences“ (Hattie 2009: 17). 4.4 Mathematikphobie Während im Grundschulalter (4. Klassenstufe) die Einstellung gegenüber dem Fach Mathematik noch im positiven Bereich liegt (vgl. Bos et al. 2008), wird im Laufe der Schulzeit der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit einer negativen Einstellung gegenüber Mathematik immer größer. Das Selbstkonzept im Bereich Mathematik sinkt, und ein Teil der Schülerinnen und Schüler entwickelt eine stabile Mathematikangst. Die im Rahmen der PISA -Studie 2003 erhobenen Daten zur Angst vor Mathematik zeigen, dass sich etwa die Hälfte der 15-Jährigen oft darüber Sorgen macht, dass es für sie im Mathematikunterricht schwierig sein wird und dass sie in Mathematik schlechte Noten bekommen. Ein Drittel der Befragten gibt an, sehr angespannt zu sein, wenn sie Mathematikhausaufgaben machen, und etwa 20 % berichten von Gefühlen der Unruhe und / oder Hilflosigkeit beim Lösen von Mathematikaufgaben (vgl. Pekrun et al. 2005). Mit dem Absinken des Selbstkonzepts in Mathematik setzt ein Teufelskreis ein. Ein niedriges Selbstkonzept führt zu einer verstärkt negativen emotionalen Bewertung von Fehlern und damit zu subjektiv geringeren Leistungen in Mathematik. Dadurch sinkt das Selbstkonzept weiter und die Wahrscheinlichkeit, eine Mathematikangst auf der Basis einer allgemeinen Angst vor Fehlern zu entwickeln, steigt. Die mit dem Gefühl Angst verbundenen (hirn-)physiologischen Prozesse verschlechtern die kognitive Leistungsfähigkeit-- die ja insbesondere beim Lösen von Mathematikaufgaben benötigt wird-- weiter, sodass das Auftreten von Fehlern noch wahrscheinlicher wird. Menschen mit Angst vor Mathematik vermeiden Mathematik. Aufgrund fehlender Übung und Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsstoff sinkt die Leistung zusätzlich, wodurch die Wahrscheinlichkeit für Misserfolg und die Angst weiter gefördert werden. Tatsächlich ist es so, dass Menschen, die bereits eine Mathematikangst entwickelt haben, 14 sich sozusagen zu Recht fürchten. In einer kernspintomographischen Studie konnten Lyons & Beilock (2012) zeigen, dass bei Menschen mit Angst vor Mathematik die Schmerzareale im Gehirn aktiv werden, wenn man ihnen ankündigt, dass sie bald eine Mathematikaufgabe lösen sollen. Diese Schmerzareale (Teile des Cingulum und der sogenannten Insula, vgl. 4.6) sind normalerweise aktiv, wenn Menschen tatsächlich Schmerzen empfinden. Mathematik tut also weh-- zumindest denjenigen mit (großer) Angst vor Mathematik. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Aktivität der Schmerzareale nach der Ankündigung der Rechenaufgabe besonders hoch ist, während der Lösung der Aufgabe dagegen ist die neuronale Aktivierung der Schmerzareale kaum höher als im Ruhezustand. 15 14 Erhoben mit der Kurzversion den Mathematics Anxiety Rating Scale ( MARS , Suinn & Winston 2003). 15 Mittelwert der Versuchspersonen, bei einzelnen Personen kann die Aktivität weiterhin erhöht sein. <?page no="114"?> 113 4.4 Mathematikphobie Warum aber ist ausgerechnet Mathematik als Fach so angstbesetzt, dass bei einigen Personen sogar die Schmerzareale reagieren? Einer der Gründe hierfür könnten die hohen Anforderungen sein, die Mathematik an die kognitive Leistungsfähigkeit stellt. Bei der Bewältigung von Mathematikaufgaben werden große Bereiche sowohl der frontalen als auch des parietalen Assoziationscortex benötigt. Stehen diese vorübergehend (oder generell, wie bei Dyskalkulie) nicht zur Verfügung, gelingt die Lösung der Aufgabe nicht. Da aber bei Kindern und Jugendlichen die Kapazität der Assoziationsareale und insbesondere des frontalen Assoziationscortex noch gering und relativ instabil ist (vgl. Kap. 2), ist die Wahrscheinlichkeit für Fehler recht groß, selbst dann, wenn die Aufgabe im Prinzip beherrscht wird. Erst die Automatisierung, die viele Übungsdurchgänge nötig macht, führt dazu, dass Rechnungen immer zuverlässig fehlerfrei ausgeführt werden. 16 Das hat allerdings nichts mit mathematischem Wissen und Können zu tun, sondern mit der Konzentrationsspanne und der Speicherkapazität des Arbeitsgedächtnisses (vgl. Ramirez et al. 2016). Einen zusätzlichen Beitrag zum Phänomen der Mathematikangst könnten verbreitete Meinungen leisten, z. B. dass Mathematik ein besonders schweres Fach sei oder dass Mädchen ohnehin nicht rechnen könnten. Auch die Tatsache, dass häufig damit kokettiert wird und es sozial akzeptabel ist, wenn jemand von sich behauptet, er sei in Mathematik unbegabt oder „eine glatte Niete“, könnte die Einstellung gegenüber Mathematik beeinflussen. In einem interessanten Experiment konnten Dar-Nimrod und Heine (2006) zeigen, wie Überzeugungen Mathematikleistungen beeinflussen können: 92 Frauen im Alter von 17 bis 48 Jahren lösten identische Mathematikaufgaben. Während sie sich vor dem Test in einem Wartezimmer aufhielten, wurden sie Zeugen einer gestellten Situation, in der eine Person als Probandin oder Proband eines anderen Experimentes auftrat und eine zweite als Versuchsleiterin bzw. Versuchsleiter. In dieser Situation wurde der scheinbaren Probandin bzw. dem scheinbaren Probanden eine der folgenden Informationen gegeben: 1. Männer und Frauen schneiden in Mathematik-Tests gleich gut ab. 2. Der weibliche Körper spielt in der Kunst eine wichtige Rolle. Warum ist das so? (Standard-Vorurteil) 3. Männer sind 5 % besser in Mathe-Tests als Frauen. Warum? Weil das Y-Chromosom der Männer bestimmte Gene enthält, die den Frauen fehlen. (Genetik) 4. Männer sind 5 % besser in Mathe-Tests als Frauen. Warum? Weil Lehrkräfte an Jungen im Grundschulalter höhere Erwartungen stellen als an Mädchen. (Erfahrung) Die Frauen, die mit dem Standard-Vorurteil oder der genetischen Begründung konfrontiert worden waren, schnitten in dem anschließenden Mathematiktest deutlich unterdurchschnittlich ab. Dagegen erreichten die Frauen, die zuvor gehört hatten, dass es keinen Unterschied gebe oder dass der Unterschied lediglich durch die unterschiedlichen Lehrererwartungen bedingt sei, doppelt bis dreimal so viele Punkte im Test. 16 Bei Erwachsenen dagegen gelingt die korrekte Berechnung auch ohne Automatisierung deutlich leichter. Legt man als Maßstab für die Leistung die Fehlerrate zugrunde, sind die Anforderungen an das Wissen und Können von Kindern und Jugendlichen höher als die an Erwachsene, die dieselbe Aufgabe bewältigen sollen, weil Erwachsene verlässliche Assoziationsareale (vgl. 2.3) als Unterstützung nutzen können. <?page no="115"?> 114 4. Emotionen und Motivation Dieses Ergebnis bedeutet aber nicht, dass ausschließlich mathematikbezogene Überzeugungen als Ursache für Angst vor Mathematik zu betrachten seien. So spielen auch Misserfolgserfahrungen eine Rolle und sogar genetische Voraussetzungen haben einen Einfluss. Insgesamt sind Menschen, die aufgrund ihrer genetischen Veranlagung dazu tendieren, Ängste zu entwickeln, auch stärker gefährdet, eine Mathematikangst zu bekommen (vgl. Wang et al. 2014). Es verhält sich hier ebenso wie bei anderen genetischen Veranlagungen: Wenn zu einer gewissen genetischen Vulnerabilität zusätzlich ungünstige Erfahrungen hinzukommen, wird die genetische Disposition sichtbar, z. B. in Form einer Mathematikangst. Allerdings erhöht die genetische Disposition die Chance allgemein, irgendeine Angst zu entwickeln. Ein spezifisches Mathematikangst-Gen gibt es nicht. Neben bereits bestehenden Überzeugungen, eigenen Erfahrungen und genetischen Voraussetzungen spielen auch Lehrkräfte als Vorbilder eine erhebliche Rolle. Mädchen, die in der ersten oder zweiten Klasse im Fach Mathematik von Lehrerinnen unterrichtet wurden, die selbst Angst vor Mathematik hatten, zeigten schlechtere Ergebnisse in Mathematik als Schülerinnen, deren Lehrerin keine Angst vor Mathematik hatte (vgl. Beilock et al. 2010). Die Analysen ergaben, dass der Effekt durch geschlechtsstereotype Vorstellungen bezüglich der Leistungsfähigkeit von Jungen und Mädchen in Mathematik und sprachlichen Fächern vermittelt wurde. Pädagogische Maßnahmen sollten also sowohl die emotionale Komponente Ängstlichkeit als auch den Umgang mit und die Bewertung von Fehlern sowie die Ausbildung ungünstiger Überzeugungen im Blick haben.  Praxisfenster Peter: Das Thema Angst ist eines, das man als Lehrkraft nicht ausblenden darf, auch wenn ich dem zustimme, dass ebenso andere Emotionen erforscht werden sollten. Wahrscheinlich macht es sogar mehr Spaß, wenn man als Forschender z. B. Freude statt Angst untersuchen kann. Gesa: Welche Emotion würde dich denn im positiven Spektrum besonders interessieren? Peter: Mich würden Studien interessieren, die Vorfreude auf etwas und Freude oder auch Stolz nach gemeisterter Herausforderung näher beleuchten. Aber ich finde auch die Erkenntnisse zur Angst wichtig, zumal ich mit Jugendlichen arbeite, von denen einige durch hohe Erwartungen des Umfelds Druck erfahren. Immer wieder habe ich Schülerinnen und Schüler die sich nicht trauen, etwas zu sagen. Selbst wenn ich sie ermutige, etwas beizutragen und Interesse an ihrer Meinung zeige, kostet es sie sichtlich Überwindung und sie fassen sich so kurz wie möglich oder sprechen ganz leise. Claudia: Das kenne ich von meinen Schülerinnen und Schülern auch: Manche sind von Anfang an, also wenn sie in die Schule kommen, ziemlich stille kleine Persönlichkeiten. Einige tauen mit der Zeit auf, andere nicht so, und wenn sich dann gegen Ende der Grundschulzeit die Pubertät ankündigt, kommt nochmal Bewegung rein: Dann gibt es Kinder, die vorher ganz munter waren, plötzlich, zumindest im Unterricht, aber deutlich reservierter sind. Peter: Mir macht es etwas aus, wenn ich sehe, dass meine Schülerinnen und Schüler Angst haben. Ich bin bestimmt kein Pädagoge, der Angst als Lernverstärker nutzt, auch wenn ich weiß, dass es ein paar Studien geben soll, die belegen, dass in manchen Fällen niedrigschwellige Angst das <?page no="116"?> 115 4.4 Mathematikphobie 17 Vgl. Zeidner 2007. Leistungsniveau heben könnte. Ich setze jedoch, wann immer möglich, auf positive Emotionen, alles andere wäre mit meinen pädagogischen und ethischen Vorstellungen nicht vereinbar. Und positive Emotionen bringen unterm Strich doch sowieso mehr, oder gibt es dazu Erkenntnisse, von denen man noch nichts gehört hat? Dianne: Meines Wissens nicht, ich würde dir auf jeden Fall zustimmen. 17 Gesa: Menschen erinnern sich gerne an Erlebnisse, Informationen usw., die sie zusammen mit positiven Emotionen eingespeichert, also positiv belegt haben. Es fühlt sich gut an, wenn sie sich daran erinnern, und bei jedem Erinnern speichern sie sozusagen die Inhalte erneut ein und festigen das zugehörige Aktivierungsmuster im Gehirn. Claudia: Das führt uns dann weiter zu der Frage, wie positive Emotionen im Unterricht gefördert werden können oder, um bei Peters Frage zu bleiben, wie es uns gelingen kann, Schülerinnen und Schülern die Angst zu nehmen - falls das überhaupt geht. Ich glaube nämlich, dass wir beide, du, Peter, bei den Größeren und ich bei den Jüngeren, eigentlich zwei Beispiele für Lehrkräfte sind, die sowieso schon darauf achten, dass ein angenehmes Arbeits- und Klassenklima herrscht, und trotzdem muss ich mir die Frage stellen, wie ich ängstliche Kinder stärken und ermutigen kann. Ich habe es schon ganz oft mit gutem Zureden versucht, den Kindern gesagt, dass ich weiß, sie können es schaffen und dass sie sich z. B., wenn sie ein Buch vorstellen oder einen kleinen Vortrag halten sollen, die anderen im Klassenzimmer als Mickeymäuse oder Tomaten vorstellen sollen. Das finden sie zwar im Moment lustig, aber ich habe trotzdem den Eindruck, dass sie sich nicht bedeutend wohler fühlen, wenn sie dann dran sind. Dianne: Bei manchen verfliegt die Angst, dann wohl eher eine Form der Anspannung, nach anfänglicher Überwindung, wenn sie sich warm sprechen, aber bei den Kindern, die wirklich z. B. unter Sprech- oder Prüfungsangst leiden, ist, glaube ich, das gute Zureden nicht genug. Sich durch gutes Zureden als Lehrkraft oder Eltern empathisch zu zeigen, ist sicher nicht falsch, aber es löst nicht das Problem der Hilflosigkeit und stellt dem Gefühl, letztlich doch allein in seiner Haut zu stecken und sich in dieser Haut nicht wohlzufühlen, im Grunde wenig entgegen. Es braucht einen anderen Ansatzpunkt, zumindest ergänzend. Gesa: Das Problem an dieser Situation, wie es sich mir darstellt, ist, dass die genannten Strategien eigentlich auf einer Ebene ansetzen, die nicht ganz funktionstüchtig ist, wenn gerade Angst ins Spiel kommt: Soll ich mir vorstellen, dass die Zuhörer Tomaten oder Kohlköpfe sind, fordert das eine Leistung, nämlich die der Imagination und die soll dann eine Art kathartischen Effekt auf emotionaler Ebene haben. Das ist aber ein ziemlicher Umweg. Gerade, wenn die Amygdala Alarm schlägt, das Stresshormonlevel ansteigt und Angst regiert, ist das wirklich viel verlangt bzw. nahezu unmöglich zu leisten. Gut wäre es, statt bei der Kognition, also z. B. bei der Einsicht anzusetzen, dass die Situation, nüchtern betrachtet, gar nicht Angst auslösend sein muss, sozusagen auf Augenhöhe mit der Amygdala anzusetzen, denn nüchternes Betrachten gelingt im akuten Alarmzustand genauso wenig, wie z. B. das Hervorbringen von besonders kreativen Einfällen. Claudia: Und was wäre ein Ansatzpunkt, konkret gesprochen? Gesa: Das ist zwar nicht mein Spezialgebiet, aber ich würde sagen z. B. die Atmung, so, wie es im Bereich von Mindfulness vielfach gemacht wird. <?page no="117"?> 116 4. Emotionen und Motivation 18 Es handelt sich um Böttger & Sambanis 2017: 104 ff. 19 Vgl. Carney et al. 2010. Die in der Studie gefundene Reduktion des Stresshormonlevels konnte durch eine Replikationsstudie nicht bestätigt werden, was aktuell diskutiert wird und unterschiedliche Gründe haben kann (z. B. Dauer der Intervention und individuelle Unterschiede, Testkits zur Bestimmung des Hormonlevels). Die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer schätzten sich aber auch in Replikationen nach der Power Pose zuversichtlicher und risikobereiter ein. Neurowissenschaftliche und (sozial-) psychologische Studien zur Embodied Cognition können flankierend bei der Beurteilung von Power Posing hinzugezogen werden (vgl. Kap. 5). Beispielsweise konnte nachgewiesen werden, dass das Halten eines Stiftes zwischen den Schneidezähnen dazu führt, dass Probandinnen und Probanden Cartoons, die ihnen zur Betrachtung vorgelegt werden, lustiger finden-- gewissermaßen lächeln sie ja bereits wegen des Stifts (vgl. Meier et al. 2012: 707). Auch hier beeinflusst der Köper die Wahrnehmung. Dianne: Dieser Idee bin ich in mehreren meiner Seminare nachgegangen und zwar in solchen, die unmittelbar vor oder begleitend zu den ersten akkumulierten Unterrichtsversuchen der Lehramtsstudierenden stattgefunden haben. Wir haben dort Übungssequenzen verankert, die auf angstreduzierende Tiefenatmung, also besonders Bauchatmung, und auf Verwurzelung im Boden zielen. Manche Studierende erlebten es als sehr gewöhnungsbedürftig, insgesamt waren die Rückmeldungen trotzdem recht positiv, vor allem, wenn die Übungen über längere Zeit und auch außerhalb des Kurses wiederholt wurden. Allerdings zeigte sich in den Rückmeldungen auch ein gewisser Trend zur Enttäuschung: Manche empfanden das Üben der Atmung und Verwurzelung als sehr mühsam und langwierig, bis sie erste Erfolge in belastenden Situationen verbuchen konnten bzw. einigen gelang es im Bedarfsfall gar nicht, die Entspannung über die Atmung und das sichere Auftreten über die Verwurzelung zu induzieren. Peter: Ähnliche Erfahrungen habe ich mit Atemübungen auch gemacht: Es braucht Geduld, Offenheit für das Verfahren sowie einige Übung, und in der konkreten Situation muss es gelingen, sich an das Verfahren zu erinnern, d. h. nicht zu blockieren. Ich halte Atemübungen usw. trotzdem für sinnvoll, schon alleine, um mit der Klasse kurz zur Ruhe zu kommen und gerade Pubertierenden eine Möglichkeit zu zeigen, um mal herunterzufahren. Ich habe aber in einem vor einigen Monaten publizierten Buch etwas gelesen, 18 sozusagen eine pragmatische Alternative oder Ergänzung zum Versuch des Wegatmens von Angst entdeckt. Davon wollte ich euch unbedingt berichten. Es ist ja bekannt, dass man selbstbewusste Menschen an der Art erkennt, wie sie sich bewegen bzw. schon an ihrer Körperhaltung. Ganz im Gegenteil zu Selbstzweiflern und Unsicheren, machen sie sich groß, stehen aufrecht, nehmen Raum ein und zeigen dadurch Präsenz. Man könnte sagen, dass die Einstellung die Körperhaltung beeinflusst und sich darin spiegelt. An dieser Stelle kann man sich dann fragen, ob das nicht auch umgekehrt geht: Ist es möglich eine offene, sich groß machende Körperhaltung einzunehmen und damit die Erfolgszuversicht usw. zu steigern, das Stresshormonlevel zu senken? Und, jetzt kommt es, das scheint tatsächlich zu funktionieren. Man nennt das dann Power Posing. 19 Claudia: Wie muss ich mir das vorstellen? Übt man die Körperhaltung ein und wie sieht die aus? Peter: Regelrecht einüben muss man sie nicht, jeder kann sie sofort einnehmen. Man stellt sich z. B. leicht breitbeinig hin und stützt die Arme in die Hüfte. Das bekommt man auch noch bei Angst auslösenden Situationen hin, denn, und das ist aus meiner Sicht ein Vorteil des Power Posing: Es ist nicht schwierig, eine solche Körperhaltung einzunehmen, und offenbar zeigt sich schon nach <?page no="118"?> 117 4.4 Mathematikphobie 20 Vgl. hierzu vor allem Zeidner 2007, Ramirez & Beilock 2011 sowie die zusammenfassenden Anmerkungen bei Sambanis 2013: 35 ff. einer zwei Minuten andauernden Power Pose eine Reduktion des Stresshormonlevels. Ich werde davon auf jeden Fall meinen Klassen berichten, denn das ist ein Verfahren, das nicht verkopft ist und damit gute Chancen hat, das zu erreichen, was du, Gesa, vorhin gesagt hast: Sozusagen auf Augenhöhe mit der Amygdala anzusetzen, bei etwas, das wirklich einfach ist und offenbar auch ohne Übung entspannende bzw. in diesem Fall die Selbstwahrnehmung und Selbstzuversicht stärkende Effekte zeigen kann. Dianne: Aus Praktikersicht finde ich das sehr spannend, habe auch gleich Ideen, wie ich das im Rahmen meines Empowerment-Programms für Lehramtsstudenten einsetzen könnte. Es klingt für mich plausibel. Als Forscherin würde ich gerne Daten im institutionellen Kontext dazu erheben, um Genaueres sagen zu können, speziell im Hinblick auf Effekte bei Lernenden unterschiedlichen Alters und auch bei Lehrkräften. Gesa: Power Posing ist meines Wissens in dieser Form eine noch recht neue Entdeckung. In der Forschung wurde bislang eher dem Schreiben als mögliche angstreduzierende Intervention Beachtung geschenkt. Schreiben vor Prüfungen, insbesondere der schriftliche Ausdruck von Gefühlen und Gedanken zur bevorstehenden Prüfung, soll dazu beitragen, Emotionen einordnen zu können und dadurch im besten Falle den Eindruck zu erlangen, die negativen Emotionen unter Kontrolle gebracht zu haben. Selbst wenn direkt nach der Schreibintervention temporär mehr negative Affekte vorhanden sein können, was auf die Auseinandersetzung mit den Gefühlen und Gedanken zurückzuführen ist, die dadurch präsent werden, zeigen sich besonders in Studien unter Laborbedingungen positive Wirkungen im Hinblick auf die Prüfungsergebnisse sowie teilweise auf das Angsterleben. Peter: Ich könnte mir vorstellen, dass durch eine der Prüfung vorausgehende Schreibintervention die negativen Gedanken und Gefühle, die sonst in der Prüfungssituation selbst aufspringen und die Konzentration auf die Aufgaben erschweren oder einschränken könnten, vom Lernenden tatsächlich irgendwie als bearbeitet empfunden werden. Vielleicht kann er sich so besser auf die gestellten Aufgaben konzentrieren. Gesa: Genau, man geht davon aus, dass die durch einige Studien nachgewiesenen positiven Effekte 77 vor allem darauf zurückzuführen sind, dass das Abrufen von Wissen nicht durch ein hohes Angstlevel vereitelt bzw. erschwert wird und dass so die Kapazitäten des Arbeitsgedächtnisses für die Prüfungsaufgaben genutzt werden können. Dianne: Und das kann zu besseren Leistungen führen, zumindest in solchen Fällen, in denen die Angst den Zugriff auf vorhandenes Potenzial blockiert und nicht als Folge von mangelnder Vorbereitung und klaffenden Lücken auftritt. Die meisten Studien wurden meines Wissens mit Probanden im jungen Erwachsenenalter durchgeführt und nicht alle konnten nennenswerte Leistungsverbesserungen oder eine merkliche Reduktion von Prüfungsangst nachweisen. Allerdings könnte das sehr viele Ursachen haben, z. B. auf die Art, wie und wann die Schreibintervention durchgeführt wurde, zurückzuführen sein. Schädlich scheinen Schreibinterventionen jedenfalls nicht zu sein. <?page no="119"?> 118 4. Emotionen und Motivation 21 Der Mittelwert der Experimentalgruppe lag bei 35,1 Punkten, der der Kontrollgruppe nur bei 28 Punkten (vgl. die in der Didaktik des Englischen an der FU Berlin betreute Masterarbeit von Hänsel 2017: 43). Peter: Und mit echten Schreibimpulsen kann man, gerade im Deutschunterricht, ja auch noch ganz andere Ziele verfolgen, nämlich didaktische im Bereich der Schreibförderung. So gesehen würde man mit dem Schreiben über Prüfungsangst vielleicht sogar zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Mich würden in Zusammenhang mit der Frage nach Angstreduktion durch Schreiben Studien mit Teenagern besonders interessieren. Dianne: Mir ist eine Studie bei Abiturienten bekannt, bei der Schreibinterventionen eingesetzt wurden und zwar mehrmals, d. h. nicht direkt vor der Prüfung, sondern im Zeitraum davor. Interessanterweise wurde dort festgestellt, dass sich die Fehlzeiten der Schülerinnen und Schüler, die an der Schreibintervention zu emotionalen Aspekten des Abiturs teilnahmen, reduzierten und sich die Noten auch gut entwickelten. Gesa: Von der Studie habe ich auch gehört und erinnere mich, dass das Forscherteam bei einigen der Probandinnen und Probanden im Kernspintomographen die Hirnaktivität gemessen hat, während diese sich gedanklich mit negativen Wörtern auseindersetzten, die auf die Prüfungen bezogen waren. Nach der Schreibintervention über abiturbezogene Gedanken und Gefühle samt einer positiven Umbewertung der Situation zeigte sich in bestimmten Hirnregionen, die mit automatischen emotionalen Reaktionen und emotionalen Erinnerungen in Verbindung stehen, eine geringere Aktivität. Das kann darauf hinweisen, dass die gedankliche Auseinandersetzung mit dem Abitur zusammen mit der Umbewertung in Richtung Zuversicht die Aktivierung des Gehirns beeinflusst. Dianne: Aus der Englischdidaktik ist mir noch eine kleine Studie im Rahmen einer Abschlussarbeit bekannt, bei der in Klasse 10 vor einer Probeklausur zum Mittleren Schulabschluss zuerst u. a. das Prüfungsangstlevel erfasst wurde, dann fand eine Schreibintervention statt, im Anschluss die Probeklausur im Fach Englisch und danach retrospektiv eine Bewertung der Schreibintervention durch die Lernenden. Zur Beurteilung der Leistungen wurden die in der Klausur erreichten Punkte sowie die Vornoten der Lernenden genutzt und außerdem zum Vergleich die Leistungen einer Kontrollgruppe ohne Schreibintervention. In der Arbeit wird von hoher Bereitschaft, das Schreibangebot anzunehmen, berichtet, was deine Idee, Peter, bestätigt, dass dies auch ein reizvoller Schreibimpuls sein kann. Die gewonnenen Erkenntnisse, die sich, das muss man vor Augen haben, auf eine kleine Stichprobe beziehen, weisen im Hinblick auf die Akzeptanz des Vorgehens auf eine vorwiegend neutrale Position, also weder auf besondere Begeisterung noch auf Ablehnung, hin und hinsichtlich der Leistungssteigerung auf eine minimale, sozusagen eine mikroskopische Verbesserung der Experimentalgruppe im Vergleich zu ihren Vorleistungen. Das wäre nicht sonderlich bemerkenswert, aber der Vergleich zwischen Experimental- und Kontrollgruppe, also zwischen den Bedingungen „mit Schreibintervention“ und „ohne Schreibintervention“, stellte sich als bemerkenswert heraus: Die Experimentalgruppe konnte, obschon sie in den vorherigen Leistungen leicht unter der Kontrollgruppe lag, ein deutlich besseres Ergebnis in der Probeklausur erreichen. 78 Wie gesagt, eine kleine Stichprobe, aber aktuelle Daten bei Jugendlichen gewonnen. <?page no="120"?> 119 4.5 Selbstbestimmungstheorie der Motivation 4.5 Selbstbestimmungstheorie der Motivation Ein weiterer affektiver Faktor mit hoher Praxisrelevanz, dem auch in Theorie und Forschung Beachtung geschenkt wird, ist der der Motivation. Motivation verweist auf Antriebe und daraus resultierendem zielgerichteten Handeln. In einem viel verwendeten Zitat wird Motivation auch als „so etwas wie eine milde Form der Besessenheit“ bezeichnet (DeCharms 1979: 55). Im Bestreben, das Phänomen Motivation beschreib-, erfass- und operationalisierbar zu machen, wurden Motivationstheorien erarbeitet (für einen Überblick vgl. Dörnyei 2001). Die Fachdidaktiken nutzen vor allem psychologische Theorien extrinsischer und intrinsischer Motivation, wobei die Triebfeder des Handelns zum wesentlichen Unterscheidungsmerkmal wird: Extrinsisch motiviertes Verhalten wird dabei vielfach als Verhalten verstanden, das auf einen äußeren Anreiz zurückzuführen ist. Intrinsisch motiviertes Handeln resultiert aus inneren Antrieben wie Neugier, Freude an der Herausforderung usw. Die beiden Psychologen Deci und Ryan (1987) gaben mit ihrer Arbeit Anstöße zu einem Verfeinern und Nachjustieren dieser Unterscheidung und legten mit ihrer Selbstbestimmungstheorie/ Self-Determination 22 Zu Self-verbalization ( SV ) bzw. self-questioning und der Effektstärke von d-= 0.64 vgl. Hattie 2009: 193. 23 Zur Aktionsforschung vgl. Infobox in Kap. 3. Claudia: Für meine jüngeren Schülerinnen und Schüler, die ja das Schreiben und Lesen in der Regel erst lernen, wäre eine Schreibintervention wahrscheinlich ziemlich anspruchsvoll, obwohl man ja auch über eine Kombination von geschriebenen Wörtern und ergänzenden Zeichnungen nachdenken könnte. Ich habe aber noch von einem anderen Vorgehen gehört, zu dem es auch Studien geben soll: die Selbstverbalisation. 22 Dabei wird den Kindern z. B. nach dem Stellen einer mündlich zu beantwortenden Frage eine Bedenkzeit eingeräumt, die sie dafür nutzen sollen, mögliche Antworten halblaut vor sich hinzusprechen bzw. ihr Nachdenken leise murmelnd zu begleiten und dadurch ihre Gedanken zu sortieren und sich Formulierungen zurecht zu legen. Sogar Schülerinnen und Schüler mit einem hohen Angstlevel haben wohl rückgemeldet, dass sie sich dadurch zuversichtlicher fühlen und sich besser auf die Aufgabe konzentrieren können. Ich finde das sehr nachvollziehbar und könnte mir vorstellen, dass es gerade für Kinder, die Angst haben, zu sprechen oder fürchten, sich zu blamieren, eine hilfreiche Maßnahme sein könnte. Ich will es mal ausprobieren und hatte die Idee, es sowohl als Zweischritt think aloud (Selbstverbalisation) - share als auch als Dreischritt, think aloud (Selbstverbalisation) - pair - share, einzusetzen. Vielleicht hilft der Zwischenschritt, vielleicht aber auch nicht. Es könnte einfacher sein, von der ordnenden und aktivierenden Phase der Selbstverbalisation direkt über zu gehen ins Klassengespräch und seine Gedanken, frisch sortiert, mitzubringen und einzubringen. Oder aber der Zwischenschritt über den Dialog hilft dabei, die Selbstwahrnehmung zu stärken und mögliche Ängste zu reduzieren. Peter: Interessante Frage, falls du ein Aktionsforschungsprojekt 23 zum Zwei- und Dreischritt machst, lass uns wissen, was dabei herausgekommen ist. Oder wir sprechen uns vorher ab und führen im selben Zeitfenster beide ein Aktionsforschungsprojekt zu dieser Frage durch - du bei deinen Grundschülern und ich bei meinen Pubertisten. <?page no="121"?> 120 4. Emotionen und Motivation Theory ( SDT ) ein „Erklärungsmodell für menschliche Motivation“ (Alm 2007: 6), eine „metatheory“ und ein „framework for the study of human motivation and personality“ vor (vgl. http: / / selfdeterminationtheory.org/ theory/ ). Im Folgenden wird die SDT umrissen und als Bezugspunkt für die sich anschließende Darstellung neurowissenschaftlicher Erkenntnisse genutzt. Einen Anstoß zur Entwicklung der SDT gab die nicht zuletzt für pädagogische Kontexte relevante Beobachtung, dass Belohnungen, „z.B. Geld oder Auszeichnungen“ (Deci & Ryan 1993: 226) als äußere Anreize, nicht zwingend zu einer Steigerung der Motivation führen, sondern sogar das Gegenteil bewirken können, nämlich dann, wenn extrinsische Belohnungen „für eine ursprünglich intrinsische Aktivität“ (ebd.) angeboten werden (Korrumpierungseffekt). Die „Einführung extrinsischer Motivatoren in den Handlungsablauf einer intrinsisch motivierten Tätigkeit [unterminiert] das Gefühl der Selbstbestimmung. Der wahrgenommene Ort der Handlungsverursachung verschiebt sich von innen nach außen“ (ebd.). 24 Intrinsisch motivierte Verhaltensweisen werden „aus persönlichem Interesse durchgeführt“ (Deci & Ryan 1993: 225). Sie sind autotelisch (griech. auto- = selbst, telos- = Ziel), also „selbstbelohnend“ (Sachser 2009: 50 vgl. Csíkszentmihály 1975, Sambanis et al. 2013). Extrinsisch motivierte Verhaltensweisen werden hingegen mit „instrumenteller Absicht durchgeführt-[…], um eine von der Handlung separierbare Konsequenz zu erlangen“ (Deci & Ryan 1993: 225). Deci & Ryan zufolge, reicht eine Unterscheidung zwischen extrinsischer und intrinsischer Motivation nicht aus. Die beiden als „Antagonisten“ (ebd.) zu verstehen greife zu kurz bzw. sei sogar irrig. 4.5.1 Motivationsstufen „In der „Organismic Integration Theory“ ( OIT ), einer Subtheorie der Selbstbestimmungstheorie“ (Alm 2007: 8) unterscheiden Deci & Ryan im Spektrum der extrinsischen Verhaltensregulation vier Typen bzw. „Motivationsstufen“ (ebd.), die auf einem Kontinuum zwischen den Polen Kontrolliertheit und Selbstbestimmung verortet werden und somit entsprechend nah oder fern beim Prototypen selbstbestimmten Handelns, dem intrinsisch motivierten Verhalten, liegen (vgl. Deci & Ryan 1993: 226). Aus didaktischer Sicht muss der Betrachtung der Motivationsstufen vorweggeschickt werden, dass intrinsische Motivationslagen zwar, wie im Folgenden noch dargelegt wird, überaus wünschenswert sind, es aber nicht realistisch erschiene, insbesondere institutionelles Lernen ohne extrinsische Motivationslagen für möglich zu halten. So, wie die Vorstellung, intrinsische und extrinsische Motivation seien schlichtweg Antagonisten, zu kurz greift, ist auch die Formel intrinsisch-= gut, extrinsisch-= schlecht unzulässig verkürzend und im Hinblick auf extrinsische Motivationslagen zu grobkörnig. Sie könnte zu falschen Schlussfolgerungen führen. In Orientierung an der SDT bzw. der OIT wird daher im Folgenden aufgeschlüsselt, welche Nuancen es bei extrinsischer Verhaltens- 24 Zu Belohnung im Unterricht, Überraschungs- oder möglichen Korrumpierungseffekten vgl. Kap. 6 sowie Sambanis 2013: 49 ff. <?page no="122"?> 121 4.5 Selbstbestimmungstheorie der Motivation regulation zu unterscheiden gilt und welcher extrinsische Motivationstyp neben intrinsisch motivierten Verhaltensweisen didaktisch ebenfalls besonders erstrebenswert erscheint: Das höchste Maß an Kontrolliertheit und das geringste Maß an Autonomie und Freiwilligkeit besitzen Verhaltensweisen, die zum Typ 1, dem der „externalen Regulation“ (Deci & Ryan 1993: 227), zählen. Ein Beispiel dafür wäre ein Abiturient, der nur deswegen auf bevorstehende Prüfungen lernt, weil seine Eltern Druck aufbauen, ihm z. B. das Entziehen von Privilegien androhen. Typ 2, die „introjizierte[.] Regulation“ (ebd.), zählt ebenfalls zum Spektrum extrinsischer Motivation, obschon es keine direkten, gezielt den Lernenden adressierenden äußeren Handlungsanstöße gibt: Die „Durchführung einer Handlung [basiert] zwar auf internalisierten Motiven, wird aber immer noch als fremdbestimmt empfunden“ (Alm 2007: 8). Am Beispiel des Abiturienten illustriert, erfolgte die Vorbereitung auf die Prüfungen aus dem Grund, weil auch die Klassenkameradinnen und -kameraden sich den Prüfungen stellen und der Lernende annimmt, sich ohne gleichwertigen Abschluss minderwertig zu fühlen (vgl. ebd.). Wird „eine Verhaltensweise vom Selbst als persönlich wichtig und wertvoll anerkannt-[…], handelt es sich um Typ bzw. Stufe 3 extrinsischer Motivation, den der „identifizierten Regulation“ “ (ebd.). Der Abiturient würde sich in diesem Fall auf die Prüfungen vorbereiten, weil er sich das Ziel gesetzt hat, an einer Universität zu studieren und dafür die Hochschulreife braucht. Der vierte Typ extrinsisch motivierten Verhaltens, die „integrierte Regulation“ besitzt den „höchsten Grad an Selbstbestimmung“ (ebd.) innerhalb des Spektrums extrinsischer Motivation. Deci & Ryan deklinieren ihr Beispiel des Abiturienten an dieser Stelle nicht weiter, vielmehr stellen sie die integrierte Regulation als eine Motivationsstufe dar, auf der es dem Individuum gelingt, sich mit Zielen, Normen und Handlungsstrategien zu identifizieren und diese kohärent dem Selbstkonzept hinzuzufügen. Um die Reihe der Beispiele zu vervollständigen: Ein solcher Abiturient würde sich für den Abschluss und damit gegen ein früheres Beenden seiner schulischen Laufbahn entscheiden, er identifizierte sich mit dieser Zielsetzung, wobei das Bestehen des Abiturs kein sich selbst genügendes Ziel darstellte, sondern durchaus eine instrumentelle Funktion beinhaltete, z. B. das Eröffnen weiterer Bildungs- und bestimmter Ausbildungsmöglichkeiten. Die Unterscheidung von Typen extrinsisch motivierten Verhaltens führt zu der Frage, wie zwischen integrierter Regulation und intrinsischer Motivation unterschieden werden kann, denn beides liegt dicht beieinander und „bildet- […] die Basis für selbstbestimmtes Handeln“ (ebd.). Sowohl Verhaltensweisen, die auf integrierte Regulation als auch solche, die auf intrinsische Motivation zurückzuführen sind, sind selbstbestimmt und freiwillig, aber integrierte Verhaltensweisen behalten, wie die Fortführung des Beispiels des Abiturienten oben zeigt, eine instrumentelle Funktion, wohingegen ausschließlich „intrinsisch motivierte Verhaltensweisen autotelischer Natur“ (ebd.) sind. <?page no="123"?> 122 4. Emotionen und Motivation 4.5.2 Grundbedürfnisse Die SDT betrachtet Motivation nicht als einheitliche Größe und berücksichtigt außerdem den jeweiligen Grad an Autonomie. Selbstbestimmung / Autonomie ist eines von drei psychologischen Grundbedürfnissen, die von Deci & Ryan (1993: 229) mit Motivation in Verbindung gebracht werden: ▶ Kompetenz/ Wirksamkeit („Handlungen selbst planen und ausführen können“, Jerusalem et al. 2009: 6) ▶ Selbstbestimmung/ Autonomie („Handlungen frei wählen bzw. mit sich selbst vereinbaren können“, ebd.) ▶ Soziale Eingebundenheit („soziale Beziehungen knüpfen können und akzeptiert werden“, ebd.). Die SDT geht von einem angeborenen Streben nach Erfüllung dieser Grundbedürfnisse aus. Auf den schulischen Kontext projiziert bedeutet das, dass die Akteure, also u. a. die Schülerinnen und Schüler, danach streben, selbstbestimmt handeln zu können. Führt selbstbestimmtes Handeln zu Erfolg, erleben sich die Schülerinnen und Schüler als kompetent. Sie haben ein Selbstwirksamkeitserlebnis. Das „Vertrauen in die persönlichen Kompetenzen, Schwierigkeiten [und sonstige Herausforderungen] aus eigener Kraft meistern zu können“ (ebd.), wird gestärkt. Kompetenzerfahrungen aktivieren das körpereigene Belohnungssystem (vgl. 4.6 und 6.7.1), was wiederum dazu führt, dass das Bedürfnis nach weiteren Kompetenzerfahrungen aufrechterhalten bzw. gesteigert wird, und das wirkt als Antrieb. Hinzu kommt das dritte Grundbedürfnis, das der sozialen Eingebundenheit, das ebenfalls Anteil an motiviertem Verhalten hat. Schülerinnen und Schüler möchten sich zugehörig und wertgeschätzt fühlen, sie möchten wahrgenommen werden und von den Menschen im Umfeld Signale der Anerkennung, des Interesses an sozialer Kontaktaufnahme und der Akzeptanz erhalten. „Situationen, in denen sich eine Person als kompetent, sozial zugehörig und autonom erlebt, werden mit positiven Gefühlen verbunden“ (Alm 2007: 7). Nach Deci & Ryan (1993: 229) lassen sich „in erster Linie“ folgende Verbindungen zwischen den drei angeborenen psychologischen Bedürfnissen und intrinsisch bzw. extrinsisch motivierten Verhaltensweisen herstellen: Intrinsisch motiviert Kompetenz, Selbstbestimmung Extrinsisch motiviert Kompetenz, Selbstbestimmung, soziale Eingebundenheit Extrinsisch motivierte Handlungen haben, wie gesagt, eine instrumentelle Funktion. Diese kann im Kontext Schule darin bestehen, von Mitschülerinnen und Mitschülern bemerkt und anerkannt zu werden. Damit erklärt sich die Verbindung zwischen sozialer Eingebundenheit und extrinsisch motiviertem Verhalten. „Intrinsische Verhaltensweisen sind auf die Gefühle der Kompetenzerfahrung und Autonomie angewiesen; gleichzeitig tragen sie zur Entstehung dieser Gefühle bei“ (Deci & Ryan 1993: 230), wobei die Aussicht auf eine Kompetenzerfahrung alleine nicht ausreicht. Erst <?page no="124"?> 123 4.5 Selbstbestimmungstheorie der Motivation wenn Kompetenz und Selbstbestimmung zusammenkommen, „haben sie Einfluß auf die intrinsische Motivation“ (Deci & Ryan 1993: 231). Damit eine Aktivität intrinsisch motiviert sein kann, muss sie ein „optimales Anforderungsniveau“ aufweisen (Deci & Ryan 1993: 231). Optimal ist eine Anforderung, wenn sie die passende Diskrepanz zwischen aktuellem Kompetenzniveau und zu erbringender Leistung aufweist. Auf eine einfache Formel gebracht: Ist die Diskrepanz zu gering, fehlt der Anreiz bzw. Langeweile stellt sich ein, ist sie zu groß, fühlen sich Lernende überfordert. Die optimale Diskrepanz kann als minimale Überforderung beschrieben werden (vgl. hierzu Wygotskis ZPD -- Zone of Proximal Development, 1964). Das Erreichen von Selbstbestimmung im Unterricht stellt ein zentrales pädagogisches und didaktisches Anliegen dar, denn: „Effektives Lernen ist auf intrinsische Motivation und / oder integrierte Selbstregulation angewiesen“ (Deci & Ryan 1993: 233). „Die Forschung zeigt, dass Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung in vielfältiger Hinsicht Einfluss nehmen ([…] Deci & Ryan 2002, Jerusalem & Hopf 2002-[…])“ (Jerusalem et al. 2009: 5). Eine physikdidaktische Studie neueren Datums (Wolf 2012) stützt die Annahmen der Selbstbestimmungstheorie und liefert, basierend auf Daten von mehreren hundert Schülerinnen und Schülern (N- = 496, Wolf 2012: 184, 198), Hinweise auf „signifikante Zusammenhänge zwischen der Motivation, den Grundbedürfnissen und dem Lernerfolg- […]. Schüler, die ein hohes Maß an Selbstbestimmung im Unterricht wahrnehmen [sind] tendenziell stärker intrinsisch motiviert“ (Wolf 2012: 198). „Defizite in Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung haben entsprechend negative Effekte,- […][nämlich] geringe Handlungskompetenzen, Desinteresse und soziale Probleme“ (Jerusalem et al. 2009: 5). 4.5.3 Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung im Unterricht Selbstbestimmtes Verhalten erreicht bei gleicher Motivationsstärke eine höhere Effektivität als extrinsisch motivierte Verhaltensweisen. In Studien haben sich autonomieunterstützende Lernumgebungen im Hinblick auf den Lernertrag, insbesondere den längerfristigen, als günstigste Bedingung erwiesen und zu besseren Ergebnissen geführt als die Kontrollbedingungen. 25 Intrinsische Motivation bzw. integrierte Selbstregulation scheinen dann von besonderer Relevanz zu sein, wenn in Lernprozessen z. B. divergentes Denken und Kreativität gefordert sind, aber auch beispielsweise beim Memorieren von Informationen schneiden autonomiestützende Lernumgebungen letztlich besser ab. Der bisherige Kenntnisstand veranlasst zu dem Schluss, dass intrinsische Motivation und integrierte Selbstregulation im Hinblick auf 25 In einer Studie (vgl. Deci & Ryan 1993: 234 f.) wurden beispielsweise die Erträge des Lesens eines Texts unter drei Bedingungen verglichen: Die erste Gruppe wurde informiert, dass man sie nach der Lektüre danach fragen werde, wie interessant sie den Text fanden. Gruppe 2 las unter autonomieförderlichen Bedingungen, die dadurch hergestellt wurden, dass sich „die Lehrer autonomieunterstützend“ verhielten und den Lernenden signalisierten, dass „sie persönlich an ihrem Lernfortschritt interessiert sind“ (ebd.). Gruppe 3 wurde informiert, dass auf die Lektüre ein benoteter Test folgt. Tatsächlich wurden dann alle drei Gruppen getestet, und die Ergebnisse zeigen eine Überlegenheit der autonomieförderlichen Bedingung. Sie liefern damit einen Hinweis auf die Relevanz von Selbstbestimmung. <?page no="125"?> 124 4. Emotionen und Motivation den Lernertrag höhere Effektivität ermöglichen und sich außerdem auf die Qualität des Verhaltens sowie auf Zielorientierung, Ausdauer und Wohlbefinden der Lernenden günstig auswirken können. Wie aber gelingt es, Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung im Unterricht zu fördern? Wie kann eine autonomieförderliche Umgebung geschaffen werden? Dieser Frage ging das Forschungsprojekt Fo SS zur Förderung von Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung im Unterricht nach. Im Rahmen dieses Projekts wurden psychometrische Skalen entwickelt und in sieben Bundesländern „über einen Längsschnitt von drei Jahren viermal zum Einsatz gebracht“ (Jerusalem et al. 2009: 3). Die Skalen, einerseits zur Erfassung von Schülermerkmalen, andererseits zur Erfassung von Merkmalen der Lehrkraft, sind frei zugänglich und können in Studien genutzt werden. Die Skalen zur Erfassung von Schülermerkmalen umfassen u. a. die allgemeine, die schulbezogene und die soziale Selbstwirksamkeitserwartung, die Teamfähigkeit, die vom Lernenden wahrgenommene Transparenz der Klassenarbeit, Prüfungsangst, Leistungsdruck, Selbstbestimmung/ Autonomie sowie die Alltagsrelevanz von Unterricht. Mehrere Items können Anstöße geben, wie Selbstwirksamkeitserleben und Selbstbestimmung im Unterricht gefördert werden könnten. Beispielsweise beinhaltet die Skala zur Erfassung von Selbstbestimmung / Autonomie (vgl. Jerusalem et al. 2009: 33) Items zur Möglichkeit, im Unterricht aus Themen oder aus Materialien auszuwählen, entscheiden zu können, ob man eine Aufgabe lieber alleine oder in der Gruppe bearbeiten möchte usw. Bei der Alltagsrelevanz von Unterrichtsinhalten (vgl. Jerusalem et al. 2009: 57) wird nach dem Nutzwert von Inhalten, Kompetenzen bzw. Strategien außerhalb der Schule gefragt und die Skala zur Ermittlung von Restriktivität beinhaltet Items, die danach fragen, ob Lernende bloßgestellt werden oder ob mit schlechten Noten Druck aufgebaut wird (vgl. Jerusalem et al. 2009: 55). Böttger & Sambanis (2017: 110 ff.) gehen in ähnlichem Zusammenhang der Frage nach, wie Unterricht so gestaltet werden kann, dass sich durch Diversity Management Lernende in ihrer interindividuellen Bandbreite als selbstwirksam erfahren und selbstbestimmt lernen können. Einige Eckpfeiler eines solchen Unterrichts sind der balancierte Einsatz von gut strukturierten Inputphasen und „selbstkonstruierenden Unterrichtsphasen“ (Böttger & Sambanis 2017: 111) mit „offenen Lernformen, die Prinzipien wie Ganzheitlichkeit, Handlungsorientierung, Selbststeuerung verwirklichen“ (Böttger & Sambanis 2017: 110), das Nutzen von Visualisierung und Bewegung beim Lernen sowie auch außerhalb des Sprachenunterrichts sprechhandlungsförderliche Aktivitäten. Auch die Unterscheidung zwischen Leistungs- und Lernräumen im Unterricht kann zur Förderung von Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung beitragen. Durch die Trennung „von Lern- und Leistungsräumen soll bei den Schülern eine Lernzielorientierung gefördert werden. Lernräume bzw. -zeiten sind bewertungsfrei, aber nicht diagnosefrei. Diese Zeiten sollen Schülern dazu dienen, den Unterrichtsstoff zu lernen, zu üben und sich zu verbessern. Leistungsräume sind demgegenüber Zeiten, in denen Schüler ihr Wissen unter Beweis stellen können und sollen“ (Jerusalem et al. 2009: 95). Wenn Schülerinnen und Schüler im Vorfeld wissen, ob eine bevorstehende Unterrichtsphase als Lern- oder Leistungsraum definiert ist, können sie entsprechende Erwartungen aufbauen, sich gut orientiert fühlen, ihr Verhalten entsprechend ausrichten und dadurch letztlich effektiver und emotional stabiler lernen. <?page no="126"?> 125 4.6 Emotionen im Gehirn 4.6 Emotionen im Gehirn Zusätzliche Hinweise auf die Bedeutung der unterschiedlichen Emotionen für Lernprozesse ergeben sich aus den neurobiologischen Grundlagen der Emotionen. Die komplexen Emotionen, zu denen Menschen fähig sind, ergeben sich aus einem Zusammenspiel kortikaler und subkortikaler Strukturen. Noch sind nicht alle emotionalen Nuancen im Detail neurobiologisch verstanden. Dennoch lässt sich anhand der neurobiologischen Erkenntnisse ein Überblick gewinnen. Die zentralen an Emotionen beteiligten Gehirngebiete werden als limbisches System zusammengefasst (Abb. 6). Abb. 6: Limbisches System: Das Cingulum (auch Gyrus cinguli oder Cortex cinguli) ist ein entwicklungsgeschichtlich alter Teil der Großhirnrinde. Septum, Fornix, Amygdala und Hippocampus sind Strukturen, die an unterschiedlichen Emotionen beteiligt sind. Das ventrale Tegmentum ist Teil der Belohnungssystems und liegt im Gegensatz zu den anderen Strukturen im Mittelhirn. Drei verschiedene neuronale Schaltkreise sind für Lernprozesse von besonderer Relevanz. Der bekannteste davon ist sicherlich das sogenannte Belohnungssystem. Es reagiert, wie der Name schon sagt, auf Belohnungen. Ob etwas als Belohnung bewertet wird, hängt von kortikalen Hirnarealen wie dem anterioren (vorderen) Cingulum (Abb. 6) und dem orbitofrontalen Cortex (Abb. 4) ab. Nicht nur direkte Belohnungsreize wie Nahrung, soziale Zuwendung u. Ä. wirken als Belohnung, sondern auch der Erfolg von Handlungen, und zwar insbesondere dann, wenn das Ergebnis einer Handlung besser ist als erwartet, sowie der Erwerb von Wissen und Einsichten (Aha-Effekt, vgl. Spitzer 2002). Die zentrale Hirnstruktur des Belohnungssystems ist das ventrale Tegmentum (Abb. 6). Tritt eine Belohnung ein, dann wird vom ventralen Tegmentum Dopamin in viele Regionen der vorderen Hirnhälfte ausgeschüttet unter anderem auch im frontalen Cortex. Damit werden die neuronalen Aktivitäten verstärkt, die <?page no="127"?> 126 4. Emotionen und Motivation zuvor zu den Handlungen und Aktivitäten beigetragen haben, welche zum Erreichen der Belohnung geführt haben. Die Dopaminausschüttung hat mehrere Effekte: Erstens treten Empfindungen wie Freude, Stolz oder Zufriedenheit bzw. Befriedigung auf. Zum zweiten werden die neuronalen Verbindungen, die aktiv waren, gestärkt, wodurch Lernprozesse unterstützt werden und drittens wird eine Tendenz zur Wiederholung des erfolgreich ausgeführten Verhaltens ausgelöst. Dadurch entsteht ein Annäherungsverhalten. Der Organismus versucht, die Belohnung erneut zu erlangen. Auch Neugier gehört in den Bereich des Annäherungsverhaltens bzw. ist sogar eine besonders ausgeprägte Form desselben. Das Besondere an Neugierde ist, dass die Belohnung nicht zuvor erfolgt ist und dann erneut angestrebt wird, sondern dass ein noch unbekanntes Objekt oder eine unbekannte Situation durch Hirnstrukturen wie das Cingulum und verschiedene Teile des präfrontalen Cortex auf der Basis des bisherigen Wissens als potentiell belohnend eingeschätzt werden. In diesem Fall ist es wichtig sich dem Neuen mit der gebotenen Vorsicht zu nähern, sodass eine gewisse Furchtkomponente mit einer noch stärkeren Annäherungskomponente kombiniert ist. Der Anreiz ist besonders hoch, bietet doch die Situation die Möglichkeit sich neue Belohnungsquellen zu erschließen. Auf diese Weise hat das Neugierverhalten einen großen Teil zum Erfolg der menschlichen Spezies beigetragen. Der Zusammenhang zwischen dem durch dieses System ausgelöste Annäherungsverhalten und Lernprozessen ist offensichtlich. Die Aktivierung des Systems führt dazu, dass neue Erfahrungen gemacht werden, Verhalten wiederholt und damit eingeübt wird und durch die Ausschüttung von Dopamin Lernprozesse direkt unterstützt werden. Die Wirkung von Dopamin auf das Lernen ist so stark, dass manche vom „Lernturbo“ sprechen (vgl. Spitzer 2010). Neben Belohnungen in Form von Nahrung, Sexualpartnern, Erfolg, Wissen usw. wirken auch Substanzen auf das Belohnungssystem. Hierzu gehören Opioide, Nikotin und Alkohol. Somit bildet das Belohnungssystem zugleich die Grundlage für die Entwicklung von Suchtverhalten. Das zweite für Lernprozesse relevante System ist das Stopp- oder Verhaltenshemmsystem. Es reagiert dann, wenn eine erwartete Belohnung nicht eintrifft, etwas schlechter ausgeht als erwartet oder misslingt. Auch negative Reize („Bestrafungen“), die als nur leicht bis mäßig aversiv erlebt werden und noch keine Angst oder Furcht auslösen, aktivieren dieses System. Ferner wird es durch unerwartete und unbekannte Reize, die (noch) nicht als potentiell belohnend oder gefährdend eingeordnet wurden, aktiviert. Die Aktivität des Verhaltenshemmsystems führt dazu, dass das aktuelle Verhalten gestoppt wird. Es senkt die Wahrscheinlichkeit, dass das Verhalten in gleicher Weise nochmals ausgeführt wird und hemmt kurzfristig auch alternative Handlungen. Das ergibt (zumindest für den Menschen) die Möglichkeit, die Situation noch einmal zu betrachten, neu zu bewerten und ggf. neue Lösungsansätze zu suchen. Vermittelt wird die Reaktion durch den Hippocampus und das Septum. Kortikale Strukturen, die an der Fehlerkontrolle und -verarbeitung sowie an der Bewertung von Belohnungen beteiligt sind, arbeiten mit diesem System zusammen (z. B. präfrontaler Cortex und Cingulum). Die Aktivierung dieses Systems ist mit Emotionen wie Überraschung und Erstaunen aber auch mit Enttäuschung verbunden. Die Bedeutung des Systems für Lernprozesse liegt darin, dass es die Korrektur erfolgloser und unpassender Handlungen unterstützt und so letztlich zu einer Verbesserung beiträgt. <?page no="128"?> 127 4.6 Emotionen im Gehirn Das dritte System ist wohl das neurobiologisch am intensivsten untersuchte. Es handelt sich um das Kampf-Flucht-System, das durch stark aversive Reize wie Schmerzen, aber auch durch unangenehme Situationen, u. a. im sozialen Kontext, aktiviert wird. Es löst Angst bzw. Furcht aus. Zugleich werden Hormone wie Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet, die den Köper darauf vorbereiten, aktiv zu werden, zu fliehen oder sich zu verteidigen. Zentrale Schaltstelle dieses Systems ist die Amygdala (Mandelkern). Die Amygdala erhält über den Thalamus (parallel zu den primären kortikalen Arealen) vorverarbeitete Sinnesinformationen. Dadurch wird eine sehr schnelle Reaktion auf potentiell bedrohliche Objekte und Situationen möglich. Auch dieses System unterstützt Lernprozesse. Angstlernen ist sogar besonders schnell und (in gewisser, didaktisch allerdings eher wenig wünschenswerten Hinsicht) effektiv. Die Informationen werden direkt im Mandelkern gespeichert. Gelernt wird, etwas nicht zu tun, bestimmte Situationen zu vermeiden und Verhaltensweisen zu zeigen, die es erlauben, dem aversiven Reiz auszuweichen. Inhalte, die in diesem Zustand erlernt werden, bleiben mit der negativen Emotion und den entsprechenden körperlichen Reaktionen verbunden. Aus obigen Darstellungen wird deutlich, warum in Lernsettings oft dazu geraten wird, Schülerinnen und Schülern positives Feedback zu geben und sie auf Erfolge aufmerksam zu machen. Die Wahrnehmung von Erfolgen und positiven Ergebnissen führt zu einer Aktivierung des Annäherungssystems. Allerdings funktioniert das nur, wenn die positive Rückmeldung unmittelbar auf die Handlung folgt. Auch lässt es sich nicht vermeiden, dass Lernende mit Misslingen und Misserfolgen konfrontiert werden. Zum einen lässt sich nur so aus Fehlern lernen und zum anderen reagiert auch das Belohnungssystem nicht mehr, wenn die oder der Lernende immer nur Erfolg hat. Das Belohnungssystem reagiert nämlich, wenn das Ergebnis einer Handlung besser ist als erwartet. Bei Dauererfolg wird dieser aber bereits erwartet und die Aktivierung des Belohnungssystems bleibt aus. Besonders begabte Schülerinnen und Schüler kommen zuweilen in diese Situation, die dann zu Langeweile (vgl. 3.7) und Unlust führt, da sowohl Herausforderungen als auch der Belohnungseffekt ausbleiben. Deutlich ist auch, dass darauf geachtet werden sollte, dass ein Fehler, ein Misslingen oder ein negatives Feedback nicht zur Aktivierung der Amygdala führen. Das ist kein leichtes Ziel. Ebenso, wie Belohnungen hinsichtlich ihres Wertes und ihrer Bedeutsamkeit von jedem Menschen anders beurteilt werden, wird auch die Stärke eines negativen, aversiven Reizes von jedem Individuum anders beurteilt. Hinzu kommt, dass die Beurteilung und damit die mögliche Aktivierung des Kampf-Flucht-Systems von der aktuellen Verfassung der betroffenen Person abhängen. Hier ist ein hohes Maß an Feinfühligkeit gefordert. Ein gutes Klassenklima und eine Sicherheit und Ruhe vermittelnde Raumgestaltung kann in gewisser Weise vorbeugend wirken (vgl. 3.6.2). Ausgewählte Literaturhinweise Jerusalem, M., Drössler, S., Kleine, D. et al. (2009): Skalenbuch. Förderung von Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung im Unterricht. Skalen zur Erfassung von Lehrer- und Schülermerkmalen. https: / / www.erziehungswissenschaften.hu-berlin.de/ de/ paedpsych/ forschung/ Skalenbuch_Fo SS .pdf Willingham, D. T. (2009): Why Don’t Students Like School? In: American Educator Spring Issue, 4-13. Zeitschrift für Pädagogik (2005), Themenheft Emotion und Lernen-- Beiträge der Pädagogischen Psychologie 51(5). <?page no="130"?> 5. Bewegung und Lernen Das vorausgegangene Kapitel befasste sich mit dem Einfluss von Motivation und Emotionen auf das Lernen, Aspekte, die auch im Zusammenhang mit der Frage nach dem Einsatz von Bewegungen beim Lernen von Bedeutung sind. Bewegungen können im Unterricht genutzt werden, um die Lernbereitschaft zu erhalten oder neu herzustellen und Lernfreude zu fördern. In diesem Sinne eingesetzt, adressieren sie emotionale Komponenten einschließlich Motivation, was sich dann wiederum auf den Lernertrag auswirken kann. Neben den durch Emotionen vermittelten Effekten von Bewegung auf das Lernen kann außerdem im Sinne von Embodied Cognition mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem unmittelbaren Einfluss auf kognitive Prozesse, nämlich auf die Verarbeitung und Repräsentation von Informationen im Gehirn, ausgegangen werden (vgl. 6.7.1). 1 Im Folgenden werden zwei mögliche Formen des Bewegungseinsatzes unterschieden und davon ausgehend jeweils Studien und, wo verfügbar, Überblicksarbeiten referiert. Der aktuelle Forschungsstand erlaubt es, „to consider the body as a learning tool“ (Macedonia 2014: 4). Viele der Studien zur Erforschung von Effekten des Bewegungseinsatzes im Fachunterricht untersuchen Aspekte des sprachlichen Lernens, vor allem Lexik und Aussprache, einige weitere Studien liegen z. B. aus der Mathematikdidaktik vor (vgl. 5.2.3). Für beide Typen des Bewegungseinsatzes im Fachunterricht gibt es in der Forschung, wie im Anschluss gezeigt wird, Hinweise auf eine förderliche Wirkung. Die erste Art von Bewegung im Fachunterricht ist die sogenannte Brain Break, d. h. die Bewegungsphase wird als Verschnaufpause vom konzentrierten Arbeiten zur Rhythmisierung des Unterrichts eingeschoben. Die zweite Art des Bewegungseinsatzes im Fachunterricht besteht in der Verbindung von Lerninhalten mit Bewegungen samt mehrfachem Wiederholen von Inhalt und zugeordneter Bewegung im Verbund. 5.1 Welche Erkenntnisse liegen zu Bewegungen als Ausgleich vor? In einem Überblicksartikel fasst Mahar (2011: S60) vorliegende Erkenntnisse zu Effekten von „short physical activity breaks on attention-to-task in elementary school students“ zusammen und kommt zu dem Schluss, dass die Evidenzlage „moderate to good“ sei und „that physical activity incorporated into the school day can improve attention-to-task“ (Mahar 2011: S64). Er bezieht sich dabei u. a. auf die Studie von Jarrett et al. (1998), die das Verhalten von Viertklässlern (N-= 43) an Tagen mit und an Tagen ohne (Bewegungs-) Pause miteinander verglich. Die Daten zeigten, dass die Kinder an Tagen mit Pausenzeit im Anschluss signifikant besser bei der Sache 1 Während bis vor einiger Zeit die Annahme vorherrschte, dass Begriffe abstrakt abgespeichert seien, wird mittlerweile, gestützt durch entsprechende Hinweise aus empirischen Studien, die Ansicht vertreten, dass Begriffe mit Handeln und Sinneseindrücken verknüpft gespeichert sind: „[…] the notion of embodiment- […] refers to the assumption that thoughts, feelings, and behaviors are grounded in sensory experiences and bodily states“ (Meier et al. 2012: 706). Embodiment Theories bilden ein „unifying framework“ für Erkenntnisse, die belegen, dass „sensory, motor, and perceptual processes influence thoughts, feelings,-[…] behaviors“ (Meier et al. 2012: 707) sowie Lernprozesse. <?page no="131"?> 130 5. Bewegung und Lernen bleiben konnten und dass sich besonders große Unterschiede beim Ausmaß an Zappeligkeit nachweisen ließen. Nach der Pausen- und Bewegungsmöglichkeit war die Rate an unruhigen, zappeligen Verhaltensweisen deutlich geringer (7 % verglichen mit 16 %, vgl. Mahar 2011: S62). Ein sich sehr ähnlich manifestierender Effekt wurde, übrigens nicht nur bei Kindern, sondern auch bei älteren Probandinnen und Probanden, nach dem Hören von Musik, die als anregend und angenehm wahrgenommen wird, gefunden. 2 Musikhören kann beim Lernen ebenfalls zum Ausgleich eingesetzt werden, z. B. als eine Phase, in der das Gehirn, statt weiter zu enkodieren, d. h. anstelle des Aufnehmens neuer Impulse, in den Default- Mode wechseln kann (vgl. Böttger & Sambanis 2017: 50). Der Default-Mode bezeichnet eine Art Rückzugsmodus, der es dem Gehirn ermöglicht, mit sich selbst zu kommunizieren und dabei eingegangene Impulse zu beurteilen und zu sortieren. „Phasen, in denen das Gehirn nach intensiver Verarbeitung von Reizen bzw. Befassung mit Inhalten in den Default-Mode wechseln kann, sind wertvoll, da sie die Nachbereitung (Konsolidierung) anbahnen und als entspannend erlebt werden“ (ebd.). Es ist anzunehmen, dass je nach Art der zum Ausgleich eingesetzten Musik oder Bewegungen bzw. von beidem in Kombination eher Entspannung erreicht und damit ein Wechsel in den Default-Mode unterstützt werden kann oder eine erfrischende Wirkung erzielt wird. Diese wird durch Mobilisation der Muskeln und Gelenke sowie in Folge durch das Anregen der Kreislauftätigkeit, der Durchblutung und der Sauerstoffversorgung erreicht. In der Regel sind Lernende im Anschluss daran für einige Zeit wieder aufnahmefähiger. Sie zeigen weniger Unlust und sind eher lernbereit. Allerdings muss in diesem Zusammenhang von einem Nachhall-Effekt ausgegangen werden, der lediglich etwa 10 bis 15 Minuten lang anhält, in manchen Fällen bis zu 20 Minuten, und auf ein aus didaktischer Sicht wertvolles Zeitfenster hinweist, das sich aber auch wieder schließt. 3 Weitere Evidenz zu möglichen Effekten von Bewegung auf kognitive Funktionen liegt in Form von Interventionsstudien vor, die auf „positive and chronic effects of exercise [im Sinne von sportlicher Aktivität] on cognitive functioning in children, adolescents, young and old adults“ schließen lassen (Toumpaniari et al. 2015: 446, für Überblicksarbeiten vgl. u. a. die Metaanalyse von Fedewa & Ahn 2011, für eine Perspektivierung z. B. auf Lernende im Autismus-Spektrum vgl. die Synthese von Bremer et al. 2016, die positive Effekte verschiedener Sportarten für diese Gruppe nachweisen konnte). Die sich auf 59 Studien stützende Metaanalyse von Fedewa & Ahn (2011: 521) kommt zu dem Schluss, dass Bewegung zu einem „significant and positive effect- […] on children’s achievement and cognitive outcomes“ führe, übrigens „with aerobic exercise having the greatest effect“. Das durchschnittliche Alter der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der berücksichtigten Studien „ranged from 5.77 to 16 years“ (Fedewa & Ahn 2011: 525) und liegt damit in dem Bereich, der für schulisches Lernen besonders relevant ist. In den meisten der 59 Studien wurde die „physical intervention“ (ebd.), z. B. eine Phase mit motorischen Übungen oder mit Aerobic, im Klassenzimmer von der Lehrkraft durchgeführt (vgl. ebd.), 2 Vgl. Böttger & Sambanis 2017: 48 ff. 3 Bei Mahar (2011) finden sich keine Angaben zur Dauer des Nachhalls in den dort referierten Studien. Obige Angaben beziehen sich auf Studien zu Nachhall-Effekten bei Musikeinsatz. <?page no="132"?> 131 5.1 Welche Erkenntnisse liegen zu Bewegungen als Ausgleich vor? sodass die Bedingungen in den meisten der in die Metaanalyse eingeflossenen Studien mit jenen vergleichbar scheinen, die erreicht werden, wenn im Fachunterricht eine Bewegungsphase eingeschoben wird. Ferner finden Fedewa & Ahn (2011: 527) Hinweise darauf, dass die Effektstärken größer sind, wenn Bewegungsangebote mit einer gewissen Regelmäßigkeit stattfinden. Sie ermutigen Lehrkräfte, das Potenzial von Bewegungspausen auch im Unterricht anzuerkennen und zu nutzen: […] it is comforting to know that teachers-[…] can effect change by incorporating physical activity into the school day.-[…] Thus, teachers can play a major role in improving children’s cognitive and achievement outcomes through the incorporation of physical activity breaks-[…]. (Fedewa & Ahn 2011: 531) Um die Effekte von Bewegungsphasen im Unterricht so klar wie möglich von Effekten anderer Bewegungsmöglichkeiten, z. B. von außerunterrichtlichen Sportaktivitäten, trennen zu können, die in vielen Überblicksarbeiten mit einfließen, haben Erwin et al. (2012) eine auf in den Schultag integrierte kurze Bewegungsphasen fokussierte Metaanalyse erstellt. Ein wesentliches Kriterium bei der Auswahl der Studien war, dass die referierten Erkenntnisse auf „physical activity conducted specifically in the classroom setting“ (Erwin et al. 2012: 18) zurückzuführen waren. 4 In Ergänzung bzw. Präzisierung zu den oben referierten Erkenntnissen von Fedewa & Ahn (2011) finden Erwin et al. (2012: 30) Hinweise darauf, dass kurze Bewegungsinterventionen ausreichen, denn die „length of the physical activity intervention did not significantly influence the effect of the intervention“. Insgesamt werden ausgleichende Bewegungsphasen, gestützt auf die Ergebnisse der Metaanalyse, als „facilitators of learning“ (ebd.) bezeichnet. Den Studien zufolge, zeigten sich bei Grundschülerinnen und -schülern die deutlichsten Effekte von Bewegungsphasen. Erwin et al. führen das auf den Entwicklungsstand zurück: Bewegungsangebote seien für jüngere Lernerinnen und Lerner, wie schon frühere Studien gezeigt haben, „more developmentally accessible“ (ebd.), was aber nicht zu dem Schluss veranlassen sollte, dass sie für ältere Lernende keinen Nutzen mehr hätten. 5 Auch für diese Altersgruppe gilt, dass sich der relativ geringe Aufwand und die sehr überschaubare zeitliche Investition für ausgleichende Bewegungsphasen angesichts der nachgewiesenen „beneficial influences on physical activity health and learning outcomes for students“ (Erwin et al. 2012: 31) zu lohnen scheint. Aus Praktikersicht liefern Studien sowie sorgfältig erarbeitete Synthesen wie die von Fedewa & Ahn (2011) oder Erwin et al. (2012) eine sich dynamisch entwickelnde evidenzbasierte Grundlage, auf die sich Überlegungen zur Gestaltung von Unterricht, im vorliegenden Fall zur Einbindung von Bewegungszeiten in den Fachunterricht, stützen können. Sie tragen außerdem dazu bei, die Sorge, durch kurze, in den Unterricht eingebettete Bewegungsphasen Lernzeit zu verlieren, im Licht empirischer Befunde zu zerstreuen. Im Unterrichtsverlauf 4 Mehrere Dutzend Studien mussten ausgeschlossen werden, weil sie dieses Kriterium nicht eindeutig erfüllten. Die Metaanalyse basiert auf neun Studien, das Alter der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer liegt zwischen fünf und 18. 5 Zur Relevanz von Bewegung in der Adoleszenz und zu den Gründen für diese Relevanz vgl. Böttger & Sambanis 2017: 56 ff. <?page no="133"?> 132 5. Bewegung und Lernen fällt es jedoch nicht immer leicht, tatsächlich innezuhalten, um eine Ausgleichsphase zu ermöglichen, zumal Erkenntnisse, wie die von Fedewa & Ahn, nicht unbedingt auf Ebene der Praktikerinnen und Praktiker kommuniziert werden. Bei vielen Lehrkräften schwingt noch immer das ungute Gefühl mit, durch Bewegungseinheiten Unterrichtszeit zu vergeuden. Objektiv betrachtet stellt aber eine bewegungs- oder musikbasierte Ausgleichsphase, z. B. nach einer Klassenarbeit, bei Ermüdungserscheinungen oder zunehmender Unruhe und sich abzeichnender Unlust in der Klasse, zumeist eine lohnende Investition dar: Oftmals ist es, unabhängig vom Lerneralter, in emotional-motivationaler wie auch in kognitiver Hinsicht besser, einige Minuten in eine Bewegungsphase zu investieren, und im Anschluss den Nachhall-Effekt zu nutzen, als dem geplanten Unterrichtsablauf verhaftet zu bleiben. Selbstverständlich lässt sich Bewegung auch beim Hausaufgabenmachen entsprechend einsetzen, was dazu beitragen kann, dass auch die häusliche Lernsituation angenehmer und zugleich effektiv gestaltet werden kann. An die vorliegenden Befunde zu Bewegungspausen beim Lernen schließen sich Folgefragen an, nämlich vor allem die, wie sich die Effekte von Bewegung auf die kognitive Leistung erklären lassen und bei welchen Leistungen sie sich im Besonderen manifestieren. In addition, in their review, Tomporowski et al. (2008) concluded that the results from research conducted over the past few years suggest that the positive effects of exercise training on children’s mental functioning are mainly found in tasks that involve executive function-[…]. (Toumpaniari et al. 2015: 446) Auch in Deutschland gibt es eine Reihe an kognitionspsychologischen und sportdidaktischen Publikationen, die mögliche Wirkungen von Bewegungsförderung auf die exekutiven Funktionen (Inhibition, Arbeitsgedächtnis, kognitive Flexibilität, vgl. 3.5.2) fokussieren. Als ein Beispiel sei die sportdidaktische Arbeit von Boriss (2015) erwähnt, deren Feldstudie auf der Sekundarstufe I Hinweise dazu erbrachte, dass vor allem die Inhibition von Bewegungsförderung profitieren kann, was für einen regelmäßigen und methodisch entsprechend gestalteten Sportunterricht spricht, in Weiterführung aber auch als Argument für mehr Bewegung im Fachunterricht ins Feld geführt werden kann. Während wenig aufwändige, in den Unterricht integrierte Bewegungspausen kurzfristig die oben beschriebenen Effekte haben, ist für die längerfristig wirksame Förderung exekutiver Funktionen ein etwas größerer Zeitaufwand notwendig (z. B. 30 Minuten in der Studie von Kubesch et al. 2009). Insgesamt sprechen die Ergebnisse dafür, Maßnahmen im Sportunterricht und Bewegungspausen zu kombinieren und als regelmäßiges Element im Schulalltag zu etablieren. In den Unterricht eingebettet, können kurze Bewegungsaktivitäten, mitunter auch Energizers genannt, unterschiedliche Formen annehmen und je nach Gegebenheiten, Zielaltersgruppe usw. variieren. Beispielsweise können die Schülerinnen und Schüler so zu Musik durch den Raum gehen, als wollten sie Spuren im nassen Sand hinterlassen. Wenn die Musik leiser wird, ist das das Zeichen, zurück an den Platz zu schleichen und zur Ruhe zu kommen (zu Stille im Unterricht vgl. das Praxisfenster in Kap. 2, zum Default-Mode siehe oben). Neben zahlreichen Bewegungsideen, die vor allem jüngere Kinder ansprechen, gibt es auch Bewegungsimpulse, die für Heranwachsende geeignet sind. Beispielsweise können Teenager <?page no="134"?> 133 5.2 Welche Erkenntnisse liegen für Bewegungen zu Inhalten vor? gebeten werden, aufzustehen, die Handflächen gegeneinander zu legen und, ohne den Kontakt der Handflächen voneinander zu lösen, verschiedene Bewegungen durchzuführen, z. B. des Oberkörpers (abwechselndes Drehen zu den Seiten), der Arme (z. B. das Strecken über den Kopf, Beugen vor der Brust), der Handgelenke (vor dem Körper nach außen und innen drehen) oder der Finger (z. B. Schließen und Öffnen der gestreckten Finger, Gegeneinanderdrücken der einzelnen Finger). 6 Es liegen Erkenntnisse dazu vor, dass Schülerinnen und Schüler, die üblicherweise im Unterricht schlecht oder nur kurz bei der Sache bleiben können und das oft erforderliche „on-task behavior“ (Mahar 2011: S63) nur eingeschränkt leisten können, von kurzen bewegungsbasierten Energizers besonders profitieren. Alternativ zum Einsatz von Bewegungsphasen im Unterricht, bieten sich manchmal auch Arbeits- und Sozialformen an, die mit einem Sitzplatzwechsel, dem Umhergehen im Raum und dem Einnehmen einer neuen Arbeitsposition verknüpft sind, z. B. Kugellager, Gruppenpuzzle, Gallery Walk usw. Der Hippocampus als Neuigkeitsdetektor im Gehirn reagiert auf methodische Wechsel: Etwas Neues setzt ein, das verdient zunächst einmal Aufmerksamkeit, d. h. Momente des Wechsels im Unterricht sind Chancen, um Wichtiges zu platzieren und die Aufmerksamkeit neu auszurichten bzw. wieder anzuregen. 5.2 Welche Erkenntnisse liegen für Bewegungen zu Inhalten vor? Die zweite Möglichkeit des Bewegungseinsatzes im Fachunterricht besteht, wie gesagt, in der Koppelung von Inhalten an Bewegungen, z. B. an semantisierende Gesten. Die Erkenntnislage ist hier inzwischen vor allem für das Fremdsprachenlernen recht gut: „The effects of gestures on memory for words and phrases in L2 is robust and well documented“ (Macedonia 2014: 2, vgl. Sambanis 2013, 2014). Außerdem wurde bereits in den 1980er-Jahren „[i]n memory research-[…] the effect of gestures on the retention of words and phrases in the subject’s L1-[…] as robust across different populations and by different kinds of tests“ (Macedonia 2014: 2) nachgewiesen. Diese Befunde hatten aber kaum bzw. keinen Einfluss auf die Gestaltung von Sprachunterricht und fanden zunächst keine nennenswerte Berücksichtigung in der Fremdsprachendidaktik. Man setzte weiterhin auf „complex elaborations of texts, flash cards and different kinds of visual learning materials in order to enhance memory for words“ (ebd.), während Bewegungen als Lernzugang wenig beachtet wurden. Im Zuge der flächendeckenden Einführung des verpflichtenden Fremdsprachenunterrichts in der Grundschule in Deutschland rückte dann, obschon keineswegs neu und ursprünglich nicht auf diese Zielaltersgruppe bezogen, die sogenannte TPR -Technik (Total Physical Response) in den Blick. Sie wurde zeitweise sogar in den Status einer regelrechten Methode für den Fremdsprachenunterricht in der Grundschule erhoben (für eine kritische Auseinandersetzung vgl. Sambanis 2007: 73 ff.). Das Vorgehen (vgl. Asher 1969) basiert auf 6 Für weitere Unterrichtsimpulse vgl. das Praxisfenster in diesem Kapitel sowie ergänzend Böttger & Sambanis (2017: 149 ff.), die in ihrem Buch über das Sprachenlernen in der Pubertät u. a. die motorische Entwicklung in dieser Phase beleuchten und Praxisimpulse speziell für diese Zielgruppe bereitstellen. <?page no="135"?> 134 5. Bewegung und Lernen der bei Lernenden im Studierendenalter gemachten Beobachtung einer „highly significant acceleration in comprehension“ (Asher 1969: 5), wenn Lernenden bei der Auseinandersetzung mit neuem Sprachmaterial die Möglichkeit gegeben wird, rezeptiv Aufgenommenes in Handlungen zu übertragen bzw. durch das Ausführen von Handlungen zu Anweisungen ihr Sprachverständnis unter Beweis zu stellen. TPR sieht dafür folgendes Vorgehen vor: Die Lehrkraft gibt Handlungsanweisungen, z. B. Open the door. Diese werden von dem oder den Lernenden ausgeführt. Die Verbindung von Bewegung und Lernen als solche ist verdienstvoll, aber Ashers „Inszenierung“ der Bewegung zeigt, dass sein lerntheoretisches Verständnis in grundlegenden Aspekten dem Behaviorismus verhaftet bleibt (vgl. Sambanis 2007: 73). Die Ausgangsidee der Verbindung von Sprache und Bewegung sowie die der Aktivierung der Lernenden durch die Bewegung kann jedoch unterrichtsmethodisch weiterentwickelt werden, z. B. indem das Verfahren variiert und, je nach Lerneralter, eher spielerisch umgesetzt wird. „Asher (1969) did not investigate his observation empirically“ (Macedomia 2014: 2), regelrechte empirische Studien zur Erforschung des Einflusses von Bewegungen (Gesten, Körperbewegungen auf der Stelle oder im Raum usw.) auf das Lernen einer Kunstsprache oder einer Fremdsprache, z. B. auf die Behaltensleistung neuer Vokabeln oder Sätze, folgten erst ab den 1990er-Jahren (vgl. Macedonia ebd.). Die vor einigen Jahren veröffentlichte sogenannte Nobject-Studie (v. Soden-Fraunhofen et al. 2008) kann diesem Feld, nämlich der Erforschung des bewegungsgestützten Wortschatzlernens, zugeordnet werden. Sie untersuchte mögliche Effekte des handelnden Umgangs mit Objekten auf das Lernen, also die Verarbeitung und den Abruf der korrespondierenden Objektbenennungen. Die Forschergruppe erfand zunächst 64 Nobjects (nicht existierende Objekte), projizierte diese und gab jedem Nobject unter Verwendung von Kunstwörtern einen Namen, z. B. nolo, belb, lare. Die Probandinnen und Probanden mussten sich die Objektnamen einprägen, was mit der Herausforderung vergleichbar ist, in einer fremden Sprache Wörter zu korrespondierenden Bildern zu lernen. In der Experimentalgruppe wurden die Benennungen jeweils in Verbindung mit einer Handlungssimulation, also mit einer symbolischen Geste, geübt. In der Kontrollgruppe wurde lediglich auf die bildlich dargestellten Nobjects gezeigt, auf symbolische Bewegungen hingegen verzichtet. Zur Messung der Effekte wurden in den sich anschließenden Tests die Fehlerraten und Reaktionszeiten ermittelt. Die Experimentalgruppe reagierte in allen Testungen schneller als die Kontrollgruppe und schnitt überdies „vor allem bei komplexen begrifflichen Leistungen“ (vgl. v. Soden-Fraunhofen et al. 2008: 55) wie dem Herstellen von Beziehungen zwischen verschiedenen Nobjects, besser ab, was zu dem Schluss veranlasst, dass das simulierte Hantieren mit den nicht existierenden Objekten beim Einspeichern den Probandinnen und Probanden auch das mentale Hantieren mit den eingespeicherten Objektbenennungen erleichterte. 7 Sie konnten mit größerer Flexibilität mit den Objektbezeichnungen umgehen, sie rascher abrufen, überblicken, ordnen und in Verbindung setzen-- kognitive Leistungen, die, übertragen auf schulische Lerninhalte, ebenfalls wünschenswert erscheinen. 7 Die EEG -Daten der Experimentalgruppe zeigten eine andere, nämlich eine frühere Aktivierung motorischer Regionen als die der Kontrollgruppe. <?page no="136"?> 135 5.2 Welche Erkenntnisse liegen für Bewegungen zu Inhalten vor? Es stellt sich daher die Frage, ob, inwieweit und in welcher Form eine ähnliche Verbindung zwischen Inhalten und Bewegungen, z. B. durch symbolische Gesten oder Minisimulationen, auch im institutionellen Kontext beim Lernen im Fachunterricht ermöglicht werden könnte. Aus didaktischer Sicht interessieren v. a. die höhere Behaltensleistung, der flexiblere Zugriff auf die Inhalte und der größere Lernertrag, der bei der Koppelung von Bewegungen und Inhalten u. a. durch die Nobject-Studie nachgewiesen wurde. Allerdings verbietet sich eine direkte Übertragung, denn die Daten wurden unter Bedingungen gewonnen, die sich in vielerlei Hinsicht von den Kontextbedingungen schulischen Unterrichts unterscheiden (neutrale Laborumgebung, bezahlte Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer jenseits des üblichen Schüleralters usw.). „[…] [kognitionspsychologische und] neurowissenschaftliche Studien stützen die Hypothese, dass auch im schulischen Setting förderliche Effekte von Bewegungslernen zu finden sein könnten, liefern dafür aber noch keinen Nachweis“ (Sambanis 2015: 59). Um die Effekte der Verbindung von Bewegung und Inhalt auch im schulischen Umfeld beleuchten zu können und zu begründeten Aussagen zu gelangen, an denen dann wiederum unterrichtsmethodische Überlegungen ansetzen können, wurden in den zurückliegenden Jahren auch didaktische Studien in realen Lehr-Lern-Kontexten durchgeführt. Im Folgenden werden Schlaglichter auf den Forschungsstand gesetzt, wesentliche Befunde referiert und zwar zunächst zum sogenannten Szenischen Lernen, einem Vorgehen, das in verschiedenen Unterrichtsfächern eingesetzt werden kann. 5.2.1 Szenisches Lernen Das Szenische Lernen oder auch Scenic Learning (Hille et al. 2010) bezeichnet ein unterrichtsmethodisches Vorgehen, das in Nähe zur Theorie der Embodied Cognition (vgl. u. a. Ansorge et al. 2010, Davis et al. 2012) und der die Theorie stützenden Befunde (vgl. u. a. Ansorge et al. 2010, Macedonia 2014) davon ausgeht, dass Inhalte mit Handeln und Sinneseindrücken verknüpft enkodiert und entsprechend im Gehirn gespeichert werden. Didaktiker, Pädagogen, Neurowissenschaftler und „Psychologists are increasingly interested in embodiment based on the assumption that thoughts, feelings, and behaviors are grounded in bodily interaction with the environment“ (Meier et al. 2012: 705). Zur Berücksichtigung der Handlungskomponente werden beim Szenischen Lernen Inhalte, z. B. neuer Wortschatz im Fremdsprachenunterricht, Konzepte im Fachunterricht, Konstellationen und Zusammenhänge z. B. im Geschichts- oder Chemieunterricht, durch Gesten, Körperbewegung oder Standbilder dargestellt. Inhalte und Gesten werden mehrfach im Verbund wiederholt, d. h. in Form von Chorsprechen bei neuem Wortschatz im Fremdsprachenunterricht oder bei Terminologien im Sachfachunterricht. Dabei ist von zentraler Bedeutung, dass die Lernenden die Bewegungen selbst ausführen und nicht nur bei anderen beobachten. Es liegen empirisch gewonnene Erkenntnisse dazu vor, dass „self-performance of the gesture-[…] the key to enhanced learning“ ist (Macedonia 2014: 2). Zur Überprüfung der Effektivität einer solchen Koppelung von Inhalten und Bewegungen eignet sich besonders, da problemlos operationalisierbar, die Messung von Zugewinnen bei <?page no="137"?> 136 5. Bewegung und Lernen neuem Wortschatz: Was vorher noch nicht bekannt war, dann aber mit Bewegungskoppelung in der Experimentalgruppe und ohne Bewegungskomponente in der Kontrollgruppe eingeführt und in gleichem zeitlichen Umfang mit derselben Frequenz geübt wurde, lässt sich eindeutig nachweisen, auszählen und vergleichen. Im Folgenden wird daher am Beispiel des Lernens von neuem Vokabular die Umsetzung von Szenischem Lernen in der Praxis geschildert, wobei dies exemplarisch zu verstehen ist, da, wie gesagt, auch andere Inhalte gekoppelt an Bewegungen gelehrt und gelernt werden können. Wortschatzeinführung im Unterricht zielt darauf, die Schülerinnen und Schüler mit der Bedeutung, der Aussprache und, je nach Klassenstufe, zumeist auch mit der korrekten Schreibweise der Wörter vertraut zu machen. Häufig wird ein Beispiel gegeben, wie ein neues Wort verwendet werden kann, sodass sich die Lernenden eine Vorstellung von der kommunikativen Funktion der neu zu erwerbenden lexikalischen Einheit machen können (Wann kann ich sie verwenden? Wo steht das Wort oder die Wendung im Satz? Welche Kommunikationsabsicht kann ich damit umsetzen? usw.). Die Verwendung in einem prototypischen exemplarischen Kontext bildet einen idealen Ansatzpunkt, um den neuen Inhalt, in diesem Fall eine neue Vokabel, mit einer stimmigen Bewegung zu verknüpfen. Zum Beispiel ließe sich to stand out in einem kurzen Satz einbetten und damit ein authentischer Verwendungskontext simulieren: She likes standing out, im Sinne von: Sie möchte aus der Masse herausstechen, sich von den anderen abheben. Beim Szenischen Lernen würde dieser Satz nun an eine Bewegung gekoppelt, die, z. B. durch einen Schritt nach vorne, eine Handbewegung nach außen und eine besonders aufrechte Körperhaltung den Bedeutungsgehalt in eine einfache Bewegung überträgt. Wichtig ist, dass die zugeordnete Bewegung stimmig erscheint und, einmal zugeordnet, nicht mehr, zumindest nicht maßgeblich, geändert wird. In Studien, die die Koppelung an kongruente versus inkongruente Gesten verglichen, schnitten die kongruenten Gesten signifikant besser ab (vgl. Macedonia 2014: 2). Die Befunde scheinen in Anbetracht der Tatsache, dass das Gehirn ein Sinnsucher ist und versucht, Widersprüche aufzuklären und sogar aus Sinnlosem noch Sinn zu generieren, nachvollziehbar, denn solche Klärungsprozesse binden Ressourcen im Gehirn. Werden bedeutungslose oder wechselnde Gesten beim Lernen verwendet, wird dadurch das Gehirn gezwungen, sich mit der Willkür der Bewegungszuordnung zu befassen, anstatt die Aufmerksamkeit auf die zu verarbeitenden Inhalte zu richten. Stimmige Bewegungen führen zu Aktivierung im prämotorischen Cortex, einem Teil des frontalen Cortex’, der für die Planung von Bewegungen zuständig ist (vgl. Kap. 2). Bei inkongruenten Bewegungen werden vor allem metakognitive Prozesse angestoßen (vgl. Sambanis 2013: 100). Stimmige Bewegungen sind solche, die den Bedeutungsgehalt des zu erwerbenden Lerninhalts verdeutlichen oder auch, wenn sich das anbietet, z. B. Besonderheiten der Schreibweise aufgreifen. Beispielsweise können für das Wort loop (Schlaufe, Schleife) mit beiden Zeigefingern Kreise in die Luft gemalt werden, was zugleich die Form einer Schleife simuliert und auf die Schreibweise mit doppeltem o hinweist (vgl. Sambanis 2014: 122). Über die Klanggestalt eines Wortes lassen sich ebenfalls mitunter sinnvolle Verbindungen mit Bewegungen finden, z. B. beim amerikanischen Wort für Wasserhahn, faucet. <?page no="138"?> 137 5.2 Welche Erkenntnisse liegen für Bewegungen zu Inhalten vor? Zerlegt man faucet- […] in zwei Sprechsilben und zeigt beim wiederholten Sprechen im Takt der Sprechsilben mit der Hand das Herabfallen von Wassertropfen an (fauoben am Wasserhahn, cet- Aufprallen des Tropfens im Becken), entsteht über das wiederholte Sprechen samt Bewegung-[…] eine klangliche Verbindung, nämlich die zu einem tropfenden Wasserhahn, was wiederum zur Einbettung des neuen Wortes in eine konkrete lebensweltliche Situation führt. Dadurch wird ein stimmiger Anknüpfungspunkt für die Verarbeitung und Speicherung des Wortes geschaffen. (ebd.) Bewegungen können dazu beitragen, Inhalte fassbar und durch die motorische Umsetzung fühlbar zu machen. Auf diese Weise wird nicht nur Handeln simuliert und Lerneraktivierung ermöglicht, sondern es werden auch mehrere Sinneseindrücke mit dem Inhalt verknüpft (mehrkanaliges Lernen). Vielfältige Sinneseindrücke, Intensität und Qualität der Auseinandersetzung sowie die Häufigkeit der Befassung mit Inhalten nehmen Einfluss darauf, wie dauerhaft und rasch abrufbar Inhalte gespeichert werden. Durch die Bewegungskoppelung kann das Einspeichern zusammen mit Bewegungsspuren begünstigt sowie ferner die Bildung von Assoziationen unterstützt werden, z. B. wird durch die darstellende Komponente unterstützt, dass der Lernende beim Wort faucet vor seinem inneren Auge einen Wasserhahn sieht, dass er das Geräusch der fallenden Tropfen in seiner Vorstellung hört und dies mit Assoziationen und, in diesem Fall, Alltagserfahrungen verknüpft. Das Arbeiten mit Assoziationen eröffnet in vielen Unterrichtsfächern und bei verschiedenen Inhalten Möglichkeiten für sinnvolle, aber dennoch einfach umsetzbare Koppelungen von Inhalten an Bewegungen. In diesem Kontext können auch dramapädagogische Formen des Lernens eingesetzt, Dramatisierungen im Miniformat genutzt werden. 8 Zur Evaluation von Szenischem Lernen liegen inzwischen mehrere Studien vor (für einen Überblick vgl. Böttger & Sambanis 2017: 62 ff.), die im weiteren Sinne als Folgestudien zu der sich aus mehreren Teilstudien zusammensetzenden Evaluation des Szenischen Lernens von Hille et al. (2010) betrachtet werden können. Im Zuge der ersten umfangreicheren Evaluation des Vorgehens mit Teilstudien zum Wortschatzerwerb und der Aussprache, wurden in den Klassen 6-9 im gymnasialen Französisch- und Lateinunterricht Daten erhoben. „Die Teilstudien zum Wortschatzerwerb zeigen ein einheitliches Bild und belegen sich für beide Fremdsprachen v. a. beim langzeitlichen Behalten über mehrere Wochen bis Monate manifestierende förderliche Effekte der Koppelung von Bewegung und Inhalten“ (Sambanis 2015: 159). Auch im Hinblick auf die Aussprache liefert die Studie (Hille et al. 2010, Teilstudie Aussprache, Stichprobengröße von N-= 85) Hinweise auf positive Effekte: Die Gruppen, die das Sprachbzw. Textmaterial mit Bewegungen geübt hatten, schnitten bei der Beurteilung der Aussprache durch verblindete Rater in allen Kategorien besser ab als die Kontrollgruppen (meistens statistisch signifikant). Die Effektstärken lagen bei d = 0,8 (Klasse 7) und d = 1,27 (Klasse 6). (Sambanis 2015: 160) 8 Für aktuelle Publikationen zum performativen Lehren und Lernen vgl. u. a. Schewe & Even (2016), Crutchfield & Schewe (2017) sowie Scenario, die online frei zugängliche Zeitschrift für performatives Lehren, Lernen, Forschen. <?page no="139"?> 138 5. Bewegung und Lernen Es schlossen sich mehrere Folgestudien an, im Französisch- und Englischunterricht in der Grundschule sowie auf der Sekundarstufe mit konsistenten Ergebnissen, die den Schluss nahelegen, dass beim Lernen durch die Koppelung von Inhalten an Bewegungen insbesondere das langfristige Behalten, die Schnelligkeit des Abrufs und die kognitive Flexibilität beim Umgang mit den Inhalten unterstützt werden kann. Auch im vorschulischen Bereich wurden Studien zu Effekten der Koppelung von Bewegung und Lernen durchgeführt. Im Folgenden wird von einer solchen aktuellen Studie, verdichtet auf wesentliche Informationen und auf die gewonnenen Erkenntnisse, berichtet. 5.2.2 Effekte beim Fremdsprachenlernen im Kindergartenalter In Anknüpfung an die bereits vorliegenden Erkenntnisse zum Bewegungslernen, wurde eine Studie mit Kindergartenkindern in Athen durchgeführt (Toumpaniari et al. 2015, vgl. hierzu u. a. die von Tellier 2008 bei französischen Vorschulkindern nachgewiesenen Effekte des verkörperlichten Lernens englischer Wörter). Die Kinder sollten 20 Tiernamen auf Englisch lernen. Verglichen wurden drei unterschiedliche methodische Vorgehen in zwei Experimental- und einer Kontrollbedingung. Pro Vorgehen wurde eine Kindergartengruppe rekrutiert, die gesamte Stichprobengröße lag bei N-= 67, es wurde auf Gruppenebene randomisiert (vgl. Toumpaniari et al. 2015: 449). In allen Gruppen wurden dieselben 20 Tiernamen auf Englisch eingeführt, auf Griechisch benannt und als Bildkarten gezeigt. In der einen Experimentalgruppe führten die Kinder beim Wiederholen der Wörter (auf Englisch und Griechisch) passende Bewegungen auf der Stelle aus, also ohne sich im Raum zu bewegen. In der anderen Experimentalgruppe konnten sich die Kinder im Raum bewegen, z. B. beim Wort monkey hin- und herhüpfen. Die dritte Gruppe diente als Kontrollgruppe. Hier wurde nicht mit Bewegungen geübt, weder auf der Stelle noch frei im Raum, sondern traditionell mit Vor- und Nachsprechen unter Einsatz der Bildkarten. Die Zielwörter wurden in allen Gruppen insgesamt acht Stunden lang geübt. Diese acht Stunden verteilten sich auf einen Übungszeitraum von vier Woche mit jeweils zwei Stunden pro Woche und Gruppe. 9 Nach Abschluss der Intervention wurde die Akzeptanz des jeweiligen methodischen Vorgehens bei den Kindern erfasst und der Lernerfolg durch Einzeltestungen ermittelt. Aus fremdsprachendidaktischer Sicht könnte die Tatsache kritisch diskutiert werden, dass bei der Testung, anstatt mit den Bildkarten als Impulse zu arbeiten, jeweils ein Tiername auf Griechisch vorgegeben wurde, zu dem das Kind dann die englische Entsprechung nennen sollte. Die Ergebnisse der Studie erweitern, trotz der o. g. kleinen methodischen Einwände, die Erkenntnisbasis und bestätigen für die Zielgruppe der Kindergartenkinder im bzw. kurz vor 9 Angesichts der hohen Übungszeit von acht Stunden bei nur 20 Wörtern, davon mehr als die Hälfte bestehend aus einer einzigen Sprechsilbe, andere mit Ähnlichkeiten zur Erstsprache Griechisch (u. a. bei camel, elephant, tiger), streuen die Ergebnisse wenig und ein gewisser Deckeneffekt ist trotz des relativ jungen Lerneralters zu erkennen. Bei Replikationsstudien sollte sowohl die Anzahl als auch der Schwierigkeitsgrad der Wörter genauer geprüft und mit einer etwas größeren minimalen Überforderung der Kinder gearbeitet werden. <?page no="140"?> 139 5.2 Welche Erkenntnisse liegen für Bewegungen zu Inhalten vor? dem sogenannten Vorschulalter, den „promise for instructional methods combining physical activities and gestures as enhancers of children’s learning“ (Toumpaniari et al. 2015: 445), zu dem u. a. durch die Studien zum Szenischen Lernen auch für andere Zielaltersgruppen sich verdichtende Nachweise vorliegen. Beide Bewegungsvarianten (auf der Stelle oder frei im Raum) schnitten sowohl im Hinblick auf den Lernertrag als auch hinsichtlich der Akzeptanz durch die Kinder besser ab als die bewegungsfreie Bedingung. Es lässt sich ein Crescendo nachzeichnen, das, etwas weniger beliebt und weniger erfolgreich, beim Wörterlernen ohne Bewegungen ansetzt, sich über das Ausführen von Bewegungen auf der Stelle steigert und im Wörterlernen mit Bewegungen im Raum den größten Effekt und die höchste Zustimmung bei den jungen Probandinnen und Probanden erreicht (analog durch die Mittelwerte der Wortschatztestung ausgedrückt: 14.62 < 15.13 < 16.96). Positive effects of embodied learning (i.e., cognition builds on the interaction of the human body with its physical environment-[…]) have been found in multiple research areas, such as cognitive psychology, linguistics, gesture, and mathematics-[…] (Toumpaniari et al. 2015: 447) An das Stichwort „mathematics“ anküpfend, wird im folgenden Abschnitt eine aktuelle Studie aus dem Bereich Mathematik referiert, deren Erkenntnisse für die Beurteilung von Effekten des mit stimmigen Bewegungen verbundenen Lernens auch außerhalb des (fremd-) sprachlichen Unterrichtsbereichs relevant erscheinen. 5.2.3 Effekte beim Erwerb von numerischen Kompetenzen auf der Elementar- und Primarstufe Ziel der Studie (Dackermann et al. 2016) war es, mögliche Effekte von Bewegung auf die Entwicklung mathematischer Kompetenzen zu erfassen. Den Ausgangspunkt bildete die Evidenzlage zur Verbindung von Körper und Kognition, die, wie die Autorengruppe bestätigt, „bisher vor allem in der Forschung zur Sprachverarbeitung untersucht“ worden ist (Dackermann et al. 2016: 104, für einen Überblick über Theorien und Forschungsstand zur Sprachverarbeitung vgl. Fischer & Zwaan 2008). 10 Außerdem beziehen sich die Forschenden auf Erkenntnisse, die im Kontext der Idee der „Bewegten Schule“ (vgl. Dackermann et al. 2016: 104) gewonnen wurden und zeigen, „[d]ass Bewegung generell zur Unterstützung von Lernprozessen bei Kindern beitragen kann“. Auch in der auf mathematische Kompetenzen bezogenen Forschung verdichte sich die Erkenntnislage nach und nach und zwar dergestalt, dass von einem engen „Zusammenhang zwischen körperlicher Bewegung, der Verarbeitung von Zahlen und insbesondere räumlich-numerischen Assoziationen“ (ebd.) auszugehen sei. Unter Bezugnahme auf entsprechende Studien (für Quellen vgl. Dackermann et al. 2016: 103), geht die Forschergruppe davon aus, dass „semantische Informationen über die Größe 10 Fischer & Zwaan (2008: 825) geben in ihrem Artikel einen systematischen Überblick über „the role of the motor system in language comprehension“. Dabei referieren sie relevante Studien und gehen auf dem Weg einer systematischen Zuordnung von theoretischen Positionen und korrespondierender Evidenz der Frage nach Belastbarkeit und Erklärungsansätzen nach. <?page no="141"?> 140 5. Bewegung und Lernen einer Zahl nicht nur abstrakt verarbeitet (z. B. 5 ist größer als 3), sondern auch räumlich entlang eines- […] mentalen Zahlenstrahls repräsentiert“ werden (ebd.). Die Richtung der Anordnung der Zahlen korrespondiere in der Regel mit der jeweiligen Schreibrichtung, d. h. Kinder, die in Deutschland aufwachsen und zur Schule gehen, ordnen die Zahl 1 vor dem inneren Auge weiter links an als z. B. die Zahl 9. Als Indikatoren dafür, dass Zahlen nicht nur abstrakt, sondern räumlich repräsentiert werden, gelten spontane Hand-, Fuß-, Kopf- oder Blickbewegungen beim Lösen entsprechender Aufgaben. Beispielsweise zeigte sich bei Studien, in denen Probandinnen und Probanden entscheiden sollten, ob eine Zahl ungerade oder gerade ist, überzufällig häufig bzw. schnell eine Bewegung mit der linken Hand bei kleinen Zahlen und mit der rechten bei größeren Zahlen. 11 Diese Erkenntnisse stützen die Annahme, „dass kognitive Prozesse nicht abstrakt, sondern multimodal repräsentiert sind“ (Dackermann et al. 216: 104, zur Multimodalität vgl. Sambanis 2013: 101 ff.). Sie bilden eine wesentliche Grundlage für Überlegungen zu einer Verknüpfung von Bewegung und Inhalt im Unterricht, was schließlich auch zu der Frage nach möglichen unterrichtsmethodischen Vorgehen zur Unterstützung von Embodied Cognition veranlasst. In der Studie von Dackermann et al. (2016) wurde, ähnlich wie beim Szenischen Lernen (vgl. 5.2.1), ein Vorgehen angewandt, das auf einer planvollen und stimmigen Verbindung von Bewegungen und Inhalten basiert: Durch eine „spezifische Verknüpfung des numerischen Trainingsinhalts mit räumlich-körperlicher Bewegung soll das Erlernen räumlichnumerischer Assoziationen“ unterstützt werden (Dackermann et al. 2016: 105). Zu diesem Zweck wurde, zunächst bei Kindergartenkindern, eine digitale Tanzmatte eingesetzt, auf der die Kinder, ausgehend vom mittleren Tanzmattenfeld, durch einen Schritt nach links anzeigen konnten, wenn eine Zahl auf dem Zahlenstrahl kleiner als ein vorgegebener Vergleichsstandard war bzw. durch einen Schritt nach rechts, wenn die Zahl größer war. Der mentale Zahlenstrahl wurde damit in Bewegungen auf der Tanzmatte übersetzt, was zu „einer Verbesserung des mentalen Zahlenstrahls der Kinder“ (ebd.) beitragen sollte. In der Kontrollbedingung wurde keine Körperbewegung eingesetzt, stattdessen identische Größenvergleichsaufgaben am Tablet bearbeitet. „Die Ergebnisse zeigten einen deutlich größeren spezifischen Lerneffekt nach dem verkörperlichten Training“ (ebd.), und sie weisen damit für den Bereich der basisnumerischen Kompetenzen in dieselbe Richtung wie Erkenntnisse zum bewegungsgekoppelten Fremdsprachenlernen (vgl. u. a. Hille et al. 2010, Sambanis 2013, Toumpaniari et al. 2015). In der Experimentalbedingung konnte eine deutlichere Verbesserung der Schätzgenauigkeit erreicht werden als in der Kontrollbedingung (d = 0.68, vgl. Dackermann et al 2016: 106). Ähnliches gilt für einen zusätzlich beobachteten Transfereffekt, nämlich die Verbesserung der Zählfertigkeiten (d = 0.66, vgl. ebd.). 11 In der Fachliteratur ist dieses Phänomen als SNARC -Effekt (Spatial Numerical Association of Response Codes) bekannt (vgl. Dackermann et al. 2016: 103). Zum SNARC -Effekt hat u. a. der renommierte Forscher Dehaene am Collège de France geforscht. Eine zusammenfassende Präsentation relevanter Forschungsergebnisse ist unter dem Titel „The hunting of the SNARC : The discovery of number-space interactions and their cerebral correlates“ frei im Internet abrufbar unter: https: / / www.college-de-france. fr/ media/ stanislas-dehaene/ UPL7141364266759190_Dehaene_SNARC.pdf. <?page no="142"?> 141 5.2 Welche Erkenntnisse liegen für Bewegungen zu Inhalten vor? Zur Erforschung möglicher Effekte des verkörperlichten Trainings wurde eine zweite Studie durchgeführt. Diese fokussierte das „Verständnis des Stellenwertsystems“ (ebd.) bei Zweitklässlern. Aus dem Anfangsunterricht Mathematik in der Grundschule sind Lehrkräften und Eltern Aufgaben bekannt, bei denen die Kinder die Ziffern mehrstelliger Zahlen Einer-, Zehner- und später auch Hunderter-Kästchen zuordnen müssen. Durch solche Aufgaben soll es für Kinder erfassbar werden, dass z. B. die Ziffer 3 alleine, d. h. mit dem Status „Einer“, auch tatsächlich 3 bedeutet. Kommt aber an der Einerstelle z. B. die Ziffer 2 hinzu, so bedeutet 3, da die Ziffer an die Stelle des Zehners rückt, 30 usw. Das klingt für Erwachsene einfach, stellt aber eine nicht zu unterschätzende kognitive Herausforderung für Kinder dar. Ob diese unterstützt werden kann, indem „die Wertigkeit von Zehnern und Einern körperlich erfahrbar“ (ebd.) gemacht wird, war Gegenstand der zweiten Studie. 12 Die Ergebnisse dieser Studie weisen ebenfalls auf größere Effekte des mit Bewegungen verbundenen Lernens im Vergleich zu bewegungsfreien Kontrollbedingungen hin: Die Kinder verbesserten sich in der Experimentalbedingung deutlicher im Hinblick auf ihre Zahlenstrahlschätzgenauigkeit (d = 0.43) und ihr Stellenwert-Verständnis (d = 0.55, vgl. Dackermann et al. 2016: 107). Resümierend ziehen die Autoren „eine positive Bilanz für die Wirksamkeit verkörperlichter numerischer Trainings“ (Dackermann et al. 2016: 107) und weisen ergänzend auf Ergebnisse hin (vgl. Link et al. 2013), die den Schluss nahelegen, dass Kinder mit schwächeren kognitiven Fähigkeiten möglicherweise besonders von der Verbindung von Inhalten und Bewegungen profitieren. Im Anschluss an diese Schlaglichter auf den aktuellen Forschungsstand soll nun im Folgenden der Frage nach möglichen Erklärungen für die gefundenen Effekte von bewegtem Lernen nachgegangen werden. 5.2.4 Wie lassen sich die Effekte erklären? Für die Verbindung von Inhalten mit Bewegungen beim Lernen lassen sich verschiedene Faktoren nennen, die, möglicherweise im Zusammenspiel, dazu beitragen, dass die Lernleistung hoch und Gedächtnisinhalte im Vergleich zu bewegungsfreien Lernbedingungen resistenter sein können. Macedonia (2014: 2) stellt mögliche Faktoren überblicksartig zusammen, beginnend mit dem ersten, bereits in den 1980er-Jahren aufgestellten, Erklärungsansatz. Dieser führte „the enhancement to the creation of a motor trace“ (ebd., Hervorhebung durch Arndt & Sambanis), d. h. auf die Anlage motorischer Gedankenspuren zurück. Neurowissenschaftliche Studien haben diese Annahme bestätigt (vgl. ebd.). Als zweiter Faktor kann die multimodale Enkodierung, das multisensorische Lernen angeführt werden: Durch den Einsatz von Bewegungen wird Lernen in besonderer Weise 12 Die Tanzmatte wurde dabei nicht komplett ebenerdig abgelegt, sondern teilweise erhöht auf einer Stufe. Ein Schritt nach links ebenerdig bedeutete minus 1, ein Schritt nach links oben auf der Stufe stand für minus zehn. Nach rechts wurde ebenerdig plus 1 kommuniziert, auf der Stufe oben plus 10. „Die Trainingsaufgabe bestand darin, einen Balken auf dem Zahlenstrahl“ mithilfe der entsprechenden Schritte zu steuern (Dackermann et al. 2016: 106). <?page no="143"?> 142 5. Bewegung und Lernen zu einem „multisensory process“ (ebd., Hervorhebung Arndt & Sambanis), wodurch sich die „complexity of the memory trace“ erhöht. Durch die Beteiligung mehrerer Sinne beim bewegungsbasierten Lernen (sich selbst hören, die Sprech- und Körperbewegungen durchführen, sie an anderen Lernenden sehen, sodass motorische Impulse und sensorische Eindrücke am Lernprozess beteiligt werden) wird das Gehirn auf vielfältigere Weise aktiviert, als bei Verfahren, die keine Bewegungskomponente beinhalten (vgl. 6.7.1). Dies kann in allen Unterrichtsfächern genutzt werden. Für die Sinneseindrücke werden Knotenpunkte im Netzwerk angelegt und jeder Knotenpunkt, z. B. der in motorischen Zentren, bildet einen Pfad zu dem Gedächtnisinhalt. Unterrichtliche Vorgehen wie Szenisches Lernen begünstigen die Aktivierung der Schülerinnen und Schüler, wobei es plausibel erscheint, davon auszugehen, dass die Schüleraktivierung zusammen mit der Multimodalität Einfluss auf die Verarbeitungstiefe hat (zu levels of processing vgl. Craik & Lockhart 1972, Sambanis 2013: 132-133 sowie 6.6.1 im vorliegenden Band). Als weiterer Faktor wäre die Verlebendigung von Inhalten durch Bewegungen, das Evozieren von Kontexten und Schaffen von Assoziationen und Repräsentationen im Sinne von „mental imagery“ (Macedonia 2014: 2, Hervorhebung Arndt & Sambanis) zu erwähnen: „[…] learners performing a gesture-[…] activate an internal kinetic image“ (Macedonia 2014: 2-3, vgl. hierzu 5.2.3). Ein gedankliches Weiterentwickeln des kinetic image, z. B. zu einer situativen Einbettung oder einer Geschichte im Miniformat, scheint nicht ausgeschlossen und kann möglicherweise durch eine Weiterentwicklung der Bewegungskomponente im dramapädagogischen Sinn unterstützt werden. So könnte das in Kap. 5.2.1 angeführte Beispiel She likes standing out gedanklich an eine Situation gebunden, lebhaft imaginiert, durch die körperliche Darstellung gespiegelt und auf diese Weise auch im Besonderen mit Emotionen verbunden werden. In zweifacher Hinsicht können bei bewegungsbasierten Lernverfahren Emotionen beteiligt sein: Zum ersten, indem der Lernende das Lernverfahren als solches erlebt, wobei am Erleben Emotionen beteiligt sind. Zum zweiten, indem der Lernende, angestoßen durch das verkörperlichte Darstellen, den Inhalt mit Emotionen verbinden kann (zum Einfluss und der Relevanz von Emotionen für das Lernen vgl. Kap. 4). Resümierend lässt sich festhalten, dass beide Formen der Bewegung, sowohl diejenige, die eher in ausgleichender, erfrischender und stabilisierender Funktion eingesetzt wird, als auch die Koppelung von Inhalten und Bewegungen beim Lernen methodische Ansatzpunkte bilden, die im Sprachunterricht sowie in anderen Unterrichtsfächern gleichermaßen genutzt werden können. Die vorliegenden Erkenntnisse stützen die Annahme nachhaltig, dass ein Einbezug von Bewegungen in den Fachunterricht eine sinnvolle und lohnende Investition darstellt.  Praxisfenster Claudia: Für mich war es wichtig, tatsächlich einmal gestützt auf empirische Befunde zu hören, dass bei Bedarf eine kurze Bewegungseinheit von etwa drei bis fünf Minuten keine verlorene Zeit ist und dass ich nicht das Gefühl haben muss, damit Unterrichtszeit vergeudet zu haben. Das <?page no="144"?> 143 5.2 Welche Erkenntnisse liegen für Bewegungen zu Inhalten vor? 13 Das Zitat entstammt einer Sammlung von Praxistipps zum Differenzieren im Unterricht (Sorrentino et al. 2012: 104). Das Buch enthält, kompakt und übersichtlich dargestellt, verschiedene nützliche Hinweise, allerdings sollte das Teilkapitel zu den Lerntypen, insbesondere Aussagen die nahelegen, dass die Lehrkraft dem sogenannten Lerntyp des einzelnen Lernenden zuarbeiten müsse, kritisch hinterfragt werden. Auch wenn Lernende z.T. bestimmte Sinnesmodalitäten bevorzugen, gibt es keine Hinweise darauf, dass diese tatsächlich ihre „stärksten“ Sinnesmodalitäten sind oder dass der Lernprozess dadurch befördert würde (vgl. Dekker et al. 2012). Durch das Fokussieren von Präferenzen affirmieren sich nämlich, da man sie letztlich meidet, die (angenommenen) Schwächen, was nicht wünschenswert erscheint. Anstelle des „Bedienens“ von Präferenzen bei den Lernenden empfehlen Arndt & Sambanis daher vielmehr, wann immer möglich, das Verfolgen von Vielfalt in den Herausforderungen und Lernangeboten, auch im Sinne eines multimodalen Enkodierens, wie es u. a. durch Bewegungskoppelung erreicht werden kann. 14 Vgl. das Praxisfenster in Kap. 2. finde ich keineswegs trivial. Als Lehrkraft kommt man immer wieder in Situationen, in denen man begründen muss, warum man etwas tut und da sind solche Aktivitäten manchmal Stein des Anstoßes, selbst wenn man Bewegungspausen sehr gezielt und intentional einsetzt und keineswegs Unterrichtszeit damit totzuschlagen versucht. Dianne: Ähnlich verhält es sich meiner Wahrnehmung nach manchmal auch mit Spielen im Unterricht. Da entsteht, selbst wenn eine gute Balance zwischen Spielziel und Lernziel erreicht wird, vielfach auch der Eindruck, es handle sich um Vergeudung der Unterrichtszeit. Dabei können stimmig eingesetzte, altersgemäße Spiele Handlungs- und Produktionsorientierung fördern und „eine Intensivierung des Lernprozesses durch Verlangsamung bewirken“. 13 Gesa: Spielen kann zu einer Dopaminausschüttung führen, also das köpereigene Belohnungssystem ankurbeln. Setzt man ein Spielangebot ganz unmittelbar nach einer Lern- oder Übungsphase ein, erhöht das die Lernchancen. Am besten kündigt man das Spiel als Belohnung schon vorher an und alle, die fertig sind, lassen sozusagen den Stift fallen und begeben sich sofort in die geplante Spielsituation. Außerdem ist Bewegung Bestandteil vieler Spiele. Bewegung und Spiele können das Durchhaltevermögen erhöhen, mögliches Stress- und Belastungserleben verringern, denn Bewegung führt u. a. zu einem deutlichen Abbau des Stresshormons Cortisol. Peter: Damit hast du mich nun gedanklich wieder zum Bewegungseinsatz in ausgleichender Funktion geführt. Bei älteren Lernerinnen und Lernern habe ich die Erfahrung gemacht, dass ausgleichende Bewegung gut funktioniert, wenn man ganz einfache Impulse wählt: Wir öffnen jetzt mal die Fenster, ihr dürft aufstehen, im Zimmer herumgehen, euren Müll vom Tisch in den Papierkorb werfen. Es geht weiter im Unterricht, wenn ich die Fenster wieder schließe. Claudia: Ich halte Bewegung als Ausgleich auch im Hinblick auf die exekutiven Funktionen, also Arbeitsgedächtnis, Shifting und Inhibition, für wichtig. Wir haben vorher schon einmal über Lärm beim Lernen gesprochen, über Distraktoren, die ausgeblendet werden müssen. 14 Außerdem hatten wir gesagt, dass das Unterdrücken unerwünschter Handlungen oder ablenkender Reize und Gedanken bei Kindern mit einer besonders hohen Aktivierung im Frontallappen verbunden ist. Es ist anstrengender für Kinder als für Erwachsene. In den Unterricht eingebettete Bewegungspausen stellen aus meiner Sicht eine sinnvolle Alternative zu Ermahnungen wie „Konzentriere dich! “ dar. Peter: Es ist die angenehmere und dabei zugleich erfolgversprechendere Strategie. <?page no="145"?> 144 5. Bewegung und Lernen 15 Vgl. Sorrentino et al. 2012: 102. Die Koppelung von Inhalten und Bewegung gebe ich übrigens gerne mal in die Hand der Lernenden selbst, z. B. sollen sie in arbeitsteiligen Gruppen zu Unterrichtsinhalten entweder eine Möglichkeit der Visualisierung finden oder etwas aus dem Bereich Gestik, Mimik, Körperbewegungen zuordnen. Für diese Gruppenphase setze ich zur Erhöhung der Zielorientierung ein straffes Zeitlimit. In der anschließenden Plenumsrunde bringen die Schülerinnen und Schüler dann unter Nutzung der gefundenen Lernhilfe den Inhalt ihren Klassenkameradinnen und -kameraden bei. Dianne: Bei einer Fortbildungsveranstaltung, in der es um performative Formen des Lehrens und Lernens ging, habe ich vor kurzem eine Impro-Theatergruppe gesehen, die verschiedene Techniken vorgestellt hat, die teilweise auch im Unterricht eingesetzt werden könnten. Zum Beispiel hat einer aus der Theatergruppe eine Art Referat gehalten, während seine Kollegin das Gesagte spontan in Gestik und Köperbewegung übertragen hat. Da gab es sehr viele eindrucksvolle Momente und auch viel zum Schmunzeln. Peter: Als großer Befürworter von darstellenden Methoden gefallen mir solche Ideen, aber aus Erfahrung muss ich auch sagen, dass der Grat zwischen Lernen und Klamauk gerade beim spontanen Übersetzen in Gestik und Mimik manchmal schmal ist: Wenn jemand gut ist im spontanen gestischen Umsetzen, überwiegt das Lachen und das Inhaltliche tritt mitunter in den Hintergrund. Wenn jemand nicht so gut ist im spontanen Finden von Gesten, kann es zäh werden und vielleicht sogar unangenehm für den Exponierten. Dianne: Hier muss man wohl abwägen und je nach Lerngruppe und Inhalt entscheiden, ob die Aktivität geeignet und dem Lernen zuträglich ist. Trotzdem noch eine zweite Idee aus dieser Fortbildung: Vor einer anderen Übung wurden Zettel vorbereitet, auf die man schreiben konnte, was einem spontan in den Sinn kam. Einige der Zettel mussten dann beim Nacherzählen eines Textes gezogen und in die Nacherzählung eingebaut werden. Ich könnte mir vorstellen, dass das, zumindest im sprachlichen Bereich, auch im Klassenzimmer ein besonderer Impuls sein könnte, der zu spontaner Sprachproduktion sowie dem Einbinden von Gestik und Mimik anregen und den flexiblen Umgang mit Narrationen schulen könnte. Peter: Ganz ähnlich arbeitet das Texttheater, das sich auf das Vortragen, Darstellen und Ausgestalten von Kernaussagen und relevanten Zitaten aus Texten stützt. 15 Es lässt sich in jedem Fachunterricht einsetzen. Je nach Inhalt stellt man Sachtexte, Zeitungsartikel oder literarische Texte zur Verfügung, auch Schulbuchtexte können als Grundlage für Texttheater dienen. Die Aufgabe besteht darin, dass die Schülerinnen und Schüler aus dem Text oder den Texten Kernpassagen herausfiltern und sich überlegen, wie sie diese vortragen könnten und zwar wörtlich, ohne das ausgewählte Zitat zu verändern. Sie können dazu eine Rolle übernehmen, eine bekannte Persönlichkeit nachahmen, das Vortragen des Zitats als Auftritt und Abgang von einer Bühne inszenieren. Sie können das Zitat wiederholend sprechen und dabei lauter oder leiser werden etc. Das Positive am Texttheater ist einerseits, dass es die Lernenden dazu veranlasst, wirklich genau zu lesen und andererseits, dass relevante Passagen durch die Darstellung hervorgehoben werden und als Ankerpunkte für weitere unterrichtliche Aktivitäten, Hintergrundrecherchen, Diskussionen usw. dienen können. <?page no="146"?> 145 5.2 Welche Erkenntnisse liegen für Bewegungen zu Inhalten vor? 16 Zu diesen und weiteren Hinweisen, wie Biologieunterricht mit Kopf, Herz und Hand gestaltet werden kann, vgl. Graf 2016. 17 Für eine Zusammenfassung mehrerer Studien vgl. Böttger & Sambanis 2017: 63 ff. Gesa: Ich bin zwar keine Didaktikerin, aber ich kann mir vorstellen, dass Texttheater die Aufmerksamkeit sowie die Intensität und Vielfalt der Eindrücke, die Schülerinnen und Schüler mit den zugrundeliegenden Texten und Themen verbinden, erhöht. Der Biologielehrer meines Sohnes lässt Zusammenhänge oder Wirkmechanismen, wie z. B. eine Immunreaktion, von den Schülerinnen und Schülern oft szenisch darstellen. Am Elternabend kündigte er an, mit szenischen Mitteln im Unterricht zu arbeiten und begründete dies damit, dass er nicht etwa Biologie unterrichte, sondern Schülerinnen und Schüler, die nicht nur aus Kopf bestünden. Peter: Gefällt mir, der Kollege. Bei solchen Darstellungen kann es übrigens sinnvoll sein, wenn eine Schülerin oder ein Schüler eine Reporter-Rolle übernimmt: Er oder sie darf die szenische Darstellung einfrieren und den Akteuren bzw. der Klasse als Expertinnen und Experten für das Thema Fragen stellen. So wird sichergestellt, dass nicht nur buntes Herumtoben im Klassenzimmer stattfindet, bei dem letztlich niemand mehr so genau weiß, wer welche Rolle oder Funktion hat bzw. was das Ganze eigentlich illustrieren soll. Die Biologiekollegen bei uns gehen oft auch spontan nach draußen und geben den Lernenden Aufgaben, die auf motorischen und sensorischen, d. h. auch auf haptischen, wie z. B. dem Abtasten von Baumrinden, und olfaktorischen Eindrücken fußen. 16 Claudia: Manchmal vereinbare ich mit meinen Schülerinnen und Schülern, dass bestimmte Wörter, z. B. Fachtermini aus dem Sachunterricht, mit Bewegungen verbunden werden. Wenn beispielsweise Nutzpflanzen unser aktuelles Thema sind, dann vereinbaren wir für eine bestimmte Phase des Unterrichts, dass immer, wenn jemand das Wort „Nutzpflanzen“ verwendet, alle kurz aufstehen und sich wieder hinsetzen. Für weitere zentrale Begriffe wie Gentechnik oder Monokultur werden andere Bewegungen ausgesucht, die stimmig inhaltlich in Verbindung gesetzt werden und ebenfalls immer dann ausgeführt werden sollen, wenn das Wort erwähnt wird. Es dürfen nicht zu viele Begriffe sein, sonst kommen die Kinder mit den Bewegungen durcheinander und man muss die Phase auch wieder klar beenden, aber die Aufmerksamkeit erhöht sich und die Kinder haben sichtlich Freude, sich durch die Bewegungen zu beteiligen. Gesa: Ich fände es interessant durch Studien abzuklären, ob die Kinder dabei ihre Aufmerksamkeit vorwiegend auf das Herausfiltern der mit Bewegungen belegten Wörter aus dem Sprachfluss richten oder ob sie auch inhaltlich konzentriert folgen, also z. B. dem Lehrervortrag tatsächlich zuhören. Dianne: Damit sprichst du etwas Wichtiges an: Man könnte befürchten, dass Bewegungen möglicherweise auch ablenken, z. B. scheint es vorstellbar, dass Bewegungen das Wahrnehmen und Verarbeiten der korrekten Schreibweise eines Wortes oder eines Fachbegriffes oder dessen korrekter Lautgestalt behindern. Dazu gibt es aber inzwischen erste Studien, die nicht auf eine Beeinträchtigung der Verarbeitung von Schriftbildern oder der Lautgestalt schließen lassen - im Gegenteil. Außerdem gibt es erste Hinweise dazu, dass sich die Bewegungskoppelung besonders bei komplexeren Inhalten vorteilig auswirken kann und, wie wir schon gehört haben, sich positiv auf die Langzeitspeicherung auswirkt. 17 In verschiedenen Studien konnte zum ersten Messzeitpunkt in Gruppen, die mit zugeordneten Bewegungen gelernt haben, keine Überlegenheit festgestellt <?page no="147"?> 146 5. Bewegung und Lernen Ausgewählte Literaturhinweise Dackermann, T., Fischer, U. et al. (2016): Bewegtes Lernen numerischer Kompetenzen. In: Psychologische Rundschau (2), 102-109. Macedonia, M. (2014): Bringing back the body into the mind: Gestures enhance word learning in foreign language. In: Frontiers in Psychology, : 1467, 1-6. werden, manchmal lagen die Ergebnisse der Experimentalgruppe zunächst sogar unter denen der bewegungsfrei lernenden Gruppen. Allerdings zeigte sich über die Zeit hinweg in nahezu allen Studien ein gegenläufiges Bild, d. h. die Bewegungsgruppen schnitten beim längerfristigen Behalten besser ab. Gesa: Es scheint mir sehr nachvollziehbar, dass die Bewegungsgruppen zunächst keine bessere Leistung zeigen konnten. Immerhin müssen beim Lernen mit Bewegungen zusätzlich motorische Informationen verarbeitet und den Inhalten zugeordnet werden. Das Gehirn hat dadurch gewissermaßen erst einmal mehr zu tun als das der Lernenden in den bewegungsfreien Gruppen. Wenn dann aber erfolgreich enkodiert, also in den neuronalen Code und damit ins Gehirn übertragen, sowie konsolidiert wurde, d. h. nachbereitet und gespeichert, wirkt sich die größere Komplexität der Erinnerungsspur beim Lernen mit Bewegungen langfristig positiv aus. Etwa ein Drittel des Gehirns ist mit der Planung, Koordination und Ausführung von Bewegungen befasst. Warum sollte man das im Unterricht nicht bewusst adressieren? <?page no="148"?> 147 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? „Eine der wichtigsten Leistungen des Gehirns ist seine Fähigkeit, neue Informationen zu lernen und abzuspeichern“ (Beck et al. 2016: 206). Wie aber speichert das Gehirn Wissen ab, wie groß ist das Speichervolumen und läuft der Speicher irgendwann einmal voll? Bevor im Folgenden die Frage nach der Lokalisierung des Gedächtnisses im Gehirn beleuchtet wird, kann vorausgeschickt werden, dass die Sorge, der Speicher laufe voll und es könnte klug sein, etwas Speicherplatz vorzuhalten, also in jungen Jahren lieber nicht allzu viel ins Gedächtnis zu geben, da man möglicherweise später im Leben dort auch noch etwas unterbringen möchte, unbegründet ist. Die Vorstellung, im Gehirn könnten Kapazitäten knapp werden, resultiert aus der Analogie zwischen Gehirn und Computer. Der Vergleich hinkt aber, da im Gehirn, anders als beim Computer, der Rechner und der Speicher zusammenwirken, d. h. das Gehirn arbeitet anders als der Computer. Nur für das Gehirn gilt: „Das, was man abspeichert (das Aktivierungsmuster), und der Ort (das Netzwerk) sind-[…] identisch“ (Beck et al. 2016: 207). Dadurch besitzt das Gehirn, anders als der Computer, folgende wesentliche Eigenschaft: „Speicher und Verarbeitung [profitieren] sozusagen voneinander: Der Speicher wird umso besser, je mehr schon verarbeitet wurde, und die Verarbeitung wird effizienter durch den Speicher“ (Böttger & Sambanis, Nachlese zum Vortrag von M. Spitzer 2016: 46). Sollten also beispielsweise jugendliche Lernende Sorge äußern, ihrem Gedächtnis zu viel zuzumuten und dadurch die Speicherkapazität auszureizen, dürfen Lehrkräfte sie getrost zu hemmungslosem Lernen und Speichern ermutigen: Das Lernorgan wächst mit seinen Aufgaben! 6.1 Wie ist Wissen eigentlich im Gehirn gespeichert? Verschiedene Hirnregionen sind an der Speicherung von Wissen beteiligt. Eine einzelne Hirnregion, die der „Sitz des Gedächtnisses“ wäre, sucht man vergeblich, auch wenn bestimmte Hirnstrukturen bei der Bildung von Gedächtnisinhalten, also beim Lernen, eine besondere Rolle spielen. Wie Wissen im Gehirn gespeichert ist, lässt sich am besten an einem vereinfachten Beispiel darlegen: Haben wir ein bestimmtes Objekt vor uns, sagen wir einen Apfel, dann löst dieser unterschiedliche Sinnesempfindungen aus. Das bedeutet, dass Nervenzellen in unserem Gehirn aktiv sind, die auf die verschiedenen Sinnesreize reagieren. So werden etwa Nervenzellen aktiv sein, die auf Rot oder Grün reagieren (je nach Apfelsorte), ein paar Nervenzellen, die auf braun spezialisiert sind, werden auch noch Aktivität zeigen und damit signalisieren, dass an bestimmten Stellen auch noch braune Objekte (nämlich der Stiel und die Blüte) zu sehen sind. Andere Nervenzellen werden aktiv, weil sie durch die runde Form des Apfels angeregt werden, wobei auch hier an der einen oder anderen Stelle weitere Nervenzellen eine kleine Eindellung (z. B. Stielansatz) oder sonstige Abweichungen von der perfekt runden Form melden werden. Die Neurone aus dem somatosensorischen System, die bevorzugt bei der Berührung glatter und fester Oberflächen reagieren, werden ebenfalls aktiv sein, falls man den <?page no="149"?> 148 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? Apfel anfasst und vielleicht Nervenzellen des olfaktorischen Systems, die auf typische Apfelaromen reagieren. Das beim Hineinbeißen entstehende Geräusch wird von Nervenzellen im auditorischen Cortex repräsentiert. Hat man schon Vorerfahrung mit Äpfeln, dann haben alle diese Zellgruppen bereits öfter „zusammengearbeitet“, d. h. sie waren bereits mehrfach gemeinsam aktiv. In dem Fall merkt man innerhalb von Sekundenbruchteilen, dass man es mit einem Apfel zu tun hat. Die Zellgruppen, die in verschiedenen Hirngebieten verstreut liegen, sind gleichzeitigt aktiv und feuern in einem ähnlichen Rhythmus. Durch diese zeitgleiche Aktivierung sind sie zu einem Neuronennetz verknüpft, das den vor uns liegenden Apfel repräsentiert. Ziemlich sicher ist das Netz auch noch mit dem Sprachzentrum verknüpft und zwar mit den Nervenzellen, die für das Wort „Apfel“ benötigt werden, möglicherweise auch noch mit weiteren Begriffen wie „essen“, „saftig“ und „süß“. Etliche Leserinnen und Leser werden inzwischen auch den Geschmack eines Apfels fast schon auf der Zunge haben-- selbst wenn sich kein einziger Apfel in der Nähe befindet. Hieran ist leicht zu erkennen, dass das Konzept „Apfel“ von uns erlernt wurde. Mit nur einem einzigen Hinweis, etwa dem typischen Geschmack oder Geruch, einem Bild oder durch ein Wort kann das gesamte Netzwerk aktiviert werden, das den Apfel repräsentiert und wir haben Zugriff auf unser vollständiges Wissen über Äpfel. Weitere Verknüpfungen des Netzwerks können beispielsweise zu den Fremdsprachen bestehen, zu „apple“ oder „pomme“. Wenn die Sprache gut gelernt wurde, ist auch der fremdsprachige Begriff eng mit dem „Apfelerkennungsnetz“ verknüpft. Wurden die Vokabeln nur oberflächlich gelernt, dann besteht die Verbindung möglicherweise nur zwischen den Worten „Apfel“ und „apple“ und erstreckt sind kaum auf das Objekt und seine Eigenschaften. Die gleichzeitige neuronale Aktivität, die die Netzwerke zusammenbindet, ist nur dadurch möglich, dass es starke neuronale Verbindungen gibt, also viele und große Synapsen zwischen den zum Netzwerk gehörenden Nervenzellen, die eine schnelle Übertragung von einer Nervenzelle zur anderen gewährleisten. So werden die neuronalen Signale rasch im gesamten Netzwerk verbreitet. Grundlage für die Ausbildung dieser starken synaptischen Verbindungen sind Lernprozesse (vgl. Infobox 2.1). Man darf aber den Lernprozess nicht mit der Ausbildung bzw. Stärkung der jeweils einzelnen synaptischen Verbindung verwechseln, wie es gelegentlich vorkommt (vgl. Trettenbrein 2016). Einzelne synaptische Verbindungen können in ihrer Rolle für höhere Lernprozesse 1 nur als Komponenten eines größeren neuronalen Netzes verstanden werden, dessen Inhalte dadurch bestimmt sind, wo die beteiligten Nervenzellen im Gehirn lokalisiert sind und über welche Ein- und Ausgänge sie mit anderen Neuronen verbunden sind. Das lässt sich vergleichen mit der Rolle, die der einzelne Buchstabe in einem Text, beispielsweise in einem Roman, spielt. Zwar trägt jeder Buchstabe zum Text bei, der Inhalt des Romans wird aber erst durch die Anordnung der Buchstaben kodiert und nicht durch den einzelnen Buchstaben-- nicht einmal durch das einzelne Wort oder einen einzelnen Satz. Im Laufe der Zeit bildet sich durch Lernprozesse anhand vieler Beispiele sozusagen ein Kernnetzwerk heraus, in dem die Eigenschaften repräsentiert sind, die unbedingt zu einem bestimmten Objekttyp gehören. Psychologinnen und Psychologen sprechen hier von Proto- 1 Genauer gesagt: für Lernprozesse, die über die reine Assoziationsbildung hinausgehen. <?page no="150"?> 149 6.1 Wie ist Wissen eigentlich im Gehirn gespeichert? typen, die einer Repräsentation des jeweiligen Objekts mit seinen typischen Eigenschaften entsprechen. Wissen ist also in Form von Netzwerken abgelegt. Dabei können einzelne Nervenzellen durchaus zu mehreren Netzwerken gehören, z. B. zu einem Netzwerk für Äpfel und zu einem für Birnen. Oder zu einem für rote Äpfel und gleichzeitig zu einem für kleine rote Bälle. Andere Nervenzellen, z. B. die, die auf die Form und Farbe des Stiels reagieren, gehören mit zum Apfelnetzwerk, nicht aber zum Ballnetzwerk, sodass beide Objekte trotz ihrer Ähnlichkeit durch die Gesamtheit der neuronalen Aktivitäten unterschieden werden können. Derartige Netzwerke gibt es natürlich nicht nur für Objekte. Auch Tätigkeiten oder ganze Ansammlungen von Objekten, wie die Anordnung von Geschirr und Besteck auf einem formell gedeckten Tisch oder die Abfolge von Texten in Gedichten und Musikstücken auf unserer Lieblings- CD , kann das Gehirn in ähnlicher Weise speichern. 2 Gesichtserkennung: Visuelle „Objekte“ mit besonderer Bedeutung 2 Deutlich wird die Ähnlichkeit von Gesichtern allerdings, wenn man mehrere Menschen kennenlernt, die einer ethnischen Gruppe angehören, mit der man bisher nur wenig Kontakt hatte. In dem Fall fällt es oft schwer, die Personen auseinander zu halten. Für wichtige Objekte, z. B. für Gesichter, gibt es spezielle Regionen im Temporallappen, die auf eine sehr genaue Verarbeitung ausgerichtet sind. Es gibt also eine spezielle Gesichtserkennungsregion. Das liegt daran, dass die Unterscheidung von Gesichtern für den Menschen enorm bedeutsam ist - und das, obwohl sich Gesichter in ihren optischen Merkmalen kaum unterscheiden. Das gute Differenzierungsvermögen der Neurone in der Gesichtsregion ist dafür verantwortlich, dass wir die große Ähnlichkeit überhaupt nicht als solche wahrnehmen. 2 Die spezielle Gesichtsregion hat besondere Eigenschaften. Steht ein Gesicht auf dem Kopf, bekommen wir Schwierigkeiten, es zu erkennen. Das ist bei der Erkennung von anderen Objekten in der Regel nicht der Fall. Vor allen Dingen ist es schwer, fast unmöglich, den emotionalen Ausdruck des Gesichts zu erkennen, wenn es auf dem Kopf steht. Wird der Gyrus fusiformis, auf dem die Gesichtserkennungsregion liegt, durch einen Schlaganfall geschädigt, können die Patientinnen und Patienten keine Gesichter mehr erkennen, auch nicht die naher Angehöriger (Prosopagnosie). Diese besondere Region ist nicht dem Menschen vorbehalten. Bei Affen gibt es an der entsprechenden Stelle im Gehirn ein ebensolches Gebiet, nur eben speziell für die Gesichter von Affen. Interessanterweise erkennen sich Paviane nicht am Gesicht, sondern an der Gesäßform. Auch die kann in entsprechender Weise gespeichert werden. Schäfer können übrigens ihre Schafe an deren Gesichtern erkennen, und Autofans und -händler, deren Hirnregion für Gesichter geschädigt wird, verlieren ihre Fähigkeit, Autotypen schnell anhand ihrer Frontansicht zu unterscheiden. Eine ähnliche Spezialregion gibt es für Orte. Auch die Orientierung ist für Menschen (und Tiere) äußerst relevant. Diese Region liegt im unteren Bereich des Temporallappens in der Nähe des Hippocampus, der beim Lernen von Orten und Wegen, aber auch bei anderen Lernprozessen als „der wichtigste Kurzzeitspeicher unseres Gehirns“ (Beck et al. 2016: 44) sehr bedeutsam ist. <?page no="151"?> 150 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? 6.2 Wo genau steckt jetzt das Wissen? Menschen wissen ganz viele verschiedene Dinge. Auch in der Schule werden sehr unterschiedliche Dinge vermittelt: Fakten, Schreibregeln, Schönschrift, Verhaltensregeln, Rechenvorschriften, Physikformeln, Strategien,… Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Und all das soll behalten, d. h. im Gedächtnis gespeichert werden. Und zwar über lange Zeit, sodass es dauerhaft verfügbar ist, also im Langzeitgedächtnis. Schon die Vielfalt der Gedächtnisinhalte lässt vermuten, dass nicht alle Inhalte in gleicher Weise und am selben Ort gespeichert werden. Vielmehr ist Wissen über das ganze Gehirn verteilt. Die verschiedenen Wahrnehmungsareale (vgl. Abb. 3) sind ebenso am Gedächtnis beteiligt wie die Gehirnbereiche, die Informationen der verschiedenen Sinnessysteme miteinander verbinden (z. B. Parietallappen). Das motorische System (Abb. 4) spielt eine ganz erhebliche Rolle bei allen Arten von Wissen, die in Handlungen umgesetzt oder handelnd erworben wurden (zu Bewegung und Lernen vgl. Kap. 5). Und das trifft ja für fast alle Wissensbereiche zu, schließlich soll man nicht nur etwas wissen, sondern auch etwas mit dem Wissen anfangen können. Außerdem gibt es bestimmte Hirnareale, die eine besondere Rolle beim Speichern und Abruf von Wissen spielen, z. B. der Hippocampus und die steuernden Hirnareale in Frontal- und Parietallappen (vgl. 6.6 und 6.7). Das alles klingt zunächst einmal so, als wäre alles mit allem verbunden und sehr unübersichtlich. Aber es gibt eine gewisse Ordnung, auch wenn diese sich nicht an den verschiedenen Hirnbereichen festmachen lässt, sondern eher an dem Zusammenspiel und der spezifischen neuronalen Aktivierung von Hirnarealen. Aufgrund der Komplexität ist der Zugang über psychologische Gedächtnismodelle hier wesentlich hilfreicher als Beschreibungsversuche auf der Basis neurowissenschaftlicher Erkenntnisse allein. Hier kann man sehr schön sehen, wie die Zusammenarbeit der verschiedenen Disziplinen zu einem Gesamtbild mit hohem Erklärungswert beiträgt. Abb. 7: Das Langzeitgedächtnis lässt sich in verschiedene Untersysteme gliedern, die in unterschiedlicher Weise zum Verhalten und den Leistungen des Menschen beitragen. Nur ein Teil der Gedächtnisinhalte ist dem Bewusstsein unmittelbar zugänglich. <?page no="152"?> 151 6.2 Wo genau steckt jetzt das Wissen? Eine ganze Reihe psychologischer Experimente zu Gedächtnisleistungen hat im Laufe der Jahre und Jahrzehnte eine Struktur unterschiedlicher Gedächtnissysteme nahegelegt. Auch Befunde bei Patientinnen und Patienten mit Hirnschädigungen und neurowissenschaftliche Untersuchungen stützen die Struktur aktueller Gedächtnismodelle. In Abb. 7 ist eine allgemein verwendete Struktur dargestellt, wie sie von Schacter & Tulving (1994) vorgeschlagen wurde. Man unterscheidet bezüglich des Langzeitgedächtnisses je nach Art der Gedächtnisinhalte zwischen deklarativem und nicht-deklarativem Gedächtnis. Die im deklarativen Gedächtnis gespeicherten Inhalte können sprachlich ausgedrückt werden und man kann sich bewusst an sie erinnern. Die Bildung dieser Gedächtnisinhalte geht zum Teil auf bewusste, oft absichtsvolle Lernprozesse zurück, besonders bei Personen, die Lernangebote in Schule oder Weiterbildung wahrnehmen. Über das gesamte Leben betrachtet erwerben wir aber den größten Teil des deklarativen Wissens in informellen Settings und ohne explizite Lernabsicht, z. B. im Austausch mit anderen, beim Lesen von Texten, Hören von Nachrichten im Fernsehen oder bei der Zusammenarbeit im Beruf, wenn wir neue und wichtige Informationen mit Kolleginnen bzw. Kollegen besprechen. Ein weiterer Teil der Inhalte des deklarativen Gedächtnisses geht auf persönliche Erlebnisse zurück und bildet das sogenannte episodische Gedächtnis. Im Gegensatz dazu sind uns viele der Inhalte des nicht-deklarativen Gedächtnisses nicht bewusst und wir können dementsprechend nicht über sie berichten. Dennoch beeinflussen sie unser Verhalten. Wir haben sie auf der Basis von Wahrnehmung und Erfahrungen erworben, oft ohne überhaupt zu merken, dass wir uns Wissen angeeignet haben. Die Gedächtnissysteme sind nicht unabhängig voneinander. Wissen ist häufig in mehreren Systemen gespeichert. Ein Beispiel ist das Anhalten an einer roten Ampel: Ist die Ampel rot, so bleibe ich fast automatisch stehen (nicht-deklaratives, prozedurales Gedächtnis). Zugleich kenne ich die Regeln der Ampel und kann anderen darüber Auskunft geben, wann man stehen bleiben soll und wann man die Straße überqueren darf (deklaratives, semantisches Gedächtnis). Dennoch ist das Wissen ja leicht unterschiedlich (das eine ist mit der motorischen Reaktion verknüpft, das andere vielleicht mit dem Wissen um die Gefährdung oder die Kosten einer Bußgeldverwarnung bei Nichtbeachtung), sodass die Unterscheidung sehr wohl begründet ist und hilft, die verschiedenen Funktionen des Langzeitgedächtnisses zu systematisieren. Unterstützt wird die beschriebene Einteilung des Gedächtnisses in verschiedene Systeme dadurch, dass sich den Systemen Gehirnbereiche zuordnen lassen, die schwerpunktmäßig an dem jeweiligen Gedächtnissystem beteiligt sind (vgl. Squire 2004). Die Inhalte des deklarativen Gedächtnisses werden z. B. unter Kontrolle des Frontalhirns und des Hippocampus gespeichert und abgerufen, wogegen an der Bildung des prozeduralen Gedächtnisses die Basalganglien und das Kleinhirn beteiligt sind und am Lernen von Assoziationen die Amygdala (bei Furcht und angstauslösenden Reizen), andere Teile des limbischen Systems und nochmals das Kleinhirn, falls Bewegungen Bestandteil der gespeicherten Assoziationen sind. <?page no="153"?> 152 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? 6.3 Nicht-deklaratives Gedächtnis: Wahrnehmen, Zusammenhänge kennen, Handeln Nicht nur Inhalte des deklarativen Gedächtnisses, sondern auch bestimmte Inhalte des nicht-deklarativen Gedächtnisses, können versprachlicht werden, selbst wenn das oft nicht ganz einfach ist. Das trifft besonders für Inhalte des prozeduralen Gedächtnisses zu (vgl. 6.3.4). Nehmen wir das Beispiel Radfahren: Damit die Versprachlichung gelingt, stellt man sich die Handlung vor und versucht dann, zu beschreiben, welche Tätigkeiten man ausführt, um zunächst auf das Fahrrad zu gelangen und es dann in Bewegung zu setzen und in die gewünschte Richtung zu bringen. Das ist äußerst kompliziert, zumal viele Handlungsschritte notwendig sind, die zum Teil parallel ablaufen. Viele Inhalte des nicht-deklarativen Gedächtnisses sind uns aber nicht zugänglich, wir sind uns ihrer nicht bewusst und können sie uns nicht vorstellen, um sie zu versprachlichen. Daher kann man nicht über sie berichten, handelt aber entsprechend der gespeicherten Inhalte und Erfahrungen oder bemerkt eine bestimmte Handlungstendenz. Wenn wir auf der Basis nicht-deklarativer Gedächtnisinhalte in einer bestimmten Weise handeln und später darüber reflektieren, etwa weil etwas nicht zu unserer Zufriedenheit ausgegangen ist, dann suchen wir im Nachhinein Gründe für unser Verhalten. Beispielsweise schreiben wir unser Verhalten unserer Persönlichkeit zu oder wir suchen Gründe in unserer Umgebung, die unser Verhalten erklären. Das tun wir natürlich ebenfalls nicht bewusst, sondern automatisch, um ein kongruentes Selbstbild aufrecht zu erhalten. Dieses ist wichtig, weil es uns zumindest in aller Regel dazu verhilft, in sinnvoller und für andere vorhersehbarer Weise zu agieren. Handlungstendenzen, die auf nicht-deklarative Gedächtnisinhalte zurückgehen, erleben wir oft als Intuition. Die Urteile und Entscheidungen, die wir auf dieser Basis treffen, sind nicht schlechter und nicht besser als die Entscheidungen, die wir auf der Basis bewusster Wissensinhalte treffen. Es kommt in beiden Fällen darauf an, wie „richtig“ das verwendete Wissen ist und ob es zur gerade vorliegenden Situation oder Entscheidung tatsächlich passt. So kann jemand, den wir neu kennenlernen, einer anderen Person, mit der wir häufig Schwierigkeiten hatten, in irgendeiner subtilen Weise ähnlich sein. In dem Fall tendieren wir dazu, die neue Bekanntschaft eher unsympathisch zu finden, vielleicht völlig ohne objektiven Grund, vielleicht aber auch, weil eine Gemeinsamkeit in der Mimik oder im Ausdruck eine emotionale Gemeinsamkeit beider Personen verrät, mit der wir grundsätzlich nicht zurechtkommen. Was von beidem zutrifft, können wir nicht wissen und leider haben wir auch keinen Zugriff auf die Information im nicht-deklarativen Gedächtnis, um die Richtigkeit unseres Urteils zu prüfen. Dennoch ist das nicht-deklarative Gedächtnis eine große Hilfe und Entlastung. Es erlaubt, Routinen ohne großen Aufwand nebenbei zu erledigen, wiederkehrende Entscheidungen verlässlich zu fällen, Gefahren schnell zu erkennen und entsprechend zu handeln usw. So erleichtern nichtdeklarative Gedächtnisfunktionen, die wir nicht einmal bewusst aktivieren oder kontrollieren müssen (aber auch nicht können) in vielen Fällen unseren Alltag, sodass Kapazitäten für anspruchsvollere Aufgaben freigehalten werden. <?page no="154"?> 153 6.3 Nicht-deklaratives Gedächtnis: Wahrnehmen, Zusammenhänge kennen, Handeln 6.3.1 Habituation: Anpassung an das, was ist Tritt ein Reiz wiederholt in gleicher Weise auf, etwa die leisen Geräusche der Autostraße in der neu bezogenen Wohnung, so nimmt man diese nach einiger Zeit nicht mehr bewusst wahr. Die Geräusche werden vom Gehirn als unwichtig bewertet und unterdrückt, sodass man sich wieder gut auf andere Dinge konzentrieren kann. Verbringt man dann die Ferien in sehr ruhiger Umgebung, kann das Fehlen der Straßengeräusche sogar als störend empfunden werden. In ähnlicher Weise gewöhnt man sich an die Kleidung, die man am Körper trägt und nimmt sie nach einer Weile nicht mehr wahr. Voraussetzung dafür ist, dass der Reiz zwar da ist, aber keine wie auch immer gearteten Konsequenzen mit ihm verbunden sind. Wenn die Kleidung plötzlich zwickt oder bei Bewegungen stört, sind wir uns ihrer sofort wieder bewusst. Diese Art der Anpassung, als Habituation oder auch Gewöhnung bezeichnet, kann in vorübergehenden Situationen kurzzeitig sein, kann aber wie in unserem Beispiel auch längerfristige Auswirkungen haben. Sinn der Habituation ist es, Aufmerksamkeits- und Verarbeitungskapazitäten nicht auf Irrelevantes zu richten, sondern sie für wichtigere Aufgaben frei zu halten. Habituation kann man als kurzzeitigen Effekt (ein Spielzeug oder Geschehen wird langweilig) aber auch längerfristig schon bei sehr kleinen Kindern beobachten. So sind Babys, wenn sie in eine große Familie hineingeboren werden, einen gewissen Lärmpegel gewohnt und schlafen selbst dann friedlich weiter, wenn es mal etwas lauter wird, wogegen Einzelkinder oder Erstgeborene vielleicht schon beim kleinsten Geräusch aufwachen. Langfristige Auswirkungen konnten auch in einer Untersuchung gezeigt werden: Bringt man Kleinkinder (etwa im Krabbelalter), die noch nie auf einer Frühgeborenenstation waren, auf eine solche Station, sind sie von der Umgebung zunächst äußerst irritiert. Kinder dagegen, die in einer solchen Umgebung ihre ersten Wochen verbracht haben, lassen sich von den eigenartigen Geräten und ihren Geräuschen auch viele Monate später nicht im Geringsten irritieren und beginnen sofort, ihre Umgebung zu erkunden. Auch Kinder im Schulalter und Erwachsene zeigen Gewöhnung. So gewöhnen wir uns evtl. allzu schnell an ungünstige Bedingungen im Klassenzimmer oder im Tagesablauf, obwohl wir sie eigentlich ändern könnten. Andererseits unterstützt die Gewöhnung auch dabei, ungünstige Bedingungen auszublenden und die wichtigen Dinge in den Fokus zu nehmen. Es lohnt sich durchaus, diese Form des Gedächtnisses im Blick zu haben und den Unterrichtsalltag einmal darauf hin zu durchforsten. 6.3.2 Perzeptuelles Gedächtnis: Abbildung von Wiederkehrendem Das perzeptuelle Gedächtnis oder Wahrnehmungsgedächtnis bildet sich automatisch, wenn Reize immer wieder in derselben Kombination vorkommen. Das obige Apfelbeispiel gehört zum Teil in diesen Bereich. Das häufige gemeinsame Auftreten der runden Form, bestimmter Farben, eines bestimmten Geschmacks und Geruchs führt schnell dazu, dass diese Informationen in einem neuronalen Netz zusammengebunden werden. Auf diese Weise lernen Menschen unendlich viel über Objekte und ihre Eigenschaften, aber auch über die Abfolge <?page no="155"?> 154 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? von Reizen, also über Abläufe, die häufig vorkommen. Das perzeptuelle Gedächtnis bildet häufig Vorkommendes und Bekanntes ab und hilft uns, Objekt und Geschehnisse als vertraut zu erkennen. Diese schnelle Einordnung gibt uns Orientierung und bietet uns Sicherheit, die mit dem Gefühl „alles ist in Ordnung“ und der zugehörigen Ausschüttung von Hormonen verbunden ist. Zugleich hilft uns das perzeptuelle Gedächtnis, auch kleinste Abweichungen ganz schnell zu erkennen und damit entsprechend zu reagieren, wenn etwas neu oder ungewohnt ist. Dann zeigen wir erhöhte Aufmerksamkeit und widmen uns dem Neuen bis wir es einordnen können. Das perzeptuelle Gedächtnis trägt erheblich zu schulischen Lernprozessen bei. So erkennen einigermaßen im Schreiben und Lesen geübte Personen bereits am allgemeinen Aussehen eines Worts, also an der Gesamtform, ob es richtig geschrieben ist oder nicht. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass man es oft genug in der richtigen Schreibweise gesehen hat. Das perzeptuelle Gedächtnis lernt das, was häufig vorkommt und speichert das Wiederkehrende als vertraut und sozusagen „richtig“. Man kann dem perzeptuellen Gedächtnis nicht mitteilen, dass etwas vielleicht den Rechtschreibregeln widerspricht und darum nicht als vertraut gelten sollte. Man kann dann nur die korrekte Form oft genug darbieten. Dieser Mechanismus macht es ziemlich schwierig für Lernende, einmal falsch eingeübte Schreibweisen von Wörtern verlässlich als falsch zu erkennen. Auch das Erreichen einer einigermaßen akzeptablen Lesegeschwindigkeit ist vom perzeptuellen Gedächtnis abhängig. Es erlaubt den schnellen Abruf auf der Basis der allgemeinen Wortform. Dabei berücksichtigt es nicht nur die einzelnen Wörter, sondern auch typische Wortfolgen, die häufig vorkommen. Das perzeptuelle Gedächtnis ist nicht nur visuell geprägt. Auch auditorische und taktile Reize und Reizkombinationen werden im perzeptuellen Gedächtnis gespeichert. Dabei ist diese Speicherung immer ganz nahe an der Wahrnehmung und nicht direkt mit darauf aufbauenden, inhaltlichen Aspekten verknüpft. Das perzeptuelle Gedächtnis sorgt dafür, dass wir Abweichungen von der häufigen Reizkonstellation schnell erkennen und auf sie aufmerksam werden. Daher lohnt es sich durchaus, Dinge immer wieder anzusehen, anzuhören oder zu lesen, wenn das Ziel ist, sie schnell und sicher wiederzuerkennen und von Ähnlichem, nur leicht Abweichendem zu unterscheiden (zum Thema Wiederholung vgl. 6.7.1). 6.3.3 Lernen durch Assoziationsbildung: schnell zugreifen können Wie wir oben gesehen haben, kann unser Gehirn unterschiedliche Reize, die zu einem Objekt gehören, durch die Verknüpfung in einem gemeinsamen neuronalen Netz sozusagen zusammenbinden. Im perzeptuellen Gedächtnis betrifft das Verknüpfungen innerhalb der Sinnessysteme. Es können aber auch Wahrnehmungen und Ereignisse im Gedächtnis miteinander verbunden werden, die nicht zu einem Objekt oder einem Einzelgeschehen gehören und nicht immer gemeinsam auftreten. Diese Verbindungen nennt man Assoziationen. Ein Baby kann so z. B. lernen, dass es gleich gebadet wird wenn es hört und / oder sieht, dass Wasser in die Wanne gelassen wird. Viele „moderne“ Kleinkinder wissen, dass auf den Ping-Ton, mit dem der Mikrowellenherd verkündet, dass der Inhalt erwärmt ist, häufig die Mahlzeit folgt. <?page no="156"?> 155 6.3 Nicht-deklaratives Gedächtnis: Wahrnehmen, Zusammenhänge kennen, Handeln Und auch wir kennen viele Zusammenhänge im täglichen Leben, die wir als Assoziationen gelernt haben, weil sie häufig-- wenn auch nicht immer-- zusammen auftreten. Besonders schnell gelernt werden Assoziationen, die mit als Belohnung empfundenen Ereignissen zu tun haben, z. B. mit der Nahrungsaufnahme. Solche Assoziationen sind z. B. die Logos von Schnellrestaurants: Eltern sind oft erstaunt, wie schnell Kinder den Zusammenhang zwischen diesen Symbolen, Hamburgern und Pommes frites herstellen. Auch Assoziationen, die mit besonders unangenehmen Ereignissen verbunden sind, z. B. Schmerzen beim Anfassen einer zu heißen Tasse oder Backofentür, werden auf Anhieb gelernt. In die Kategorie des Assoziationslernens gehört auch das oben angeführte Beispiel mit der Person, mit der wir immer wieder Probleme hatten. Natürlich erinnern wir uns bewusst an die Person und unsere Erlebnisse mit ihr werden im episodischen Gedächtnis gespeichert sein (vgl. 6.4). Aber es wurden zusätzlich viele Details gespeichert, die in der Verknüpfung mit Konflikten und problematischem Verhalten häufig vorkamen, z. B. eine bestimmte Körperhaltung, eine typische Äußerung oder ein bestimmtes Detail in der Mimik. Solche Informationen speichert das Gedächtnis damit wir in ähnlichen Situationen schnell feststellen können, dass ein Konflikt bevorsteht. So sind wir in der Lage, zügig und richtig zu reagieren oder können uns zumindest innerlich schon einmal vorbereiten und werden nicht so überrascht. All das muss enorm schnell ablaufen, damit wir wirklich den zeitlichen Vorsprung zu unserem Nutzen haben. Eine Speicherung im deklarativen Gedächtnis wäre weniger schnell, da der bewusste Zugriff verhältnismäßig viel Zeit verbraucht. Auch zwischen Handlungen und Ereignissen werden Assoziationen gebildet. So lernt etwa ein Tier in einer Zirkusdressur schnell, dass es auf einen Befehl hin etwas Bestimmtes tun muss, um am Ende eine Belohnung zu bekommen. Dabei geht der Dompteur von natürlichen, spontan auftretenden Handlungen und Bewegungen aus. Zeigt ein (junges) Tier eine solche Bewegung, etwa einen kleinen Sprung im Spiel, dann sagt der Dompteur den zugehörigen Befehl (Hop) und gibt eine Belohnung. Nach und nach werden immer größere Sprünge belohnt, oder solche, die in einer bestimmten Weise vollführt werden, bis schließlich das Tier weiß, was genau es zu tun hat, um belohnt zu werden. Menschen bilden in derselben Weise Assoziationen zwischen Handlungen und Ereignissen aus. Diese Art des Lernens wird auch als Shaping oder Verhaltensformung beschrieben. So hilft uns das assoziative Gedächtnis, etwa in bestimmten Situationen oder bei Kontakt mit bestimmten Personen, die jeweils passenden Verhaltensweisen an den Tag zu legen. Dabei besteht die Belohnung oft lediglich darin, dass wir nicht unangenehm auffallen und als zugehörig empfunden werden. Für Wesen wie den Menschen, die für ihr Überleben auf Kooperation angewiesen sind, ist dieses „dazu gehören“ eine Belohnung. Man kann Verhaltensformung auch in der Erziehung einsetzen, etwa wenn man Kindern Tischmanieren beibringen möchte oder das verlässliche Wegräumen von Schul- oder Spielsachen. Dabei ist es wichtig, jede kleine Annäherung an das Ziel zu belohnen. Ein Lob sollte dafür in der Regel reichen, da Menschen darauf ausgerichtet sind, ihr Verhalten an die Wünsche ihrer sozialen Umgebung anzupassen, soweit ihnen das möglich ist. Während ältere Kinder und Jugendliche oft gelernt haben, dass eher getadelt als gelobt wird, man es ohnehin nie richtig machen kann und darum die Bemühungen um Anpassung aufgegeben <?page no="157"?> 156 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? bzw. die Motivation verloren haben, kann diese Art des Lernens bei der Sozialisation jüngerer Kinder, aber auch zur Erreichung bestimmter Ziele im Unterrichtsgeschehen, gut eingesetzt werden. Übrigens ist diese grundlegende Gedächtnisform natürlich auch bei älteren Schülerinnen und Schülern nicht verloren, man braucht oft nur einen etwas längeren Atem bzw. längere Zeit, um schlechte Erfahrungen oder fehlende Motivation auszugleichen. Wichtig ist allerdings das „Wie“ der Umsetzung. Werden etwa nur die Schülerinnen und Schüler einer Klasse belohnt, die das erwünschte Verhalten in besonders ausgeprägter Weise zeigen, und bei allen anderen entfällt die Belohnung, selbst wenn sie sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten und Voraussetzungen dem gewünschten Ziel genähert haben, dann bricht die Assoziation zwischen Anstrengung und Belohnung zusammen und die Chance, das assoziative Lernen zu nutzen, um angemessene oder lernförderliche Verhaltensweisen zu verstärken, ist vertan. Das assoziative Gedächtnis spielt aber nicht nur beim Verhalten, sondern auch bei nicht direkt verhaltensbezogenen Lernprozessen eine wichtige Rolle. Beispielsweise werden gut trainierten mathematischen Beziehungen wie 3×4=12 und 3+4=7 durch Assoziationslernen gespeichert. Ziel des Mathematikunterrichts in der Grundschule ist ja nicht nur, dass die Schülerinnen und Schüler die mathematischen Beziehungen und Rechenvorschriften verstehen, sondern dass sie grundlegende Inhalte auswendig wissen, um schnell darauf zugreifen zu können. Diese Inhalte werden oft im Textformat als Assoziationen gelernt. Auch dem Auswendiglernen von Gedichten und Merksprüchen wie „Wo Fulda sich und Werra küssen-…“ liegen Assoziationen zugrunde. An den Beispielen sieht man, dass hier das deklarative Gedächtnis und das Assoziationslernen eng beieinanderliegen. Dennoch nutzen sie unterschiedliche neuronale Strukturen, sodass die Inhalte, die sowohl als einfache, mechanisch aufsagbare Assoziation als auch im deklarativen Gedächtnis als bewusst gelernter und kognitiv abgebildeter inhaltlicher Bezug gespeichert sind, sozusagen doppelt abgelegt sind und damit sicherer behalten und abgerufen werden können. 6.3.4 Prozedurales Gedächtnis: etwas können Ein wichtiger Teil des nicht-deklarativen Gedächtnisses ist das prozedurale Gedächtnis. In ihm ist das gespeichert, was wir können, 3 von einfachen Bewegungen bis hin zu komplexen Bewegungsmustern und Handlungsabläufen. Es ist also nicht Wissen im landläufigen Sinne gespeichert, sondern Können und Fertigkeiten. Hierzu gehören rein motorische Fertigkeiten wie das Werfen eines Balls ebenso wie Fertigkeiten, die mit Wissensinhalten verbunden sind, z. B. das Lösen von Mathematikaufgaben. Anders als beim Assoziationslernen, bei dem wir bestimmte Handlungen ausführen, um ein Lob oder eine Belohnung zu bekommen, geht es beim prozeduralen Gedächtnis um das „Wie“ der Handlungsausführung. Die Handlung führt dabei oft direkt zu einem angestrebten Ziel. Das Ziel kann sowohl in der Handlungsausführung selbst liegen (ich kann gut jonglieren, Fahrrad fahren, stricken) oder im Ergebnis (ich werde bewundert, komme mit dem Fahrrad 3 Nicht gemeint sind hier automatische Reaktionen und Reflexe, die entweder angeboren sind oder durch Assoziationslernen erworben wurden. <?page no="158"?> 157 6.3 Nicht-deklaratives Gedächtnis: Wahrnehmen, Zusammenhänge kennen, Handeln zu meinen Freunden, habe einen Schal gestrickt). Prozedurales Wissen bildet sich in vielen Fällen unbeabsichtigt, d. h. ohne Lernintention, indem wir mit unserer Umwelt interagieren. Dieses implizite Lernen ereignet sich ganz nebenbei, während wir eigentlich ein anderes Ziel verfolgen. Ein Beispiel hierfür ist etwa das Bauen einer Sandburg mit Schaufel und Eimer. Bei den Versuchen, Sand in den Eimer zu bekommen, diesen an den gewünschten Ort zu bringen und dann zielgerichtet auf den großen Haufen zu schütten, tun sich Kinder anfangs noch schwer. Vieles geht daneben, manches gelingt. Durch hartnäckige Weiterarbeit verbessern die Kinder aber ihre Fertigkeiten bis sie sie gut beherrschen und sogar komplexere Bauwerke aus Sand erstellen können. Ein anderes Beispiel ist der Erwerb der Erstsprache oder Erstsprachen. Die eigentlich vom Kind verfolgte Absicht ist nicht der Spracherwerb, sondern die Kommunikation mit anderen. Dazu sind alle Mittel recht: Gesten, Mimik und Laute. Alles wird eingesetzt, um sich zu verständigen. Dabei lernen Kinder die gesprochene Sprache und zwar nicht nur Worte, sondern auch die dazugehörenden, oft sehr komplexen grammatikalischen Regeln. Diese werden aus dem erlebten Sprachfluss der Kommunikationspartner extrahiert und eingesetzt. Oft ist die Anwendung der Regeln anfangs noch nicht perfekt, und typischerweise reagieren erwachsene Kommunikationspartner darauf. Untersuchungen zum Spracherwerb haben gezeigt, dass der Lernerfolg nicht dann am größten ist, wenn Erwachsene das Gesagte korrigieren, sondern dann, wenn dieselbe grammatikalische Struktur nochmals verwendet und dabei idealerweise erweitert wird, sodass die Antwort nicht nur eine Wiederholung von Inhalten enthält, sondern neue Information (vgl. Szagun 2001). Die Erweiterung trägt der Kommunikationsabsicht des Kindes Rechnung und hält seine Aufmerksamkeit aufrecht (vgl. hierzu 3.7). Am Ende haben Kinder so eine komplexe Grammatik erworben. Sie bilden Sätze mit dem richtigen Satzbau, setzen Genitiv und Dativ korrekt ein, konjugieren Verben und deklinieren Nomen. Aber fast niemand kann die Grammatikregeln seiner Erstsprache aufsagen. Man kann sie anwenden, kennt sie aber nicht im Sinne eines abfragbaren Wissens 4 (vgl. Fodor 1983). Genau das ist die Eigenheit unseres prozeduralen Gedächtnisses. Wie in den Beispielen schon angedeutet, gibt es verschiedene Wege, prozedurale Gedächtnisinhalte aufzubauen. Einer ist der des Ausprobierens, also Versuch und Irrtum. Wenn man einer Tätigkeit nachgeht oder vor einem Problem steht, das handelnd zu lösen ist, etwa eine Dose zu öffnen oder einen möglichst hohen Turm aus Bauklötzchen zu bauen, probiert man verschiedene Wege aus und beobachtet, was geschieht. Gelingt etwas und führt näher zum Ziel (die Dose hat immerhin schon ein Loch oder der Deckel hat sich schon ein bisschen bewegt), dann wird dieses Verhalten verstärkt. Hat sich etwas als Fehler erwiesen (der Deckel ist wieder zurückgerutscht, der Klötzchenturm umgekippt) vermeidet man diesen Fehler künftig nach Möglichkeit. Es ist eine schrittweise Annäherung ans Ziel zu beobachten. Anstatt auszuprobieren, sich selbst zu beobachten und aus eigenen Erfolgen und Fehlern zu lernen, können auch andere beobachtet und ihr Verhalten analysiert und imitiert werden. Dieses Nachahmungslernen oder Lernen am Modell ist im Menschen neuronal fest verankert. 4 Ausnahmen bilden natürlich die Menschen, die sich z. B. in Schule oder Studium intensiv mit der Grammatik ihrer Erstsprache auseinandergesetzt haben. <?page no="159"?> 158 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? Wir besitzen in der Nähe unserer motorischen Areale, die unsere Bewegungen steuern, Nervenzellen, die auf die Handlungen und Bewegungen anderer Personen reagieren. Diese sogenannten Spiegelneurone liegen seitlich im Frontalhirn vor den motorischen Arealen. Beobachten wir, wie eine andere Person sich bewegt, so werden diese Spiegelneurone aktiv. Auch unsere motorischen Neurone zeigen eine gewisse Aktivität, die aber in der Regel nicht so stark ist, dass wir die Bewegung ebenfalls ausführen. Dennoch werden die zu einer beobachteten Handlung gehörenden Nervenzellen aktiviert. Das erlaubt es uns, die beobachtete Handlung nachzuahmen wobei wir das bereits voraktivierte Netzwerk nutzen. Natürlich ist die Handlungsausführung auch bei der Nachahmung noch nicht perfekt. Egal ob bei Versuch und Irrtum oder beim Lernen am Modell: Handlungen müssen trainiert werden, um sie exakt, effektiv und zügig auszuführen. Die Bewegungsdetails, Muskelspannungen, zeitliche Abfolgen usw. müssen geübt werden, um eine gute oder gar optimale Bewegungsausführung zu erreichen. Übung ist also wichtig für die Speicherung von prozeduralem Wissen. Durch die wiederholte Ausführung, die mit einer Erregung der beteiligten Nervenzellen verbunden ist, werden die Verbindungen zwischen diesen Nervenzellen gestärkt. Daraus ergibt sich zunächst einmal ein Problem. Wie jeder aus eigener Erfahrung weiß, gelingt die Ausführung einer Handlung manchmal besser und manchmal schlechter-- wenn man sie gerade erst lernt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass man etwas falsch macht, sogar besonders hoch. Das bedeutet, dass beim Üben manchmal Verbindungen benutzt werden, die zur optimalen Bewegungsausführung beitragen und manchmal eben auch solche, die mit weniger guten Versionen der Bewegung oder Handlung zusammenhängen. Daher spielt neben dem Ausprobieren und Üben ein weiterer wichtiger Aspekt eine entscheidende Rolle beim prozeduralen Lernen: der Erfolg. Ist eine Handlung gelungen oder zumindest etwas besser als bei allen vorigen Versuchen, dann wird vom Belohnungssystem des Gehirns Dopamin ausgeschüttet, überschwemmt große Teile des Frontalhirns und verstärkt die Verbindungen zwischen denjenigen Nervenzellen, die gerade eben aktiv waren (vgl. 4.6). Diese Verstärkung ist eine wichtige Grundlage für die Langzeitspeicherung der soeben durchgeführten Handlung einschließlich ihrer Bewegungsdetails (vgl. 6.7). Durch prozedurales Lernen werden einfache Bewegungen ebenso erlernt wie lange und komplexe Bewegungsfolgen, etwa der Ablauf eines Skiparcours, die Kür im Eiskunstlauf oder die Zubereitung eines Mehrgängemenüs. In diesen Bereich gehört auch das Erlernen strategischer Vorgehensweisen, etwa bei Problemlösungsaufgaben wie dem Lösen von Textaufgaben, der Suche nach Fehlern in einem technischen Gerät oder der Entscheidungsfindung. Natürlich greift man dabei auch auf andere Gedächtnisbereiche, z. B. das vorhandene Fachwissen zurück (vgl. 6.4). Wie aber auf dieses Wissen zugegriffen werden soll und wie man herausfindet, welche Wissensinhalte in der jeweiligen Situation benötigt werden, ist Strategiewissen, das, wenn es gut erworben und geübt wurde, zum nicht-deklarativen, prozeduralen Gedächtnis gehört. Es werden also auch sehr komplexe Handlungen im prozeduralen Gedächtnis gespeichert. Aber damit nicht genug: Auch der Erwerb des Sozialverhaltens beruht zu einem großen Teil (manche Autoren meinen sogar vollständig, vgl. Myers 2005: 361) auf Modelllernen. Auch hier ist natürlich das Zusammenspiel mit anderen Gedächtnisbereichen von entscheidender Bedeutung, um zu einem erfolgreichen Verhalten zu kommen (vgl. 6.3.3 und 6.4). <?page no="160"?> 159 6.4 Deklaratives Gedächtnis: Ich weiß, was ich weiß 6.4 Deklaratives Gedächtnis: Ich weiß, was ich weiß Das deklarative Gedächtnis enthält unser bewusstes Wissen über die Welt. Daher können die Inhalte des deklarativen Gedächtnisses versprachlicht werden. Man kann über sie berichten, sich mit anderen darüber austauschen, die Inhalte durch diesen Austausch verändern, ergänzen, verfeinern, korrigieren oder manipulieren. Zudem ist es möglich, diese Inhalte auch ohne Austausch mit anderen, etwa in Form eines inneren Monologs, zu bearbeiten, mit anderen Inhalten zu verbinden oder nutzbar zu machen. Das nennen wir denken (zum Zusammenhang zwischen Denken und Gedächtnis vgl. 6.5). Dass die Inhalte des deklarativen Gedächtnisses, das sogenannte explizite Wissen, sprachlich ausgedrückt und manipuliert werden können, bedeutet nicht, dass das explizite Wissen auf der Basis sprachlicher Information gebildet werden muss. Sprachliche Vermittlung ist je nach Inhalt nicht einmal der günstigste Weg, um Informationen im deklarativen Gedächtnis zu speichern. Hier gilt (zumindest manchmal) der berühmte Satz: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Es erlaubt nicht nur, zwei- oder auch mehrdimensionale Bezüge und rekursive Strukturen abzubilden, bei denen der lineare Verlauf von Sprache eher Schwierigkeiten macht. Abbildungen haben zudem die Eigenheit, dass sie im visuellen System als mentale Bilder abgespeichert werden. Durch die doppelte Kodierung, sowohl sprachlich als auch als mentales Bild, wird die Behaltensleistung verbessert (vgl. Clark & Paivio 1991 und 6.6 im vorliegenden Band). Auch Handlungen können zum deklaratives Wissen beitragen. Im Gegensatz zum prozeduralen Gedächtnis geht es dabei aber nicht um das „Wie“ der Handlungsausführung, sondern darum, aus der Handlung und ihren Folgen Schlussfolgerungen zu ziehen und etwa Erfahrungen bewusst zu verallgemeinern und zu versprachlichen. Prototypisches Beispiel hierfür ist das Experiment. Konstruktivistisch geprägte Strömungen der Didaktik betonen den Handlungsaspekt als Basis der Wissensbildung. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Wissen auf der Basis von Erfahrung konstruiert wird und nicht durch sprachliche Informationsweitergabe einfach eins zu eins übertragen werden kann. Dabei gilt die eigene Handlung als Königsweg der Erfahrung. Neuere pädagogische Ansätze binden die Interaktion im Sinne einer Ko-Konstruktion als weitere Komponente des Wissensaufbaus ein. Im Konzept der Ko-Konstruktion wird zumindest deutlich, dass es zusätzlich zur Handlung eines weiteren Schritts bedarf, nämlich der Reflexion von Handlung und Ergebnis, um zur Ausbildung deklarativer Wissensinhalte zu kommen. Das Modell nimmt an, dass es hierzu in jedem Fall des sozialen Austauschs bedarf. Aus neurowissenschaftlicher Sicht gibt es hierzu zwei Dinge anzumerken: Zum einen ist die eigene Handlung nicht der einzige Weg, um Erfahrungen zu machen, und zum anderen bedarf es bei der Reflexion und Ableitung von Wissen aus Erfahrung nicht immer des Austauschs mit einem Sozialpartner. Je nach Lerninhalt und Vorwissen ist die eigene Handlung möglicherweise nicht der optimale Ansatz, um Erfahrungen zu sammeln. Wenn jemand motorisch ungeschickt ist und die rein mechanische Tätigkeit des Bauens sämtliche geistigen Kapazitäten bindet, dann wird diese Person handelnd nur sehr wenig über den angestrebten Lerninhalt, z. B. Wissen über Statik, erlernen. Erfahrung kann anders erworben werden, z. B. aus der Beobachtung anderer. <?page no="161"?> 160 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? Unsere Spiegelneuronen erlauben uns in vielen Fällen, die zugehörigen Handlungen zu repräsentieren und daraus zu lernen, ohne sie selber ausführen zu müssen. Beobachtet man Kinder in einem Kindergarten, stellt man fest, dass ein Teil der Kinder diese Strategie intensiv nutzt, anderen lange zusieht und dabei viel lernt. Werden diese Kinder dann selbst aktiv, erkennt man, dass sie Strategien nutzen, die sie bei anderen gesehen haben. Auch das Beobachten von Ereignissen ohne menschliches Zutun erlaubt die Ableitung von (verallgemeinertem) Wissen. Ebenso trägt die sprachliche Vermittlung, egal ob als gesprochene Sprache oder als gelesenes Buch, letztlich zur Erfahrung bei. Lediglich der Illusion, dass die Inhalte ohne Reflexion und ohne Anbindung an das bereits vorhandene Wissen aufgenommen werden könnten, darf man sich nicht hingeben. Um ein tatsächliches inhaltliches Verständnis zu erzeugen, das ja eine wichtige Komponente des deklarativen Wissens ist, braucht es Reflexion, Schlussfolgerung und Einordnung in das vorhandene Wissensgefüge. Damit aus Einzelerfahrungen- - egal ob handelnd oder anders gemacht-- Wissen in verallgemeinerter Form wird, muss also eine weitere Verarbeitung stattfinden. Ist bereits genug inhaltliches Vorwissen sowie strategisches Wissen zur Analyse von Erfahrungen und Ableitung von Schlussfolgerungen vorhanden, dann machen Lernende diesen Schritt selbständig. Ansonsten wäre es nutzlos, dieses Buch zu lesen. Nur wenn die Information über den reinen Text hinaus verarbeitet wird, die Leserin oder der Leser dabei die Inhalte extrahiert und zuordnet, die eine sinnvolle Ergänzung des bereits vorhandenen Wissens darstellen, entsteht neues Wissen. Jüngere oder unerfahrene Lerner brauchen bei diesem Schritt noch Anleitung. Daher ist es durchaus sinnvoll, diese Anleitung im Kindergarten in Form der sozialen, kognitiv anregenden Interaktion zu geben und im schulischen Umfeld durch gezielte Anleitung zur Reflexion und Ableitung von Wissensinhalten, gleichgültig ob diese Anleitung mündlich oder schriftlich erfolgt. Entscheidend ist, dass eine Form von Wissen entsteht, die in eigenen Worten versprachlicht werden kann. Um unterschiedliche Aspekte abzubilden, wird das deklarative Gedächtnis in ein semantisches und ein episodisches Gedächtnis gegliedert. Das semantische Gedächtnis enthält Faktenwissen, das wir im Laufe unseres Lebens erworben haben. Als episodisches Gedächtnis wird der Gedächtnisteil bezeichnet, in dem persönliche Erlebnisse und Erinnerungen gespeichert sind. Es enthält Bilder und Erinnerungen an Geschehnisse, Abläufe, Töne und Geräusche, sprachliche Information, Gerüche, Gefühle und Emotionen und vieles mehr. Schon das macht deutlich, dass das deklarative Gedächtnis nicht auf die sprachliche Repräsentation von Wissensinhalten begrenzt sein kann. Vielmehr nutzt es Informationen und Repräsentationen, die in allen möglichen Sinnesbereichen und in den für Emotionen zuständigen Hirnbereichen gespeichert sind. Das Gleiche gilt für die zweite Komponente des deklarativen Gedächtnisses, das semantische Gedächtnis. Es enthält Unmengen von Fakten und Sachwissen: Geschichtsdaten, Grammatikregeln, Vokabeln, physikalische Größen, Kochanleitungen, Atommodelle, Automarken, Brotsorten, die Merkmale aller möglichen Tierarten und Pflanzen etc. Bisher ist es noch nicht gelungen, die maximale Kapazität des Gedächtnisses zu bestimmen. Die Grenze ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht dadurch bestimmt, „wie viel in den Kopf hineinpasst“, sondern lediglich dadurch, dass man Zeit braucht, um Neues zu lernen und dass diese Zeit <?page no="162"?> 161 6.4 Deklaratives Gedächtnis: Ich weiß, was ich weiß eben begrenzt ist. Welche Inhalte im semantischen Gedächtnis gespeichert sind, hängt davon ab, was der jeweilige Mensch in seinem Leben gelernt und erfahren hat. Episodisches und semantisches Gedächtnis können nicht streng voneinander getrennt betrachtet werden. Alles, was wir als Faktenwissen gespeichert haben, haben wir in irgendeiner Form erfahren, also erlebt. Mittags nach der Schule kann eine Grundschülerin vielleicht noch darüber berichten, dass die Lehrerin am Morgen erklärt hat, dass Eichhörnchen im Winter eine Winterruhe halten, zwischendurch aufwachen und von ihren Vorräten fressen. Einige Jahre später wird sich die Schülerin vielleicht noch an die Fakten zur Winterruhe des Eichhörnchens erinnern, aber nicht mehr daran, wann und wo sie dieses Wissen erworben hat. Das Wissen war also zunächst im episodischen Gedächtnis gespeichert und mit dem Lerngeschehen verknüpft. Später ist der Inhalt dann als semantisches Wissen abgespeichert. Ist aber eine Unterscheidung zwischen semantischem und episodischem Gedächtnis überhaupt sinnvoll, wenn beides so stark ineinandergreift? Mehrere Argumente sprechen für diese Unterscheidung. Zum einen das eigene Empfinden: Episodische Gedächtnisinhalte sind emotionaler und lebhafter als semantische, sie „fühlen sich einfach anders an“. Nun ist aber subjektives Empfinden kein verlässlicher Beleg. Neben der subjektiven Wahrnehmung gibt es auch Belege aus den Neurowissenschaften, die helfen, die in der Psychologie aufgeworfene Frage zu beantworten. Neurowissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass beim Abruf episodischer Gedächtnisinhalte (beim Rechtshänder) überwiegend die rechte Hälfte des Frontalhirns aktiv ist, beim Abruf semantischer Informationen dagegen vorwiegend die linke Hälfte des Frontalhirns. Auch neuropsychologische Befunde bei Patientinnen und Patienten mit Hirnverletzungen zeigen, dass je nach Seite der Verletzungen mal das semantische und mal das episodische Gedächtnis beeinträchtigt ist. Zurück zu unserem obigen Beispiel: Es kann auch sein, dass die Schülerin sich nach Jahren noch lebhaft an die Situation des Lernens erinnert, z. B. weil etwas Besonderes passiert ist. Vielleicht hat die Lehrerin eine anrührende Geschichte eines Eichhörnchens vorgelesen oder die anzufertigende Zeichnung auf dem Arbeitsblatt war ganz außergewöhnlich gut gelungen und wurde von allen bewundert. In dem Fall ist das Wissen um die Winterruhe von Eichhörnchen doppelt abgespeichert, als Faktenwissen und als Erlebnis. Damit ist das Risiko, dass der Inhalt verloren geht, also vergessen wird, wesentlich geringer als wenn er nur als reines Faktenwissen gespeichert worden wäre. Eine verlässliche Speicherung im episodischen Gedächtnis wird durch eine starke emotionale Beteiligung gewährleistet. Dabei wird nicht nur die reine Information gespeichert, sondern der gesamte Kontext. Diejenigen, die alt genug dafür sind, erinnern sich sicherlich noch daran, wie sie zum ersten Mal von den Anschlägen auf das World Trade Center am 11. September 2001 gehört haben, wo sie zu dem Zeitpunkt gerade waren, wie die Situation war und was sie empfunden haben. Der Schrecken der Ereignisse hat die Erinnerung mit vielen Details ebenso verfestigt, wie die positiven Erlebnisse das Wissen um Eichhörnchens Winterruhe bei unserer Schülerin. Deutlich ist: Emotionale Beteiligung verstärkt das Lernen immens (zu Lernen und Emotionen vgl. Kap. 4). Klar ist aber auch, dass nicht jeder Lerninhalt mit so starken Emotionen verbunden werden kann, dass er als Erlebnis gespeichert wird. Das würde nicht nur die Rolle der Lehrkraft in die eines Entertainers und Animateurs ver- <?page no="163"?> 162 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? wandeln, sondern auch die Schülerinnen und Schüler emotional völlig überlasten. Dennoch ist es erstrebenswert, wenn ein gewisses Maß an emotionaler Beteiligung den Lernprozess begleitet, da Emotionen die Gedächtnisleistung unterstützen und positive Emotionen zudem die Motivation steigern und die Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit unterstützen. Dabei ist es für die Motivation fast egal, ob die positive Emotion dem Lerngegenstand oder der Lehrkraft gilt, der Gesamt- oder Klassensituation oder vielleicht bereits „mitgebracht“ wurde (vgl. 4.5). Für die Aufmerksamkeitssteuerung dagegen sind positive Emotionen gegenüber dem Lerngegenstand, der Lehrkraft oder der Lernsituation (z. B. Aufgabentyp beim Üben) besonders relevant. Auch wenn Unterricht zunehmend kompetenzorientiert ist, handelndes und erlebendes Lernen befördert, so ist die Bildung deklarativer Gedächtnisinhalte ein wichtiges Ziel. Da im Unterricht auch Sach- und Faktenwissen erworben werden soll, spielt es eine zentrale Rolle. Allerdings ist der Erwerb von deklarativen Gedächtnisinhalten nicht ganz einfach. Daher werden im folgenden Kapitel Prinzipien der Gedächtnisbildung auf den verschiedenen Verarbeitungsebenen betrachtet. 6.5 Denken und Gedächtnis: Strukturierung von Repräsentationen Einen wichtigen Beitrag zur Ausbildung von Gedächtnisinhalten leistet unser kognitives System. Zum einen werden neue Gedächtnisinhalte schon während der Aufnahme geordnet, zum anderen stehen uns mit unseren Denkprozessen eine Vielfalt an Strategien und Steuerungsmöglichkeiten zur Verfügung, die die Erstellung, den Abruf und die Nutzung von Gedächtnisinhalten erleichtern. Inhalte des semantischen Gedächtnisses werden sowohl wahrnehmungsbezogen als auch in Form eines abstrahierten semantischen Inhalts gespeichert (vgl. Thompson-Schill 2003). Die wahrnehmungsbezogene Ordnung von Gedächtnisinhalten ergibt sich aus der Art und Weise, in der Informationen in den neuronalen Netzen des Gehirns bereits bei der Aufnahme repräsentiert werden. Auf den frühen Verarbeitungsstufen werden die jeweils spezifischen Sinnesareale genutzt: Auditive Informationen werden als Gedächtnisinhalte im auditiven Cortex gespeichert, taktile Informationen im somatosensorischen Cortex, Geruchsinformationen im olfaktorischen Cortex usw. Die Wahrnehmungsareale haben also nicht nur die Aufgabe, Informationen aufzunehmen, sondern speichern auch häufige oder relevante Informationen als Gedächtnisinhalt. Das ist zum einen wichtig, um künftige Wahrnehmungen schneller verarbeiten und einordnen zu können und stellt zum anderen die Basis bestimmter Gedächtnissysteme (z. B. perzeptuelles Gedächtnis, Habituation) 5 dar. 5 Ein Beispiel für einen solchen Gedächtnisinhalt im auditiven System sind die sogenannten Ohrwürmer, also eingängige Musikstücke, an die man sich unwillentlich erinnert und die sich ohne bewusstes Zutun immer wieder abspulen. Diese sind im auditiven Gedächtnis gespeichert. Beim unwillentlichen Abruf drängen sie sich in das Arbeitsgedächtnis und zwar besonders dann, wenn das Arbeitsgedächtnis nicht ausgelastet ist, etwa bei Routinearbeiten oder Spaziergängen. Eine stärkere Beschäftigung des Arbeitsgedächtnisses z. B. durch ein Rätsel oder das Lesen eines interessanten Textes vertreibt die unerwünschte Musik im Kopf. <?page no="164"?> 163 6.5 Denken und Gedächtnis: Strukturierung von Repräsentationen Die Speicherung findet dabei eher in den sekundären, tertiären und höheren Arealen statt, in denen Muster und Strukturen erkannt werden. Unter diesen Arealen gibt es hochspezialisierte Bereiche, etwa im Hörsystem die Wernicke-Region, die der Erkennung von Sprache dient und im Sehsystem einen Verarbeitungspfad, in dem unterschiedliche Objekte aber auch beobachtbare Tätigkeiten repräsentiert sind. Dieser sogenannte ventrale Verarbeitungspfad erstreckt sich vom Hinterhaupt bis in den Temporallappen (vgl. Binder & Desai 2011). Die visuellen Repräsentationen im Temporallappen sind mit Informationen aus dem auditiven, u. a. dem sprachlichen Bereich und aus dem taktilen Bereich verknüpft (vgl. Thompson-Schill 2003). Es werden also Objekte unter Berücksichtigung der Informationen aus den verschiedenen Sinnessystemen abgebildet (temporaler Assoziationscortex, vgl. Abb. 4). In ähnlicher Weise werden Abläufe und Abfolgen in einem dorsalen, also weiter oben liegenden Pfad verarbeitet. Die Repräsentation des Wissens über Abfolgen und typische Ereignisketten, sogenannte Skripts, erfolgt im unteren parietalen Cortex (vgl. Binder & Desai 2011 und Abb. 4). Dieser Bereich liegt zwischen verschiedenen sensorischen Arealen und ist mit dem motorischen Cortex verknüpft. In den beschriebenen temporalen und parietalen Cortexbereichen liegen die Repräsentationen nicht ungeordnet vor, sondern einander ähnliche Objekte bzw. Abfolgen oder solche die zu einer gemeinsamen Kategorie gehören (Beispielkategorien: Werkzeuge, Möbel oder Tiere), sind tendenziell in benachbarten und überlappenden Nervenzellgruppen repräsentiert. Einer der Gründe hierfür ist, dass man Objekte, die zusammen gehören, häufig gleichzeitig am selben Ort erlebt (geht man in eine Werkstatt, dann sieht man verschiedene Werkzeuge, geht man in ein Haus, sieht man verschiedene Möbel usw.) und dass diese Gegenstände in einer Beziehung zueinander stehen oder sich ähneln (sie werden z. B. gleichzeitig benutzt oder sind aus demselben Material). Wie man an den Beispielen sieht, werden zur Kategorisierung im semantischen Gedächtnis Inhalte aus verschiedenen anderen Gedächtnissystemen hinzugezogen (vgl. Ashby & O’Brien 2005). Grundlage für die benachbarte Repräsentation ist, dass einander ähnliche Informationen in ähnlichen Netzwerken repräsentiert werden. Anders als der Computer, der für jede Datei einen eigenen Speicherort auf der Festplatte wählt, egal wie ähnlich sich die Dateien sind, werden im Gehirn die Aspekte, die den verschiedenen Informationseinheiten gemeinsam sind, durch gemeinsame Teile des neuronalen Netzwerks repräsentiert. Besonderheiten dagegen, die die verschiedenen Objekte und Ereignisse von anderen, ähnlichen unterscheiden, werden durch weitere, jeweils unterschiedliche Neuronengruppen kodiert, die zusammen mit den gemeinsamen Teilen des neuronalen Netzes immer dann aktiviert werden, wenn das entsprechende spezifische Objekt oder Ereignis wahrgenommen oder erinnert wird. Der überlappende Netzwerkbereich repräsentiert die übergeordnete Kategorie oder einen Prototypen, z. B. den „typischen“ Vogel. Dieses System erlaubt es, auch unbekannte Vögel als Vögel zu erkennen. Zusätzliche Detailinformationen kennzeichnen das Tier als Papagei, Sperling oder Schwan. Diese Art der Kategorisierung macht es möglich, die Wahrnehmung einzuordnen und z. B. die potentielle Gefährlichkeit eines unbekannten Tieres einzuschätzen, da ein umgehender Zugriff auf die Gefährlichkeit der anderen Tiere derselben Kategorie besteht. Ohne Kategorien wäre jedes Objekt und jedes Geschehen einzigartig und neu und <?page no="165"?> 164 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? wir hätten keine Möglichkeit, auf unser Wissen zurückzugreifen. Letztlich verwenden wir die im Laufe der Zeit erworbenen Kategorien, um gezielt auf die jeweils passenden Gedächtnisinhalte zuzugreifen. Die Kategorienbildung unterstützt so den schnellen und verlässlichen Abruf von Wissen. Aus psychologischer und philosophischer Sicht wird die Bildung solcher Kategorien, die in Begriffe münden, als intellektuelle Leistung betrachtet. Allerdings findet man die Ausbildung von Kategorien im Prinzip auch bei Tieren. Es gibt also Argumente dafür, dass es sich eher um ein grundlegendes neuronales Prinzip handelt und die Ausbildung bestimmter Konzepte sich zwingend aus dem Zusammenspiel zwischen Umwelterfahrungen und neuronaler Struktur ergibt. Andererseits sind die Konzepte beim Menschen häufig durch zusätzliche Informationen ergänzt, die nicht unbedingt auf den ersten Blick in der Umwelt sichtbar sind. Hier findet auf jeden Fall eine Anreicherung durch weitergehende kognitive Prozesse statt. Noch deutlicher wird die Rolle unserer kognitiven Fähigkeiten bei der Ausbildung abstrakter Konzepte. Während die bisher beschriebenen konkreten Konzepte schwerpunktmäßig in Form visueller oder anderer, wahrnehmungsnaher Codes abgelegt sind, werden abstrakte Konzepte verbal codiert. Mit der Sprache steht dem Menschen ein zusätzliches System zur Verfügung, das es erlaubt, weitergehende Begriffe und Konzepte aufzubauen. Zudem bietet sich hier eine Möglichkeit, Inhalte doppelt zu repräsentieren und dabei gezielt bestimmte Aspekte zu betonen. Diese doppelte Kodierung ist aber nicht der einzige Bereich, bei dem die besonderen kognitiven Fähigkeiten des Menschen Gedächtnisprozesse unterstützen. Vielmehr erlauben uns die gebildeten Konzepte und Begriffe Lernformen, die so bei Tieren nicht vorkommen. Auf der Basis unseres schlussfolgernden Denkens können wir Wissen generieren, Hypothesen bilden, Wege finden um diese zu prüfen und Strategien entwerfen. Beim induktiven Denken werden aus Beispielen Generalisierungen abgeleitet. Das entspricht im Prinzip dem Weg, der für das allgemeine Erlernen neuer Inhalte oben bereits beschrieben wurde. Diese Lernform kann aber durch gezielte Planung oder Anleitung weit über das hinausgehen, was an Abstraktion und Klassifikationen beim spontanen Umgang mit der Umwelt entsteht. Ergebnisse aus Studien mit Kleinstkindern zeigen, dass die Prüfung dessen, was sich aus dem Beobachteten ergibt, zum Repertoire des menschlichen Lernens gehört. In einer Studie wurden elf Monate alten Kleinkindern Spielzeugautos gezeigt, die eine Rampe hinunterfuhren und dann hinter einer Abdeckung verschwanden (vgl. Stahl & Feigenson 2015). Die Kinder wurden mit verschiedenen Varianten konfrontiert. In der einen Situation hörten die Kinder ein Geräusch das entsteht, wenn das Spielzeugauto vor ein Hindernis fährt. Dann wurde die Abdeckung entfernt und das Baby sah das Auto entweder vor einem Holzklotz stehen oder dahinter. In einer weiteren Variante fehlte die Abdeckung und das Auto fuhr entweder bis zur Tischkante und fiel dann hinunter oder es fuhr weiter und schien in der Luft zu schweben. Nachdem den Babys eine dieser Szenen gezeigt worden war, bekamen sie das Auto zum Spielen. Die Kinder, die zuvor die unmöglichen Szenen gesehen hatte-- dass ein Auto scheinbar durch einen Holzklotz gefahren ist oder dass es schweben kann--, zeigten überdurchschnittlich häufig bestimmte Verhaltensweisen. Die Babys, die ein schwebendes Auto gesehen hatten, hoben das Auto immer wieder hoch und ließen es dann los, wie um festzustellen, ob es tatsächlich schwebt. Die Kinder, die beobachtet hatten, dass das Spielzeug- <?page no="166"?> 165 6.5 Denken und Gedächtnis: Strukturierung von Repräsentationen auto hinter dem Klotz stand, schlugen es häufig auf die Tischplatte, als wollten sie sich davon überzeugen, dass das Auto durch die Platte hindurch gelangen kann. Die Kinder zeigen also Verhalten, das geeignet ist die Abweichung des Gesehenen vom bisher Erlernten und Erfahrenen zu untersuchen. Beim deduktiven Denken wird aus allgemeinen Regeln auf den besonderen Fall geschlossen. Das entspricht letztlich in der Struktur der oben beschriebenen Anwendung von Wissen über bestimmte Kategorien von Objekten bzw. Ereignissen auf das einzelne Objekt oder Ereignis. Im Alltag ist die allgemeine Regel oft schon erlernt und wird angewendet. Im schulischen Setting wird häufig eine Regel erklärt, z. B. eine Definition gegeben und anschließend soll diese auf Einzelfälle angewendet werden. Da das Grundwissen aber soeben erst erworben wurde und noch nicht im Langzeitgedächtnis verankert ist, stellt das Vorgehen eine besondere Herausforderung dar: Beides, die neue Regel und die Beispiele, müssen aktiv im Arbeitsgedächtnis aufrechterhalten werden und werden kaum vom Langzeitgedächtnis gestützt. Dieses und die Herausforderung des logischen Schlussfolgerns an sich führen dazu, dass diese Form des Lernens (jüngeren) Grundschulkindern schwer fällt. Induktives Lernen und schlussfolgerndes Denken auf der Basis von Analogiebildung und Vergleichen (Ähnlich vs. Unterschiedlich) sind für Kinder im Grundschulalter dagegen geeignete Lernformen unter Einbezug von Denkprozessen. Der Vorteil des Lernens auf der Basis von Denken und Schlussfolgern liegt darin, dass die Bildung neuer Gedächtnisinhalte zeitgleich mit einer vertieften Verarbeitung erfolgt und dass sie darüber hinaus mit aktiver Tätigkeit der Lernenden verknüpft ist. Ebenso wie das Lernen mit und durch Bewegung ist auch das Lernen über Denken und Schlussfolgern an die Eigentätigkeit der oder des Lernenden gebunden. Damit umfasst diese Art viele der positiven Aspekte, die in Kapitel 5 bereits beschrieben wurden. Da es sich um eine Eigentätigkeit handelt, werden zugleich die Fähigkeiten trainiert, die für das schlussfolgernde, logische Denken relevant sind. Die dabei erworbenen Strategien und Methoden werden im prozeduralen Gedächtnis gespeichert. Welche das jeweils sind, hängt von der Aufgabenstellung ab. Strategien zum Lösen mathematischer Probleme unterscheiden sich von denen, die sich beim Verfassen eines Aufsatzes oder beim Analysieren historischer Quellen ergeben. Gemeinsam ist diesen Strategien, dass sie systematisch erworben werden müssen und wie jede Fertigkeit der Übung bedürfen (vgl. Praxisfenster am Ende des Kapitels). Intensiv trainierte Strategien, die in immer derselben Weise ausgeführt werden, werden als sogenannte Skripts gespeichert. Skripts entsprechen beim Denken dem, was in der Bewegung automatisierte Handlungen sind. Man kann sie schnell und ohne Einsatz umfangreicher Ressourcen ausführen. Die erworbenen Strategien und Skripts bilden einen Fundus aus dem sowohl zur Lösung geübter und neuer Probleme als auch für den weiteren Wissenserwerb geschöpft werden kann. In dieser Weise sind das Denken und der Erwerb komplexer Wissensinhalte eng miteinander verknüpft. <?page no="167"?> 166 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? 6.6 Enkodierung: Aufnahme von Information ins Gehirn Die Ausbildung von Wissensinhalten beginnt immer mit der Informationsaufnahme und Umwandlung der Information in eine neuronale Repräsentation (Enkodierung), gefolgt von der Einspeicherung ins Langzeitgedächtnis (Konsolidierung) als Basis für den späteren Abruf. 6.6.1 Sensorische Aufnahme und Mustererkennung als Basis der Enkodierung Zunächst einmal werden Informationen als Sinneseindrücke aufgenommen und lösen in den jeweiligen sensorischen Arealen (vgl. Abb. 3) Aktivität aus. Auf den frühen Verarbeitungsstufen handelt es sich eher um Farben, Formen, Töne usw. Diese werden von den Sinnes- und Nervenzellen in den typischen neuronalen Code, die elektrische Aktivität von Nervenzellen, übersetzt. Bereits hier kann eine Vorauswahl besonders auffälliger Sinneseindrücke entstehen (vgl. Kap. 3), die sich einfach aus der Stärke des Sinnesreizes ergibt. Die höheren sensorischen Areale versuchen im nächsten Schritt in den Sinneseindrücken Muster zu erkennen und vergleichen die gefundenen Aktivierungsmuster mit bereits in den neuronalen Netzen gespeicherten Mustern (vgl. 6.1). Auch dieser Schritt, der Abgleich mit Vorwissen, gehört zum Prozess der Enkodierung. Bei der Bildung deklarativer und damit bewusster Gedächtnisinhalte findet bei diesem Abgleich mit vorhandenem Wissen auch die Entschlüsselung der Bedeutung der eingehenden Sinnesinformationen statt. Komplexe Reize, etwa Sprache oder eine Situation, in der die Objekte und Personen eine bedeutsame Konstellation haben, werden in mehreren Stufen enkodiert, die in der Entschlüsselung der Bedeutung münden. Im Hinblick auf Sprache etwa werden zuerst die Laute enkodiert, dann phonemische Charakteristika, anschließend Grammatik und Syntax und schließlich der semantische Gehalt. Umgehend schließt sich oft eine Interpretation des Gesagten an, besonders in sozialen Situationen, aber auch, wenn man angestrengt versucht, dem komplizierten Inhalt eines (Unterrichts-) Vortrags zu folgen. Der genaue Wortlaut tritt schnell in den Hintergrund und übrig bleibt eine Repräsentation des Inhalts (oder in einer angespannten sozialen Situation vielleicht auch nur die Interpretation „Der hat mich gerade beleidigt“). Auch bei Situationen oder Szenen werden erst die Sinnesreize, dann die einzelnen Objekte und Personen enkodiert. Unwichtig erscheinende Details, denen wir keine Aufmerksamkeit zuwenden (etwa die genaue Farbe der Kleidung einer Person), werden nur kurz enkodiert, dann geht die spezifische Aktivierung zurück und damit verblasst die Repräsentation. Letztlich ist die Enkodierung zunächst einmal nichts anderes als die Übertragung der Sinneseindrücke in den neuronalen Code des Gehirns, bevorzugt in Form der Bedeutung dessen, was man wahrnimmt, soweit das möglich und nicht zu aufwendig ist. Notfalls, d. h. wenn nicht genügend Vorwissen vorliegt, werden die Sinneseindrücke „an sich“ enkodiert. 6 Auch wenn es „nicht lohnt“, etwa weil uns der Inhalt eines Gesprächs oder ein bestimmtes Geschehen in einer Situation weder etwas angeht noch uns interessiert, wird die Bedeutung 6 So nehmen wir etwa die Laute einer völlig fremden Sprache wahr und erkennen aufgrund unserer Vorerfahrung, dass es sich wohl um Sprache handelt. Die Bedeutung der Wörter können wir aber nicht entschlüsseln. <?page no="168"?> 167 6.6 Enkodierung: Aufnahme von Information ins Gehirn nicht unbedingt entschlüsselt. Viele Lernprozesse des nicht-deklarativen Gedächtnissystems verlaufen ohne eine (bewusste) Bedeutungszuweisung. Die Enkodierung kann also auf verschiedenen Ebenen erfolgen. Diese Ebenen beschreiben einen Teil dessen, was wir als Verarbeitungstiefe bezeichnen. Gut untersucht ist das bei der Enkodierung von geschriebenen Wörtern (vgl. Craik & Tulving, 1975): Sollten Versuchspersonen lediglich darauf achten, ob ein Wort in Groß- oder Kleinbuchstaben geschrieben war, war die Behaltensleistung sehr schlecht. Sollte entschieden werden, ob sich das Wort auf ein anderes reimt, war die Behaltensleistung für die Wörter mehr als doppelt so gut. In diesem Fall achteten die Versuchspersonen auf die Phonemstruktur der Wörter. Phoneme, also die gesprochenen Laute, sind die kleinste bedeutungstragende Einheit einer Sprache. Sollten die Probanden dagegen bei der Aufgabenstellung „Passt das Wort gemäß seiner Bedeutung in einen vorgegebenen Satz? “ die Bedeutung des Worts abrufen, war die Behaltensleistung am besten. Hier wurde also die Art der Enkodierung durch die Aufgabe manipuliert und es zeigte sich, dass diese Einfluss auf die Aufrechterhaltung der Repräsentation über einen längeren Zeitraum hat. Wie oben bereits beschrieben, kann Information auch in Form von Szenen und Bildern enkodiert werden. Dann sind weniger die Hirnareale aktiv, die an den verschiedenen Stufen der Analyse von Sprache beteiligt sind, sondern die Gebiete, die bildliche Information verarbeiten. Letztlich ist das System aber dasselbe: Lässt sich eine Bedeutung extrahieren, dann ist die Behaltensleistung besser als die für relativ bedeutungslose Stimuli. 6.6.2 Einfluss von Weiterverarbeitung und Vertiefung enkodierter Information auf die Gedächtnisbildung Bei der Ausbildung nicht-deklarativer Gedächtnisinhalte kommt es häufig zu einer Verbindung der enkodierten, sensorischen Information mit neuronalen Erregungsmustern, die motorischen Ursprungs sind, also auf die Steuerung unserer Handlungen und Bewegungen zurückgehen. Die motorischen Signale, die unsere Handlungen und ihre Einzelbewegungen steuern, liegen bereits als neuronale Codes vor, werden also nicht enkodiert. Diese Verbindung motorischer Information mit sensorischer ist relevant beim Erwerb prozeduralen Wissens, also des Wissens, wie etwas gemacht wird, aber auch, wenn Assoziationen zwischen Handlungen und ihren Folgen oder bestimmten äußeren Signalen (der roten Ampel) und einer Bewegung (Fuß vom Gas, auf die Bremse treten) erlernt werden. Dabei spielt es für den Lernprozess immer eine wichtige Rolle, ob die Handlung erfolgreich war oder nicht. Für die Speicherung derartiger Gedächtnisinhalte sind das Kleinhirn (Cerebellum) und das Striatum bedeutsam. Das Kleinhirn ist eine zentrale Schaltstelle für die motorische Steuerung und Koordination von Bewegungen, die Feinabstimmung und Anpassung an äußere Gegebenheiten. Auch bei Lernprozessen, wie beim Erlernen von Bewegungsabläufen und den oben beschriebenen Verbindungen motorischer und sensorischer Information, ist das Kleinhirn aktiv. Das Striatum ist ein Teil der Basalganglien. Es ist an der Abstimmung zwischen Motivation, Emotion, Kognition und dem Bewegungsverhalten beteiligt (zu Bewegung beim Lernen vgl. Kap. 5). <?page no="169"?> 168 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? Wichtige Hirnregionen für die Enkodierung und Vorbereitung der Abspeicherung deklarativer Gedächtnisinhalte sind der Hippocampus und das Arbeitsgedächtnis. Der Hippocampus ist eine entwicklungsgeschichtlich alte Struktur und gehört zum limbischen System (vgl. Abb. 6), also zu den Hirnregionen, die u. a. mit der Verarbeitung von Emotionen und mit der emotionalen Bewertung von Objekten, Personen und Ereignissen befasst sind (vgl. 4.6). Verletzungen des Hippocampus führen dazu, dass im deklarativen Gedächtnis der betroffenen Patientinnen oder Patienten neue Inhalte schlechter oder gar nicht mehr gespeichert werden können, nicht-deklaratives, z. B. prozedurales Wissen kann dagegen noch erworben werden. Wie die Hirnhälften ist auch der Hippocampus paarig angelegt. Verletzungen des linken Hippocampus führen dazu, dass das Gedächtnis für verbale Informationen beeinträchtigt ist, 7 Verletzungen des rechten Hippocampus führen dagegen zu Gedächtnisproblemen beim Behalten von visuellen Inhalten oder z. B. Orten. In kernspintomographischen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass der Hippocampus nicht nur an der Speicherung neuen Wissens beteiligt ist, sondern auch am Abruf solchen Wissens, das erst vor kurzer Zeit erworben wurde. Vor längerer Zeit erworbene Inhalte des deklarativen Gedächtnisses können dagegen ohne Beteiligung des Hippocampus direkt vom Arbeitsgedächtnis aus aufgerufen werden. Im Arbeitsgedächtnis werden Informationen während der Gedächtnisbildung bewusst wahrgenommen und verarbeitet, z. B. bewusst noch einmal analysiert und damit noch tiefer verarbeitet. Auch der gezielte Abgleich mit bereits vorhandenem Wissen, der absichtsvolle Vergleich, das Feststellen von Analogien und das Ziehen von Schlussfolgerungen laufen im Arbeitsgedächtnis ab. Hier findet auch der bewusste Zugriff auf bestehende Gedächtnisinhalte statt, sodass die Einbindung der neuen Information in das bestehende Wissen einerseits selbstgesteuert stattfinden, zum anderen aber auch durch Hinweise und Arbeitsaufträge angeregt werden kann. Erst wenn die Informationen das Arbeitsgedächtnis erreicht haben, können Instruktionen durch die Lehrkraft dazu beitragen, dass eine stärkere Verarbeitungstiefe erreicht wird. Da allerdings alles, dem man Aufmerksamkeit zuwendet, das Arbeitsgedächtnis erreicht, lässt sich recht gut feststellen, wie weit die Verarbeitung neuer Information fortgeschritten ist. Wie oben beschrieben, ist die Verarbeitungstiefe entscheidend für die Wahrscheinlichkeit, dass Informationen langfristig als Wissen abgespeichert werden. Zwei Faktoren, die die Verarbeitungstiefe beeinflussen, stehen im Zusammenhang mit der Enkodierung und sind bereits angesprochen worden: das Vorwissen, das es überhaupt erst ermöglicht die Bedeutung der Information zu entschlüsseln, und die Bedeutsamkeit. Wird eine Information als bedeutsam erachtet, so wird der Sinngehalt entschlüsselt, ohne dass eine spezielle Instruktion dazu nötig wäre, angeregt z. B. durch die einfache Frage, ob das Wort in den Sinnzusammenhang eines bestimmten Satzes passt. Es spielen also Vorwissen, Bedeutsamkeit und Verarbeitungstiefe zusammen, drei Faktoren, die im Folgenden etwas genauer betrachtet werden. 7 Das hängt damit zusammen, dass sich (bei Rechtshändern) die Sprachzentren in der linken Hirnhälfte befinden. Entsprechend kann die Zuordnung bei Linkshändern umgekehrt sein. <?page no="170"?> 169 6.6 Enkodierung: Aufnahme von Information ins Gehirn Die Berücksichtigung von Vorwissen ist in der Didaktik Allgemeingut. Man spricht davon, Schülerinnen und Schüler „dort abzuholen wo sie stehen“ (vgl. u. a. Kircher et al. 2009: 610). 8 In der praktischen Umsetzung aber ist das nicht ganz so einfach. Wie wir oben gesehen haben, ist das Vorwissen in neuronalen Netzen gespeichert. Diese neuronalen Netze sind bei jeder Person anders angelegt. Auch wenn alle Schülerinnen und Schüler denselben Unterricht zu einem bestimmten Thema besucht haben und selbst dann, wenn sie alle aufmerksam waren und die identischen Informationen aufgenommen haben, sind doch die Wissensinhalte und Konzepte, die sie darauf aufbauend erworben haben, unterschiedlich. Oft bringen die Lernenden etwa aus ihrer Alltagserfahrung Konzepte mit, die nicht den im Unterricht zu vermittelnden Konzepten entsprechen, z. B. noch nicht alle Aspekte des angestrebten Konzepts enthalten. Diese sogenannten Präkonzepte können dem zu erlernenden Konzept sogar widersprechen. Aus didaktischer Sicht mag es ein sinnvoller Ansatz sein, die Vorläufigkeit dieser mitgebrachten Konzepte zu betonen. Aus der Sicht des Gehirns sind diese sogenannten Präkonzepte aber ebenso gültig wie alle anderen Konzepte auch. Sie wurden auf der Basis von Erfahrung erworben, haben sich wahrscheinlich im Alltag bewährt und es gibt zunächst einmal keinen guten Grund, sie aufzugeben und durch ein anderes Konzept zu ersetzen. Versucht dann eine Lehrkraft ein solches Präkonzept zu verändern, so muss sie mit der bisherigen Lebenserfahrung der Schülerinnen und Schüler konkurrieren. Das ist kein einfaches Unterfangen. Aber aussichtslos ist es glücklicherweise trotzdem nicht. Eigentlich ist es aus Sicht des Gehirns nur dann sinnvoll, ein Konzept zu verändern oder durch ein neues zu ersetzen, wenn das neue Konzept besser geeignet ist, um im Alltag zurechtzukommen, als das alte. Daher ist es sehr hilfreich, die Vorteile des neuen Konzepts gegenüber den sogenannten Präkonzepten zu verdeutlichen-- am besten, indem man sie direkt erfahrbar macht. Dass Kinder besonders im Grundschulalter tatsächlich geneigt sind, ihre Konzepte zu verändern, auch ohne dass deutlich wurde, dass das neue Konzept nützlicher ist oder einen höheren Erklärungswert hat, spricht für das große Vertrauen, das Kinder in den Wissensvorsprung und die Aufrichtigkeit der Lehrkräfte haben. Naturgemäß verliert sich dieses Vertrauen mit zunehmendem Alter, spätestens mit der Pubertät. Zum Glück entwickeln sich im Gegenzug die kognitiven Fähigkeiten der Lernenden, sodass sie in der Lage sind, die Vorteile und Nachteile von Konzepten zu verstehen und gegeneinander abzuwägen. Gewissermaßen greifen, wenn es um den didaktisch motivierten Anstoß zum Ersetzen von Konzepten geht, im Verlauf der Entwicklung eines Schulkindes zwei sich ablösende Mechanismen: Zuerst kann 8 Den Verfasserinnen ist keine Didaktik bekannt, in der sich nicht, explizit oder umschreibend, die Forderung fände, das Vorwissen der Lernenden zu berücksichtigen und als Anknüpfung zu nutzen. In der o. g. Physikdidaktik von Kircher et al. können gleich mehrere Fundstellen aufgeführt werden, von denen im Folgenden einige als beispielhafte Belege für die Präsenz und Ausrichtung dieser Forderung in Didaktiken genannt werden: Neues sei in einer „auf das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler bezogenen Weise ein[zu]führen“ (ebd.: 139, kursiv im Original), Vorwissen sei zu aktivieren und zu berücksichtigen (vgl. ebd.: 154, 172), es müsse daran angeknüpft werden (ebd.: 176) und außerdem gelte es, die Kluft zwischen Vorwissen und Neuem zu überbrücken (ebd.: 179-180). Dieser letztgenannten Forderung fügen die Autoren der Physikdidaktik einen methodischen Hinweis auf Advance Organizers hinzu. <?page no="171"?> 170 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? die Lehrkraft, die, wie gesagt, von Kindern im Grundschulalter in der Regel als eine wichtige Instanz in Wissensdingen und Lernfragen angesehen wird, den Anstoß geben. Später, wenn die Lernenden im Zuge ihrer Entwicklung und des damit einhergehenden Ablöseverhaltens auch eine weniger verklärte Sicht auf die Lehrkraft einnehmen, macht die Kognitionsentwicklung wichtige Fortschritte, sodass der Weg dann über die Einsicht führen kann (zur Adoleszenz vgl. 2.6). Trotzdem ist die Ablösung alter Konzepte schwierig. An der Abbildung des neuen Konzepts wird unweigerlich ein großer Teil der Nervenzellen beteiligt sein, die schon das alte Konzept repräsentiert haben-- immerhin geht es im Prinzip um das Gleiche. Das Problem daran ist, dass es dem Gehirn nicht einfach möglich ist, bereits bestehende, sehr starke Verbindungen umgehend abzubauen, wenn diese sich als unpassend erweisen (vgl. 6.8). Das bedeutet, dass die neuronalen Verbindungen, die die neuen Komponenten in einem veränderten Nervennetz abbilden sollen, noch stärker sein müssen als jene, die in dem alten Netzwerk die nicht zutreffenden Aspekte des „Präkonzepts“ abgebildet haben. Auf der praktischen Seite würde das den Schluss nahelegen, dass man zwar um die bestehenden Vorstellungen und Konzepte der Lernenden wissen sollte, allerdings sollte man sich im Unterricht mit jüngeren Schülerinnen und Schülern nicht intensiv mit den unzutreffenden Aspekten auseinandersetzen. Die Beschäftigung damit führt bei den Schülerinnen und Schülern, die eine unzutreffende Vorstellung haben, nämlich dazu, dass die entsprechenden Verbindungen im neuronalen Netz nochmals aktiviert werden. Dadurch werden sie verstärkt, was kontraproduktiv ist, denn anstatt zu löschen, wird dadurch gefestigt, was eigentlich abgebaut werden sollte. Hinzu kommt, dass durch das Thematisieren defizitärer und nicht zutreffender Aspekte von Präkonzepten in der Klasse möglicherweise andere Schülerinnen und Schüler dazu angeregt werden, die nicht zutreffenden Verbindungen herzustellen. Im Gegensatz zur Ablösung bestehender durch neue Konzepte ist eine Erweiterung bestehender, zutreffender Konzepte recht unproblematisch. Hier werden neue, zusätzliche Verbindungen erstellt. In beiden Fällen aber stellt sich die Frage: Wie kommt man zu starken oder sehr starken Verbindungen in neuronalen Netzen, die eine verlässliche Langzeitspeicherung unterstützen? 6.7 Konsolidierung: Festigen von Gedächtnisinhalten Die Ausbildung starker Verbindungen zwischen Nervenzellen erfolgt zunächst in Form intensiver gemeinsamer Aktivität in neuronalen Netzen. Während der Konsolidierung findet dann ein Umbau der Verbindungen zwischen den Nervenzellen im Sinne einer anatomischen Veränderung statt. Stark genutzte bestehende Verbindungen werden vergrößert und können so Informationen besser und schneller übertragen (vgl. Kandel & Schwartz 1982). Zusätzlich werden neue Verbindungen aufgebaut, die demselben Zweck dienen. Der Begriff Konsolidierung bezeichnet allgemein die Verfestigung von Gedächtnisinhalten und beinhaltet aus neurowissenschaftlicher Sicht Umbauprozesse auf der Ebene der synaptischen Verbindungen zwischen Nervenzellen. Die unterschiedlichen Disziplinen stimmen darin überein, dass die Bildung der Gedächtnisinhalte als mehrstufiger Prozess zu betrachten ist. Zunächst müssen die Inhalte auf- <?page no="172"?> 171 6.7 Konsolidierung: Festigen von Gedächtnisinhalten genommen werden. Wie in Kapitel 6.6 beschrieben, bedarf die Aufnahme der Information einer Übersetzung in eine neuronale Repräsentation (Enkodierung). Die Repräsentation kann dabei auf unterschiedlichen Ebenen erfolgen (z. B. rein sensorisch, semantisch, visuell oder inhaltlich mit bestimmten vorhandenen Erfahrungen, Vorwissen oder theoretischen Konstrukten verbunden), wobei Repräsentationen desselben Objekts oder Lerninhalts parallel auf mehreren Ebenen bestehen können. Die Konsolidierung deklarativer Gedächtnisinhalte ist von einer bewussten Aufnahme abhängig. Es bedarf der bewussten Verarbeitung des Wahrgenommenen und der Zuwendung von Aufmerksamkeit, um semantisches und episodisches Wissen aufzubauen. Ähnliches gilt für bestimmte Inhalte des prozeduralen Gedächtnisses, die wir über Nachahmungslernen erwerben. In dem Fall wird die Information nicht bewusst wahrgenommen, um sie später langfristig zu speichern, sondern gleich mit einer motorischen Aktivität verbunden, also einer Bewegung oder Handlung, die wir ausführen oder uns zumindest vorstellen müssen um prozedurales Wissen aufzubauen. Diese motorische Aktivität muss in Form von Übung wiederholt werden. Andere Inhalte des nicht-deklarativen Gedächtnisses bilden sich ohne bewusste Aufmerksamkeitszuwendung. Diese Lernprozesse erfolgen oft unbewusst und lassen sich nur schwer kontrollieren. Die Stufen der Gedächtnisbildung sind je nach Gedächtnissystem unterschiedlich. Als eine erste Stufe kann man die rein sensorische Aufnahme verstehen. Eine zweite Stufe, die aber nicht für alle Lernprozesse relevant ist, ist die Aufnahme in das Arbeitsgedächtnis. In älteren Arbeiten wird in diesem Zusammenhang vom Kurzzeitgedächtnis gesprochen. Die letzte Stufe ist die Langzeitspeicherung. Diese wird von manchen Autorinnen und Autoren nochmals unterteilt, da zu Beginn der Gedächtnisbildung Inhalte leichter verändert, vergessen oder von anderen Inhalten verdrängt, also sozusagen überschrieben werden können, wogegen derartige Veränderungen später nicht mehr so leicht möglich sind. Ob man hier von Stufen oder eher von einer kontinuierlich fortschreitenden Festigung sprechen sollte, ist noch ungeklärt. Sicher ist aber, dass verschiedene Prozesse zur Langzeitspeicherung beitragen und diese unterstützen können. Einige der Prozesse liegen zeitlich nahe bei der Enkodierung, sind aber nicht Bestandteil der Übertragung der Information in eine neuronale Repräsentation, sondern reflektieren eher die Intensität, mit der die frisch gebildeten Repräsentationen innerhalb des Nervensystems aufrecht erhalten werden. Spätere Prozesse führen zu einem Umbau im Nervensystem und damit letztlich zu einer langfristigen Speicherung eines Teils der während der Enkodierung entstandenen Repräsentationen. 6.7.1 Stärkung neuronaler Gedächtnisspuren als Basis der Langzeitspeicherung Es gibt verschiedene Komponenten, die die Ausbildung starker Verbindungen innerhalb von neuronalen Netzen fördern. Einige wurden oben bereits angesprochen. Um einen Überblick zu geben, werden in diesem Abschnitt die Möglichkeiten zusammengeführt. Emotionen können die Speicherung von Gedächtnisinhalten erheblich verstärken (vgl. Kap. 4). Basis dafür ist die Veränderung des Hormonstatus. So führen negative Emotionen zu vermehrter Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin. Die beiden Botenstoffe wirken <?page no="173"?> 172 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? zum einen als Stimulanzien, die die Glucosefreisetzung im Gehirn steigern. Die dadurch zusätzlich zur Verfügung stehende Energie erlaubt eine schnellere neuronale Verarbeitung und damit schnellere Reaktionen in Gefahrensituationen. Zusätzlich signalisiert sie dem Gehirn, dass etwas Wichtiges passiert ist, was wiederum den Aufbau neuer Verbindungen zwischen denjenigen Nervenzellen stärkt, die zu diesem Zeitpunkt gemeinsam aktiv sind. Die als Mandelkern (Amygdala) bezeichnete Hirnstruktur, die an der Verarbeitung angstauslösender Reize beteiligt ist, trägt zur Langzeitspeicherung dieser Gedächtnisinhalte bei (vgl. Hermans et al. 2014). Die Amygdala ist wie der Hippocampus Teil des limbischen Systems, das die Verarbeitung von Emotionen und die emotionale Bewertung von Objekten und Ereignissen steuert. Auch ein Teil des Cortex gehört zum limbischen System und zwar das Cingulum, das entwicklungsgeschichtlich älter ist als die anderen Cortexregionen und mittig im Gehirn die untere Grenze des Cortex bildet (vgl. Abb. 6). Ist eine Situation überraschend negativ oder uneindeutig, dann greift die Amygdala zur Interpretation des Geschehens auf das Cingulum zurück (vgl. Likhtik & Gordon 2013). Die verlässliche Speicherung negativer Erfahrungen ist für das Überleben äußerst relevant, da es wichtig ist, aus schwierigen und bedrohlichen Situationen zu lernen, um in vergleichbaren Situationen zukünftig richtig reagieren zu können oder besser noch, sie ganz zu vermeiden. Der Vermeidungsaspekt, die negative Emotion und oft auch eine detaillierte Erinnerung an das negative Erlebnis bleiben mit dem gelernten Inhalt verbunden. Die so erworbenen Gedächtnisinhalte sind aufgrund dessen wenig dafür geeignet, in erfolgreichen Handlungen eingesetzt zu werden. Auf diese Weise stören die negativen Emotionen die Denkprozesse, etwa eine Übersetzung ins Deutsche, wenn die abzurufenden Lateinvokabeln mit Angst und Furcht verbunden sind oder das Rechnen, wenn die mathematischen Regeln negative Emotionen hervorrufen (zu Emotionen vgl. Kap. 4, zu Angst 4.3 und 4.4). Insgesamt ist die Behaltensleistung unter akutem Stress reduziert (vgl. Schwabe & Wolf 2010). Hinzu kommt, dass für Lernprozesse relevante Hirnstrukturen beeinträchtigt werden, wenn negative Emotionen, Angst und Stress über längere Zeit anhalten (vgl. Sambanis 2013: 27 ff.). Durch negative Emotionen werden also bestimmte Lernprozesse, vor allem das Vermeidungslernen, unterstützt. Auch positive Emotionen unterstützen Lernprozesse. Allerdings werden, wie wir gleich zeigen werden, andere Lernprozesse unterstützt, nämlich solche, die eher mit der Tendenz zur Wiederholung der beim Lernen gemachten Erfahrungen verbunden sind. Eine allgemein positive Grundgestimmtheit kann die Motivation und Aufmerksamkeit (vgl. Kap. 3) verbessern und so die Verarbeitung (Enkodierung) erleichtern. Eine positive Haltung gegenüber dem Lerngegenstand im Sinne von Interesse verstärkt die Tendenz zu intensiver Auseinandersetzung mit dem Inhalt und damit zu einer vertieften Verarbeitung. Hinzu kommt, dass das Interesse am Lerngegenstand oft mit gutem Vorwissen verbunden ist. Die wirksamsten positiven Emotionen beim Lernen sind wahrscheinlich die, die sich bei Erfolgserlebnissen einstellen. Wenn etwas, das man immer wieder probiert oder geübt hat, endlich gelingt, dann stellen sich Stolz, Freude usw. ein. Relevant ist hier, dass das Ergebnis einer Handlung unerwartet positiv ist. In dem Moment wird Dopamin ausgeschüttet, das die Verbindung von Nervenzellen verstärkt, die zuvor aktiv waren (vgl. 6.3.4). Die für die Handlungssteuerung und Handlungskontrolle relevanten Nervenzellen werden durch den Botenstoff belohnt und <?page no="174"?> 173 6.7 Konsolidierung: Festigen von Gedächtnisinhalten die Verbindungen werden so gestärkt, dass die Handlung in genau gleicher Weise wieder ausgeführt werden kann. Zugleich werden endogene Opiate ausgeschüttet, die ein Erfolgs- oder Belohnungsgefühl vermitteln und so die Bereitschaft erhöhen, die Handlung zu wiederholen (vgl. 4.6). Die belohnten Handlungen müssen nicht äußere Handlungen sein. Auch das bekannte Aha-Erlebnis bei kniffligen Denkprozessen führt zu einem Ergebnis, das besser ist, als es zunächst erwartet wurde, und damit zu einer entsprechenden Reaktion des Gehirns. Damit aber ein Ergebnis besser sein kann als erwartet, muss es immer auch die Möglichkeit des Scheiterns geben. Wenn Lernende vor der Erfahrung des Scheiterns durch zu viele Hilfestellungen dauerhaft bewahrt werden, bleibt Ihnen das Erlebnis „besser als erwartet“ verwehrt. Das gilt auch, wenn man zur Lösung eines Problems oder zu einem Aha-Erlebnis nur durch die Hinweise anderer, also mit fremder Unterstützung kommt. Andererseits gibt es Lernende, die bestimmte Aufgaben aktuell noch nicht alleine bewältigen können. Hier gibt es die Möglichkeit, Zwischenziele zu setzen, die erreichbar sind. In allen Fällen hat der beschriebene Mechanismus zur Voraussetzung, dass für die Lernende oder den Lernenden erkennbar sein muss, dass sie bzw. er Erfolg hatte, und die Person muss überhaupt daran interessiert sein, Erfolg zu haben. Aufgaben, bei denen nicht aus der Aufgabe selbst heraus der Erfolg erkennbar ist, sollten mit der Möglichkeit zu einer umgehenden Erfolgskontrolle verbunden sein. Details, etwa zum Rechenweg, um mögliche Fehlerquellen aufzufinden, sollten gesondert gegeben werden, um die Erfolgskontrolle nicht zu verlangsamen. Hat das Gelingen für die Schülerin oder den Schüler keine Bedeutung, dann kann die Dopaminausschüttung auch durch andere Belohnungen hervorgerufen werden. Dieses Vorgehen ist auch wirksam, wenn man etwa die Anstrengung einer bzw. eines Lernenden schon dann belohnen möchte, wenn das gewünschte Ziel noch nicht erreicht ist. Manche Menschen reagieren auf Musik oder Schokolade oder Ähnliches. Allerdings ist das aufwendig und nicht wirklich immer verlässlich oder angebracht (vgl. 4.5). Ein zuverlässigerer Auslöser für die Dopaminausschüttung ist soziale Zuwendung. Wichtig ist, dass diese Zuwendung, also ein Lob, oder andere Formen der Belohnung sofort auf die gelungene Handlung folgen. Nur dann wirken sie auf den Behaltensprozess in der oben beschriebenen Weise. Hat die Schülerin oder der Schüler in der Zwischenzeit eine andere Handlung begonnen oder ausgeführt ist der Zeitpunkt verpasst-- und sei es nur das Melden und Abwarten um die Lösung prüfen zu lassen. Der oft gehörte Hinweis „Gib Lob sofort und in Beziehung zur Leistung“ meint wirklich sofort, nicht erst nach ein oder zwei Minuten. Selbstverständlich wirkt sich auch später erteiltes Lob noch aus, dann aber vor allen Dingen über die Motivation und nicht mehr direkt in Form einer Dopaminausschüttung auf die neuronalen Verbindungen im präfrontalen Cortex. Asperger-Syndrom Personen mit Asperger-Syndrom haben bekanntermaßen Schwierigkeiten beim Entschlüsseln sozialer Signale. Soziale Beeinträchtigungen gelten als Kernsymptom des Asperger-Syndroms, was u. a. bedeutet, dass Kinder mit Asperger-Syndrom nicht in derselben Weise und vor allem nicht mit derselben Intensität auf Lob und andere soziale Belohnungen ansprechen. Als eine <?page no="175"?> 174 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? 9 Die Basalganglien sind Strukturen, die „tief im Innern des Großhirns“ liegen, sich aber „keiner Großhirnrinde zuordnen lassen“ (ebd.). Wesentliche Bestandteile sind Putamen, Pallidum, Nucleus caudatus sowie eine „kleine Region des Striatum“ (Beck et al. 2016: 51, ergänzende Anm.: Nucleus caudatus + Putamen- = Striatum), die aufgrund ihrer einzigartigen schwarzen Einfärbung als Substantia nigra bezeichnet wird. Wenn die dort verorteten, schwarz eingefärbten Nervenzellen absterben, führt dies zu einer Parkinson-Erkrankung (vgl. ebd.). 10 Die hier aufgeführten, von dem Psychiater Lars Christopher Gillberg aufgestellten fünf Diagnosekriterien, die durch das Kernsymptom der sozialen Beeinträchtigung ergänzt werden- - Letztere liegt in allen Fällen von Asperger vor--, werden von vielen Fachleuten als das Mittel der Wahl betrachtet. Vier der fünf Kriterien müssen zutreffen. Eine Diagnose kann übrigens bereits bei Kindern im Vorschulalter „mit einiger Sicherheit“ (Attwood 2012: 69) gestellt werden. Ursache wird vielfach auf bestimmte strukturelle Besonderheiten der Hirnarchitektur und funktionale Unterschiede im Gehirn hingewiesen. Sie zeigen sich u. a. in der Amygdala, einer sehr alten Struktur, die „immer beteiligt [ist], wenn es gefühlig wird im Gehirn“ (Beck et al. 2016: 439), z. B. bei Angst und Ekel, aber auch bei emotionalen Lernprozessen (vgl. 4.6). Weitere Fehlfunktionen können das Kleinhirn betreffen, das wichtig für die Ausbildung des prozeduralen Gedächtnisses (vgl. 6.3.4) ist sowie die Basalganglien, deren Hauptaufgabe in der Regulation der Willkürmotorik besteht. Die Basalganglien sind „Nervenknotenpunkte im Gehirn“ (Beck et al. 2016: 50). Sie „fassen die Bewegungsimpulse der Großhirnrinde zusammen und bündeln diese zu einem koordinierten Bewegungsmuster“ (ebd.). 9 „Interessanterweise gehört auch […] [der Nucleus accumbens] zu den Basalganglien“ (Beck et al. 2016: 51): Er bildet „einen zentralen Teil unseres Belohnungssystems […] (vgl. 4.6). Positive Emotionen und Glücksempfindungen werden von hier ausgelöst.“ (ebd.). Einige dieser Besonderheiten im Gehirn sind daran beteiligt, dass bei Menschen mit Asperger- Syndrom Lob als eine Form der sozialen Zuwendung nicht oder nur eingeschränkt als Belohnungsreiz wirken kann. Neben der sozialen Beeinträchtigung, die sich z. B. auch darin äußern kann, dass Menschen mit Asperger Gesprächspartnern nicht gerne bzw. nicht länger in die Augen schauen, zählen eingegrenzte Interessen, repetitive Routinen, Besonderheiten der Sprache, nonverbale Kommunikationsprobleme und motorische Unbeholfenheit zu den sogenannten Gillberg-Diagnosekriterien für das Asperger-Syndrom (vgl. Attwood 2012: 47). 10 Bei Anwendung der „Gillberg-Diagnosekriterien […] beträgt die Häufigkeit des Asperger-Syndroms bei Kindern etwa 1 : 250“ (Attwood 2012: 69), was zunächst, im Vergleich zu anderen Erscheinungen im Inklusions-Spektrum nach einer geringen Zahl klingt, aber es muss von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden, denn: „Gegenwärtig werden nur rund 50 Prozent […] erkannt“ (ebd.). Nicht selten kommt es beim Asperger-Syndrom zu unvollständigen und fehlerhaften Diagnosen. Bisweilen wird eine semantisch-pragmatische Sprachstörung diagnostiziert, in vielen Fällen lautet die Diagnose statt Asperger-Syndrom AD (H)S, was darauf zurückzuführen ist, dass sich Asperger und AD (H)S keineswegs ausschließen: Nahezu Dreiviertel der vom Asperger-Syndrom betroffenen Kinder zeigen Symptome, die auf AD (H)S (vgl. 3.1) schließen lassen. Die meisten Menschen mit Asperger-Syndrom prägen ein Spezialinteresse, im Englischen Restricted Interest (RI) genannt, aus, nämlich „at the higher functioning end of the autistic spectrum and especially in Asperger’s syndrome […] 90 % of individuals exhibit RIs“ (Gunn & Delafield-Butt <?page no="176"?> 175 6.7 Konsolidierung: Festigen von Gedächtnisinhalten 11 Das seit 2013 eingesetzte Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders V, kurz DSM -V, führt das Asperger-Syndrom nicht mehr als Einzelstörung auf, sondern subsummiert es unter Autismus- Spektrum-Störungen. Zahlreiche Artikel, darunter auch aktuelle wie der o. g., beziehen sich aus diesem Grund weiterhin auf das DSM - IV statt auf die aktuelle Ausgabe. 2016: 411), d. h. nur etwa 10 % prägen kein Spezialinteresse aus - die Angaben variieren leicht je nach Diagnoseinstrument (z. B. DSM - IV , Gillberg-Kriterien) 11 zwischen 5 und maximal 15 %. Unter RI s versteht man ein außergewöhnlich intensives Interesse an einem bestimmten, von der betroffenen Person selbst gewählten Thema. Am häufigsten ist das Spezialinteresse im Themenbereich Natur und Tierwelt verortet, gefolgt von Technik und Wissenschaft, dann von öffentlichen Verkehrsmitteln (zum Ranking der Spezialinteressen nach Häufigkeit vgl. Attwood 2012: 228). [Menschen] mit Asperger-Syndrom setzen sich mit ihrem Spezialinteresse sehr intensiv, für Außenstehende mitunter besessen wirkend auf stereotype Weise auseinander. Sammeln und Ordnen sind Kernmerkmale der Befassung mit dem Spezialinteresse, wobei häufig ein erstaunliches Fachwissen aufgebaut wird. Spezialinteressen dienen einerseits der Flucht vor der Realität und dem Rückzug in einen Schutzraum. Andererseits ermöglichen sie es den Menschen mit Asperger auch, ihre Kompetenzen zu nutzen und intellektuelle Herausforderungen zu finden. (Sambanis 2017: 36) Die Befassung mit einem Spezialinteresse unterscheidet sich von einem herkömmlichen Hobby durch die Intensität, die in Absorption mündende Fokussierung und die Stereotypie der Befassung mit dem RI . Interessanterweise können bereits kleine Kinder mit Asperger-Syndrom im Alter ab etwa zwei Jahren eingeschränkte und wiederholte Verhaltensmuster zeigen, die auf frühe RI s hinweisen. Oftmals zeigen sie eine völlige Fixierung auf ein Spielzeug, nutzen es dann aber nicht, wie eigentlich zu erwarten wäre, sondern befühlen beispielsweise ausschließlich, langanhaltend und wiederholt dessen Oberfläche. Dass das Spezialinteresse für die Betroffenen wichtige Funktionen erfüllt, wurde mit obigem Zitat schon angesprochen. Für das Lehren und Lernen in der Klasse bieten RI s sowohl Chancen, besonders solche, von denen zunächst das Kind mit Asperger-Syndrom selbst profitieren kann, als auch Grenzen und Herausforderungen, die es ebenfalls vor dem Hintergrund des Inklusionsauftrags klar zu benennen gilt, denn: „[…] RI s can both facilitate learning and act as an obstruction to engagement within socially acceptable norms“ (Gunn & Delafield-Butt 2016: 411). Die nachfolgende Tabelle fasst einige zentrale negative und positive Aspekte zusammen: <?page no="177"?> 176 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? Tab. 1: Negative und positive Aspekte von RIs Das Einbeziehen von Spezialinteressen in den Unterricht stellt eine Herausforderung dar, zu der am Ende dieser Info-Box einige Handlungsimpulse für den Unterricht gegeben werden. Eine Synthese des aktuellen Wissensstandes führt nämlich zu folgendem, für Lehrkräfte überaus wichtigem Schluss: „The evidence supports the inclusion of RI s into classroom practice“ (Gunn & Delafield-Butt 2016: 408) und „[…] bringing the child’s RI into the classroom brings the child into the classroom“ (ebd.: 425). Studien belegen verschiedene positive Effekte des Einbezugs von Spezialinteressen in den Unterricht auf Kinder mit Asperger-Syndrom. Gunn & Delafield- Butts Synthese zufolge, wird lediglich in 10 % der verfügbaren Forschungsarbeiten auch auf Nachteile hingewiesen, z. B. die oben in der Tabelle aufgeführte Zunahme der Fokussierung auf das RI nach Einbezug desselben in den Unterricht, aber diese werden nach kurzer Zeit durch positive Effekte ausgeglichen. Von einer Berücksichtigung der Spezialinteressen im Unterricht können akademische, kognitive, soziale und emotionale Fertigkeiten profitieren. Außerdem wurde eine Zunahme der Motivation und der Partizipationsbereitschaft der Lernenden mit Asperger-Syndrom festgestellt, was zum Eingangsgedanken zurückführt: Wenn sich soziale Belohnungen durch Lob, Gesten der Anerkennung usw. bei Kindern mit Asperger-Syndrom als nur eingeschränkt wirksam zeigen, da die Empfänglichkeit dafür geringer ausgeprägt ist, was erweist sich dann als wirksam? Die Antwort lautet: Bei vielen Kindern mit Asperger belohnt die Beschäftigung mit dem RI : „Es zeigt sich, dass diejenigen Freuden, die mit dem Spezialinteresse zu tun haben, eine weit größere Befriedigung verschaffen als jede andere Form der Freude“ (Attwood 2012: 232). Außerdem nützt es ohnehin nichts bzw. es fühlt sich für das Kind mit Asperger-Syndrom sogar wie eine Bestrafung an, wenn versucht wird, das Spezialinteresse konstant zu unterbinden, denn RIs sind Symptome des Syndroms und eine Reaktion auf Begleiterscheinungen von Asperger, z. B. auf soziale Ängstlichkeit oder sensorische Sensibilität. Es fällt schwer, Symptome andauernd zu unterdrücken, ähnlich, wie es bei einem heftigen Schnupfen kaum möglich ist, das Leitsymptom der laufenden Nase einfach zu unterdrücken. <?page no="178"?> 177 6.7 Konsolidierung: Festigen von Gedächtnisinhalten 12 Für einen konkreten Vorschlag, um das Asperger-Syndrom im Unterricht aufzugreifen und die Lernenden zu informieren, vgl. die von Sambanis (2017) vorgelegte Mini-Saga (Geschichte, die in nur 50 Wörtern erzählt wird) „All about trains“. 13 Da viele Eltern ohnehin in Nachhilfeunterricht investieren, soll an dieser Stelle die Überlegung angestoßen werden, ob es nicht bei Kindern mit Asperger-Syndrom eine gute und sinnvolle Investition sein könnte, z. B. einen netten Studierenden ausfindig zu machen, um dem Kind eine regelmäßige Quality Time im oben beschriebenen Sinn auch jenseits der Schule zu ermöglichen. Ein Vorteil bestünde darin, dass das Kind mit einer Person, die nicht zur Familie gehört, zu interagieren hätte, während die Bezugspersonen (Eltern, Geschwister usw.) diese Zeit für sich, jenseits des RI s nutzen könnten. Als Lehrkraft gilt es, Wege zu finden, wie einem Kind, dem vor allem sein Spezialinteresse als Belohnungsreiz dient, diese Verstärkung nicht versagt werden muss, ohne dabei die übrigen Kinder in der Klasse in ihren Bedürfnissen zu vernachlässigen und sie gegebenenfalls sogar gegen das Kind mit Asperger aufzubringen, z. B. wenn sich alles nur noch um sein Spezialinteresse zu drehen beginnt. Ein wichtiger erster Schritt besteht im Unterricht darin, Verständnis für die teilweise besonderen Verhaltensweisen, z. B. die Fokussierung des Kindes auf sein RI , mögliche Tics (z. B. Wiederholen von Sprechbeiträgen, Berühren von Gegenständen), Blick- und Proxemikverhalten, herbeizuführen: […] in der Regel [wird] dazu geraten, betroffene Klassen in geeigneter Form zu informieren und zwar so weit, wie es für das Kind mit Asperger-Syndrom in Ordnung ist. Wenn alle verstehen, dass Asperger keine ansteckende Krankheit und das Verhalten keine Provokation ist, können Irritationen ausgeräumt und eine wichtige Voraussetzung für Inklusion geschaffen werden. (Sambanis 2017: 36) 12 In der Literatur wird nach Möglichkeit zu einem Einbinden des Spezialinteresses in den Unterricht geraten, was jedoch thematisch nicht immer möglich ist und für andere Kinder in der Klasse mit der Zeit auch langweilig werden kann. Insbesondere dann, wenn Kinder mit Asperger-Syndrom beginnen, sich in der Klasse zu öffnen und durch das Einbringen ihres Spezialinteresses Kompetenzerlebnisse haben, dabei aber voraussetzen, dass jede oder jeder andere im Raum im selben Maß von der Thematik begeistert wäre. Dem können strukturierende Maßnahmen, z. B. bei einem Referat, das nicht zu einem unendlichen Monolog ausufern soll, entgegenwirken, d. h. vorab sind der Ablauf der thematischen Schwerpunkte und die Zeiten festzulegen, Signale zu vereinbaren etc. Da sich eine inhaltliche Anknüpfung an das Spezialinteresse im Unterricht nicht immer anbietet, kann dem Kind mit Asperger-Syndrom dennoch eine Nähe zu seinem RI und dem ihm vertrauten Vorgehen gewährt werden, indem es z. B. beauftragt wird, unter Anwendung seiner Lieblings- Recherche-Methode etwas zum Unterrichtthema Passendes beizusteuern bzw. vorhandene Texte, Bilder usw. zu ordnen und strukturiert zugänglich zu machen. Auch das Belohnen mit einer zeitlich festgelegten Beschäftigungsphase mit dem RI nach getaner Arbeit, d. h. einer Stillarbeitsphase unter Nutzung einer im Klassenzimmer verfügbaren Box, in der Materialien zum Spezialinteresse gesammelt werden - zur Sammlung können alle in der Klasse beitragen -, kann in Betracht gezogen werden. Ebenso könnten die zumindest an manchen Grundschulen anzutreffenden Lese-Omas und Lese-Opas mit dem Kind sogenannte Quality Times (in Anlehnung an Attwood 2012: 243 variierte Idee) verbringen, in denen das Kind von seinem RI berichten und dabei zugleich in einem sogenannten komplexitätsreduzierten Feld Erfahrungen mit sozialer Interaktion sammeln könnte. 13 <?page no="179"?> 178 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? Bei allen Formen der sozialen Zuwendung muss man beachten, dass es auch hier, wie der Exkurs zum Asperger-Syndrom in der Infobox zeigt, Ausnahmen gibt. In der Regel wirkt positive soziale Zuwendung als Belohnungsreiz. Je jünger die Kinder sind, umso verlässlicher ist dieser Zusammenhang. Das liegt darin begründet, dass Kinder auf die Fürsorge und Zuwendung Erwachsener angewiesen sind und diese in der Regel auch erfahren. Dadurch besteht meistens ein positives, vertrauensvolles Verhältnis zwischen Lehrkraft und Kindern. Es gibt aber auch die Situation, dass das Verhältnis zwischen Schülerin bzw. Schüler und Lehrkraft nicht positiv geprägt ist. Je älter Schülerinnen und Schüler werden, umso häufiger kommt das vor. In dem Fall ist es nützlicher, positive Rückmeldungen zu einer erreichten Leistung oder auch einer Anstrengung nicht in der gewohnten Weise mit voller Hinwendung, Blickkontakt usw. zu geben. In einer Studie, in der die Hirnaktivitäten mittels Kernspintomographie erhoben wurden, konnten Kampe et al. (2001) zeigen, dass eine wichtige Region des Belohnungssystems, das ventrale Striatum, aktiviert wird, wenn den Probanden das Bild einer Person gezeigt wurde, die sie ansah. Voraussetzung war allerdings, dass der jeweilige Proband die gezeigte Person attraktiv fand. War die Person dem Probanden dagegen unsympathisch, dann erfolgte keine Aktivierung, wenn der Blick der Person direkt in die Kamera gerichtet war, die Person den Probanden also scheinbar direkt ansah. Vielmehr reagierte in dem Fall das Belohnungssystem des Probanden, wenn die Person auf dem Foto (bei gleicher Kopfstellung) in eine andere Richtung schaute. Bei Antipathie hat also die Abwendung des Blicks einen Belohnungseffekt. Ein weiterer Aktivator für das Belohnungssystem sind Worte. Bereits das Hören emotional positiver Wörter aktiviert das Belohnungssystem (vgl. Hamann & Mao 2002). Je nach Beziehung sollte Lob als Aktivator des Belohnungssystems daher in einer anderen Art gegeben werden: Bei gegenseitiger Sympathie in Verbindung mit direkter Zuwendung und mit Blickkontakt zur Schülerin oder zum Schüler. Im anderen Fall sollte sie streng genommen nur aus ein paar knappen lobenden Worten bestehen, bei denen Schülerin oder Schüler nicht intensiv angeschaut werden-- egal wie nett der Blick auch gemeint sein mag-- und von einer vollständigen Abwendung gefolgt werden. Das legen zumindest die Erkenntnisse neurowissenschaftlicher Studien nahe. Aus pädagogischer und didaktischer Sicht ist das Vermeiden des Blickkontakts und das körperliche Abwenden eher ein befremdlicher Gedanke, der dem fürsorglichen pädagogischen Wesen eigentlich zuwiderläuft, zumal man als Lehrkraft immer auf eine gewisse gegenseitige Sympathie hofft, den Kontakt zu den Lernenden sucht und Maßnahmen zur Beziehungsgestaltung ergreift. Die didaktische Botschaft aus oben referierten Erkenntnissen lautet daher wohl: Sollte es einmal dazu kommen, dass zwischen Lehrkraft und Lernendem trotz allem keine Sympathie aufkeimt oder dass ein Lernender neu in die Klasse kommt und der Lehrkraft, aus welchen Gründen auch immer, mit Antipathie begegnet, erreicht die Lehrkraft einen solchen Lernenden möglicherweise besser, indem sie Anstrengungen oder Leistungen verbal würdigt, die nonverbalen Mittel hingegen (mimische und proxemische Faktoren, z. B. Nähe herstellen, indem man auf den Lernenden zugeht, samt Blickverhalten) sparsam einsetzt. Dieses je nach Grad der Sympathie angepasste Lehrerverhalten bei Lob wird in der Pädagogik und den Didaktiken wohl noch kritisch zu diskutieren sein, wobei es wichtig erscheint, zumindest die Möglichkeit von Antipathie in Betracht zu ziehen, was nämlich mitunter wie <?page no="180"?> 179 6.7 Konsolidierung: Festigen von Gedächtnisinhalten der sprichwörtliche elephant in the room gar nicht erwogen wird, ganz so, als wäre diese Konstellation gänzlich unmöglich. Erstrebenswert ist sie gewiss nicht, aber ehrlicherweise ist es gerade dann wichtig, sich als Lehrkraft Gedanken zu machen, wie man auch Lernenden, zu denen, bei ungeschönter Betrachtung, die Beziehung nicht ganz so günstig ist wie zu anderen, Belohnungserleben durch Lob ermöglichen kann. Diese spezielle Frage stellt insofern eine Herausforderung dar, als Pädagoginnen und Pädagogen letztlich durch ihre Ausbildung und Arbeit so sozialisiert sind, dass Antipathie zwischen Lehrendem und Lernenden häufig als eigenes Versagen gedeutet wird. In der Didaktik wird Lob als Mittel betrachtet, um die Motivation und Selbstwahrnehmung der Lernenden zu stützen, um im konkreten Fall die Wahrscheinlichkeit der Wiederholung einer Handlung oder Haltung zu erhöhen. Beispielsweise könnte eine Schülerin oder ein Schüler durch die lobende Würdigung der besonders ausführlich und sorgfältig angefertigten Hausaufgaben dazu ermutigt werden, bei den Hausaufgaben erneut besondere Sorgfalt zu zeigen oder ein Lernender wird dafür gelobt, dass er in einer Konfliktsituation deeskalierend eingegriffen hat. Das Lob könnte ihn in seinem Mut bestärken, auch künftig solches Verhalten zu zeigen bzw. andere dazu anregen, ähnlich zu handeln. Damit wird ein weiterer wichtiger Mechanismus von Lob im Unterricht angesprochen: Richtet sich das Lob an eine Einzelperson, kann dies zur Folge haben, dass andere dem nacheifern, um ebenfalls gelobt zu werden, d. h. das Lob gibt auch anderen Antrieb oder aber es wirkt sich gegenteilig aus: Das Loben einer Schülerin oder eines Schülers kann von den übrigen auch als Herabsetzung empfunden werden, denn das Herausragen einer Person impliziert auch einen Vergleich mit den übrigen-- sofern die Bezugsnorm keine individuelle ist. Seit Langem schon wird in Zusammenhang mit dem Thema Lob im Unterricht der Gewöhnungseffekt diskutiert. Es wird darauf hingewiesen, dass Lob nicht inflationär erteilt werden dürfe und dass es nuanciert sein müsse, denn sonst gilt: „[…] praise is an ineffective motivator“ (Hattie & Yates 2014: 225). Es sollen nicht Persönlichkeitsmerkmale gelobt werden, sondern vor allem die Anstrengungsbereitschaft des Kindes oder Jugendlichen, außerdem wird auf die mögliche Gefahr der Abhängigkeit der Selbstzufriedenheit und des Kompetenzerlebens von Lob hingewiesen. Im Kontext der pädagogischen Diskussionen um Lob und Belohnung wird seit einiger Zeit das auf den Individualpsychologen Adler zurückgehende Prinzip der Ermutigung diskutiert. Vertreterinnen und Vertreter setzen sich u. a. mit der Gefahr der Abhängigkeit von Lob und der damit einhergehenden Unsicherheit, ob Lob tatsächlich erteilt oder aber verweigert wird, auseinander (vgl. Koch-Oehmen 2015: 90-91): „Ziel der Ermutigung sind Verantwortungsbewusstsein und Autonomie“ (vgl. ebd.: 90), wobei Lob eine Ermutigungsstrategie sein könne, aber so erteilt werden muss, dass der Gelobte weder stigmatisiert, noch in eine Abhängigkeit geführt, sondern gestärkt werde. Loben in dieser Form bedarf einer individuellen Bezugsnorm. Wichtig erscheint es außerdem, Lob und Feedback nicht miteinander zu vermischen: „[…] do not mix praise with feedback information“ (Hattie 2012: 120). Feedback soll den Lernenden auf sachliche Weise orientieren im Hinblick auf die Kernfragen nach dem Ziel einer Aufgabe oder Arbeit, dem aktuellen Stand und Vorankommen und bezogen auf nächste Schritte, die zu unternehmen sind, um ein Ziel zu erreichen. Feedback adressiert also vor allem die Kognition <?page no="181"?> 180 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? des Lernenden, Lob hingegen wird emotional gedeutet. Wo sich beides vermischt, wird die klare Botschaft des orientierenden Feedbacks oftmals verwässert; sie rückt in den Hintergrund oder verzerrt sich unter dem Eindruck des auf emotionaler Ebene wirkenden Lobs. Lob sollte im schulischen Kontext vor allem so erteilt werden, dass es den Zusammenhang zwischen Erfolg und Anstrengungsbereitschaft kommuniziert. Dann kann durch das Belohnungssystem die Bereitschaft zur Anstrengung bestätigt und positiv belegt werden. Eine unangenehme Eigenschaft des Belohnungssystems im Gehirn ist übrigens, dass es auch dann „anspringt“, wenn etwas Gefährliches gerade noch einmal gut gegangen ist oder etwas Verbotenes erfolgreich war und nicht entdeckt wurde. Beispielsweise, wenn es einer Schülerin oder einem Schüler gerade noch gelungen ist, die Hausaufgaben unter der Bank rasch vom Nebensitzenden abzuschreiben, bevor die Lehrkraft zur Kontrolle der Hefte ansetzt. Auch in solchen Fällen stärkt das Belohnungssystem die Verbindung zwischen den Nervenzellen, die gerade an der Ausführung der gefährlichen oder verbotenen Tat beteiligt waren und verhilft dem Gehirn dazu, dass es diese Tat künftig schneller, effektiver und öfter ausführen wird. Wie wir oben schon gesehen haben, ist der Aha-Effekt ein guter Auslöser für das Belohnungssystem. Aber auch das reine Verstehen von Inhalten und Zusammenhängen ohne Aha-Effekt unterstützt den Lernprozess, wenn es um Inhalte des deklarativen Gedächtnisses geht. Ein Grund hierfür ist die sogenannte Verarbeitungstiefe (vgl. 6.6.2). Im Grunde genommen, hat diese mehrere Aspekte. Zum einen bringt eine größere Verarbeitungstiefe mit sich, dass eine Information auf mehreren Ebenen abgebildet wird und dort Nervenzellen zu einer gleichzeitigen Aktivierung anregt, z. B. auf der rein phonologischen Ebene der Laute und auf der Ebene der inhaltlichen Analyse. Es sind also mehrere neuronale Netze beteiligt, wodurch die Wahrscheinlichkeit des Behaltens erhöht wird. Zudem führt die vertiefte Verarbeitung dazu, dass die Bedeutung durchdrungen wird. Das erhöht die Chance, dass das Verständnis der Schülerinnen und Schüler an einen Punkt gelangt, an dem sie den Inhalt der gegebenen Information mit bereits vorhandenem Wissen in Verbindung bringen können. Wird das bereits vorhandene Wissen als interessant oder bedeutsam empfunden, so steigt auch das Interesse an der neuen Information bzw. die empfundene Bedeutsamkeit derselben. Die Verbindung erlaubt es, das Nervennetz, das die bereits vorhandene Information repräsentiert, sozusagen als Stützsystem mit zu nutzen. Schließlich macht vertiefte Verarbeitung Denkprozesse erforderlich. Diese können beispielsweise in logischen Verknüpfungen, dem Ziehen von Analogien, der Ableitung einer allgemeinen Regel oder der Suche nach Beispielen oder Gegensätzen bestehen. Bei all diesen Prozessen werden andere Nervennetze darauf hin „getestet“ ob sie einen verwandten Inhalt repräsentieren und damit als stützendes System mit dem neuen Lerninhalt verbunden werden könnten. Zudem wird in der gesamten Bearbeitungszeit die Repräsentation des Lerninhalts wiederholt oder, neurobiologisch ausgedrückt, durch neuronale Aktivität aufrechterhalten. Die Aufrechterhaltung oder erneute Anregung derselben neuronalen Aktivität ist, neben starken Emotionen und der Verstärkung durch Dopamin bei Erfolg, der einzige sichere Weg um die langfristige Speicherung zu gewährleisten. Letztlich wird dieses durch das so unbeliebte Wiederholen der Lerninhalte erreicht. Gerade dann, wenn die Wiederholung sich nicht <?page no="182"?> 181 6.7 Konsolidierung: Festigen von Gedächtnisinhalten im Alltag in natürlicher Weise ergibt (etwa beim Erlernen einer Sprache, die in der Umgebung des Lernenden außerhalb des Klassenraums nicht gesprochen wird), ist es nötig, die Wiederholung künstlich und gezielt zu erzeugen. Daran führt am Ende kein Weg vorbei. Das große Problem dabei ist, dass Wiederholung zu Langeweile führt (zu Langeweile im Unterreicht vgl. 3.7). Aus Gründen der Effektivität ist unser Gehirn nämlich darauf ausgerichtet, sich nur mit den Dingen zu beschäftigen, die entweder neu sind- - was bei Wiederholungen naturgemäß nicht der Fall sein kann-- oder mit Dingen, die relevant sind. Bei der Einschätzung der Relevanz mangelt es unserem Gehirn allerdings an Weitsicht. Als Maß verwendet es die unmittelbaren positiven oder negativen Auswirkungen eines Ereignisses oder einer Information. Nun hat aber das Lernen z. B. von Französischvokabeln keine unmittelbaren Auswirkungen, außer dass die Zeit verbraucht ist. Die erwünschten Auswirkungen zeigen sich vielleicht erst später, wenn man etwa nach Frankreich reist und sich dort verständigen kann und sie zeigen sich auch nur, falls man nach Frankreich reist. Auch die Klassenarbeit in ein paar Wochen ist aus Sicht des Gehirns so weit entfernt, dass die Relevanz, anders als bei Inhalten, die sich umgehend anwenden lassen oder die ein bereits vorhandenes Problem zu lösen helfen (z. B. weil ich schon in Frankreich bin und Verständigungsprobleme habe), nicht automatisch wahrgenommen wird. Daher ist selbst bei Lernenden, die der französischen Sprache positiv gegenüberstehen, ihren Klang mögen, schon einige Male in Frankreich waren und das Land lieben, das Lernen von Vokabeln eine lästige Pflicht und oft eine zähe Angelegenheit. Die Lernenden können nichts dafür und auch von außen, also durch die Lehrkraft, lässt sich das Problem nicht völlig aus der Welt schaffen. Ausgedehnte Wiederholungen werden von manchen Schülern als regelrechte Strafe empfunden (besonders dann, wenn sie methodisch wenig ansprechend sind). Dadurch werden negative Emotionen hervorgerufen, die eher dazu führen, dass der Lerninhalt künftig vermieden wird. Eine Situation, aus der das Gehirn Relevanz ableitet, ist, wenn sich andere Personen, möglichst solche, zu denen eine positive Beziehung besteht, mit dem Inhalt beschäftigen. Hier greift die Tendenz des Gehirns zur Nachahmung. Wenn mehrere andere Personen sich mit diesem oder jenem in einer bestimmten Weise beschäftigen, dann nimmt das Gehirn an, dass das Verhalten oder der Inhalt wahrscheinlich wichtig sind. Das spricht dafür, Wiederholungen in soziale Situationen einzubinden, die geeignet sind, die Motivation über das Relevanzempfinden und zusätzlich über die positive soziale Interaktion zu steigern. Darüber hinaus gibt es weitere Möglichkeiten, Wiederholungen so „aufzubereiten“, dass sie nicht als allzu unangenehm empfunden werden. Eine Möglichkeit ist es, die Wiederholung durch unterschiedliche Darbietungsformen und Übungen zu gestalten, etwa zusätzlich Bilder und Visualisierungen, geschriebenen und gesprochenen Text zu verwenden, Gegenstände zum Anfassen oder Modelle zum Ausprobieren anzubieten usw. Dieses „Lernen mit allen Sinnen“ hat gleich zwei Vorteile: Zum einen ermöglicht es, zumindest in einem gewissen Rahmen und für zahlreiche Inhalte, die Wiederholungen interessanter zu gestalten und zum anderen wird so der Verstehensprozess unterstützt. Je nach Vorwissen und Präferenz können einige Lernende Informationen beispielsweise besser aus geschriebenem Text oder aus einem Dialog extrahieren, andere vielleicht eher aus Visualisierungen. Soll die Vielfalt der Darbietungsformen zur Wiederholung genutzt werden, ist es natürlich sinnvoll, mit <?page no="183"?> 182 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? einer oder wenigen Formen zu beginnen und weitere zu einem späteren Zeitpunkt einzubinden. Das muss keineswegs bedeuten, dass alle Schülerinnen und Schüler zu Beginn die Informationen im selben Format erhalten. Alternativ kann man Material anbieten, das unterschiedliche Sinnessysteme anspricht und unterschiedliche Herangehensweisen erfordert und die Schülerinnen und Schüler wählen lassen. Selbstverständlich können die verschiedenen Aspekte eines Lerninhalts nicht mit allen Materialien in gleich guter Weise und mit derselben Tiefe dargestellt werden. Daher ist es sinnvoll, die Lernenden in einem nächsten Schritt die Informationen zusammentragen zu lassen. Um die unterschiedlichen Wissensstände optimal zu nutzen, sollte ein Arbeitsauftrag aus zwei Teilen bestehen. Zum einen sollten die Details und Zusammenhänge des jeweiligen Lerninhalts herausgearbeitet werden. Das kann frei geschehen, aber ebenso gut auch anhand von Leitfragen. In einem zweiten Schritt sollte, zumindest gelegentlich, zusätzlich herausgearbeitet werden, welches Material und welche Form der Darstellung sich am besten für welchen Inhaltsaspekt und welches Detail eignet. Auf diese Weise werden zum einen die Inhalte wiederholt, 14 zum anderen lernen die Schülerinnen und Schüler „ganz nebenbei“ die Stärken und Schwächen von verschiedenen Materialien und Darstellungsformen kennen und können am Vorbild der jeweils anderen sehen, wie man mit welchem Material am geschicktesten umgeht bzw. wie man die verschiedenen Darstellungsformate am besten nutzt. So wird eine weitere Verarbeitungsebene in den Lernprozess einbezogen. Letztlich wurde der Lerninhalt dann beispielsweise sprachlich (schriftlich und akustisch), bildlich und haptisch enkodiert. Das verbessert zwar nicht die Konsolidierung direkt, kann aber die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass es gelingt, die Inhalte wieder abzurufen, da sie über unterschiedliche neuronale Netze und damit mehrfach kodiert sind. Der vierte Aspekt, der bereits im vorangegangenen Abschnitt angesprochen wurde, ist der soziale Austausch. Arbeitet eine Gruppe oder auch ein Zweierteam gut zusammen, ergibt sich die positive soziale Resonanz (und damit die lernförderliche Ausschüttung von Dopamin) in der Regel von ganz alleine. Daher ist es überhaupt nicht sinnvoll, Gruppen immer wieder neu zusammenzusetzen, sei es aus Unwissenheit, weil man nicht darauf achtet, welche Gruppen üblicherweise bzw. auch in anderen Fächer zusammenarbeiten, sei es gezielt, um die sozialen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler zu verbessern. Sicherlich ist das ein Ansatz, soziale Kompetenzen zu fördern, der unterstützende Aspekt für den Wissenserwerb stellt sich aber häufig nicht ein, da die positiven sozialen Signale eben nicht in jeder Konstellation garantiert sind. Außerdem kann es enormen Stress bedeuten, wenn man sich im 45-Minuten-Takt auf eine jeweils andere Lerngruppe einstellen muss. Für die Konzentration auf Lerninhalte bleiben dann entsprechend weniger Ressourcen übrig. Ist das Klassenklima aktuell oder auch permanent auf einem sehr niedrigen Niveau, bietet sich Gruppenarbeit ebenfalls nicht an. In dem Fall muss erst an einem lernförderlichen Klassenklima gearbeitet werden. Hierfür und auch für die Förderung sozialer Kompetenzen gibt es spezielle Programme. Der Einsatz solcher Programme lohnt sich auf jeden Fall, um die Grundlage für erfolgreiches Lernen zu 14 Legt man großen Wert auf den Wiederholungseffekt, ist es sinnvoll, die Schülerinnen und Schüler Tabellen anlegen zu lassen, in denen die Inhalte übersichtlich den verschiedenen Materialien / Darstellungsformen zugeordnet sind und die Inhalte dabei mehrfach schreiben zu lassen, wenn sie in mehreren Materialien vorkommen. <?page no="184"?> 183 6.7 Konsolidierung: Festigen von Gedächtnisinhalten sichern, eine Vermischung mit inhaltlichem Lernen hingegen ist wenig sinnvoll und führt nicht zu einer Stärkung des neuronalen Netzes, das die Lerninhalte repräsentiert. Ein weiterer Ansatz, um für das Lernen notwendige Wiederholungen anzureichern, ist die Verbindung von Lernen und Bewegung. Der Ansatz ist so effektiv, dass er in Kapitel 5 ausführlich besprochen wird. Daher soll hier nur kurz darauf verwiesen werden, welche Komponenten zu dieser Effektivität beitragen. Erstens werden Wiederholungen erträglicher, da unser Gehirn bei reinem Inhaltswissen Wiederholungen kritisch gegenübersteht, bei Bewegungen aber „weiß“, dass sie wiederholt werden müssen, um sie gut zu beherrschen. Daher wird bei der Verknüpfung von Inhalten mit Bewegungen kein solcher Widerstand aufgebaut, wie er bei reiner Inhaltswiederholung entsteht. Zweitens erregen Bewegungen das aufsteigende retikuläre Aktivierungssystem (vgl. Kap. 3), das als „Wachheitssystem“ einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zu Aufmerksamkeit und Konzentration liefert. Drittens gibt es inzwischen einige Untersuchungen, die belegen, dass Bewegungen das inhaltliche Lernen direkt unterstützen können. Gesten, die inhaltlich mit Lerninhalten verknüpft sind und mit diesen zusammen gelernt werden (z. B. Gesten, die Objekte oder Tätigkeiten kennzeichnen mit passenden Vokabeln einer Fremdsprache), verbessern die Gedächtnisbildung. Neurobiologisch betrachtet, hat dieser mit Embodied Cognition bezeichnete Zusammenhang zwei Aspekte. Zum einen ist durch die Bewegung eine doppelte (oder sogar dreifache) Enkodierung der Inhalte entstanden: motorisch, sensorisch durch die Wahrnehmung der eigenen Bewegung und inhaltlich, z. B. verbal. Aufgrund der Zusammengehörigkeit der sensomotorischen und der inhaltlichen Information kommt es hier zu einer Verstärkung der Repräsentation. Zum zweiten muss aufgrund der Erkenntnisse zur stammesgeschichtlichen Entwicklung des Gehirns davon ausgegangen werden, dass der Wissenserwerb bei Tieren ursprünglich direkt der Verbesserung motorischer Antworten auf sensorische Reize diente. Es wurde also eine Art Zwischenstufe zwischen Reiz und Reaktion etabliert, die es erlaubte, die Reaktionen so zu optimieren, dass das Tier bessere Überlebenschancen hatte. Auf dieser Grundlage bauen unsere kognitiven Lernprozesse auf. Daher ist es naheliegend, dass auch höhere kognitive Prozesse eng mit Wahrnehmung und Motorik verbunden sind. 6.7.2 Lernen im Schlaf Während der Enkodierung und der oben beschriebenen ersten Schritte der Konsolidierung wird die Information in Form elektrischer Aktivität von Nervenzellen aufrechterhalten. Zeitlich aufeinander abgestimmte Aktionspotentiale durchlaufen das neuronale Netz und bilden so die frisch aufgenommenen Inhalte ab. Verschiedene Hirnstrukturen kontrollieren diese Aktivitäten: Hippocampus und Frontalhirn (deklaratives Gedächtnis), Amygdala und andere Teile des limbischen Systems (emotional geprägte Gedächtnisinhalte), Kleinhirn und Striatum (prozedurales Gedächtnis). Diese Prozesse sind recht energieaufwendig. Sie gehen nicht nur mit erhöhtem Energieverbrauch für die Erzeugung elektrischer Impulse einher, sondern es bedarf auch einer Bereitstellung chemischer Botenstoffe an den Synapsen, zu deren Herstellung ebenfalls Energie benötigt wird. <?page no="185"?> 184 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? Für die Langzeitspeicherung von Wissen und Fertigkeiten nutzt das Gehirn eine weniger aufwendige, stabilere Kodierung. Sie besteht nicht in der Aktivität von Nervenzellen, sondern in einer Veränderung des neuronalen Netzes. Die Verbindungsstellen zwischen den Nervenzellen, die Synapsen, werden vergrößert, wenn die verbundenen Nervenzellen gleichzeitig besonders aktiv waren. Teilweise kommt es auch zu einer Neubildung von Synapsen in direkter Nachbarschaft der zuvor aktiven Synapsen. Dieser Umbau wird unterstützt durch Botenstoffe, die beispielsweise bei Erfolg des Verhaltens oder bei Lob ausgeschüttet werden (vgl. 6.7.1). Die Vergrößerung der Kontaktfläche an den Synapsen führt zu einer verbesserten Übertragung von Nervenimpulsen, die die Aktivierbarkeit derjenigen Netzwerke stärkt, die neu erworbenes Wissen bzw. neue Fähigkeiten repräsentieren. Damit sind die Gedächtnisinhalte nicht mehr als Nervenzellaktivität, sondern als anatomische Struktur gespeichert, die eine Aktivität des Gesamtnetzwerks dann unterstützt, wenn ein Teil des Netzwerks etwa durch einen Hinweis oder eine Aufgabe aktiviert wird. Die Aktivierung des Gesamtnetzwerks entspricht dann einem erfolgreichen Erinnern des jeweiligen Gedächtnisinhalts. Der Umbau und Ausbau von Synapsen findet nicht irgendwann statt oder dann, wenn man die Gedächtnisinhalte nur hinreichend wiederholt hätte. Vielmehr ist es offenbar so, dass der Organismus einen bestimmten physiologischen Zustand erreichen muss, um den Umbau durchzuführen. Dieser Zustand stellt sich während des Schlafs ein. Während des nächtlichen Schlafs wechseln Tiefschlafphasen mit weniger tiefen Schlaf- und Traumphasen ( REM -Schlaf) ab. Die Konsolidierung der verschiedenen Gedächtnissysteme erfolgt während unterschiedlicher Schlafphasen. Deklarative Gedächtnisinhalte werden während der Tiefschlafphasen konsolidiert. Diese Tiefschlafphasen treten überwiegend in der ersten Schlafhälfte auf. In dieser Zeit ist der Spiegel des (Stress-)Hormons Cortisol abgesenkt und es werden vermehrt Wachstumshormone ausgeschüttet. Während der Tiefschlafphasen lassen sich in EEG -Messungen langsame Gehirnwellen zeigen (slow wave sleep) sowie, gesteuert von Signalen des Hippocampus, sogenannte sharp wave ripples, bei denen die Nervenzellen in einem sehr synchronen Rhythmus feuern. Das präzise Timing der Nervenzellaktivität wird als äußerst wichtig für die Festigung des Gedächtnisses betrachtet (vgl. Gan et al. 2017). Nicht-deklarative, prozedurale Gedächtnisinhalte werden dagegen eher in der zweiten Nachthälfte konsolidiert, in der besonders viele REM -Schlaf-Phasen auftreten (vgl. Plihal & Born 1997). Auch emotionale Gedächtnisinhalte werden während des REM -Schlafs konsolidiert. Der Konsolidierungseffekt ist größer für schwach enkodierte Inhalte als für stark enkodierte, bereits vor dem Schlaf gut verankerte Inhalte sowie für explizit im Vergleich zu implizit gelernten Inhalten (vgl. Diekelmann et al. 2009). Kinder profitieren hinsichtlich deklarativer Gedächtnisinhalte noch stärker von Schlafphasen nach dem Lernen als Erwachsene (vgl. Backhaus et al. 2008). Neuere Untersuchungen legen nahe, dass zumindest bei Erwachsenen nicht nur Schlaf, sondern auch Ruhephasen, in denen zwar „der Geist frei umherwandert”, aber kein Schlaf auftritt, zur Konsolidierung von Gedächtnisinhalten beitragen können (vgl. Brokaw et al. 2016). Die in diesem Abschnitt dargestellte Bedeutung des Schlafs macht deutlich, dass an dieser Stelle die Eltern „mit ins Boot“ geholt werden sollten. Eine ausreichende Schlafdauer trägt erheblich zum Lernerfolg bei. Hier bedarf es der Unterstützung durch die Eltern. Ebenso sind <?page no="186"?> 185 6.7 Konsolidierung: Festigen von Gedächtnisinhalten kürzere Schlafpausen, etwa ein kurzer Mittagsschlaf nach den langen Lernphasen eines Schulvormittags in diesem Sinne hilfreich, auch wenn sie in unserer Gesellschaft eher unüblich sind (vgl. Ribeiro & Stickgold 2014). Natürlich können derartige Hinweise den Familien nur als Empfehlung gegeben werden. Schwieriger wird die Situation noch mit Einsetzen der Pubertät. Neben veränderten Interessen, u. a. aber nicht nur am anderen Geschlecht, und vorübergehenden Veränderungen in der Selbststeuerung zeigen Jugendliche ein verändertes Schlafverhalten (vgl. Böttger & Sambanis 2017: 21 ff.). Hormonell bedingt, tritt mit Einsetzen der Pubertät der Nachtschlaf immer später ein. Das ist von den Jugendlichen nur bedingt beeinflussbar. Entsprechend passen bei Jugendlichen die Schulanfangszeiten nicht zu ihrem Schlaf-Wach-Rhythmus. Darunter leidet durchaus die Aufnahmefähigkeit in den frühen Morgenstunden. Aufgrund des verkürzten Nachtschlafs könnte man zudem annehmen, dass die Konsolidierung von Gedächtnisinhalten beeinträchtigt ist. Interessanterweise ist die Gedächtniskonsolidierung bei Jugendlichen aber nicht beeinträchtigt, wenn man die Schlafzeiten künstlich verkürzt (vgl. Voderholzer et al. 2011). 15 Das gilt sowohl für das deklarative als auch für das prozedurale Gedächtnis, wenn das Schlafdefizit vier Tage andauert. EEG -Messungen belegen, dass die Jugendlichen unter diesen Bedingungen während des Schlafs veränderte Gehirnaktivitäten zeigen, bei denen die für die Konsolidierung wichtigen Phasen vermehrt und prozentual häufiger auftreten (vgl. ebd.). Ob das über längere Zeiträume als ein paar Tage erfolgreich ist, ist allerdings unklar. Daher scheint eine längere Schlafzeit, in der bei den Jugendlichen ein ausgewogeneres Verhältnis der Schlafphasen auftritt, durchaus wünschenswert. Während man der morgendlichen Aufnahmeschwäche z. B. durch Bewegung zu Beginn des Schultages entgegenwirken kann (vgl. Kap. 5), ist dem Schlafmangel bei den gegebenen Schulanfangszeiten nur schwer zu begegnen. Auch hier ist es so wie mit anderen Entwicklungsprozessen: Selbst wenn das Verhalten natürlich ist und den Jugendlichen keine Schuld zukommt, bedeutet das nicht, dass man es nicht beeinflussen kann. Ein regelmäßiger Tagesablauf und konsequente Gewöhnung an frühe Bettgehzeiten unterstützen früheres Einschlafen und eine längere Schlafdauer (vgl. Ribeiro & Stickgold 2014). Ein weiterer sehr wichtiger Einflussfaktor ist die Nutzung von Bildschirmmedien. Je intensiver die Nutzung dieser Medien in den letzten beiden Stunden vor der Bettgehzeit ist, umso schlechter ist die Schlafqualität und umso kürzer die Schlafdauer (vgl. Orzech et al. 2016). Für LED -Bildschirme (Flachbildschirmfernseher, Computermonitor) und E-Reader wurde der Effekt nachgewiesen. Er wird darauf zurückgeführt, dass die erhöhten Blauanteile im Licht dieser Geräte die abendliche Melatoninausschüttung hemmen 16 und so die hormonellen Voraussetzungen für den Schlaf verschlechtern. Bei Smartphones kommt zu 15 Getestet wurden Bettzeiten von 5, 6, 7, 8 und 9 Stunden. 16 Hohe Anteile blauen Lichts überwiegen bei Tageslicht in den Morgenstunden. Auf die Spektralzusammensetzung des natürlichen Morgenlichts reagiert der Körper, indem er den Hormonstatus so reguliert, dass der Mensch wach und leistungsfähig wird. Ähnliches Kunstlicht hat entsprechende Effekte und verhindert so das Einschlafen. Gegen Abend überwiegen Rotanteile im Tageslicht und der Körper bereitet sich entsprechend auf die nächtliche Ruhephase vor. <?page no="187"?> 186 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? dem blauen Licht oft noch die emotionale und kognitive Anregung hinzu, wenn Jugendliche z. B. in sozialen Medien kommunizieren. 6.8 Abruf, Erinnern und Vergessen Enkodierung und Konsolidierung sind Voraussetzung dafür, dass die im Gedächtnis gespeicherte Information bei Bedarf zur Verfügung steht, also auch gezielt abgerufen werden kann. Dies gelingt nicht immer. Verschiedene Prozesse können den Abruf und die Erinnerung stören oder zum Vergessen führen. Zunächst einmal ist der Erfolg des Abrufs davon abhängig, dass es gelingt, das neuronale Netzwerk, in dem das Gelernte repräsentiert ist, zu aktivieren. Dazu genügt es, einen Teil des Netzwerks durch geeignete Hinweise zu aktivieren. Derartige Hinweisreize sind immer Teil des Netzwerks und damit ein Teil der erlernten oder bereits zuvor vorhandenen Information, die während des Lernprozesses mit der neuen Information verknüpft wurde. Wurde nun aber gerade der Teil der Information, die als Hinweis beim Abruf eingesetzt wurde, nicht oder unzureichend enkodiert oder ist die Konsolidierung dieses Aspekts nicht gelungen, dann ist der Zugriff über diesen Hinweisreiz oder diese Teilinformation nicht möglich. Das bedeutet aber nicht, dass nichts gelernt wurde. Es fehlt vielleicht eben nur das Detail, mit dem der Gedächtnisinhalt wieder aktiviert werden soll. Je weniger Vorwissen in einem Bereich vorhanden ist, umso weniger gelingt es, Details neuer Inhalte fest zu verankern. Das steht im Zusammenhang mit der bereits beschriebenen Strategie, vorhandene Netzwerke zur Repräsentation neuen Wissens mit zu nutzen. In Wissensbereichen, in denen schon viele Inhalte vorliegen, existieren bereits umfangreiche neuronale Netze. Auf diese kann beim weiteren Wissenserwerb aufgebaut werden. Das hat mehrere Vorteile. In bereits vertrauten Gebieten erfolgt das Lernen schneller und es können mehr Details gespeichert werden (vgl. Brod et al. 2013), da nicht die Grundstruktur erst noch angelegt werden muss. Zudem sind die gebildeten Gedächtnisinhalte stabiler als in neuen Wissensbereichen (vgl. ebd.). Sozusagen aus Sicht des Gehirns ist diese Strategie naheliegend, da vorrangig die Inhalte gelernt werden, die in der vorliegenden Umwelt von besonderer Bedeutung sind. Diesen Wissensbereich auszubauen war unter natürlichen Bedingungen überlebenswichtig. Heute erlaubt sie den Menschen, Spezialisten in einem bestimmten Bereich zu werden. Umgekehrt stellt die Enkodierung und Konsolidierung völlig neuer Information in einem bisher unbekannten Wissensgebiet eine besondere Herausforderung dar und die Gedächtnisbildung ist weniger stabil und verlässlich als in Gebieten, in denen schon Vorwissen existiert. Die Verwendung von Analogien und Alltagsbeispielen kann hier unterstützend wirken. Bei ganz neu erworbener Information kann man zudem das episodische Gedächtnis als Träger des Hinweisreizes nutzen- - mit der Frage „Was haben wir gestern gelernt oder gemacht? “ Wie wir in Kapitel 6.4 gesehen haben, ist diese doppelte Repräsentation im episodischen und semantischen Gedächtnis für frühe Gedächtnisprozesse typisch und die Nutzung eine hilfreiche Abrufstrategie. Vielfach hilft es, sich in die ursprüngliche Erfahrungs- oder Lernsituation zurückzuversetzen, um insbesondere Details besser zu erinnern. Dieser <?page no="188"?> 187 6.8 Abruf, Erinnern und Vergessen sogenannte Kontexteffekt wurde mehrfach belegt, sowohl bei Erwachsenen (vgl. Godden & Baddeley 1975) als auch bei Kindern (vgl. Rovee-Collier 1993) und wird beispielsweise bei der Vernehmung von Zeugen erfolgreich eingesetzt. Auch der emotionale Zustand beeinflusst den Abruf von Erinnerungen. Gedächtnisinhalte lassen sich leichter abrufen, wenn unsere aktuelle Stimmung zur Erinnerung passt und zu der Situation, in der diese Erinnerung gebildet wurde. Letztlich ist auch der emotionale Zustand nichts anderes als eine bestimmte Variante des Kontexteffekts. Allerdings verblasst häufig nach einiger Zeit der episodische Aspekt des Lerninhalts und nur noch der semantische Anteil ist als allgemeines Wissen oder Weltwissen gespeichert. Dann hilft ein episodisch geprägter Hinweisreiz nicht mehr weiter. Zudem kann ein solcher Hinweisreiz in die Irre führen. Viele Lernende kennen die Situation: Man weiß noch, wann und wie man eine bestimmte Vokabel gelernt hat, weiß sogar, wie die Seite aussah, auf der sie stand-- aber die Bedeutung kann man nicht mehr erinnern. Daher bietet es sich an, zusätzlich Hinweisreize zu trainieren, die zum semantischen Gedächtnisbereich gehören, um den Abruf zu erleichtern. Das kann geschehen, indem das Wissen immer wieder in ähnlicher Weise mit inhaltsbezogenen Hinweisreizen abgefragt wird. Interessanterweise ist das wiederholte Abfragen nach einem initialen Lernprozess eine bessere Unterstützung für die Langzeitspeicherung als das (ebenso oft) wiederholte Darbieten der Information. Verschiedene Prozesse können zu diesem Effekt beitragen: die gegenüber der inzwischen langweilig gewordenen Darbietung veränderte Situation bei der Abfrage, die Eigenaktivität beim Antworten oder das Trainieren von Abrufhinweisen und mit dem Abruf verbundenen (Denk-) Prozessen, wodurch zwar nicht die Einspeicherung, wohl aber der Abruf verbessert werden kann. Besondere Schwierigkeiten bei der Enkodierung und Konsolidierung machen sinnfreie Inhalte, etwa Listen von Silben ohne Bedeutung oder Zahlenfolgen. Wie Ebbinghaus (1885) in seinen berühmten Experimenten zeigen konnte, werden solche Silbenlisten schnell wieder vergessen. Seine berühmten Vergessenskurven zeigen, dass bereits 20 Minuten nach dem Lernen 40 % der Silben vergessen wurden. Nach einem Tag ist nur noch ein Drittel der Information erhalten. Zu Beginn wird also schnell vergessen, später wird die Vergessenskurve flacher und die Behaltensleistung liegt auch nach drei Wochen noch bei 20 %, wenn der Inhalt eingangs gut gelernt wurde. Während man sinnlose Silben sehr schnell vergisst, bleiben inhaltlich relevante Informationen länger im Gedächtnis. Schülerinnen und Schüler haben z. B. nach drei bis sechs Tagen noch bis zu 90 % der erlernten Vokabeln im Gedächtnis, reine Inhalte, etwa Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten, die nicht nur gelernt, sondern auch inhaltlich verstanden werden können, werden kaum vergessen und auch Gedichte, in denen Semantik, Reim und Rhythmus einander unterstützen, werden besser behalten als zusammenhanglose Silben. Insgesamt zeigen die Resultate, dass Gedächtnisinhalte mit der Zeit verblassen. Der Gedächtnisspeicher zerfällt und zwar anfangs schnell und später langsamer, sodass das, was nach einigen Tagen oder Wochen noch als Gedächtnisinhalt gespeichert ist, dann auch zum größeren Teil im Gedächtnis erhalten bleibt. Das Verblassen nicht genutzter Gedächtnisinhalte ist durchaus sinnvoll. Schließlich haben die Inhalte im Alltag offensichtlich keine Relevanz. Die entsprechenden Nervenzellen werden sozusagen wieder freigegeben und können durch andere Verbindungen zu anderen Netzwerken beitragen und dadurch <?page no="189"?> 188 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? unabhängig vom ehemaligen, aber verblassten Gedächtnisinhalt neue Inhalte repräsentieren. Wird der Inhalt dagegen verwendet, also abgerufen, schützt das Gehirn Gedächtnisspuren vor dem Verblassen (vgl. Rasch & Born 2007). Dass Vorgänge des Vergessens trotz der enormen Anzahl an Nervenzellen und der großen Zahl neuronaler Verbindungen sinnvoll sein können, lässt sich u. a. am Phänomen der Interferenz erkennen. Als Interferenz wird es bezeichnet, wenn ein Gedächtnisinhalt die Enkodierung oder den Abruf eines anderen behindert. Eine Art der Interferenz ist die retroaktive Interferenz, bei der das neu Gelernte den Abruf des vorher vorhandenen Gedächtnisinhalts erschwert. Wenn man beispielsweise eine neue PIN -Nummer für die Bankkarte erhält, fällt es, wenn man die neue Nummer erlernt hat, zunehmend schwerer, die alte Nummer korrekt zu erinnern. Umgekehrt kann auch der zuerst erworbene Gedächtnisinhalt die Bildung neuer, konkurrierender Repräsentationen behindern, etwa wenn einem an einem Tag viele Menschen neu vorgestellt werden. Nach einigen neuen Bekanntschaften bekommt man das Gefühl, sich keine zusätzlichen Namen mehr merken zu können. Für deklarative Gedächtnisinhalte konnte gezeigt werden, dass die Konsolidierung während des Schlafens diese vor Interferenzen schützt (vgl. Ellenbogen et al. 2006). Enkodierung und Abruf können also aufgrund konkurrierender Informationen scheitern. Diese Form der Interferenz ist umso stärker, je ähnlicher sich neuronale Repräsentationen der Informationen sind (vgl. Ye et al. 2016). Es kann aber auch passieren, dass die Enkodierung gar nicht erst gelingt. Ist man z. B. geistig abwesend wenn man nach Hause kommt und legt den Schlüssel oder die Brille achtlos beiseite, während man in Gedanken bereits bei zu erledigenden Arbeiten oder in einem Gespräch mit der Familie ist, dann wird der Ablageort nicht enkodiert und kann später entsprechend nicht erinnert werden. Hier spielen die oben beschriebenen Aufmerksamkeitsprozesse eine erhebliche Rolle. Am anderen Ende des Spektrums liegen Phänomene, die allein durch Schwierigkeiten beim Abruf von Gedächtnisinhalten begründet sind. In einem solchen Fall wissen die Personen häufig, dass sie das Wissen eigentlich haben. Ein Begriff oder gesuchter Name liegt ihnen auf der Zunge, der Inhalt ist aber aktuell nicht zugänglich. Der von Frontalhirn und Hippocampus gesteuerte Zugriff gelingt gerade nicht. Die Gründe sind nicht ganz geklärt, erfahrungsgemäß hilft es aber, etwas abzuwarten und sich mit anderem zu beschäftigen. Auch der Versuch über eine Rekapitulation des Kontexts, in dem das Wissen erworben wurde, die Erinnerung zu erleichtern, ist vielversprechend. Zudem stört (psychosozialer) Stress, z. B. Versagensängste bei Prüfungen, den Abruf deklarativen Wissens. Neuere Untersuchungen legen nahe, dass in solchen Fällen nicht nur die korrekten, aktuell abzurufenden Informationen aktiviert werden, sondern zusätzlich weitere, oft auch überholte oder unzutreffende Informationen, die mit dem Abruf der korrekten Information konkurrieren (vgl. Merz et al. 2016). Grundsätzlich sind Gedächtnisinhalte nicht völlig stabil. Bei jedem Erinnern und Nutzen werden sie aufs Neue von dem neuronalen Netz, in dem sie repräsentiert sind, verarbeitet. Dabei werden sie angepasst, verändert, mit neuen, inzwischen gemachten Erfahrungen und mit der aktuellen Situation, in der sie verwendet werden, verknüpft (vgl. Besnard et al. 2012). Eine solche Aktualisierung von Gedächtnisinhalten ist durchaus sinnvoll und hilft, sich immer wieder flexibel an neue Gegebenheiten und Erkenntnisse anzupassen. Aller- <?page no="190"?> 189 6.8 Abruf, Erinnern und Vergessen dings führt diese permanente Veränderung von Gedächtnisinhalten dazu, dass unser Gehirn nicht das abbildet, was tatsächlich geschehen ist oder unterrichtet wurde, sondern das, was es unter verschiedenen Einflüssen daraus gemacht hat. Dadurch kann es zu Verzerrungen von Gedächtnisinhalten kommen, sodass diese nach einiger Zeit z. B. wieder besser zu den ursprünglichen Präkonzepten der Lernenden passen und nicht zum korrekten, im Unterricht vermittelten Konzept. Besonders bei Kindern lassen sich Veränderungen der Gedächtnisinhalte beim Erinnern feststellen. So findet man Konfabulationen, also das Zufügen von Informationen, etwa um Gedächtnislücken zu schließen, Unerklärbares schlüssig darzustellen oder einfach, weil bestimmte Dinge in dem Setting, über das das Kind gerade berichtet, häufig vorkommen-- selbst wenn es in der konkreten Situation, über die berichtet wird, ausnahmsweise einmal anders war (vgl. Schacter et al. 1995). Neurobiologische Grundlage für diese Gedächtnisproblematik ist das noch unreife Frontalhirn von Kindern, das ja zusammen mit dem Hippocampus für die Enkodierung und den Abruf von deklarativen Gedächtnisinhalten von zentraler Bedeutung ist (vgl. Shing et al 2016). Dieser Zusammenhang erklärt auch, warum Kinder dazu tendieren Personen, Objekte oder Situationen scheinbar zu erinnern, die sie so nie gesehen bzw. erlebt haben (vgl. Schacter et al. 1995). Ein weiterer typischer Gedächtnisfehler ist, dass Informationsquellen vergessen oder verwechselt werden, etwa dass Lernende glauben, ein Inhalt sei so im Unterricht vorgekommen, obwohl sie ihn tatsächlich in einem beispielsweise veralteten Buch oder im unzuverlässigen Internet gefunden haben. Leicht kann es so zur Einbindung fehlerhafter Informationen kommen, insbesondere, wenn diese plausibel und einfach erscheinen (vgl. van Kesteren et al. 2016). Auch hier erinnern besonders Kinder sich häufig nicht, woher sie eine Information haben (vgl. Schacter et al. 1995). Damit fällt es ihnen schwer, die Verlässlichkeit und Richtigkeit der jeweiligen Information bzw. deren Quelle einzuschätzen. Als letzter Aspekt der Fehlleistungen des Gedächtnisses sei hier noch das „absichtsvolle“ Vergessen oder die „absichtsvolle“ Verzerrung genannt. Bei der automatischen Überarbeitung von Gedächtnisinhalten beim Abruf sind nicht nur die oben genannten Faktoren einflussreich, sondern auch die eigenen Erwartungen und das Selbstbild. Gibt es Diskrepanzen zwischen Gedächtnisinhalt und dem eigenen Selbstbild, dann tendiert das Gehirn dazu, die Gedächtnisinhalte entsprechend anzupassen. Das findet natürlich nicht bewusst statt, insofern ist das hierfür verwendete Adjektiv „absichtsvoll“ nicht ganz zutreffend. Allerdings dient der Mechanismus der Aufrechterhaltung eines stabilen Selbstkonzepts und damit sowohl der psychischen Gesundheit als auch der Ausbildung eines stabilen, für andere berechenbaren Verhaltens. Insgesamt ist die Flexibilität und Veränderbarkeit von Gedächtnisinhalten durchaus positiv zu beurteilen. Sie erlaubt die Anpassung an neue Situationen und neues Wissen, die Korrektur von Konzepten und Fehlinformationen und die Aufrechterhaltung eines hilfreichen Selbstbilds der eigenen Person (vgl. Kroes & Fernández 2012). Man darf nur nicht davon ausgehen, dass im Gedächtnis in irgendeiner Form eine „Wahrheit“ gespeichert wäre, dass Erinnertes tatsächlich so passiert sei und die auf Erfahrungen basierenden Konstrukte und Kategorien immer zuträfen. <?page no="191"?> 190 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? Bezogen auf einfache Reiz-Reaktions-Assoziationen und Konditionierungen, gibt es noch eine weitere Form des Vergessens: die Löschung. Früher nahm man an, dass ein durch Assoziationsbildung erworbenes Verhalten wieder verschwindet, also gelöscht wird, wenn es nicht belohnt wird. Aus diesem in der psychologischen Lernforschung begründeten Konzept leitete man die Empfehlung ab, unerwünschtes Verhalten bei Kindern nicht durch negative Zuwendung wie Ermahnungen u. ä. zu verstärken, sondern vielmehr das Verhalten zu ignorieren, in der Annahme, dass es durch Nichtbeachtung gelöscht wird. Inzwischen geht man davon aus, dass es sich bei der sogenannten Löschung in Wirklichkeit um einen neuen Lernprozess handelt (vgl. Dunsmoor et al. 2015). Dementsprechend muss man die pädagogische Vorgehensweise noch einmal überdenken, zumal es eventuell günstigere Möglichkeiten gibt, ein Umlernen zu unterstützen, als das Ignorieren des unerwünschten Verhaltens. An diesem Beispiel wird deutlich, dass aus dem jeweils aktuellen Stand der Wissenschaft abgeleitete Empfehlungen auch immer darauf hin geprüft werden sollen, ob sie sich in der Praxis bewähren.  Praxisfenster Claudia: Die Fähigkeit des Gehirns, zu lernen und das auszubilden, was wir als Gedächtnis bezeichnen, ist wirklich ein Thema mit so vielen Facetten, dass man zwischendurch schon meinen könnte, von all den Informationen müsse irgendwann der Speicher da oben überlaufen. Gesa: Dass das aber nicht so ist, weil das Gehirn ganz anders funktioniert als ein Computer, wissen wir ja schon. Kein Grund zur Sorge also, außerdem gibt es auch noch die Löschmechanismen, das Vergessen. Claudia: Ja, aber genau das ist der Punkt: Das Wissen rund um das Gedächtnis ist so wertvoll und zentral, z. B. für uns als Lehrkräfte, dass man am liebsten nichts davon vergessen möchte. Ich für meinen Teil hoffe auf gute Konsolidierungsprozesse, also darauf, dass in der Nachbereitung viel gefestigt wird, ins Langzeitgedächtnis kommt und dort hängen bleibt. Dianne: Außerdem kannst du auf die Möglichkeit, dem Vergessen durch Üben und Wiederholen entgegenzuwirken, setzen, also das reaktivieren und anwenden, was dir besonders wichtig erscheint. Das erhöht die Chancen, dass anderes gelöscht wird. Peter: Wir haben vorhin gehört, dass sich Visualisierungen eignen, um Inhalten Relevanz zu geben und sie bewusst zu machen, zu sortieren, einzuordnen, d. h. sich Inhalte anzueignen, indem man ihnen eine eigene Form verleiht. Mit meinen Klassen lege ich mitunter sogenannte Landschaften des Wissens und Könnens an. Das funktioniert ganz einfach: Wir blicken zurück auf einen Input oder eine Unterrichtseinheit, zeichnen z. B. auf ein großes Papier, zunächst einen Pfad, der unseren Lernweg, sozusagen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, darstellt. Dort platzieren wir Schlagwörter, mit denen wir das Thema verbinden und daran geschulte Kompetenzen benennen können. Die Schlagwörter repräsentieren die aus unserer Sicht wichtigsten Aspekte, Inhalte und Zugewinne. Sie werden entweder auf den Weg selbst geschrieben oder die Skizze wird ergänzt, z. B. durch Meilensteine am Wegrand oder landschaftliche Elemente, denen ein besonders wichtiges Schlagwort zugeordnet wird. Das Erstellen der Landschaft des Wissens ist ein gemeinschaftlicher Prozess des Wiederholens und Vergegenwärtigens, also letztlich ein zusammenfassendes Üben bei <?page no="192"?> 191 6.8 Abruf, Erinnern und Vergessen dem wir vor allem versuchen, das Thema auf Kernaussagen zu bringen. Das entstehende Bild - wir achten darauf, dass einigermaßen zügig gezeichnet wird, die künstlerische Qualität ist hierbei nicht vorrangig - ist eine Art persönlicher Besitz der Klasse, der zugleich den Schülerinnen und Schülern Lernzuwächse vor Augen führt. Tatsächlich prägen sich viele der dort vermerkten Elemente ein, nicht zuletzt solche, die an einem besonderen Ort innerhalb der Landschaft platziert wurden. Dinge, von denen wir merken, dass sie noch nicht sicher verankert sind, platzieren wir deshalb oft bewusst an einem besonderen Ort und legen diese Stichwörter nicht einfach auf dem Weg ab. Gesa: Durch das Erstellen der Landschaft erreichst du, dass das, wofür sich das Gehirn eigentlich nicht mehr so brennend interessiert, da es im Unterricht schon thematisiert wurde, in einem neuen Gewand daherkommt und dass das Gehirn auf diese Neuigkeit anspricht. Außerdem ist deine Landschaft ein Vorschlag dafür, wie durch methodische Maßnahmen für bedeutungsvolle soziale Interaktion gesorgt wird und damit wiederum die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, dass die Schülerinnen und Schüler, wenn sie sehen, dass sich bereits mehrere beteiligen, auch mitmischen, also mit der Gruppe mitschwingen wollen: Die Relevanz des Übens und Wiederholens wird erhöht, weil man sieht, dass es die ganze Klasse betrifft, und das Üben keineswegs eine Strafe darstellt, die den Einzelnen trifft. Eigentlich passiert hier Lernen durch Nachahmen des Partizipationsverhaltens und, wenn man Glück hat, mischt noch ein Quäntchen Neugier auf das entstehende Produkt mit. Wenn dann noch hinzukommt, dass die Lehrkraft, die die Aktivität anstößt und moderiert, Unterrichtsenthusiasmus zeigt, dann ist das in der Tat eine günstige Konstellation. Claudia: Unterrichtsenthusiasmus hast du ohne Zweifel, Peter, und außerdem hast du mich mit deiner Landschaft auf eine Idee gebracht. Die könnte ich direkt mal ausprobieren, um mir möglichst viel von den Informationen zum Gedächtnis zu merken. Während deine Landschaft zunächst einmal ein Ortssystem ist - man geht mit den Lernenden zusammen einen Weg entlang, wo man auf verschiedene Einträge hier und da trifft - könnte man die Objektverknüpfung, die dein Vorgehen zusätzlich beinhaltet, z. B. zum Ablegen noch fragiler Gedächtnisinhalte, sicher auch alleine nutzen. Dianne: Jetzt bin ich gespannt. Kannst du uns gleich mal mit Beispielen zum Gedächtnis erklären, was du meinst? Claudia: Versuche ich gerne. Also, die grundlegende Idee ist die, Inhalte an Objekte zu koppeln und sich mit diesen Objekten Vorstellungsbilder zu schaffen, die auch seltsam sein dürfen und dadurch einprägsam, zusammen mit den gedanklich gekoppelten Inhalten “merk-würdig” werden. Konkret: Ich stelle mir mein Gehirn als einen Blumenkohl vor. Der soll Inhalte abspeichern, und, wie wir gehört haben, unterscheidet man verschiedene Gedächtnissysteme. Mein Blumenkohl hat deswegen eine Zollerklärung dabei und zwei Kisten, die er deklariert - deklaratives Gedächtnis, Zollerklärung, ihr versteht, was ich meine. Auf der einen Kiste steht “semantisch”. Wir schauen rein und finden darin Zahlen und Buchstaben, mit denen man wunderbar Fakten niederschreiben kann. Die Buchstaben sind Kekse, Russisch Brot, kennt ihr alle. Lecker! Okay, ich gehe gerade ziemlich ins Detail, aber es muss schließlich ein lebhaftes Bild sein. Die Zahlen stelle ich mir als diese kunterbunten Plastikzahlen mit Magnetstreifen auf der Rückseite vor, mit denen ich als Kind den Kühlschrank von außen geschmückt habe. Weiter geht es in meinem Bild und damit zu der zweiten Kiste, die der Blumenkohl zu deklarieren hat. “Episodisch” steht drauf, wir öffnen den Deckel und entdecken darin unzählige Seifenblasen. Sie schimmern und in ihrem Innern erkennt man Personen und Orte. Sie sind mir alle bekannt, denn es sind meine Erlebnisse, es ist meine <?page no="193"?> 192 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? Geschichte. Mehr hat der Blumenkohl nicht zu deklarieren, nur die beiden Boxen „semantisch“ und „episodisch“. Alles andere, was er mit sich führt, ist nicht-deklarativ. Dianne: Also bei mir hat das funktioniert mit dem Imaginieren. Das deklarative Gedächtnis ist für mich ab sofort als Blumenkohl mit Zollerklärung und zwei Boxen verankert. Wirklich schräg und, wie du sagst, gerade deswegen tatsächlich merk-würdig. Es wird immer wieder betont, dass es die eine richtige Lerntechnik nicht gibt, dass in der Regel gilt: Möglichst vielfältig lernen und mit Vorgehen, die das jeweilige Gedächtnissystem auch tatsächlich adressieren. Beim Memorieren von Fakten, also das deklarative Gedächtnissystem ansprechend, hilft z. B. auch, Fakten in Geschichten einzubetten und vor allem, egal ob durch eine Geschichte oder ein Bild wie bei deinem Blumenkohl-Hirn, mit Bedeutung und Emotionen zu belegen. Fertigkeiten hingegen, wie z. B. die Aussprache eines neuen Worts oder Bewegungsabläufe im Sport oder beim Spielen eines Instruments, bedürfen des wiederholten Ausführens der Bewegungsabläufe. Das kann unterstützt werden durch das gedankliche Durchspielen der Bewegungsabläufe sowie, falls nötig, ein Zerlegen der Bewegungsabfolge in Bausteine, das gedankliche und das tatsächliche Üben dieser Bausteine und schließlich der gesamten Abfolge. In solchen Fällen geht es um motorische Programme und, um auch das den Gedächtnissystemen zuzuordnen, ums prozedurale Gedächtnis - eines der drei Gepäckstücke, die der Blumenkohl nicht deklarieren musste, weil sie zum nicht-deklarativem Gedächtnis zählen. Jetzt reicht es aber mit den Blumenkohl-Anspielungen. Wirklich, Claudia, da hast du mir mit deinem Bild einen visuellen Ohrwurm ins Hirn gesetzt, was durchaus für die Wirksamkeit dieser eigentlich einfachen und zugleich auch kreativen Technik spricht. Gesa: Gegen Ohrwürmer soll angeblich das Kauen von Kaugummi helfen. Ob das auch in deinem Fall hilft, kann ich dir allerdings nicht sagen. Ich würde dich aber sofort als Probandin annehmen. Dianne: Nett von dir, ich fühle mich geehrt, aber lass mal, ich möchte das Bild ja gar nicht wieder loswerden. Im Gegenteil! Lasst uns weiter nachdenken über Techniken, die die Gedächtnisbildung unterstützen und Lernen begünstigen können. Ich bin da irgendwie gerade voll im Flow. Claudia: Verknüpfungen herstellen und Knotenpunkte im Wissen sichtbar machen. Auch dazu könnte man Peters Landschaften nutzen als Anstoß und zum Visualisieren. Beispielsweise zeichnet man rasch eine Brücke, die von einem Eintrag in der aktuellen Landschaft ausgehend zu einem anderen Thema eine Verbindung schafft. So ließen sich sogar mehrere Landschaften miteinander verbinden. Peter: So naheliegend, und doch war ich noch nicht selbst auf die Idee des Verbindens unserer Landschaften des Wissens gekommen. Wird ausprobiert, danke für den schönen Impuls. Bei vielen Lernvorgängen ist, wie wir gehört haben, die Ausrichtung der Aufmerksamkeit entscheidend. Wenn ich das korrekt verstanden habe, sonst korrigiert mich bitte sofort, bildet die Aufmerksamkeit eine Vorausbedingung für bewusste Verarbeitung und diese ist wiederum besonders wichtig und unerlässlich für den Aufbau von semantischem und episodischem Wissen. Keine Einwände, wie ich sehe, dann möchte ich aus unterrichtsmethodischer Sicht ergänzen, dass es meiner Erfahrung nach wichtig und für Lernerfolg und Lernmotivation unerlässlich ist, die Aufmerksamkeit auf das wirklich Wichtige zu richten. Obschon es manchmal nicht leicht fällt, wenn man als Lehrkraft den Unterricht vorbereitet, Dinge wegzulassen oder zurückzustellen, aber niemals ist alles wirklich wichtig und schon gar nicht zur selben Zeit im Lehr- und Lern-Prozess. Es gibt immer besonders Relevantes und weniger Wichtiges, da muss man sich dann auch mal zügeln in seinem Fachenthusiasmus. <?page no="194"?> 193 6.8 Abruf, Erinnern und Vergessen 17 Eine der Studien hierzu stammt von Marcus et al. (1999). Sie wird im Kontext der Frage, wie wir Regeln lernen, von Spitzer (2001) kompakt referiert. Für ein ähnliches Experiment vgl. Friederici (2011). Gesa: Und dabei kann es eben auch helfen, wenn Unterrichtsinhalte so aufbereitet werden, dass Muster und ordnungsgebende Strukturen bzw. Handlungsschritte sichtbar werden. Das Gehirn kann schon sehr früh in seiner Entwicklung mit Mustern umgehen und diese herausfiltern. Das entlastet das Gehirn, weil Muster, besonders solche, denen man wiederholt begegnet, mit wenig Aufwand, somit energiesparend und die verfügbaren Kapazitäten entlastend vom Gehirn wieder abgerufen und zur Anwendung gebracht werden können. Claudia: Du sagst, das Gehirn beginnt schon früh, sich dieser Strategie zu bedienen. Kann man sagen, ab wann es das kann? Gesa: Es gibt Studien mit Kleinkindern, denen man Silbenfolgen vorspielt, die einem bestimmten Muster folgen, z. B. gatiga, die erste und die dritte Silbe sind gleich. Schon sieben Monate alte Kinder habituieren sich rasch an eine solche Silbenfolge und erkennen auch das zugrundeliegende Muster. Claudia: So früh schon? Und woher weiß man, dass sie das Muster erkennen? Fragen kann man sie ja wohl schlecht. Gesa: Man erkennt es besonders an der Blickfixierung: Ändert man das Muster, sodass neue dreisilbige Nichtwörter entstehen, halten fast alle Kinder inne und lassen den Blick ruhen, d. h. sie wenden dem eingespielten Sprachmaterial neue Aufmerksamkeit zu, während sie das schon vertraute Muster nur noch durchrauschen lassen. Sie sind sozusagen verblüfft über das Sprachmaterial mit neuem Grundmuster. Nicht die Silben sind neu, sondern der zugrundeliegende Bauplan für das Zusammenfügen von wiederum jeweils drei Silben ist ein anderer als zuvor. 17 Claudia: Ich kann’s kaum fassen, so früh schafft sich das Gehirn schon durch das Herausfiltern von Mustern und regelhaft Wiederkehrendem einen Überblick in der Vielfalt? Bin beeindruckt. Gesa: Ja, so früh und ja, beeindruckend und clever, aber auch notwendig. Wir können festhalten, dass Musterextraktion ein wichtiges Arbeitsprinzip des Gehirns darstellt. Dianne: Was für die Gestaltung von Unterricht sowohl inhaltlich als auch im Hinblick auf die Organisation von Arbeitsprozessen von Bedeutung ist. Gesa: Denke ich auch. Ein weiteres grundlegendes Arbeitsprinzip ist das Sinnsuchen. Das Gehirn versucht stets, irgendeinen Sinn in dem zu entdecken, was uns begegnet oder einen Sinn dort hineinzulegen. Wenn das dem Sinnsucher nicht gelingt oder wenn Unklarheiten bestehen, wird es mit dem Lernen oft ziemlich schwierig oder ganz aussichtslos. Peter: Ich glaube, ich habe ein Alltagsbeispiel dafür, was passiert, wenn unser Gehirn als Sinnsucher derart tätig wird, dass es selbst einen Sinn in etwas hineinlegt. Im Radio habe ich vor einiger Zeit ein Lied von Lady Gaga gehört, Alejandro hieß es. Darin gibt es eine Textpassage, die ich akustisch nicht richtig verstehen konnte. Mein Gehirn machte daraus „she’s got both hens in a bucket“. Es kam mir schon irgendwie komisch vor, dass Lady Gaga davon singt, beide Hennen in einem Eimer zu haben, aber es ergab so zumindest einen Sinn und ich konnte das Lied entspannt zu Ende hören, ohne von dieser Unklarheit genervt zu sein. Ein Kollege von Musik hat mir dann erklärt, dass sie keineswegs beide Hennen in einem Eimer habe, sondern „both hands in her <?page no="195"?> 194 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? 18 Vgl. hierzu Wahl (2006). 19 Das Zitat geht zurück auf Gnutzmann (2016: 78). pocket“. Zugegebenermaßen macht das sogar mehr Sinn als das, was mein Gehirn aus diesem Verhörer gemacht hat. Gesa: Kann mir lebhaft vorstellen, wie du wegen der beiden Hennen im Eimer gegrübelt hast! An das Beispiel Verhörer in Liedtexten hatte ich bisher noch gar nicht gedacht, aber du hast Recht: Es illustriert die Sinnsuche unseres Gehirns auf eine sehr anschauliche, allen vertraute Weise. Unter Abgleich dessen, was an lautlicher Information extrahierbar ist, mit dem, was im Gedächtnis gespeichert ist, sucht das Gehirn nach Passendem und generiert Sinn. Dianne: Was unklar bleibt, wird vermutlich in anderen Fällen, z. B. beim Lernen, als nicht relevant oder nicht lernbar klassifiziert und ausgeblendet. Das spricht für Klarheit und unterstreicht, wie wichtig es ist, den Lernenden die Möglichkeit zu geben, Sinn zu erkennen und Muster zu identifizieren, diesen Prozess z. B. durch Advance Organizers zu unterstützen. Deine Idee mit der Landschaft ist letztlich auch ein Organizer, ein rückblickender, zusammenführender. Solche Maßnahmen scheinen wichtig, sinnvoll und fruchtbar, 18 ganz besonders dann, wenn Lernen, wie in institutionellen Kontexten, zeitlichen Zwängen unterliegt. Ich halte derlei gerade dann nicht für Zeitverschwendung, sondern für sehr angemessen. Denn letztlich geht es uns ja darum, dass Inhalte möglichst dauerhaft im Gedächtnis gespeichert werden und dass der Zugriff schnell erfolgen kann. Dass Vergessen ebenfalls eine wichtige Leistung des Gehirns ist und notwendig, damit das Gehirn effektiv arbeiten und stets weiter für Neues empfänglich sein kann, steht außer Frage. Aber, mal im Hinblick auf schulisches Lernen gesprochen: Man muss sich wohl um das Vergessen deutlich weniger Sorgen machen als um das Behalten. Claudia: O ja, ein Dauerthema, schon im Studium guckt man sorgenvoll auf die Vergessenskurve von Ebbinghaus und fragt sich, wie man dem Einhalt gebieten könne. Dianne: Gutes Stichwort: Vergessenskurve. Der deutsche Psychologe Ebbinghaus gilt mit seinen Versuchen zum Lernen von Silben als Vorreiter der Vergessensforschung. Man kann, wie gesagt, durch den Vergleich unterschiedlicher Kurven sehr schön zeigen, dass man Inhalte, die keinen Sinn ergeben, z. B. die Silben des Herrn Ebbinghaus, besonders rasch wieder vergisst. Peter: Siehst du, das passiert, wenn der Sinnsucher nicht fündig wird und nicht einmal zwei Hennen im Eimer aus den Silben machen kann. Gesa: Nette Querverbindung, Peter. Die Kurven verlaufen nämlich tatsächlich weniger stark abfallend, wenn eine Einbettung stattfindet, z. B. in ein Gedicht oder einen Merkspruch, und, um das nochmal ganz klar zu sagen, am geringsten ist die Vergessensrate bei einem persönlichen Bezug und emotionaler Beteiligung. Natürlich, und darüber sind wir nach all dem Wissenswerten zum Gedächtnis gut informiert, nehmen weitere Faktoren Einfluss, darunter die Art der Enkodierung, der Grad der Wachheit des Lernenden, was wiederum Einfluss auf die Aufmerksamkeit hat,… Dianne: … und das Üben. Ein Kollege bezeichnete kürzlich Üben als „‚alternativlose[n]‘ Schlüssel für erfolgreiches […] Lernen“. 19 Hattie referiert Studien, die Hinweise enthalten, dass es „three to four exposures to the learning“ geben müsse und er weist auf die „power of spaced rather <?page no="196"?> 195 6.8 Abruf, Erinnern und Vergessen 20 Hattie 2009: 186. Die ermittelte Effektstärke stützt sich auf eine überschaubare Anzahl an Metaanalysen, nämlich zwei, in denen jedoch immerhin 63 Studien berücksichtigt wurden (vgl. ebd.: 162). 21 Vgl. Pulvermüller 2016: 79. 22 Es handelt sich um die in der Didaktik des Englischen an der FU Berlin betreute Arbeit von Thiele (2016). than massed practice“ hin. 20 Die Effektstärke liegt bei d = 0.71. Nun gibt es aber z. B. aus der Sprachtherapie Befunde, die belegen, dass es besonders zu Beginn wichtig ist, die Intervalle, in denen Üben stattfindet, kleinzuhalten, sie also nicht im Sinne von spaced practice, sondern als massed practice zu organisieren. Man nennt das auch Hochfrequenzprinzip. 21 Ohne behaupten zu wollen, dass schulisches Lernen und Sprachtherapie dasselbe wäre, stellt sich mir doch die Frage, ob es im Verlauf eines Lernprozesses nicht auch Phasen gibt, in denen das Gehirn von intensivem Üben mit geringen Abständen dazwischen in besonderer Weise profitieren könnte. Im Rahmen einer Masterarbeit wurde dazu kürzlich eine Studie mit Datenerhebung bei Achtklässlern durchgeführt. 22 Es ging darum, gemessen an der Lernleistung bei neuen Vokabeln, die Frage zu klären, ob die Anwendung von spaced learning (spL) im Englischunterricht zu empfehlen sei und ob auch massed learning (mL) eine Berechtigung habe. Die Probanden, es waren 72 Schülerinnen und Schüler, wurden in drei Gruppen eingeteilt und zwar auf Gruppenebene randomisiert: eine spL- und eine mL-Gruppe sowie eine Kontrollgruppe, in der die Vokabeln eingeführt und in der den Lernenden vertrauten Weise als Hausaufgabe aufgegeben wurden. In den beiden Übungsgruppen wurden die Wörter nicht als Hausaufgabe gegeben, dafür aber im Unterricht auf unterschiedliche Weise geübt. In der mL-Gruppe handelte es sich um ein akkumuliertes Lernen eine Schulstunde lang mit unterschiedlichen Übungen. In der spL-Gruppe wurden dieselben Übungen gestreut, wobei die Übungszeit in der Summe der mL-Gruppe entsprach. Zu zwei Messzeitpunkten wurden Daten erhoben, d. h. zwei Drittel der eingeführten Vokabeln wurden in einem Test abgefragt. Auf diese Weise sollten Hinweise dazu generiert werden, wie spL und mL die Behaltensleistung beeinflussen und ob möglicherweise eine Subgruppe (Leistungsdrittel) von einem der Verfahren besonders profitiert. Claudia: Ich würde darauf tippen, dass die spL-Gruppe am besten abgeschnitten hat. Dianne: Insgesamt betrachtet kann ich das bestätigen. Sie hatte die größte Stabilität über die Zeit, aber die mL-Gruppe schnitt zum ersten Messzeitpunkt besser ab als die spL, allerdings zeigte sich zum zweiten Messzeitpunkt nach zehn Tagen dann ein Verwaschungseffekt in der mL-Gruppe, die aber selbst damit noch deutlich besser abschnitt als die Kontrollgruppe. Die überzeugenden Ergebnisse von mL zum ersten Messzeitpunkt könnten als Hinweis dafür ausgelegt werden, dass auch jenseits von Sprachtherapie mL, gefolgt von spL optimal sein könnte. Dazu kann gerne noch weiter geforscht werden. Peter: Hat sich auch etwas im Hinblick auf die Leistungsdrittel ergeben? Dianne: Ja, spannenderweise haben die Schülerinnen und Schüler im Bereich der Vornoten 3, 4, 5 besonders von spL profitiert. Bei Lernenden, die sonst bei Note 4 im Englischunterricht lagen, gab es bei spL die deutlichsten Profite. Sie wurden bis zu zwei Noten besser. Das darf man nicht überbewerten und, wie gesagt, es sollten hier weitere Studien, auch in anderen Schulfächern, durchgeführt und dann die aktuellen Befunde zusammengebracht werden. Trotzdem finde ich, die generierten Erkenntnisse sind es wert, kommuniziert zu werden. <?page no="197"?> 196 6. Gedächtnis: Was haben wir im Kopf und wie kommt es da hin? Ausgewählte Literaturhinweise Dumont, H., Istance, D. & Benavides, F. (2015): The Nature of Learning-- Die Natur des Lernens. Weinheim: Beltz Edelmann, W., & Wittmann, S. (2012): Lernpsychologie. Weinheim: Beltz. Monyer, H. & Martin Gessmann, M. (2015): Das geniale Gedächtnis: Wie das Gehirn aus der Vergangenheit unsere Zukunft macht. München: Knaus. 23 Zu Aktionsforschung als Werkzeug der Qualitätssicherung und -entwicklung vgl. die Infobox in Kap. 3. Peter: Unbedingt, denn sie geben Anstöße, und ich überlege auch schon, dazu ein Aktionsforschungsprojekt durchzuführen, um herauszufinden, ob spL nach mL meine Lernenden unterstützt. 122 Gesa: Wenn du das machst, nicht vergessen: Lass uns wissen, was du herausgefunden hast. So interessant das alles ist, aber ich fürchte, wir müssen langsam zum Schluss kommen. Und eigentlich unpassenderweise würde ich gerne - verkehrte Welt! - als Abschluss unserer Diskussion noch etwas ansprechen, das sonst eigentlich an den Anfang gehört, nämlich das Setzen eines persönlichen Ziels. Damit ist gemeint, dass sich Lernende, Studierende, Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Fortbildungsveranstaltung etc. vor einer Input- oder auch Übungsphase ein persönliches Ziel setzen sollen und dieses am besten in einer kurzen Notiz schriftlich festhalten. So behalten sie ihr Ziel im Blick. Am besten formuliert man das Ziel im Anschluss an die Bekanntgabe des Themas sehr konkret: Ich möchte den bevorstehenden Input oder das heutige Referat dazu nutzen, um …, z. B. etwas zu lernen über…, nach Möglichkeit Antworten auf folgende Fragen zu finden … usw. Mit diesem persönlichen Vorhaben im Kopf lautet dann die Devise, zur Erreichung des Ziels das Maximum aus dem herauszuholen, was im Folgenden angeboten wird bzw. stattfindet. Ein sich selbst gesetztes Ziel wirkt als Anreiz und kann wirkungsvoll zur Ausrichtung und Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit beitragen. Nach dem Input oder gegen Ende der Schulstunde erscheint es wertvoll, wenn alle kurz reflektieren, was zur Erreichung des Ziels beigetragen hat bzw. welche Faktoren sich als hinderlich erwiesen haben. Das gibt uns Ansatzpunkte, weiter an Faktoren wie z. B. der Refokussierung der Aufmerksamkeit zu arbeiten, die wir selbst beeinflussen können und zu anderen Faktoren Feedback zu geben. Das Vorgehen trägt nicht nur dazu bei, sich selbst durch die Zielsetzung herauszufordern und zu verpflichten, sondern es kann auch die Qualität von Feedback erhöhen. <?page no="198"?> 197 Epilog im Praxisfenster Dianne: Ich denke, für dieses Mal sind wir auf der Zielgeraden unserer Entdeckungsreise zu Wissensbeständen samt Austausch angekommen. Viele Anstöße und Ansatzpunkte zum Weiterdenken nehme ich mit. Gesa: Und Lust aufs Weiterforschen. Außerdem eine wichtige Botschaft für mich aus dem Vorausgegangenen: Im Gespräch bleiben! Claudia: Was ich beeindruckend finde, ist, dass es sicher schon bald wieder weitere neue Erkenntnisse gibt, auf die ich schon gespannt bin, dass aber auch wir Praktiker zur Erweiterung des Wissensstands beitragen können und bei der Aufschlüsselung von Erkenntnissen eine ganz wichtige Rolle spielen. Dianne: Du sagst es, das Verknüpfen von Wissensbeständen nach kritischer Rezeption und der Dialog zwischen den Wissenschaften sowie - ganz wichtig in unserem Fall! - zwischen Wissenschaft und Praxis, ist ein Prozess. Er kann mit einem Buch beginnen, ist aber gewiss nicht damit abgeschlossen, auch nicht dann, wenn auf dem Cover so etwas wie Neurodidaktik oder eben Didaktik und Neurowissenschaften steht. Gesa: Zur Festigung wichtiger Gedächtnisinhalte wäre es jetzt gut, nochmal zurückzublicken und über Schlüsselwörter, Visualisierung oder Ähnliches relevante Informationen und Gedankengänge gezielt nachklingen zu lassen. Also unsere Reise, wie du, Dianne, es eben genannt hast, sozusagen nochmal an Meilensteinen Revue passieren zu lassen. Dianne: In meinen Seminaren oder Vorträgen verteile ich nach dem Sammeln von Schlagwörtern manchmal Post-its an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Sie sollen aufstehen und ihre Haftnotizzettel bei den Schlagwörtern anbringen, die sie als besonders wichtig, interessant oder erstaunlich empfunden haben. Das ist übrigens auch eine gute Idee, um vor einem Vortrag, Referat oder derlei für Beteiligung und eine Erhöhung der Aufmerksamkeit zu sorgen. Man zeigt die Überblicksfolie und lässt daneben an der Seite die Post-its anheften, bevor man mit dem Vortrag beginnt. Man nennt das Vorgehen auch „Neugierpunkte setzen lassen“. Am Ende des Vortrags kann man zur Überblicksfolie zurückgehen und direkt über die gesetzten Neugierpunkte ins Gespräch kommen, bei Bedarf weitere Informationen liefern usw. Gesa: Klingt sehr gut, die Neugierpunkte verbinden Verschlagwortung, Visualisierung und aktive Beteiligung, und sie haben sogar ein Bewegungselement durch das Aufstehen und Vorgehen. Peter, du hast noch gar nichts dazu gesagt. Alles gut bei dir? Peter: Alles bestens, aber ehrlich gesagt, würde ich jetzt - nichts gegen die Neugierpunkte, die finde ich grundsätzlich auch gut - am liebsten durchatmen, spazieren gehen, mit mir selbst erst einmal in den inneren Monolog kommen, mich dann eine halbe Stunde aufs Ohr legen - natürlich nur zum Zweck der Konsolidierung - und danach eine schöne Tasse Kaffee trinken. Oder aber, das wäre mein zweiter Vorschlag, wir blicken ohne viele Worte auf die Hauptstationen unserer Entdeckungsreise zurück und schließen mit diesem Eindruck ab. Claudia: Ich bin dabei, wie machen wir das? Peter: Mit Bildern. Sprachlich haben wir ja schon eifrig kodiert und, wie hieß es vorhin, als es ums deklarative Gedächtnis ging? Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Daher nur noch ein paar <?page no="199"?> 198 Epilog im Praxisfenster Abb. 8.1: Hirnentwicklung Gesa: Ein Hirn schlüpft, metaphorisch für „es entsteht und entwickelt sich“. In Ordnung, auch hier gilt wieder: einprägsam, ein wirklich merk-würdiges Bild! Danach ging’s um Aufmerksamkeit. Abb. 8.2: Aufmerksamkeit wenige Worte und dann lassen wir Bilder sprechen: Begonnen haben wir damit, uns bisherige Ansätze der sogenannten Neurodidaktik anzuschauen und uns gemeinsam auf einen eigenen Weg gemacht, der auf Expertise und den Dialog in beide Richtungen setzt. Dann ging es ans Inhaltliche und zwar zur Hirnentwicklung. <?page no="200"?> 199 6.8 Abruf, Erinnern und Vergessen Dianne: Und dann um Emotionen. Abb. 8.3: Emotionen Claudia: Danach um Bewegung. Abb. 8.4: Bewegung <?page no="201"?> 200 Epilog im Praxisfenster Peter: Und schließlich ums Gedächtnis. Abb. 8.5: Gedächtnis <?page no="202"?> 201 Abbildungsverzeichnis Abb. 1 Neuronen (eigene Grafik) Abb. 2 Axonterminale und nachgeschaltetes Neuron (eigene Grafik) Abb. 3 Großhirn mit Lappen und primären Arealen (eigene Grafik) Abb. 4 Assoziationsareale (eigene Grafik) Abb. 5 Action Research-Cycle (eigene Grafik) Abb. 6 Limbisches System (eigene Grafik) Abb. 7 Gedächtnismodell (eigene Abbildung in Anlehnung an Schacter + Tulving (1994)) Abb. 8.1 Hirnentwicklung Abb. 8.2 Aufmerksamkeit Abb. 8.3 Emotionen Abb. 8.4 Bewegung Abb. 8.5 Gedächtnis (Abb. 8.1-8.5: eigene Grafik) <?page no="204"?> Sachregister Acetylcholin 64 AD(H)S 41, 58, 174 Adoleszenz 36, 48-51, 104, 131 Adrenalin 127, 171 affektive Faktoren 101 f. Aktionsforschung 95 f., 119, 196 Aktionspotential 29, 32, 65, 183 Aktivierung 29, 36, 45, 47, 52, 60, 68, 80, 90, 112, 118, 126 f., 134, 136, 142 f., 148, 150, 166, 178, 180, 184 Alerting-Netzwerk 64, 67-70, 73 f. Amygdala 49, 105, 115, 117, 125, 127, 151, 172, 174, 183 Aneignung 53, 55 Angst 50, 54, 79, 81 f., 101, 107-112, 114-117, 119, 126 f., 172, 174 Annäherungsverhalten 126 Anpassungsfähigkeit 39 anteriores Cingulum 66 Applikation 18 ff., 78 Arbeitsgedächtnis 41, 43, 71 f., 107, 132, 143, 162, 165, 168, 171 Arousal-Netzwerk 61 Asperger-Syndrom 173-178 Assoziation 137, 139 f., 142, 151, 154 ff., 167, 190 Assoziationsareale 34 ff., 44, 61, 65, 113 auditorisch 30 f., 33 f., 36, 62, 148, 154 Aufmerksamkeit 9, 38, 47 f., 57-71, 73 f., 76 ff., 80, 84 f., 92 f., 101, 105 f., 133, 136, 145, 154, 157, 162, 166, 168, 171 f., 183, 192 ff., 196 ff. autonomiestützende Lernumgebungen 123 Axone 26-29, 31 f., 36 BBahnung 65 f., 70 Basalganglien 66, 151, 167, 174 Bedürfnishierarchie 77 Belohnung 44, 49 f., 105, 120, 125 ff., 143, 155 f., 173, 176, 179 Bildungshaus 3-10 103 CCingulum 66, 112, 125 f., 172 Corpus callosum 37 Cortex 17, 26, 30 f., 33-36, 46 f., 64, 66-69, 125, 136, 148, 162 f., 172 deduktiv 45, 165 Default-Mode 79, 130 deklaratives Gedächtnis 152, 156, 159 f., 183, 188, 191 f., 197 Dendriten 27 ff., 65 Denken 27, 34, 45, 54, 79, 99, 104-107, 123, 162, 164 f. Diencephalon 105 Differenzierung 90, 94 f. Distanzierung 13-16, 23 Dopamin 105, 125 f., 158, 172, 180, 182 dramapädagogisch 106, 142 EEEG 37, 76, 134, 184 f. Embodied Cognition 116, 129, 135, 140, 183 Embodied Learning 139 Emotion 9, 37, 49 f., 60, 75, 79, 82, 84, 89, 91, 99-102, 104 f., 107 f., 114 f., 117, 125 ff., 142, 160, 167 f., 171 f., 174, 180, 192, 199 energetische Ursachen 59 Energie 33, 60, 105 f., 172, 183 Energizers 132 f. Enkodierung 80, 166 ff., 171 f., 183, 186-189, 194 entspanntes Feld 77 Ermutigung 179 exekutive Funktionen 68, 71-75, 132, 143 exekutives Aufmerksamkeitsnetzwerk 68, 70 explizites Wissen 159 extrinsisch 119-123 FFeedback 127, 179, 196 Fertigkeiten 38, 52 f., 156 f., 165, 176, 184, 192 Flow 79, 192 frontaler Cortex 37, 61, 64, 68, 70, 125, 136 frontale Regionen 68 Frontallappen 30, 46 f., 66, 70, 143 frontoparietal control network 70 f. GGedächtnisbildung 162, 167 f., 171, 183, 186, 192 Gedächtnisinhalt 141 f., 150 ff., 157, 161 f., 164-168, 170 ff., 183 f., 186-189, 191, 197 Gedächtnismodell 150 f. Gene 31, 34, 113 f. Geruchs- und Geschmackssinn 63 <?page no="205"?> 204 Sachregister Gesichtserkennung 149 Großhirnrinde 26, 29 ff., 35, 37, 60, 125, 174 HHabituation 153, 162 Handlungsorientierung 99, 106, 124 Hippocampus 45, 49, 105, 125 f., 133, 149 ff., 168, 172, 183 f., 188 f. Hirnstamm 26, 60 Hörcortex 31 Hormone 29, 49 f., 127, 154, 184 Hypophyse 26 Hypothalamus 26, 60 Iimplizites Lernen 57, 157 induktiv 164 Infobox 23 Inhibition 65 f., 72 f., 88, 132, 143 interdisziplinär 20, 23, 102 Interferenz 188 intrinsisch 119-123 KKampf-Flucht-System 127 Kategorienbildung 164 Kernspintomograph 70, 76, 118, 178 kinetic image 142 Kleinhirn 26, 66, 151, 167, 174, 183 Kodierung 46, 159, 164, 184 kognitive Entwicklung 37, 49 kognitive Flexibilität 72, 132, 138 kognitive Wende 99 Konfabulation 189 Konsolidierung 130, 166, 170 f., 182-188 Kontexteffekt 187 Konzentration 40, 57, 59, 62, 65 f., 68 f., 73 f., 76, 117, 182 f. Konzeptbildung 55 Korrektur 25, 111, 126, 189 LLandschaften des Wissens 190, 192 Langeweile 9, 78-86, 88-94, 97, 101, 108, 123, 127, 181 Langzeitspeicherung 19, 145, 158, 170 ff., 184, 187 Lärm 40, 42 f., 143 Leistungsraum 124 Lernbereitschaft 100, 104, 107, 129 Lernleistung 33, 39, 141, 195 Lernprozesse 9, 11, 22, 25, 33, 37 f., 46, 49, 52 ff., 56 f., 59 f., 74, 76 ff., 80, 89, 100 ff., 111, 123, 125 ff., 129, 139, 142 f., 148 f., 151, 154, 156, 162, 167, 171 f., 174, 180, 182 f., 186 f., 190, 195 Lernraum 124 Lernstrategien 74, 88 Lernzuwächse 191 Lob 155 f., 173 f., 176, 178 ff., 184 Mmentaler Zahlenstrahl 140 Migration 26 Motivation 9, 49, 55, 60 ff., 80, 99 ff., 111, 119-123, 156, 162, 167, 172 f., 176, 179, 181 motorischer Cortex 30, 67, 163 motorisches Areal 46, 158 multimodale Assoziationsareale 32 multimodale Enkodierung 141 Muster 57, 62, 105, 163, 166, 193 f. Myelin 36 NNachahmungslernen 157, 171 Nervenzellen 25 ff., 29-32, 37, 48 f., 57, 61, 65, 147 ff., 158, 166, 170, 172, 174, 180, 183 f., 187 f. Netzwerk 25, 27, 61 f., 64, 67-70, 74, 142, 147 ff., 158, 163, 170, 184, 186 Neugier 24, 54, 60, 77, 100, 106 f., 119, 126, 191 Neuroblasten 9, 26 Neurodidaktik 9, 11 ff., 16 ff., 21, 197 f. Neuronen 25, 27 ff., 31 ff., 36, 148 Neuro-Skeptiker 14 Neurotransmitter 28 f., 64 f., 105 nicht-deklarativ 151 f., 156, 158, 167 f., 171, 192 Noradrenalin 64, 127, 171 Nucleus accumbens 49, 105, 174 OOkzipitallappen 30, 45 Oligodendrocyten 36 Orienting-Netzwerk 64, 67-70, 73 PParietallappen 30, 36, 44, 64, 68 ff., 150 Peergroup 51 performativ 137 Plastizität 29, 33, 61 präfrontaler Cortex 35 f., 44, 46 f., 50, 66 f., 69, 72, 126, 173 Präkonzepte 169 f., 189 <?page no="206"?> 205 Sachregister Praxisfenster 22 f., 40, 91, 114, 142, 190, 197 primäre Areale 30, 34, 37 Prototypen 148, 163 Pruning 32, 34 Pubertät 36, 48 ff., 68 f., 75, 110, 114, 133, 169, 185 RRadialgliazellen 26 RCT 23 Regulation 50, 84, 121, 174 Repräsentation 22, 43, 61, 109, 129, 142, 149, 160, 162 f., 166 f., 171, 180, 183, 186, 188 Rezeption 13, 16, 20, 23, 74, 197 RI 174-177 Rückenmark 25 f., 29 Ruhe 41 f., 77, 79, 116, 127, 132 SSchlaf 60, 183 ff. SDT 120, 122 Sehcortex 31 Sehsystem 33, 35, 45, 52, 62, 68, 163 Selbstbestimmung 120-124, 127 Selbstkonzept 50, 112, 121, 189 Selbstwahrnehmung 107, 117, 119, 179 Selbstwirksamkeit 123 f., 127 sensorische Auswahl 62, 64 Shaping 155 Sinnsucher 136, 193 f. Skripts 163, 165 SNARC -Effekt 140 somatosensorischer Cortex 30, 162 soziale Eingebundenheit 87, 122 soziale Entwicklung 55 Stammzellen 9, 26 Stellenwertsystem 141 Stille 41 ff. Stille-Wort 42 f. Störanfälligkeit 38, 51 Störreize 38, 41, 73 Strategien 43, 52, 75, 80, 85, 88-92, 115, 124, 160, 162, 164 f. Striatum 167, 174, 178, 183 strukturelle Begrenztheit 61 subcortical 61, 67 f., 72 Synapse 25, 27-30, 32 f., 61, 148, 183 f. Synaptogenese 32, 36 szenische Darstellung 145 Ttaktile Wahrnehmung 63, 154, 162 tangentiale Wanderung 26 Tegmentum 125 Temporallappen 30, 36, 43, 45 f., 64, 149, 163 Texttheater 144 f. Thalamus 26, 29, 31, 60, 127 TPR 133 Transfer 23 Translation 21 UÜben 108, 116, 158, 162, 190 ff., 194 Überschuss 33 Überzeugungen 19, 113 f. Umbauprozesse 104, 170 unimodale Assoziationsareale 32, 34 Unterrichtsenthusiasmus 87, 191 VVerarbeitungstiefe 142, 167 f., 180 Vergessenskurve 187, 194 Verhaltenshemmsystem 126 Vernetzung 30, 35, 47, 50 Versuch und Irrtum 157 f. visuell 30 f., 33 f., 36, 38, 43 f., 62 f., 68, 77, 154, 159, 163, 168, 171, 192 Vorwissen 34, 61 f., 71 f., 94, 107, 159 f., 166, 168 f., 171 f., 181, 186 WWachstumsschub 37, 43 ff., 47, 56 Wahrnehmungsareale 34, 44, 64 f., 150, 162 weiße Substanz 36 f., 48 Wiederholen 84, 93, 129, 180, 190 f. Wirksamkeit 47, 92, 96, 122, 141, 192 <?page no="208"?> 207 Literatur Literatur Abrahamse, E., Majerus, S., Fias, W. & van Dijck, J.-P. (2015): Editorial: Turning the Mind’s Eye Inward: The Interplay Between Selective Attention and Working Memory. In: Frontiers in human neuroscience, , 616. Ahmed, S. 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In sog. „Praxisfenstern“ wird die Bedeutung der empirischen Befunde für den Unterricht diskutiert, Impulse für die Unterrichtsgestaltung werden entwickelt. Arndt / Sambanis Didaktik und Neurowissenschaften Didaktik und Neurowissenschaften Petra A. Arndt / Michaela Sambanis Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis