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El teatro de la guerra

Raum, Krieg und Theater bei Juan Benet

0509
2016
978-3-8233-9050-3
Gunter Narr Verlag 
Anna Marcos Nickol

Der spanische Bürgerkrieg spaltet auch heute noch nach über siebzig Jahren die spanische Gesellschaft in zwei Lager, die jeweils die Deutungshoheit über das Ereignis für sich beanspruchen. Der spanische Literat, Essayist und Ingenieur Juan Benet hat Zeit seines Lebens dieses Ereignis sowohl in seinen Essays als auch in seinen hochgradig experimentellen fiktionalen Texten verarbeitet. Dabei verabschiedet er das dualistische Denken über historische und andere ,Wahrheiten' und bindet den Prozess des Krieges in ein komplexes Gefüge aus Raum, Krieg und Theater ein, dem sich diese Arbeit annähert.

<?page no="0"?> Der spanische Bürgerkrieg spaltet auch heute noch nach über siebzig Jahren die spanische Gesellschaft in zwei Lager, die jeweils die Deutungshoheit über das Ereignis für sich beanspruchen. Der spanische Literat, Essayist und Ingenieur Juan Benet hat Zeit seines Lebens dieses Ereignis sowohl in seinen Essays als auch in seinen hochgradig experimentellen fiktionalen Texten verarbeitet. Dabei verabschiedet er das dualistische Denken über historische und andere ‚Wahrheiten‘ und bindet den Prozess des Krieges in ein komplexes Gefüge aus Raum, Krieg und Theater ein, dem sich diese Arbeit annähert. ISBN 978-3-8233-8050-4 Marcos Nickol El teatro de la guerra Anna Marcos Nickol El teatro de la guerra Anna Marcos Nickol Raum, Krieg und Theater bei Juan Benet <?page no="1"?> El teatro de la guerra <?page no="2"?> Studia philologica Monacensia Edunt Andreas Dufter et Bernhard Teuber Volumen 4 · 2016 Comité scientifique - Advisory Board - Wissenschaftlicher Beirat Lina Bolzoni (Scuola Normale Superiore di Pisa) Anthony Cascardi (University of California at Berkeley) Pedro Cátedra (Universidad de Salamanca) Victoria Cirlot (Universitat Pompeu Fabra, Barcelona) Marie-Luce Démonet (Université François Rabelais, CESR, Tours) Carlos Garatea Grau (Pontificia Universidad Católica del Perú, Lima) Barbara Kuhn (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) Frank Lestringant (Université Paris-Sorbonne) María Jesús Mancho Duque (Universidad de Salamanca) Wolfgang Matzat (Eberhard Karls Universität Tübingen) Paulo de Sousa Aguiar de Medeiros (University of Warwick) Wolfram Nitsch (Universität zu Köln) Uli Reich (Freie Universität Berlin) Maria Selig (Universität Regensburg) Elisabeth Stark (Universität Zürich) Collegium consultorum <?page no="3"?> Anna Marcos Nickol El teatro de la guerra Raum, Krieg und Theater bei Juan Benet <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 2365-3094 ISBN 978-3-8233-8050-4 Umschlagabbildung: Ejército del Norte, Comandancia de Artilería: Hoja nº 3 [Serós - Valdemora - Rio Cinca], 1938. Institut Cartogràfic i Geològic de Catalunya: http: / / cartotecadigital.icc.cat/ cdm/ ref/ collection/ fmones/ id/ 175, Lizenz: http: / / creativecommons.org/ publicdomain/ mark/ 1.0/ Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG Wort. Die vorliegende Arbeit wurde als Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen. <?page no="5"?> “Vaya”, dice el señor Hervás para sus adentros. <?page no="7"?> 7 Inhaltsverzeichnis I Exposition .............................................................................11 II Raum......................................................................................17 II.1 Phänomenologische Räumlichkeit..................................... 18 II.1.1 Was ist Wahrnehmung? ...........................................................21 II.1.2 Räumlichkeit des Leibes ..........................................................23 II.1.3 Die Tiefe als existentielle Dimension .....................................25 II.1.4 Anthropologischer Raum und Naturraum ...........................27 II.2 Von der Wahrnehmung über die Sprache hin zu poetologischen Aspekten des Raumes ......................... 28 II.2.1 Visuelle und textuelle Wahrnehmungsprozesse ..................29 II.2.2 Darstellung als Projektion und die Perspektive in der Sprache .......................................................................................39 II.2.3 estampa und argumento..............................................................42 II.3 Die Karte zwischen epistemologischen Interessen und phänomenologischer Rezeption: cartografía elemental 51 II.4 Raumtheoretische Ergänzungen: von Punkten und Vektoren ........................................................................... 56 II.4.1 Raum als Praxis: espace und lieu - parcours und carte ...........56 II.4.2 Glatter und gekerbter Raum....................................................62 II.5 Narrative Operationalisierung von räumlicher Distanz und ‚nahsichtiger Anschauung‘ .................................... 65 II.6 Karten und kartographische Texte..................................... 71 II.6.1 El Mapa de Región.......................................................................74 II.6.2 Avances, movimientos und acciones: Benets sujethaltige Karten .........................................................................................80 II.6.3 Kartographische Texte? Darstellungen des Raums in Volverás a Región ........................................................................85 II.7 Ordnung und Hierarchie im Raum ................................... 93 II.7.1 Das Familienfoto .......................................................................93 II.7.2 Die Sitzordnung ......................................................................101 II.8 Die (Un-) Möglichkeit narrativer Darstellungen des Raums ............................................................................. 105 II.8.1 Verhinderte Schöpfung und Phänomenologie des Schauplatzes ............................................................................105 <?page no="8"?> 8 II.8.2 Unterbrechung des Linearen: die Kurve .............................113 III Krieg ...................................................................................123 III.1 Strategie und Taktik: Kriegstheorie nach Clausewitz ... 125 III.1.1 Was ist Krieg? ..........................................................................126 III.1.2 Friktionen im Krieg.................................................................130 III.1.3 Strategie und Taktik ...............................................................131 III.2 Die guerra civil jenseits der Ideologie: der spanische Bürgerkrieg in Benets Essays....................................... 135 III.2.1 Aufspaltung Spaniens und Ausbildung von Fronten I .....136 III.2.2 Combate und guerra..................................................................138 III.2.3 Krieg ohne Plan und anachronistische Kriegsführung ......139 III.3 Strategie und Taktik im raumtheoretischen Kontext .... 144 III.4 Die Kriegsmaschine............................................................ 147 III.5 Entideologisierung der guerra civil und Ausbildung von Fronten II ................................................................ 150 III.6 Der Kampf Mazón - Ochoa als mise en abyme ................ 158 III.6.1 Der Kampf - el grano...............................................................159 III.6.2 Inszeniertes Erzählen..............................................................162 III.6.3 Strategie, Taktik und Kriegsökonomie ................................165 III.6.4 Economía bélica - arte bélica - arte de narrar - economía narrativa? ..................................................................................167 III.6.5 Augenzeugenschaft: die Erzählung zwischen Fiktionalität und Wahrheitsanspruch ..................................172 III.6.6 Zusammenfassung..................................................................180 III.7 Krieg als narrativer Prozess - die guerra civil in Volverás a Región............................................................. 182 III.7.1 Der ereignislose Beginn: la primera campaña ........................183 III.7.2 Verhinderung des Fortgangs: la acción de Burgo Mediano ..184 III.7.3 Die ewiggestrige Strategie: un anacrónico informe ...............190 III.7.4 Die scheiternde Umsetzung des Plans: la ofensiva organizada por Gamallo .............................................................193 III.7.5 Das endlose Ende: el día final de la contienda ........................198 III.7.6 Zusammenfassung..................................................................203 IV Theater................................................................................205 IV.1 Theatralität als literatur- und kulturtheoretische Kategorie......................................................................... 207 IV.1.1 Theatralität und bzw. in Literatur ........................................208 IV.1.2 Theatralität und Räumlichkeit ..............................................210 <?page no="9"?> 9 IV.2 Das Gattungs-Hybrid: La otra casa de Mazón................... 214 IV.2.1 Zwischen Narration und Dialog ...........................................216 IV.2.2 Das Spiel im Spiel ...................................................................229 IV.2.3 Zusammenfassung..................................................................244 IV.3 Die Diegese als multiple Bühne: En el estado .................. 245 IV.3.1 Die erste Bühne: La Portada ....................................................246 IV.3.2 Die zweite Bühne: las ventas ..................................................255 IV.3.3 Die dritte Bühne: der sótano ...................................................267 IV.3.4 Die vierte Bühne: el mapa del teatro de operaciones ................270 IV.3.5 Zusammenfassung..................................................................278 V Engführung ........................................................................283 VI Literaturverzeichnis.........................................................293 <?page no="11"?> 11 I Exposition Eran disparos del 7.7 en tiro rasante, procedentes de seis piezas de artillería emplazadas en el puerto desde aquellos ya lejanos días de un inmemorial agosto o un sediento septiembre consumido en vacilaciones. Disparos en un principio demasiado largos que por encima del caserío cruzaban el cielo con su borbollante estela sonora, tanto más aguda cuanto más se aproximaba al objetivo como si el propio obús, espectador de su trayectoria, no pudiera reprimir su expectación ni el silbido de asombro y desencanto con un oh decreciente al contemplar la evanescencia de una meta que habiendo estado tan cerca de alcanzarse alejaba con el chasquido del ramaje segado en el vecino robledal, unas pocas palmas de aplauso entre la decepcionada exclamación de una invisible muchedumbre que atenta al juego de la guerra ve cómo su irascible y baldío rayo se extingue en la explosión de negros terrones y un torbellino de astillas y grano. 1 Dieser kurze Textausschnitt, die Beschreibung von Schüssen und damit Teilen einer Kriegshandlung, findet sich im ersten Teil von Juan Benets Roman Saúl ante Samuel, der 1980 erstmals erschien. Zentrale Themen, Aspekte und Fragestellungen dieser Arbeit können anhand dieses Zitats bereits formuliert und das erste Mal durchgeführt werden. Durch die Artillerie-Schüsse, die von einem Bergpass aus abgefeuert werden, wird der Himmel in seiner räumlichen Weite so aufgefächert, dass er sich einer direkten Begrenzung entzieht: Der Himmel wird von den Schüssen durchkreuzt („cruzaban el cielo“) und ist somit das Szenarium für die Laufbahn bzw. für den Weg („trayectoria“) der Geschosse. Nähe („habiendo estado tan cerca“) und Entfernung („alejaba“) werden erfahrbar und gleichzeitig zeitliche Entfernung mit räumlicher verknüpft („desde aquellos ya lejanos días de un inmemorial agosto o un sediento septiembre“). Dadurch sind Vergänglichkeit bzw. das Zeitliche jener räumlichen Auffächerung von Beginn an eingeschrieben. Erfahrung und Wahrnehmung des Raums werden weiterhin durch Überblendung und Aneinanderreihung von lautlichen und visuellen Phänomenen („borbollante estela sonora“, „silbido de asombro“, „un oh decreciente“, „contemplar la evanescencia“) ermöglicht. Diese Phänomene sind jedoch alle nicht von Dauer und tragen das Momenthafte in sich: die tönende Spur, der Pfiff des Erstaunens, das abfallende Oh und die Betrachtung des Verschwindens sind Zeugen des Vergänglichen, das sich lediglich in einem momentanen Aufblitzen erschöpft. Dem gegenüber steht eine rudimentäre topographische und ‚objektive‘ Beschreibung des Schauplatzes, dem es, abgesehen von dem erwähnten Bergpass und einigen Häusern („caserío“), an entsprechenden Landmarken mangelt. 1 Juan Benet: Saúl ante Samuel, Madrid: Alfaguara, 1993, S. 43f. <?page no="12"?> 12 Mit der räumlichen Wahrnehmung geht eine Theatralisierung der Kriegshandlungen („juego de la guerra“) einher. Publikumsrollen werden zugewiesen und vom Bühnengeschehen differenziert. Der Granatwerfer wird zum aktiven Publikum („el propio obús, espectador de su trayectoria“), verfolgt die Laufbahn der eigenen Geschosse am Himmel und kommentiert aktiv dieses Bühnengeschehen („silbido de asombro“). Es kommt zum verhaltenen Applaus („unas pocas palmas de aplauso“) einer ‚unsichtbaren Menge‘ („invisible muchedumbre“), die der Zerstörung durch die Geschosse zusieht („ve cómo“). Das tatsächliche Kriegsgeschehen bzw. eine leicht rezipierbare Darstellung desselben rückt bei dieser Auffaltung des Raumes und der Theatralisierung der Vorgänge in den Hintergrund. Die einzig ‚sichere‘ Information ist die, dass es sich um eine 7,7-cm-Artilleriekanone handelt - wobei zur Einordnung dieser Information bereits ein gewisses militärisches Wissen notwendig ist - und, dass am Ende der Geschosse eine Explosion steht. Räumliche Beschreibungen bilden somit die Grundlage und Voraussetzung der Diegese: zum einen im wörtlichen Sinne eines Schauplatzes für das erwartbare Geschehen, zum anderen jedoch hinsichtlich einer räumlichen Erfahrbarkeit. Es kommt keine konkrete und kartierbare Topographie zum Einsatz, obwohl vereinzelte Eigenheiten des Territoriums (der Bergpass) angedeutet werden. Dafür wird der Raum über die Betonung der Unterschiede zwischen nah und fern zur Voraussetzung für Wahrnehmung und muss durch das Zurücklegen von Wegstrecken in seinen Möglichkeiten und Dimensionen erkundet werden. Krieg ist vordergründig das Motiv der Erzählung, entzieht sich jedoch der Darstellung. Der militärisch interessierten und informierten Erzählerrede steht eine narrative Verhinderung von Kriegsgeschehen konträr gegenüber. Stattdessen wird dieses Kriegsgeschehen durch eine konsequente Theatralisierung zum Bühnenspektakel. Die Diegese ist von Anfang an inszeniert, und die räumliche Wahrnehmung wird in die Dynamik zwischen Publikumsblicken und Bühnengeschehen eingebunden. Drei wesentliche Aspekte der Benetschen Poetik - Raum, Krieg und Theater - verbinden sich hier zu einem komplexen Gefüge. Genau dieses komplexe Gefüge will diese Dissertation tiefgehend analysieren, weil sich an ihm narrative, epistemologische und historische Problematiken abzeichnen, die symptomatisch für die spanische posguerra sind und auf die das umfassende literarische und essayistische Werk Benets über vier Jahrzehnte hinweg eine Antwort suchte. Sein vehementer Antirealismus und Antipositivismus äußern sich in einer räumlichen Konfiguration als Bedingung für eine fiktive Welt, deren Territorium von Beginn an nicht gewusst und dementsprechend auch nicht kartographisch eingehegt und operationalisiert werden kann - auch wenn Benets Mapa de Región, der mit Herrumbrosas lanzas (1983-1986) erschien, das genaue Gegenteil suggeriert. Diese räumliche Konfiguration <?page no="13"?> 13 spielt phänomenologische Annäherung und Erfahrbarkeit gegen strategische ‚Kartizität‘ aus, sie drängt den Text mit der am Bildmedium orientierten estampa an die Grenzen des sprachlich-linearen argumento, sie entzieht sich jedem Sujet sowie jeder Handlung. Dieser Entzug wird noch offensichtlicher, wenn man bedenkt, dass das omnipräsente Thema Benets, der spanische Bürgerkrieg, durch seine binäre Struktur der dos Españas, die immer wieder eine topologische und territoriale Entsprechung findet, geradezu eine prototypische Struktur für ein Sujet vorgibt. Dort wo die guerra civil bei Benet jedoch mit einem immensen militärtheoretischen Wissen abgeurteilt wird und in der Narration ereignislos bleibt, wird der Krieg als Prozess erfahrbar gemacht und von einem Motiv der histoire zum wesentlichen Antrieb des discours. Ein durchweg taktisches Verhalten wird zur konsequenten Erzählstrategie, die den Leser in eine Orientierungslosigkeit führt. Der narrative Text funktioniert so, mit Deleuze und Guattari 2 gesprochen, als Kriegsmaschine, die einem strategischen Wissen bzw. einer machtbewussten und ideologischen Rede über den Krieg stets ‚glättend‘ und desintegrierend entgegenwirkt. Als ereignisloses und rein prozessuales Element der histoire wird der Krieg zu einem Schauspiel, dessen Bühne einen Schauraum eröffnet sowie Funktionsweisen von Sprache und Erzählen offenlegt und beobachtbar macht. Die Diegese ist schon immer eine inszenierte und bringt so die Unsicherheit über den ontologischen Status von inter- und extratextueller Welt, von historischer ‚Wahrheit‘ und fiktionalen Möglichkeiten der guerra civil zum Ausdruck. Die vorliegende Arbeit gliedert sich dementsprechend in drei große Kapitel zum Raum, zum Krieg und zum Theater. Diese Dreiteilung ist jedoch vielmehr eine Schwerpunktsetzung zugunsten einer erleichterten analytischen Arbeit, als dass sie auf eine wirkliche Trennung der drei Aspekte abzielt. Tatsächlich können und sollen Raum, Krieg und Theater bei Benet nicht getrennt voneinander gedacht und verstanden werden. Daher ist die aus der Musik und der Fugentheorie 3 entlehnte Terminologie von Exposition (für die Einleitung) und Engführung (für den Schlussteil dieser Arbeit) bewusst gewählt. Die Fuge setzt sich oftmals aus drei Teilen, nämlich einer Exposition, einer Durchführung und einer Engführung der Themen zusammen. Dementsprechend geht es auch in der vorliegenden Arbeit um eine einleitende und erste Vorstellung der Themen (Kapitel I), die im Laufe der Arbeit entfaltet bzw. ‚durchgeführt‘ (Kapitel II-IV) und zum Ende wieder zusammen- und enggeführt (Kapitel V) werden. Jedes der großen Kapitel zu Raum, Krieg und Theater besteht weiterhin aus einem Theorie- und einem textanalytischen Teil. Dabei geht es weniger darum, eine normativ gesetzte 2 Die entsprechenden theoretischen Konzepte werden in Kapitel II.4.2 und III.4 erläutert. 3 Michael Beiche: „Fuga/ Fuge“, in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie Bd.3, S. 53-94. Online verfügbar unter http: / / www.sim.spk-berlin.de/ static/ hmt/ HMT_SIM_Fuga-Fuge. pdf [zuletzt konsultiert am 31.03.2016] <?page no="14"?> 14 Theorie exemplarisch zur Anwendung zu bringen, auch wenn die Struktur der Arbeit es vielleicht nahelegt. Vor allen Dingen in Bezug auf Raum und Krieg wird stattdessen vorgeführt, wie konsequent Benet sein poetologisches, sprachliches, ideologiekritisches und in gewisser Weise historiographisches Programm umsetzt. Dies gilt nicht nur für seine fiktionalen Erzähltexte, sondern auch für viele seiner Essays, die einen wichtigen Bestandteil der theoretischen Erläuterungen bilden. Eine Ausnahme ist hingegen das Kapitel zum Theater. Da hierzu keine non-fiktionalen Texte Benets bekannt sind, fällt die entsprechende theoretische Hinführung sehr kurz aus. Auf die Sekundärliteratur und den Stand der Forschung wird in den entsprechenden Kapiteln eingegangen. Das Textkorpus bilden die Romane Volverás a Región 4 (1967), La otra casa de Mazón 5 (1973), En el estado 6 (1977), Saúl ante Samuel (1980) und Herrumbrosas lanzas 7 (1983-1986). Diese Texte decken die gesamte Schaffensphase Benets von den sechziger Jahren bis kurz vor seinem Tod ab. Das Korpus behandelt sowohl vielbeachtete Werke wie Volverás a Región und Saúl ante Samuel wie auch mit La otra casa de Mazón und En el estado weitestgehend marginalisierte Texte. Hinzu kommen mehrere poetologische und militärtheoretische Essays, deren Entstehungszeit ebenfalls über die gesamte Schaffensphase des Autors verteilt ist. Methodologische Vorbemerkung Den Textanalysen liegt, zumeist implizit, ein wirkungsästhetisches Textverständnis zugrunde. Wenn daher an vielen Stellen von ‚dem Leser‘ gesprochen wird, so gehe ich vom impliziten Leser nach Wolfgang Iser aus: Das Konzept des impliziten Lesers ist ein transzendentales Modell, durch das sich allgemeine Wirkungsstrukturen beschreiben lassen. Es meint die im Text ausmachbare Leserrolle, die aus einer Textstruktur und einer Aktstruktur besteht. 8 Das Konzept des impliziten Lesers umschreibt daher einen Übertragungsvorgang, durch den sich die Textstrukturen über die Vorstellungsakte in den Erfahrungshaushalt des Lesers übersetzen. 9 Dieser implizite Leser beinhaltet schon immer alle möglichen Lesereinstellungen zum Text und alle Deutungsansätze, die ein Text dem empirischen Leser bieten könnte. Diese werden jedoch auf unterschiedliche Art und Weise realisiert. Der implizite Leser erschöpft sich so auch in den unterschiedlichsten ‚Textperspektiven‘, die zum Beispiel durch Erzähler, Figuren 4 Juan Benet: Volverás a Región, Barcelona: Destino, 2004. 5 Juan Benet: La otra casa de Mazón, Barcelona: Seix Barral, 1973. 6 Juan Benet: En el estado, Madrid: Alfaguara, 1993. 7 Juan Benet: Herrumbrosas lanzas, Madrid: Alfaguara, 1999. 8 Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München: Wilhelm Fink, 1994, S. 66. 9 Ebd., S. 67 <?page no="15"?> 15 oder Handlung konstituiert werden. Der fiktive Leser, der bei Benet durch eine direkte Ansprache des lector auch eine Rolle spielt, ist dabei nur eine dieser ‚Textperspektiven‘. Ist im Verlauf der Textanalysen von ‚dem Leser‘ die Rede, so ist stets der implizite Leser gemeint. Kommt ein anderes Leserkonzept zum Tragen, so wird es explizit benannt. Anmerkung zur Zitierweise Ein erheblicher Anteil der Zitate erfolgt aus den Originaltexten Benets. Um zu verhindern, dass in diesen Fällen der Fußnotenbereich unnötigerweise zu groß wird, wird beim Zitieren folgendermaßen vorgegangen: Insofern sich die Zitate in einem Kapitel oder längeren Abschnitt auf nur einen Primärtext von Benet beziehen, wird dies zu Beginn des Kapitels angemerkt und die Seitenangaben erfolgen dann in Klammern im Fließtext. Werden mehrere verschiedene Primärtexte Benets oder Sekundärliteratur zitiert, so erfolgt die Literaturangabe ohne weitergehende Kommentierung in den Fußnoten. <?page no="17"?> 17 II Raum Der theoretische Teil dieses Kapitels arbeitet unter phänomenologischen Vorzeichen poetologische Aspekte des Raums bei Benet heraus. Dabei werden zunächst mit Merleau-Ponty Grundlagen zur Wahrnehmung und zu verschiedenen Aspekten der phänomenologischen Räumlichkeit erarbeitet (Kapitel II.1). Räumlichkeit beschreibt hier das grundlegende Bezugssystem des Ich zur Welt. Daran schließt sich in zwei Schritten eine Untersuchung räumlicher Aspekte in Benets Essays an. Erstens geht es um die räumliche Wahrnehmung, um das Verhältnis von Bild und Text und um die Perspektive (Kapitel II.2). Zweitens wird ein Essay Benets zur Kartographie und zur Rezeption von Karten diskutiert (Kapitel II.3). Ergänzend dazu werden letztendlich mit Certeau bzw. Deleuze und Guattari zwei weitere Raumtheorien eingeführt, wobei durch ständige Rückbezüge der Zusammenhang mit Benets Texten hergestellt und das Spektrum möglicher Interpretationsansätze für die Textanalysen erweitert wird (Kapitel II.4). Im zweiten Teil dieses Kapitels werden mehrere Textanalysen durchgeführt. Diese nehmen einzelne Textausschnitte aus den Romanen in den Fokus und greifen die im Theorieteil erarbeiteten Aspekte des Raumes mit unterschiedlicher Gewichtung auf. Dabei geht es darum, zum einen die konsequente literarische Umsetzung einer spezifischen Poetik der Räumlichkeit Benets nachzuweisen. Zum anderen zeigt sich, dass mit dem zentralen Begriff der estampa diese Poetik sowohl einen thematischen Oberbegriff erhält als auch, dass mit diesem Begriff ein konkretes Verfahren zur Erzeugung sprachlicher ‚Bilder‘ mittels einer phänomenologischen Beschreibungspraxis gemeint ist. Der Versuch einer Darstellung des Raumes wird stets über ein Ausloten der räumlichen Tiefe bis zu Auflösungserscheinungen in einer ‚nahsichtigen Anschauung‘ initiiert (Kapitel II.5). Benets Karten aus dem Romanfragment Herrumbrosas lanzas werden analysiert, in ihrer kartographischen Funktion befragt und möglicherweise ‚kartographischen Texten‘ gegenübergestellt (Kapitel II.6). Das realistische Phantasma, soziale Hierarchien über eine stabile, abbildbare räumliche Ordnung herzustellen, wird aufgedeckt und untergraben (Kapitel II.7). Zuletzt wird anhand des späten Romans Saúl ante Samuel gezeigt, inwiefern die räumliche Etablierung einer Welt schon immer nur als Potential verstanden werden kann und wie mittels einer phänomenologischen Beschreibungspraxis estampas erzeugt werden, die als Gegenmodell einer in sich abgeschlossenen fiktiven Welt fungieren (Kapitel II.8). <?page no="18"?> 18 II.1 Phänomenologische Räumlichkeit Die Phänomenologie stellt zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Wahrnehmung in das Zentrum ihrer Betrachtung und versucht Erkenntnis auf Grundlage der eigenen Erfahrung zu beschreiben. Als philosophische Bewegung hat sie das 20. Jahrhundert entscheidend mitprägt und kann mitunter als Reaktion auf den Positivismus und Szientismus des 19. Jahrhunderts verstanden werden. Die Beschreibung wird zu einem adäquaten Instrument der Weltdeutung, womit eine Absage an objektivierbare, allumfassende Aussagen über die Welt einhergeht. Demnach kann es keine allgemeingültige Deutungshoheit mehr geben, sondern nur noch ein Wahrnehmen in Perspektiven, durch welches sich das Subjekt der Welt bzw. dem Objekt annähert. Somit möchte die Phänomenologie auch bewusst die Grundlagen von Philosophie und Wissenschaft neu definieren. Diese Konzentration auf die Perspektive und die Beschreibung subjektiver Wahrnehmungsprozesse findet sich auch in einem der wesentlichen literarischen Impulse des 20. Jahrhunderts wieder, im nouveau roman. Auch ohne Benet mit diesem Begriff kategorisieren zu wollen, ergibt sich aus einer oberflächlichen Lektüre seiner Essays und Romane eine intrinsische Motivation, sein Werk vor einem explizit phänomenologischen Hintergrund zu betrachten: Die Perspektive ist ein Begriff von zentraler poetologischer Bedeutung und die Absage an den Positivismus ist mittlerweile zum Topos der Sekundärliteratur zu Benet geworden. Bereits in den siebziger Jahren spricht Ricardo Gullón von einer ‚phänomenologische Affinität‘ der Benetschen Rhetorik und Syntax, welche sich dem Objekt umkreisend und beschreibend annähert. 10 Benjamin Fraser weist auf den phänomenologischen Umgang Benets mit dem Raum hin und spricht auch Merleau-Ponty kurz an. 11 Darüber hinaus haben sich einige Veröffentlichungen ausschließlich mit dem 10 Siehe Ricardo Gullón: „Una región laberíntica que bien pudiera llamarse España“, in: Insula 319 (1973), S. 3; 10, hier S. 10: „Otro narrador, otro tipo de narrador se manifiesta, y el análisis estilístico no sólo le revela cauto y tanteante, sino que deja ver cuál es su situación, desde dónde habla. No desde arriba y lejos, sino desde abajo y cerca: se ven los objetos parcialmente, y es preciso contornearlos con la palabra, dar vueltas a su alrededor para cerciorarse de cómo son. La visión es más exacta, quizá, pero no aspira a sustancial: se contenta con ser descriptiva. (Hasta pudiera aventurarse que el narrador de Benet ha leído a Husserl.) Y la retórica se beneficia de la fenomenología cuando sistemáticamente se acoge a la disposición múltiple de la frase […].“ 11 Siehe Benjamin Fraser: „Juan Benet: Recalibrating Space and Time in Región“, in: ders.: Encounters with Bergson(ism) in Spain. Reconciling philosophy, literature, film and urban space, Chapel Hill: University of North Carolina, 2010, S. 111-139, hier S. 115: „[F]or Benet, rationality is made possible only due to a preexisting chaos (see Merleau-Ponty’s Phenomenology of Perception).“ Später merkt Fraser an: „The novel‘s [Volverás a Región] high degree of narrative complexity functions as a complement to the phenomenological tenet that space never exists in itself, but rather always in time as experienced, as always mediated, constructed as perceived.“ (ebd., S. 121) Da Frasers hauptsächliches <?page no="19"?> 19 Verhältnis Benetschen Schreibens und der Phänomenologie auseinandergesetzt. Hier sind die Monographie Ken Bensons Fenomenología del enigma 12 und die Dissertation Morton Münsters Das Unsagbare sagen 13 zu nennen. Während es Benson in erster Linie um eine konsequente Engführung von poststrukturalistischem Denken und Benets Werk geht, betrachtet Münster ausschließlich den Roman Herrumbrosas lanzas und geht nur kurz auf Benets poetologische Schriften ein. Es ist also ein heuristisches Anliegen, wenn in diesem Kapitel versucht wird, die enge Verbindung eines phänomenologischen Verständnisses von Wahrnehmung bzw. Raum und Benets eigenen Ausführungen zu Raum und Perspektive systematisch zu untersuchen. 14 Auch unabhängig von dem phänomenologischen Hintergrund ist ein konsequentes Nachverfolgen der ‚Spur‘ Raum in Benets Schriften durch die Forschungsliteratur bisher nicht erfolgt. Den philosophisch-theoretischen Hintergrund bildet demnach ein phänomenologisches Verständnis von Raum. Nach dem klassischen Denken des Raums bis Ende des 19 Jahrhunderts, das in erster Linie einem Newtonschen Begriff vom messbaren Ausdehnungsraum folgte, war es im 20. Jahrhundert vor allen Dingen die Phänomenologie in der Folge Husserls, die einem topologischen Denken in den Geisteswissenschaften Vorschub leistete. 15 Topologisch heißt, dass Raum als ein Feld verstanden wird, in welchem Elemente bzw. Objekte in Relation zu einander gesehen werden und auf welches das Subjekt Bezug nimmt. Raum ist nicht mehr der objektive und einheitliche Container, der mit Inhalt gefüllt wird. Stattdessen konstituiert sich Raum erst durch menschliche Erfahrung - es handelt sich also vielmehr um Räumlichkeit(en) als um den Raum. Da ein Überblick über die Geschichte der Raumtheorie und der mit ihr verbundenen epistemologischen Fragestellungen schon an mehreren Stellen gegeben wurde 16 , wird dies in dieser Arbeit nicht mehr geleistet. Augenmerk jedoch auf der Affinität von Benet und Bergson liegt, verfolgt er die dezidiert phänomenologischen Spuren nicht. 12 Ken Benson: Fenomenología del enigma. Juan Benet y el pensamiento literario postestructuralista, Amsterdam/ New York: Rodopoi, 2004. 13 Morton Münster: Das Unsagbare sagen. Ein Vergleich zwischen Wolfgang Hildesheimers Tynset und Masante, Juan Benets Herrumbrosas lanzas und Mia Coutos Estórias abensonhadas, Tübingen: Stauffenburg, 2013. 14 Dabei ist die Frage, ob Benet selbst Merleau-Ponty direkt rezipiert hat, sekundär. Die früheste spanische Übersetzung der Phänomenologie der Wahrnehmung, die im Katalog der Biblioteca Nacional Española aufgeführt wird, ist von dem mexikanischen Philosophen Emilio Uranga bestellt worden und 1957 in Mexiko erschienen. 15 Vgl. Stephan Günzel: „Spatial Turn - Topographical Turn - Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen“, in: Jörg Döring/ Tristan Thielmann (Hgs.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld: Transcript, 2008, S. 219-237. 16 Siehe zum Beispiel Jörg Dünne/ Stephan Günzel (Hgs.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006; Stephan Günzel (Hg.): Raumwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009 und in Bezug <?page no="20"?> 20 Merleau-Ponty ist deshalb in dieser Arbeit von besonderem Interesse, da er erstens in hohem Maße für ein Denken der Ambiguität steht. Zweitens konzipiert er einen anthropologischen, intersubjektiven Raum, der immer vom Leib ausgeht und bei welchem die Tiefe die existentielle Dimension darstellt. 17 Raum siedelt sich bei Merleau-Ponty immer zwischen den Gegensätzen eines intellektuellen und eines empirischen Raums seit Descartes an. Merleau-Ponty versucht stets - nicht nur bei seinem Raumbegriff - die Kluft zwischen absolutem Objektivismus und absolutem Subjektivismus und letztlich auch einen strengen Dualismus von Körper und Geist zu überwinden. Dabei geht es ihm hauptsächlich darum, der Wahrnehmung an sich und ihrem Vollzugscharakter gerecht zu werden: In seinen Wahrnehmungsanalysen distanziert sich Merleau-Ponty gleich von zwei extremen philosophischen Positionen neuzeitlichen Philosophierens, die von ihm nicht selten überspitzt dargestellt werden um das eigene Vorgehen deutlicher skizzieren zu können: Weder kann das Phänomen der Wahrnehmung begriffen werden, indem der Maßstab der Beurteilung des Wahrgenommenen in den Dingen als an sich bestehenden Objekten, Gegenständen oder Sachverhalten gesucht wird, noch kann man dem Phänomen der Wahrnehmung Rechnung tragen, indem ein losgelöster Geist oder ein souveränes Bewußtsein als Richter postuliert werden, die die Defekte einer ‚bloßen‘ Sinnlichkeit aufheben. In beiden Fällen - einem selbstvergessenen Empirismus und einem selbstherrlichen Idealismus - wird das faktische, sich leiblich vollziehende Wahrnehmen übersprungen. 18 auf die Kulturwissenschaften Sigrid Weigel: „Zum ‚topographical turn‘. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften“, in: KulturPoetik 2: 2 (2002), S. 151-165. Eine wissenschaftshistorische Zusammenfassung in Bezug auf Raum findet man auch bei Daniel Oskui: „L’espace sauvage: Merleau-Ponty et la pensée mécanique, picturale et poétique de l’espace“, in: Franck Hofmann/ Jens Sennewald/ Stavros Lazaris (Hgs.): Raum-Dynamik. Beiträge zu einer Praxis des Raums, Bielefeld: Transcript, 2004, S. 96-127. 17 Vgl. zur Rezeption von Merleau-Pontys Raumbegriff den ausführlichen Bericht Stephan Günzels: „Zur Rezeption von Merleau-Pontys Raumbegriff. Ein Literaturbericht“, in: Phänomenologische Studien, 9 (2004), S. 253-315. Relevant sind Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter, 1966 und die Aufsatzsammlung Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Hamburg: Meiner, 2003. Bei letzterer sind vor allem folgende Essays von Interesse: „Der Zweifel Cézannes“ (ebd., S. 3-28), „Das Kino und die neue Psychologie“ (ebd., S. 29-46) sowie der namensgebende Text „Das Auge und der Geist“ (ebd., S. 275-317). 18 Christian Bermes: „Wahrnehmung, Ausdruck und Simultanität. Merleau-Pontys phänomenologische Untersuchungen von 1945 bis 1961“, in ebd., S. XI-LIII, hier S. XII. <?page no="21"?> 21 Die erwähnte Übertreibung zweier philosophischer Extrempositionen 19 erweist sich im Hinblick auf Benets Schriften als Vorteil, hilft sie doch, dessen eigene Positionen besser profilieren zu können. Eine detaillierte philosophische Diskussion und Kontextualisierung der Thesen Merleau-Pontys kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden. Verkürzte Darstellungen werden zum Teil bewusst in Kauf genommen, jedoch immer mit dem Ziel, Benets Raum- und Wahrnehmungsfigurationen besser einordnen zu können. Gerade in Bezug auf einen „selbstvergessenen Empirismus“, der sich in realistisch-naturalistischen Ästhetiken des 19. Jahrhunderts - und in Spanien in der neorealistischen Literatur der posguerra mehr oder weniger unreflektiert übernommen wird - äußert, nimmt Benet eine ähnlich überspitzte und zum Teil polemische Position wie Merleau-Ponty ein. Diese wiederum hat unter anderem die Funktion, seine eigenen ästhetischen Vorstellungen besser profilieren zu können. In der vorliegenden Arbeit wird sich an verschiedenen Stellen zeigen, wie Benets Schriften zwischen zwei epistemologischen Extremen oszillieren, ohne sich eindeutig zu positionieren. II.1.1 Was ist Wahrnehmung? In seinem Essay „Das Kino und die neue Psychologie“ unterscheidet Merleau-Ponty zwischen einer ursprünglichen Wahrnehmung des Zusammenhangs und einer analytischen, wissenschaftlichen Wahrnehmung. Die ursprüngliche Wahrnehmung ist ein Prozess von sich stets im Zusammenhang realisierenden Elementen. Die analytisch-wissenschaftliche Wahrnehmung versucht, einzelne Elemente zu isolieren um deren absoluten Wert betrachten zu können. Da bei der ersten über eine Verschränkung von wahrnehmendem Subjekt und wahrgenommenem Objekt die Fülle an Eindrücken zugelassen wird, findet bei ihr eine tatsächliche Annäherung an die Dinge statt. Die analytische Wahrnehmung hingegen stellt die Dinge distanziert als Erkenntnisobjekt vor sich und ist somit selbst ein sekundärer, nachgeordneter Akt: 19 Diese philosophischen Extrempositionen werden meistens mit „Intellektualismus“ und „Empirismus“ bezeichnet. Siehe z.B. im Vorwort der Phänomenologie der Wahrnehmung: „Dem Empirismus mangelt es an der Möglichkeit einer Einsicht in den inneren Verband zwischen Gegenstand und dem von ihm ausgelösten Akt. Dem Intellektualismus mangelt es an der Möglichkeit einer Einsicht in die Kontingenz der Anlässe des Denkens.“ (Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 49) Merleau-Ponty kritisiert später selbst seine Herangehensweise in der Phänomenologie der Wahrnehmung, da sie in dem Versuch zwischen Subjekt und Objekt zu vermitteln selbst noch in jedem Dualismus verhaftet bleibt (vgl. Bermes: „Wahrnehmung, Ausdruck, Simultanität“, S. XXIXf.). Auch hier gilt in Bezug auf diese Arbeit, dass gerade die überspitzte Formulierung eines Dualismus dazu beitragen wird, das Besondere an Benets Positionen zu profilieren. <?page no="22"?> 22 Diese Wahrnehmung des Zusammenhangs ist natürlicher und ursprünglicher als diejenige isolierter Elemente: In den Experimenten zum bedingten Reflex, bei denen Hunde dazu abgerichtet werden, mit einer Speichelabsonderung auf ein Licht oder einen Ton zu reagieren […], stellt man fest, daß die in bezug auf eine bestimmte Notenfolge erworbene Dressur gleichzeitig in bezug auf jegliche Melodie von gleicher Struktur erworben wird. Die analytische Wahrnehmung, die uns den absoluten Wert der isolierten Elemente zeigt, entspricht also einer sich spät entwickelnden und außergewöhnlichen Haltung, nämlich derjenigen des Wissenschaftlers, der beobachtet, oder des Philosophen, der nachdenkt; die Wahrnehmung der Formen in einem ganz allgemeinen Sinn von: Struktur, Zusammenhang oder Konfiguration muß als unser Modus der spontanen Wahrnehmung betrachtet werden. 20 Wahrnehmung ist demnach nicht die Summe von einzelnen, sinnlichen Gegebenheiten. Die ursprüngliche Wahrnehmung ergibt sich prozessual, sie vollzieht sich in der Form von multiplen synästhetischen Eindrücken. Diese können erst im Nachhinein analytisch unterschieden werden. Bei dem ursprünglichen Wahrnehmungsprozess kommt es, wie zum Beispiel bei der Betrachtung eines Würfels, auch zu perspektivischen Deformationen, die sich zunächst nicht mit unseren geometrischen Vorstellungen decken: Wenn ich einen Würfel wahrnehme, heißt das nicht, daß meine Vernunft die perspektivischen Erscheinungen ausrichtet und hinsichtlich dieser Erscheinungen die geometrische Definition des Würfels denkt. Weit davon entfernt, sie zu korrigieren, bemerke ich nicht einmal die perspektivischen Deformationen […]. 21 Das analytische Denken wird zum sekundären Akt nach dem primordialen Akt der Wahrnehmung. 22 Wahrnehmung ist somit die ursprünglichste Welterfahrung und stellt dezidiert keinen Verstandesakt dar. Sie wird „[…] im weitesten Sinne der Erkenntnis des Existierenden verstanden.“ 23 Wenn Merleau-Ponty Wahrnehmung in solcher Weise als primordial beschreibt, so geschieht das auch im Hinblick auf eine philosophische Neubegründung des Selbstverständnisses der Wissenschaften: Die Wahrnehmung ist nicht der Anfang der Wissenschaft; in Wahrheit ist die klassische Wissenschaft eine Weise der Wahrnehmung, die ihren eigenen Ursprung vergessen hat und sich für vollendet hält. Zur ersten Aufgabe der Philosophie wird so der Rückgang auf die diesseits der objektiven Welt gelegenen Lebenswelt, um aus ihr Recht und Grenzen der Vorstellung einer ob- 20 Merleau-Ponty: „Das Kino und die neue Psychologie“, S. 30f. 21 Ebd., S. 34 22 Merleau-Ponty wendet sich hier bewusst gegen Kant und dessen ‚intellektualistische Analyse‘. 23 Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 63. <?page no="23"?> 23 jektiven Welt zu verstehen, den Dingen ihre konkrete Physiognomie wiederzugeben, das eigentümliche Weltverhältnis eines Organismus und die Geschichtlichkeit der Subjektivität zu begreifen, um Zugang zu gewinnen zum phänomenalen Feld der lebendigen Erfahrung, in dem Andere und Dinge uns anfänglich begegnen, zum Ursprung der Konstellation von Ich, Anderen und Dingen […]. 24 Wahrnehmung ist demnach der ständige Versuch, auf das ursprünglich Gegebene zurückzugehen, um das ursprüngliche Verhältnis zwischen Subjekt und Welt zu begreifen. Einem positivistischen Wissenschaftsverständnis, das seine Erkenntnisobjekte als positive, analysierbare Entitäten dem Subjekt gegenüberstellt, steht eine solche Neubegründung der Wissenschaft auf Basis von sich annähernden Wahrnehmungsprozesses diametral gegenüber. II.1.2 Räumlichkeit des Leibes Eine der Prämissen Merleau-Pontys ist, dass der Mensch mit seinem Leib stets Teil der Welt ist, die er zu beschreiben sucht (er ist ‚zur Welt‘ 25 ). Ausgangspunkt einer jeden Wahrnehmung und damit einer jeden Räumlichkeit ist somit der Leib, seine Körperlichkeit. Die vollkommene Abstraktion und reiner Objektivismus sind somit nicht möglich. Der Leib ist das „Vehikel“ 26 dieses „Zur-Welt-Seins“, das sich ständig in dieser Welt bewegt und nie unbeteiligt sein kann. Er ist das Mittel der menschlichen Bezugnahme zur Welt, über ihn kommunizieren wir mit ihr. Deswegen ist der Leib auch das allererste ‚Hier‘, wenn wir uns im Raum orientieren. Auf meinen Leib angewandt, bezeichnet das Wort ‚hier‘ nicht eine im Verhältnis zu anderen Positionen oder zu äußeren Koordinaten bestimmte Ortslage, sondern vielmehr die Festlegung der ersten Koordinaten überhaupt, die Verankerung des aktiven Leibes in einem Gegenstand, die Situation des Körpers seinen Aufgaben gegenüber. 27 Raum kann demnach überhaupt erst entstehen, weil das menschliche Subjekt mit seiner Körperlichkeit Teil der Welt ist. Dabei ist der Leib weder ganz Teil des Raums noch ist er kein Teil des Raums. Über den Leib kommt es zur Verschränkung von objektiver Außenwelt und absolut subjektiver Innen- 24 Ebd., S. 80f. 25 „Reflexe resultieren nicht erst aus objektiven Reizen, sie wenden sich selbst diesen zu und erteilen ihnen einen Sinn, den sie nie als einzelne physische Agenten, vielmehr erst als Situation haben. […] Der Reflex, insofern er dem Sinn einer Situation sich öffnet, die Wahrnehmung, insofern sie jeder erkenntnismäßigen Gegenstandsetzung zuvor eine Intention unseres ganzen Seins verkörpert, sind Weisen der präobjektiven Sicht, die wir als das Zur-Welt-Sein bezeichnen.“ (ebd., S. 104) 26 Ebd., S. 106. 27 Ebd., S. 125f. <?page no="24"?> 24 welt. Wir erfahren den Raum über den Leib, indem wir aus einer Art latentem Hintergrund, dem „Horizont“ 28 jeweils einzelne „Punkte“ aktualisieren, zu denen wir uns dann in Bezug setzen. Der Raum kann also nie vollständig erfahren werden, es handelt sich immer schon um eine sich im Moment der Wahrnehmung vollziehende Räumlichkeit aus einer subjektiven Perspektive. „Endlich ist mein Leib für mich so wenig nur ein Fragment des Raumes, daß überhaupt kein Raum für mich wäre, hätte ich keinen Leib.“ 29 Das heißt ohne eigene Perspektive, die vom Standpunkt des Leibes bestimmt wird, ist die Erfahrung des Raumes nicht möglich. Diese Körperlichkeit des Subjekts im Raum ist des Weiteren im phänomenologischen Sinne intentional, das heißt direktional gerichtet. Bewegt der Leib sich im Raum, so geschieht dies nicht vollkommen unabhängig von diesen Raum, sondern stets in einem, „[…] der zu ihnen [den Bewegungen] in ganz bestimmter Beziehung steht.“ 30 Der Leib ist auch kein Gegenstand des cogito, keine körperlich-materielle Ausdrucksform der Existenz, die sich grundsätzlich von ihm getrennt denken lässt. Ohne die körperlich-materielle Gegenwart des Leibes in der Welt ist auch eine rationale, denkende Instanz des Ich nicht vorstellbar. Das Verhältnis der beiden ist demnach ähnlich wie bei Kunstwerken jeglicher Art, bei welchen „[…] Ausdruck und Ausgedrücktes nicht zu unterscheiden sind […]“. 31 Somit „ […] ist der Leib Ausdruck der gesamten Existenz, nicht als deren äußere Begleiterscheinung, sondern weil sie in ihm sich realisiert.“ 32 An späterer Stelle formuliert Merleau-Ponty diesen notwendigen existentiellen Aspekt des Leibes noch einmal neu, indem er festhält, dass das ‚Raumniveau‘ durch den Leib etabliert wird und jedes Sein nur durch Wahrnehmung denkbar ist: Da nun jedes erdenkliche Sein sich direkt oder indirekt auf die Wahrnehmungswelt zurückbezieht, diese aber nur zu erfassen ist durch ihre Orientierung, sind also Sein und Orientiertsein nicht voneinander trennbar; der Raum ist nicht mehr zu ‚begründen‘, die Frage nach dem Grundniveau nicht mehr zu stellen. Das primordiale Raumniveau liegt am Horizont all unserer Wahrnehmungen, doch als ein Horizont, der grundsätzlich nie in ausdrücklicher Wahrnehmung zu erreichen und zu thematisieren ist. 33 Indem Merleau-Ponty also jegliche Wahrnehmung und Erfahrung von Raum schon immer am Leib selbst etabliert, der der körperlich-materielle ‚Anhalt‘ an der Welt ist, schließt er jegliche rein objektive Begründung des Raumes jenseits des Subjekts aus. Dieser Konnex zwischen Subjekt und Welt ist als Ursprung des Raumes zu verstehen. Gleichzeitig kann aber auch das 28 Ebd., S. 127. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 167. 31 Ebd., S. 181. 32 Ebd., S. 198. 33 Ebd., S. 296. <?page no="25"?> 25 Subjekt nicht für sich selbst, jenseits des Raumes gedacht werden. Der räumliche Leib ist existentiell. Die Bedeutung, die so dem Raum bzw. der subjektiv erlebten Räumlichkeit und der Perspektive aus phänomenologischer Sicht für die menschliche Welterfahrung zukommt, bildet die Grundlage aller in der vorliegenden Arbeit folgenden Überlegungen und Analysen. II.1.3 Die Tiefe als existentielle Dimension Bereits in der Phänomenologie der Wahrnehmung befasst sich Merleau-Ponty mit der Dimensionalität des Raumes und hebt die besondere Bedeutung der Tiefe hervor, die ihn auch in späteren Schriften noch beschäftigen wird. Demnach sind für Empirismus und Intellektualismus Tiefe und Breite im Prinzip äquivalent, da sie jeweils nur als eine Aneinanderreihung einzelner Punkte verstanden werden. 34 Merleau-Ponty hingegen sieht in der Tiefe die „existentiellste“ der Dimensionen, da sie uns zwingt, vorurteilsfrei über die Art und Weise, wie wir uns zur Welt ins Verhältnis setzen, zu denken. Unmittelbarer noch als die anderen Dimensionen des Raumes zwingt uns die Tiefe, uns freizumachen vom Vorurteil der Welt und die primordiale Erfahrung wiederzufinden, der sie entspringt; unter allen Dimensionen ist sie gleichsam die ‚existentiellste‘, da sie […] sich in keiner Weise am Gegenstand selbst abzeichnet, vielmehr ganz offenbar der Perspektive, nicht den Dingen zugehört […]. Im Rückgang auf das Sehen der Tiefe, und damit auf eine Tiefe, die noch nicht objektiviert […] ist, werden wir einmal mehr über die klassischen Alternativen hinausgelangen und den Bezug von Subjekt und Objekt näher bestimmen können. 35 Durch die Tiefe wird erst das „Band zwischen Raum und Subjekt“ 36 sichtbar, wohingegen Breite und Höhe vielmehr die Beziehung der Objekte untereinander beschreiben. Dieses ‚Band der Tiefe‘ beschreibt also nichts anderes als die bereits erwähnte Intentionalität, das Gerichtetsein des Subjekts im Raum. Breite und Höhe versteht Merleau-Ponty zwar auch als existentielle Phänomene, jedoch in gewisser Weise zweiten Grades, da sie von der Tiefe abgeleitet sind. Die Tiefe wiederum hängt von der Perspektive ab und ist nicht den Dingen zugehörig. Der topologische Aspekt gewinnt so an Kontur: Mittels der Dimensionen werden die Beziehungen von Subjekt und Objekten im Raum beschrieben. Während die Tiefe in besonderer Weise Ausdruck der Intentionalität des Leibes, seines ‚Gerichtet-Seins‘ auf die Objekte ist, beschreiben Breite und Höhe die Beziehungen der Objekte untereinander. Alle 34 Vgl. hierzu auch die von Merleau-Ponty beschriebene ‚Degradierung‘ der Tiefe zur nachgeordneten, ‚dritten Dimension‘ in Descartes Dioptrique (Merleau-Ponty: „Das Auge und der Geist“, S. 293). 35 Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 298f. 36 Ebd., S. 311. <?page no="26"?> 26 drei Dimensionen dienen letztendlich dazu, den Raum relational (und nicht absolut) zu beschreiben. In dem später entstandenen Essay „Das Auge und der Geist“ spezifiziert Merleau-Ponty am Beispiel des Malers Cézanne und in kritischer Auseinandersetzung mit Descartes’ Dioptrique dieses Verständnis der Tiefe. Die Tiefe stellt sich dabei als das ständig Neue des Raumes dar, das nie vollständig ergründet werden kann. Denn je nach Position des Leibes wird auch die Tiefe modifiziert. Auch nach den perspektivischen Erkundungen der Renaissance und nach der Dioptrique wirft die Tiefe immer neue Fragen auf: „Ich glaube, daß Cézanne sein ganzes Leben lang die Tiefe gesucht hat“, sagt Giacometti und Robert Delaunay: „Die Tiefe ist die neue Inspiration.“ Vier Jahrhunderte nach den ‚Lösungen‘ der Renaissance und drei Jahrhunderte nach Descartes, ist die räumliche Tiefe noch immer neu und verlangt, daß man sie sucht […]. 37 Cézannes Malerei erweist sich immer wieder als ein Versuch, der Entfernung habhaft zu werden und das Rätsel der Tiefe zu lösen. Descartes hingegen wirft Merleau-Ponty vor, den Raum nicht als erlebten Raum, sondern als geometrische Konstruktion zu beschreiben. Raum werde bei ihm nicht sehend erlebt, sondern eher ‚ertastet‘ und nachträglich wie von einem Blinden konstruiert. 38 Letzten Endes ergibt sich aus der Kritik an Descartes die Aufforderung, das Ich als ein Teil und Ausgangspunkt des erlebten Raumes zu verstehen. Es wird so Grundlage für jedwede Räumlichkeit. Der Raum ist nicht mehr der, von dem die Dioptrique spricht, ein Netz von Beziehungen zwischen Gegenständen, so wie ihn ein Dritter als Zeuge meines Sehens erblicken würde, oder ein Geometer, der ihn rekonstruiert und überfliegt. Es ist vielmehr ein Raum, der von mir aus als Nullpunkt der Räumlichkeit erfaßt wird. Ich sehe ihn nicht nach seiner äußeren Hülle, ich erlebe ihn von innen, ich bin in ihn einbezogen. Schließlich ist die Welt um mich herum, nicht vor mir. 39 Eben jene Beziehung vom Ich zum Dort, über das sich Raum etabliert, wird durch die Tiefe beschrieben. Sie ist somit nicht etwa eine dritte Dimension, sondern diejenige, die das menschliche Subjekt Dinge in ihrer Beziehung zu ihm selbst und zu anderen Dingen überhaupt erst wahrnehmen lässt. Über die Tiefe äußert sich also die Perspektive, mit der das Ich sich in Relation zu Objekten im Raum setzt. Sie etabliert das primordiale Raumerlebnis, wozu der physikalisch-metrische Raum immer nur in einem nachgeordneten Verhältnis stehen kann. Raum ist ausschließlich in Bezug zum wahrnehmenden Subjekt zu beschreiben. Des Weiteren darf die Bedeutung, die dem Sehen 37 Merleau-Ponty: „Das Auge und der Geist“, S. 302. 38 Vgl. auch Stephan Günzel: „Einleitung“, in: Dünne/ Günzel: Raumtheorie, S. 105-128, hier S. 113. 39 Merleau-Ponty: „Das Auge und der Geist“, S. 300. <?page no="27"?> 27 zukommt, nicht unterschätzt werden. Wahrnehmung und Raumerfahrung finden hier in erster Linie als Sehen und visuelles Wahrnehmen statt. II.1.4 Anthropologischer Raum und Naturraum Wie bereits angedeutet wurde, schließt Merleau-Ponty den konstruierbaren, physikalisch-metrischen Raum nicht aus, sondern verneint lediglich dessen Ursprünglichkeit. Er steht in Konkurrenz mit den zahlreichen erlebten Räumen, die unter dem Begriff „anthropologischer Raum“ 40 zusammengefasst werden. Man müsste eigentlich von unterschiedlichen anthropologischen Räumen sprechen, da hier den verschiedenen Erfahrungswelten etwa von Schizophrenen, Künstlern, Träumenden und Tanzenden Rechnung getragen wird. So handelt es sich nicht einfach um eine ‚falsche Wahrnehmung‘, wenn sich zum Beispiel einem Schizophrenen eine Landschaft als allgegenwärtiges bedrohliches Etwas darstellt. Dieser den sichtbaren Raum durchdringende zweite Raum ist aber kein anderer als der, den von Augenblick zu Augenblick unsere je eigene Weise des Weltentwurfs entfaltet, und die Störung beim Schizophrenen besteht nur darin, daß dieser beständige Entwurf sich ihm ablöst von der objektiven Welt, wie die Wahrnehmung sie ihm noch darbietet, und ihm gleichsam sich in sich selbst zurückzieht. 41 Den Sonderfall des Schizophrenen bringt Merleau-Ponty an, um zu verdeutlichen, dass jedes menschliche Subjekt einen eigenen anthropologischen Raum erfährt, der nicht vollkommen objektivierbar ist und somit nie vollkommen in dem geometrischen Raum aufgeht. Dabei gibt es sehr große graduelle Unterschiede bei der Frage, wie sehr sich diese beiden Räume überlagern. Trotzdem wehrt sich Merleau-Ponty gegen den Vorwurf des reinen Psychologismus. Es ist offensichtlich, dass nichts mehr intersubjektiv vermittelbar wäre, lebten wir alle in unserem eigenen ‚anthropologischen Raum‘. „Nie gehe ich gänzlich in den anthropologischen Räumen auf, stets bleibe ich wurzelhaft einem natürlichen und unmenschlichen Raume verhaftet.“ 42 Das Verhältnis von Naturraum und anthropologischem Raum wird mit der Leinwand verglichen, die unter einem jedem Gemälde liegt. Der Naturraum scheint in den sinnlich-analytischen Wahrnehmungen, wie etwa die Wahrnehmung einer Farbe oder eines nackten, „geschichtslose[n] Stein[es]“ 43 , auf. Er bildet, wie die Leinwand für das Gemälde, den Erfahrungsgrund der anthropologischen Räume. Dabei sind Naturraum und die punktuelle Wahrnehmung desselben nicht mit der oben beschriebenen analytischen Wahrnehmung zu verwechseln. 40 Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 334ff. 41 Ebd., S. 334. 42 Ebd., S. 340f. 43 Ebd., S. 341. <?page no="28"?> 28 Wir sagten, der Raum sei existentiell, wir hätten auch sagen können, die Existenz sei räumlich, daß sie nämlich nach innerer Notwendigkeit sich einem ‚Außen‘ öffnet, und zwar so wesentlich, daß wir von einem geistigen Raum und von einer Welt der Bedeutungen […] sprechen können. Die anthropologischen Räume bieten sich selbst als aufgebaut auf dem Naturraum dar […]. […] Der primordiale Naturraum ist nicht der geometrische Raum, und dementsprechend ist die Einheit der Erfahrung gewährleistet nicht durch einen universalen Denker, der vor mir all ihre Inhalte auszubreiten und mich hinsichtlich ihrer jeglicher Wissenschaft und Macht zu versichern vermöchte. Sie ist nur angezeigt durch die Horizonte möglicher Objektivierung, sie stellt mich nur frei von jeder besonderen Umwelt, sofern sie mich bindet an eine sie alle umfassende Welt der Natur oder des An-sich. 44 Das heißt, die Welt um uns ist durchaus objektivierbar, sonst wären wir nie in der Lage, uns über dieselben Gegenstände in ihr zu unterhalten. Sie ist insofern objektivierbar, als dass wir alle Teil ihrer sind. Sie zeigt sich jedoch nicht als Ganzes, das wir umfassend als Objekt wahrnehmen und wissenschaftlich erfassen können, sondern deutet sich nur immer wieder in Momenten in unserem Erfahrungshorizont an. Mit dem Begriffspaar anthropologischer Raum und Naturraum beschreibt Merleau-Ponty also das, was uns primär als Raum gegeben ist und an dem wir alle Teil haben, und das, was durch unser Sich-in-Bezug-zur-Welt-Setzen darauf aufbaut. Obwohl der primordiale Naturraum jeder Erfahrung vorhergeht, können wir ihn nie in seiner Gänze fassen und er kann nie zum Gegenstand unseres Denkens werden. Es kann höchstens zu einem momentanen ‚Hindurchscheinen‘ eben der ‚Leinwand‘ jenes Naturraumes kommen, in welchem sich seine Existenz andeutet. II.2 Von der Wahrnehmung über die Sprache hin zu poetologischen Aspekten des Raumes Benet setzte sich in seinen Essays auf ästhetischer und poetologischer Ebene mit dem Problem von Raum (und Zeit) in der Literatur auseinander. Bei der Formulierung der beiden poetologischen Begriffe estampa und argumento ist die Malerei bzw. das Bild ein wichtiges Referenzmedium. Genauso wie Cézannes Gemälde einen für Merleau-Ponty wichtigen Fluchtpunkt in seinen Schriften zu Raum, Wahrnehmung und dem Sehen darstellen, entwickelt auch Benet poetologische und ästhetische Aspekte des Raumes in ständiger direkter oder indirekter Bezugnahme auf Gemälde und auf das Sehen. Raum bzw. eine spezifische Räumlichkeit kann nicht ohne Perspektive und 44 Ebd., S. 334f. <?page no="29"?> 29 somit nicht ohne das Sehen gedacht werden. Mit der Annahme von ‚perspektivischer Räumlichkeit‘ ist auch bei Benet ein Sich-in-Bezug-Setzen des sehenden Subjekts mit dem wahrgenommenen Objekt verknüpft. Er stellt mit estampa und argumento ein eigenes begriffliches Instrumentarium zur Verfügung. Während estampa ein chaotisches, räumliches Prinzip der Freiheit beschreibt, steht argumento für eine lineare Zeitlichkeit, die gleichzeitig einem gewissen Determinismus unterliegt. Trotzdem wird es nie um ein Entweder-Oder gehen. Die Terminologie bezeichnet vielmehr zwei Extreme einer poetologischen Skala, auf der die Texte oszillieren. Die Entwicklung dieser Terminologie wird in mehreren Schritten nachvollzogen. Dadurch ergeben sich verschiedene Parallelen zur Phänomenologie Merleau-Pontys, wie sie zuvor herausgearbeitet wurden. Implikationen, die für weitere theoretische Einordnung (nach Certeau sowie Deleuze und Guattari, Kapitel II.4) und für die Textanalysen von Bedeutung sind, werden hervorgehoben. Des Weiteren setzt sich dieses Kapitel mit der Kartographie auseinander. Der Essay „Cartografía elemental“ gibt einen Hinweis darauf, dass die Karten in Herrumbrosas lanzas und die in den Romanen häufige Rede von Karten durchaus einer systematischen Analyse wert sind und es notwendig ist, Kartographie in die Überlegungen einer ‚Poetik der Räumlichkeit‘ 45 mit einzubinden (Kapitel II.3). II.2.1 Visuelle und textuelle Wahrnehmungsprozesse Im ersten Schritt geht es um den Zusammenhang von visueller und textueller Wahrnehmung. 46 Benet zufolge ergeben sich unterschiedliche Wahrnehmungsprozesse bei der Rezeption von Bild und Text. Hier sind vor allen Dingen zwei Essays von Bedeutung: El ángel del señor abandona a Tobías 47 und ferner „La construcción de la torre de Babel“ 48 . In diesen beiden Texten nimmt Benet die barocken Gemälde „Der Engel verlässt die Familie des Tobias“ (1637) von Rembrandt van Rijn und „Großer Turmbau zu Babel“ (1563) von Pieter Brueghel dem Älteren zum (Rede-) Anlass, um dem Zusammenhang zwischen Bild, Text, Logos und Mythos nachzugehen und 45 Eine Zusammenfassung einer ‚Poetik der Räumlichkeit‘ bei Benet ist in folgender Publikation zu finden: Anna Marcos Nickol: „‘desdén hacia el orden espacial‘ - Acercamientos a una poética de la espacialidad de Juan Benet“, in: Nadine Chariatte/ Corinne Fournier Kiss/ Etna Krakenberger (Hgs.): Räume der Romania, Frankfurt am Main: Peter Lang, erscheint 2016. 46 Das Kapitel II.2.1 ist in leicht abgeänderter Form in folgender Publikation zu finden: Anna Marcos Nickol: „‘[El espectador] llamado a filas’ -Visuelle und textuelle Wahrnehmung bei Juan Benet”, in: Berit Callsen/ Sandra Hettmann/ Yolanda Melgar Pernías (Hgs.): Bilder-Texte-Bewegungen. Interdisziplinäre Perspektiven auf Visualität, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2016, S. 271-283. 47 Juan Benet: El ángel del señor abandona a Tobías, Barcelona: La Gaya Ciencia, 1976. 48 Juan Benet: „La construcción de la torre de Babel“, in: ders.: La construcción de la torre de Babel, Madrid: Siruela, 1990. <?page no="30"?> 30 sprachphilosophische Entwicklungen des Abendlandes kritisch zu hinterfragen. Die beiden Essays sind nicht nur insofern von Interesse, als Benet sich explizit mit den Unterschieden und dem Zusammenhang zwischen dem Betrachten eines Bildes, dem Lesen eines Textes und damit verbundenen Wahrnehmungsprozessen auseinandersetzt (dies expliziter in El ángel del señor abandona a Tobías). Sie sind auch deswegen bemerkenswert, weil es eben gerade die detaillierte Betrachtung von Gemälden ist, die Benet selbst dazu veranlasst, in den Essays einen immensen textuellen Überschuss zu produzieren (was hier am Beispiel von „La construcción de la torre de Babel“ gezeigt wird). Die Texte gehen weit über eine bloße Bildbeschreibung und -analyse hinaus. Das performative 49 Moment der Essays ist also in diesem Zusammenhang zu untersuchen. Wahrnehmung wird bei Benet als Prozess verstanden, der einen Verstehensprozess mit sich zieht. Benet selbst differenziert in den hier im Fokus stehenden Texten nicht eindeutig zwischen Wahrnehmung und Verstehen und verwendet die entsprechenden Begriffe percepción und intelección in denselben Kontexten und ohne nähere Erläuterung. Die intelección scheint eine Art originäres Verstehen zu sein, das sich unmittelbar mit der Wahrnehmung ergibt und so dem Wahrnehmungsbegriff Merleau-Pontys sehr nahe steht: Nun gibt es einen menschlichen Akt, der mit einem Schlage allen nur möglichen Zweifel durchbricht und in der Fülle der Wahrheit sich ansiedelt: eben die Wahrnehmung, im weitesten Sinne der Erkenntnis des Existierenden verstanden. 50 Diese Art der intelección, verstanden als „Erkenntnis des Existierenden“ und nicht als sekundärer analytischer Verstandesakt, wird vorausgesetzt, wenn im weiteren Verlauf von Wahrnehmungsprozessen die Rede ist. Dies deckt sich auch damit, was Benet unter ‚Prozess‘ versteht. Er erläutert in einer Fußnote in El ángel del señor abandona a Tobías kurz: „Al proceso de recorrer los componentes, uno a uno, por medio de un orden arbitrario analizable es, a mi parecer, a lo único que puede llamarse proceso. […]“ 51 Demnach hat ein Prozess stets etwas Ungeordnetes. Die Arbitrarität der Elemente ist neben dem zeitlichen Verlauf als ein elementares Charakteristikum des Prozesshaften zu verstehen. Geht man davon aus, dass Gemälde in der Regel einen Titel tragen, so gibt es Benet zufolge bei der Betrachtung der Gemälde immer zwei Arten der Wahrnehmung: eine visuelle und eine sprachlich-textuelle. Diese beiden 49 ‚Performativ‘ meint hier, dass die Bildbeschreibungen nicht nur das Bild beschreiben, sondern gleichzeitig die visuellen Eindrücke textuell vermitteln und erfahrbar machen. 50 Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 63, Hervorhebung von mir. 51 Benet: El ángel del señor, S. 29. <?page no="31"?> 31 „instantes de intelección“ 52 fallen zwar mehr oder weniger zusammen, sind aber trotzdem grundsätzlich zu trennen und differenziert zu betrachten: […] [L]os dos modos de intelección conciertan y, si eso es posible, dado que cada cual puede gozar de una instantánea independencia, será porque existen unas reglas, no por desconocidas menos compulsorias, que determinan y regulan el modo concertante de la percepción. 53 Ein Bild 54 hat demnach die Eigenschaft auf Anhieb eine Gesamtheit darstellen zu können: „Parece obvio decir que el pintor presenta, d‘emblée, una totalidad […].“ 55 Das heißt, es ist keine Zeitlichkeit in dem Sinne gegeben, als dass etwa der Engel auf dem Rembrandt-Bild zeitlich ‚vor‘ Tobias dargestellt würde. Diese „presentación instantánea local“ 56 ist keinem Ordnungsregime unterworfen, sie ergibt sich augenblicklich, synchron bzw. simultan und chaotisch. Wenn man sich als Betrachter auf Details des Bildes konzentriert, so wirft dieses immer neue Fragen auf: 57 Was geschah vor dem dargestellten Moment? Was bewegt die Figuren, was bewegt ihren Glauben? All das drückt das Gemälde nicht eindeutig aus. „La estampa no lo dice, desde luego.“ 58 Denn in dem Moment, in dem der Betrachter versucht, in der Zeit 52 Ebd., S. 13. 53 Ebd., S. 27f. Dieses Zitat ist auch ein Beispiel für die scheinbar undifferenzierte Verwendung der Begriffe intelección und percepción 54 Wenn es um die Gegenüberstellung von Malerei und Sprache (vor allen Dingen in der Verbindung mit Darstellung von Raum und Zeit) geht, so ist selbstverständlich an die entsprechende abendländische Tradition des ut pictura poesis nach Horaz, an Lessings Laokoon oder im Kontext des nouveau roman an eine ‚Beschreibungsliteratur‘ zu denken (vgl. etwa, wenn auch nicht mehr ganz aktuell, Hans Christoph Buch: Ut Pictura Poesis. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács, München: Hanser, 1972). Eine entsprechende Einordnung Benets kann und soll an dieser Stelle nicht vorgenommen werden. Es geht vielmehr darum herauszuarbeiten, wie Benet diese Gegenüberstellung nutzt, um aus einem realistischen Repräsentationsbegriff herauszufinden und sein eigenes poetologisches Programm zu formulieren. Siehe zur Geschichte und zur systematischen Einordnung der Ekphrasis: Gottfried Boehm/ Helmut Pfotenhauer: Beschreibungskunst, Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zu Gegenwart, München: Wilhelm Fink, 1995. 55 Benet: El ángel del señor, S. 14. 56 Ebd., S. 28. 57 Genau das macht Benet auf den Seiten 20 bis 26 des Essays: Er betrachtet Detailausschnitte aus „Der Engel verlässt (die Familie des) Tobias“, „Der Engel verhindert die Opferung Isaaks“ (Öl auf Leinwand, 1635) und „Abrahams Opfer“ (Radierung, 1655) (die beiden letzteren auch von Rembrandt). In Bezug auf die beiden letzteren ist die deutsche Übersetzung des Titels interessant, zieht man in Betracht, dass Benet genau die Unzulänglichkeit des spanischsprachigen Titels (beide Male „El sacrificio de Abraham“) in Bezug auf den Genitiv kritisiert (vgl. ebd., S.26). 58 Ebd. Hier wird bei Benet das Begriffspaar estampa - argumento bereits eingeführt. Aus methodologischen Gründen wird jedoch an dieser Stelle noch nicht näher auf die poetologische ‚Funktion‘ der Begriffe eingegangen. Siehe hierzu Kapitel II.2.3. Auf die Engführung von Bild/ Gemälde und estampa sei jedoch hingewiesen. <?page no="32"?> 32 zurückzugehen, um die Hintergründe des Dargestellten nachzuvollziehen, ergeben sich aus dem Gemälde nur noch Indizien und es wirft umso mehr Fragen auf. Gleichzeitig enthält das Gemälde auch all das, was es nicht ‚sagt‘. Es verweist in Andeutungen auf die Geschichte, aus dem es einen Augenblick darstellt. Der Betrachter des Bildes ist aber auch immer ein verbal-grammatikalisch geschulter. Einem ‚linguistischen‘ Verständnis zufolge wird er also versuchen, einen Protagonisten, ein Subjekt auszumachen, das das Geschehen auf dem Gemälde bestimmt. Beim Beispiel von El ángel del señor abandona a Tobías wird er es in der Interaktion zwischen dem Engel und der Familie des Tobias finden, sprich im Abschiednehmen. So wird der oben bereits zitierte Satz folgendermaßen weitergeführt: [...] [U]na totalidad de la cual el espectador - llevado por una tradición de su pensamiento verbal que sin duda deja de lado cuando se trata de la contemplación visual de un conjunto ordenado con acuerdo con reglas “que saltan a la vista” antes de que el pensamiento deduzca las normas sintácticas - desea extraer un sujeto, éste no será ninguno de los dos protagonistas, sino más bien la acción que se desarrolla entre los dos y que, en su traslación a la vía léxica, se resume en el verbo. 59 Gleichzeitig ist es üblich, spätestens nach einem ersten visuellen Eindruck eines Gemäldes, den Titel des Bildes auf der placa zu lesen und diesen Leseeindruck in die Wahrnehmung des Betrachteten mit einfließen zu lassen. Dabei läuft der Betrachter jedoch Gefahr, zwei gleichwertige Wahrnehmungen nicht miteinander in Einklang bringen zu können. Stattdessen schiebt sich die textuelle Wahrnehmung über die visuelle und drängt den Betrachter in das lineare Syntagma der Sprache: En oposición a la estampa que por su presentación instantánea local puede prescindir de la ayuda del orden - en su doble sentido de arreglo y mandato - y por consiguiente de su obediencia a uno cualquiera, la doble y complementaria función expresión-intelección cuando se hace por la vía verbal lo exige siempre. 60 Benet hat explizit und sehr kritisch die strukturalistische Sprachwissenschaft im Hinterkopf, wenn er vom „carácter lineal del significante“ 61 spricht und das Funktionieren der „vía verbal“ nachzeichnet. Er sieht in ihr die Gefahr eines Verständnisses von Sprache, das diese nur auf das lineare Syntagma beschränkt und ihr eine ordnende Funktion zuspricht, die ein simultanes Chaos reglementiert und regelrecht ‚domestiziert‘. In diesem Moment ist die Sprache ihrer Freiheit (mit allen ideologischen Implikationen) beraubt. 59 Ebd., S: 14. 60 Ebd., S. 28. 61 Ebd. <?page no="33"?> 33 Como consecuencia de esa linealidad la frase es un sumario de órdenes, en su doble sentido, en virtud de lo cual el espectacular [sic! ] convertido en lector, de aquel campo donde podía ejercer a su antojo la libertad de percepción es arrastrado y confinado al severo cuartel donde no podrá dar un paso que no sea en obediencia a una voz de mando. Cabe decir que el ciudadano espectador en el mismo momento de apartar su atención del lienzo para fijarla en la placa y leer el título, es llamado a filas. 62 Dies ist eine zentrale Textstelle. Denn hier wird offensichtlich, dass Benets poetologisches Projekt - die (literarische) Sprache regelrecht zu befreien und die Literatur aus dem Repräsentationsbegriff des vorherigen Jahrhunderts herauszuführen - auch ein ideologisches ist. Die durchgängige militärische Metaphorik ist im Jahr 1976, ein Jahr nach dem Tod Francos und dem Ende der Diktatur, keine Spielerei. ‚Ideologisch‘ heißt nicht, dass etwa die Poetik in den Dienst einer politischen Ideologie (der Linken in Spanien) gestellt würde. ‚Ideologisch‘ meint die bewusste Befreiung der Sprache und Wahrnehmung von jeglicher ideologischen Vereinnahmung 63 . Diese sieht Benet sowohl in der unheilvollen Verbindung von (bürgerlicher) Gesellschaft und Literatur im spanischen Realismus 64 als auch in der Vereinnahmung der Sprache durch die ‚Wissenschaft‘ in Form der (strukturalistischen) Linguistik. All dem liegt das Missverständnis oder Verkennen zu Grunde, die Sprache sei tatsächlich ein geeignetes Instrument, unsere Welt, aufgrund einer substantiellen Verbindung zu ihr, mimetisch abzubilden und darzustellen. 65 Dieses ‚militärische‘ Verständnis von Sprache hat im Kontext der Wahrnehmung Auswirkungen. Die synchrone Wahrnehmung des Bildinhalts wird durch den „itinerario diacrónico“ 66 durchbrochen und geordnet. Demzufolge würde man dem spanischen Titel nach zunächst den Engel, dann die Aktion des abandonar und zuletzt Tobias wahrnehmen. Würde steht im Konjunktiv, da man in der Praxis nie die dos modos de intelección bewusst wird trennen können - und weil es nicht darauf ankommt, sich durch die Ordnung des Satzes ‚einberufen‘ zu lassen, sondern dass beide Wahrnehmungsarten tatsächlich als Prozesse (s.o.) zugelassen werden: Es posible que todo ello se haya producido sin orden - en el doble instante de percepción del espectador - pero con concierto. […] [E]l “concierto” es un 62 Ebd., Hervorhebungen von mir. 63 Auch wenn hier - insbesondere in Bezug auf die Formulierung „llamado a filas“ - die Assoziation mit Althussers ideologischer Interpellation bzw. Anrufung zu weit geht, so ist es doch bemerkenswert, welch drastisches Bild des sprachlichen Syntagmas hier durch die Isotopie des Militärischen entworfen wird. 64 Siehe zu diesem arte social und seiner Fortführung in der spanischen Nachkriegsliteratur Kapitel II.2.3. 65 Auf diesen Aspekt geht das folgende Unterkapitel noch detaillierter ein. 66 Vgl. die Skizze auf ebd., S. 29. Die strukturalistische Unterscheidung von synchron und diachron wird trotz aller Ablehnung bewusst von Benet übernommen. <?page no="34"?> 34 modo de actuar con elementos independientes entre sí que tanto pueden concertar, de acuerdo con las reglas, como desconcertar. Y es condición esencial para que exista otro no concertante, en el que cada instrumento gozando y haciendo gala de su independencia se desinterese y divorcie del juego de los demás. 67 Mit Betrachten und Lesen liegen demzufolge durchaus zwei unterschiedliche Arten der Wahrnehmung vor, die jedoch intensiv zusammenspielen. Beide ziehen unterschiedliche Momente des Verstehens mit sich, die ihrerseits auch zusammenspielen. Es wird nicht etwa der erste ‚chaotische‘ Eindruck durch das Lesen des Titels geordnet. Vielmehr ergänzen sich die Informationen, die man durch das Betrachten und das Lesen erhält. Gleichzeitig gilt es sich gegen die Vorstellung zu wehren, sprachliche Wahrnehmung führe immer schon zu eindeutigem und eindimensionalem Verstehen. Die Annahme, sprachlich-textuelle Wahrnehmungsprozesse entsprächen stets dem, was Merleau-Ponty als sekundäre, analytische Wahrnehmung beschreibt, wird abgelehnt. Sie schieben sich nicht bestimmend als logos über die bildliche Wahrnehmung und übernehmen die Befehlsgewalt. In dem Falle wäre Sprache ein zuverlässiges und rein epistemologisches Instrument. Vielmehr stellen der kurze Text der placa, wie auch das Bild selbst gleichwertige Wahrnehmungsgegenstände dar, denen sich der Rezipient als espectador und lector annähert. Text initiiert nicht von vornherein jene analytische Wahrnehmung, sondern ist Teil des Prozesses, der von arbiträren Elementen ausgeht. Umgekehrt lässt sich auch festhalten, dass Benet durch seine überbordende Beschreibung genau das erfahrbar macht, was Johannes Grave (in Anlehnung an Gottfried Boehm und Wolfgang Iser) als die ‚rezeptionsästhetische Temporalität‘ von Bildern beschreibt: Nimmt man den Gedanken ernst, dass Bilder sowohl sukzessiv als auch simultan erfahren werden, dass mithin bald einzelne im Bild erscheinende Figurationen, bald aber auch das Bild als Ganzes in den Blick kommt, so folgt daraus, dass die Zeit des Bildes nicht mehr bloß aus dem räumlichen Nebeneinander seiner Elemente erschlossen werden kann. Wichtig ist dann nicht nur, wann eine bestimmte Partie des Bildes erfasst wird, sondern auch als was sie betrachtet wird. 68 Benet interessiert die Räumlichkeit der Bilder und die genannte Simultaneität, besteht aber auf dem prozessualen, das heißt sukzessiven Charakter auch der bildlichen Wahrnehmung und macht genau diesen Wahrnehmungsprozess für den Leser wiederum erfahrbar. Dabei deutet sich an, dass 67 Ebd., S. 27, Hervorhebung von mir. 68 Johannes Grave: „Der Akt des Bildbetrachtens. Überlegungen zur rezeptionsästhetischen Temporalität des Bildes“, in: Michael Gamper/ Helmut Hühn (Hgs.): Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft, Hannover: Wehrhahn, 2014, S. 51-71, hier S. 59f. <?page no="35"?> 35 hier gleichermaßen ästhetische wie auch poetologische Qualitäten eine Rolle spielen. Es geht darum, welche Eigenschaften dem ästhetischen Objekt zu eigen sind und welche Maximen für die eigene textuelle Produktion daraus erwachsen. Vor allen Dingen die oben zitierte Stelle zum espectador llamado a filas lässt vermuten, dass neben den genannten ästhetischen und poetologischen Aspekten auch eine ethische Ebene virulent wird. Der Betrachter bzw. Leser wird in einem ‚realistischen‘ Rezeptionsverständnis militärisch einberufen und in das lineare Syntagma der Sprache gedrängt. Gleichzeitig wird er aber durch den Text dazu gebracht, die eigene Wahrnehmungseinstellung zu modifizieren - er wird zur Verantwortung gerufen, sich einer solchen Sprachideologie nicht zu unterwerfen. Denn letztlich legt das phänomenologische Verständnis von Wahrnehmung (das bekanntermaßen auch den Ausgangspunkt von Isers Rezeptionsästhetik bildet) immer schon die Interaktion und Verschränkung zwischen Wahrnehmungsgegenstand und Subjekt zugrunde. Mit Hilfe des zweiten Essays wird diese Argumentation nun weitergeführt. Das Gemälde La construcción de la torre de Babel gibt sich als Prototyp der estampa. Das Motiv (der nicht abgeschlossene Turm zu Babel) zeigt sich dem Betrachter auf den ersten Blick frontal und unbewegt 69 , ganz ohne die dramatischen Elemente einer Handlung. Die Komposition des Bildes ist geradezu perfekt auf den Betrachter ausgerichtet: El edificio se presenta mediante una perspectiva cónica, con su eje vertical coincidente con la mediatriz menor de la tela y la línea del horizonte situada a dos tercios aproximadamente de su base, de suerte que el punto de fuga […] coincide en altura con los ojos de un espectador de estatura normal […]. No cabe mayor frontalidad. 70 Gerade durch diese konventionelle und streng konstruierte Komposition - der Zusammenfall der Mittelachse des Turmes mit der des gesamten Bildes und die Situierung des Horizonts auf etwa zwei Dritteln der Bildhöhe - weist das Bild aber auch schon auf seine eigene Konstruiertheit hin, bzw. Benet macht den Leser und Betrachter auf diese Konstruiertheit aufmerksam. Das Bild zeigt sich von Anfang an als Bild und in seiner Opazität bzw. in seiner Materialität. Gleichzeitig blickt das Gemälde den Betrachter mit „los ojos con fondo rojo“ 71 an. 72 Gemeint sind damit die zahlreichen Tor- und Fensterbögen, die sofort ins Auge stechen und den Turm wie ein vieläugiges Wesen erscheinen lassen. Das Bild ist von Anfang an kein passives Objekt, sondern aktiver Bestandteil des Wahrnehmungsprozesses. 69 Siehe zur ‚unbewegten Bewegtheit‘ der estampa das Unterkapitel II.2.3. 70 Benet: „La construcción“, S. 14. 71 Ebd. 72 Vgl. zum performativen ‚Blickakt‘ und dem Blicken der Bilder Sybille Krämer: „Gibt es eine Performanz des Bildlichen? Reflexionen über ‚Blickakte‘“, in: Ludger Schwarte (Hg.): Bild-Performanz. Die Kraft des Visuellen, München: Wilhelm Fink, 2001, S. 63-88. <?page no="36"?> 36 Das Besondere an dem Gemälde ergibt sich Benet zufolge gerade aus der Tatsache, dass ein Gebäude derart im Vordergrund steht, zum Protagonisten des Dargestellten wird und jede noch so kleine Andeutung einer Handlung in den Hintergrund tritt. Dies alles gilt jedoch nur auf den ersten Blick. Durch den gesamten Essay ziehen sich Formulierungen wie „por tratarse en apariencia de un objeto inanimado“ 73 , „Una vez más es preciso apartar la vista de las apariencias […]“ 74 , „Brueghel en apariencia - siempre hay que mencionar las apariencias […]“ 75 ; „En apariencia la torre está diseñada de acuerdo con el gran estilo romano […]“ 76 etc. Mit dieser Isotopie des Scheinhaften beschreibt Benet nicht nur das barocke Spiel mit Schein und Sein und die damit einhergehende epistemologische Krise. Er formuliert gleichzeitig eine spezielle Wahrnehmungseinstellung, bei der ein immer wieder neues Hinsehen und Betrachten notwendig ist. Denn der äußere Schein, die apariencia, vermag keine verlässliche Information über die Dinge selbst zu geben. Sie initiiert lediglich ein immer neues Anvisieren, eine immer wiederkehrende Neujustierung des Blicks, die Benet gleichzeitig mit seinem beschreibenden Essay vollzieht. So ergibt sich ‚beim näheren Hinsehen‘ im Bild die geschäftige Unruhe eines Bienenstocks, während sich ‚aus der Ferne‘ dem Betrachter ausschließlich das statische und unabgeschlossene Bauwerk erschließt: […] de lejos una fábrica inacabada y destinada a la ruina, de cerca una colmena donde cada individuo lleva a cabo su trabajo específico dentro de un orden riguroso y perfectamente analizable […]. 77 Es zeigt sich eine immense Diskrepanz zwischen dem Innen und dem Außen des Turms, zwischen dem Verfall bzw. der Agonie 78 und dem geschäftigen Treiben der Bauarbeiter, zwischen der Idee des Turms als statisches Monument und seiner essentiellen Unabgeschlossenheit, dem fortwährenden Turmbau. Der Turm ist somit vor allen Dingen von Unvollkommenheit und Ambiguität geprägt. Dies und das notwendige „apartar la vista de las apariencias“ führt zur Unsicherheit beim Betrachter. Benet vollzieht nicht nur die ständig eingeforderte Neujustierung des Blicks, sondern überträgt gleichzeitig diese Unsicherheit als Betrachter auf den Text. Insbesondere wenn er sich den architektonischen Details des Turmes 73 Benet: „La construcción“, S. 13, Hervorhebung von mir. 74 Ebd., S. 26, Hervorhebung von mir. 75 Ebd., S. 31, Hervorhebung von mir. 76 Ebd., S. 39, Hervorhebung von mir. 77 Ebd., S. 19. 78 Siehe zum Vergleich des Turms mit einem sterbenden Körper, an dem eine Vivisektion vorgenommen wird, ebd., S. 22. Benet legt hier eine allegorische Deutung des Turms für eine sterbende Gesellschaft nahe. <?page no="37"?> 37 von Brueghel widmet, wird der Leser extrem gefordert. 79 Denn es ist kaum möglich als Leser den Beschreibungen der einzelnen Module und Verstrebungen zu folgen, ohne dass es entweder eines ständigen Blicks auf das Gemälde selbst bedarf oder der Hilfszeichnungen und Visualisierungen, die Benet seinem Text beifügt. Als Beispiel sei die Beschreibung der Verstrebungen zitiert: En la planta de cimientos el contrafuerte apenas tiene tratamiento, es tan sólo una masa de roca tallada en el diapiro o formada con grandes sillarejos sin pulimentar a fin de emparentarlos con los naturales; el de la planta primera presenta frontalmente cuatro planos y aun con la inserción de esa punta de diamante que descansa en los dos intermedios su dominante es la robustez; en la segunda la punta de diamante ha crecido hasta convertirse en una imposta que al cubrir casi toda la superficie frontal del contrafuerte enfatiza su función ornamental; en la tercera y siguientes el contrafuerte deja de ser más ancho en la base que en el remate y se convierte en un machón paralelepipédico con una moldura en toda su longitud; tal solución está poco menos que obligada por el decreciente alambor de la torre y la imposibilidad de mantener el mismo retranqueo entre los diámetros de dos tambores sucesivos. 80 Auch wenn die einzelnen parataktischen Satzteile den Stockwerken entsprechend mit Semikola getrennt werden, ist es wohl den wenigsten Lesern möglich, nach diesem Satz die wesentlichen Unterschiede der Verstrebungen wiedergeben zu können. Die bloße textuelle Beschreibung übersteigt das Vorstellungsbzw. Erinnerungsvermögen des Lesers (und vormaligen Betrachters), während die bloße Betrachtung wohl nie derart detailliert die Unterschiede und die Entwicklung der einzelnen Stockwerke analysieren könnte. Benet fokussiert nacheinander verschiedene Details des Gemäldes (wie eben die architektonischen Eigenheiten der einzelnen Stockwerke und Verstrebungen, die Diskrepanz zwischen äußerer und innerer Bauart oder die verschiedenen Baumaschinen). In gewisser Weise versinkt er so in einzelnen Details des Bildes. Nach Grave steht dieses Versinken im Bild im Kontrast zur bereits beschriebenen Materialität bzw. Konstruiertheit des Bildes. Darüber hinaus verweisen sowohl der Titel des Bildes als auch das Dargestellte, der fortwährende Turmbau, auf die Konstruktion. In Graves Überlegungen zur rezeptionsästhetischen Temporalität des Bildes ist es genau der bildinterne Widerstreit „zwischen Darstellungsmitteln und Dargestelltem, zwischen der ‚Opazität‘ des Bildes und seiner Referenzialiät“ 81 , die eine solche Temporalität überhaupt erst konstituiert. 79 Von besonderem Interesse ist hier der „excursus estílistico“ (ebd., S. 39ff). Aber auch bereits die Beschreibung der verwendeten Materialien und auf dem Bild dargestellten Gerätschaften auf S. 32f fordert den Leser heraus. 80 Ebd., S. 43f. 81 Grave: „Der Akt des Bildbetrachtens“, S. 64. <?page no="38"?> 38 Gottfried Boehm zufolge konvergieren die Potentiale von Sprache und Bildern im Zeigen. 82 Demnach gelingt eine Bildbeschreibung, „wenn sie das zuwege bringt, was das Bild im Kern auszeichnet: Ungesehenes sichtbar zu machen, es für das Auge herauszuheben, es zu zeigen.“ 83 Dabei geht es nicht darum, das Bild möglichst vollständig in der Sprache ‚abzubilden‘. Vielmehr schafft eine gute Bildbeschreibung es, den Spielraum, den das Bild eröffnet, auch in der sprachlichen Darstellung erfahrbar zu machen. In diesem Sinne lassen sich Benets Essays als gelungene Bildbeschreibungen verstehen, auch wenn sie selbstverständlich über dieses Anliegen in vielerlei Hinsicht hinausweisen. Textstellen wie die oben zitierte machen die Temporalität des Bildes erfahrbar, indem sie durch tendenzielle Überforderung des Lesers den Widerstreit zwischen Darstellungsinteresse und Materialität der eigenen Darstellungsmittel ‚zeigen‘. Text und Bild fordern en concierto den Leser heraus und initiieren Wahrnehmungs- und Verstehensprozesse, die die eines espectador llamado a filas (im ideologischen Sinne) übersteigen. Sie zielen nicht auf eine eindeutige Deutung ab, sondern nähern sich dem Phänomen durch einen ständigen Vollzug. So stellen die Bildbeschreibungen Benets die konsequent textuelle Fortführung der Bilder dar. Eine weitere Reflexion erfährt das Verhältnis von Text und Bild mittels der Inkorporation des Mythos durch den Turm auf dem Gemälde. Der Mythos ist Benet zufolge ohne rekonstruierbaren Ursprung und wird als immer gleicher Inhalt in variablen Ausführungen rezipierbar. 84 Im Mythos vom Turmbau und der Existenz einer einheitlichen Sprache wird das Wort selbst zum Mythos, dessen Grund und Ursprung man nicht einholen kann. Der Mythos ist Quell ständiger Beunruhigung und gibt Anstoß zu nie enden wollenden Nachforschungen. Er gibt sich wie die exakten Wissenschaften den Deckmantel eines zuverlässigen ‚Berichts von Ereignissen‘, verdeckt jedoch damit nur seine eigene Ursprungslosigkeit. El mito se presenta siempre como un remedo de la ciencia, como un relato que conteniendo todos los ingredientes hermenéuticos de un suceso en realidad sólo consigue encubrirlo y dar pie a una investigación ulterior que sin 82 Zur ‚Wiederentdeckung des Zeigens‘ durch die Bildwissenschaften siehe den Band Gottfried Boehm/ Sebastian Egenhofer/ Christian Spies (Hgs.): Zeigen. Die Rhetorik des Sichtbaren, München: Wilhelm Fink, 2010. 83 Gottfried Boehm: „Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache“; in: Boehm/ Pfotenhauer (Hgs): Beschreibungskunst, Kunstbeschreibung, S. 23-40, hier S. 39. 84 Meine Argumentation folgt diesem Mythenbegriff. Siehe zu der Benetschen Definition bereits das Vorwort: „[…] [L]a ingeniería mitológica […] ofrece un buen número de ejemplos ubicuos […] que no se puede atribuir a una sola cultura y muestran ciertas tendencias del espíritu hacia la fabulación de una técnica cuyo origen ha escapado a la memoria colectiva. El mito es la renovación permanente de la fábula y muestra que aquel espíritu no ha sido aplastado por la civilización tecnológica.“ (Benet: „La construcción“, S. 10). Siehe auch ebd., S. 49: „[...] [S]e puede definir el mito como un invariante ucrónico determinado por un conjunto de variables históricas.“ <?page no="39"?> 39 ser necesariamente satisfactoria permite sustituir los sujetos narrativos por cualesquiera otro susceptibles de ser sometidos a una parecida flexión. 85 Der auf Brueghels Gemälde dargestellte Turm verkörpert genau die in diesem Zitat beschriebenen Eigenschaften des Mythos: die unbewegte Oberfläche überdeckt das Getümmel im Inneren. Auch architektonisch stehen Inneres und Äußeres in einem nicht auflösbaren Widerspruch. Die Konstruktion trägt ihr eigenes Scheitern bereits in sich und führt so zu der essentiellen Unabgeschlossenheit des Turms. Diese Eigenschaften wiederum initiieren einen Wahrnehmungsprozess, der zur textuellen Überproduktion führt: Einerseits schreibt Benet im vollen Bewusstsein des nicht einholbaren Ursprungs des Mythos, andererseits folgt er den „ingredientes hermenéuticos“, die der Mythos hergibt, um wiederum im eigenen Text die Ambiguitäten und Unabgeschlossenheit menschlicher Wahrnehmung auszustellen. II.2.2 Darstellung als Projektion und die Perspektive in der Sprache In diesem zweiten Schritt geht es um die Frage, inwiefern Sprache als Repräsentationsmedium dienen kann und inwiefern die Anforderungen an Sprache und an sprachliche Darstellung immer schon von linguistischen Anforderungen und Determinismen überformt werden, die den Eigenheiten der Sprache nicht gerecht werden. Vor dem Hintergrund des Themas Raum ist wichtig herauszustellen, dass Benet Sprache als Projektionssystem versteht: En las páginas que siguen se halla latente la idea de que toda ciencia del lenguaje es necesariamente insuficiente porque, sea cual sea su perspectiva para conseguir su representación, tendrá que prescindir de una dimensión de aquél; es como representar un sólido en un plano; incluso lo es el lenguaje corriente, el de la comunicación entre las personas, limitación de uno más amplio para adecuarlo a ciertas finalidades. Solamente el poeta que lo domina en sus dos ámbitos, que lo piensa y maneja en su totalidad y lo libera con frecuencia de referencias a otra cosa, puede hablar con pleno derecho de él. Y tal vez por eso no lo hace. 86 Mit diesen Sätzen endet das Vorwort Benets zu El ángel del señor abandona a Tobías. Sie nehmen bereits viele Elemente vorweg, die im Folgenden erläutert werden. Der Sprache liegt erstens insofern genuin räumliches Verständnis zu Grunde, als dass es um ein mathematisches Verständnis von Darstellung geht: Sie ist die Projektion eines komplexen Körpers und reduziert damit immer das Original um eine Dimension. Zweitens kann davon ausgegangen werden, dass Sprachgebrauch schon immer perspektivisch ist und nie objektiv sein kann. Jede Sprachwissenschaft ist somit insuffizient - ihr 85 Ebd. 86 Benet: El ángel del señor, S. 11. <?page no="40"?> 40 wird es nie möglich sein, sich der Sprache selbst anzunähern. Wichtig sind vielmehr der Umgang mit und das unaussprechliche Wissen über Sprache. Demzufolge ist der einzig adäquate Umgang mit Sprache der poetisch-literarische, da er, wie sich zeigen wird, die Ambiguitäten der Sprache zulässt und nicht verdeckt und gleichzeitig nicht versucht, von der Sprache zu abstrahieren. Drittens, und dies ist im Hinblick auf die spätere Auseinandersetzung mit Benets Karten von Interesse, ist der Weg zur Kartographie bzw. Kartenprojektionen 87 nicht weit. Benets kritische Auseinandersetzung mit der Sprachwissenschaft im Allgemeinen und der strukturalistischen im Besonderen, ist eine eigene Publikation wert. 88 Seine generelle Skepsis der Linguistik gegenüber scheint, wie bereits im vorhergegangenen Unterkapitel angedeutet, ein weiterer Ausdruck seiner tiefen Abneigung gegenüber der Vereinnahmung der Sprache durch eine positivistisch geprägte Wissenschaft zu sein, die eindeutige und allgemein gültige Aussagen über Sprache zu treffen sucht. Die strukturalistische Linguistik nach Saussure ist Benet zufolge dem concepto und damit einer neuen Art der platonischen Metaphysik verfallen, ohne sich der realisierten Sprache zuzuwenden. Er spricht vom „huevo de Saussure“, womit er das sprachliche Zeichen meint: Signifikat (als yema) und Signifikant (als clara). Anders als bei Saussures Metapher der ‚zwei Seiten eines Papiers‘ ist bei Benets Bild vom Ei bereits eine Hierarchie angelegt. Die strukturalistische Betrachtung ist demnach immer schon auf das Signifikat ausgerichtet, die clara bleibt also bei der stetigen Fokussierung auf die yema im Hintergrund, ebenso wie die Relation zwischen beiden. Somit steht die Realisierung in gesprochener und schriftlicher Sprache immer hinten an, es ginge nur noch darum, Begriffe (conceptos) zu kommunizieren. Für Benet ist es aber die realisierte Sprache (lenguaje cat-exojén, also die Sprache ‚im eigentlichen Sinne‘), auf die es ankommt. Sie muss nicht auf ein abstraktes Gerüst von Begriffen zurückgreifen, sondern wird in der Realisierung bedeutsam. 89 Sprache (im Sinne der langue) kann, Benet zufolge, nie eine direkte Darstellung der Wirklichkeit sein kann. Er versteht Darstellung im Sinne einer mathematischen Projektion. Das heißt zunächst, dass die Projektion stets um 87 Siehe zu der Problematik der Kartenprojektionen und einer historischen Kontextualisierung derselben Robert Stockhammer: Die Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur, München: Fink, 2007, S. 19ff. 88 Meines Wissens nach sind diese sprachphilosophischen Überlegungen Benets in der Forschungsliteratur noch nicht behandelt worden. 89 Vgl. Benet: El ángel del señor, S. 37ff. Nach Mahler wäre diese Argumentation mit der Instrumentalisierung der Materialität der Sprache (verso in der sprachlichen Matrix) zugunsten der Diskursivität, der mimetischen Darstellung und eines Nacheinanders in der Zeit (recto) zu erklären. (Vgl. Andreas Mahler: „Semiosphäre und kognitive Matrix. Anthropologische Thesen“, in: Jörg Dünne/ Hermann Doetsch/ Roger Lüdke (Hgs.): Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten. Raumpraktiken in medienhistorische Perspektive, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004, S. 57-69, hier S. 65.) <?page no="41"?> 41 (mindestens) eine Dimension ‚ärmer‘ ist, als das dargestellte Objekt. 90 Mit einer Projektion ist Informationsverlust verbunden. Insofern kann auch eine Projektion nicht objektiv sein. Mit ihr geht immer eine Perspektive einher, die nie alle Informationen wiedergeben kann. So sind weder die Sprache noch der Sprachgebrauch objektiv, sondern perspektivisch: „[…] [E]n la estructura de toda lengua existen implícitas e insoslayables unas ciertas leyes de perspectiva […].“ 91 Dementsprechend liegen der Darstellung räumliche Bedingungen zugrunde. Entspricht ihre Funktionsweise der einer mathematischen Projektion, so sind auch (sprach-) wissenschaftliche Analysen nichts anderes als solche Projektionen. Sie versuchen, das ‚zu untersuchende Objekt‘, also die Sprache selbst, aus einer bestimmten Perspektive darzustellen. Die Projektion kann nie die Komplexität des Originals abbilden und ist im Vergleich zu ihm immer unzureichend: […] [C]ualquier representación y análisis de la lengua adolece […] de la misma insuficiencia que la proyección en un plano cualquiera respecto al objeto espacial representado. 92 Das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit beschreibt Benet wiederum mit einem weiteren mathematischen Begriff, dem der einhüllenden Funktion: […] [S]erá la espacialidad de ese objeto [=de la lengua] que para cumplir la función envolvente del continuo espacio-tiempo físico no puede optar por otra dimensionalidad que la de otro continuo espacio-tiempo forzado a ceñirse en paralelismo al mundo de los fenómenos físicos. 93 Eine solche Funktion hüllt eine Schar von anderen Kurven bzw. Funktionen ein und berührt jede der Kurven aus dieser Schar genau einmal. Die Einhüllende ist dabei stets niedriger dimensioniert als die Kurvenschar. Die lengua 90 Dies ist ein wesentlich schärfer definierter Projektions- und Dimensions-Begriff, als man ihn manchmal in der ‚Anwendung‘ von Raumtheorien in der Literaturwissenschaft beobachten kann. Siehe zum Beispiel die „Dimensionen projizierter Orte“. ‚Dimension‘ wird dort von Barbara Piatti in einer aktuellen Spielart des etwas naiven Hand-in-Hand-Gehens von positivistischem Erkenntnisinteresse und Literatur genutzt. Siehe http: / / www.literaturatlas.eu/ 2014/ 01/ 09/ traume-sehnsuchte-erinnerungen-uber-die-darstellung-der-dimensionen-projizierter-orte-in-fiktionen/ [zuletzt konsultiert am 31.03.2016] 91 Benet: El ángel del señor, S. 71. Stockhammer stellt heraus, dass kartographische Projektionen keine Perspektiven sind. Er meint jedoch hier mit Perspektive die menschliche Perspektive, sprich einen Blickpunkt, den ein Mensch tatsächlich einnehmen könnte. (Vgl. Stockhammer: Die Kartierung der Erde, S. 27.) Im Zusammenhang mit Benet wird Perspektive jedoch als Gegensatz zur Illusion einer vollständigen Objektivität gemeint, sprich der Informationsverlust einer Projektion im Vergleich zum Original. 92 Benet: El ángel del señor, S. 71. 93 Ebd., S. 72. Anmerkung und Hervorhebung von mir. <?page no="42"?> 42 ist in diesem Bild die Einhüllende, die eine höher dimensionierte Kurvenschar umhüllt. Diese Kurvenschar ist jedoch nicht unsere empirische Wirklichkeit, unser Raum-Zeit-Kontinuum selbst, sondern ein anderes Raum-Zeit- Kontinuum, das stets deckungsgleich bzw. parallel zu unserer Wirklichkeit ist. Aus dem so beschriebenen Verhältnis von Sprache zur Raum-Zeit ergeben sich zweierlei Eigenschaften: Zum einen besteht kein direkter Zusammenhang von Sprache und Raum-Zeit, Sprache bildet also Wirklichkeit nicht ab. Zum anderen gelingt es der Sprache als función envolvente trotzdem, diese Wirklichkeit mit einer Funktion zu beschreiben, jedoch erstens in einer niedrigeren Dimension, sprich mit weniger Information, und zweitens immer unter der Prämisse, dass sie eine eigene Kurvenschar einhüllt. Mit diesem komplexen Verständnis von Darstellung als Projektion und der langue im eigenwillig-funktionalen Verhältnis zur Raum-Zeit wird eine objektive Abbildung dieser Wirklichkeit im Medium der Literatur verneint. Sprache wird räumlich gedacht und die Perspektive wird zum essentiellen Bestandteil dieses Sprachverständnisses. Was im mathematischen Sinne Informationsverlust bedeutet, wird akzeptiert, affirmiert und als perspektivische Eigenschaft der Sprache beschrieben. Allwissenheit ist unmöglich und die perspektivische Herangehensweise wird zum einzig adäquaten Weg, sich der Welt zu nähern. Das Diesseitige des sprachlichen Zeichens, der realisierte „lenguaje de la palabra“ 94 erfährt in seiner Materialität eine immense Aufwertung. Wir können Sprache überhaupt nur als lenguaje, also als realisierte Sprache erfahren und erfahrbar machen. Benets Essays stellen somit eine radikale Absage an eine ‚linguistische Metaphysik des Begriffs‘ dar. II.2.3 estampa und argumento In diesem Unterkapitel wird anhand der Essays „Algo acerca del buque fantasma“ 95 und „¿Se sentó la duquesa a la derecha de Don Quijote? “ 96 von Benet die Gegenüberstellung von Raum und Zeit als den zwei grundlegenden Ordnungskategorien des Erzählens nachvollzogen. Die entsprechenden Begriffe sind - wie bereits erwähnt - estampa und argumento. „Algo acerca del buque fantasma“ befindet sich in der frühesten Essay-Sammlung Benets (zum ersten Mal 1966 erschienen). Ausgehend von der Ballade „The Rime of the Ancient Mariner“ des Engländers Samuel Taylor Coleridge und dem dort auftauchenden Geisterschiff unterscheidet Benet die zwei Funktionen des Geheimnisvollen bzw. des Rätselhaften in der Literatur: zum einen das 94 Siehe ebd., S. 42: „El lenguaje de la palabra no es uno más entre todos los lenguajes posibles; es el lenguaje primero, el lenguaje cat-exojén - por excelencia -, el patrón-oro de todos los sistemas de comunicación.” 95 Juan Benet: „Algo acerca del buque fantasma“, in: ders.: La inspiración y el estilo, Barcelona: Seix Barral, 1982, S. 141-154. 96 Juan Benet: „¿Se sentó la duquesa a la derecha de Don Quijote? “, in: ders.: En ciernes, Madrid: Taurus, 1976, S. 11-41. <?page no="43"?> 43 Rätsel, das ungelöst bleiben muss, da der Mensch nie vollkommene Erkenntnis erlangen wird, und zum anderen das Rätsel, das, wie im Detektivroman, aus der Handlung heraus motiviert gelöst werden muss. In „¿Se sentó la duquesa a la derecha de Don Quijote? “ geht es Benet zirka zehn Jahre später um das Problem der Darstellung von räumlicher Ordnung im literarischen Text. Er zielt dabei insbesondere auf die realistische Literatur ab, der er vorwirft, Literatur als bloßes Medium sozialer Hierarchien auf eine simple Repräsentationsfunktion zu reduzieren und dabei die eigenen darstellerischen Unzulänglichkeiten zu unterschlagen. Das Begriffspaar argumento und estampa wird zum ersten Mal in „Algo acerca del buque fantasma“ eingeführt. Das Geisterschiff, „el buque fantasma“, dient als Beispiel für eine solche estampa. Diese lässt sich zunächst mehr oder weniger als statisches Bild und Motiv verstehen - man erinnere sich an den oben hergestellten engen Bezug zur Malerei -, auf welches die Literatur immer wieder rekurriert, um dem Geheimnis an sich im wahrsten Sinne des Wortes Raum zu geben. ‚Statisch‘ bedeutet nicht, dass jenes Bild in seiner Semantik festgelegt ist. Im Gegenteil - in der estampa kristallisiert sich all das, was nicht eindeutig ist und ungelöst bleibt. Diese Art von Statik lässt sich als eine Art ‚unbewegte Bewegtheit‘ verstehen. Um das Verhältnis der Philosophie zu den Wissenschaften zu beschreiben, bemüht Benet in El ángel del señor abandona a Tobías das Bild von Forellen, die gegen den Strom schwimmen (oder diese Fähigkeit bei entsprechend schlechter Wasserqualität verlieren). Die Forellen bewegen sich zwar für einen außenstehenden Beobachter so gut wie gar nicht voran, sind jedoch trotzdem ständig in Bewegung, um nicht vom Strom mitgerissen zu werden: „Estar siempre en el mismo sitio no es inmovilismo si el sitio es móvil.“ 97 Die Forellen sind eine Metapher für eine bestimmte Wahrnehmungseinstellung: die scheinbar statische Fokussierung von Bewegtem, die immer wieder neue Momentaufnahme dessen, was an uns vorbeirauscht. Diese Art der Wahrnehmung birgt ein performatives Moment, indem sie immer wieder neue estampas produziert. Sie basiert auf der Unterbrechung des Bilderflusses - des Stroms, gegen den die Forellen anschwimmen. Die estampa entsteht im Intervall - dem Moment der Formgebung, der den Datenstrom unterbricht und gleichzeitig für eine temporäre Materialisierung des Bildes sorgt. 98 Sie ist vor allen Dingen im Gegensatz zu einer durch einen zeitlichen Ablauf erzeugten Spannung zu verstehen. 97 Benet: El ángel del señor, S. 33. 98 Zum Begriff des Intervalls siehe Hermann Doetsch: „Intervall. Überlegungen zu einer Theorie von Räumlichkeit und Medialität“, in: Dünne/ Doetsch/ Lüdeke (Hgs.): Von Pilgerwegen, S. 23-56. Doetsch baut die in diesem Aufsatz skizzierte Medientheorie zu großen Teilen auf dem Bild-Begriff (image) von Bergson auf, den auch Benet intensiv rezipiert hat. Siehe zur Bergson-Rezeption Benets Nelson Orringer: „Juan Benet a viva voz sobre la filosofía y el ensayo actuales“, in: Los ensayistas 8 (1980), S. 59-65, Randolph <?page no="44"?> 44 La invención del misterio (en la novela de ese nombre o en cualquier otro género, clásico o moderno, de análoga configuración) cumple un doble objeto al poner de manifiesto el interés que despierta todo enigma y al sacar todo el provecho de la intriga que despierta el curso de la investigación, el ‘suspense’, como ahora se llama. El enigma se inventa para ser resuelto, un esquema que se reitera desde Edipo, rey hasta la novela policíaca. La novela del mar, en contraste, está con mucha frecuencia aureolada - y no sé muy bien por qué - de una suerte de misterio permanente, de vagos y sutiles contornos, acaso alimentado de esa impenetrable e incesante movilidad de un medio al que el hombre se asoma ansioso de anticipar su tumba haciéndose eco de toda su imaginaria reserva, retrocediendo en la edad del saber hacia aquella ingenua y comprometida ignorancia. 99 Während die für einen Detektivroman typische Spannung durch die spezifische analytisch-chronologische Anordnung des Textes erzeugt wird, entsteht das Geheimnisvolle der „novela del mar“ durch die estampa des Geisterschiffes - eher eine beständige Atmosphäre oder ‚Aura‘ des Geheimnisvollen und des Nichtwissens, als ein zu lösendes Rätsel. Das Geisterschiff ist in der Literatur stets präsent: […] y muchos poetas de secano han sido seducidos, con unanimidad que no puede ser eventual, por la estampa del buque maldito que sin rumbo ni calendario, sin timón ni cargo ni tal vez tripulación, surcará siempre los mares sin conocer la arribada. 100 Auch wenn in diesem Essay von Benet in der Regel von misterio gesprochen wird, so wird dennoch deutlich, dass die estampa eindeutig eng mit dem später von Benet selbst und der Forschungsliteratur 101 immer wieder aufgegriffenen Begriff des enigma in Verbindung steht. Das immer wiederkehrende und unlösbare Rätsel ist der Punkt, an dem die Literatur jene zona de sombras schafft, die jenseits der rationalen Erkenntnis 102 liegt. Dies gilt sowohl für den Leser als auch für den Schaffensprozess des Autors selbst: Pope: „Benet, Faulkner, and Bergson’s Memory“, in: Robert Manteiga/ David Herzberger/ Malcolm Compitello (Hgs.): Critical approaches to the writings of Juan Benet, Hanover: University Press of New England, 1984, S. 111-119 und Fraser: „Juan Benet: Recalibrating“. 99 Benet: „Algo acerca“, S. 144f. 100 Ebd., S. 146. 101 Das jüngste und wahrscheinlich ausführlichste Beispiel hierfür ist Benson: Fenomenología del enigma. Darüber hinaus haben sich u.a. Díaz Navarro (Epicteto Díaz Navarro: La forma del enigma. Siete ensayos sobre la narrativa de Juan Benet, Zaragoza: Universidad de Zaragoza, 2000), Herzberger (David Herzberger: „Enigma as Narrative Determinant in the Novels of Juan Benet“, in: Hispanic Review 47: 2 (1979), S. 149-157) und Navajas (Gonzalo Navajas: „The Deferred Enigma in Juan Benet’s Un viaje de invierno“, in: ALEC 10: 1-3 (1985), S. 41-59) mit dem enigma auseinandergesetzt. 102 Vgl. hierzu Juan Benet: „Incertidumbre, memoria, fatalidad y temor“, in: ders.: En ciernes, S. 43-61, hier S. 50: „Entre el conocimiento y el objeto del conocimiento, [el hombre <?page no="45"?> 45 En esa estampa del buque fantasma yo veo la cristalización del deseo del escritor de liberarse de sus propias ataduras, la seducción por un tema que le devuelve al estado de no tener que dar cuentas a nadie. No se puede dejar al lado el hecho de que el tema se prodiga, sobre todo en un siglo en el que la literatura de ficción está dominada por una traza argumental determinista que - en aras de una economía estética cerrada y unívoca - elimina cualquier licencia de carácter gratuito y exige que el más intrascendente particular cumpla una función dentro del todo. 103 Durch die estampa gewinnt der Autor jene Schaffensfreiheit, die ästhetische Zwänge verhindern könnten, wie etwa die Forderung nach einer kohärenten chronologischen Erzählung, die dem argumento entspricht. Was also für den Betrachter und Leser (es sei an den „espectador llamado a filas“ erinnert) gilt, gilt ebenso als poetologische Orientierung für den literarischen Schaffensprozess. Mit dieser ästhetischen Freiheit geht auch die Freiheit einher, dem Text, seinen Figuren und seiner erzählten Welt jenes ‚Eigenleben‘ zu lassen, das bei einem allwissenden Autor und Erzähler 104 unterdrückt und regelrecht vertuscht wird. Ein Roman, der auf dem Kompositionsprinzip der estampa aufbaut, kreiert Bilder, die unabhängig vom Kontext der Handlung einen eigenen Wert entwickeln und unmittelbar bzw. intuitiv verstanden werden können. Die estampa zieht ihre Qualität nicht aus dem Kontext, sondern aus sich selbst: […] [En] la literatura de estampa, el estilo se esfuerza en buscar una complacencia instantánea, indaga en la circunstancia para encontrar su expresión más acabada […]. En otras palabras, antes que nada lo que importa al escritor es la calidad de lo que el lector lee en cada momento. 105 Der argumento hingegen erfährt seinen literarischen Wert erst aus dem Zusammenhang der Handlung und benötigt den oben beschriebenen Spannungsbogen um überhaupt Wirkung entfalten zu können: En [este] caso, consecuencia de la religación a la fluencia total, el estilo pone el acento en la participación del párrafo dentro de la economía del conjunto de letras] opta por lo segundo; lo suyo ya no será investigar y desentrañar, sino arrastrar a la imaginación hacia esa zona de sombra donde otro pensamiento [...] puede iniciar la función del conocer.“ 103 Benet: „Algo acerca“, S. 148. 104 Meiner Ansicht nach unterscheidet Benet zumindest an dieser Stelle nicht eindeutig zwischen Autor und Erzähler. Im Schaffensprozess und in der Textproduktion fallen beide in Bezug auf das poetologische Selbstverständnis zusammen. Es geht um die grundlegende Frage nach der Möglichkeit eines omnipräsenten, omnipotenten und ‚omnisapienten‘ Demiurgen, der Gott gleich über dem Text steht, oder eben um die Zurückweisung eines solchen Konzepts. 105 Ebd., S. 152 <?page no="46"?> 46 y en el caso extremo […] el interés de la lectura se apoya acaso más en lo no leído que en lo leído. 106 Weiterhin ist für Benet nicht zufällig der realistisch-naturalistische Roman paradigmatisch für die novela en argumento: „Al final del siglo XIX […] la novela es puro argumento, la estampa no es más que un cruce o una coincidencia entre líneas argumentales […].“ 107 Die positivistische Ästhetik des Realismus gibt vor, die Welt nach den Prinzipien der Mimesis eins zu eins abbilden zu können, vertuscht gleichzeitig ihre eigenen Unzulänglichkeiten und stellt sich als arte social 108 dar. Ein weiterer Aspekt der Unterscheidung zwischen estampa und argumento ist die Frage nach dem Stil, el estilo 109 , die, wie der Titel des Essaybandes La inspiración y el estilo schon zeigt, für Benet auch eine grundlegende Problematik der Literatur und des Schreibens ist. Während der argumento dem Stil durch die chronologische Handlung „determinantes temáticas“ 110 aufzwingt, kann das Bild für sich selbst bestehen und dementsprechend auch frei gestaltet werden. Die estampa als eine „larga proyección de imágenes inmóviles“ 111 kann jedes Mal von neuem ein Subjekt perspektivisch fokussieren und sich ihm annähern. Die oben erläuterte Projektion und der Bezug zur Malerei sind nicht bloße Metaphern oder intellektuelle Spielereien Benets: Sie bilden ein kohärentes poetologisches Programm, das sich auch noch in seinem späten Roman Herrumbrosas lanzas wiederfindet. Der literarische Text gehört zu jenen sich materialisierenden Projektionen der Sprache, die perspektivisch sind und nie objektiv sein können. Bei dem ‚fokussierten Subjekt‘ geht es nicht nur um das grammatikalische Subjekt, das bei der estampa im Zentrum steht, während es in einer novela en argumento deren Kohärenz unterworfen ist. Diese Art von Kohärenz ist „[...] dada por la propia evolución del sujeto que, definido de una vez para siempre, no hace sino estar presente en las circunstancias.“ 112 Das heißt, die estampa ist nicht nur ein räumlich-simultanes Prinzip, das ästhetisches und ideologisches Freiheitspotential birgt, sondern macht auch den Blick für das Subjekt selbst frei, das hier keinem teleologischen Entwicklungszwang unterworfen ist. Das Subjekt kann hier sowohl als grammatikalisches Subjekt als auch als Subjekt im Sinne einer fiktiven Figur im Text verstanden werden, die fokussiert wird. Nicht umsonst bezeichnet Benet die estampa als „estilo sustantivo“ (im Gegensatz zum „estilo relativo“ des argumento). 113 106 Ebd., S. 152f. 107 Ebd., S. 153 108 Vgl. Fußnote 124. 109 Siehe hierzu Juan Benet: „La seriedad del estilo“, in: ders.: La inspiración y el estilo, S. 157-180. 110 Benet: „Algo acerca“, S. 152. 111 Ebd., S. 153 112 Ebd. 113 Ebd. <?page no="47"?> 47 Auch der Blick ist dabei nicht reine Metapher, nähert sich der Text durch die estampa doch dem Bild bzw. der Malerei an: Cuando en una novela de corte argumental el escritor recala, de cuando en cuando, en la pintura de una estampa […] yo vengo a creer que cristaliza en ella un gesto, franco o disimulado, de rebeldía hacia unos imperativos abrumadores. […] Las páginas del buque fantasma constituyen siempre una pura estampa, una visión tránsfuga de un fenómeno inexplicable. 114 Der Roman versucht über die estampa sprachlich-textuelle Beschränkungen zu transzendieren und einen neuen Erfahrungsraum zu eröffnen. Anstatt eine Handlung linear zu erzählen, geht es darum, „erhellende Momentaufnahmen“ 115 dessen zu liefern, was uns in seiner Gesamtheit verschlossen bleibt. Auch der Begriff der Kristallisation („cristaliza“) legt das Verständnis der momenthaften Iteration von Formen durch das Intervall anstatt einer dauerhaften Formung von Ungeformtem nahe. 116 Daraus leitet sich eine These bzw. eine Erwartungshaltung an die Textanalysen ab. Es gilt zu zeigen, dass es nicht allein um den Blick, sondern tatsächlich um eine spezifische Wahrnehmung und Erfahrbarkeit der bzw. durch die estampa geht - und dies sowohl für Erzähler und Figuren als auch für den Leser. 117 In dem zweiten hier relevanten Aufsatz, „¿Se sentó la duquesa a la derecha de Don Quijote? “, führt Benet seine Überlegungen zu estampa und argumento fort bzw. modifiziert sie. Er beschreibt zunächst, wie die adäquate Vermittlung von Simultaneität im Zuge eines überwiegend chronologischen Erzählens zum Problem wird. Grundlage ist die Lektüre der Historia verdadera de la conquista de la Nueva España von Bernal Díaz del Castillo, der die Geschichte der Eroberung Mexikos durch Cortés erzählt. Dieses historiographische Anliegen wird aber immer wieder durch eine eher unbewusst erzeugte Simultaneität mittels extrem hypotaktischer Satzgefüge durchkreuzt. Benet zufolge versucht Díaz de Castillo auch angeblichen ‚Nebenhandlungen‘ Platz zu geben: La narración produce un efecto virtual de simultaneidad y en ocasiones aquel monstruo de la memoria se metía en tales vericuetos que parecía introducir al lector en el cuento de la buena pipa. 118 114 Ebd., S. 153f. 115 Münster: Das Unsagbare sagen, S. 44. 116 Vgl. Doetsch: „Intervall“, S. 47f. 117 Ricardo Gullón, der wichtige Anregungen für die Bedeutung von Raum in Benets Texten am Beispiel von Volverás a Región gibt, deutet auch das Zusammenspiel und die Überschneidungen von Erzähler, Figuren und Leser an: „El narrador no solamente ve el paisaje: lo penetra y descubre su afinidad con los personajes: una simbiosis. […] El espacio está […] contagiado de la visión y del vivir de estos [los personajes].“ (Gullón: „Una región laberíntica“, S. 3.) 118 Benet: „¿Se sentó la duquesa? “, S. 14. <?page no="48"?> 48 Anstatt tatsächlich die Eroberung sukzessive zu erzählen, läuft die Chronik dadurch Gefahr, in den sinnlosen, spielerischen und zum Teil ärgerlichen Automatismus des cuento de la buena pipa 119 zu verfallen. Diese unfreiwillig erzeugte Simultaneität rückt das Problem der zeitlichen Abfolge jedoch mehr in den Vordergrund, als es zu lösen. Denn trotz allem bleibt der Chronist stets der chronologischen Abfolge verpflichtet - er vollzieht nie einen tatsächlichen analeptischen Schritt zurück in der histoire. Während der Maler über den Raum gebietet, bleibt dem Erzähler somit lediglich die Zeit: [...] [L]o que parece evidente es que el narrador, ante todo y sobre todo, se apoya en el eje del tiempo para establecer el régimen de su discurso y que jamás confiará al espacio la política del orden. 120 Daran schließt Benet die Beobachtung an, dass ein Verdienst der modernen Literatur darin liegt, die stets chronologische Linearität des Erzählens tatsächlich durchbrochen zu haben. Trotzdem verschwindet die Zeitachse nicht einfach, sondern ermöglicht eine „sucesión arbitraria“, eine arbiträre Aufeinanderfolge, die eher dazu in der Lage ist, die Insuffizienzen einer chronologischen Abfolge - sprich die Unmöglichkeit, sich Simultaneität und damit Gedächtnis 121 anzunähern - auszugleichen. Das Begriffspaar estampa und argumento spiegelt auch hier die beiden Pole einer ästhetisch-poetologischen Skala wider. Während erstere wieder dem Maler zugeordnet wird, ist letztere das Reich des Erzählers. Trotzdem treten beide nie in Reinform auf. Beide Prinzipien beinhalten sowohl Einschränkungen in Bezug auf die ästhetische Gestaltung, gleichwohl aber auch Freiheiten: Que mientras el pintor ha de tener siempre sujetas las riendas del espacio, pudiéndose mover a su entera libertad por los carrizales del tiempo, de la misma forma el narrador puede tratar el espacio - el ámbito de la simultaneidad - sin necesidad de atenerse a ninguna de las reglas que lo gobiernan, haciendo abstracción y aun desdeñando la geometría, la perspectiva o la teoría de la gravitación. 122 Diese Freiheit, die dem Erzählen in Bezug auf die räumliche Gestaltung somit zukommt, bleibt jedoch oft ungenutzt. So ist es zumeist auch eine räumliche Ordnung, die Hierarchie herstellt, zum Beispiel zwischen den einzelnen Figuren. Da die Erzählung zuallererst durch Sprache und nicht durch Bilder entsteht, werden durch jene räumlichen Ordnungen oft falsche und 119 Bei diesem Spiel werden Kinder von Erwachsenen gefragt: „¿Quieres que te cuente el cuento de la buena pipa? “ Unabhängig davon, wie die Antwort ausfällt („sí“, „no“, „de acuerdo“, „bueno“), wird jedoch nie tatsächlich die Geschichte erzählt, sondern immer wieder nur die initiale Frage aufgegriffen („No te dije que si, te dije si quieres que te cuente el cuento de la buena pipa.“) 120 Ebd., S. 16. 121 Zu Benets Konzeption der memoria und den Parallelen zum Bergson siehe Fußnote 96. 122 Ebd., S. 18. <?page no="49"?> 49 trügerische Fährten gelegt, sodass diese Ordnung vom Leser nie komplett aufgelöst werden kann. Das heißt, diese Art räumlicher (Nicht-) Ordnung wäre nicht in ein Bildmedium übersetzbar, sie wäre nicht abbildbar. 123 Benet interessieren genau die Fälle in der Literatur, in welchen diese Freiheiten in Bezug auf die estampa vom Erzähler ausgenutzt werden, um perspektivische Ambiguitäten und Unsicherheiten in den Text einzubauen und in welchen so die poetologische Potentialität der räumlichen Gestaltung ausgenutzt wird. Anhand von Sitzordnungen in der Weltliteratur - von der Bibel über Cervantes bis zum europäischen Realismus - geht er der Frage nach der Erzählperspektive nach, die, anders als bei der Malerei, ungeklärt bleiben darf und sollte. So wird ein enger Bezug zwischen der Perspektive bzw. dem Sehen (Was sieht der Erzähler und aus welcher Perspektive? ) und den räumlichen Gestaltungsfreiheiten und Ambiguitäten im Text hergestellt. Semejante indiferencia parece constituir la mejor prueba de que la narración - al haber trascendido la necesidad de precisión - apela a un apetito del espíritu que se sitúa - por un camino inconfesable - más allá de todos los dogmas. 124 Indem die Erzählung das Potential der räumlichen Ambiguität ausschöpft, wird die Literatur zu einem Medium, das sich jenseits aller, und damit ausdrücklich nicht nur jenseits ästhetischer Dogmen, positioniert. Im europäischen Realismus und insbesondere in seiner spanischen Ausführung 125 , die für Benet schon immer im puren costumbrismo verhaftet geblieben ist, führen die oben beschriebenen Freiheiten zu einer Art Fehlentwicklung. Denn anstatt die gestalterischen Freiheiten poetologisch zu nutzen, versteht realistische Literatur diese als substantiellen Mangel und versucht in ihrem vergeblichen, jedoch ungebrochenen Streben, die Gesellschaft und ihre Hierarchien in Manier eines „arte tan social“ 126 möglichst maßstabgetreu abzubilden, also an einer stabilen räumlichen Ordnung festzuhalten. Diese stabile räumliche Ordnung in der realistischen Literatur ist jedoch eine Illusion und die 123 Ein - im Wortsinn - sehr anschauliches Beispiel der ‚Nicht-Abbildbarkeit‘ solcher räumlichen Darstellungen in der Literatur liefert Cuevas Mendoza. Er zeigt mit mehreren selbst angefertigten Skizzen von Región, wie widersprüchlich die Angaben zur räumlichen Ordnung in Volverás a Región sind. Siehe Carlos Cuevas Mendoza: „La gestación del laberinto de Juan Benet. Región, el Sert-o, León“, in: Tierras de León 41: 117 (2003), S. 81-116, hier S. 104f. 124 Benet: „¿Se sentó la duquesa? “, S. 22f. 125 „Como en tantas otras ocasiones, será en nuestro país donde se da uno de los ejemplos más excelsos del desdén hacia el orden espacial. No sé si la corriente - una vez más - llega tan tarde a nuestras latitudes que por consiguiente se toma de ellas sus últimos modelos, sus técnicas más acabadas, sus más precisas formulaciones. El desdén será tanto más exagerado y mordaz cuanto más parezca deferencia y prurito por la precisión; cuando, a primera vista, puede decirse que el orden - tras requerir un considerable esfuerzo de definición - ha quedado inequívocamente establecido.“ (ebd., S. 35) 126 Ebd., S. 25. <?page no="50"?> 50 jeweiligen Autoren geben sich tatsächlich immer mehr der „imprecisión espacial“ 127 hin, während auf der Oberfläche der Schein von Stabilität erhalten bleibt. Der Gipfel dieser Entwicklung und der entsprechenden ironischen Kritik von Benet wird bei Claríns La Regenta erreicht. Benet versucht eine Sitzordnung eines der im Roman beschriebenen Abendessen zu visualisieren, was nach den Vorgaben Claríns schlichtweg nicht eindeutig möglich ist. Entweder habe Clarín also wahrhaftig blind geschrieben „siguiendo un impulso superior al prurito ordinal, que le dictaría la posición de los comensales en obediencia al ‚tiempo‘ de cada uno“ 128 , oder es habe sich etwas in ihm mehr oder weniger unbewusst gegen diese „idea clara e inequívoca de la disposición“ gewehrt: Me seduce imaginar que - inconscientemente - en el párrafo con que el novelista se ve obligado a rendir su más obediente tributo al orden espacial, surge de las honduras de su alma narrativa el grito de reconocimiento al caos donde se engendran sus azarosas leyes. 129 In der textuellen Umsetzung und Fruchtbarmachung von estampa und argumento kommt er räumlichen estampa die Rolle des widerstrebenden, chaotischen Prinzips 130 zu, das sich der ordnenden, chronologischen Linearität des argumento widersetzt. Die Autoren des Realismus haben auf Grund von ästhetischen und ideologischen Vorgaben versucht, die estampa zu zähmen und gleichsam als ordnendes Regulativ einzusetzen. Benets Essay schließt mit der Bemerkung: Cualquiera que sea la técnica, no se perderá nunca esa frontalidad 131 de la que el narrador no puede hacer uso y no sólo porque su punto de vista nunca es el del fotógrafo […]; no tanto por todo ello cuanto porque todo ello parece obra de su sumisión a la jerarquía del tiempo para quien el espacio sólo será el punto transitorio que el alma humana ocupa en el itinerario de sus días y en la caída vertiginosa del instante. 132 Das heißt, erst unter der Prämisse, dass die Erzählung immer schon zeitlich bestimmt ist, ergibt sich der Spielraum, ergeben sich die Möglichkeiten des räumlichen Prinzips. Die Erzählung entspricht dem zeitlichen und unaufhaltsamen Ablauf des Lebens. Was Benet hier mit „sumisión a la jerarquía 127 Ebd., S. 27. 128 Ebd., S. 38. 129 Ebd., S. 37. 130 Siehe hierzu auch Benets Aufsatz „Clepsidra“ (Juan Benet: „Clepsidra“, in: ders.: En ciernes, S. 103-117), indem er sehr anschaulich beschreibt (und zeichnet), wie das Chaos Anfang und Ende unserer Zeit bildet. 131 Diese „frontalidad“ bezieht sich auf die immer schon feststehende Perspektive von Bildmedien - sei es die Malerei oder die Photographie. Freilich lässt Benet hier Bestrebungen in der Kunst - wie zum Beispiel im Kubismus - außer Acht, die versucht haben, genau diese Monoperspektive zu umgehen. 132 Benet: „¿Se sentó la duquesa? “, S. 40f. <?page no="51"?> 51 del tiempo“ beschreibt, kann aber auch gleichzeitig von der anderen Seite betrachtet werden: Erst durch das Ausschöpfen der Potentialität des Raums entsteht die Möglichkeit, den Augenblick, den „instante“ während seines unaufhaltsamen ‚Falls‘, zu fassen. II.3 Die Karte zwischen epistemologischen Interessen und phänomenologischer Rezeption: cartografía elemental In seinem auf den ersten Blick anekdotenhaften, autobiographischen Rückblick auf die Gymnasialzeit, „Sobre la cartografía elemental“ 133 , schildert Benet seine ganz eigene „Lust an der Karte“ 134 . ‚Elementar‘ an dieser Kartenlehre ist wahrscheinlich, dass Benet der grundlegenden und allseits akzeptierten Unterscheidung von topographischen („mapa Físico“, S. 11) und politischen Karten („mapa Político“) folgt, so wie sie ihm - der Anekdote nach - in der Schule vermittelt wurde und die es als Schüler galt, selbst nachzuzeichnen. Aus dem „sacrosanto principio educativo de todos conocido“ entwickelt er jedoch eine viel tiefer gehende Fragestellung: die nach einer primären, von Menschen nicht festlegbaren, ‚genuinen‘ Ordnung - dem Naturraum nach Merleau-Ponty - und nach einer sich darauf aufbauenden, willkürlich und politisch festgelegten, sekundären Ordnung. Der topographischen Karte, auf der keine politischen Ländergrenzen und -namen oder Städte, sondern die topographischen Eigenheiten des dargestellten Gebiets wie Flüsse, Berge etc. verzeichnet sind, werden folgende Eigenschaften zugesprochen: Sie ist insofern stumm 135 , als mit dieser Art von Karte keine Orte oder Länder benannt werden und sich infolgedessen wenig Toponyme und Buchstaben auf ihr befinden. Sie ist von Ungenauigkeit bestimmt, da jene topographischen Elemente oft ineinander übergehen und nicht eindeutig eingrenzbar sind: „¿[C]ómo con nuestra rudimentaria cartografía se podía definir el Macizo Central, el Cuadrilátero de Bohemia o la Corriente del Golfo? “ (S. 9) Wichtig ist hier auch die bewusste Überblendung von definitorischer Festlegung („definir“) und dem Akt des Schreibens bzw. des Aufzeichnens der Karte an sich durch die Schüler („nuestra rudimentaria cartografía“). Durch diese fehlende Eindeutigkeit wird die topographische Karte zu einer „continua fuente de desasosiego“ nicht nur für den Schüler, sondern für den Rezipienten an sich 133 Juan Benet: „Sobre la cartografía elemental“, in: ders.: Cartografía personal, Valladolid: Cuatro Ediciones, 1997, S. 9-12. Alle Seitenangaben für Zitate aus „Sobre la cartografía elemental“ erfolgen in diesem Kapitel im Fließtext. Alle anderen Literaturnachweise erfolgen über Fußnoten. 134 Stockhammer: Die Kartierung der Erde, S. 11f. 135 In Bezug auf die topographische Karte wird das Wort „mudez“ (S. 11) verwendet. <?page no="52"?> 52 […] porque una trémula mano trataba de dibujarlo a las órdenes de un conocimiento sumido en la penumbra de la duda y la inseguridad, cuando no en la noche de la ignorancia. Das heißt, die ständige Beunruhigung rührt daher, dass die topographische Karte dem Rezipienten und dem Kartographen die eigene Unsicherheit, wenn nicht sogar Kenntnislosigkeit und Unwissen in Bezug auf das, was auf der Karte versucht wird, darzustellen, vor Augen hält. Im Gegensatz zu dieser essentiellen Beunruhigung, die der „mapa Físico“ auslöst, steht die unveränderliche Natur, auf die diese Karte verweist. Die Topographie einer Landschaft bleibt, zumindest für den Menschen wahrnehmbar, zunächst einmal unverändert und unbeweglich, ganz im Gegensatz zu den politischen Grenzen, die der Mensch erschafft (s.u.). Der topographischen Karte ist eine „tenaz inmovilidad“ (S. 10) zu Eigen und sie wird stets, entgegen allen menschlichen Expansionsbestrebungen, „añorar y clamar por una utópica y ucrónica armonía“ (S. 11). In ihrer Ursprünglichkeit bzw. in der Ursprünglichkeit dessen, auf das sie verweist, 136 entzieht sie sich nicht nur menschlichen Grenzziehungen und Festlegungen, sondern wird auch noch von der ständigen Sehnsucht nach einer Harmonie geprägt, die außerhalb jeglicher räumlichen und zeitlichen Kategorien existiert. Dieser zweite ‚Entzug‘ ist eine Übertreibung, da Raum und Zeit die Kategorien sind, mittels welcher menschliche Wahrnehmung überhaupt erst möglich wird. 137 Eine solche Karte und deren Referenzgegenstand entziehen sich also nicht nur von Menschen gemachten Definitionen, sondern untergraben auch die Voraussetzungen von menschlicher Wahrnehmung und damit unseren Zugang zur Welt. Durch diese Potenzierung dessen, was in seiner Unverfügbarkeit nicht verfügbar ist, rückt die Karte aber nicht in unerreichbare Ferne bzw. sie distanziert sich nicht von ihrem Rezipienten und Kartographen. Stattdessen wird dieses Streben stets in seinem Widerstreit mit der Festlegung auf der Karte vor Augen gehalten. Die zweite, politische Karte stellt einen anderen Pol dar: Sie schweigt nicht, denn durch zahlreiche Toponyme trägt sie zur Benennung von poli- 136 Meiner Meinung nach verwischt Benet im Text die Grenze zwischen Karte und ihrem Referenzgegenstand. Denn selbstverständlich ist die topographische Karte selbst ja schon ein Versuch die Natur in ihrer nicht greifbaren Ursprünglichkeit durch zeichenhafte Festlegung greifbar zu machen. 137 Trotzdem wird angedeutet, dass auch vor Zeit und Raum bereits etwas bzw. nichts (eben jene „utópica y ucrónica armonía“) existiert haben muss, aus welchem unsere Welt entstanden ist. Hier sei noch einmal auf den Aufsatz „Clepsidra“ verwiesen (siehe Fußnote 130). Das Chaos bildet ein latentes „Sinnsubstrat der Welt“ (Münster: Das Unsagbare sagen, S.43), welches erst durch eine lineare Ordnung manifest wird. Dieses chaotische Sinnsubstrat lässt sich Metapher für den hier beschriebenen Naturraum verstehen. <?page no="53"?> 53 tisch festgelegten Terrains und Orten, wie zum Beispiel Ländern und Städten, bei. Die Karte erzeugt hier viel deutlicher das Territorium. 138 Auf ihr gibt es klare Abgrenzungen, Grenzen und Linien, die, zur Freude des gequälten Schülers, einfach nachzuzeichnen sind. Denn letztendlich referiert die politische Karte auf einen Gegenstand, der erlernbar und damit ‚zu wissen‘ ist. Die Ländergrenzen entziehen sich nicht der rationalen (Er-) Kenntnis und lassen sich somit, diesen Kenntnissen entsprechend, nachzeichnen: „Aquel segundo mapa, además de trazarse con conocimientos, espíritu sereno, afición y dominio del arte, daba gusto al lápiz.“ (S. 9) Im Gegensatz zum ‚gelassenen Geist‘, der mit der politischen Karte in Verbindung gebracht wird, da sie durch ihren Referenzgegenstand nicht die menschliche Rationalität in Frage stellt, können sich aber die klaren politischen Grenzen selbst oft ganz unerwartet verschieben. Es kommt zu „súbitos cambios“ (S. 10), etwa durch Kriege. Der deutlichen Ordnung auf der Karte steht die unstetige politische Realität gegenüber, in welcher territoriale Festlegungen davon zeugen, wie sehr Grenzen politischer Willkür unterliegen. Zusammenfassend entzieht sich also bei der topographischen Karte der Referenzgegenstand (der primordiale Naturraum) der menschlichen Erkenntnis, bleibt dafür aber in diesem Entzug unverändert. Bei der politischen Karte hingegen sind der Referenzgegenstand von Menschen gemachte Festlegungen und Definitionen (auf diesem unterbestimmten Naturraum), die aber ständigen Veränderungen und Verschiebungen unterworfen sind. In einem letzten Schritt vollzieht Benet dann durch die Augen des gequälten und tendenziell überforderten Schülers eine Inversion dessen, was primär gegeben ist und was sekundär darauf aufbaut. Denn für das Kind ist zunächst immer schon das bereits Evidente primär - das, was es zuerst fassen kann, ist auch genuin gegeben. Pero el niño […] invertirá ese orden porque el origen de la cronología infantil está en el presente y son los objetos del presente los de su más inmediato interés; porque los datos suministrados por el mapa político son contingentes y reales, tan reales como para encontrar en él la situación del pueblo de veraneo, pongo por caso, en tanto los que proporciona el mapa físico son meras palabras - por paradójico que parezca - cuya correspondencia con el accidente tardará en verificar, si es que un día lo verifica llevado de una curiosidad geográfica que por lo general sólo despierta tras la insatisfacción provocada por lo cercano y lo cotidiano. Esa es la realidad: que el mapa Político 138 Vgl. zum Spiel und Verhältnis von Karte und Territorium Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993, S. 426ff und Andreas Mahler: „Performanz. Spielraum des Bedeutens“, in: Jörg Dünner/ Sabine Friedrich/ Kirsten Kramer (Hgs.): Theatralität und Räumlichkeit. Raumordnungen und Raumpraktiken im theatralen Mediendispositiv, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009, S. 235-250. <?page no="54"?> 54 representa lo primero y cercano y el Físico lo lejano y poco menos inalcanzable. (S. 11) Indem die eben noch behauptete Reihenfolge von primär und sekundär durch die Augen des neugierigen Kindes umgekehrt wird, wird auch eine konventionelle Wahrnehmungs- und Verstehensrichtung nachempfunden: Mit dem auf der Karte benannten Ort kann ich sofort den bekannten Urlaubsort in Verbindung setzen, während etwa die Übergänge von einzelnen Geländeformen keinen konkreten Referenzgegenstand für mich haben. Hierbei geht es jedoch nicht um den Referenzgegenstand selbst, sondern um die Wahrnehmung, die über die Karte geleitet wird. Die Karte wird zu einem wichtigen epistemologischen Instrument: Ich erfahre durch die Karte etwas über die Welt um mich herum. So erfährt das Kind einen Urlaubsort, den es auf der politischen Karte als einzelnen benannten Punkt sofort identifizieren kann. Diese Karte sagt ihm etwas. Wenn das Kind hingegen etwa ein Tal durchwandert, einige Höhenmeter hinter sich legt und dabei vielleicht eine Zeit lang parallel zu einem Fluss läuft, kann es diese Übergänge nicht unmittelbar auf der topographischen Karte identifizieren. Sie sind weniger eindeutig und werden deswegen als ‚nicht real‘ und ‚fern‘ (von der Realität) empfunden. Das heißt, die Karte ist nicht nur zentrales epistemologisches Instrument, sondern wird vom Kind darüber hinaus mit ihrem Referenzgegenstand gleichgesetzt. Sie verweist nicht nur auf den Urlaubsort, sondern ist dieser Ort, weswegen sie genauso ‚real‘ wahrgenommen wird wie der Urlaubsort selbst. Bei dieser naturalisierenden Rezeption der Karte, bei der die Karte in ihrer Eigenschaft als Instrument, Zeichenverbund und Medium zu verschwinden scheint, bleibt es jedoch nicht. Mit der Zeit entwickelt sich die topographische Karte immer mehr zu einem Mittel der Repression durch den Lehrer und die politische Karte, die zuvor nur lebensweltlich Nähe vermittelte, wird immer mehr zur Zuflucht des sich gegen den Lehrer aufbäumenden Schülers: Pero además como este último [el mapa Físico] silencia todos los datos del interés primario se le observará con esa suspicacia que despierta toda ley de prohibición y se le considerará con esa mezcla colegial de recelo y desdén con que es recibida la doctrina oficial y de esa forma tanto como el mapa Físico se transforma paulatinamente en el instrumento de represión del maestro, el mapa Político se convierte en el refugio de represión del alumno rebelde. (S. 11f.) Später wird dieser Schüler sich jedoch nicht mehr von den Dingen beeindrucken lassen, die nahe liegen und somit nur auf den ersten Blick ‚primär‘ sind, und sich wieder der topographischen Karte zuwenden. Dann sind nicht mehr die Dinge von Interesse, die unmittelbar verfügbar sind, sondern die Karte, die von „un presente en perpetua transformación“ (S. 12) spricht. <?page no="55"?> 55 Benets elementare Kartographie macht auf mehrere Aspekte aufmerksam. Zum einen wird die Unterscheidung zwischen ursprünglicher Natur bzw. Raumerfahrung und sekundären, von Menschen kulturell und politisch festgelegten Orten und Grenzen unterstrichen. Dabei ist jene ursprüngliche Natur, wie bereits angedeutet, durchaus mit dem primordialen Naturraum Merleau-Pontys vergleichbar. Dieser Naturraum und die sekundären, von Menschen gemachten Ordnungen stellen die Pole einer ‚Skala der Verfügbarkeit‘ dar. Während der Naturraum sich dem Subjekt entzieht, sind letztere von jeher schon Produkt eines willkürlichen Aktes der Festlegung. Zum anderen problematisiert Benet die Naturalisierung der Karte, die ihre eigene Materialität, ihr eigenes Gemachtsein verdeckt. Es wird auf die intendierte Tendenz zur Verwechslung zwischen Karte (Zeichensystem) und dem dort dargestellten Territorium (Referenzgegenstand) hingewiesen. Darüber hinaus sind beide, Karte und Territorium, Wahrnehmungsgegenstände und interpretationsbedürftig. Durch die „Cartografía elemental“ stellt Benet die Frage nach dem Funktionieren der Karte als epistemologisches Instrument. Er zeigt ihre Grenzen auf, wenn es um das phänomenologische Zurückgehen auf die aller Erkenntnis voraus liegende Welt geht. Er spricht aber auch die ideologische Macht der Karte 139 an, wenn sich die kartographische Rezeption über die eigentliche Raumerfahrung schiebt und Erkenntniswille der Wahrnehmung als Weltzugang vorgezogen wird. Gleichzeitig bleibt es nicht bei dieser rationalistischen Funktionalisierung der Karte. Denn ganz offensichtlich ist sie gerade als insuffizientes Zeichensystem in der Lage auf jenen primordialen Naturraum zu verweisen, der sich uns nie vollständig erschließen wird. Die Funktionsweise der Karte kippt also ständig - sie befindet sich auf der Schwelle zwischen epistemologischem Erkenntniswillen und phänomenologischer Lektüre. Ihr wird ein besonderer Stellenwert eingeräumt, wenn es um Raumerfahrung geht. Dies gilt es zu beachten, wenn in Kapitel II.6 das Verhältnis von Benets Karten und Texten untersucht wird. Eine sehr viel reflektiertere Position, als sie bisher in der Forschungsliteratur zum dem Thema Kartographie bei Benet zu finden ist, muss eingenommen werden. 140 139 Vgl. Stockhammer: Die Kartierung der Erde, S. 49: „Die Macht von Karten besteht im einfachsten Sinne darin, dass mit ihnen bestimmte Absichten befördert werden können: navigatorische, militärische, raumplanerische, geopolitische, ideologische usw.“ 140 Margenot hat sich sehr wohl mit diesem Thema beschäftigt, leider bleibt bei ihm jedoch eine theoretische reflektierte und systematische Untersuchung aus (siehe John Margenot: Zonas y sombras. Aproximaciones a Región de Juan Benet, Madrid: Pliegos, 1991, insbesondere Kapitel I und II). <?page no="56"?> 56 II.4 Raumtheoretische Ergänzungen: von Punkten und Vektoren In diesem Kapitel werden zwei verschiedene Theorien zum Raum miteinander verknüpft, die zunächst einmal aus ganz verschiedenen Richtungen kommen und verschiedene Interessen verfolgen: Certeaus handlungstheoretischer Ansatz in Arts de faire 141 , der Raum als Praxis begreift, sowie Deleuze und Guattaris Unterscheidung von glattem und gekerbtem Raum, die sich als geopolitische Theorie im Kontext der Tausend Plateaus 142 begreifen lässt. In einem wesentlichen Punkt sind durchaus Parallelen zu erkennen. Beide Ansätze gehen bei der Beschreibung von Raum und dem Umgang mit Raum jeweils von zwei oppositionellen Modellen aus, die historisch gewachsen sind und sich über das Verhältnis von Punkt und Vektor erfassen lassen. Diese theoretischen Ausführungen sind als Ergänzung zu den oben entwickelten poetologischen Dimensionen des Raums zu verstehen. Beide Ansätze liefern - ohne Anspruch auf Vollständigkeit der Erläuterungen in diesem Kapitel - zusätzliche Aspekte, die das Verständnis des Zusammenhangs zwischen Raum, Ort, Karte, Bewegung im Raum und räumlicher Wahrnehmung erleichtern und erweitern sollen. Es werden immer wieder punktuell Rückbezüge auf phänomenologische und poetologische Aspekte des Raums hergestellt. So zeigt sich, warum die Ergänzungen sinnvoll sind und dass zusätzliche Interpretationsansätze für die Textanalysen gewonnen werden können. II.4.1 Raum als Praxis: espace und lieu - parcours und carte Michel de Certeaus Überlegungen zum Raum in Arts de faire fußen in hohem Maße auf Merleau-Pontys Begriff des anthropologischen Raumes. 143 Von ihm übernimmt er die Annahme, dass Raum als Produkt einer subjektiven Perspektive verstanden werden kann und insofern nicht vollkommen lesbar ist. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit zu untersuchen, unter welchen Umständen Raum gemacht wird. Im Hinblick auf das Kapitel „Krieg“ ist 141 Zugrunde liegen hier die französische Ausgabe Michel de Certeau: Arts de faire, Paris: Gallimard, 1990 und die deutsche Ausgabe Michel de Certeau: Kunst des Handelns, Berlin: Merve, 1988. Die französische Ausgabe wird zitiert, da im Folgenden die französische Terminologie Certeaus übernommen wird, um begriffliche Verwechslungen in Bezug auf Raum und Karte zu vermeiden. 142 Gilles Deleuze/ Félix Guattari: Tausend Plateaus, Berlin: Merve, 1992. 143 Siehe zur Bedeutung von Merleau-Ponty für Certeaus Studie: Ian Buchanan: „Heterophenomenology, or de Certeaus Theory of Space“, in: Social Semiotics 6: 1 (1996), S. 111- 132. <?page no="57"?> 57 wichtig, wie Certeau sich mit den Begriffen Strategie und Taktik auseinandersetzt. Das Kapitel III.1 wird später daran anknüpfen und es ergibt sich ein erster theoretischer Zusammenhang zwischen Raum und Krieg. Eine Art Negativfolie für Certeaus Analysen von Alltagspraktiken in Arts de faire bilden die machtanalytischen Schriften Michel Foucaults 144 , bei welchen Machtausübung vor allen Dingen durch die Überwachung und Beobachtung von oben geschieht. Certeau spricht von einem [kleinen] und überall wiederholten Gestus, der einen sichtbaren Ort mit einem Raster überzieht, um diejenigen, die sich an diesem Ort befinden, der Beobachtung und der ‚Information‘ zu unterstellen. 145 Diese Beobachtungshaltung der Macht von oben nimmt Certeau als Ausgangspunkt, wenn es um die Praktiken im Raum geht, die in dieser Arbeit von besonderem Interesse sind. Certeau evoziert den Blick von der Spitze des World Trade Center auf Manhattan. Dieser, dem Alltag der Stadt entrissene, panoptische 146 Blick macht die Stadt erst ‚lesbar‘, da sie sich nur so als Ganzes wahrnehmen lässt. Dieser Blick ist der eines Gottes - oder nähert sich zumindest diesem an: Etre élevé au sommet du World Trade Center, c’est être enlevé à l’emprise de la ville. Le corps n’est plus enlacé par les rues qui le tournent et le retournent selon une loi anonyme ; ni possédé, joueur ou joué, par la rumeur de tant de différences et par la nervosité du trafic new-yorkais. Celui qui monte là-haut sort de la masse qui emporte et brasse en elle-même toute identité d’auteurs ou de spectateurs. Icare au-dessus de ces eaux, il peut ignorer les ruses de Dédale en des labyrinthes mobiles et sans fin. Son élévation le transfigure en voyeur. Elle le met à distance. Elle mue en un texte qu’on a devant soi, sous les yeux, le monde qui ensorcelait et dont on était « possédé ». Elle permet de le lire, d’être un Œil solaire, un regard de dieu. Exaltation d’une pulsion scopique et gnostique. N’être que ce point voyant, c’est la fiction du savoir. […] L’immense texturologie qu’on a sous les yeux est-elle autre chose qu’une représentation, un artefact optique ? C’est l’analogue du fac-similé que produisent, par une projection qui est une sorte de mise à distance, l’aménageur de l’espace, l’urbaniste ou le cartographe. La ville-panorama est un simulacre ‚théorique‘ (c’est-à-dire visuel), en somme un tableau, qui a pour condition de possibilité un oubli et une méconnaissance des pratiques. Le dieu voyeur que [sic! ] crée cette fiction et qui […] ne connaît que les cadavres, doit s’excepter de l’obscur entrelacs des conduites journalières et s’en faire l’étranger. 147 144 Siehe vor allen Dingen das Kapitel IV „Foucault et Bourdieu“. Bezüge auf Foucault finden sich aber immer wieder in dem gesamten Werk Arts de faire. 145 Certeau: Kunst des Handelns, S. 108. 146 Der Begriff des Panoptikums ist Foucault entlehnt. Kapitel III.3 wird auf den panoptischen Blick noch näher eingehen. 147 Certeau: Arts de faire, S. 140f. <?page no="58"?> 58 Durch die extreme Vertikale wird die Stadt hier zu einem ‚Textgewebe‘, das aber nur aufgrund der Tatsache entstehen kann, dass der Beobachter die Praktiken, die unten in der Stadt stattfinden, regelrecht vergisst. Nur durch die Abstraktion und bewusste Distanz zu dem, was ‚dort unten‘ geschieht, nimmt derjenige ‚dort oben‘ die des Mächtigen ein, der die Geschehnisse beobachten und von ihnen abstrahieren kann. Dieser Blick nähert sich einer kartographischen Projektion an. 148 Gleichzeitig ist ihm eine bestimmte Art von Praktiken, die sich unter der sichtbaren ‚Textur‘ verbergen, fremd: Ces pratiques de l’espace renvoient à une forme spécifique d’opérations (des « manières de faire », à « une autre spatialité » (une expérience « anthropologique », poétique et mythique de l’espace), et à une mouvance opaque et aveugle de la ville habitée. Une ville transhumante, ou métaphorique, s’insinue ainsi dans le texte clair de la ville planifiée et lisible. 149 Hier werden also bereits Bewegung und Praktiken im Raum miteinander in Verbindung gebracht und mit ihrer Undurchschaubarkeit der räumlichen Abstraktion und Lesbarkeit gegenübergestellt. Diese beiden Vorstellungen sind nach Certeau historisch gewachsen und unmittelbar mit der Frage nach Planung und Wissen verknüpft. Denn in dem Moment, in dem Menschenansammlungen, wie z.B. Städte, über eine gewisse Größe hinauswachsen, besteht das Bedürfnis, eben diese zu organisieren und die Stadt zu konzipieren. Erst durch diese Planung kann man etwas über die plurale Menschenansammlung wissen, es handelt sich also um einen Schritt, der in hohem Maße ein epistemologisches Interesse verfolgt: Vue perspective et vue prospective constituent la double projection d’un passé opaque et d’un futur incertain en une surface traitable. Elles inaugurent […] la transformation du fait urbain en concept de ville. 150 Diese Konzept-Stadt ist der Ort von Strategie und Macht, in ihr werden Heterotopien wie Krankenhäuser und psychiatrische Einrichtungen verwaltet und die Rationalisierung zum obersten Prinzip erhoben. 151 Damit ‚vergisst‘ sie ihre eigene Entstehungsgrundlage (nämlich anwachsende, plurale Menschenmassen) und grenzt das aus, was unter der panoptischen, lesbaren Oberfläche geschieht: 148 Hier ist bereits ein Gedankengang zu erkennen, der später mit Stockhammer als der Blick des absolut Reisenden bezeichnet werden wird. Zwar ist der Blick von dem World Trade Center ein durchaus realistischer (bzw. er war realistisch im Sinne von umsetzbar in der Zeit, als das World Trade Center noch stand), jedoch nähert er sich durch eine extreme Vogelperspektive der des absoluten Reisenden bzw. eines Gottes an. (Vgl. hierzu S. 78 in dieser Arbeit.) 149 Ebd., S. 142. 150 Ebd., S. 142. 151 Vgl. ebd., S. 144f. <?page no="59"?> 59 Sous les discours qui l’idéologisent, prolifèrent les ruses et les combinaisons de pouvoirs sans identité lisible, sans prises saisissables, sans transparence rationnelle - impossible à gérer. 152 Unter dem Machtdiskurs entstehen Finten, die sich der analytischen ‚Lektüre‘ und der Erkenntnis entziehen. Certeau macht es sich zur Aufgabe, jene Praktiken zu untersuchen, die sich jenseits des strategischen Zugriffs der Verwaltungsmacht, aber trotzdem immer noch im Rahmen der Stadt selbst ausbilden. Er möchte bestimmte „Umgangsweisen mit dem Raum“ 153 und Bewegungen nachvollziehen, die sich der räumlichen Disziplinierung entziehen. Dies tut er, indem er den Akt des Gehens in die Nähe des Sprechaktes rückt. „L’acte de marcher est au système urbain ce que l’énonciation (le speech act) est à la langue ou aux énoncés proférés.“ 154 Ähnlich wie der Sprechakt kann auch der Akt des Gehens theoretisch aufgezeichnet werden 155 . Diese Aufzeichnungen können aber den eigentlichen Akt nie hinlänglich bezeichnen, sie sind nur Spuren dieser Akte und verweisen somit vielmehr auf deren Abwesenheit. Denn während Sprech- und Gehakt von Zeitlichkeit und Vergänglichkeit geprägt sind, versuchen Schrift und Karte, diese Akte in eine von der Zeit abstrahierende Projektion zu übertragen. Der Akt des Gehens wird also als ‚Äußerung‘ der Fußgänger verstanden und ist durch drei Merkmale geprägt: die bereits erwähnte Gegenwärtigkeit, Diskontinuität und das ‚Phatische‘. Certeau erläutert diese drei Merkmale in seinem siebten Kapitel noch sehr viel detaillierter, als es hier getan werden kann. Wichtig ist das grundlegende Verständnis vom Akt des Gehens als ein Umgang mit dem Raum. Zwar ist der Spaziergänger in der Stadt immer schon auf bereits Vorgegebenes - wie die urbane Infrastruktur - angewiesen. Indem er aber mit dem vorgegebenen System umgeht, verändert dieses sich punktuell. Diese Unterscheidung von panoptischer, von Zeitlichkeit abstrahierender Projektion die mit dem planenden Blick von oben verknüpft ist, und Umgang mit dem Raum im Akt des Gehens, ist wichtig, wenn Certeau im Folgenden mit espace und lieu 156 zwei grundlegende Begriffe seiner raumtheoretischen Überlegungen definiert. Mit lieu bezeichnet er ein Ordnungselement, das eindeutig ist. Befindet sich etwas an einer Stelle, so kann es sich nicht an einer anderen befinden. Orte in diesem Sinne bilden eine Konstellation, ein stabiles Netz aus feststehenden Elementen: „Un lieu est donc une 152 Ebd., S. 145. 153 Certeau: Kunst des Handelns, S. 187. 154 Certeau: Arts de faire, S. 148. 155 Vgl. hierzu auch die spätere Analyse zu den ‚sujethaltigen Karten‘ in Herrumbrosas lanzas, in welche diverse Truppenbewegungen eingezeichnet sind, S. 69ff der vorliegenden Arbeit. 156 Vgl. Certeau: Arts de faire, S. 172ff. <?page no="60"?> 60 configuration instantanée de positions. Il implique une indication de stabilité.“ 157 Der espace hingegen entsteht, wenn man in dieses stabile Netz Zeit, Bewegung und Richtungsvektoren einfügt. Er muss nicht eindeutig sein, sondern kann vielmehr in sich widersprüchliche Elemente aufnehmen. Hierbei wird wieder Bezug auf den Vergleich mit Sprechakt und Äußerung genommen: L’espace serait au lieu ce que devient le mot quand il est parlé, c’est-à-dire quand il est saisi dans l’ambiguïté d’une effectuation, mué en un terme relevant de multiples conventions, posé comme l’acte d’un présent (ou d’un temps), et modifié par les transformations dues à des voisinages successifs. A la différence du lieu, il n’a donc ni l’univocité ni la stabilité d’un ‹ propre ›. 158 Das heißt lieu stellt - wie die langue - ein System zu Verfügung, das im espace - bzw. in der parole - realisiert wird. Der espace stellt eine Handlung dar, einen Akt: „Ainsi la rue géométrique définie par un urbanisme est transformée en espace par des marcheurs.“ Das heißt, der Raum wird erst durch das handelnde und sich bewegende Subjekt erzeugt. Mit diesem Verständnis von Raum bzw. Räumlichkeit lehnt Certeau sich explizit an Merleau-Ponty und seine Definition eines anthropologischen Raums an. 159 Er beschreibt jedoch keine essentiellen Kategorien, sondern wandelbare Eigenschaften. Das heißt, ein lieu kann zum espace werden und umgekehrt 160 . Mit diesem Begriffspaar wird ein weiteres verknüpft: parcours und carte. Ausgehend von einer Studie, die Appartementbeschreibungen durch ihre Bewohner untersuchte, werden zwei Arten der Beschreibung unterschieden. […] [L]a description oscille entre les termes d’une alternative : ou bien voir (c’est la connaissance d’un ordre des lieux), ou bien aller (ce sont des actions spatialisantes). Ou bien elle présentera un tableau (« il y a » …), ou bien elle organisera des mouvements (« tu entres, tu traverses, tu tournes » …). 161 157 Ebd., S. 173. 158 Ebd. 159 Siehe das Zitat zu Fußnote 149. Die Begriffe „autre spatialité“ und „expérience ‹ anthropologique ›“ sind Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung entnommen. 160 Leider bringt de Certeau an dieser Stelle nur schwer nachvollziehbare Beispiele für eine solche Umfunktionalisierung von einem lieu in einen espace und umgekehrt an. Das heißt, eine hinlängliche Erklärung bzw. eine Schilderung einer solchen Wandlung bleibt er eigentlich schuldig. Festgehalten werden kann, dass, aufbauend auf einem phänomenologischen Verständnis, mit lieu und espace auch die Art und Weise beschrieben werden kann, wie ein Subjekt sich zur Welt in Bezug setzt, sprich, wie es die Welt erfährt und was es mit ihr macht. 161 Ebd., S. 176. Im Hinblick auf Benets estampa, die man durchaus als Tableau verstehen kann, dürfen hier keine voreiligen Vergleiche gemacht werden. Denn wenn die estampas als statische Momentaufnahmen verstanden werden können, sind sie genau das Element, mit dem sich Benet gegen eindeutige semantische Festlegungen wehrt - es <?page no="61"?> 61 Während also die carte von der Bewegung im Raum abstrahiert und auf das Sehen bestimmter Markierungen und Ordnungselemente im Raum abzielt, findet der parcours seine Entsprechung in der Bewegung im Raum und damit in Handlungen, die Raum bilden bzw. produzieren. Dieser Differenzierung der beiden Beschreibungsarten, die in alltäglichen Erzählung meist nur in einer Mischform auftreten und sich gegenseitig zu bedingen scheinen, gibt Certeau einen historischen Hintergrund. 162 So verfolgt er in einer sehr knappen Darstellung die Entwicklung der Kartographie seit dem Mittelalter. Das, was wir heute im Allgemeinen unter Karte verstehen, ist demnach durch die Beschreibung und bildliche Darstellung von Wegstrecken entstanden. Diese hatten nicht den Verweischarakter auf geographische Gegebenheiten wie heutige Karten, sondern lieferten vielmehr eine sehr subjektive Beschreibung eines zurückgelegten Weges. Mit der frühen Neuzeit und der langsamen Formierung von differenzierten wissenschaftlichen Diskursen ist auch die Karte Gegenstand sich wandelnder epistemologischer Ansprüche. Zwar bleiben ‚narrative Elemente‘ wie etwa eingezeichnete Schiffe zum Teil noch erhalten. Trotzdem siegt die carte, wie oben beschrieben, immer mehr über den parcours: Mais la carte gagne progressivement sur ces figures ; elle en colonise l’espace ; elle élimine peu à peu les figurations picturales des pratiques qui la produisent. Transformé par la géométrie euclidienne puis descriptive, constitué en ensemble formel de lieux abstraits, c’est un « théâtre » (ainsi appelaiton les atlas) où le même système de projection juxtapose pourtant deux éléments bien différents : les données fournies par une tradition (la Géographie de Ptolémée, par exemple) et celles qui provenaient de navigateurs (les portulans, par exemple). 163 Demnach ist die Karte, wie wir sie heute kennen, ein Zusammenspiel aus zwei Elementen. In ihr fallen sowohl die abstrahierende Darstellung von geographischen Gegebenheiten als auch die eher narrative Schilderung einer Bewegung im Raum zusammen. Ähnlich wie der am Anfang dieses Kapitels beschriebene geschichtsvergessene Blick aus der Vogelperspektive von der Spitze des World Trade Centers auf die Stadt, hat die heutige Karte ihr eigene Entstehungsgeschichte vergessen. Dies ist gleichzeitig eine Bedingung für ihr Funktionieren. La carte, scène totalisante où des éléments d’origine disparate sont rassemblés pour former le tableau d’un « état » du savoir géographique, rejette dans son avant ou son après, comme dans les coulisses, les opérations dont elle est geht ihm eben nicht darum mit einem Blick eine Ordnung zu erkennen, wie es bei Certeau beschrieben wird. 162 Vgl hierzu ebd., S. 177ff. 163 Ebd., S. 178f. <?page no="62"?> 62 l’effet ou la possibilité. Elle demeure seule. Les descripteurs de parcours ont disparu. 164 In diesem Sinne stellt die carte, verstanden als das Resultat einer langen historischen Entwicklung, scheinbar unveränderbares, statisches Wissen dar, das über sie selbst ablesbar wird. Auch wenn Certeau selbst darauf nicht weiter eingeht, ist der Hinweis auf den Begriff des Theaters in Zusammenhang mit der Geschichte der Kartographie in dieser Arbeit von großem Interesse. Benet selbst kostet die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes θεᾶσθαι (‚schauen, anschauen‘) an vielen Stellen aus, wenn er zum Beispiel vom teatro de operaciones und vom mapa de teatro de operaciones, mit Bezug auf Kriegshandlungen, spricht. 165 Der abstrahierende Blick, der versucht eine möglichst große Totale zu umfassen, und die Inszenierung der Elemente, die Bestandteile der Karte sind, sind demnach von Anfang an in einem solchen Verständnis von carte angelegt. II.4.2 Glatter und gekerbter Raum Ergänzend zu Certeaus Raumpraktiken wird nun kurz die Unterscheidung von glattem und gekerbtem Raum erläutert, die Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus 166 vornehmen. Zwar stellen die Autoren immer wieder den Bezug zum geographischen bzw. zum geopolitischen Raum her, sie lösen jedoch mit der Unterscheidung der Prinzipien ‚Glattes‘ und ‚Gekerbtes‘ Räumlichkeit von der Materialität des Bodens. Ihre Überlegungen lassen sich als eine „Metatheorie der Räumlichkeit des Politischen“ 167 verstehen. Um das Glatte und das Gekerbte definitorisch umreißen zu können, untersuchen sie mehrere ‚Modelle‘: (Textil-) Technik, Musik, Meer (bzw. Geographie), Mathematik, Physik und (‚nomadische‘) Ästhetik. Beide Prinzipien befinden sich trotz dieser definitorischen Versuche stets in einer ständigen Vermischung, in Re- und Deterritorialisierungsbewegungen. Der eine Raum wird stets in den anderen überführt und umgekehrt. Zwei wesentliche Punkte, in welchen sich die theoretischen Angebote von Certeau und Deleuze und Guattari als kompatibel darstellen, sind das Verhältnis zwischen Punkt und Linie, sowie die Bedeutung des Direktionalen bzw. des Vektors. Das Glatte weist sich als direktional bzw. als gerichtet aus, in ihm zeigen Vektoren in alle möglichen Richtungen. Das Gekerbte hingehen ist vor allen Dingen dimensional, es breitet sich aus. Um dies an 164 Ebd., S. 179. 165 Dazu mehr in Kapitel IV. 166 Ich beziehe mich auf das Kapitel „1440 - Das Glatte und das Gekerbte“ (Deleuze/ Guattari: Tausend Plateaus, S. 658-694). 167 Jörg Dünne: „Einleitung“, in: Dünne/ Günzel: Raumtheorie, S. 371-385, hier S. 381. <?page no="63"?> 63 einem Beispiel festzumachen, sprechen die Autoren von dem Meer als „glatten Raum par excellence“ 168 . Es ist als ob das Meer nicht nur der Archetypus aller glatten Räume gewesen ist, sondern der erste dieser Räume, der eine Einkerbung erdulden mußte, die ihn in zunehmendem Maße unterwarf und ihn hier oder da, erst von der einen und dann von der anderen Seite mit Rastern überzog. […] Es hat sich immer mehr etwas Dimensionales herausgebildet, das sich das Direktionale unterordnete oder es überlagerte. 169 Deleuze und Guattari sprechen hier konkret von der Einkerbung des Meeres durch die Raumaufteilung mittels astronomischer und kartographischer Verfahren, die in der Frühen Neuzeit immer mehr aufkamen und immer präziser wurden. Man konnte durch astronomische Berechnungen den eigenen Positionspunkt bestimmen, und durch die Neuentdeckung der ptolemäischen Geographie wurde das Meer mit einem Raster von Längen- und Breitengraden überzogen. Diese kerbenden Verfahren abstrahierten in großem Maße von dem Meer als solchem und ‚zähmten‘ es insofern, als es ab der Frühen Neuzeit für die Expansionsbestrebungen und Handelsinteressen der Kolonialmächte funktionalisiert wurde. Durch diese Kerbung wurde man des Meeres also habhaft. Man begrenzte es, man ‚(re-) territorialisierte‘ es. Somit ergibt sich eine wesentliche Unterscheidung zwischen glattem und gekerbtem Raum durch das Verhältnis von Punkt und Linie. Im glatten Raum werden einzelne Positionspunkte der Linie, bzw. dem Richtungsvektor untergeordnet. Raum selbst entsteht erst durch die ständige Richtungsänderung, er ist direktional wie auch intensiv und besteht aus offenen Intervallen. Auf der offenen Oberfläche des glatten Raumes kommt es zur qualitativen Verteilung. 170 Der gekerbte Raum, der sich etwa über das glatte Meer schiebt, ordnet hingegen Linien und Bahnen den Punkten unter. Es geht darum, sich von einem Punkt zum nächsten zu bewegen. Er ist metrisch, dimensional und breitet sich extensiv aus. Seine Intervalle sind geschlossen, sprich, die Abstände zwischen zwei Punkten sind messbar und bestimmt. Seine Oberfläche wird eingeschlossen und es kommt zur quantitativen Einteilung. Als prototypischen gekerbten Raum nennen Deleuze und Guattari die Stadt: Sie rastert den Raum durch ein Straßennetz, besetzt den Raum durch standfeste und dauerhafte Gebäude und breitet sich immer 168 Deleuze/ Guattari: Tausend Plateaus, S. 664. 169 Ebd., S. 665. 170 Ein veranschaulichendes Beispiel ist das der Nomaden, die ihren ‚Innenraum‘ (das Zelt) an den Außenraum (z.B. die Wüste) anpassen und keinen festen Wohnsitz haben. Sie haben keine feste Position, sondern passen ihren ‚Punkt‘ (den Wohnraum) an die Bahnen an, über welche sie den Raum durchziehen. Gleichzeitig haben sie aber keine extensiven Interessen, ihr Raum breitet sich nicht aus, sondern bleibt durch die ständige Bewegung intensiv. <?page no="64"?> 64 weiter aus. Jedoch bleibt es nie bei dem einfachen Gegensatz von glatt und gekerbt. Selbst in der Stadt kommt es zu einem Gegenschlag[], der das Glatte und das Durchlöcherte kombiniert und sich gegen die Stadt zurückwendet: gewaltige, kurzlebige Elendsviertel, Nomaden und Höhlenbewohner […], die nicht einmal mehr für die Einkerbung des Geldes, der Arbeit oder des Wohnungsbaus interessant sind. 171 Das ungeplante und zum Teil zersetzende Entstehen und Verschwinden solcher Elendsviertel wäre ein Moment der Deterritorialisierung, von der oben gesprochen wurde. Aus den beiden Prinzipien glatt und gekerbt ergeben sich demnach auch verschiedene Prinzipien der Reise und der Bewegung im Raum. Der parcours, den Certeau beschreibt, das alltägliche und uninteressierte Wandern des ‚kleinen Mannes‘ in der Stadt wäre ein nomadisches, glättendes Gehen in der gekerbten Stadt. Der panoptische Blick, der durch die carte festgehalten wird, würde das gekerbte Raster der Stadt reproduzieren. Eine Reise an Ort und Stelle, das ist der Name aller Intensitäten, selbst wenn sie sich auch in Extension entwickelt. Denken heißt reisen […]. […] Reisen unterscheidet sich weder durch die objektive Qualität von Orten, noch durch die meßbare Quantität der Bewegung, noch durch irgendetwas, das nur im Geiste stattfindet, sondern durch die Art der Verräumlichung, durch die Art im Raum zu sein oder wie der Raum zu sein. 172 Bei der Vorstellung der „Reise an Ort und Stelle“, des ‚intensiven Reisens‘, sei an das Bild der Forellen und der ‚unbewegten Bewegtheit‘ bei Benet erinnert. Die Forellen bewegen sich objektiv gesehen nicht fort, vollziehen trotzdem einen intensiven Wahrnehmungsprozess dessen, was an ihnen vorbeirauscht. Wie auch bei Certeau ist es somit wichtig, festzuhalten, dass das Glatte und das Gekerbte keine substantiellen Begriffe sind, sondern die Art und Weise beschreiben, im Raum zu sein, zum Raum zu sein bzw. die Art und Weise der „Verräumlichung“. Einen letzten für Benet wichtigen Aspekt der Unterscheidung glatt und gekerbt entwickeln Deleuze und Guattari an dem Modell der ‚nomadischen Kunst‘. Dabei geht es um eine bestimmte Art der Wahrnehmungseinstellung. Demnach verfolgt die ‚nomadische Kunst‘ eine „nahsichtige Auffassung“ der Objekte, die einen haptischen Raum entstehen lässt. Nicht nomadische Kunst hingehen entsteht durch die Wahrnehmung aus der Ferne und führt zu einem optischen Raum: Das Glatte scheint uns Gegenstand einer nahsichtigen Anschauung par excellence und zugleich Element eines haptischen Raumes zu sein (der gleichermaßen visuell, auditiv und taktil sein kann). Das Gekerbte verweist 171 Ebd., S. 667. 172 Ebd., S. 668. <?page no="65"?> 65 dagegen auf eine eher fernsichtige Anschauung und auf einen eher optischen Raum - auch wenn das Auge nicht das einzige Organ ist, das diese Fähigkeit hat. 173 Die Adjektive ‚haptisch‘ und ‚optisch‘ verweisen weniger auf das Wahrnehmungsorgan (Haut oder Auge), sondern auf eine bestimmte Wahrnehmungseinstellung, die auf der Entfernung zum Objekt beruht. Wie bei Merleau-Ponty dient auch den Autoren der Tausend Plateaus Cézanne als Beispiel für eine solche ‚nahsichtige‘ Anschauung. Wenn man sich dem Objekt sehr nähert, sieht man nicht mehr, sondern verliert sich in den Details ohne größeren Zusammenhang. Man verliert sich im glatten Raum: Der haptische, glatte Raum mit naher Anschauung hat einen ersten Aspekt, nämlich die kontinuierliche Variation seiner Richtungen, seiner Anhaltspunkte und seiner Annäherungen; er operiert von nah zu nah. 174 Mit der ‚nahsichtigen‘ Anschauung wird eine phänomenologische Einstellung beschrieben, die sich in immer neuen Perspektiven dem Objekt nähert und so nie zu einem Absoluten, Fertigen kommen kann. Das Auge, so Deleuze und Guattari, wird dabei zum Finger und erhält somit eine haptische Funktion. 175 Glatter Raum entsteht also, wenn das Auge das Objekt nah an sich herholt und es ertastet anstatt es abstrahierend aus der Ferne zu betrachten. Es kommt zu einem bewegten, prozessualen Sehen. Benets Sprache mit ihren „ciertas leyes de perspectiva“ 176 versucht demnach einen Wahrnehmungsprozess zu initiieren, der zu einem haptischen, glatten Raum führt. Vor dem Hintergrund des Themas Krieg, mit dem unmittelbar territoriale Aspekte einhergehen, ist dieser ‚deterritorialisierenden‘ Funktion der Sprache besondere Beachtung zu schenken. II.5 Narrative Operationalisierung von räumlicher Distanz und ‚nahsichtiger Anschauung‘ In der dem Romanfragment Herrumbrosas lanzas 177 vorangestellten Nota del autor beschreibt Benet seine Motivation, aus einem ursprünglich als historisches Projekt zum spanischen Bürgerkrieg gedachtem Werk eine fiktionale Erzählung zu machen. Demnach inspirierte ihn der US-amerikanische Historiker Shelby Foote dazu „[…] de convertir aquel proyecto en una larga narración que describiera toda la guerra reducida a un sector aislado y, por 173 Ebd., S. 682. 174 Ebd., S. 683. 175 Vgl. ebd., S. 684. 176 Vgl. Fußnote 91. 177 Alle Seitenangaben für Zitate aus Herrumbrosas lanzas erfolgen in diesem Kapitel im Fließtext. Alle anderen Literaturnachweise erfolgen über Fußnoten. <?page no="66"?> 66 supuesto, imaginario.“ (S. 23) Der Vorgang des reducir im Sinne einer fokalen Verkleinerung ist dabei wörtlich zu nehmen. Vor dem Hintergrund der Bedeutung der Projektion für sprachliche Darstellungsverfahren ist dieser Aspekt von besonderem Interesse. Im Roman selbst findet sich ein entsprechender metapoetischer Kommentar zu jener Operationalisierung der räumlichen Distanz im narrativen Text, welcher im Folgenden analysiert wird. Der Kommentar setzt relativ unvermittelt und ohne eine wirkliche Kontextualisierung durch das Romangeschehen ein. Kurz zuvor werden zum wiederholten Male die unterschiedlichen Strömungen und Interessen innerhalb der republikanischen Truppen beschrieben. Da es sich um eine zentrale Textstelle handelt, wird der längere Textabschnitt vollständig zitiert: A medida que se fueron perfilando las tendencias y afiliaciones políticas de unos y otros […] se fue impersonalizando la tragedia, encomendada no a héroes, sino a representantes de las diversas facciones, pero sin que en el reducido escenario de una pequeña ciudad de provincias semejantes libreas acertaran a encubrir plenamente a las personas que con ellas se cobijaban. Un cierto autor ha venido a describir la Guerra Civil en Región como una reproducción a escala comarcal y sin caracteres propios de la tragedia española. Sin embargo, ha olvidado o desdeñado el hecho de que toda reducción, como toda ampliación, concluye, se quiera o no, en un producto distinto de la matriz, no sólo formado a veces de una sustancia diferente, sino en el que - a causa de la diversa elasticidad de sus ingredientes en el momento de ser dimensionalmente alterados, aun conservando la homotecia general entre los dos todos - ciertos componentes ejercen sobre el conjunto un influjo que es distinto según sea su dimensión. Si a ello se añade que cuanto más reducido y menos poblado es el campo de la tragedia, mayor influencia tendrá el héroe o el individuo (aun cuando la propaganda montada en torno al líder pretende hacer creer todo lo contrario), se admitirá que la transformación homotética de un fenómeno histórico nacional para la representación del mismo a escala local provocará las suficientes deformaciones como para proveer una imperfecta e inexacta composición. De la misma manera que el grano de la película sólo brota en la fotografía a partir de cierta ampliación, el individuo sólo es perceptible en un campo reducido; en el paso siguiente sólo se verán granos o sólo individuos, desvanecidos los vínculos de luz y sombra que los unen o separan en la visión del conjunto. Se pensará, por tanto, que la elección de la distancia focal es esencial para obtener el cuadro que se desea; se concluirá, sin embargo, que cualquiera que sea esa distancia - y tal vez elegida al azar - se obtendrá un cuadro y sólo uno, ni más exacto ni falso que cualquier otro, más o menos satisfactorio para el ojo que lo contempla y más o menos concordante con la curiosidad que le llevó a contemplarlo. (S. 116f., Hervorhebungen von mir) 178 178 Hervorhebungen von mir. Münster (vgl. Münster: Das Unsagbare sagen, S. 48-50) hat diese Textstelle bereits in ihrer Bedeutung hervorgehoben, hat sie jedoch in ihrem poetologischen Potential noch nicht hinreichend ausgeschöpft und hat sie auch nicht in <?page no="67"?> 67 Dieser Textstelle zufolge werden bei der Darstellung des Bürgerkriegs in Región 179 räumliche, visuelle und wahrnehmungstheoretische Problematiken miteinander verknüpft - alles Aspekte, die bereits auf theoretischer Ebene in dieser Arbeit besprochen wurden. Das Große - die ‚spanische Tragödie‘ - wird durch ein Abbildungsverfahren ähnlich der Homothetie 180 (homotecia) im Kleinen dargestellt. Durch die visuelle Verkleinerung (reducción) und Vergrößerung (ampliación) kommt es jedoch - anders als bei einer Homothetie - zu Verzerrungen und Deformationen in Bezug auf das Original, es kann sogar die Substanz des Dargestellten selbst verändern („formado a veces de una sustancia diferente“). Die Darstellung selbst wird im Medium der theatralen Aufführung erreicht. 181 Stets geht es darum, eine räumliche Distanz durch den Zoom zu überwinden, um dem grano des Dargestellten - hier sowohl als ‚Filmkorn‘ als auch ‚Kern‘ im metaphorischen Sinne -näher zu kommen. Diese Textstelle ist über die Polysemie des Wortes grano in engem Zusammenhang mit der später in Kapitel III.6 analysierten mise en abyme zu lesen. Dort geht es darum, mit dem grano zum Punkt einer Erzählung zu kommen. Hier versucht man das, was die ‚Essenz des Krieges‘ ausmacht, zu fassen. Eine Nahsicht soll erreicht werden, wobei in Kauf genommen wird, dass so der Überblick über das große Ganze verloren geht - wie bei einer direkten Bezug zu den entsprechenden Essays Benets und korrespondierenden Textstellen gesetzt. Auch Gullón zitiert dieselbe Textstelle, bettet sie jedoch auch nicht in einen weiteren poetologischen und narrativen Kontext ein. Er bleibt bei folgender Bemerkung stehen: „[E]l autor afirma que lo importante aquí es el héroe o el individuo, y que se desdibuja así a la influencia del gran líder, del general, quien allí desde la distancia ordena y manda.“ (Ricardo Gullón: „El discurso histórico y la narración novelesca (Juan Benet)“, in: José Romera Castillo/ Francisco Gutiérrez Carbajo/ Mario García-Page (Hgs.): La novela histórica a finales del siglo XX, Madrid: Visor, 1996, S. 63- 73, hier S. 71) 179 Die Bezeichnung Regións als teatro reducido oder als campo reducido ist bei Benet schon fast ein Topos. Diese Bezeichnungen finden sich immer wieder, siehe z.B. Juan Benet: Volverás a Región, S. 57: „Todo el curso de la guerra civil en la comarca de Región empieza a verse claro cuando se comprende que, en más de un aspecto, es un paradigma a escala menor y a un ritmo más lento de los sucesos peninsulares; su desarrollo se asemeja al despliegue de imágenes saltarinas de esa película que al ser proyectada a una velocidad más lenta que la idónea pierda intensidad, colorido y contrastes.“ (Hervorhebungen von mir) Dieses Zitat greift darüber hinaus auch das Prinzip der Projektion auf. Wichtig ist, dass es sich bei dem so beschriebenen Verhältnis nicht um eine simple Widerspiegelungstheorie des Großen im Kleinen handelt, sondern sich das Verhältnis zwischen Geschichte, literarischer Darstellung und Darstellungsverfahren als wesentlich komplexer erweist. 180 Bei der Homothetie handelt es sich in der Geometrie um eine affine Abbildung. Ein Objekt wird mittels eines Streckfaktors auf parallelen Geraden abgebildet. 181 Bereits hier wird der enge Zusammenhang von räumlicher Wahrnehmungsproblematik, dem Motiv des Krieges und der theatralen Inszenierung offensichtlich. Der Schwerpunkt liegt in diesem Kapitel jedoch auf den räumlichen Aspekten, sodass die anderen beiden bei der Analyse momentan in den Hintergrund treten. <?page no="68"?> 68 Fotografie, bei der, bei der Vergrößerung des Bildes und gleichbleibender Auflösung, das Bild körnig wird. 182 Die räumliche Distanz und die Möglichkeit ihrer Überwindung wird narrativ operationalisiert, indem auch die Erzählung Wahrnehmungsvoraussetzungen in einem „campo reducido“ schafft und individuelle Bilder - je nach „elección de la distancia focal“ - erzeugt. Das große Ganze, das den visuellen, strukturellen und semantischen Zusammenhalt garantiert, verliert man dabei aus den Augen, wie auch auf Fotos, deren Motiv unkenntlich wird, sobald man den Bildausschnitt nah genug heranholt und die einzelnen Bildpunkte erkennbar werden. Es kommt so nicht nur zu einer Auflösung des Bildes selbst. Darüber hinaus tritt die Materialität des Bildes in den Vordergrund. Es geht nicht mehr darum, was das Bild darstellt, sondern um die Beschaffenheit desselben. Ist die räumliche Tiefe die Dimension, über die wir uns in ein Verhältnis zu Welt setzen, so sucht die literarische Darstellung, dieses Verhältnis zu operationalisieren, indem sie die verschiedenen Objekte und Erfahrungswerte (in diesem Fall die tragedia des Bürgerkriegs) zur ‚nahsichtigen Anschauung‘ bringt. Es ist dabei unvermeidlich, dass das Original weder in seiner Form noch in seinem Wesen unverändert beibehalten werden kann. Die „ciertas leyes de perspectiva“ der sprachlichen Darstellung verändern das Dargestellte, um sich ihm überhaupt nähern zu können. Das potentielle Wissen, das dabei über dieses Dargestellte erreicht wird, ist jedoch von höchst instabiler Qualität. Die Materialität des Darstellungsmediums, die realisierte Sprache des literarischen Bildes, drängt sich so sehr in den Vordergrund, dass alle gesicherten Zusammenhänge zerfallen. Auch bei einer neuen Fokussierung würde sich der Vorgang nur wiederholen, anstatt das große Ganze wieder herzustellen. So kommt, um mit Deleuze und Guattari zu sprechen, bei einer solchen literarischen Darstellung die deterritorialisierende Funktion der Sprache zur Geltung. Mögliches historisches ‚kerbendes‘ und anhaltendes Wissen über den Bürgerkrieg wird so unmöglich. Im Folgenden wird an einem konkreten Beispiel gezeigt, wie das visuelle Heranholen entfernter Objekte eben nicht zur Generierung von Wissen, sondern zum Gegenteil führt. Das Beobachten des Territoriums, oft mit Hilfe eines Fernrohrs und aus einer erhöhten Position, wird in Benets Texten häufig beschrieben. 183 Allein diese Feststellung verwundert nicht, handelt es sich 182 Vgl. hierzu auch die Problematisierung der Wahrnehmung durch das unscharfe Foto in Antonionis Blow up und Cortázars Vorlage Las babas del diablo. 183 Siehe zum Beispiel in Volverás a Región: „De forma que a la postre solamente un par de grupos muy exiguos, veinte o cuarenta personas en total, alcanzaron a contemplar el día final de la contienda, de pie en un risco […] observando con los prismáticos aquellas soleadas, lejanas y humeantes llanuras donde el vencedor estrenaba e imponía su ley.“ (Benet: Volverás a Región, S. 215) Andere Beispiele sind etwa Saúl ante Samuel zu finden: „El primer día alcanzaron el cañón que lo atravesaron por el cauce para eludir el paso del altiplano, más cómodo pero demasiado expuesto a la observación aérea; el <?page no="69"?> 69 doch um konventionelle Vorbereitungsmaßnahmen im Krieg, sollen etwa Ortschaften eingenommen oder feindliche Truppen überfallen werden. Ein Beispiel aus Herrumbrosas lanzas findet sich im zweiten Buch, als die falangistischen Truppen planen, die Ortschaft El Salvador einzunehmen: El jefe y tres hombres - un matón, ya cuarentón, y dos muchachos que portaban el ametrallador - escalaron un pequeño risco para inspeccionar y vigilar el pueblo desde aquel punto, con ayuda de unos prismáticos. (S. 85) 184 Die erhöhte Position und das Fernrohr als technisches Hilfsmittel sollen erstens einen besseren Überblick und zweitens detaillierteres Wissen über das, was sich ‚dort unten‘ im Dorf abspielt, garantieren. Zu Beginn steht die Erkenntnis, dass man nichts sieht und sich daher schlichtweg nichts tut: „Durante un buen rato no lograron ver nada que se moviera.“ (ebd.) Dann jedoch meint der jefe nach einem Blick durch das Fernrohr, einen Wachposten zu sehen. Sein Untergebener zweifelt dies jedoch an: “Déjame ver”, dijo el matón. “Allí, detrás de aquella cerca al fondo”, dijo el jefe, al tiempo que señalaba el punto y le pasaba los prismáticos. “No veo nada”, dijo el matón. “Detrás de la cerca; mira bien; yo lo distingo a simple vista”, repuso el jefe, haciendo un conducto con las manos ante sus ojos. “Ahí se ve algo, pero no parece que se mueve”, dijo el matón, alternando las miradas con los prismáticos y sin ellos. (ebd.) Dem Leser ist vollkommen unklar, ob und was ‚dort‘ gesehen wird, und kann dementsprechend die Situation ebenso wenig zuverlässig einschätzen wie die Soldaten selbst. Das Fernrohr, das eigentlich durch eine nicht verfälschende Vergrößerung des entfernten Objekts Erkenntnis liefern soll, scheitert somit ebenfalls. Denn ganz offensichtlich interpretieren der jefe und der matón das Gesehene vollkommen konträr, sodass es zu keiner einvernehmlichen Kommunikation darüber kommen kann. Während der Offizier darauf besteht, dass sich ‚dort‘ etwas bewegt, verneint der Untergebene dies standhaft. Um eine dritte Meinung hinzuzuholen, wird einem der jüngeren Soldaten daraufhin befohlen, ebenfalls einen Blick durch das Fernrohr zu werfen. segundo, trepando por las rañas […], alcanzaron la meseta a la caída del sol para divisar desde allí los apriscos y caseríos del puerto […]; he ahí a través del periscopio la primera visión del enemigo; un oficial - a juzgar por las perneras - en camiseta, con la cara enjabonada y un cubo en la mano.“ (Benet: Saúl ante Samuel, S. 52) 184 Auch zu dieser Textstelle äußert sich Münster in der Folge Wasmuths. Beiden geht es ebenfalls um die scheiternde oder problematische Wahrnehmung. Vgl. Münster: Das Unsagbare sagen, S. 69-71 und Axel Wasmuth: „Polifonia y armonía de los espacios en Herrumbrosas lanzas de Juan Benet“, in: Wolfgang Matzat (Hg.): Espacios y discursos en la novela española - del realismo a la actualidad. Madrid: Iberoamericana, 2007, S. 239-259, insbesondere S. 252f. <?page no="70"?> 70 El chico se aplicó los prismáticos a los ojos, con mucha fuerza, para despojarse de ellos en seguida y observarlos con extrañeza. “¿Qué te pasa? ”, preguntó. “Yo no veo nada, jefe.” “¿Es que no sabes mirar? Gradúalo con esto.” El voluntario lo hizo así, pero tardó un rato en ajustar el foco. Al fin dijo: “Ahora sí que se ve; vaya que si [sic! ] se ve; sucio pero se ve, se ve muy bien”. “¿Qué ves? ¿No ves allí un hombre de guardia? ¿No ves que se mueva con el fusil al hombro? ” “Aquello es una cuerva, jefe”, repuso el joven. “¿Qué coño es una cuerva? ” “Aquello es una cuerva, jefe”, es todo lo que supo decir. El jefe se impaciento: “Pero ¿qué coño [sic! ] una cuerva? ” “Una cuerva para los pájaros, para que no se coman la fruta, jefe.” “¿Qué dices? Trae. Y te he dicho que no me llames jefe; que me llames camarada.” “Aquello es una cuerva, camarada”, repuso el voluntario. “Ya te dije que no se movía, Amadeo”, dijo con suficiencia el matón. (S. 85f.) Die Tatsache, dass der Jüngere nicht weiß, wie man mit dem Fernrohr umgeht, zieht die gesamte Situation ins Lächerliche. Denn für ihn führt das Hinzuziehen des technischen Hilfsmittels erst einmal dazu, dass er überhaupt nichts mehr sieht. Tatsächlich geht es immer weniger darum, ob etwas zu sehen ist und was das genau ist, als um das Beharren des jefe auf der seiner Meinung nach einzig richtigen Einschätzung der Situation. Nachdem er dem jungen Mitstreiter den richtigen Umgang mit dem Fernglas gezeigt hat, scheint dieser erleichtert, nun endlich eine positive Meldung verkünden zu können. Das lexikalische Insistieren auf dem Verb ver, das sich durch die gesamte Textstelle zieht, kulminiert in seinem Ausruf: „‘Ahora sí que se ve; vaya que si se ve; sucio pero se ve, se ve muy bien‘“. Was man als Leser sieht, ist tatsächlich nur noch das Wort ver in seinen verschiedenen Konjugationen. Die gesicherte Erkenntnis über das Geschehen ‚dort‘, die durch das Überblicken des Territoriums und die Reduzierung der räumlichen Distanz vollzogen werden sollte, wird hinfällig. Der Leser ist wohl eher dazu geneigt, zu glauben, es handele sich bei dem vermeintlichen Wachposten um eine Vogelscheuche. Die Annahme hat jedoch wenig Priorität. Denn auch bei dem Dialog über die cuerva geht es dem jefe vielmehr darum, die Bedeutung des Lexems cuerva zu klären, als die Erkenntnis über das, was gesehen wird. Auf sein wiederholtes Fragen, was denn nun eine Vogelscheuche sei, erhält er jedoch wiederum nur eine indexikalische Erläuterung („‘Aquello es una cuerva, camarada’“), die sich auf das bezieht, was er selbst ja nicht zu sehen scheint. Für den jefe ergibt sich somit ein Teufelskreis und ein vollkommenes Unvermögen, das Gesehene intersubjektiv zu vermitteln und so objektives Wissen über das Territorium vor ihm zu erhalten. Der Leser wiederum muss sich damit zufriedengeben, dass er keine zuverlässige Information über jenes Territorium erhält und selbst orientierungslos bleibt. Das Scheitern des Versuchs, sogar mit technischen Hilfsmitteln zu Erkenntnissen über den Raum zu kommen, geht mit einer Mobilisierung der Lexeme ver und cuerva einher. Das heißt, das Sehen und die Vogelscheuche als vermeintlich gese- <?page no="71"?> 71 henes Objekt kommen lediglich in ihrer schriftlichen Materialität zur Geltung und ohne den semantischen Zusammenhang eines argumento. Mit seinen literarischen Darstellungsverfahren erreicht der Text keine endgültige räumliche Durchdringung und fixierte Repräsentation des Territoriums, sondern das Ausstellen des eigenen Materials. Die Sprache ist das, was sich dem Leser als ‚nahsichtige Anschauung‘ ergibt, und die Worte selbst ersetzen den vermeintlichen grano der Erzählung. Verstärkt wird dies durch die Tatsache, dass genau an der Stelle, an der es zu der beschriebenen lexikalischen Anhäufung kommt, der Text zum bloßen Dialog übergeht, sprich, dass das telling in den Hintergrund rückt und der Text inszenatorische Züge annimmt. II.6 Karten und kartographische Texte Es wurde bereits erläutert, in welchem Maße die Projektion als sprachliches bzw. literarisches Darstellungsverfahren und die Kartographie Benet auf einer theoretischen Ebene beschäftigten. Für die Analyse sind in diesem Kontext vor allen Dingen die Karten aus Herrumbrosas lanzas von Interesse, nämlich der Mapa de Región und die sieben kleineren Karten, die direkt in den Text eingefügt sind und Truppenbewegungen während des Bürgerkriegs in Región zeigen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwiefern die Texte selbst kartographische Eigenschaften annehmen können. Als Karten werden hier mit Stockhammer […] Zeichenverbundsysteme verstanden, die ein Gelände darstellen, das als bereisbar vorgestellt wird. Diese Bestimmung schließt auch Karten von erfundenen Ländern mit ein […]. 185 Das heißt, es kann stets von einem Territorialbezug ausgegangen werden - sei dieser nun real oder imaginär. Ein Ort oder ein Territorium werden durch die Karte als existierend vorausgesetzt, auch wenn es sich ‚nur‘ um fiktive Orte handelt. Im Zusammenhang mit den hier zu untersuchenden Karten heißt das konkret, dass sie auf das Territorium von Región indexikalisch Bezug nehmen. Es handelt sich jedoch […] bei dem dabei implizierten außersprachlichen Bezug nicht um einen naiven Realismus, sondern um die dynamische Konstruktion einer solchen Wirklichkeit im Medium der Karte selbst […]. 186 185 Stockhammer: Die Kartierung der Erde, S. 13. Wenn hier also im Weiteren von Karten die Rede ist, so gilt das in diesem Sinne. Der Begriff der carte von Michel de Certeau bezeichnet nicht dasselbe, weswegen der französische Begriff in entsprechenden Fällen beibehalten wird. 186 Jörg Dünne: „Spuren im Sand. Kartographie und Literatur in der aktuellen medien- und kulturwissenschaftlichen Diskussion“, in: PhiN 43 (2008), S. 66-80, hier S. 70. <?page no="72"?> 72 Demnach gilt es zu beachten, dass Benets Karten nicht einfach nur das erzählte Región kartographisch abbilden und dem Leser somit als Orientierungshilfe dienen. Vielmehr liegt die Annahme nahe, dass die Karten mit ihren eigenen medialen Mitteln Región neu bzw. anders modifizieren. Dabei kommt das spezielle Verhältnis von Literatur und Karten zur Geltung. Der territoriale Geltungsanspruch von Karten kann […] nicht einfach außer Kraft gesetzt werden, er kann nur […] als solcher herausgestellt und damit aus der Perspektive eines anderen Mediums heraus beobachtbar gemacht werden. 187 Das Zusammenspiel von Karte und Literatur insbesondere in Herrumbrosas lanzas macht eben jene Beobachtung möglich. Indem er die Entstehung von Karten historisch nachvollzieht, kommt Stockhammer zu zwei Begriffspaaren, die sowohl die Funktionsweise von Karten als auch eine mögliche ‚Kartizität‘ von literarischen Texten beschreiben. Sie bauen inhaltlich durchaus auf den vorgestellten Begriffspaaren von Certeau (espace und lieu bzw. parcours und carte) auf. Dabei geht es zunächst um die Unterscheidung einer sprachlichen Wegbeschreibung und des Positionskatalogs, der für die Herstellung von Karten notwendig ist. Der Unterschied zwischen der Karte und der Nacherzählung des Weges lässt sich systematisch als derjenige zwischen einer Zustands- und einer Verlaufsbeschreibung charakterisieren. Und diese Kategorien erlauben in einem zweiten Schritt, nicht nur Karten von Texten, sondern auch verschiedene Textsorten untereinander zu unterscheiden. Bereits aus der Antike nämlich sind zwar keine geographischen Karten, immerhin aber andere schriftliche Zeugnisse zur Speicherung geographischer Informationen überliefert, die sich nach diesen beiden Modellen strukturell unterscheiden lassen: das Itinerar und der Katalog von Positionsangaben. 188 Dabei beginnen solche Itinerare oft mit einem Lokaladverb, die Lageverhältnisse werden aus einer subjektiven Perspektive des Reisenden heraus, etwa mit rechts und links, bezeichnet. Stockhammer weist auf die Nähe solcher Itinerare zu den Portolankarten hin, die eher an die Situation bestimmter Schiffe angepasst zu sein scheinen, als sich an einem absoluten Organisationssystem zu orientieren. In seiner textuellen Form lässt sich das relative Bezugssystem der Itinerare als Phorik bezeichnen: Das semantisch-syntaktische System von zurück- und vorausweisenden Sprachzeichen, die den Zusammenhang der Sätze an der Textoberfläche sichern, kann dann allgemein Phorik […] heißen. 189 187 Ebd., S. 71. 188 Stockhammer: Die Kartierung der Erde, S. 72. 189 Ebd., S. 75. Der Begriff Phorik wird dabei von den anaphorischen, den zurückweisenden, und den kataphorischen, den vorausweisenden, syntaktischen Elementen abgeleitet. <?page no="73"?> 73 Ein Katalog von punktuellen Positionsangaben hingegen enthält keine subjektive Perspektive. Die einzelnen Orte werden durch ein absolutes Koordinatensystem aufeinander bezogen, das jeder Betrachter nachvollziehen kann. Der Positionskatalog funktioniert vielmehr indexikalisch, wie es auch konventionelle zeitgenössische Karten tun. Indexikalität wird als Oppositionsbegriff zur Phorik verstanden. Das Itinerar beruht wesentlich auf dem Modus der Phorik; sein Textverlauf vollzieht die Fahrt […] nach; die Relationen seiner syntaktischen Glieder entsprechen, mit all den ‚hier‘ oder ‚von hier‘, den Relationen der Orte im Gelände. Der Positionskatalog hingegen kann phorischer Elemente entbehren, da seine einzelnen Einträge untereinander nicht verbunden werden müssen; er basiert, als transportabler Text, zwar nicht auf der linguistischen Deixis, aber auf einem für die Schriftgestalt konstruierten Code mit indexikalischer Funktion, der aus Toponymen, Zahlen und Sonderzeichen zusammengesetzt ist. 190 Mit Hilfe der Begriffspaare Itinerar und Positionskatalog bzw. Phorik und Indexikalität werden die Prinzipien von parcours und carte konkret auf Texte anwendbar. Vom Übergang von der Phorik zur Indexikalität lässt sich eine kartographische Funktion an Texten, die Raumbeschreibungen vornehmen, ablesen. Gleichzeitig lässt sich auch beobachten, wie Karten selbst ihre indexikalische Funktion unterlaufen, indem sie Sujets einbinden. Zeichnen wir aber in die Karte einen Pfeil ein, der z.B. die Strecke regelmäßiger Schiffsbewegungen oder Flugrouten andeutet, so wird der Text sujethaltig: es wird eine Handlung eingeführt, die die (in diesem Falle geographische Struktur) überwindet. […] Von dem Augenblick an, wo auf der Karte nicht nur die allgemeine Route eingetragen ist, sondern auch der Weg eines bestimmten Schiffes, erscheinen neue Koordinaten für die Bewertung. Die Karten und die vorgegebene Fahrtstrecke sind räumliche und achronische Begriffe; sobald aber der Weg des Schiffes vermerkt wird, kann man nach dem Verhältnis der Zeit der Bewegung zur Zeit des Beobachters fragen (hat die Bewegung bereits stattgefunden, findet sie gerade statt, oder wird sie erst in Zukunft stattfinden? ) und man kann fragen nach dem Grade der Realität dieser Bewegung. 191 Der sujethafte Charakter von Karten wird insbesondere für die erwähnten kleinen Karten, die die Truppenbewegungen darstellen, von Bedeutung sein. Diese kurze Einführung hat gezeigt, in welch engem intermedialen Verhältnis Karte und Literatur bei der Operationalisierung von Raum stehen 190 Ebd. 191 Jurij Lotman: Die Struktur literarischer Texte, München: Wilhelm Fink, 1993, S. 340f. Hervorhebung von mir. <?page no="74"?> 74 können. Dabei steht sowohl das von Benet bereits in seinem Essay problematisierte Funktionieren der Karte als epistemologisches Instrument zur Debatte als auch die Möglichkeiten der Repräsentation von Literatur und Karte. Im Zusammenspiel beider wird […] die Literatur zur symbolischen medialen Praxis, die in der weitgehenden Anverwandlung an das Kartenmedium nicht nur zu einem Bewusstsein seiner eigenen Möglichkeiten kommt, sondern auch die Aporien des totalisierenden Repräsentationsanspruchs von Karten deutlich macht. 192 II.6.1 El Mapa de Región Bei dem Mapa de Región handelt es sich um eine Karte, die „[...] un lugar imaginario, ideado por Juan Benet para ubicar su novela [...]“ 193 darstellt. Obwohl durch den Kontext eindeutig als Karte eines imaginären Territoriums identifizierbar, spielt der Mapa de Región erfolgreich mit der Möglichkeit, einen Teil des realen Spaniens abzubilden. 194 Die beiden größeren Landstraßen, die mehr oder weniger parallel zu den Flüssen verlaufen, werden als „carretera de Región a Sahagún“ und „carretera de Saldaña a Macerta“ bezeichnet. Somit verorten sie theoretisch den dargestellten Kartenausschnitt im nördlichen Teil der heutigen autonomen Gemeinschaft Kastilien und León (Sahagún ist eine Stadt in der Provinz León, Saldaña gehört zur Provinz Palencia). Des Weiteren sind in der Legende kartographische Angaben gemacht, die die Exaktheit der Karte belegen sollen: „Proyección U.T.M. Elipsoide Internacional Datum Europeo. Equidistancia de las curvas de nivel 25m. Altitudes referidas a la MBVE en Alicante.“ Die Legende referiert auf das globale Koordinatensystem UTM (Universal Transverse Mercator), auf das (geodätische) Europäische Datum, das Internationale Ellipsoid und den spanischen Normalnull-Punkt in Alicante. Dies sind moderne kartographische 192 Dünne: „Spuren im Sand“, S. 74. 193 Siehe den entsprechenden Katalogeintrag der Biblioteca Nacional de España http: / / bdh.bne.es/ bnesearch/ detalle/ bdh0000069852 [zuletzt konsultiert am 31.03.2016]. Wie dieser Bibliothekskatalog verzeichnet z.B. auch der allgemeine Universitätskatalog der katalanischen Universitäten, der Catalèg Coŀlectiu de les Universitats de Catalunya den Mapa de Región als eigenständiges Kartenmaterial. Obwohl die Karte auch hier unter mapes imaginaris eingeordnet ist, so ist doch hervorzuheben, dass diese Karte eines imaginären Territoriums auch außerhalb des Romans Herrumbrosas lanzas als Karte funktioniert und auch als solche wahrgenommen wird. 194 Siehe hierzu zum Beispiel Villanuevas konkrete Einordnung des Región aus Benets Kurzgeschichte „Viator“ in das reale Spanien: „[…] [Destaca] el excelente “Viator”, por cuanto nos presenta a Región, sin que quepa duda, identificada con una realidad geográfica y vivencial, autobiográfica del propio autor, al enclavarla en la cuenca minera de Ponferrada, entre esta ciudad y El Bierzo, donde Benet trabajó recién concluida su carrera de ingeniero.“ (Darío Villanueva: „Las narraciones de Juan Benet“, in: Fundación Juan March (Hg.): Novela española actual, Madrid: Cátedra, 1977, S. 133-188. hier S. 169) <?page no="75"?> 75 Standardangaben. Trotzdem wird eine Punktbestimmung nie möglich sein, da der entsprechende Netzwurf oder Angaben zu Koordinaten auf der Karte selbst fehlen. Die Karte ist auch nicht genordet. Dies könnte man zwar noch vor dem Hintergrund moderner kartographischer Konventionen, wonach Karten in der Regel auch ohne eine entsprechende Angabe genordet sind, vernachlässigen. Jedoch ist festzuhalten, dass auch eine solche Orientierung komplett ausbleibt. 195 Die einzige Orientierung liefern die ikonographischen Zeichen und Wörter auf der Karte, weswegen bei der Beschreibung im Folgenden von links, rechts, oben und unten die Rede sein wird. Die Karte gibt sich bewusst durch die Legende als verifizierbar und wissenschaftlichen Ansprüchen genügend aus. Auf den ersten Blick handelt es sich um eine topographische Karte: Man findet zahlreiche Höhenlinien und geodätische Punkte, die die Gipfel von einigen Bergen bezeichnen. Es gibt zwei große Wasserläufe und Seen, die blau sind und somit auf kartographische Konventionen zurückgreifen. 196 Bahnlinien (schwarz) sowie Straßen und Siedlungen (beide rot) sind eingezeichnet. All dies sind Standardinformationen einer topographischen Karte. Der Betrachter schließt demnach, dass es sich bei der dargestellten Landschaft um einen relativ hohen Mittelgebirgszug („Sierra de Región“) handelt, der das Gebiet in etwa zwei ähnlich große Hälften teilt und an dem jeweils links und rechts ein relativ großer Wasserlauf entlang fließt. In beiden Teilen gibt es ein Straßennetz, während Bahngleise nur auf der rechten Seite eingezeichnet sind. Die Überquerung der sierra scheint der Karte nach nur über eine größere Straße möglich zu sein („carretera de Macerta al puente“). Auf beiden Seite gibt es mindestens eine größere Ansiedlung: Región (links) und Macerta (rechts). Jedoch ist die Kommunikation zwischen diesen beiden Ortschaften wie auch zwischen den beiden Tälern wahrscheinlich durch das Hindernis der sierra extrem erschwert. Die Karte legt somit von 195 Hier schließe ich mich Cuevas Mendoza an, der ebenfalls kritisiert, dass allein aufgrund von kartographischen Konventionen davon ausgegangen wird, dass auf dem mapa de Región Norden oben ist. Die fehlende Nordung unterstreicht seiner Meinung nach nur die Selbstreferentialität der Karte. Vgl. Cuevas Mendoza: „La gestación del laberinto“, S. 111f. 196 Bei ihrer semiotischen Analyse von Karten weisen Wood und Fels auch auf die Kontingenz und den konventionellen Charakter von Farben auf Karten hin: „An arrangement of signifiers on the map constitutes a system only […] by virtue of our ability to perceptually organize its elements into something whole. At the systemic level, the bases of affinity among elements are those of implantation (yielding point, line, or area systems) and those formal and chromatic attributes variously termed qualitative, nominal, distinguishing, or differential. Not surprisingly, the latter are as effective among linguistic signs as among iconic signs, distinguishing hydrographic nomenclature, for example, by italic form or blue color. What is surprising, however, is the degree of variation the systemic signifier will tolerate without falling to pieces.“ (Denis Wood/ John Fels: „Designs on Signs. Myth and Meaning in Maps“, in: Cartographica 23: 3 (1986), S. 54-103, hier S. 93f.) <?page no="76"?> 76 Beginn an eine semantische Ordnung fest, sowie sie ebenfalls einen typisierten Handlungsablauf vorstellbar macht: Das linke und das rechte Lager stehen sich gegenüber, wobei das Sujet in der Überwindung der sierra und in dem Eindringen in das ‚feindliche‘ Gebiet bestünde. Bereits durch die Betrachtung der Karte ergibt sich also eine mögliche geradezu prototypische Interpretation im Sinne des Topos der dos Españas. Dementsprechend stünde die linke Seite für die Republikaner und die rechte Seite für die Nationalisten. Darüber hinaus werden dem Betrachter thematische Zusatzinformationen geliefert. So gibt die Legende Zeichen für den Bergbau (zwei sich kreuzende Hammer) und bewässerte Gebiete (fein gepunktete Flächen) an. Vor allen Dingen oben auf der Karte sind mehrere Bergbaugebiete und entlang der Flussläufe bewässerte Gebiete zu finden. Diese zusätzlichen Informationen werden zusammen mit den geodätischen Punkten durch ihre Erwähnung in der Legende herausgehoben. Insbesondere die geodätischen Punkte, oft Berggipfel, verleihen der Karte einen wissenschaftlichen Anspruch, sind es doch genau die Punkte, die zur vermessungstechnischen Erstellung der Karte notwendig sind. Weiterhin steht der Legende nach eine schwarze gestrichelte Linie mit Kreuzen für Stadtgebietsgrenzen, mit der die Karte tatsächlich übersät ist. Fast wirkt es, als würde der fehlende kartographische Netzwurf durch ein ungleichmäßiges Netz aus „límites de términos municipales“ kompensiert werden. Auffällig ist, dass diese Gemeinden oder Stadtgebiete, entgegen der Erwartungshaltung, selten mit topographischen Grenzen wie etwa Flussverläufen oder Gebirgszügen zusammenfallen. So trennt zum Beispiel die Sierra de Región nicht etwa Gemeindegebiete der linken und der rechten Seite. Stattdessen reicht eine Gemeinde (relativ mittig auf der Karte) weit über die sierra in den linken Teil der Karte hinein. Durch die offensichtlich willkürliche Festlegung der Gemeinden stellt die Karte bereits hier ihr Gemachtsein aus. Eine weitere Auffälligkeit sind die unzähligen Toponyme, mit welchen die Karte übersät ist. Zum einen handelt es sich um Toponyme, die auch in den Romanen Erwähnung finden, wie etwa Región (Stadt) und Mantua, um die beiden prominentesten Beispiele zu nennen. Weiterhin scheint es, als hätte Benet die Karte genutzt, um Freunde und zeitgenössische Persönlichkeiten zu verewigen. „Salinas de Don Pedro“ in der oberen rechten Ecke erinnert an Pedro Salinas, „Ortega“ ganz sicherlich an José Ortega y Gasset, so wie auch die Ortschaft „Félix“ auf Félix de Azúa anspielen könnte. Eine weitere Kategorie von Toponymen bilden diejenigen, die außertextuell als Ortschaft referenzierbar sind. Cuevas hat gezeigt, dass viele Toponyme mit vergangenen oder aktuellen Ortsnamen der Provinz León zusammenfallen. 197 197 Siehe Cuevas Mendoza: „La gestación del laberinto“, S. 108. Auch Cuevas Mendoza weist im Folgenden auf Namen von Benets Freunden oder auf die wortspielerische <?page no="77"?> 77 Margenot weist in einer Fußnote darauf hin, dass des Weiteren Toponyme aus den Provinzen Santander, Cáceres, Ciudad Real, Soria, Huesca, Zaragoza, Teruel, Valencia, Murcia, Jaén, Sevilla, Málaga und Almería zu finden sind. 198 Darüber hinaus sind italienische Städtenamen wir „Mantua“ und „Feltre“ zu finden. Die nächste Gruppe bilden Toponyme, die auf historische Persönlichkeiten verweisen. So könnte „Llanos de Marcos Pérez“ auf den venezolanischen Diktator Marcos Pérez Jiménez verweisen, sowie „Pedro Moreno“ auf den mexikanischen Aufständischen gleichen Namens. Eine letzte Gruppe bilden die sprechenden Namen, wie etwa die Namen der verschiedenen Bergbauminen: „Imaginaria“, „Descreida“, „Inopinada“, „Aviejada“ und „Engañosa“. Auch Toponyme wie „Callad“ springen dem Betrachter sofort ins Auge. Während einige dieser Toponyme direkt Städten, Dörfer und Minen zugeordnet werden können, so fällt dies jedoch bei einem Großteil schwer. Man weiß nicht, ob sie Ortschaften oder vielleicht landwirtschaftliche Felder bezeichnen. Es handelt sich um einen regelrechten Erguss an Namen. Oft kann man als Betrachter nicht genau zuordnen, was sie eigentlich genau bezeichnen. Die indexikalische Funktion der Toponyme wird untergraben. Die Karte ist, um mit Benet zu sprechen, alles andere als stumm. Sie erweist sich als extrem beredt und zeugt von einer immensen Benennungslust. Sie widersetzt sich vehement dem in „Sobre la cartografía elemental“ beschriebenen Entzug der Welt durch ein Meer an Zeichen, stellt dadurch aber nur noch immer mehr ihr Gemachtsein und ihr eigene Dysfunktionalität aus. Stockhammer erläutert drei Stadien der Kartenherstellung: das Festlegen einer geeigneten Projektion; die Punktfixierung und die semiotische Aumentation, sprich die Art und Weise, wie die indexikalische Funktion der Karte an (ideologischer) Bedeutung gewinnt. 199 Die Projektion des Mapa de Región wird in der Legende genannt: Mit dem UTM-Koordinatensystem wird auf die transversale Mercator-Projektion zurückgegriffen. Konventionell ist diese Projektion für kleine Bereiche besser geeignet als zum Beispiel für die Darstellung der gesamten Erdkugel. Das heißt, für das auf dem Mapa de Región dargestellte Territorium wäre sie ideal. Jedoch lässt sich, wie erwähnt, auf der Karte kein kartographisch legitimer Netzwurf erkennen. Auf die Punktfixierung wird mit den erwähnten „Vértices geodésicos“ angesprochen. Dabei wird unterstellt, dass genau jene so bezeichneten Punkte auf der Karte zur Vermessung des Territoriums und in der Folge zur Erstellung der Karte benötigt wurden. Jedoch auch Koordinaten sind auf der Karte nicht verzeichnet, sodass die Punktbestimmung hinfällig wird. Mit der Frage nach der Aumentation stellt sich die Frage nach der ‚Absicht‘ der Herkunft einiger Toponyme und intertextuelle Verweise wie „Las Hurdes“ in Anspielung auf den Film von Buñuel hin. 198 Margenot: Zonas y sombras, S. 26, Fußnote 10. 199 Vgl. Stockhammer: Die Kartierung der Erde, S. 18. <?page no="78"?> 78 Karte: Warum wurden welche Daten aufgenommen und welche nicht? Wie werden die einzelnen Elemente dargestellt? Auch wenn Stockhammer selbst zu Benets Karte kurz anmerkt, sie genüge, bis auf die fehlenden Koordinatenangaben, allen Kriterien professioneller Kartographie 200 , so ist dies nur bei einer oberflächlichen Betrachtung zu bestätigen. Die Art und Weise der Darstellung - sprich konventionelle Farbgebung und Symbolauswahl - und die Informationen, die durch die Legende weitergegeben werden, stellen den Mapa de Región als professionelle Karte einer ländlichen, bergigen und (vor-) industriellen 201 Region aus. Bei genauerer Betrachtung jedoch ist die Karte voller Widersprüche. Bedenkt man die prominente Setzung der kartographischen Angaben zur Projektion und zum Nullpunkt, so ist es keine Kleinigkeit, dass gerade Netzwurf und Koordinatenangaben fehlen. Die unwahrscheinlichen Grenzziehungen der Gemeinden und die unzähligen Toponyme, die wie mit der Gießkanne auf der Karte verteilt wurden, zeugen eher von einer Lust an der Benennung und an den Möglichkeiten der kartographischen Darstellung als von einem Streben nach wissenschaftlicher Exaktheit. Darüber hinaus etabliert der Mapa de Región bereits eine erste raumsemantische Ordnung, die das Gerüst für potentielle Handlungen bildet. Im Kontext des Romans Herrumbrosas lanzas stellt die Karte sich des Weiteren oberflächlich als Legitimation für den Text aus, den sie begleitet. 202 Neben den mehr oder weniger naiven Versuchen, Región im realen Spanien zu verorten, gibt es auch Meinungen, die der Ansicht sind, der Mapa de Región habe als autoreferentielle Spielerei nichts mit dem literarischen Text zu tun, in dessen Kontext er entstanden und publiziert worden ist. 203 Selbstverständlich ist die Karte autoreferentiell, jedoch gestaltet sich das Text-Karte-Verhältnis wesentlich komplexer. Auch wenn - trotz irritierender bibliothekarischer Katalogisierungen der Karte - den meisten Betrachtern klar sein dürfte, dass es sich um die Karte eines imaginären Territoriums handelt, so bleibt doch auf Grund des Romankontextes eine weitere Erwartungshal- 200 Vgl. ebd., S. 64. 201 Eine Bahnstrecke ist, wie gesagt, nur in dem rechten Flusstal eingezeichnet. Die Legende lenkt das Augenmerk auf die Minen und die bewässerten Gebiete, die die Annahme begründen, die Bevölkerung lebe hauptsächlich von Landwirtschaft und Bergbau. 202 Siehe hierzu die Neuerfindung Amerikas durch die Gebrüder Zeno und die entsprechenden Karten: „Schon allein durch den Nachvollzug der Entdeckungsreise auf der Imaginationsfläche der Karte soll der Leser die Wahrheit des Berichteten glauben, der mediale Realitätseffekt tritt für die prüfbare tatsächliche Referenz ein.“ (Jörg Dünne: „Die Karte als Operations- und Imaginationsmatrix. Zur Geschichte eines Raummediums“, in: Döring/ Thielemann (Hgs.): Spatial Turn, S. 49-69, hier S. 64). 203 Cuevas Mendoza kommt etwa zu dem Schluss, die Karte sei komplett autonom: „El Mapa de Región es un mapamundi en sí; es autónomo y no tiene referente explícito o unívoco.“ (Cuevas Mendoza: „La gestación del laberinto“, S. 112). <?page no="79"?> 79 tung: Der Leser bzw. Betrachter geht davon aus, dass sich die einzelnen Geschehnisse von Herrumbrosas lanzas, wenn nicht sogar von weiteren Romanen, die explizit in Región spielen, auf dem Mapa de Región entsprechend verorten lassen. Die Karte im Roman soll somit die Vorstellung der fiktionalen Landschaften erleichtern und ist in diesem Sinne durchaus ein disziplinierendes Medium der Macht. Dies gilt nicht nur für den Leser, der versuchen wird, die Orte der Geschehnisse im Roman auf der Karte zu suchen, sondern potentiell auch für den Autor, der Ereignisse „verifizieren“ könnte: All diese Karten unterstützen die räumliche Vorstellung vom repräsentierten Terrain und sichern die ‚totale Kontrolle‘ darüber. Sie ermöglichen dem Autor, kohärente Ereignisse durch ihre Verortung zu ‚verifizieren‘. 204 In diesem Sinne dient die Karte als Hilfsmittel für das Verständnis und die räumliche Orientierung des Lesers, sie leitet ihn gleichzeitig aber durch ein neues Zeichensystem (neben dem Text) und gibt dem imaginären Territorium außerhalb der Vorstellung des Lesers eine Gestalt. Grundlage für diese beiden Aspekte ist, dass Karte und Text in diesem Sinne kompatibel sind, sprich, dass die Karte die Erwartungshaltung, sie stelle das im Text beschriebene Territorium dar, erfüllt. Diese Art von Text-Karte-Kompatibilität wird jedoch, wie in der Forschungsliteratur bereits mehrfach gezeigt wurde, auf verschiedene Arten unterlaufen. So zeigt Margenot im Vergleich mehrerer Romane mit der Karte, dass es zu zahlreichen Diskrepanzen bei der Lokalisierung von Orten, bei der Abmessung von Distanzen, bei Flussverläufen, bei Höhenangaben oder bei der Nennung von Toponymen und deren orthographischen Varianten kommt. 205 Auch Cuevas unterstützt in der Folge Margenots diese Aussagen, indem er sich vor allen Dingen auf die widersprüchlichen Entfernungsangaben konzentriert. 206 Die wichtigste Leistung des Vergleichs von Karten mit Texten besteht daher nicht so sehr in […] formal-semiotischen Überlegungen denn vielmehr darin, dass er es erlaubt, das Gemachtsein von Karten zu betonen - statt sie von den Leitmetaphern eines ‚Spiegels‘ oder ‚Bildes der Welt‘ aus zu denken. 207 In diesem Sinne ist der Mapa de Región zweifach ‚gemacht‘: Er ist nicht nur Spiegel einer ‚gemachten‘ (sprich fiktiven) Welt, sondern wiederum der ausdrücklich ‚gemachte Spiegel‘ einer ‚gemachten Welt‘. Die Karte versucht nicht nur, wie in „Sobre la cartografía elemental“, die Unverfügbarkeit der Welt durch ein Meer an Zeichen zu überdecken, die vermeintlich auf diese Welt verweisen. Darüber hinaus ist sie die Karte eines imaginären Territori- 204 Stockhammer: Die Kartierung der Erde, S. 63. 205 Vgl. Margenot: Zonas y sombras, S. 35-38. 206 Vgl. Cuevas Mendoza: „La gestación del laberinto“, S. 110f. 207 Stockhammer: Die Kartierung der Erde, S. 53. <?page no="80"?> 80 ums. Das, auf was sie verweist, existiert außerhalb von Text und Karte überhaupt nicht. Der Versuch, zum einen Imaginäres und zum anderen eine Welt, die sich einer vollkommenen Erkenntnis immer entziehen wird, endgültig zu kartographieren, muss scheitern. So wie sich in den mapas Físicos bereits ein doppelter Entzug menschlicher Erkenntnis zeigt 208 , wird hier durch den Versuch des Kartographierens von Imaginärem ein dritter Entzug eingeschoben. 209 II.6.2 Avances, movimientos und acciones: Benets sujethaltige Karten Was bisher zu Karten gesagt wurde, unterstrich vor allen Dingen den Aspekt des Kartographierens, bei dem durch Benennung und Verortung auf der Karte versucht wird, Territorium semantisch festzulegen und zu kontrollieren. Benets Mapa de Región problematisiert diesen Aspekt in hohem Maße, lässt sich aber trotzdem vollkommen mit der Kategorie Index beschreiben: Als Verbundsystem von virtuellen räumlichen indices schickt die Karte ihren Leser zwar nicht aktuell an spezifische Orte; doch speichert sie das Wissen, mit dem die Orte adressiert werden können. Sie speichert die „brute force“ indexikalischer Zeichen in ihrer Potentialität, speichert ein Macht-Wissen, das in den verschiedensten konkreten Situationen für die verschiedensten Absichten aktualisiert werden kann. 210 Wie die so verstandenen Karten ist auch der Mapa de Región eine Zustandsbeschreibung. In dieser Karte wird keine Bewegung durch das Territorium vorgegeben oder nachempfunden. Sie entwirft „das Simulakrum eines absoluten Reisenden“ 211 ohne subjektive Perspektive. Dem gegenüber stehen die bereits erwähnten kleineren Karten, die in den Text von Herrumbrosas lanzas eingefügt sind. Sie stellen Truppenbewegungen während des Bürgerkriegs in Región dar. Ganz im Sinne einer „sujethaltigen“ Karte wird in diesen Fällen mit Pfeilen „[...] eine Handlung eingeführt, die die (in diesem Falle geographische) Struktur überwindet.“ 212 Um die verschiedenen Funktionen (passive und aktive) eines Textes zu erläutern, hält sich Lotman an das Beispiel einer Karte: 208 Vgl. Kapitel II.3. Die menschliche Wahrnehmung kann sich der primär gegebenen Natur nur annähern, sie jedoch nicht vollkommen fassen. Diese Natur wiederum verweist nach Benet selbst nur auf das Chaos, das vor Raum und Zeit war und somit jenseits menschlicher Wahrnehmung liegt. 209 Vgl. zur Nicht-Kartierbarkeit von Literatur Stockhammer: Die Kartierung der Erde, S. 84ff oder auch Robert Stockhammer: „Exokeanismós. The (Un) Mappability of Literature“, in: Primerjalna književnost 36: 2 (2013), S. 83-98. 210 Stockhammer: Die Kartierung der Erde, S. 52. 211 Ebd., S. 75. 212 Lotman: Die Struktur literarischer Texte, S. 340. <?page no="81"?> 81 Das Kartenbeispiel darf als Modell des Sujet-Textes gelten. Es enthält drei Ebenen: 1. die Ebene der sujetlosen semantischen Struktur, 2. die Ebene des typisierten Handlungsablaufs im Rahmen der gegebenen Struktur, 3. die Ebene der konkreten Handlung. 213 Die raumsemantische Ordnung des sujetlosen Mapa de Región wurde bereits erläutert. Die Grenze der sierra wird zwar von mehreren Straßen überquert, anscheinend aber nur von einer einzigen besser ausgebauten Landstraße, der „carretera de Macerta al Puente“. Zu der semantischen und topologischen Struktur kommt ein typisierter Handlungsablauf im Rahmen dieser Struktur: die Überschreitung der Grenze zwischen links und rechts aus einem der beiden ‚Lager‘ heraus, wahrscheinlich entlang der „carretera de Macerta al Puente“. Die Ebene der konkreten Handlung würde sich dementsprechend durch Richtungspfeile, die die Truppenbewegungen bezeichnen, ergeben. Dies wird durch die erwähnten sujethaltigen kleineren Karten in Herrumbrosas lanzas vollzogen. 214 Von diesen Karten gibt es sieben Stück. Sie zeigen nicht nur die Truppenbewegungen, sondern auch Positionen, Attacken und einzelne Schlachten (zum Teil mit Datumsangaben): „Avance del Ejército de Región sobre Socéanos Noviembre de 1936“ (S. 153, Maßstab 1: 165.000) „Avance del Ejército Nacional sobre el valle del Torce Noviembre/ Diciembre de 1936“ (S. 165, Maßstab 1: 135.000) „Movimiento y división de la CCIII Brigada Mixta Del 25 al 27 de marzo de 1938“ (S. 467, Maßstab 1: 100.000) „Movimientos de la CCIII Brigada Mixta Del 26 de marzo al 11 de abril de 1938“ (S. 519, Maßstab 1: 85.000) „Acción de La Glez, 10 de abril de 1938“ (HL, S. 527, ohne Maßstab) „Acción de El Balsador, 12 y 13 de abril de 1938“ (HL, S. 539, ohne Maßstab) 215 213 Ebd., S. 341. 214 Die Sichtung der Originalmanuskripte Benets hat deutlich gezeigt, dass bei den sujethaften Karten der Mapa de Región als eine Art basemap diente, von dem ein Ausschnitt je nach Bedarf technisch vergrößert wurde. Die Pfeile, die die Truppenbewegungen darstellen, und die verschiedenen Schlachten wurden von Benet mit Hand eingezeichnet. Mit diesen kleineren Karten wird demnach geradezu paradigmatisch der von Lotman beschriebene Dreischitt vollzogen. Für die Möglichkeit, Benets Originale sichten zu dürfen, bin ich dem ältesten Sohn Ramón Benet Jordana zu großem Dank verpflichtet. 215 Die beiden Karten ohne Maßstab könnten durch ihre Gestaltung - das die Darstellung bestimmende Straßenkreuz mit einer parallel verlaufenden Eisenbahnlinie - auf William Faulkners Karte von Yoknapatawpha County anspielen. Auch die zahlreichen Kreise mit entsprechenden Beschriftungen sind auf beiden Karten zu finden. Während diese bei Faulkner bestimmte Orte und Schauplätze von Ereignissen aus seinen Romanen darstellen, verweisen sie bei Benet auf die Stellungen von bestimmten Bataillonen. <?page no="82"?> 82 „El avance sobre Macerta Del 25 de marzo al 23 de abril de 1938“ (HL, S. 589, Maßstab 1: 165.000) Der sujethafte Charakter wird durch die ‚dynamischen‘ Bezeichnungen „Avance“, „Movimiento“ und „Acción“ gegenüber dem statischen Mapa de Región hervorgehoben. Die kleinen Karten stellen allesamt Ausschnitte unterschiedlichen Maßstabs aus dem großen Mapa dar. Die erste und die letzte der sujethaltigen Karten haben mit 1: 165.000 denselben Maßstab wie das sujetlose Original. 216 Von der ersten Karte bis zu den beiden „Acciones“ wird der Maßstab immer größer, sprich die Karten zoomen immer mehr in das Territorium hinein, bis sie mit der letzten Karte „El avance sobre Macerta Del 25 de marzo al 23 de abril de 1938“ wieder zu dem ursprünglichen Maßstab zurückspringen. 217 Sie laden geradezu paradigmatisch zu dem ein, was Jörg Dünne unter der kartographischen Imagination bei enzyklopädischen Atlanten, den „Wissenstheatern“ 218 der Frühen Neuzeit beschreibt: Ausgehend von der Weltkarte mit dem Titel „Typus orbis terrarum“, die das Theatrum eröffnet […], bedeutet im Atlas zu reisen vor allem, Karten im geeigneten Maßstab miteinander zu kombinieren. Die ovale Projektion des ganzen Erdkreises auf die zweidimensionale Kartenfläche lädt […] dazu ein, neugierig auf eine der Folgekarten einzuzoomen, die zunächst Kontinente erfassen, und eine Ordnungsebene darunter einzelne Länder dieser Kontinente. Zieht man als Ergänzung zum Theatrum nun noch die Civitates orbis terrarum heran, landet man schließlich als Feineinstellung auf das Ziel seiner Reise bei einem meist perspektivischen chorographischen Blick auf einzelne Städte der ganzen Welt. 219 Wie die verschiedenen Karten des Theatrum orbis terrarum von Abraham Ortelius eröffnet der Mapa de Región zunächst eine Gesamtschau, in die mit den folgenden Karten hineingezoomt wird. Sie nehmen den Betrachter immer mehr mit in die Kriegshandlung hinein. Geht man nun davon aus, dass diese Karten die dritte Ebene von Lotman, die der konkreten Handlung darstellen, Faulkner fügte eine erste Version der Karte Absalom, Absalom! (1936) bei. Eine aktualisierte Version erschien mit The Portable Faulkner (1946). Mittlerweile wird sie vielen Ausgaben von Faulkners Romanen beigefügt. Leicht zugänglich ist sie über das Digitalisierungsprojekt mit Faulkners Schauplätzen The Digital Yoknapatawpha Project unter http: / / faulkner.drupal.shanti.virginia.edu/ [zuletzt konsultiert am 31.03.2016]. 216 In der Erstausgabe, bei welcher der Mapa der Región gesondert erschien, war der Maßstab 1: 150.000. 217 Auf dieses Verfahren wird in Kapitel 0 noch näher eingegangen. 218 Dünne: „Die Karte als Operations- und Imaginationsmatrix“, S. 60. 219 Ebd., S. 61. Siehe zur Unterscheidung von Chorographie und Geographie Stockhammer: Die Kartierung der Erde, S. 16f. <?page no="83"?> 83 so lässt die Handlung sich folgendermaßen allein anhand der Karten nachvollziehen 220 : Im November und im Dezember 1936 versuchen die ‚linken‘ Truppen („el Ejército de Región“) eine erste Grenzüberschreitung. Sie bewegen sich in zwei Kolonnen und mit einer sich später absondernden Einheit von links nach rechts, sprich in Richtung Feindesland - von Región nach El Salvador, um dann entlang der bereits erwähnten „carretera de Macerta al puente“ gegen Socéanos vorzurücken. Dort kommt es am 7. November 1936 zu zwei Gefechten. Der zweiten der sujethaltigen Karten zufolge haben die ‚rechten‘ Truppen am 22. November 1936 ihre maximale Penetration des linken Lagers erreicht und in der Nähe von Bocentellas am Torce kommt es zu mehreren Schlachten. Die Grenzüberschreitung wird also von beiden Lagern versucht. Am 7. Dezember 1936 gibt es einen Gegenangriff durch Mazón. Da dieser von der Seite der linken Truppen aus erfolgt, kann man auch ohne Hintergrundwissen davon ausgehen, dass Mazón zu eben jenem Lager gehört. Die nächste Karte springt in das Jahr 1938. Die eingezeichneten Truppenbewegungen gehen von links nach rechts, weswegen man davon ausgehen kann, dass die „CCIII Brigada Mixta“ der linken Seite zuzuordnen ist. Anscheinend ist die Grenzüberschreitung entlang der „carretera de Macerta al puente“ gescheitert, denn zwei Jahre später versucht diese Brigade eine Grenzüberschreitung jenseits von bestehenden Straßen. Im März 1938 rückt die Brigade mittels dreier verschiedener Einheiten bis nach Feltre und Entreforte vor und bewältigt bis zum 27. März mit dem „Barranco de Entreforte“ ein Hindernis. Damit sind die Truppen im Jahr 1938 schon wesentlich weiter nach rechts vorgedrungen als 1936. Mit der nächsten Karte wird das weitere Vorrücken der „CCIII Brigada Mixta“ bis zum 11. April dargestellt. Am 30. März und am 3. April kommt es zu Kämpfen in der Ortschaft Latonar. Danach überqueren die Truppen mit der Einheit von Mazón den Fluss Lerna. Am 6. und am 10. April gibt es weitere Schlachten bei der Ortschaft Herencia und bei der Eisenbahnlinie, die parallel zum Fluss verläuft. Diese Schlacht am 10. April wird mit der Karte auf S. 527 im Detail dargestellt. Während die bisherigen republikanischen Truppenbewegungen von links nach rechts gingen, ist nun die Bewegung auf der Karte von unten nach oben. Nachdem man die Grenze zwischen den Lagern offensichtlich überschritten hat, jedoch in dem zweiten Anlauf zu weit ‚südlich‘ (sprich auf der Karte unten), muss das Ziel Macerta neu anvisiert werden. Bei der „Acción de La Glez, 10 de abril 1938“ sehen sich die linken Bataillone, Schwadronen und Batterien einer motorisierten Kolonne des Feindes gegenüber, die offensichtlich das weitere Vorrücken verhindern möchte. Es kommt jeweils bei der Eisenbahn- und bei der Landstraßenbrücke über den Seitenfluss des Lerna, Guadalán, zu Kämpfen. Offensichtlich schaffen es die linken Truppen 220 Im Folgenden paraphrasiere ich chronologisch die auf den sujethaltigen Karten dargestellte Handlung ohne Romanwissen einfließen zu lassen. <?page no="84"?> 84 nicht, rechts des Lerna weiter Richtung Macerta vorzustoßen, denn in den Tagen danach, am 12. und am 13. April, versuchen sie einen neuen Vorstoß links des Lerna mit erneuten Angriffen entlang der Landstraße nach Macerta und an der Bahnstrecke. Die feindliche motorisierte Einheit muss sich zurückziehen um die Landstraße zu verteidigen. Die letzte Karte, wieder im ursprünglichen Maßstab von 1: 165.000, zeigt im Überblick das Vorrücken der linken Truppen vom 25. März bis zum 23. April 1938. Nach der „Acción de El Balsador“ gelingt es ihnen offensichtlich mit drei Einheiten links und rechts des Lerna nach Macerta vorzustoßen, bis es dort am 23. April zu einer Schlacht kommt. Mit dieser Zusammenfassung der sieben sujethaltigen Karten in Herrumbrosas lanzas konnte gezeigt werden, wie die indexikalische Funktion der ‚achronischen‘ Karte durch das Einfügen von Bewegungspfeilen und Datumsangaben der Phorik weicht und eine Geschichte im Sinne eines Handlungsablaufs erzählen kann. Die Karten geben, chronologisch nach ihrer Position im Roman ‚gelesen‘, die Geschichte des Bürgerkriegs in Región wieder. Interessant hierbei ist, dass das Sujet als revolutionär im Sinne Lotmans einzustufen ist. Zwar scheitert die erste Grenzüberschreitung im Herbst 1936, der erneute Versuch im Frühjahr 1938 scheint jedoch erfolgreich zu sein. Zumindest wird eine Rücknahme der Grenzüberschreitung (denkbar wäre ein Rückschlag durch die ‚rechten‘ Truppen oder gar ein revolutionäres Sujet in die umgekehrte Richtung) nicht in den Karten dargestellt. Dieses Sujet ist somit nicht nur im Lotmanschen Sinne revolutionär. Auch ohne detailliertes Romanwissen lässt sich die Deutung von den hier als ‚links‘ und ‚rechts‘ bezeichneten Truppen hin zu den republikanischen und nationalistischen Truppen leicht rechtfertigen. In diesem Sinne schreiben die sujethaltigen Karten die spanische Geschichte um, da die Republikaner auf einmal als Sieger und die Nationalisten als Unterlegene dargestellt werden. Diese vom Roman losgelöste ‚Lektüre‘ der Karten mag eigenwillig erscheinen, lässt sich jedoch rechtfertigen. Zum einen werden diese Karten im Roman selbst weder erläutert noch hinreichend kontextualisiert. Zum anderen lässt sich zwar von einer ungefähren Entsprechung von Position der Karten im Roman und Schilderung der entsprechenden Kampfhandlungen feststellen. Die Karten erscheinen trotzdem wie eingeschobene Fremdkörper, stehen sie doch dem Text, der sich rhizomatisch verzweigt und eine schnelle Rekonstruktion der Kampfhandlungen unmöglich macht, konträr gegenüber. Die lineare und kompakte Darstellung der Handlung mittels der Karten konterkariert den umfangreichen und verästelten Romantext. Auch das konsequente Hinein- und Herauszoomen aus der Originalkarte rechtfertigt dieses Vorgehen. Die Karten in Herrumbrosas lanzas stellen mit kartographischen Mitteln ihr eigenes Región und eine eigene Version des Verlaufs des Bürgerkriegs in Región dar. Sie laden den Betrachter zunächst durch eine <?page no="85"?> 85 Gesamtschau ein und suggerieren dann durch das Hinein- und Hinauszoomen, den Leser wieder zum ‚Kern‘ der dargestellten Handlung zu bringen. 221 Gleichzeitig kommt es unweigerlich zu einer intermedialen Beobachtungssituation zwischen Text und Karte. Die Karten scheinen mit wissenschaftlicher Exaktheit das zu bieten, was die Texte Benets nie geleistet haben: erstens eine konsequente und einheitliche Darstellung des ewigen Schauplatzes - Región - und zweitens eine nachvollziehbare und überschaubare Darstellung des Bürgerkriegs im Sinne einer carte. Das vermeintlich exakte Wissen wird über das Sehen möglich, über das Erkennen einer Ordnung und das Nachvollziehen eines Handlungsverlaufs durch graphische Mittel. Benets Kartenkonvolut gibt sich so als der bessere, da epistemologisch zuverlässigere Text aus. Wie jedoch die Analyse des Mapa de Región gezeigt hat, baut diese Zuverlässigkeit auf hochgradig unzuverlässigen Grundlagen auf, spielt die Karte doch lustvoll mit ihren eigenen Möglichkeiten. II.6.3 Kartographische Texte? Darstellungen des Raums in Volverás a Región Malcolm Compitello 222 wies als erster auf die Nähe von Benets territorialen Beschreibungen zu Euclides de Cunhas Sertões hin. In dessen Folge hat Gunnar Nilsson 223 sich mit dem Verhältnis zu diesem wichtigen Intertext intensiv auseinandergesetzt. Dabei kommen sowohl Benets Bewunderung für den brasilianischen Autor als auch sein „vehementer Antipositivismus“ 224 zum Tragen. Nilsson zeigt, dass Benets geographischer Diskurs […] im Verlauf fortschreitender Lektüre [erodiert]. Er entpuppt sich sukzessive als komplexe moderne Parodie, die einerseits eine Hommage auf da Cunha und seinen großartig angelegten Entwurf sein möchte, andererseits aber auch das Scheitern derartiger Diskurse vor Augen führen will. Von der expliziten Hinterfragung der sachlichen Grundlagen des Raumdiskurses über das sukzessive Aufweichen des wissenschaftlichen Jargons und 221 Vgl. zum grano die theatrale Struktur von En el estado in Kapitel 0; den autoreflexiven Kommentar in Kapitel 0 und die mise en abyme in Kapitel 0. 222 Malcolm Compitello: „Region’s Brazilian backlands: The link between Volverás a Región and Euclides de Cunha’s Os Sertões“, in: Hispanic Journal 1: 2 (1980), S. 25-45. 223 Gunnar Nilsson: „Juan Benets ‚fromme Zerstörung‘ der Sertões“, in: Dietrich Briesemeister/ Axel Schönberger: Varietas litterarum lusitanicarum. Studien zu den Literaturen Angolas, Brasiliens, Mosambiks und Portugals, Frankfurt am Main: Domus Editoria Europea, 2006, S. 143-157. 224 Ebd., S. 145. <?page no="86"?> 86 das Abdriften ins Sagenhafte bis hin zum Ausspielen verbaler und graphischer Raumdiskurse gegen- oder untereinander reicht das Spektrum der Mittel, mit denen Benet den Diskurs aushöhlt. 225 Nilssons Begriff des ‚wissenschaftlichen Raumdiskurses‘, mit dem er das Phänomen der Benetschen Texte, die zwischen kartographischer Faszination und literarischer Abwehrhaltung schwanken, zu fassen sucht, bleibt trotz seiner erkenntnisreichen Analyse stets ungenau. Deswegen wird im Folgenden auf den direkten Rückgriff auf den wichtigen Intertext da Cunhas 226 verzichtet. Stattdessen wird vor dem erarbeiteten raumtheoretischen und kartographischen Hintergrund neben Benets Karten auch die Frage nach der ‚Kartizität‘ seiner literarischen Raumbeschreibungen gestellt. 227 Als paradigmatisch können die Darstellungen von Región in Benet Erstlingsroman Volverás a Región 228 verstanden werden. Bereits der prominente Romanbeginn nimmt die subjektive Perspektive eines Reisenden ein, der versucht, von der Stadt Región die sierra zu erreichen: Es cierto, el viajero que saliendo de Región pretende llegar a su sierra siguiendo el antiguo camino real - porque el moderno dejó de serlo - se ve obligado a atravesar un pequeño y elevado desierto que parece interminable. 225 Ebd., S. 149f. 226 Neben den Ähnlichkeiten der Strukturierung in Land, Leute und der Beschreibung von Región insbesondere in Volverás a Región lässt sich zum Beispiel auch die penible Aufzählung von „Personal“ und „Armamento“ der Truppen aus Región in Form einer Liste in Herrumbrosas lanzas (S. 471-473) als Anspielung auf entsprechende Textstellen in Os Sertões lesen. Vgl. hierzu die Kapitel „A Terra“ und „O Homem“ in Euclides da Cunha: Os Sertões. Campanha de Canudos, Cotia: Ateliê Editorial, 2002. Des Weiteren sind auch Motive wie die zweifelhafte Voraussehbarkeit kriegerischer Ereignisse („Iao demonstrar a campanha emergente...cópia mais ampla de outras que em todo o norte têm aparecido, permitindo aquilatarse de antem-o tais dificuldades.“, ebd., S. 365), der beobachtende Reisende, der den Leser auf seiner Wegstrecke mitnimmt („E o observador que seguindo este itinerário deixa as paragens em que se revezam, em contraste belíssimo, a amplitude dos gerais e o fastígio das montanhas, ao atingir aquele ponto estaca surpreendido...“, ebd., S. 79) oder die Überblendung von Kriegshandlungen mit dem Schauspiel („De longe se tinha o espetáculo estranho de um entocamento de batalhões, afundando, de súbito, no casario indistinto, em cujos tetos de argila se enovelava a fumarada dos primeiros incêndios.“, ebd., S. 470) bereits bei da Cunha angelegt. 227 Auch Margenot hat sich mit dieser ‚Kartizität‘ der Raumbeschreibungen in den novelas regionatas auseinandergesetzt. Jedoch ist seine Analyse sehr oberflächlich und bleibt beim bloßen Konstatieren stehen: „Así, pues, el discurso novelístico pone al descubierto con frecuencia su ceñida relación con el Mapa de Región. El diálogo intertextual que se establece entre este mapa y las novelas enriquece la textura del mundo ficticio, demarca el espacio y guía el lector por Región.“ (Margenot: Zonas y sombras, S. 30) 228 Alle Seitenangaben für Zitate aus Volverás a Región erfolgen in diesem Kapitel im Fließtext. Alle anderen Literaturnachweise erfolgen über Fußnoten. <?page no="87"?> 87 Un momento u otro conocerá el desaliento al sentir que cada paso hacia adelante no hace sino alejarlo un poco más de aquellas desconocidas montañas. (S. 7) Der Leser wird über die Figur des Reisenden von Beginn an im Sinne einer Verlaufsbeschreibung, eines parcours, in die Welt von Región mit in den Roman hineingenommen. Costa zufolge, der sich mit der Figur des viajero beschäftigt, handelt es sich bei diesem Reisenden um una figura fantasmagórica que no es más que la posibilidad de un personaje, un hueco que el autor deja en el tejido de su obra para dar en él acogida al lector. 229 Tatsächlich stellt der viajero nicht nur eine der wenigen Konstanten in Volverás a Región, sondern auch in anderen narrativen Texten Benets dar. 230 Während Costa sich jedoch speziell mit der Romanstruktur von Volverás a Región beschäftigt, wird hier vielmehr die These vertreten, dass der viajero, indem er versucht, Región zu bereisen, als eine Art Anhalt für den ‚wandernden Blickpunkt‘ 231 des Lesers dient. Mit dem viajero geht es tatsächlich darum, Región als Raum für den Leser während der Lektüre erfahrbar zu machen. Mit dem Reisenden zusammen wird in Volverás a Región ein Schritt nach dem anderen unternommen, was das Ziel jedoch nur weiter in die Ferne rücken lässt. Schon bald nimmt der Text kartographische Charakteristika an: Er stellt die Gegend nicht mehr aus dem Blick des Reisenden unten ‚auf dem Boden‘, sondern von einem abstrahierten, ‚unmenschlichen‘ Blickpunkt aus von oben dar. El desierto está constituido por un escudo primario de 1.400 metros de altitud media, adosado por el norte a los terrenos más jóvenes de cordillera, que con forma de vientre de violín originan el nacimiento y la divisoria de los ríos Torce y Formigoso. Segado al oeste por los contrafuertes dinantienes da lugar a esas depresiones monstruosas en cuyos fondos canta el Torce, después de haber serrado esos acantilados de color de elefante que formaron hasta el siglo pasado una muralla inexpugnable a la curiosidad ribereña; por el contrario, en la frontera meridional que mira al este el altiplano se resuelve en una 229 Luis Costa: „El lector-viajero en Volverás a Región“, in: Anales de la Narrativa Española Contemporánea 4 (1979), S. 9-19, hier S. 11. 230 Vgl. zum Beispiel die Kurzgeschichte „Viator“ in Juan Benet: En Región. Cuentos completos 1, Barcelona: Debolsillo, 2010, S. 175-184. Die Figur taucht darüber hinaus in allen in dieser Arbeit besprochenen Romanen auf. 231 Hier lehne ich mich an Isers Begriff des ‚wandernden Blickpunkts‘ an, der einen Aspekt des Leser- Text-Verhältnisses ausmacht: „Statt einer Subjekt-Objekt-Relation bewegt sich der Leser als perspektivischer Punkt durch seinen Gegenstandsbereich hindurch. Als wandernder Blickpunkt innerhalb dessen zu sein, was es aufzufassen gilt, bedingt die Eigenart der Erfassung ästhetischer Gegenständlichkeit fiktionaler Texte.“ (Iser: Der Akt des Lesens, S. 178) <?page no="88"?> 88 serie de pliegues irregulares de enrevesada topografía que transforman toda la cabecera en un laberinto de pequeñas cuencas y que sólo a la altura de Ferrellan se resuelven en un valle primario de corte tradicional, el Formigoso. (S. 8) Tatsächlich kann weder der viajero noch irgendein anderes menschliches Auge eine Position einnehmen, von der aus ein Gebiet auf 1.400 Höhenmetern überblickbar wäre, das sowohl zwei Gebirgszüge im Norden und im Westen, zwei Flusssprünge, zwei Flussverläufe und eine Hochebene umfasst. In seiner Unterscheidung zwischen Projektionen und Perspektiven kritisiert Stockhammer den Begriff der Erzählperspektive insbesondere bei Genette. Die Projektion entspräche dabei einer wahrhaftigen Nullfokalisierung, da sie als ‚nicht-menschliche‘ Perspektive aus einem anthropozentrischen Dispositiv heraustritt. Genette weiche diesem Problem nur aus. Projektionen sind […] keine Perspektiven. Niemand kann jemals die Erde so sehen, wie sie auf einer Karte dargestellt wird, die von einem Kartennetzwurf regiert wird. 232 Für entsprechende Texte schlägt Stockhammer den Begriff der Erzählprojektion 233 vor. Der Roman Volverás a Región tritt bei Darstellungen des Raums immer wieder aus einem solchen anthropozentrischen Dispositiv heraus, um sich einer Erzählprojektion anzunähern. Die zitierte Textstelle bedient sich mit den Angaben der Himmelsrichtungen Norden, Westen und Osten eines absoluten Bezugssystems, das unabhängig vom momentanen Standpunkt eines Betrachters nachvollzogen werden kann. In diesem Sinne - sprich, in einem Wechsel zwischen dem parcours des Reisenden und dem Positionskatalog einer kartographischen Erzählprojektion - wird die Darstellung von Región weitergeführt. El camino abandona el valle y, apoyándose en una ladera desnuda, va trepando hacia el desierto cruzando colinas rojas, cubiertas de carquesas y urces; a la altura de la venta de El Quintán la vegetación se hace rala y raquítica, montes bajos de roble y albares de formas atormentadas por los fuertes ventones de marzo, hasta el punto que en más de cinco kilómetros no existe otro lugar de sombra que un viejo pontón de sillería por donde […] corre un hilo de agua que casi todo el año se puede detener con la mano. A medida que el camino se ondula y encrespa el paisaje cambia: al monte bajo suceden esas praderas amplias […] de peligroso aspecto, erizadas y atravesadas por las crestas azuladas y fétidas de la caliza carbonífera, semejantes al espinazo de un monstruo cuaternario que deja transcurrir su letargo con la cabeza hundida en el pantano; surgen allí, espaciadas y delicadas de color, esas flores de montaña de complicada estructura, cólchicos y miosotis, cantuesos, azaleas 232 Stockhammer: Die Kartierung der Erde, S. 27. 233 Vgl. ebd., S. 81. Stockhammer unterstreicht, dass der Begriff Erzählprojektion eine Metapher ist. <?page no="89"?> 89 de altura y espadañas diminutas, hasta que un desordenado e inesperado seto de salguero y mirtos parece poner fin al viaje con un tranco atravesado a modo de barrera y un anacrónico y casi indescifrable letrero, sujeto a un palo torcido Se prohíbe el paso. Propiedad privada. (S. 8) Der Leser befindet sich mit dem Reisenden auf diesem Weg, der aus dem Tal hinausführt, und erfährt ohne absolute Orientierung die Landschaft, die der Reisende durchquert. Die Landschaft wird karger, die Vegetation unangenehmer und feindseliger, bis die Wanderung abrupt durch ein entsprechendes Schild gestoppt wird. Diese abrupte Unterbrechung spiegelt sich in der ikonischen Textgestalt wider, indem der „casi indescifrable letrero“ tatsächlich in der Form eines Schildes aus dem Fließtext heraussticht und dem parcours des Lesers und des Reisenden im Text ein momentanes Ende bereitet. Kontrastiv dazu kann die vielfach zitierte Textstelle aus Volverás a Región gelesen werden, die die geologische Entstehung der Sierra de Región nachvollzieht und sich wiederum eines absoluten Positionskatalogs bedient, um das Territorium auf der Iberischen Halbinsel einzuordnen. 234 Dazu gehören etwa Höhenangaben, Angaben der Himmelsrichtungen wie „discurren en dirección NNE-SSW“ (S. 29), „sirvió de estrelladero de los empujes orientales“ (S. 30), „Al norte de Región“ (S. 32), Koordinatenangaben, wie „aproximadamente en el paralelo 42° 45´´ de latitud N“ (S. 31), aber auch theoretisch außertextuell referenzierbare geographische Angaben, wie der Atlantik, die baskischen Pyrenäen und zahlreiche Hinweise auf die iberische Halbinsel selbst. Der abstrahierende und unmenschliche Blick von oben wird vorausgesetzt, wenn Formen wie „la Sierra presenta esa forma de vientre de violín“ oder „el valle adquiere su perfil en V cerrada“ (S. 32) beschrieben werden. In einer Art kartographischer Überschau wird das Territorium von Región präsentiert, gespickt mit Wissen über die geologische Entstehungsgeschichte der Landschaft. Die Objektivität dieser Angaben wird jedoch immer wieder zurückgenommen. Zum einen werden die Angaben fragwürdig, da sie auf unzuverlässigen Quellen zu beruhen scheinen („al decir de los geodestas que nunca lo escalaron“, S. 29) und unvollständig sind (die oben zitierten Koordinatenangaben sind nutzlos, da sie nur den Breitengrad [latitud], jedoch nicht den Längengrad [longitud] beinhalten). Zum anderen schiebt sich auch in diese 234 Die Textstelle (S.29-34) beginnt mit dem Satz: „La Sierra de Región - 2.480 metros de altitud [...]“ und endet mit „Y, sin embargo, esos estrechos y lujuriantes valles […]“. Da sich die Textstelle über mehrere Seiten zieht, wird sie hier nicht vollständig zitiert. Darauf folgen, dem Vorbild von Os Sertões entsprechend, eine Beschreibung des Klimas (S. 34-36), der Landwirtschaft (S. 36-37) und der Bewohner Región - paisanos und pastores (S. 37-40). <?page no="90"?> 90 ‚kartographische‘ Beschreibung des Landes fast unmerklich wieder die Perspektive des Reisenden ein, der seinen Weg durch Región weiterverfolgt. Mitten im Satz, nur durch ein Semikolon getrennt, geht plötzlich die beschwerliche Reise des viajero weiter: Menudean los cerrones, cubiertos de una vegetación de pequeños arbustos de raíz somera y ramificación económica, y los valles transversales, de muy escasa cuenca, se cierran al pronto por un frontón de caliza de montaña; el camino - imposibilitado de atravesar la hoz que el río ha cavado para su uso exclusivo -, remonta un pequeño cerro y, al tiempo que aparece de nuevo - más cercana, inesperada y majestuosa - la silueta de las cumbres (alineadas como las unidades de una flota en orden de batalla) se extiende ante el viajero toda la inmensa desolación del páramo: una llanada estéril […] orlada en su horizonte por un festón cambiante, casi imaginario, de robles enanos. (S. 32) Während der erste Teil dieses Satzes noch im Sinne der Erzählprojektion den Verlauf der Täler beschreibt, setzt mit „el camino“ plötzlich wieder die Perspektive des Reisenden ein, der einem Weg über den Berg folgt und vor dessen Augen sich bald eine weite und verlassene Ebene vor der Silhouette der scheinbar nahen Bergkette erstreckt. Der Reise wird bald wieder ein jähes Ende gesetzt: „De pronto una barranca […] pone fin a muchas horas de viaje que ya no será posible recuperar ni prolongar.“ (S. 33) So unbemerkt, wie die Perspektive einsetzt, geht der Text bald wieder zur kartographischen Beschreibung über. 235 Sobald jedoch die Perspektive eingenommen wird, ist auch der Horizont als subjektive räumliche Begrenzung 236 präsent: En ese páramo todos los caminos se pierden, divididos y subdivididos en un sinnúmero de roderas alucinantes cada una de las cuales parece dirigirse hacia una mancha que espeja en el horizonte lagunas de aguas muertas […]. (S. 33) Der Horizont ist nicht nur Merkmal für den Wechsel in die subjektive Perspektive - ein Horizont ändert sich je nach Betrachter und je nach Standpunkt des Betrachters. In diesem Zusammenhang lässt sich darüber hinaus auf den phänomenologischen Horizont verweisen, der Wahrgenommenes als Erfahrung nicht einfach im Vergessen verschwinden lässt, sondern einen virtuellen Hintergrund an Möglichkeiten bildet, aus dem das Subjekt immer wieder Erfahrungen aktualisieren kann. Iser überträgt das Verhältnis von Horizont und Aktualisierung auf die Textstrategien wie Selektion und Kombination, die das Verhältnis von Wirklichkeitsmodellen, Text und Leser während der Lektüre bestimmen: 235 Der Wechsel findet nach dem Semikolon und dem Nebensatz „[...] bosques estrechos en el fondo de los valles“ (S. 33) statt. 236 Vgl. hierzu auch das visuelle Abtasten des Horizonts der Portada durch die Protagonisten Hervás und Somer in En el estado. Siehe S. 13. <?page no="91"?> 91 So entspringen den Selektionsentscheidungen im Text ständig solche Vordergrund-Hintergrund-Beziehungen, durch die im Prinzip zweierlei geschieht. 1. Ruft das gewählte Element sein ursprüngliches Bezugssystem auf, so markiert es gleichzeitig eine semantische Differenz, die sich zwischen dem bekannten und dem noch unbekannten Verwendungszusammenhang ausspannt. 2. Die Selektion läßt nicht nur die semantischen Differenzen des Textes zu seinen verschiedenen Bezugssystemen entstehen; sie erzeugt durch die Vordergrund- Hintergrund-Beziehung eine elementare Verstehensbedingung des Textes. Denn die noch ungekannte Verwendung des gewählten Elements entzöge sich dem Verstehen, wäre der bekannte Hintergrund durch die im Text erfolgende Entpragmatisierung des gewählten Elements nicht aufgerufen. 237 In dieser Form organisiert die Thema- und Horizontstruktur die Zuwendungen des Lesers, wodurch sich zugleich der Text als ein System der Perspektivität konstituieren läßt. Sie bildet folglich die zentrale Kombinationsregel der Textstrategien, durch die mehreres bewirkt wird. 238 Sowohl bei der Selektion (erstes Zitat) mit Vordergrund und Hintergrund als auch bei der Kombination (zweites Zitat) mit Thema und Horizont lässt sich eine Struktur der Aktualisierung von Virtuellem beobachten. Gleiches gilt, wenn der Leser bei der tatsächlichen Lektüre den Text aktualisiert und dieser erst so richtig zur Geltung kommen kann. 239 Demzufolge ist mit der Perspektive des viajero nicht nur eine subjektive 240 , vom Blick ausgehende räumliche Wahrnehmung verbunden. Darüber hinaus wird mit ihr eine dezidiert phänomenologische Einstellung formuliert, die Welterfahrung aus dem unerschöpflichen Wechselspiel von aktueller Wahrnehmung und virtuellem Erfahrungshorizont erschließt und nicht aus der Konfrontation mit Gegebenem. Für den Leser wiederum ergibt sich mit dem Reisenden nicht nur der erwähnte Anhaltspunkt, sondern eine Möglichkeit zur Selbstspiegelung bzw. zur Reflexion über den eigenen Leseakt. Die Wanderung und phänomenologische Raumerfahrung des viajero in ständiger Präsenz des Horizonts liest sich somit als Metapher für die vielschichtigen Aspekte der Lektüre, bei welcher sowohl die Textstrategien als auch der Erfassungsakt des Lesers während der Rezeption zur Geltung kommen. 237 Iser: Der Akt des Lesens, S. 157. 238 Ebd., S. 164f. Auch bei Iser sind ‚konventionelle‘ Erzählperspektiven gemeint, die von Stockhammer im Kontext der ‚Kartizität‘ von Texten berechtigterweise kritisiert wird. In dieser Textanalyse geht es darum eine Perspektive, die mit einem tatsächlichen Blick untrennbar verbunden ist, von einer unmenschlichen Projektion zu unterscheiden. 239 Vgl. ebd., S. 175ff. 240 Zu betonen ist, dass hier keineswegs die These einer romantischen Subjektivität vertreten werden soll. Subjektiv in Kombination mit der Perspektive ist stets vor einem phänomenologischen Hintergrund zu verstehen. <?page no="92"?> 92 Mit den beschriebenen (semi-) wissenschaftlichen Angaben versucht der Text nicht nur eine außertextuell referenzierbare, historisch-geologische Legitimierung des Territoriums von Región zu schaffen, sondern ermöglicht gleichzeitig einen kartographischen Blick auf eben jenes Territorium. Wenn Genette „focalisation“ und „vocalisation“, Blick und Stimme, als zwei aufeinander folgende Teilvorgänge unterscheidet, so als ‚sehe‘ der Romanschriftsteller zuerst etwas und ‚spreche‘ es dann aus, erscheint seine eigentliche Tätigkeit, das Schreiben, als eine nachgeordnete Aufzeichnung einer Welt, die zuvor visuell imaginiert wurde. Die Arbeit mit einer Projektion hingegen ist von der graphischen Operation unablösbar, bei der mit geeigneten Verfahren etwas auf dem Papier entsteht. Wo die Literatur, manchmal unwissentlich, häufig genug jedoch wissentlich, Affinitäten zu kartographischen Konstruktionsverfahren aufsucht, hat dies mit diesen Aspekten zu tun. Ihre Verfahren sind dann - um es in eine Reihe von Negationen zu bringen - nicht solche des subjektiven, kontemplativen Blicks und nicht solche der ununterbrochenen Rede. Sie teilen nicht den antimathematischen Affekt einer dominanten ästhetischen Ideologie und suchen ihren Blick nicht in einem prä-symbolischen Imaginären. 241 Die „Affinitäten zu kartographischen Konstruktionsverfahren“ sind bei Benet sicherlich vorhanden und, wie gezeigt werden konnte, kommt es zu einem ständigen Wechsel zwischen dem „subjektiven, kontemplativen Blick[]“ und der „Arbeit mit einer Projektion“. Jedoch stellt sich die Frage, inwiefern hier ein „anti-mathematische[r] Affekt“ geteilt oder eben nicht geteilt wird. Wie sich herausstellt, sind die kartographischen Angaben zum Teil unzuverlässig und die angesprochene lange Textstelle zur Entstehung von Región wird durch den narrativen Impetus durchkreuzt, auch jede noch so ‚wissenschaftliche‘ Darstellung symbolisch aufzuladen. So wird die Entstehung der sierra gleichzeitig als ein Kampf zwischen zwei Fronten geschildert, der die grundlegende Dynamik des (Bruder-) Krieges 242 aufgreift. Davon zeugen Formulierungen wie „hasta encontrar un punto de máxima resistencia“, „el frente de resistencia“, „producidas por el conflicto entre los dos ejes dinámicos“, „que vienen a coincidir […] con las dos familias de bisectrices“ und „en la reproducción del conflicto a escala menor“ (S. 29). Der Text schwankt also zwischen der Faszination und Umsetzung kartographischer Darstellungsverfahren und dem Einsetzen der viajero-Perspektive, die beim Erkunden des Territoriums darauf setzt, dasselbe zu durchwandern und von einem absoluten Koordinatensystem Abstand nimmt. Raum ist dann weder auf einen Blick überschaubar, wie es Benets Karten und die Annäherung an die von Stockhammer vorgeschlagene Erzählprojektion suggerieren, noch aus der Distanz der Abstraktion erkennbar. Die Perspektive des 241 Stockhammer: Die Kartierung der Erde, S. 83. 242 Vgl. hierzu Kapitel 0 dieser Arbeit. <?page no="93"?> 93 viajero unternimmt vielmehr immer wieder den Versuch, das undurchdringbare Territorium zu erkunden, und verliert sich dadurch in der deterritorialisierenden Funktion der Perspektive, wie sie im Theoriekapitel zum Raum beschrieben wurde. Das Territorium selbst entzieht sich dieser Perspektive, sie kann seiner nicht habhaft werden. Sowohl Benets Karten als auch die immer wieder aufkommende ‚Kartizität‘ der Texte, suggerieren die Eingrenzung des Raums, dessen Festlegung im Territorium und postulieren somit eine Macht über den Raum, die nie vollends ausgespielt werden kann. Die Perspektive des viajero operationalisiert hingegen die perspektivische Sprache, die Benet in seinem Essay formuliert, und glättet somit immer wieder das kartographisch gekerbte Territorium. Karten und Texte zeichnen sich so durch eine ideologische Unentschlossenheit aus. Sie drängen jedoch immer wieder zu jener deterritorialisierenden Funktion, die sich mit einer Raumerfahrung verschränkt, die die Undurchdringbarkeit und die epistemologische Ferne dessen, was als räumlich nah wahrgenommen wird, immer schon voraussetzt. 243 II.7 Ordnung und Hierarchie im Raum In Benets Romanen sind mehrere Textstellen zu finden, die in dem Maße die Etablierung von sozialen Hierarchien durch räumliche Ordnung befragen, wie sie im Realismus durch entsprechende Darstellungen der räumlichen Anordnung von Figuren bekräftigt wurden. Diese Textstellen sind in direktem Zusammenhang mit Benets Ausführungen zur estampa in „¿Se sentó la duquesa a la derecha de Don Quijote? “ zu verstehen, die in Kapitel II.2.3 dieser Arbeit besprochen wurden. Dabei geht es darum, dass die Literatur sich räumliche und perspektivische Ambiguitäten zu Nutze machen soll, um sich nicht einer simplen Abbildungsfunktion von sozialen Ordnungen zu unterwerfen. Im Folgenden werden entsprechende Beispiele für solche vermeintlichen Ordnungen aus Saúl ante Samuel und Herrumbrosas lanzas analysiert. II.7.1 Das Familienfoto Saúl ante Samuel 244 schildert den spanischen Bürgerkrieg konkret als Bruderkrieg, was sich im Konflikt zwischen zwei namenlosen Brüdern niederschlägt. Dabei ist der ältere der nationalistischen und der jüngere der republikanischen Seite zuzuordnen. Eine weitere wichtige Figur ist der primo Simón, der als intradiegetische-homodiegetische Erzählerfigur auftritt und 243 Zu dem Begriff der Projektion und dem Versuch einen stabilen Ordnungsraum zu etablieren, siehe auch Kapitel IV.3, das sich mit En el estado auseinandersetzt. 244 Alle Seitenangaben für Zitate aus Saúl ante Samuel erfolgen in diesem Kapitel im Fließtext. Alle anderen Literaturnachweise erfolgen über Fußnoten. <?page no="94"?> 94 dessen Monolog den kompletten Mittelteil des Romans 245 einnimmt. In diesen von langen, höchst rätselhaften, suggestiven und reflexiven Passagen geprägten Monolog schiebt sich die Schilderung der Aufstellung für ein Familienfoto (S. 246-250). Der Einstieg in das bürgerlich-häusliche Ambiente erfolgt abrupt, sorgt aber dafür, dass der Leser sich sofort situiert weiß: „De nuevo estamos los de la casa.“ (S. 246) Darauf folgt eine chaotische Situation, die von einem „aire de cambio“ geprägt ist, obwohl es zunächst keinen konkreten Anlass hierfür gibt. Stühle werden umher geschoben und keiner weiß, wo er sich hinsetzen soll, „se produjo un cierto barullo“. Der Doktor, der Teil der Familienaufstellung 246 sein wird, möchte einen Blick durch das Objektiv werfen - wahrscheinlich um die Bildkomposition richtig einschätzen zu können. Er wird jedoch davon abgehalten: „[A]lguien se precipitó sobre él y la cámara vino al suelo […].“ (S. 246) Symptomatisch fällt die Kamera, die eine dauerhafte Abbildung der Familienhierarchie ermöglichen soll, auf den Boden, sodass niemand den vermeintlich objektiven Blick der Kamera einnehmen kann. 247 Niemand möchte als erstes Platz nehmen: [N]adie quería ser el primero en ocupar su puesto dentro del grupo y todos remoloneaban por los rincones, en espera del momento indemorable, la voz de mando […]. Demnach herrscht ein reines Chaos - sowohl sozialer als auch räumlicher Natur - und jeder versucht sich dem zu erwartenden ‚Kommando‘, das für Ordnung sorgen wird, zu entziehen. Das Chaos dauert jedoch nur so lange an „hasta que bajó la abuela, apoyada en su futura nieta, y se sentó en el 245 Saúl ante Samuel ist streng genommen in vier Teile gegliedert. Auf einen kursiv gedruckten Prolog folgen drei weitere Teile, wobei sich der erste aus Kapitel I und II, der zweite aus Kapitel III und der dritte aus Kapitel IV und V zusammensetzt. Der Mittelteil, die segunda parte, stellt mit 150 Seiten den sehr umfangreichen Monolog des primo Simón dar, wobei sehr oft mit einem Du der jüngere Bruder angesprochen wird. 246 Sowohl der Doktor als auch eine der Tanten gelten selbstverständlich als Teil der bürgerlichen Familie. Dabei wird betont, dass es sich um eine kleine, ‚kompakte‘ Gruppe handelt, diese also dem Ideal einer Kernfamilie entspricht: „Era un grupo compacto y estrictamente familiar, pues tanto el Doctor como la tía Sunta eran considerados como de la familia, el primero porque en todas las familias de Región tenía que ser considerado como de la familia y la segunda porque carente de toda familia si no era considerada como de la familia no sé cómo podía ser considerada.“ (S. 247) Tatsächlich werden neun Figuren abgelichtet, weswegen das Konzept der ‚kompakten‘, familiären Gruppe schon torpediert wird. 247 Ob das Foto letztendlich gemacht wird, bleibt unklar. Zwar ist mehrmals von der „fotografía“ (S. 246, 249) und erneut von dem „objetivo“ des „artista“ (S. 248) die Rede, aber die Tatsache, ob ein Foto geschossen wird oder nicht, bleibt nebensächlich. Umso mehr gewinnt die Beobachtung an Relevanz, dass der Text versucht, die räumliche Anordnung und Hierarchie des Fotos darzustellen. <?page no="95"?> 95 sillón de mimbre“. Mit der Großmutter 248 betritt nun eine Figur der familiären Macht die Szene. In dem sie sich als erstes bestimmt hinsetzt, gibt sie einen Anhaltspunkt für die hierarchische Ordnung, die im Folgenden um sie herum entstehen wird. Ihr Hinsetzen ist jene stille „voz de mando“, auf die alle gewartet haben: „[A] su derecha se sentó tu padre […] y a su derecha, a su vez, se sentó su hermana menor“. Unterbrochen von längeren Einschüben, die den jeweiligen Ausdruck der Figuren und deren Gemütsverfassung kommentieren, geht die Aufstellung für das Foto entsprechend weiter. 249 Die ältere Schwester des Vaters se sentó en el otro extremo a la izquierda del Doctor […] quien lo hizo a la izquierda de la abuela siguiendo las órdenes del artista deseoso de que al menos en la fila de los sedentes alternasen varones y hembras. (S. 247) 248 Die Großmutter ist eine Figur, der, neben dem Cousin Simón, lange Passagen des Romans gewidmet sind. Sie wird wiederholt als sibila, also als Sibylle mit prophetischen Fähigkeiten bezeichnet. Sie sitzt ewig aufrecht im Sessel, zumeist mit geschlossenen Augen, und verkündet mit ihrem Kartenspiel prophetische Deutungen zum Krieg und zu familiären Konstellationen. Der Roman nimmt immer dann ereignishaften Charakter an, wenn die Großmutter die Augen öffnet und ihr sonst stets aufrechter Rücken sich immer mehr dem respaldo, also der Rückenlehne ihres Sessels nähert. Das Kartenspiel, die naipes, sind nicht nur in Saúl ante Samuel ein häufiges Motiv. Ebenso nimmt das ewige Kartenspiel in Volverás a Región eine zentrale Stelle ein, sowie es auch in Herrumbrosas lanzas an mehreren Stellen auftaucht. 249 Da es hier hauptsächlich um die räumliche Ordnung geht, sei ein weiterer Aspekt, der eng mit der Fotografie zusammenhängt, nur am Rande angemerkt: Der Text zeigt in diesen Einschüben, wie sehr er sich an einem dezidiert visuellen Wissen, das signifikant für das Bürgertum des 19. Jahrhunderts war, orientiert. „Die Vermittlung gesellschaftlicher Normen und Regeln verlagerte sich von der Ebene der Erfahrung immer mehr auf die Ebene des Wissens und der Bilder. Das Visuelle wurde zur prädestinierten Instanz für die Vergesellschaftung.“ (Susanne Breuss: „Fotografie und Volkskunde/ Europäische Ethnologie. Einige Überlegungen zur Einführung in das Kolloquium“, in: Klaus Beitl/ Veronika Plöckinger (Hgs.): Forschungsfeld Familienfotografie. Beiträge der Volkskunde/ Europäischen Ethnologie zu einem populären Bildmedium, Wien: Österreichisches Museum für Volkskunde, 2001, S. 9-14, hier S. 11f.) Zum einen weiß die jüngere Tante sehr genau, wie sie sich zu geben hat, um auf dem Foto als möglichst ‚natürlich‘ zu erscheinen, und entspricht damit ihrer weiblichen Rolle („por lo general en tales actos las mujeres aciertan su papel mucho mejor que los hombres y aparentan naturalidad con mayor naturalidad que ellos pues lo suyo es estar siempre aparentando naturalidad […]“). Zum anderen lässt sich immer wieder der Wille erkennen, die Physiognomie und die Körperhaltung der einzelnen Familienmitglieder möglichst detailreich zu beschreiben, um ein besseres ‚ Wissen‘ um ihr inneres Wesen zu erhalten. So wird zum Beispiel die ältere Tante als „frontal, adusta y tiesa, con las manos enlazadas y apuntadas hacia el centro de su estirado pecho“ (S. 247) beschrieben. Die Ableitung von Wissen aufgrund der Physiognomie und der Pose ist ein Merkmal der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts, die mit der Fotografie aufgegriffen wurden. Vgl. hierzu das Unterkapitel bei Jäger „Pose und Physiognomie: die Bürgerlichkeit es Äußeren“ (Jens Jäger: Gesellschaft und Photographie. Formen und Funktionen der Photographie in Deutschland und England 1839-1860, Opladen: Leske und Budrich, 1996, S. 152-155) <?page no="96"?> 96 Hier wird bereits deutlich, dass die Aufstellung bestimmten sozialen Mustern zu folgen hat: Ein nicht weiter definierter artista - tatsächlich wird zu keinem Zeitpunkt deutlich, wer und ob überhaupt jemand hinter der Kamera steht - ordnet an, dass Männer und Frauen einander abwechseln mögen. Nachdem auch der Doktor und die ältere Tante einen Sitzplatz gefunden haben, geht es mit der Anordnung einer zweiten, stehenden Reihe weiter: „Tu hermano ocupó el centro de la fila de los en pie, detrás de su abuela, con su prometida cogida del brazo, justo detrás de su padre.“ 250 Der Cousin berichtet daraufhin auch von dem zufriedenen Eindruck, den der ältere Bruder macht: Se le veía satisfecho, no sé si de la mujer que había elegido, de la fortuna que pronto iba a disfrutar o porque por primera vez - el día de la presentación de su prometida a la familia - el eje de la casa pasaba por él, no como en tantas otras fiestas de santo y cumpleaños en que solamente había recibido el agasajo de los poderes medios; fue uno de los pocos momentos en que brillaría en toda su magnificencia el poder de la genealogía y aunque tu padre trató durante toda su vida de sacar el máximo partido de él […] a lo largo de vuestra minoría de edad y con miras a prolongarlo durante la mayoría nunca logró […] constituirse en un poder absoluto a cause de la longevidad de la abuela […]. Spätestens an dieser Stelle wird die enge Verquickung zwischen der Implementierung bzw. dem Ausagieren von genealogischer Macht und der räumlichen Anordnung offensichtlich. Die Vorstellung, das Familienfoto solle in realistischer Manier die entsprechenden Hierarchien wiedergeben, drängt sich auf. Tatsächlich ist die Anordnung auch so detailliert beschrieben, dass sie sich leicht nachvollziehen lässt. Sie ist ohne Probleme abbildbar bzw. visualisierbar: Fila en pie Prometida del hermano Hermano mayor Sentados Tía menor Padre Abuela Doctor Tía mayor Bei dieser Visualisierung ist zu beachten, dass Angaben wie ‚links‘ und ‚rechts‘ eben gerade nicht zur absoluten Orientierung dienen, da sie stets von der Perspektive der jeweiligen Figur abhängig sind. Diese Angaben folgen, mit Stockhammer gesprochen, einem ‚phorischen‘ System, denn der Text verfolgt im parcours die Anordnung der einzelnen Familienmitglieder. Eine Orientierung des Lesers ist dann nur möglich, wenn sich die Großmutter als konstitutives Element der Ordnung einmal hingesetzt hat. Die Darstellung 250 Das Du, das hier angesprochen wird, ist, wie sich erst nach längerer Lektüre herausstellt, der jüngere Bruder, zu dem der Cousin Simón offensichtlich ein engeres Verhältnis hatte. <?page no="97"?> 97 oben ist daher genau spiegelverkehrt zu den Beschreibungen im Text und nimmt die Perspektive der potentiellen Kamera ein. Mit dem Foto soll aber genau das erreicht werden, was durch die literarische Darstellung der Anordnung nicht gegeben ist: eine absolut nachvollziehbare Ordnung, unabhängig vom Betrachter. Auf einem Foto entsprechend der obigen Visualisierung könnte jeder Betrachter nachvollziehen, welche Machtverhältnisse die Familie bestimmen. Die Darstellung zeigt, dass sich in der Anordnung genau jener „eje de la casa“ anhand des älteren Bruders und der fast unsterblich scheinenden Großmutter manifestiert. Sie bilden mit der Mittelachse eine fast symmetrische Anordnung. Der Vater, der, da die Großmutter nicht stirbt, nie dazu kommt, tatsächlich seine Position als Familienpatriarch einzunehmen, ist kein Teil dieser Achse und bleibt außen vor. Es wird in diesem Zusammenhang erzählt, wie er versuchte, sich von der eigenen Mutter zu emanzipieren, nach dem wirtschaftlichen Bankrott jedoch gedemütigt in ihr Haus zurückkehrt. Als der legitime Erbe der Macht und wahre Patriarch des Hauses 251 wird somit der ältere Bruder eingesetzt. Doch das eigentlich störende Element ist die Verlobte des zukünftigen Machtinhabers. Sie sorgt dafür, dass die angebliche Achse der genealogischen Macht keine Achsensymmetrie mit sich führt. Sie ist ein Eindringling, der die Familienordnung nachhaltig stören wird. Denn sie unterwirft sich nicht der räumlichen Anordnung: […] [A] lo mejor peco de atrevido si afirmo que ya en aquella ocasión la compañera que tenía a su derecha - y que ni siquiera había estrenado - no suponía el mayor motivo para su satisfacción, tal vez lo fuera lo que ella aparejaba y representaba para él pero ¿ella? ¿ella misma? me temo que no; su aplomo, la actitud erguida y jaque, la arrogancia para constituirse en el eje y plexo del momento, como si el grupo se aglutinara en torno a su persona que nada les debía, indicaba hasta qué punto se consideraba una criatura central que no abandonaría nunca sus poderes axiales […]. (S. 248, Hervorhebungen von mir) Durch die Kommentare des Cousins wird eine Diskrepanz deutlich zwischen dem, was der Bruder in seiner Zukünftigen sieht - nämlich wahrscheinlich die züchtige und bürgerliche Ehefrau, die dem Patriarchen im wahrsten Sinne des Wortes zur Seite steht - und, wie die Verlobte sich selbst sieht bzw. was ihre Position und Haltung auf dem Foto verspricht. Somit findet eine Verschiebung der genannten Achse statt. Während die Großmutter und ihr legitimer Nachfolger beim Übergehen des Vaters eine genealogisch-hierarchisierende Achse darstellen, postuliert die Verlobte schon allein durch ihre Körperhaltung ihre vollkommene Gleichgültigkeit gegenüber solchen Hierarchien und reklamiert die „poderes axiales“ für sich. Auf einmal scheint es, als konzentrierte sich die gesamte Gruppe nur 251 „[E]n aquella ocasión el sol de la masculinidad, tras un invierno nublado, surgía en la cara de tu hermano […].“ (S. 248) <?page no="98"?> 98 um sie. Sie ist sowohl Achse als auch Plexus - sprich ein Knotenpunkt, in welchem sich verschiedene Linien miteinander verflechten. Somit wird die Verlobte vom Fremdkörper zum konstituierenden Element einer vollkommen neuen Ordnung. Sie rückt dementsprechend auch von ihrem Verlobten ab („se apartó un poco de su prometido, cediéndole el brazo pero hurtando su hombro“, S. 248f.), um ihrer inneren Distanz und Eigenständigkeit durch räumliche Distanz Ausdruck zu verleihen. Doch das eigentliche Skandalon ist ihr Blick: [Y] por si fuera poco desvió la mirada del objetivo hacia su derecha, hacia donde nos encontrábamos tú y yo, acaso para poner de manifiesto ya una incipiente simpatía hacia nosotros […]. (S. 249) Tatsächlich erfährt der Leser erst an dieser Stelle, dass der Cousin und der jüngere Bruder sich ebenfalls auf dem Foto bzw. in jener Anordnung befinden. Die Visualisierung oben müsste also dementsprechend korrigiert werden: Fila en pie Hermano menor y primo Prometida del hermano Hermano mayor Sentados Tía menor Padre Abuela Doctor Tía mayor Dabei ist erstens auffällig, dass nicht genau festgestellt werden kann, ob der jüngere Bruder rechts von seiner zukünftigen Schwägerin, und rechts von ihm wiederum der Cousin steht oder umgekehrt. Die Anordnung ist nicht mehr eindeutig abbildbar. Zweitens etabliert sich so um die Verlobte herum eine neue (Nicht-) Ordnung, die sich über die genealogische Ordnung schiebt. Nicht nur ist die Position des jüngeren Bruders und des Cousins unklar, darüber hinaus verliert diese estampa durch den abschweifenden Blick der Verlobten ihre Frontalität. Sie konstituiert sich nicht über den objektiven Blick der Kamera und über die Fotografie, die so entstehen soll, 252 sondern über das Verhältnis zwischen ihr und den drei Männern um sie herum. Die restlichen Familienmitglieder sind in dieser neuen (Nicht-) Ordnung um die Verlobte obsolet geworden. Drittens beinhaltet diese neue (Nicht-) Ordnung den Nukleus des gesamten Romans: die Rivalität zwischen bzw. die Konfrontation von zwei Brüdern und der potentielle doppelte Ehebruch der Verlobten (mit dem jüngeren Bruder und mit dem Cousin) 253 . In dem Moment, 252 „Die Fotografie galt und gilt vielfach noch immer als ‚objektives‘ und ‚neutrales‘ technisches Mittel zur Abbildung und Speicherung von ‚Realität‘ […].“ (Breuss: „Fotografie und Volkskunde“, S. 12f.) 253 In der Forschungsliteratur wurde bisher meist nur der Ehebruch mit dem jüngeren Bruder erwähnt. Jedoch sind in dem Monolog des Cousins Simón Passagen zu finden, <?page no="99"?> 99 in dem allen Familienmitgliedern ihre vermeintliche Position zugewiesen wurde, verhandelt die Erzählung des primo nur noch ausschließlich den Sonderstatus der Verlobten, der ihre Stellung jenseits der Familienhierarchie bestätigt. […] [Q]ue había que atribuir a su buena educación y a su deseo de no levantar suspicacias su en apariencia desenfadada participación en un acto que sin duda le habría de parecer la mayor ridiculez a que se había prestado desde que tuviera razón; con lo cual logró lo que se proponía con la mayor concisión, simplicidad y, como siempre, naturalidad: esto es, que en la fotografía, por su gesto y su atuendo, por su talante y sus rasgos, se destacase como la persona más ajena al grupo que la rodeaba (el grupo era su futura familia, elegida en la ignorancia ya que no contra su voluntad) y dentro del cual su singularidad cobraba un carácter y sabor muy especiales no sólo por el contraste con las caracteres circundantes - en cierto modo homogeneizados por el aire de familia y el bruñido de la convivencia - y rebajados por la imprudente introducción de su elegancia a la categoría de rudimentarios señores del campo (de la misma manera que el orden en el mal gusto del salón del nuevo rico se refuerza el día que introduce una pieza de verdadera calidad, que para substituir adquirirá el aspecto de un pastiche) - sino también por la no antagonista yuxtaposición en su misma persona de atributos opuestos - hermosura y rareza, serenidad e inquietud, tradición y novedad, claridad y misterio, anomalía y normalidad - de que parece gozar el insólito objeto del que en un primer trato nadie acierta a decir nada, ni siquiera a poner un solo reparo. (S. 249f.) Zum einen sticht die Verlobte - trotz des bürgerlichen Makels des Ehebruchs, der ihr durch den gesamten Roman hindurch anhaftet - durch ihre Eleganz und ihre Einzigartigkeit aus der homogenen Masse der Familie heraus, die nur aus „rudimentarios señores del campo“ besteht. Zum anderen sorgt sie gerade durch ihr Anderssein dafür, dass „el orden en el mal gusto“, der die Familie wie das Mobiliar eines Neureichen zu bestimmen scheint, bestärkt wird. Darüber hinaus verkörpert sie als ‚die Andere‘ eine oxymorontische Struktur, die sowohl innere als auch äußere Eigenschaften beschreibt. Allein „la no antagonista yuxtaposición en su misma persona de die die Vermutung nahe legen, auch er habe ein Verhältnis mit der Verlobten des älteren Bruders gehabt. Vgl. zum Beispiel S. 197: „No sé si de aquel capricho llegaste a tener noticia pero consta que, si no lo planeaste, al menos presentiste al tiempo que otorgabas ese tácito placet sin el cual yo no me habría atrevido a dar un paso. Di muy pocos, quizá ninguno porque la iniciativa, como siempre, partió de ella.“ Später beschreibt der Vetter eindringlich die Brüste der Verlobten: „Sus pechos eran pequeños, es decir, no eran muy pequeños; separados, sólo entraban en contacto cuando encogida por el frío juntaba sus manos entre las rodillas y aunque era ancha de hombros, su espalda era tan flexible que formaba un peraltado óvalo cuando se echaba hacia adelante. Tres halos formaban la aureola del pezón y a cada uno correspondía una distinta complexión […].“ (S. 199) <?page no="100"?> 100 atributos opuestos“ bringt diese Widersprüchlichkeit zum Ausdruck. Anhand ihres Äußeren lässt sich kein eindeutiger Rückschluss auf ihr Inneres ziehen. So ist sie im Verhältnis zur Familie ihres Verlobten nicht einfach nur ‚anormal‘, sprich von der familiären Norm abweichend. Sie vereint sowohl Normalität als auch Anomalität in sich. Sie verkörpert das, was durch die Norm und ihr Gegenteil weder begrifflich noch ideologisch fassbar ist. Die Familie weiß nicht, wie sie mit diesem „objeto insólito“ umgehen soll. Die Verlobte entzieht sich vollkommen als Erkenntnisobjekt. Die analysierte Schilderung der Aufstellung für das Familienfoto steht in direktem Zusammenhang mit den raumtheoretischen Überlegungen zur estampa. In das anfängliche Chaos, in welchem niemandem sein Platz zugewiesen ist, tritt mit der Figur der Großmutter das ideologische Kommando, das die einzelnen Figuren dazu veranlasst, einen bestimmten Platz einzunehmen. 254 Erst durch diese Anordnung, die durch das Foto verewigt werden soll, kommt es überhaupt zu einem familiären Gefüge, das vor allen Dingen durch eine hierarchische Achse aus Großmutter und dem älteren Bruder als legitimer Nachfolger geprägt ist. In realistischer Manier soll das Foto die Hierarchien der bürgerlichen Familie abbilden und festigen. Ethnologische sowie soziologische Studien belegen den engen Zusammenhang von bürgerlicher Selbstinszenierung, einem entsprechenden Repräsentationsbedürfnis, und der Familienfotografie: „Familienfotografie entstand aus solchen Bedürfnissen [den Bedürfnissen nach Identität und Erinnerung] heraus im Kontext bürgerlicher Repräsentationsbestrebungen.“ 255 Dabei ist eine vermeintlich objektive Begründung und Abbildung der eigenen Werte von hoher Bedeutung: „Die Photographie diente der Objektivierung und der wissenschaftlichen Begründung bürgerlicher Wert- und Bildungsvorstellungen.“ 256 Der Text bedient sich damit eindeutig kultureller Deutungsmuster des 19. Jahrhunderts, auch wenn die Handlung des Romans in den Zeitraum des spanischen Bürgerkriegs und der posguerra eingeordnet werden kann. Jedoch wird durch die Verlobte des älteren Bruders ein nicht integrierbarer Fremdkörper eingefügt, der das Potential der estampa überhaupt erst aufscheinen lässt und die Repräsentationsfunktion des Fotos zerstört. Mit der Verlobten nimmt die literarische Darstellung Abschied von der angenommenen Frontalansicht durch das Kameraobjektiv. Die Verlobte etabliert ein relationales Netz bzw. Geflecht von Blicken, von dem die restlichen Familienmitglieder ausgeschlossen werden. Dieses Netz bewegt sich sowohl ideologisch als auch räumlich gesehen außerhalb des objektiven Ordnungsraums der Familie und kann daher nicht eindeutig abgebildet werden. 254 Im Zusammenhang mit der „voz de mando“ sei noch einmal auf den engen Bezug zu dem Betrachter (espectador) hingewiesen, der in El ángel del señor abandona a Tobías von der ideologisch instrumentalisierten Sprache ‚einberufen‘ wird. 255 Breuss: „Fotografie und Volkskunde“, S. 12. 256 Jäger: Gesellschaft und Photographie, S. 285. <?page no="101"?> 101 Daher entsteht um die Verlobte herum auch kein neues familiäres Gefüge, sondern das, was die Familie torpediert: eine ungeklärte Drei- oder sogar Vierecksbeziehung. Letztendlich darf auch nicht vergessen werden, dass es tatsächlich der oben erstellten visualisierenden Rekonstruktion der familiären Ordnung bedarf, um diese vollends nachvollziehen zu können. Auch an der Stelle, wo der Text eindeutige Informationen liefert, entzieht er sich einer eindeutigen Darstellung. Dies geschieht zum einen durch die beschriebene ‚phorische‘ Vorgehensweise und zum anderen durch die typisch benetianische Syntax, bestehend aus unendlichen Nebensätzen und Einschüben. Darüber hinaus besteht eine narratologische Diskrepanz zwischen der Erzählerstimme des primo Simón und der sehr spät vergebenen Information, dass er auch Teil der Familienaufstellung ist. Bis auf die Bemerkung „hacia donde nos encontrábamos tú y yo“ verhält er sich wie ein unbeteiligter heterodiegetischer Erzähler, vermittelt also den Eindruck, als nehme er die objektive Position der Kamera ein. Die Tatsache, dass er sich selbst auf dem Bild befindet, macht ihn jedoch unzweifelhaft zum Beteiligten. Diese Diskrepanz verstärkt die perspektivischen Unsicherheiten und Ambiguitäten, die die estampa auszeichnen. II.7.2 Die Sitzordnung Im ersten Buch des Romanfragments Herrumbrosas lanzas 257 wird geschildert, wie das republikanische Verteidigungskomitee in Región offiziellen und ranghohen Besuch aus dem madrilenischen Hauptquartier bekommt, um die zukünftige Strategie und Pläne zu besprechen. Dabei wird die entsprechende Sitzordnung am Verhandlungstisch über mehrere Seiten hinweg beschrieben, wieder unterbrochen von zum Teil längeren Einschüben. Nachdem man erfahren hat, dass es bei der Versammlung darum geht, die Pläne der „Ofensiva de Macerta“ (S. 43) zu konkretisieren, geht der Text zur Beschreibung der Sitzordnung über: En una cabecera de la larga mesa del claustro de profesores se sentó el teniente coronel Fernández Lamuedra, y, en torno a él - y a excepción del capitán Arderíus, que lo hizo, llevado de su afán de familiarizarse e intimar con la gente del pueblo (acaso para contrapesar con sus rasgos de simpatía la contundencia de sus opiniones y su casi sistemática oposición a las iniciativas regionatas, de tono guerrillero un tanto anacrónico) entre sus recientes amigos de Región - tomaron asiento sus colaboradores más cercanos, en número de cinco. (S. 44) 257 Alle Seitenangaben für Zitate aus Herrumbrosas lanzas erfolgen in diesem Kapitel im Fließtext. Alle anderen Literaturnachweise erfolgen über Fußnoten. <?page no="102"?> 102 Der Oberstleutnant Fernández Lamuedra ist der Anführer der Delegation aus Madrid. Dieser Funktion entsprechend, nimmt er ein Kopfende des Verhandlungstisches ein. Doch bereits an dieser Stelle hört die genaue Informationsvergabe zur Sitzordnung auf. Zwar wird gesagt, dass seine fünf Begleiter um ihn herum Platz nehmen, doch wie viele auf welcher Seite von ihm sitzen, bleibt vollkommen unklar. Auch die Information, dass sich der capitán Arderíus nicht unter diesen fünf befindet, sondern in der Nähe der regionatos, ist in Bezug auf eine detaillierte Sitzordnung nicht hilfreich. Durch die zweimalige Vertiefung der Satzstruktur - mittels Gedankenstriche und Klammern - wird die Informationsvergabe so erschwert, dass der Satz mehrmals gelesen werden muss, um zum entsprechenden Verständnis zu gelangen. Nach einer Kurzbeschreibung des Oberstleutnants, wird die gegenüberliegende Tischseite geschildert: „En el otro extremo de la mesa - y en el otro sillón de cordobán, con clavos de bronce - acostumbraba a tomar asiento el viejo Constantino […].“ (S. 44f.) Danach verliert sich der Text über fünfeinhalb Seite hinweg in der Familiengeschichte des Patriarchen Constantino, einer gesellschaftlichen und militärischen Führer- und Vaterfigur in Región. Klar ist also, dass der Verhandlungstisch deutlich in zwei Lager unterteilt ist, die den beiden Verhandlungsparteien entsprechen. Jedoch wird das abweichende Verhalten des Hauptmann Arderíus durch seinen Sitzplatz unter den regionatos und nicht im Umkreis seiner madrilenischen Genossen unterstrichen und hervorgehoben. Als die Darstellung der Sitzordnung wiedereinsetzt, scheint der Text ähnlich zu verfahren wie bei dem Familienfoto: Julián Fernández, llamado por todos Manchado, se sentó a la derecha del capitán Arderíus. En el mismo lado de la mesa ocupaba en cierto modo una posición simétrica a la suya, pues así como éste prefería alejarse del grupo de Madrid, de sus numerosos papeles, estadillos y cartas para tomar asiento entre la gente de Región y limitarse a opinar sobre los datos que otros aportaban […] , sin tener que recurrir a la lectura, Julián Fernández - nacido, criado y educado al costado del viejo Constantino - solía tomar asiento lo más cerca posible de aquel grupo y, si se lo permitían, mezclarse entre los oficiales y asesores que lo formaban, hacer uso de sus papeles y consultar mapas. (S. 50) Der Ziehsohn des alten Constantino setzt sich auf die rechte Seite des Hauptmanns Arderíus. Allerdings ist diese Angabe insofern unklar, als dass der Leser immer noch nicht weiß, wo genau Arderíus sitzt. Man weiß nur, dass das Verhältnis der beiden zu ihrem eigentlichen Lager zweifelhaft ist, da sie sich von diesem entfernen, um näher beim ‚feindlichen‘ Lager zu sein. Eine objektiv nachvollziehbare Sitzordnung wird hier also immer nur in Ansätzen etabliert. Viel stärker wird jedoch die Aufteilung des Tisches in zwei Lager - die der Entsandten aus Madrid und die der einheimischen Republikaner aus Región - vorangetrieben. <?page no="103"?> 103 A la reunión del 8 de febrero asistieron catorce personas, nueve de Región, cinco enviados por Madrid. Aun cuando con anterioridad se había decidido que todos acuerdos serían tomados por unanimidad, para todos era evidente que los de Madrid y los de Región formaban dos bloques antagonistas, cada uno de los cuales deseaba dominar la convocatoria, a fin de llegar a unas resoluciones concordantes con sus puntos de vista. […] [A]quella relación nueve a cinco se convertiría en otra ocho a seis en cuanto, con los primeros intercambios, se vio que Julián Fernández - ante la pasividad o con la complicidad de Constantino - asentía sistemáticamente al programa y las propuestas de los madrileños. (S. 50f.) Nach und nach werden mehr Informationen zu der Versammlung vergeben, jedoch keine, die tatsächlich mehr Auskunft über die Sitzordnung geben würden. Des Weiteren ist die Angabe der Teilnehmerzahl widersprüchlich. Heißt es zuvor noch, die madrilenische Gruppe bestünde aus dem Oberstleutnant plus fünf seiner „colaboradores más cercanos“ zusätzlich zum potentiellen Überläufer Arderíus, sind es hier auf einmal nur noch insgesamt fünf Entsandte aus Madrid. Im Kontrast zu dieser widersprüchlichen Informationsvergabe wird weiterhin die Verfestigung der beiden „bloques antagonistas“ beschrieben und die entsprechenden Kraftverschiebungen durch den Überläufer der regionatos, Julián Fernández alias Manchado, betont. Das Problem der Überläufer wird beim letzten Versuch die Sitzordnung darzustellen erneut aufgegriffen: Por enésima vez Julián Fernández (a) [sic! ] Manchado se veía relegado al puesto de segundón y no es de extrañar, por consiguiente, que en aquella reunión del 8 de febrero, sentado a la derecha del capitán Arderíus y a la izquierda del comandante Cherclaes (llamado por algunos comandante Charles), dispensara toda su atención hacia las palabras que procedían de Fernández Lamuedra y sus oficiales […]. (S. 57) Die Verwirrung wird hier durch eine scheinbare weitere Angabe vorangetrieben. Die Information, dass Manchado der ewige zweite in den Reihen der Republikaner in Región, rechts vom capitán Arderíus sitzt, ist keineswegs neu. Die Tatsache, dass er auf der linken Seite eines comandante Cherclaes sitzt, ist wiederum nur scheinbar hilfreich. Zum einen ist es das erste und das letzte Mal, dass dieser Name überhaupt auftaucht, zum anderen weiß der Leser auch nicht, wo genau dieser comandante sitzt und welchem Lager er zuzuordnen ist. Dahingegen wird der Verdacht der Illoyalität gegenüber den regionistas immer weiter bestärkt. Manchado, der bereits schon durch seinen Namen mit einem Makel ‚befleckt‘ ist, achtet nur noch darauf, was der Anführer der Madrilenen sagt. Sein Kopf zeigt demnach ständig in die Richtung des ‚falschen‘ Tischendes und <?page no="104"?> 104 solamente [volvió] una mirada buida y un gesto de alerta hacia su izquierda, cuando tomaba la palabra uno de Región. De aquel lado ya sabía lo que podía esperar. (S. 58) Manchado wird als vollkommen opportunistische Figur dargestellt. Da ihm immer mehr bewusstwird, dass er nie als legitimer Nachfolger des alten Constantino akzeptiert werden wird, sieht er sich nach anderen Möglichkeiten um und findet sie in den mächtigen Abgesandten aus dem madrilenischen Hauptquartier. Sie sind diejenigen, die über eine richtige Strategie und die entsprechenden ‚Insignien‘ der militärischen Macht wie Pläne und Karten verfügen und Manchado glaubt nicht, dass ein Sieg des Constantino in „aquella guerra“ wahrscheinlich ist. Y si todavía aquella guerra podía ser aprovechada sería para consagrar su independencia y su jerarquía, insignias que antes le serían concedidas por los hombres enviados por Madrid que por Constantino y los regionatos. (ebd.) Die Darstellung der Tischordnung zieht sich über fast 20 Seiten hinweg, und auch in diesem Falle lässt sich eigentlich nicht von einer wirklichen Ordnung im Raum sprechen. Der Text nimmt mehrere Anläufe, in welchen es so scheint, als bestünde das vorrangige Interesse - einem ähnlichen Modell wie der Aufstellung für das Familienfoto folgend - darin, dem Leser ein möglichst mimetisches Abbild der Sitzordnung zu geben. Doch jeder neue Anlauf wird nach wenigen Sätzen unterbrochen, um in der Breite von den familiären Hintergründen, Rivalitäten und Verstrickungen einiger Versammlungsteilnehmer zu erzählen. Die potentielle (Sitz-) Ordnung dient als textueller Anhaltspunkt, der den Leser nach den erzählerischen Abschweifungen immer wieder zurück an den Verhandlungstisch bringt. Von einer tatsächlichen Absicht, die Sitzordnung auch nur ansatzweise zu klären, kann nicht die Rede sein. Es ist weder klar, wie viele Teilnehmer es gibt, noch wer - außer den Anführern - genau wo sitzt. Stattdessen dient der Verhandlungstisch als Grundlage einer räumlichen bzw. topologischen Festigung der Fronten, die sich innerhalb des republikanischen Lagers schon zu Beginn von Herrumbrosas lanzas ausbilden. Die einzigen beiden Figuren, die neben den beiden Anführern aus Madrid und aus Región tatsächlich (nicht nur zueinander ins Verhältnis) ‚gesetzt‘ werden, sind die beiden potentiellen Überläufer, die das Spannungsverhältnis zwischen beiden Fronten verkomplizieren und dynamisieren. Auch in diesem Beispiel arbeitet sich der Roman also an der räumlichen (Nicht-) Ordnung der estampa ab, die lediglich ein komplexes relationales Netz zwischen den Figuren schafft, jedoch keine objektiv rezipierbare Ordnung, die eindeutig abbildbar wäre. Man erfährt, dass Manchado und Arderíus nebeneinandersitzen und jeweils mit dem anderen Lager liebäugeln. Hierbei ist, wie gezeigt, der Blick wieder wichtig, den Manchado den Madrilenen zuwendet und eben nicht den Vertretern aus <?page no="105"?> 105 Región. Wie weit Manchado und Arderíus tatsächlich von den Machtpersonen entfernt sind und wo die anderen wichtigen Teilnehmer der Versammlung, wie zum Beispiel Eugenio Mazón sitzen, erfährt der Leser nicht. Dieses relationale Netz wird durch eine Dynamik bestimmt, die später in den Kapiteln III.2.1 und III.5 mit der ‚Aufspaltung von Fronten‘ beschrieben wird. II.8 Die (Un-) Möglichkeit narrativer Darstellungen des Raums In diesen letzten Analysen wird anhand ausgewählter Textstellen aus Saúl ante Samuel 258 gezeigt, inwiefern die Schöpfung einer in sich geschlossenen fiktiven Welt über die Etablierung einer räumlichen Ordnung immer nur als Potential existiert, nie jedoch endgültig verwirklicht werden kann. Dem wird über die Generierung von estampas eine phänomenologische Beschreibungspraxis gegenübergestellt, die einerseits stetig versucht, sich dem Raum zu nähern, und andererseits schon immer auf die Unterbrechung des Wahrnehmungs- und des Erzählkontinuums angewiesen ist. II.8.1 Verhinderte Schöpfung und Phänomenologie des Schauplatzes Den drei Teilen des Romans Saúl ante Samuel ist, wie bereits erwähnt, ein kursiv gedruckter Prolog vorangestellt. Dieser enthält, extrem verdichtet auf zwei Seiten, zum einen Reflexionen über das eigene poetologische Programm und zum anderen eine fortlaufende Umsetzung desselben. Auch wenn er typographisch nur aus zwei Absätze besteht, so lässt er sich doch inhaltlich in fünf Abschnitte unterteilen, an welchen sich die folgende Analyse ausrichtet. Demnach reicht der erste Abschnitt bis „ […] pero de alguna manera se llamará si un día llega a existir.“ (S. 7) In diesem ersten Abschnitt geht es um den möglichen Namen und die Infragestellung des Schauplatzes des Romans. Dabei ist durch die Schwierigkeit der Benennung des lugar die Anlehnung an den Romanbeginn des Don Quijote auffällig, ein Text, den Benet bekanntermaßen sehr geschätzt hat. Über den Don Quijote wird außerdem mit der Genesis der erste Gründungs- und Schöpfungstext überhaupt aufgerufen. So wird von Beginn an an das konventionelle Verfahren der Festlegung von Ort, Zeit und Figuren bei Erzählanfängen angeknüpft. Während jedoch im cervantinischen Vorbild der Erzähler sofort feststellt, dass er sich an den Namen nicht erinnern könne oder wolle, so geht es bei Benet um die Schwierigkeit des Prozesses der Namensfindung: 258 Alle Seitenangaben für Zitate aus Saúl ante Samuel erfolgen in diesem Kapitel im Fließtext. Alle anderen Literaturnachweise erfolgen über Fußnoten. <?page no="106"?> 106 El lugar se podía haber llamado … ¿a qué seguir? Eso es lo de menos. No se llamó nunca de ninguna manera acaso porque sólo existió un instante, sin tiempo para el bautizo. De haber prolongado su existencia, se podría haber llamado Re... pero de alguna manera se llamará si un día llega a existir. (S. 7) Im Quijote wird die Namensfindung durch den Protagonisten gleich im ersten Kapitel weitergeführt. Damit Don Quijote seine ritterlichen Abenteuer beginnen kann, muss er sich sein Ritterinventar erschaffen. Das heißt, er muss erstens sein rocín entsprechend taufen 259 , zweitens sich selbst einen ansehnlichen Namen geben 260 und drittens eine anzubetende dama mit standesgemäßem Namen 261 finden. Don Quijote hat durch seine intensive Lektüre und nach entsprechender Zeit zum Nachdenken kein Problem, die entsprechenden nombres significativos für sein Pferd, sich selbst und seine Angebetete zu finden. Der Romanbeginn von Saúl ante Samuel scheitert jedoch schon am Grundlegendsten: an der Namensfindung für den Schauplatz. Der Schöpfungsakt über die Namensgebung verharrt in den Wortanfängen. An diese problematische Namensfindung ist gleichzeitig die Existenz des Ortes geknüpft - wo kein Name ist, dort ist auch kein vom Erzähler geschaffener Ort. So lässt sich nicht von dauerhafter Existenz sprechen, denn der Ort ist vielmehr von momentaner Evidenz, die aufgrund ihrer Flüchtigkeit keine Zeit für die ‚Taufe‘ lässt. Allein die Tatsache, dass die Existenz als Möglichkeit in diesem kurzen Abschnitt gleich dreimal erwähnt wird, betont jedoch die Potentialität des Schauplatzes. Er besteht ständig als Möglichkeit, jedoch nicht in beständiger Realisierung. Entstehung des Schauplatzes und Entstehung der Namen bzw. die Benennung werden somit im Schöpfungsakt unmittelbar aneinandergeknüpft, jedoch lediglich als Potential formuliert. Gleichzeitig wird die Ereignishaftigkeit von Benennung und Entstehung bereits hier angedeutet. Der zweite Abschnitt reicht bis zum Ende des ersten typographischen Absatzes und endet mit „[…] tenía que haberse llamado de alguna manera... quién sabe.“ (S. 7) Hier wird ein weiteres Element zur Erfassung des möglichen Schauplatzes eingeführt: das Sehen. Demnach wird es schwierig sein, ‚den‘ Ort zu identifizieren, da er nie gesehen wurde: „De no haberlo visto 259 „[Y] al fin le vino a llamar ‚Rocinante‘, nombre a su parecer, alto sonoro y significativo de lo que había sido cuando fue rocín, antes de lo que ahora era, que era antes y primero de todos los rocines del mundo.“ (Miguel de Cervantes Saavedra: Don Quijote de la Mancha, Madrid: Punto de lectura, 2012, S. 32) 260 „Puesto nombre, y tan a su gusto, a su caballo, quiso ponérsele a sí mismo, y en este pensamiento duró otros ocho días, y al cabo se vino a llamar ‚don Quijote‘ […].“ (ebd.) 261 „Llamábase Aldonza Lorenzo, y a ésta le pareció ser bien darle título de señora de sus pensamientos; y, buscándole nombre que no desdijese mucho del suyo y que tirase y se encaminase al de princesa y gran señora, vino a llamarla ‚Dulcinea del Toboso‘ porque era natural del Toboso: nombre, a su parecer, músico y peregrino y significativo, como todos los demás que a él y a sus cosas había puesto.“ (ebd., S. 33) <?page no="107"?> 107 antes no será fácil identificarlo pues nada le distingue de mil lugares semejantes y apócrifos […].“ Wieder wird so die Existenz in Zweifel gezogen und mit ihr seine Einzigartigkeit („semejantes“) und Legitimität bzw. Echtheit („apócrifos“ 262 ): Es gibt tausend ähnliche und apokryphe Orte. Dennoch wird unmittelbar daran ein möglicher Schauplatz Schritt für Schritt sprachlich evoziert: Ein Dorf („un pueblo“), das weniger als tausend Einwohner hat („donde nunca llegaron a alumbrarse más de mil fuegos“), eine Wegkreuzung („un cruce de caminos“), jedoch wurde nur einer der Wege tatsächlich unter einer Diktatur („en tiempos de una dictadura“) zum Teil asphaltiert („uno de los cuales llegó a asfaltarse en parte“). Der Schauplatz wird räumlich immer weiter aufgefächert: Es gibt eine Brücke mit nur einem Bogen („un puente de piedra de un solo arco“), die über einen ruhigen Fluss führt („sobre un manso río de montaña“), an dessen Ufer Kleidung zum Trocknen ausgelegt wird („cuya corriente casi todo el año es denunciada por unos lienzos blancos y ropas azuladas“). Die Kleidung liegt auf Wiesen („sobre unos estrechos prados“), die von Pappeln umzäunt sind („cercados de chopos“), die wiederum den gesamten Boden durch ihr Wurzelwerk davon abhalten, in einem Erdrutsch den gesamten Fluss abzudecken („que los defienden del asalto de esas laderas de marga rojiza siempre dispuesta a cerrar la herida del agua“). Nachdem also mit dem verneinten Sehen wiederholt die Existenz des Schauplatzes in Frage gestellt wurde, erstellt der Text nach und nach eine Phänomenologie eben jenes Schauplatzes, der jedoch sowohl durch seine geologische Verfasstheit als auch durch seine architektonische Bebauung immer schon einer ständigen existentiellen Bedrohung und dem Verfall, der ruina 263 , ausgesetzt ist. So ist die zivilisatorische Erschließung des Ortes nur halb fertig und ewig unabgeschlossen: Nur einer der Wege ist asphaltiert und auch nur halb, die Brücke hat nur einen einzigen Brückenbogen und diese wenigen infrastrukturellen Schritte sind einer Diktatur zu verdanken. Der Fluss wiederum wird als Wunde bezeichnet, der ständig von Erdrutschen bedroht ist. Die gesamte Beschreibung setzt extrem auf visuelle Aspekte („cuya corriente […] es denunciada por unos lienzos blancos y ropas azuladas“, „marga rojiza“), die die räumliche Ausbreitung und Spezifizierung ermöglichen sollen. Das heißt, mit jeder neuen syntaktischen Einheit gewinnt der Schauplatz eine weitere Eigenschaft und eine weitere räumliche Spezifikation. Trotzdem bleibt der evozierte Schauplatz stets 262 Über diesen Begriff werden darüber hinaus die apokryphischen Bücher aufgerufen und damit ein weiterer Bezug zur Bibel hergestellt. 263 Die ruina ist als Begriff und als Konzept bei Benet von großer Bedeutung, auch im Kontext mit den verheerenden Folgen des Bürgerkriegs. Siehe zum Beispiel Ken Benson: „La memoria en ruinas. Narrativa, memoria y olvido en la posguerra española según la cosmovisión de Juan Benet“, in: Anales - Instituto Ibero-Americano 4 (2001), S. 21-56 oder John Margenot: „El discurso de la ruina. Lo gótico en Volverás a Región“, in: Romance Notes 45: 2 (2005), S. 151-157. <?page no="108"?> 108 unabgeschlossen und unspezifisch. Die visuelle Annäherung setzt sich fort, indem eine Art Totale eingenommen wird: Si se mira de lejos, con la Sierra al fondo, apenas parece nada: de un lado un cementerio y de otro una torre en ruinas, un diálogo de dos ancianos mientras unos chiquillos guerrean con armas de palo. Doch die Totale nimmt, anstatt ein vollständiges Bild des Schauplatzes zu bieten, das eigene Vorhaben sofort wieder zurück („apenas parece nada“). Auch der Blick aus der Ferne vermag kein absolut gültiges Bild zu liefern. Das Gebirge im Hintergrund ist ein weiterer Aspekt, sowie auch die Turmruine 264 und der Friedhof lediglich weitere Punkte der topologisch-phänomenologischen Beschreibung liefern. Gleichzeitig wird durch das Spiel der Kinder der ständig latente Krieg angesprochen. Nachdem diese Totale versucht wurde, nähert sich der Blick langsam wieder zusammen mit einem ‚Besucher‘ - ähnlich dem bereits bekannten viajero - dem Schauplatz, um erneut Details in Augenschein zu nehmen: Y al tiempo que el visitante se acerca, una tapia se vence hacia un imposible desplome que servirá de asilo a rencorosas ortigas e inmortales envases de plástico. Auch diese neuen Aspekte sind lediglich neue Aspekte des Verfalls: Die Gartenmauer als ‚Monument‘ sorgt ebenso wenig wie die Brücke oder der halb geteerte Weg für eine Etablierung einer kartographierbaren Landschaft mit entsprechenden Landmarken. Die architektonischen Konstrukte sorgen nicht für Rekonstruierbarkeit. Stattdessen fällt die tapia langsam aus dem Lot 265 und beherbergt Symptome der Leblosigkeit und der Verlassenheit: Brennnesseln und unverwüstliche Plastikflaschen. Darüber hinaus schreitet eben jener Verfall umso mehr fort, je mehr man sich nähert („al tiempo que“). Die Beschreibung fährt fort: Ein ausgebleichtes Stück Stoff aus früheren Zeiten hängt an einer Akazie („colgado de la rama de una acacia, flamea un paño“), auf einem Grabstein sind die Namen ruhmloser Helden zu lesen („una lápida pregona los nombres de unos héroes sin renombre“), ein Storch wacht über das gesamte Geschehen und bewegt seine Flügel („Tan sólo una cigüeña vigila […] y sacude sus alas sobre una sábana de nácar.“). Dieser lange zweite Abschnitt endet mit einer Straßenmündung und greift das Problem der Benennung wieder auf: „También la casa, al final de la calle que desemboca en un ábside, tenía que haberse llamado de alguna manera... quién sabe.“ Das Beschreiben über dezidiert visuelle Aspekte wird auch in diesen letzten Sätzen weitergeführt: Der Stoff am Baum ist gleichermaßen 264 Vergleiche hierzu den Blick auf Canudos in den Sertões, bei welchem die beiden Kirchtürme stets herausstechen: „No alto da favela. Um olhar sobre Canudos“ (da Cunha: Os Sertões, S. 460-462). 265 Vgl. hierzu in Kapitel IV.3.1 die Anhäufung des Lexems aplomo um die ontologische Verunsicherung der Figur Señor Hervás in En el estado terminologisch zu fassen. <?page no="109"?> 109 farblos („desteñido“). Er flattert („flamea“), doch trägt dieser Ausdruck etymologisch auch die Flamme und deren Lichteffekte in sich. Das Betttuch ist perlmutterfarben („sábana de nácar“). Der Grabstein greift sowohl den zuvor erwähnten Friedhof wieder auf als auch die Krieg spielenden Kinder. Gleichzeitig spiegelt die oxymorontische Struktur des Ausdrucks „los nombres de unos héroes sin renombre“ das eigene poetologische Problem, um das der gesamte Prolog kreist und in das sowohl die erwähnte Straße als auch der zweite Abschnitt münden: die Zweifel an der Möglichkeit einer dauerhaften elección de nombres wie bei Don Quijote, und damit die Zweifel an einer dauerhaften Schöpfung, die den Beginn einer Handlung und einer Erzählung überhaupt erst begründet. Auch das Haus, das am Ende dieses Abschnitts steht - und auch wiederum nicht steht, da es nicht benannt werden kann - ist ein Symptom für die andauernde Unabgeschlossenheit des gesamten Schauplatzes: Das Haus ist eine Apsis, ein nicht abgeschlossener, halbrunder Raum, der seltsam unfertig den Endpunkt der Straße darstellt. Der Beginn des dritten Abschnitts fällt mit dem zweiten Absatz des Prologs zusammen und endet mit „[…] para desaparecer todo en la misma estela.“ (S. 8) Hier wird die Phänomenologie des Schauplatzes nicht weitergeführt. Stattdessen greift der Text in wenigen Sätzen das Problem des Sehens wieder auf und verhandelt dieses: „Pero aquel que lo viera una vez, en cambio, no lo olvidará nunca.“ Hier wird im Irrealis wieder die Möglichkeit des Schauplatzes verhandelt - derjenige, der den Ort sähe, vergäße ihn nie. Was grammatikalisch als irreal verhandelt wird, wird aber allein durch die bloße Erwähnung wieder als Möglichkeit ausgestellt. Das ständige Werden des Schauplatzes stemmt sich gegen die grammatikalische Form des Irrealis, sodass der Text auch an dieser Stelle nicht einfach aufhört: No porque sea un lugar muy particular, ni mucho menos, pues es lo más opuesto a un lugar muy particular, sino porque sin existir ocurrió una vez, y de una vez para siempre. No se prolongará, no tendrá historia, no tiene por qué aguardar mejores momentos. Es toda una ventaja. Apareció por un instante y todos sus caracteres se superpusieron sin transcurso, con sus momentos y sus hechos, y aconteció incluso lo que no aconteció, para desaparecer todo en la misma estela. (ebd.) Durch die Gegenüberstellung von Existenz und Ereignis ist dieser Abschnitt als direkte Fortführung des ersten zu lesen. Das Aufgreifen der ausbleibenden Einzigartigkeit verknüpft ihn mit dem zweiten Abschnitt. Demnach ergibt sich die Einzigartigkeit des lugar nicht durch sein Wesen, sondern durch seine Entstehungsbedingungen: Er existiert nicht, sondern er ereignet sich, ohne zeitliche Ausdehnung, Historie oder Verlauf. In diesem Ereignis überlagern sich alle Figuren und Momente. Es handelt sich um ein bloßes Aufscheinen, das im selben Moment wieder verschwindet. Die Verwendung des nautischen Begriffs der estela ist dabei signifikant: Die Spuren, die etwa ein Boot mit dem Kielwasser hinterlässt, sind nicht von Dauer. Diese Art von <?page no="110"?> 110 Ereignis kann keine dauerhafte Kerbung im Wasser hinterlassen, der „rastro de espuma“ 266 verschwindet sofort wieder, anders als etwa Spuren im Sand oder in der Erde. Der lugar als Ereignis hinterlässt einen glatten Raum. Dabei ist aber auch hier das Ereignis als ein Aufscheinen im visuellen Sinne zu verstehen, es geht um aparecer und desaparecer. Der vierte Abschnitt wiederum führt das evozierende Verfahren des zweiten Abschnitts fort und endet mit „[…] una prenda espera volver a ser utilizada en un futuro por un usuario que la desechó.“ Wieder werden zahlreiche, bereits bekannte Elemente aufgegriffen. Es geht um eine Nahansicht des Hauses. Dieses hat drei Stockwerke („de tres plantas“) und einen Garten, der von einer hohen Mauer umgeben ist („con un jardín cerrado por una alta tapia“). Das Haus ist dauerhaft verriegelt („cuyos huecos permanecen todo el año cerrados“) und auch die holzverkleidete Tür („entablonada la puerta principal“) und die gemauerte Garage („tapiada otra cochera“) vermitteln einen Eindruck des Unzugänglichen und Verschlossenen. Trotzdem dringt manchmal ein Lichtschein der Schweißmaschine aus einer Werkstatt im Inneren hinaus in die Dunkelheit („ocupado el zaguán por un pequeño taller que algunas noches ilumina la encrucijada con los destellos voltaicos de la autógena“). Trotz dieser Nahansicht werden wieder nur einzelne Aspekte des Hauses beschrieben, die keine detaillierte Abbildung desselben zulassen. Die Kreuzung assoziiert das Haus mit dem zuvor evozierten Schauplatz, doch scheinen auch hier wieder nur visuelle Aspekte („ilumina“, „destellos voltaicos“) auf und nie ein vollständiges Gesamtbild. Bevor die Annäherung an das Haus fortgeführt wird, kommt es zu einem unmittelbaren Einschub weiterer flüchtiger estampas: Todo está siempre - en el siempre inexistente - en el mismo sitio: la carrera de un niño que grita al tiempo que alza sus brazos brotará de la descarga con que es abatido el alcalde del lugar y al tiempo que marcha hacia el frente un convoy de camiones un emperador de la antigüedad arroja sus dados sobra la charca sagrada; y en ese momento una mano moteada levanta un siete de espadas. Hier wird ein syntaktischer Zusammenhang zwischen mehreren Bildern hergestellt, der sich weder aus der Semantik der einzelnen Elemente, noch aus einem möglichen - hier inexistenten - Handlungsverlauf ergibt. Die so hergestellte Assoziationskette verdichtet weiterhin das Netz, das den gesamten Prolog umspannt: Wieder taucht ein Kind auf, der Bürgermeister ist der Bürgermeister des lugar. Sowohl das Bild der Erschießung als auch der 266 Vgl. die erste Definition des Diccionario de la lengua española der Real Academia Española (im Folgenden mit DRAE abgekürzt, zitiert wird nach der 22. Auflage, die online unter http: / / dle.rae.es/ ? w=diccionario zugänglich ist [zuletzt konsultiert am 31.03.2016]) zu estela: „‘Señal o rastro de espuma y agua removida que deja tras sí una embarcación u otro cuerpo en movimiento.’“ <?page no="111"?> 111 Konvoi, der sich Richtung Front bewegt, greifen die ständig präsente Kriegsthematik auf. Das Würfelspiel des Kaisers und die Schwert-Sieben verhandeln die Diskrepanz zwischen der fortuna und der prophetischen Vorhersehung. Die Einleitung zu dieser Assoziationskette verneint wieder die dauerhafte Existenz und ist doch gleichzeitig Voraussetzung für die zugleich aufscheinenden und wieder verschwindenden Bilder. Unmittelbar daraufhin setzt wieder die Annäherung an das Haus ein: Ein Fenster in den ewig verschlossenen Mauern öffnet sich („Un solo hueco de la planta media se abre“), eine nicht weiter identifizierbare Gestalt erscheint („una sombra envuelta en una manta“) und beginnt kaum merklich zu singen („canta sin apenas voz un himno irreconocible“). Gerüchten zufolge („se dice“) gibt es immer noch jemanden, der auf Verwandte wartet, die während des Krieges verschwunden sind - so wie ein Kleidungsstück im Schrank darauf wartet, wieder getragen zu werden. Auch der Beginn einer Erzählung (eine mögliche Rückkehrgeschichte der posguerra) bleibt als Gerücht relativiert in den Anfängen und damit als bloße Möglichkeit bestehen. Dieser vierte Abschnitt zeigt, dass das Haus auch in dem Moment, in dem man sich ihm zögerlich nähert und es zumindest ein wenig geöffnet wird, trotzdem nichts aus seinem Inneren preisgibt. Die Figuren, die auftauchen, sind ebenso unspezifisch oder unterbestimmt wie alle anderen beschriebenen Elemente. Es sind äußerliche Phänomene, die stets an der Grenze des Wahrnehmbaren stehen. Der letzte Abschnitt nimmt fast wörtlich den Beginn des Prologs und damit auch die problematische Schöpfung und elección de los nombres erneut auf: Se podía haber llamado En... Au... 267 O de ninguna manera, porque existió solamente en el fluir sin nombres de un soplo alelado, el último en llegar en la procesión de las fechas, sin tiempo para no volver ni recaer sobre él, salido de una vez para siempre de su seno de la excrecencia espúrea sin historia de un niño y una descarga de fusiles concertados en la repetición. Während dieser letzte Satz einen wiederholten Versuch der möglichen Benennung startet, die jedoch wieder in den Anfängen stecken bleibt und die Existenz des Ortes in einem namenlosen, nicht differenzierbaren Fließen aufgehen lässt, geht er unmerklich in eine erneute Assoziationskette über, die bekannte Elemente aufgreift: Der „soplo alelado“ als Ausgangspunkt des „fluir sin nombres“ ist wiederum selbst unwiderruflich dem „seno de la excrecencia espúrea sin historia de un niño y una descarga de fusiles concertados en la repetición“ entsprungen. Sowohl das Kind als auch die Gewehrsalve sind wiederholt auftretende Elemente. Dabei erweist sich dieser letzte Satz als der zum Scheitern verurteilte Versuch, den Ursprung der Assoziationskette einzuholen. Die wiederholt durch „de“ hergestellten Beziehungen torpedieren ihr eigenes Vorhaben, da es dem Leser fast unmöglich 267 Der einzige Ortsname in der fiktiven Welt Regións, der hier als Vorlage in Frage käme, wäre El Auge. <?page no="112"?> 112 ist, das begründende Element zu identifizieren. Der „soplo alelado“ ist wie die „estela“ im dritten Abschnitt eine Spur, die nur glatten Raum und lediglich das Ereignis des sinnlosen Hauchs und die initiierte Kette von ereignishaften estampas hinterlässt. Wie gezeigt werden konnte, setzt sich der Prolog aus einem Abwechseln von autoreflexiver Problematisierung literarischer Schöpfung bzw. Darstellung und von Durchführung des poetologischen Programms der estampas zusammen. Dabei bietet sich der Prolog als Beispiel solcher estampas besonders an, da er auf nur zwei Seiten dieses dichte Netz an Assoziations- und Motivketten 268 bietet. Die estampas erweisen sich in der literarischen Realisierung als an extrem an visueller Wahrnehmung orientierte, flüchtige Darstellungsversuche des Raums. Die sich nach und nach erstellende Phänomenologie des Schauplatzes ist von grundlegender Bedeutung für die Entstehung eines Romans. Es ist der Versuch eines Gründungsakts, der jedoch immer wieder versucht, sich selbst einzuholen und daher auch nichts von anhaltender Dauer begründen kann. Somit gelingt auch die elección de los nombres hier nicht. Denn auch die sprachliche Fixierung ist immer nur als Potential vorhanden. Die Etablierung eines Ordnungsraums, der sich auf lieus stützt und etwa kartierbar wäre, ist nicht möglich. Der Schauplatz, der so entworfen wird, zerfällt bereits im Entstehen - einerseits, weil alles der ruina anheimfällt, andererseits, weil die estampa nie von Dauer ist. Die Literatur wird so zum Medium, das zwar versucht, den „soplo alelado“ einzufangen und festzuhalten, aber trotzdem die Vergeblichkeit dieses Unterfangens immer wieder ausstellt. Darüber hinaus lassen sich viele weitere Aspekte an dem Prolog beobachten, die den spezifischen Umgang mit dem Raum bei Benet ausmachen. Durch die analysierten syntaktischen Verkettungen, die sich jedoch kaum semantisch auflösen lassen, entsteht der Eindruck einer Simultaneität, die das Syntagma zu sprengen sucht. Trotz dieses Eindruckes des „fluir sin nombres“, lassen sich immer wieder einzelne, kurz aufscheinende Bilder ausmachen. Zum besseren Verständnis dieser Ambivalenz von gleichzeitiger Immaterialität und materieller Manifestierung kann erneut der Begriff des Intervalls herangezogen werden: Es 268 Neben den Bezügen innerhalb des Prologs werden auch viele immer wieder im Roman auftauchende Figuren und Motive hier bereits vorgestellt. Das gilt sowohl für das laufende Kind (worauf im nächsten Unterkapitel eingegangen wird) als auch für das Kartenspiel (die sibyllinische Großmutter macht ihre Vorhersehungen mit Hilfe eines Kartenspiels), den Konvoi (siehe z.B. S. 112 und 133), die Hinrichtung des Bürgermeisters (vgl. S. 143), das Haus und die Gartenmauer (vgl. den Romanbeginn und auch das nächste Unterkapitel). <?page no="113"?> 113 [stellt einerseits] eine Unterbrechung im Kontinuum des Datenflusses dar, welche aber andererseits gleichzeitig eine Materialität bildet, die einen bestimmten Raum temporär besetzt. Es ist also gerade die Unterbrechung, welche die Form schafft. 269 In diesem Sinne lässt sich die Entstehung von estampas, von sprachlich evozierten Raumbildern verstehen. Die Wahrnehmung ist ein fortlaufender Prozess, mit dem die Annäherung an den Schauplatz vollzogen wird. Das Ausloten von Ferne und Nähe (zunächst durch ein Nachvollziehen des Territoriums, dann die Fokussierung auf das Haus und die allmähliche Annäherung an dasselbe) ist hier ebenso zu beobachten wie die unausweichliche Perspektive in der Sprache: So ergeben sich immer nur Aspekte der wahrzunehmenden Umgebung, niemals jedoch eine Vorstellung der Vollständigkeit. Benet konzipierte seine raumtheoretischen Überlegungen zur estampa in enger Orientierung am Bildmedium. Dabei geht es jedoch - wie auch in dem Prolog - nie um die Abbildbarkeit des Schauplatzes. Niemand könnte diesen potentiellen Schauplatz skizzieren oder gar kartieren. Die estampa garantiert vielmehr als poetologisches Prinzip das Inkorporieren visueller Wahrnehmung in den Text. Die Flüchtigkeit der im Prolog generierten Bilder bewirkt, dass das Lesen tatsächlich als ‚glättender‘ Akt vollzogen wird. „Re...“ ist kein Schauplatz im Sinne eines instituierten lieu. Der Prolog nähert sich den räumlichen Bedingungen einer fiktiven Welt von genau dem entgegengesetzten poetologischen Extrem des Mapa de Región. Während dieser in Benennungslust schwelgt und sich alle kartographischen Mittel zunutze macht, um Wissen über das dargestellte Territorium wiederum nur als Illusion auszustellen, bleibt der Prolog bereits bei den ersten zwei Buchstaben eines möglichen Namens stehen. Der Schauplatz kehrt mit jedem Versuch wieder, ist jedoch immer wieder anders bzw. fokussiert einen anderen Aspekt. Anstatt Erkenntnis über das Territorium zu ermöglichen, beschreibt der Text eine ereignishafte Topologie, die die Existenz einer in sich geschlossenen Welt verneint. Dies geht einher mit dem Zerfall eines auktorialen Erzählerkonzepts, im welchem der Erzähler sich gottgleich gibt und seine eigene Welt nach eigenem Gutdünken schafft. II.8.2 Unterbrechung des Linearen: die Kurve Die folgende zu untersuchende Textstelle ist zu Beginn des dritten Kapitels und des Mittelteils von Saúl ante Samuel zu finden. Das heißt, auch hier spricht ausschließlich der primo Simón als auto- und intradiegetischer Erzähler. Die Textstelle ist eingebettet in die Reflexion des Cousins über die Umstände der Geburt des jüngeren Bruders. Dabei wird angedeutet, der jüngere Bruder sei ein uneheliches Kind („un bastardo; tu padre, por consiguiente, quedó fuera del asunto“, S. 172). Die Mutter starb demnach nicht lange nach 269 Doetsch: „Intervall“, S. 36. <?page no="114"?> 114 der Geburt des jüngsten Sohns. Der Cousin versucht sich daraufhin an eine Szene zu erinnern, in der der jüngere Bruder, damals noch ein Kleinkind, bei einem Besuch des Vetters freudig auf diesen zuläuft 270 und so das zukünftige besondere Verhältnis zwischen den beiden, in Konfrontation mit dem älteren Bruder 271 , vorwegnehmen wird. Dabei unternimmt der Cousin als Erzähler wieder eine räumliche Situierung der zu erinnernden Situation und greift dabei auf mittlerweile bekannte Verfahren und Motive zurück. Die relevante Textstelle zieht sich erneut über fast fünf Seiten (S. 173-177), wobei der Großteil von nur einem einzigen Satz eingenommen wird. Dieser wiederum ist, wie so oft, von unzähligen parataktischen und hypotaktischen Einschüben in Gedankenstrichen und Klammern unterbrochen. Diese Einschübe gehen zum Teil bis zur zweiten und dritten Ebene, sodass die Identifizierung des Hauptsatzes fast unmöglich wird. Die einleitenden Worte des Satzes unternehmen mit der wuchtigen Ulme den Versuch, der Erinnerung einen festen Ort und Anhaltspunkt zu geben: Había un corpulento olmo con una desvanecida capa de cal que rodeaba su cintura, situado entre la tapia de dos colores […] y el borde del camino, cuyas raíces obstruían la cuneta […] como para dar a entender que el fin de aquélla [sic! ] no era tanto guiar las aguas entre el camino y la finca cuanto venir a limpiar, refrescar y poner al descubierto el poderoso y nubio músculo subterráneo […] expuesto ante una muchedumbre de chiquillos […] como único ejemplar de una invicta raza […] y cuyo ramaje por un lado abría un amplio, brioso y delicado baldaquino sobre la tapia […] y por el otro […]. (S. 173f.) 272 Tatsächlich ist nicht in Erfahrung zu bringen, wozu das Geäst der Ulme ‚andererseits‘ („y por el otro“) dient. Die konkreten Informationen, die sich bis dahin aus dem Text ziehen lassen, beschränken sich auf das rudimentäre Inventar einer Landschaftsbeschreibung (die Ulme, eine Gartenmauer, ein Weg und ein Weggraben). In den syntaktisch untergeordneten Elementen ist weiterhin von einem Gut („finca“), dem Wildwuchs an der Gartenmauer („violentos matojos y ortigas“), einer Kröte („aquel fiel sapo“) und den freigelegten Wurzeln der Ulme („nubio músculo subterráneo“), die weiter beschrieben werden, die Rede. All diese Elemente hängen jedoch syntaktisch von dem hauptsächlichen Anliegen ab, Position und ‚Wesen‘ der Ulme zu bestimmen. Dieses Anliegen muss durch die konsequente Überforderung 270 „Cómo no voy a recordar, innumerables veces a partir de ahora, el momento en que te encontré en el camino de tu casa, a la vuelta del paseo vespertino, a los pocos meses de morir tu madre.“ (S. 172) 271 Vgl. hierzu S. 177ff oder auch die Analyse der Aufstellung für das Familienfoto. 272 Bei dem Zitat ist zu beachten, dass hier bereits einige sehr lange Einschübe ausgelassen wurden, um ein einigermaßen nachvollziehbares syntaktisches Gefüge zu erhalten. Die starke Verkürzung des Originaltextes wird bei mehreren Zitaten zugunsten einer klaren Argumentation in Kauf genommen. Die Zitate können in keiner Weise die Lektüre des Originaltextes ersetzen. <?page no="115"?> 115 des Lesers und die phänomenologische Beschreibungspraxis scheitern. Diese Beschreibung stoppt merkwürdigerweise mit „por el otro“, ganz so als nähme sie nach einem neuen Gedankenstrich einen neuen Anlauf: […] - pues el camino corría en paralelo a la tapia hasta el quiebro de ésta y a partir de allí una amplía curva (engañosa curva que con más autoridad que el sol inauguraba y clausuraba nuestras estaciones, que engendró y disipó tantos equívocos y abrió nuestra niñez al misterio y la espera, que nos enseñó la doblez de la distancia y nos forjó en el auto de las desapariciones, que detenía a su antojo al visitante y sobre la que se arrojarían las primeras sombras de un crepúsculo de septiembre huidizo y fatídico, que fijó centenares de miradas ansiosas […] y sólo recibió inquietud) se resolvía en un cambio rasante para enlazar con la recta que atravesaba la chopera y el río, por el puente de sillería, para remontar a continuación las colinas de la otra ribera con una cuesta, único punto de la carretera que se divisaba desde la casa tras el hiato provocado por la curva […]. (S. 174f.) 273 Hier wird neben der Positionierung der Ulme ein zweiter Versuch gestartet, einen Ordnungsraum über geometrische Angaben zu schaffen. Die Parallelität von Weg und Gartenmauer trägt jedoch nicht zur besseren Orientierung bei, da sie vom Hiatus („hiato“) der Kurve gebeugt bzw. gekrümmt („quiebro“) wird. Zwischen den Parallelen von Weg bzw. Gartenmauer und der Geraden („recta“) schiebt sich die Kurve ein, die dafür sorgt, dass genau jenes geometrische Orientierungsnetz ausbleibt („único punto de la carretera que se divisaba desde la casa tras el hiato provocado por la curva“). Die Kurve wird immens semantisch aufgeladen, indem sie sich einerseits immer wieder in die Weg- und Landschaftsbeschreibung einschiebt und andererseits vom Cousin selbst, also von der Erzählerstimme, mit verschiedenen Attributen versehen wird. Die Kurve ist demnach dafür verantwortlich, dass kein ungestörter Blick vom Haus aus die komplette Landschaft ‚ausspähen‘ kann, weswegen die Kurve das Ungewisse und das Geheimnisvolle verantwortet („engendró y disipó tantos equívocos y abrió nuestra niñez al misterio y la espera“). Sie lässt die Kinder nicht sehen, was aus der Ferne kommt und wird somit zum Fixpunkt der Wartenden. Gleichzeitig ist sie ein Symbol der Verschwundenen bzw. nicht Wiedergekehrten aus dem Krieg („nos forjó en el auto de las desapariciones“). So kommt ihr nicht nur eine räumlichambige Gestaltungsmacht („la doblez de la distancia“) zu, sondern auch eine zeitlich-strukturierende Funktion. Die Kurve und nicht die Sonne ist es, die für die Jahreszeiten zuständig ist und das Warten einteilt („con más autoridad que el sol inauguraba y clausuraba nuestras estaciones“; „sobre la que se arrojarían las primeras sombras de un crepúsculo de septiembre huidizo y fatídico“). Sie wird zum Fluchtpunkt des Ungewissen und besitzt damit 273 Aus Platzgründen wird hier nicht die komplette Textstelle am Stück zitiert. Es sei darauf verwiesen, dass das Lexem curva auf den Seiten 174 bis 177 allein achtmal auftaucht und dass es also zu einer auffälligen Anhäufung kommt. <?page no="116"?> 116 explizit die formende Macht der Fiktion: „[…] [N]os forjó en el auto de las desapariciones“. Forjar heißt hier nicht nur ‚schmieden‘ oder ‚hämmern‘, sondern hat dezidiert auch Bedeutungsaspekte des Fingierens, des fiktionalen Schaffens 274 . Die Kurve schiebt sich in die Erinnerung und setzt ihr die Bühne der Fiktion gegenüber, in welchem die Beteiligten (hier der primo und der jüngere Bruder) zu Darstellern werden. Sie erschafft diese Darsteller überhaupt erst („nos forjó“) und beeinflusst nach ihrem Gutdünken das ‚Geschehen‘ („detenía a su antojo al visitante“). Eine geometrische Figur wird somit zum Ausgangspunkt eines fiktionalen, raum- und wahrnehmungsbasierten („fijó centenares de miradas ansiosas“) Erzählens, der sich als Gegenpol eines vermeintlich faktenbasierten, aber immer schon problematisierten Erinnerns versteht. Die Täuschung und das Ungewisse ist der „engañosa curva“ dabei von Beginn an inhärent. Die Kurve verstanden als Hiat, d.h. als Unterbrechung eines Kontinuums, ist aber auch Auslöser für die Entstehung von estampas, wie anhand des Prologs zuvor beschrieben wurde. Im Anschluss an den soeben zitierten Textabschnitt entsteht eine solche Assoziationskette, an deren Beginn die Kurve steht: Von ihr ausgehend ruft der Cousin nicht nur mit der biblischen Genealogie Kains und der Vererbung des Kainsmals 275 den allerersten Bruderkampf und dessen systematische Übertragung auf spätere Generationen und Konflikte auf, sondern auch das im Roman mehrmals auftauchende Bild der Erschießung des Bürgermeisters 276 , einen Fahrradunfall in der Kindheit 277 und die jugendliche emotionale und körperliche Verunsicherung am Ausgang der Kindheit 278 . Dabei sind all diese estampas syntaktisch gesehen Attribute der Kurve. Die räumliche Darstellung wird unter den Vorzeichen einer trügerischen Erinnerung und eines Verwirrung stiftenden parcours fortgeführt. Dabei scheint die Kurve selbst im Nichts zu verschwinden bzw. keinen Anschlusspunkt zu haben. Zumindest kann die Perspektive, die der Erzähler in seiner Erinnerung einnimmt, ihren Verlauf ab einem bestimmten Punkt nicht mehr mit dem Blick verfolgen („parecía desembocar en el vacío a causa de su escaso radio y la elevación del campo de trigo más allá de los olmos“, S. 175f.). Die Ulmen, nun auf einmal im Plural, nehmen einerseits die Figur der 274 Vgl. die fünfte Bedeutung von forjar im DRAE: „‘Inventar, fingir, fabricar’“. 275 „[…] [S]in duda provocó el primer - y, ay, profético generador de toda una raza de idénticos homúnculos, penates de las esperas y amorini de la nostalgia, señalados para siempre como los Enoc y los Irad y los Lamec por la maldición del primero grabada al fuego en el sobrecejo de la ansiedad - error de parecido […].“ (S. 175) 276 „[…] [P]or donde avanzó el alcalde en batín, flanqueado por unos cuantos hombres armados que lo sujetaban por muñecas y codos […].“ 277 „[C]ausante de la primera caída de bicicleta […].“ 278 „[C]ómplice de una decepción […] tras una ausencia de cinco años de instantáneo crecimiento que al estirar los huesos magnificó los residuos de una edad recortada a lo largo del perfil de la niñez […].“ <?page no="117"?> 117 Kurve auf („con la curvatura de sus ramas“, S. 176) und tragen andererseits die ruinösen Spuren des Krieges an sich („ninguno de los cuales respetó la guerra civil, demasiado cruel para dejarle el consuelo de sus vástagos y demasiado ruin como para acabar con él“). Darüber hinaus zeigt sich die Erzählerstimme verunsichert über die tatsächliche Anzahl der Ulmen: [O] serían seis u ocho o veinte, incertidumbre que demuestra hasta qué punto la memoria es celosa archivadora de los datos de los sentidos que han merecido su resguardo y de qué manera confunde, engaña y defrauda, pierde y hasta que chantajea con los números y las abstracciones […]. (S. 176) Die Ulme, die zuvor in ihrer wuchtigen Präsenz als Garant eines lieu bemüht wurde, wird nun zum Symptom des Krieges und der Unmöglichkeit, exakt zu erinnern. Noch bevor die Erzählerstimme selbst die eigene Unsicherheit über die Anzahl der Bäume thematisiert, herrscht diese Unsicherheit beim Leser, da der Text kommentarlos von einer Ulme zu mehreren übergeht und auch in Kauf nimmt, dass so grammatikalische Inkongruenzen 279 entstehen. Die Erinnerung stellt sich als trügerisches Medium dar, das auf die „incertidumbre“ des immer wieder eingeforderten fiktionalen Erzählens angewiesen ist. Die Beschreibung hangelt sich an dem bereits erwähnten rudimentären Landschaftsinventar entlang und lässt aus den zweifelhaften Ulmen einen kirchenähnlichen Sakralbau entstehen: [Los olmos] flanqueaban la tapia hasta el quiebro donde se separaba del camino para deslindar la finca del campo de trigo vecino, formaba [sic! ] una nave columnaria y ojival, cubierta con el más delicado alfarje donde destacaba intacto el fugitivo y celeste azul del Islam, cerrada al fondo por el vitral medieval de la chopera, abierta en dos por el tajo de la carretera […]. (ebd., Hervorhebungen von mir.) Die Ulmen bilden als Säulen ein spitzbogiges Kirchenschiff und mit ihrem Blätterwerk eine aufwändig getäfelte Decke, die jedoch den Himmel durchblitzen lässt. Das Ende dieses Schiffes wird durch den Pappelhain gebildet, der als mittelalterliches Kirchenfenster dient. Dieser Sakralbau ist vor allen Dingen ein offener Raum. Der massive Charakter eines Kirchschiffes wird durch das durchlässige ‚Baumaterial‘ der von vornherein zweifelhaften Ulmen ständig durchbrochen. Sowohl die Wände, die rein aus Säulen bestehen, wie auch die Decke, die ganz ‚unchristlich‘ das Blau des Islam 280 durchscheinen lässt und das Kirchenfenster der Pappeln, das wiederum durch die 279 Während die „curvatura de sus ramas“, die „profundas estrías de su tronco“ und die Formulierung „formaba una nave columnaria y ojival“ eher vermuten lässt, dass von einem Baum die Rede ist, beziehen sich Verben wie „flanqueaban la tapia“ auf eine, wenn auch ungewisse Mehrzahl von Ulmen. 280 Blau symbolisiert im Islam, zum Beispiel in den Kuppeln von Moscheen, das Himmelszelt. Darüber hinaus kann Blau oder Blau-Türkis Unheil oder auch die Abkehr des ‚bösen Blicks‘ symbolisieren. Vgl. den Eintrag „Farben“ in Ralf Elger/ Friederike Stolleis: <?page no="118"?> 118 Straße in zwei geschnitten wird, bilden einen vollkommen durchlässigen und offenen Raum. Obwohl durch das verwendete Vokabular mit der Möglichkeit gespielt wird, lässt sich nicht von einem massiven Bau sprechen. Das Schiff aus Ulmen ist vielmehr direktional am Verlauf der „carretera“ ausgerichtet und lenkt den Blick auf diese Straße, die den Pappelhain teilt und doch im Nichts verläuft. Der parcours entlang der Straße kommt immer wieder auf die Kurve zurück, deren fortlaufende Attribuierung sich direkt an die Beschreibung des Kirchenschiffs anschließt. Die Erzählerstimme nimmt also die Reflexion über die Kurve wieder auf. Die Übertragung der räumlichen Figur auf ein zeitliches Prinzip wird konkretisiert: „insidosa [sic! ], intencionada y caleidoscópica curva que contagió de curvatura al tiempo“ (ebd.) 281 . Die Kurve steckt die Zeit regelrecht mit ihrer Krümmung an und sorgt dafür, dass auch die Zeit nicht mehr linear und eindeutig verläuft. Der beabsichtige Täuschungscharakter der Kurve wird durch die Adjektive unterstrichen, wobei die Anspielung auf ein Kaleidoskop erneut den visuellen und wahrnehmungsbasierten Aspekt der Täuschung hervorhebt. Es kann um kein anderweitig intellektuell generiertes Wissen gehen, sondern nur um die Erfahrung und die Erinnerung, die auf Wahrnehmung basieren: [La curva es] depositaria de tantos enigmas que para la razón de representación y contenido de tal manera carecen que niega la posibilidad de existencia a la trama que los urde […]. (ebd.) Dieses barocke Hyperbaton 282 greift die durch die Kurve verweigerte rationale Erkenntnis auf. Sie setzt dem Verstand den Mangel an Mimesis und an substantiellem Inhalt des Geheimnisvollen entgegen. Mit der „trama“ und Kleines Islam-Lexikon. Geschichte - Alltag Kultur, München: Beck, 2001, im Internet verfügbar in der Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, 2008: http: / / www.bpb.de/ nachschlagen/ lexika/ islam-lexikon/ 21404/ farben [zuletzt konsultiert am 31.03.2016]. 281 Mit diesen Attributen wird eine Klammer geöffnet, die nicht wieder geschlossen wird. Ob dies beabsichtigt oder ein Druckfehler ist, lässt sich aus meiner Sicht nicht endgültig entscheiden. Es hat aber syntaktische Auswirkungen. Es lässt sich nicht genau auflösen ob „[…] por donde entraron en escena […]“ (S. 176 unten) und die folgenden Nebensätze sich auf die Kurve oder auf die „nave columnaria“ beziehen. Da später von Schatten gesprochen wird, gehe ich davon aus, dass es sich bei diesem Schauplatz um die „nave columnaria“ (wo der Schatten durch die Blätter der Ulmen entsteht) und nicht um die Kurve handelt. Dies ist aus semantischen Gründen stringenter, denn die Kurve wird in dem gesamten Textabschnitt nicht als Schauplatz verstanden, an dem tatsächlich etwas stattfindet, sondern als grundlegende Figur, die sowohl poetologischen als auch räumlich-gestalterischen und epistemologischen Charakter hat. 282 Siehe zur Faszination Benets bezüglich der Möglichkeiten des Hyperbatons Juan Benet: „Consideraciones sobre el hipérbaton“, in: ders.: Ensayos des incertidumbre, Barcelona: Lumen, 2011, S. 420-435. <?page no="119"?> 119 dem Verb urdir, also dem Zetteln 283 , wird die traditionsreiche Texturmetaphorik aufgerufen, die den Text wörtlich nimmt und schon immer als Gewebe versteht. Gleichzeitig steht die „trama“ als Synonym für den argumento, der wenig später genannt wird 284 , also für die lineare Handlung. Die „enigmas“ sind also dezidiert textuelle Rätsel, wobei jedoch der Schuss („trama“), also der Faden, der normalerweise die Längsfäden durchkreuzt 285 , diese selbst einholt: „la trama que los urde“. Das Gewebe der Rätsel will kein echtes Gewebe sein, denn es erfüllt die Grundvoraussetzungen für ein solches nicht. Genau von jenen Grundeigenschaften von vertikal und horizontal verlaufenden Elementen ausgehend, definieren Deleuze und Guattari das Gewebe als gekerbten Raum. 286 Dieses Gewebe bzw. dieser gekerbte Raum kann bei Benet überhaupt nicht entstehen, da die Durchkreuzung von horizontalen und vertikalen Fäden nicht existiert. Darüber hinaus wird die Existenz der „trama“ durch die Kurve vornherein angezweifelt. Die Rätsel der Kurve gehen also weder in einem stabilen, orientierten, textuellen Gewebe auf noch in der Linearität der „trama“, die ihre eigenen Voraussetzungen einholt. Diese Art von Text zielt nicht auf einen gekerbten Raum ab, sondern auf dessen Auflösung und auf die ständige Brechung bzw. Unterbrechung der Linearität. Es gibt kein lesbares Textgewebe wie bei Certeaus Blick vom World Trade Center. [La curva,] tan sólo sensible para una aprensión sin voz incapaz de emparentar los numerosos trastornos y señales que le llegaron a través de un éter sin lógica, actuario de un poder sin carne ni casi fuerza, que tantas veces medía pasos, que en tantas ocasiones me hizo perder la delantera y que de tal manera llevo encima que bien puedo decir que aquella curva es mía y sólo mía (o bien yo soy aquella curva) […]. (ebd.) 287 283 Zetteln ist der deutsche Fachbegriff für urdir. Zettel oder Kette bezeichnet in der Textilindustrie die „‚Gesamtheit der in Längsrichtung verlaufenden Fäden in einem Gewebe oder der in Längsrichtung aufgespannten Fäden auf einem Webstuhl‘“. Vgl. den Eintrag in der Online-Ausgabe des Duden zu Kette: http: / / www.duden.de/ rechtschreibung/ Kette#Bedeutung3 [zuletzt konsultiert am 31.03.2016]. 284 „[La nave columnaria es] donde tuvieron lugar las innumerables y siempre definitivas despedidas que constituyen la sustancia de este sencillo argumento […].“ (S. 176f.) 285 Vgl. die erste Bedeutung für trama im DRAE: „‘Conjunto de hilos que, cruzados y enlazados con los de la urdimbre, forman una tela’“. Mit trama und urdimbre werden also die beiden sich kreuzenden Fäden eines Gewebes bezeichnet, und sind somit keineswegs synonym, sondern bezeichnen eigentlich zwei entgegengesetzte Verläufe. 286 „Ein Gewebe hat im Prinzip eine bestimmte Anzahl von Eigenschaften, durch die es als gekerbter Raum definiert werden kann. Zunächst wird es durch zwei parallele Elemente gebildet: im einfachsten Fall sind die einen vertikal und die anderen horizontal, und beide sind miteinander verflochten, sie überschneiden und überkreuzen sich rechtwinklig.“ (Deleuze/ Guattari: Tausend Plateaus, S. 658) Demgegenüber stellen Deleuze und Guattari den glatten Raum des Filzes. 287 Gerade an dieser Textstelle ist zu beobachten, wie konsequent Benets Texte als opake Textgebilde ein tatsächliches Verstehen verhindern. Eine stringente ‚Übersetzung‘ der <?page no="120"?> 120 Bei diesen weiteren Schritten der Attribuierung geht es einerseits um die Problematik der Wahrnehmbarkeit und andererseits um die Aneignung der Kurve bis zur Identifikation mit derselben durch die Erzählerstimme des primo. Die Kurve ist demnach nur unter den Vorzeichen der Ausschaltung von Logik („un éter sin lógica“) und von Materialität („una aprensión sin voz“, „un poder sin carne ni casi fuerza“) wahrnehmbar („tan sólo sensible“). Sie entrückt als intellektuell fassbare und entzifferbare („incapaz de emparentar los numerosos trastornos y señales“) Figur immer weiter. Sie entzieht sich konsequent dem Zugriff und ist trotzdem für den Erzähler stets präsent. Er eignet sich die Kurve an („aquella curva es mía y sólo mía“), bis hin zur Identifikation („o bien yo soy aquella curva“). Somit identifiziert sich die figurale Erzählinstanz mit einem Prinzip bzw. einer Figur, die eine räumlich-gestalterische (die konkrete Kurve als Unterbrechung einer geraden Straße), eine poetologische (Kurve als Hiat in einer linearen Erzählung, die estampas initiiert) und eine epistemologische (die Kurve verhindert konsequent ein auf der ratio basierendes Wissen) Dimension hat. In diesem extremen Verdichtungsmoment kommt es zu einem Zusammenfall von Erzählbzw. Vermittlungsinstanz mit den Bedingungen bzw. Voraussetzungen des Textes. Das Was, das Wie und das Von-Wem der Erzählung sind nicht mehr zu trennen. Der Text zeigt sich dem Leser als ein opakes Objekt und entzieht sich dem Verstehen. Nach dieser Aneignung der Kurve durch den Erzähler geht der Text wieder zum Schauplatz des oben beschriebenen Kirchenschiffes aus Ulmen zurück: [La nave columnaria es] donde entraron en escena todos los caracteres de la comedia - desde tus padres y allegados hasta las tropas que vencieron al ejército republicano - y donde tuvieron lugar las innumerables y siempre definitivas despedidas que constituyen la sustancia de este sencillo argumento, a cuya sombra me detuve cuando al poco llegar a la casa para la temporada de vacaciones salí de nuevo de ella tan pronto como me dijeron que los dos hermanos estabais con el ama jugando en la chopera, a la orilla del río. (S. 176f.) Hier kommt der sich über fast fünf Seiten erstreckende Satz zum Ende. An der Straße, deren Verlauf sich nicht eindeutig mit dem Blick nachvollziehen lässt und die im Nichts verschwindet, entsteht mit dem nicht abgeschlossenen Raum der Ulmen eine Bühne, über welche alle Figuren des Dramas auftreten. Das Drama ist nicht nur der Krieg als Tragödie, sondern die gesamte ‚Handlung‘ 288 des Romans. Denn der durch die Ulmen und Pappeln dürftig begrenzte Bühnenraum ist der am weitesten entfernte Punkt, der noch vom hier verwendeten Metaphorik scheint mir, insbesondere im Zusammenspiel mit der komplexen Syntax, nicht möglich zu sein. 288 Tatsächlich fällt es auch bei Saul ante Samuel wie bei so vielen Texten Benets schwer, von einer Handlung im aristotelischen Sinne zu sprechen. <?page no="121"?> 121 Haus aus erblickt werden kann. Das heißt, die Formulierung „entraron en escena“ darf insofern wörtlich genommen werden, als dass das Haus ein Beobachtungsstandpunkt ist, von welchem aus die Weite der Landschaft ausgespäht wird. Von hier aus treten die Figuren tatsächlich als aller erstes in jenem Kirchenschiff aus Ulmen und Pappeln auf. Dieser Bühnenraum ist auch Schauplatz all der Abschiede, die dem Erzähler zufolge den Kern des „argumento“ ausmachen. Er steht selbst hier, als er - und hier wird der Bezug zur rahmenden Szene wiederaufgenommen - in den Ferien zu Besuch kommt und die beiden Brüder aufsucht. Tatsächlich tritt in den folgenden, nun sehr kurzen Sätzen die Handlung ein, an die sich der Cousin die ganze Zeit zu erinnern versucht: Tu hermano venía detrás […]. El ama te llevaba de la mano […]. Cuando al rebasar el centro de la curva me divisaste bajo la sombra del olmo, te desprendiste de un tirón de la mano que te sujetaba y lanzando un grito echaste a correr con tal ímpetu que la capucha cayó al camino de donde la recogió el ama, ignorante todavía de la razón de tu carrera. (S. 177) In dem Moment, in welchem es dem Erzähler gelingt, die rudimentären Bestandteile der Erinnerung - der jüngere Bruder sieht den Cousin und rennt auf ihn zu - wiederzugeben, gelingt es ihm auch, diese in tatsächlich erzählende und nicht überbordende syntaktische Einheiten zu fassen. Die Kurve und die Ulme - als Lexeme die einzigen beiden Orientierungspunkte in dem sich verlierenden syntaktischen Gebilde - werden über die Standpunkte von jüngerem Bruder und Cousin durch das gegenseitige Sich-Sehen in Beziehung gesetzt. Das Kleinkind kann den älteren Vetter erst erkennen, wenn es den Scheitelpunkt der Kurve überschritten hat - das heißt auch hier ist die Kurve Bedingung und Ausgangspunkt des Geschehens. In direkter Anknüpfung an die Analyseergebnisse des Prologs von Saúl ante Samuel lässt sich Folgendes festhalten: Raum ist nicht nur Bedingung für die Schöpfung einer Welt, sondern, wie sich viel stärker in der Figur der Kurve manifestiert, auch Bedingung eines bestimmten Erzählens. Die Kurve sorgt nicht nur für eine Unterbrechung der räumlichen Wahrnehmung, sondern ebenso für eine Unterbrechung der Erinnerung, des Erzählens und letztendlich des rationalen Verstehens. Ein sich auf der Grundlage der Kurve konstituierendes Erzählen korreliert mit einer neuen Form des Erinnerns. Erzählen und Erinnern machen ihren ‚Mangel‘ - die ausbleibende Orientierung an ‚Fakten‘ - immer schon bewusst. Denn realistisch, objektiv und faktenbasiert wird nie erinnert und erzählt werden können. Das Ergebnis eines solchen Erzählakts stemmt sich in seiner sprachlichen Gestalt gegen ein rationales Verstehen und setzt vielmehr auf ein prozessuales Erfahren einzelner Bilder. Der Text als Objekt, das der Leser teilnahmslos vor sich stellt, ist opak - der Text lässt keinen analytischen Einblick in ein gekerbtes ‚Gewebe‘ zu. Der Text, der sich dem Leser in seiner Erfahrbarkeit anbietet, ist Auslöser für multiple flüchtige Wahrnehmungs- und Erinnerungsmöglichkeiten. <?page no="123"?> 123 III Krieg Benson bezeichnet zutreffenderweise „la proliferación de la guerra como núcleo temático recurrente“ 289 in Benets Werk. Krieg in Form des spanischen Bürgerkriegs ist ein omnipräsentes Thema in seinen Schriften. Benson ordnet weiterhin die Kriegsthematik als „emblema de la tensión subyacente en la condición humana“ 290 ein. Von dieser Interpretation soll hier Abstand genommen werden. Krieg, so ist die These, ist kein bloßes Motiv, sondern wird gleichermaßen theoretisiert sowie von seinem konkreten ideologisch-historischen Hintergrund losgelöst. Insbesondere die Essays, in welchen sich Benet aus militärhistorischer und -theoretischer Sicht mit dem spanischen Bürgerkrieg auseinandersetzt, zeigen, dass es jenseits der konkreten Ideologien der dos Españas um das Phänomen des Kriegs als solches geht. Die „tensión“, von der Benson spricht und die sich aus der Gegenüberstellung zweier Kräfte ergibt, stellt die Antriebskraft eines Prozesses dar, der narrativ umgesetzt wird. Krieg wird vom Gegenstand der Darstellung in der histoire zur wesentlichen narrativen Dynamik des discours und setzt desintegrierende Kräfte in der Erzählung frei. Neben Benson behandelt auch Nilsson in seiner Dissertation Der ironische Diskurs im Werk Juan Benets 291 den Krieg und untersucht den ‚militärischen Diskurs‘ in Benets Schriften. Eine lohnenswerte Lektüre im Zusammenhang mit Benets Essays zur guerra civil sind die Arbeiten von Adriana Minardi, die sich mit dem Verhältnis von Ideologie, Geschichte, Diskurs und Gedächtnis bzw. Erinnerung in Benets Werk auseinandersetzen. 292 Minardis Arbeiten finden jedoch in der vorliegenden Arbeit wenig Beachtung, da sie sich dem Thema aus einer diskursanalytischen Perspektive mit einem Fokus auf die Essays Benet nähert. Dies ist ein vollkommen anderer Ansatz, als der, der hier verfolgt wird. 289 Ken Benson: „El motivo de la guerra en el discurso narrativo de Juan Benet“, in: Antonio Vilanova (Hg.): Actas del X congreso de la Asociación Internacional de Hispanistas/ 2, Barcelona: PPU, 1992, S. 1681-1690, hier S. 1681. 290 Ebd. 291 Gunnar Nilsson: Der ironische Diskurs im Werk Juan Benets, Köln: Universität zu Köln, 2003. 292 Siehe die Aufsätze Adriana Minardi: „Las tramas de la historia entre la memoria, la utpoía y la guerra: Herrumbrosas lanzas de Juan Benet y El laberinto mágico de Max Aub“, in: Pierra Civil/ Françoise Crémoux (Hgs.): Actas del XVI congreso de la Asociación Internacional de Hispanistas, Madrid/ Frankfurt am Main: Iberoamericana, 2010, (Artikel auf CD-ROM), Adriana Minardi: „Hacer la historia: el sentido de la práctica discursiva en Qué fue la guerra civil de Juan Benet. La construcción del intelectual“, in: Espéculo 32 (2006) und den jüngsten Band Adriana Minardi: Historia, memoria, discurso. Variaciones sobre algunos ensayos benetianos, Madrid: Pliegos, 2012. <?page no="124"?> 124 Im Folgenden wird mit Clausewitz’ Vom Kriege 293 in Kapitel III.1 zunächst eine theoretische Grundlage für das Verständnis von Krieg geschaffen. Der preußische General und Militärtheoretiker verfasste sein Hauptwerk Vom Kriege, nachdem er selbst an den napoleonischen Kriegen teilgenommen hatte. Bei dieser Abhandlung ist vor allen Dingen der Realbezug einer jeden Kriegstheorie zu unterstreichen. Vom Kriege stellt heute noch, knapp zweihundert Jahre nach seiner Entstehung, ein wichtiges militärtheoretisches Referenzwerk dar. Der spanische Bürgerkrieg wurde nach Benets Interpretation anachronistisch nach Vorgaben der ‚alten‘ Kriege im 18. und 19. Jahrhundert geführt und kann keineswegs als Beispiel für eine guerra moderna gelten. Gerade deswegen ist eine theoretische Grundlegung mit Clausewitz von Interesse. Darüber hinaus wird sich zeigen, dass sowohl die Essays als auch häufig das Erzählerverhalten in den Romanen im Kontext des Bürgerkriegs ohne die entsprechenden militärtheoretischen Kenntnisse nur schwer nachvollziehbar sind. Im zweiten Unterkapitel werden Benets militärhistorische Thesen zum Bürgerkrieg nachvollzogen. Dabei kann eine historische Beurteilung 294 derselben nicht stattfinden, dafür ist eine literaturwissenschaftliche Arbeit nicht der adäquate Kontext. Die Analyse des Krieges aus theoretisch-essayistischer Sicht rückt vielmehr zwei zentrale Punkte in den Fokus: die Zurückweisung einer ideologischen Interpretation bzw. Instrumentalisierung und die Profilierung von Krieg sowohl als terminologisch-theoretisches Gerüst als auch Prozess, der auf dem dynamischen Verhältnis von Strategie und Taktik und zwei sich gegenüberstehenden Kräften beruht. In einem dritten Schritt wird in den Kapiteln III.3 und III.4 mit Certeau bzw. Deleuze und Guattari die Profilierung dessen, was Krieg konstituiert, ausgeweitet. Certeau lässt über das Einbinden der Begriffe Strategie und Taktik in seine Theorie der Raumpraxis eine unmittelbare Anknüpfung an die erarbeiteten raumtheoretischen Überlegungen zu. Die Kriegsmaschine nach Deleuze und Guattari kann kontrastiv zu Clausewitz’ Konzept von Krieg verstanden werden. Sie ist dem Staat als solches entgegengesetzt und zersetzt ihn gleichermaßen. Dabei wird zum einen der Fokus auf das Prozessuale des Krieges gelenkt, zum anderen lässt auch die Kriegsmaschine eine direkte Koppelung an die Re- und Deterritorialisierungsbewegungen des Glatten und des Gekerbten zu. In Kapitel III.5 wird gezeigt, wie das theoretisch fundierte Aufspalten in zwei Fronten in den literarischen 293 Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Ungekürzte Gesamtausgabe. 1.-8. Buch, Friedberg: Schlosser, 2007. 294 Die Tatsache, dass Benets Essays zum Bürgerkrieg durchaus (wieder) auf Interesse in den Geschichtswissenschaften stoßen, belegen die beiden relativ jungen Anthologien Juan Benet: ¿Qué fue la guerra civil? y otros escritos sobre la contienda, hg. von Jorge Reverte, Barcelona: RBA, 2011 und Juan Benet: La sombra de la guerra. Escritos sobre la guerra civil española, hg. von Gabriel Jackson, Madrid: Taurus, 1999. Sie versammeln beide die wichtigsten Texte Benets zum Thema und sind zum Beispiel in München in der historischen und nicht in der philologischen Fachbibliothek verfügbar. <?page no="125"?> 125 Texten zum automatisieren Prinzip wird und diese Aufspaltung nicht bei der ideologisch begründeten Gegenüberstellung von Republikanern und Nationalisten Halt macht. Kapitel III.6 analysiert mit einem Zweikampf in Herrumbrosas lanzas die narratologische Ausformulierung dessen, was nach Clausewitz den Krieg im Kern ausmacht: die direkte Konfrontation zweier Kämpfender. Kapitel III.7 untersucht am Beispiel der Darstellung des Bürgerkrieges in Volverás a Región, wie der Krieg zur Bedingung des Erzählprozesses wird, der nicht darauf aus ist, den Krieg als Sujet darzustellen, sondern den Krieg über das Erzählen als endlose Dynamik erfahrbar zu machen. III.1 Strategie und Taktik: Kriegstheorie nach Clausewitz Als Grundlage für eine theoretische Annäherung an das Thema Krieg dient Carl von Clausewitz’ Vom Kriege. Dies hat mehrere Gründe. Zum einen zählt das 1832 posthum erschienene, fragmentarische Werk auch heute noch zu den Grundlagentexten der Militärbzw. Kriegstheorie. 295 Die Prinzipien von Strategie und Taktik, die hier das erste Mal theoretisch fundiert wurden, wurden darüber hinaus auch in anderen, Militär-fernen Bereichen intensiv rezipiert. 296 Zum anderen ist davon auszugehen, dass Benet selbst Clausewitz rezipiert hat 297 , weshalb es lohnend ist, seine eigenen Texte vor diesem 295 Siehe etwa die Seite www.clausewitz.com, die von Christopher Bassford betrieben wird, einem ehemaligen Artillerieoffizier der U.S.-Armee, der an diversen Militärschulen in den USA gelehrt hat. In der Rubrik „Readings“ findet sich eine lange Bibliographie mit englischsprachigen Texten, die sich vor allen Dingen auf militärtheoretischer Sicht mit Clausewitz beschäftigen. Einen Überblick über die aktuelle ‚globale‘ Rezeption des preußischen Strategen bietet der folgende Sammelband, der von der deutschen Clausewitz-Gesellschaft herausgegeben wurde: Reiner Pommerin (Hg.): Clausewitz goes global. Carl von Clausewitz in the 21 st century: conmemorating the 50 th anniversary of the Clausewitz Society, Berlin: Carola Hartman Miles-Verlag, 2011. 296 Als aktuellste Beispiele können etwa die Systemtheorie (Rasmus Beckmann: Clausewitz trifft Luhmann. Eine systemtheoretische Interpretation von Clausewitz’ Handlungstheorie, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 2011), die Spieltheorie (Holger Müller: Clausewitz’ Verständnis von Strategie im Spiegel der Spieltheorie, Berlin: Carola Hartmann Miles-Verlag, 2012) oder auch Unternehmensberatung (Bolko von Oetinger (Hg.): Clausewitz. Strategie denken, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2003) genannt werden. Selbstverständlich sind hier auch die kulturtheoretischen Überlegungen Certeaus zu nennen, auf die später noch näher eingegangen wird. 297 Ein Hinweis darauf ist zum Beispiel in einem der zahlreichen Interviews mit Benet zu finden, bei der von Benets Leidenschaft für Clausewitz gesprochen wird (siehe: Benet: Cartografía personal, S. 188). Darüber hinaus ist vor allem an der klaren Unterscheidung zwischen Gefecht bzw. Schlacht und Krieg Clausewitz als theoretischer Hintergrund klar erkennbar. Dies wird im Folgenden herausgearbeitet. <?page no="126"?> 126 Hintergrund zu beleuchten. Auch Certeau beruft sich mit den Begriffen Strategie und Taktik explizit auf Clausewitz. 298 Eine detaillierte Betrachtung von Clausewitz’ Theorie und Terminologie ist daher von Interesse und im Kontext dieser Arbeit notwendig. 299 Gleichzeitig kann eine erschöpfende Vorstellung des Werks Vom Kriege nicht vorgenommen werden. Auch eine kritische Auseinandersetzung kann an dieser Stelle nur punktuell stattfinden. Stattdessen konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf Teilaspekte, die im Hinblick auf die zu untersuchenden Texte Benets wichtig sind. Es wird zunächst grundsätzlich erläutert, was mit Clausewitz unter Krieg zu verstehen ist und welche Charakteristika wichtig sind, um letztendlich auf die zentralen Begriffe von Strategie und Taktik einzugehen. Dabei wird in Kauf genommen, dass einzelne Aspekte eine höhere Gewichtung erhalten, als in Clausewitz’ Original angelegt. III.1.1 Was ist Krieg? Clausewitz’ (1780-1831) Verständnis von Krieg und seine persönlichen Erfahrungen waren vor allen Dingen von der Französischen Revolution, den Napoleonischen Kriegen und der sich daran anschließenden Restaurationszeit geprägt. Daraus ergibt sich die unmittelbare Verknüpfung von Krieg und territorialen Ansprüchen und ein Kriegsverständnis, das freilich nichts mehr mit heutigen Formen der Kriegsführung wie etwa ‚Cyberwar‘, Drohnenkrieg oder dem Krieg mit Chemiewaffen zu tun hat. Diese Art von Krieg baut auf dem Gefecht als ‚Zelle‘ auf, in welchem sich Truppen oder einzelne Soldaten physisch gegenüberstehen und sich bekämpfen. Diese zunächst einmal sehr banale Feststellung ist insofern von Bedeutung, als dass sich Benet mit den Fragen nach der Modernität der guerra civil und ihren Mitteln auseinandersetzt. Den spanischen Bürgerkrieg sah er - im Gegensatz zum zweiten Weltkrieg - aufgrund seiner Durchführung und der eingesetzten Mittel nicht als modernen Krieg an. In Vom Kriege ist des Weiteren der ständige Bezug zu Clausewitz’ eigener Lebenswirklichkeit, die sehr von Kriegen geprägt war, und zur damaligen politischen Situation auffällig. Sein Anliegen ist es nicht, eine Theorie über den Krieg zu schreiben, der aufgrund ihres Abstraktionsgrades jeglicher Bezug zur Realität fehlt. Stattdessen findet man ständige Bezüge zu tatsächlichen Kriegen, bzw. zur „Kriegsgeschichte“ 300 und Überprüfung der eigenen 298 Certeau: Kunst de Handelns, S. 89ff. 299 Abgesehen von Nilsson, der Clausewitz im Kontext seiner Diskursanalyse erwähnt (Nilsson: Der ironische Diskurs, S. 117ff), ist der Zusammenhang zwischen Benet und Clausewitz meines Wissens nach noch nicht näher analysiert worden. Nilsson geht es vor allen Dingen darum zu zeigen, dass die Figur des Oberst Hoffmann aus En el estado nicht blind Theoreme Clausewitz’ wiedergibt, sondern vielmehr militärgeschichtliche Darstellungen des ersten Weltkriegs zitiert. 300 Clausewitz: Vom Kriege, S. 17. <?page no="127"?> 127 Ausführungen an denselben. 301 Im Folgenden wird es also darum gehen, mit Clausewitz der Frage „Was ist der Krieg? “ 302 nachzugehen. Zunächst einmal ist zu betonen, dass jeder Krieg auf der unmittelbaren kämpferischen Auseinandersetzung zweier gegnerischen Parteien beruht: Der Krieg ist nichts als ein erweiterter Zweikampf. Wollen wir uns die Unzahl der einzelnen Zweikämpfe, aus denen er besteht, als Einheit denken, so tun wir besser, uns zwei Ringende vorzustellen. Jeder sucht den anderen durch physische Gewalt zur Erfüllung seines Willens zu zwingen; sein nächster Zweck ist, den Gegner niederzuwerfen und dadurch zu jedem ferneren Widerstand unfähig zu machen. Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen. 303 Am Bild des Zweikampfes, der als pars pro toto für den Krieg als solchen steht und im Verlauf von Vom Kriege vom Gefecht ersetzt wird, wird der wesentliche Zweck des Krieges erläutert. Es geht darum, mittels der Gewalt den eigenen Willen durchzusetzen und den Gegner zur Realisierung dieses Willens zu bringen. Weiterhin hat dieser „nächste[] Zweck“ der Gewaltanwendung ein tieferliegendes Motiv. Dieses sieht Clausewitz in der Politik. Der oben beschriebene Akt der Gewalt wird als Krieg nie aus sich selbst heraus motiviert sein, sondern stets von der Politik ausgehen und von ihren Zielen bestimmt werden. So wird also der politische Zweck als das ursprüngliche Motiv des Krieges das Maß sein, sowohl für das Ziel, welches durch den kriegerischen Akt erreicht werden muss, als für die Anstrengungen, die erforderlich sind. 304 Krieg wird als ein politischer Akt neben anderen verstanden, der sich lediglich durch seine Mittel, sprich den Einsatz von Gewalt, von anderen politischen Akten unterscheidet. Dieses Verständnis von Krieg fasst Clausewitz in einer zentralen These zusammen: „Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ 305 . Zwar kann es passieren, dass aktuelle bzw. punktuelle Ziele während der Schlacht mit den politischen Zielen, die den Krieg motivieren, kollidieren, jedoch darf dabei nie aus den Augen gelassen werden, dass der Krieg stets in den Rahmen der Politik eingebettet 301 Siehe ins besondere die „Nachricht (des Verfassers)“ und die „Vorrede des Verfassers“ oder etwa ebd., S. 31. Hier beschreibt Clausewitz, wie sich der Krieg zwischen den unterschiedlichen Interessen von Volk, Feldherr und Regierung bewegt und dass es die Aufgabe der Theorie sei, dieser Wirklichkeit entsprechend zwischen diesen drei Interessenspolen in der Schwebe zu bleiben und nicht von einem Interesse komplett in Anspruch genommen zu werden. 302 Nicht umsonst ist auch das erste Kapitel des ersten Buches von Vom Kriege genau mit dieser Frage überschrieben. 303 Ebd., S. 20, Hervorhebungen im Original. 304 Ebd., S. 25. 305 Ebd., S. 30. <?page no="128"?> 128 bleibt, „[...] denn die politische Absicht ist der Zweck, der Krieg ist das Mittel, und niemals kann das Mittel ohne Zweck gedacht werden.“ Zum Wesen des Kriegs gehört des Weiteren, dass er sich zum einen im Territorium abspielt und zum anderen eine Handlung darstellt, die sich nicht im Moment erschöpft. Der Krieg ist also räumlich und zeitlich bestimmt. Das Territorium, das erobert werden soll, und das aktuelle Schlachtfeld bzw. der Kriegsschauplatz, bei Clausewitz zumeist als Kriegstheater 306 bezeichnet, bestimmen zum großen Teil die Umstände des Krieges mit. Das Land mit seiner Oberfläche und Bevölkerung macht nämlich [...] auch noch für sich einen integrierenden Teil der im Kriege wirksamen Größen aus, und zwar nur mit dem Teile, der zum Kriegstheater gehört oder einen merklichen Einfluss darauf hat. 307 Zwischen dem Krieg und der Gegend, in der er stattfindet, besteht stets eine enge, grundlegende Beziehung. Diese ist so fundamental, […] dass man sich einen kriegerischen Akt unserer gebildeten Heere gar nicht anders als in einem bestimmten Raum vorgehend denken kann; sie ist zweitens von der entscheidendsten Wichtigkeit, weil sie die Wirkungen aller Kräfte modifiziert, zuweilen total verändert; drittens führt sie auf der einen Seite oft zu den kleinsten Zügen der Örtlichkeit, während sie auf der anderen die weitesten Räume umfasst. 308 Krieg findet also im Raum statt, das Territorium im engsten und im weitesten Sinne bestimmt den kriegerischen Akt mit. Das heißt, diese Art von Krieg ist ohne den Einbezug der räumlichen Komponente gar nicht denkbar. Für die Akteure des Krieges, sprich Feldherrn und Soldaten, bedeutet dies, dass von ihnen in hohem Maße die Fähigkeit der geistigen Abstraktion von der 306 Diese Bezeichnung für den Kriegsschauplatz ist mittlerweile veraltet und wird im Deutschen nicht mehr verwendet. Sie findet sich noch im Grimmschen Wörterbuch (siehe den Eintrag kriegstheater in Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig: 1854-1961, Quellenverzeichnis Leipzig 1971, online verfügbar unter http: / / woerterbuchnetz.de/ DWB/ ? lemma=kriegstheater [zuletzt konsultiert am 31.03.2016]), war also zu Zeiten Clausewitz’ durchaus geläufig und ist offensichtlich aus dem Französischen entlehnt. Im Spanischen hingegen ist der entsprechende Begriff teatro de operaciones aktuell und taucht auch bei Benet sehr häufig auf (siehe hierzu auch den Eintrag zu teatro im DRAE). Wie diese Bedeutung des Theaters mit der heute im Deutschen geläufigen im Sinne einer Inszenierung überblendet wird, wird im Verlauf dieser Arbeit noch untersucht. Zur Definition des Begriffes siehe Clausewitz: Vom Kriege, S. 138: „Eigentlich denkt man sich darunter einen solchen Teil des ganzen Kriegsraumes, der gedeckt Seiten und dadurch eine gewisse Selbstständigkeit hat. Diese Deckung kann in Festungen liegen, in großen Hindernissen der Gegend, auch in einer beträchtlichen Entfernung von dem übrigen Kriegsraum. - Ein solcher Teil ist kein bloßes Stück des Ganzen, sondern selbst ein kleines Ganzes […].“ 307 Ebd., S. 23. 308 Ebd., S. 49. <?page no="129"?> 129 Gegend, in der sie sich befinden, in Form von ‚geometrischen Vorstellungen‘ und ein exzellenter Orientierungssinn gefordert sind. 309 Gleichzeitig wird der kriegerische Akt grundsätzlich als Handlung verstanden, die nur in ihrem zeitlichen Ablauf, sprich in ihrer Zeitlichkeit gedacht werden kann. 310 Das heißt, jeder kriegerische Akt ist von kürzerer oder längerer Dauer. Dadurch bekommt der Krieg an sich einen prozessualen Charakter, der grundsätzlich auf ständigen Fortgang und Bewegung ausgerichtet ist. Eine Art Höhepunkt dieses ‚ungestümen‘ Charakters erreichte nach Clausewitz der Krieg in den Feldzügen Napoleons: In ihm [dem Revolutionskrieg], und besonders in den Feldzügen Bonapartes, hat die Kriegsführung den unbedingten Grad der Energie erreicht, den wir als das natürliche Gesetz des Elements betrachtet haben. Dieser Grad ist also möglich, und wenn er möglich ist, so ist er notwendig. 311 Freilich verhindert diese grundsätzliche Zeitlichkeit und Vorwärtsbewegung des Krieges nicht, dass es zu Stillstand und Unterbrechungen kommen kann. 312 Ursachen für solche ‚retardierende Momente‘ können etwa die Unentschlossenheit der Akteure, eine fehlerhafte Einschätzung der Situation oder eine zu starke Verteidigung sein. Das heißt, die elementare Anlage des Krieges, sich ständig vorwärtszubewegen, kann durch den ‚Faktor Mensch‘ verzögert und kurzfristig ausgesetzt werden. Aus einer kontinuierlichen Bewegung kann eine ruckweise Bewegung werden. Abschließend soll in diesem Unterkapitel noch eine kurze Bemerkung zur Vorstellung des ‚absoluten Krieges‘ bei Clausewitz gemacht werden. Vor allen Dingen im Hinblick auf die spätere Einbindung der Idee der Kriegsmaschine von Deleuze und Guattari (Kapitel III.4) ist die Differenzierung der Begriffe ‚absoluter Krieg‘ und ‚totaler Krieg‘ wichtig. Bei Clausewitz ergibt sich aus dem bereits erwähnten ständigen Abgleich theoretischer Überlegungen mit der Wirklichkeit von erlebten und vergangenen Kriegen auch die Konfrontation eines theoretisch möglichen ‚absoluten Krieges‘ mit der Wirklichkeit. Einen Absatz des ersten Kapitels im ersten Buch überschreibt Clausewitz treffend mit „Modifikationen in der Wirklichkeit“ 313 . Er spielt zwar den Gedanken durch, dass man im Krieg die Kräfte bis zum Äußersten anstrengen, eine Eskalation provozieren und als Ziel ein „Absolutes“ setzen könne, jedoch hält er schon bald fest, dass „[…] ein solcher Federstrich ein bloßes Büchergesetz sein [würde] und keins für die wirkliche Welt.“ Denn sobald man von einer abstrakten Reflexion in die Betrachtung 309 Vgl. ebd. 310 Vgl. ebd., S. 25f. 311 Ebd., S. 133. 312 Vgl. ebd., S. 25f. und 133ff. 313 Ebd., S. 22. <?page no="130"?> 130 der Wirklichkeit übergeht, muss man feststellen, dass der Krieg kein isolierter Akt ist, sondern dass er von der Politik bestimmt wird und den Einwirkungen von räumlichen und zeitlichen Bedingungen ausgesetzt ist. Der ‚absolute Krieg‘ bleibt ein theoretisches Gedankenspiel, dem Clausewitz von Anfang an den Realitätsbezug abspricht. Der ‚totale Krieg‘, der vor allen Dingen durch den Propagandaminister Goebbels im zweiten Weltkrieg zum Ziel der Massenmobilisierung wurde, ist insbesondere auf den General Erich Ludendorff 314 und dessen gleichnamiges Buch Der totale Krieg von 1935 zurückzuführen. Bei ihm kommt es dezidiert zur „zur Umwertung Clausewitzscher Maximen“ 315 . III.1.2 Friktionen im Krieg Der Krieg ist das Gebiet des Zufalls. In keiner menschlichen Tätigkeit muss diesem Fremdling ein solcher Spielraum gelassen werden, weil keine so nach allen Seiten hin in beständigen Kontakt mit ihm ist. Er vermehrt die Ungewissheit aller Umstände und stört den Gang der Ereignisse. 316 Allen Ideen zum Trotz, die sich den Krieg als absolut planbar und damit als abstraktes Konstrukt vorstellen, ist die Bedeutung von Zufällen im tatsächlichen Ablauf des Krieges nicht zu unterschätzen. Wie bereits angedeutet, ist der Krieg auch bei Clausewitz in der Theorie als fortlaufender Prozess gedacht, der letzten Endes durch den Sieg des einen Gegners über den anderen zum Abschluss kommt. In der Realität wird diese ständige Vorwärtsbewegung von verschiedenen Elementen beeinflusst, die den Prozess unterbrechen können. Clausewitz bezeichnet diese Unterbrechungen, die oft nicht eingeplant werden können, als Friktionen: „Friktion ist der einzige Begriff, welcher dem ziemlich allgemein entspricht, was den wirklichen Krieg von dem auf dem Papier unterscheidet.“ 317 Diese Friktionen sind unter anderem menschliche ‚Schwächen‘. Letztendlich ist der Krieg auf menschlichen Individuen aufgebaut, deren Handlungen und Entscheidungen nicht vorausgesagt werden können. Weiterhin können alle möglichen Zufälle der Kriegsplanung einen Strich durch die Rechnung machen, wie zum Beispiel das Wetter. Auch wurde bereits erwähnt, dass die Beschaffenheit des Territoriums, auf welchem die Gefechte stattfinden, den Verlauf des Krieges in großem Maße beeinflussen können. So macht es nach Clausewitz auch einen 314 Siehe für eine kurze Einführung zu Ludendorff Bruno Thoß: „Ludendorff, Erich“, in: Otto zu Stolberg-Wernigerode (Hg.): Neue deutsche Biographie, Berlin: Duncker & Humblot, 2007, S. 285-290, online verfügbar unter http: / / www.deutsche-biographie.de/ ppn118574841.html [zuletzt konsultiert am 31.03.2016]. 315 Ebd. 316 Clausewitz: Vom Kriege, S. 42. 317 Ebd., S. 56. <?page no="131"?> 131 guten Feldherrn aus, wenn er in der Lage ist, auf eben solche Friktionen angemessen reagieren zu können und Unterbrechungen im Kriegsgeschehen auf ein Minimum zu reduzieren: Die Kenntnis dieser Friktion ist ein Hauptteil der oft gerühmten Kriegserfahrung, welche von einem guten General gefordert wird. Freilich ist der nicht der beste, der die größte Vorstellung davon hat, dem sie am meisten imponiert […], sondern der General muss sie kennen, um sie zu überwinden, wo dies möglich ist, und um nicht eine Präzision in den Wirkungen zu erwarten, die eben wegen dieser Friktion nicht möglich ist. 318 Festzuhalten ist also, dass in Clausewitz’ Vorstellung vom Krieg die Störung bzw. die Unterbrechung desselben schon mitgedacht werden. Friktionen sind die Elemente, die den Krieg im Vollzug gegenüber dem Krieg auf dem Papier ausmachen und gleichzeitig einer Kriegsplanung stets entgegenstehen. Zufall und menschliche Individuen sind ein Teil der Kriegsrealität. Das Territorium als Austragungsort und Bedingung des realisierten Krieges erweist sich dabei - neben anderen Faktoren - einmal mehr als eines der Elemente, die den Krieg im Vollzug mit konstituieren. III.1.3 Strategie und Taktik Für Clausewitz setzt sich der Krieg aus mehreren Gefechten zusammen, das Gefecht ist also die kämpferische Einheit des Krieges. Während das Gefecht als einzelnes angeordnet und durchzuführen ist, so sind alle einzelnen Gefechte zu einem Großen, nämlich dem Krieg, zu verbinden. Genau an dieser Stelle unternimmt er die Unterscheidung von Strategie und Taktik: Es ist also nach unserer Einteilung die Taktik die Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht, die Strategie die Lehre vom Gebrauch der Gefechte zum Zweck des Krieges. 319 Mit der Bewegung vom Gefecht und von der Taktik zum Krieg und zur Strategie geht man also vom Kleinen zum Großen, von einer ‚Mikroumsetzung‘ zu einer ‚Makroplanung‘. Ausgehend von dieser grundsätzlichen Unterscheidung gibt es weitere Kriterien und Merkmale zur Differenzierung. Dies sind zunächst einmal die verschiedenen Mittel und Zwecke von Strategie und Taktik. Das eigentliche Mittel der Taktik sind die Streitkräfte, die das Gefecht ‚umsetzen‘. Der Zweck wiederum ist die Bedeutung, die dem Gefecht von der Strategie zugewiesen wird. Er ist also das verbindende Glied, wenn es darum geht die Taktik in strategische Überlegungen einzubinden: 318 Ebd., S. 57. 319 Ebd., S. 60. <?page no="132"?> 132 Diese Bedeutung hat auf die Natur des Sieges allerdings einigen Einfluss. Ein Sieg, welcher darauf gerichtet ist, die feindliche Streitkraft zu schwächen, ist etwas anderes als einer, der uns bloß in den Besitz einer Stellung bringen soll. Er wird also die Bedeutung eines Gefechts auf die Anlage und Führung desselben einen merklichen Einfluss haben können. Es werden also diese Bedeutungen auch ein Gegenstand der Betrachtung für die Taktik sein. 320 Das heißt, wenn der Zweck des Gefechts der Bedeutung entspricht, die dem Gefecht innerhalb einer Strategie zugewiesen wird, so bestimmt diese Bedeutung die ‚Verwendung der Mittel‘, nämlich der Streitkräfte mit. Daraus ergibt sich, dass das eigentliche Mittel der Strategie der taktische Erfolg, sprich der Sieg im Gefecht ist. Clausewitz spricht von einer ganzen Bandbreite dieser Mittel, vom Erfolg eines Gefechts bis hin zum Erfolg in einer ganzen Kombination von Gefechten (z.B. ein Winterfeldzug). 321 Der strategische Zweck liegt im Sieg des Krieges und im Frieden. Daraus ergibt sich, dass Taktik und Strategie unmittelbar miteinander verbunden sind. Die Taktik beeinflusst durch die Führung der Gefechte den Ausgang der strategischen Ziele und die Strategie beeinflusst durch ihre Planung die Anordnung der Gefechte. Und obwohl die Taktik in gewisser Weise der Strategie hierarchisch untergeordnet ist, kann nur eine gewissenhafte Anwendung beider zum Sieg im Krieg führen. Darüber hinaus spielen verschiedene Arten äußerer Umstände, oft in der Form von Friktionen, bei beiden eine unterschiedliche Rolle. So ist die topographische Beschaffenheit der Gegend, in der das Gefecht stattfindet (z.B. Berge, sumpfiger Boden, Flüsse oder auch menschliche Bebauung) für die Durchführung des Gefechts von großer Bedeutung. Gleiches gilt für die Tageszeit und das Wetter. Diese Aspekte müssen bei taktischen Überlegungen stets miteinbezogen werden, spielen jedoch für die Strategie eine untergeordnete Rolle. Das Territorium findet nur auf der Abstraktionsebene einer Karte, die für planerische Zwecke genutzt wird, Eingang in strategische Überlegungen: „Die Strategie macht Gebrauch von Karten, ohne sich um trigonometrische Vermessungen zu bekümmern […].“ 322 Daraus ergibt sich auch eine besondere Affinität von Strategie und Theorie, während die Taktik „fast ein geschlossenes Feld der Gegenstände hat“ 323 , das heißt stets einen konkreten Realitätsbzw. Anwendungsbezug hat. Der Strategie stehen viel mehr Möglichkeiten und damit viel mehr Ungewissheiten offen. Sie ist damit der ‚adäquatere‘ Gegenstand für theoretische Betrachtungen. 324 Weitere wichtige Unterscheidungsmerkmale stellen die Überraschung und die List dar. Beide gehören in den Bereich der Taktik. Die Überraschung, 320 Ebd., S. 72. 321 Vgl. ebd., S. 73. 322 Ebd. 323 Ebd., S. 76. 324 Vgl. ebd. <?page no="133"?> 133 womit stets die Überraschung des Feindes gemeint ist, kann zu einem wichtigen Mittel der Überlegenheit einer der Gegner werden, insofern sie geschickt angewendet wird. In der Taktik ist die Überraschung vielmehr zu Hause aus der ganz natürlichen Ursache, dass alle Zeiten und Räume kleiner sind. Sie wird also in der Strategie um so tunlicher, als die Maßregeln dem Gebiet der Taktik näherliegen, und um so schwieriger, je höher hinaus gegen das Gebiet der Politik diese liegen. 325 Denn insofern Kriege eine lange Vorlaufzeit der Planung benötigen, ist es sehr unwahrscheinlich, dass ein Gegner den anderen tatsächlich mit einem Krieg komplett überrascht. Bei der Taktik hingegen, wo oft von einem Plan auf den anderen das Vorgehen im Gefecht geändert werden kann, ist die Überraschung sehr viel mehr denkbar. Darüber hinaus ist anzumerken, dass es bei Clausewitz wieder alle möglichen Arten von äußeren Umständen und Zufällen sind, die letztendlich die Kraft und die Auswirkungen einer Überraschungstat bestimmen. Die Geschichte hat dementsprechend gezeigt, dass nicht alle als ‚große Schläge‘ intendierter Überraschungstaten auch den gewünschten Erfolg gezeigt haben. 326 Für die vorliegende Arbeit ist jedoch vor allen Dingen die Affinität von Taktik und Überraschung interessant. Ein Instrument, dass der Überraschung sehr ähnlich ist, ist die List. Clausewitz stellt diese terminologisch in die Nähe der Verschlagenheit und des Betrugs, enthält sich jedoch tatsächlicher moralischer Bewertungen: Der Listige lässt denjenigen, welchen er betrügen will, die Irrtümer des Verstandes selbst begehen, die zuletzt in eine Wirkung zusammenfließend, plötzlich das Wesen des Dinges vor seinen Augen verändern. Daher kann man sagen: wie der Witz eine Taschenspielerei mit Ideen und Vorstellungen ist, so ist die List eine Taschenspielerei mit Handlungen. 327 Auch hier ist auffällig, dass die List eher in den Bereich der Taktik gehört. Innerhalb der Strategie wäre es zwar denkbar etwa einen großen Teil der eigenen Streitkräfte nur zum Schein einzusetzen. Wenn diese dann aber tatsächlich an anderer Stelle dringend gebraucht werden, ergibt sich ein ungeheuer großes Risiko, das sich mit der Wirkung der List nicht die Waage hält. „Mit einem Wort: es fehlt den Steinen im strategischen Schachbrett die Beweglichkeit, welche das Element der List und Verschlagenheit ist.“ 328 Diese Beweglichkeit ist nur in der kurzfristigen Planung der Taktik gegeben. Darüber hinaus ist aber die List auch das Element der Schwachen. Denn je schwächer einer der Gegner ist, desto weniger hat er zu verlieren und desto 325 Ebd., S. 119. 326 Vgl. ebd., S. 120f. 327 Ebd., S. 122. 328 Ebd. <?page no="134"?> 134 mehr wird er auch bereit sein, die List innerhalb der eigenen Strategie anzuwenden. Dieser Verbund von Kühnheit und List kann den Schwachen eventuell doch noch zum Sieg verhelfen. 329 Auch in Bezug auf den Faktor Zeit bei kriegerischen Handlungen unterscheidet Clausewitz zwischen Strategie und Taktik. Im Gefecht und bei taktischen Überlegungen kann das Setzen auf Zeit und damit auf die Schwächung des Gegners mit der Dauer des Gefechts durchaus sinnvoll sein. In der Strategie jedoch gestaltet sich der bewusste Umgang mit Zeit komplexer. Da hier beide Seiten theoretisch jederzeit Truppennachschub anordnen können, ist das bloße Setzen auf Dauer nicht immer sinnvoll. Gleichzeitig muss auf die nachhaltige Verwendung der Truppen geachtet werden, es können also nicht immer alle Kräfte gleichzeitig verwendet werden. 330 Einen weiteren wichtigen Punkt überschreibt Clausewitz im vierzehnten Kapitel des dritten Buches mit der „Ökonomie der Kräfte“ 331 . Der Krieg setzt sich aus verschiedenen Handlungen zusammen. Ein grundlegendes Prinzip bei diesen kriegerischen Handlungen muss das Haushalten mit den eigenen Kräften sein. So soll stets beachtet werden, dass zu einem früheren Zeitpunkt eingesetzte Kräfte vielleicht noch nachwirken oder sich zwischen zwei gleichzeitig eingesetzten Kräften Wechselwirkungen ergeben. Außerdem ist es wenig zielführend, eigene Kräfte oder einen Teil derselben ruhen zu lassen, während der Feind die eigenen Truppen marschieren lässt. Die Verschwendung von Kräften kann fatale Auswirkungen für die Kriegsführung haben und daher ist eine im wahrsten Sinne des Wortes ökonomisches Denken 332 im Krieg unabdingbar. Letzten Endes seien hier noch kurze Anmerkungen zu den Begriffen ‚Kriegsplan‘ und ‚Gefecht‘ gemacht. Vereinfachend ist festzuhalten, dass sich diese beiden Begriffe in der Realität des Krieges mit Strategie (Kriegsplan) und Taktik (Gefecht) decken. Beiden widmet Clausewitz ganze Bücher im Rahmen von Vom Kriege, in welchen im Detail geklärt wird, was das Gefecht und was den Kriegsplan ausmacht. 333 Während der Kriegsplan für „die eigentlichste Strategie“ 334 steht, ist die „Konstruktion des Gefechts […] taktischer Natur“ 335 . Das Gefecht, „die eigentliche kriegerische Tätigkeit“ 336 , kann, wie gesagt, als die Einheit des Krieges verstanden werden. Mit dem Kriegsplan hingegen wird die „Gesamtfrage“ 337 betrachtet. 329 Vgl. ebd., S. 123. 330 Vgl. ebd., S. 125ff. 331 Ebd., S. 131. 332 Siehe mehr zur Ökonomie im Sinne Aristoteles auf S. 163ff. 333 Auf diese Details wird hier verzichtet. Es sei auf das vierte und das achte Buch in Vom Kriege verwiesen. 334 Ebd., S. 418. 335 Ebd., S. 139. 336 Ebd., S. 141. 337 Ebd., S. 418. <?page no="135"?> 135 Gefecht ist Kampf, und in diesem ist die Vernichtung oder Überwindung des Gegners der Zweck; der Gegner im einzelnen Gefecht aber ist die Streitkraft, welche uns entgegensteht. 338 Der Kriegsplan fasst den ganzen kriegerischen Akt zusammen, durch ihn wird er zur einzelnen Handlung, die einen letzten endlichen Zweck haben muss, in welchem sich alle besonderen Zwecke ausgeglichen haben. 339 Im Gefecht geht es also um die eigentliche Ausübung von Kampf, während der Kriegsplan eine Zusammenfassung und -schau über alle Akte eines Krieges bietet. Bei Clausewitz bleiben das Kleine - Gefecht und Taktik - und das Große - Kriegsplan und Strategie - stets aufeinander bezogen und voneinander abhängig. Beiden werden innerhalb des Krieges entscheidende Funktionen zugewiesen, und beide sind gleichermaßen wesentlich. III.2 Die guerra civil jenseits der Ideologie: der spanische Bürgerkrieg in Benets Essays Bereits 1968 kritisiert Benet den desolaten Zustand der spanischen Militärgeschichtsschreibung mit dem Text „‘La Marcha sobre Madrid’. Archivo Histórico Militar“ 340 . Demnach gab es bis dato keine ‚offizielle‘ Version der Ereignisse und des Verlaufs der guerra civil und dem besagten Archivo Histórico Militar mangelt es vollkommen an der nötigen wissenschaftlichen Objektivität. Der längste Text Benets zum Thema, ¿Qué fue la guerra civil? 341 , wurde ein Jahr nach dem Tod Francos 1976 veröffentlicht. Er liefert einen chronologischen Überblick über die Geschehnisse unmittelbar vor und während des Bürgerkriegs. 1986 verfasste Benet den Aufsatz „La cultura en la guerra civil“ 342 , in welchem er eine kulturhistorische Herleitung der dos Españas skizziert, deren Konfrontation im Bürgerkrieg gipfelt. Er beschreibt hier das stets von beiden Seiten eingeforderte, unbedingte tomar partido, welches zu keinem Zeitpunkt „ninguna clase de indiferencia“ 343 akzeptierte. Weiterhin erschien mit La construcción de la Torre de Babel der Aufsatz „Tres fechas“ 344 , welcher sich intensiv mit der mangelnden Strategie und der Rückständigkeit der spanischen Kriegsführung auseinandersetzt. In allen Texten 338 Ebd., S. 141. 339 Ebd., S. 420. 340 Juan Benet: „‘La Marcha sobre Madrid’. Archivo Histórico Militar“, in: ders.: Páginas impares, Madrid: Alfaguara, 1996, S. 27-36. 341 Juan Benet: ¿Qué fue la guerra civil? , Barcelona: La Gaya Ciencia, 1976. 342 Juan Benet: „La cultura en la guerra civil“, in: ders.: ¿Qué fue la guerra civil? y otros escritos sobre la contienda, S. 157-171. 343 Ebd., S. 170. 344 Juan Benet: „Tres fechas. Sobre la estrategia en la guerra civil española“, in: ders.: La construcción de la torre de Babel, S. 85-116. <?page no="136"?> 136 stellt Benet durch zahlreiche Anspielungen, direkte und indirekte Zitate seine Belesenheit im militärtheoretischen und historischen Bereich unter Beweis. III.2.1 Aufspaltung Spaniens und Ausbildung von Fronten I Der spanische Bürgerkrieg, bei Benet an vielen Stellen schlicht als la tragedia bezeichnet, kann als Gipfel einer langjährigen Zuspitzung und sich verstärkenden Konfrontation der dos Españas interpretiert werden. Diese Deutung ist gängig, so wie auch die ‚zwei Spanien‘ selbst als ein kulturhistorischer Topos zu verstehen sind. Benet zufolge sind die ersten Spuren dieser Aufspaltung Spaniens mit dem Aufkommen der Aufklärung in Europa deutlich zu erkennen. Die Aufklärung säte, obwohl sie in Spanien nicht wirklich stattfand, trotzdem das erste Mal dissidente Ideen, die eine tatsächliche Alternative zum bourbonischen Staat zu formulieren wussten. Auch wenn es zuvor bereits punktuelle „disidencias“ gab, so formten sie erst jetzt eine kohärente Strömung: […] [C]on la Ilustración se origina en España un nuevo pensador - el ilustrado - que, al adoptar para sí muchas de las ideas publicadas en París, Londres o La Haya acerca del Estado moderno, introduce en el seno de la cultura española no sólo una corriente heterodoxa sino una división que jugará un papel decisivo en todos los movimientos. 345 Doch dieser pensador ilustrado spaltet sich schon bald in zahlreiche mehr oder weniger liberale und progressive Strömungen auf: A lo largo del siglo XIX ese ilustrado pasará a ser progresista, liberal, en ocasiones republicano, enemigo siempre del absolutismo, librepensador, fisiócrata, librecambista, socialista, etc., y de su recio tronco saldrán las populosas ramas de los movimientos políticos que bajo un signo u otro buscan una radical transformación del viejo Estado en otro de nuevo corte. 346 Es sei dahingestellt, ob Benet mit der Angabe der europäischen Aufklärung als Ursprung der ‚zwei Spanien‘ richtig oder falsch liegt. Er zeichnet sehr treffend die Aufspaltung des Landes bzw. der Gesellschaft nach, wobei die vereinfachende Bezeichnung dos Españas für eine oberflächliche Beschreibung dient. Denn mit dem einen und dem anderen Spanien werden von Beginn an sehr heterogene Gruppierungen zusammengefasst, was zumindest den republikanischen Truppen im spanischen Bürgerkrieg durchaus zum Verhängnis wird. Mit fortlaufender Zeit erweist sich ein Ausgleich und eine Kommunikation zwischen anarchistischen, republikanischen und sozialistischen - um nur einige zu nennen - Interessen als immer schwieriger. Auch auf der nationalistischen Seite finden mit den aufständischen Militärs und 345 Benet: „La cultura en la guerra civil“, S. 158. 346 Ebd., S. 159. <?page no="137"?> 137 den Monarchisten, die die alte Staatsform restaurieren wollten, unterschiedliche Interessen zusammen. 347 Jedoch entstand durch den Flugzeugunfall Sanjurjos und durch den späteren Tod des Generals Mola ein Machtvakuum, das Francos sehr bald seinen Interessen entsprechend zu füllen wusste: Así pues [tras la muerte de Sanjurjo] no sólo la jefatura quedó vacante sino que el Alzamiento se vio desposeído del viejo contenido político de la restauración y sujeto por ende a ser utilizado y ocupado por un ideario muy distinto, sin duda más enérgico, moderno y ambicioso, y más imprevisible también para aquellos que se pronunciaron con la vista puesta en los ideales del antiguo régimen. 348 Die ‚grobe‘ Aufspaltung wird bis zum Beginn des Bürgerkriegs immer größer, es findet kaum Kommunikation oder ein Ausgleich zwischen beiden Positionen statt, die durch einen großen ideologischen Graben getrennt sind. Benet geht so weit, das Verhältnis als bloße Koexistenz ohne wirkliches Zusammenleben zu beschreiben: Las dos culturas que durante la larga etapa habían coexistido sin convivir […] a partir de julio de 1936 tomaban las armas para a ser posible acabar la una con la otra. 349 Bezeichnend für Benets Interpretation ist, dass er eine Mitschuld am Ausbruch des Bürgerkriegs durchaus beiden Seiten zuschreibt. Demnach ließen es beide auf den Krieg ankommen und versuchten nicht, auf anderem Wege den demokratischen Staat zu retten. Denn während sich auf der einen Seite Organisationen der extremen Rechten formierten (Falange Española und Juntas de Ofensiva Nacional Sindicalista), zögerte auf der anderen Seite die Republik nicht durch entsprechende Reformen „palos […] contra la Iglesia, el Ejército y los terratenientes“ 350 auszuführen. Der Frühling vor dem Putsch am 18. Juli 1936 war demnach von gegenseitigen Provokationen und Attentaten geprägt. „Cuando los hechos llegan a tales extremos, ambas partes resultan ser responsables por igual, como en los conflictos conyugales.“ 351 Benet arbeitet in seinen Essays aus einer sehr distanzierten Sicht die Aufspaltung Spaniens in zwei Fronten aus, die sich immer mehr verhärten und immer weniger an einem Ausgleich interessiert sind. Es kommt eine Art Prozess in Gang, der auf eine Katastrophe hinsteuert, welche spätestens mit dem Ende des Jahres 1937 unausweichlich ist: 347 Vgl. zu den unterschiedlichen Aufspaltungen und internen Konflikten bei beiden Gegnern während des Bürgerkrieges auch das Kapitel „La lucha política en ambos bandos“ in Benet: ¿Qué fue la guerra civil? , S. 43ff. 348 Ebd., S. 21. 349 Benet: „La cultura en la guerra civil“, S. 165, Hervorhebung von mir. 350 Benet: ¿Qué fue la guerra civil? , S. 13. 351 Ebd., S. 15f. <?page no="138"?> 138 El año se cerraba con la división de España en dos bandos irreconciliables, dispuestos a la lucha a ultranza, decidido cada uno a terminar con su adversario sin concederle ninguna clase de tregua ni cartel. La escisión alcanzaría a todos sin excepción y hasta los niños tuvieron que tomar partido. 352 Charakteristisch ist genau jenes tomar partido: Entweder man ist für die eine oder für die andere Seite, ein Dazwischen ist bei keiner der beiden ideologischen Seiten vorgesehen. III.2.2 Combate und guerra Auffällig ist weiterhin die auf den ersten Blick spitzfindig erscheinende Unterscheidung zwischen combate (im Sinne von ‚Kampf‘ bzw. ‚Gefecht‘) und guerra. Benet insistiert an mehreren Stellen auf dieser Unterscheidung. Nach seiner Interpretation ist der 18. Juli zwar das offizielle Datum des Kriegsbeginns, jedoch beginnt der tatsächliche Krieg erst im November desselben Jahres, als die nationalistischen Truppen das erste Mal versuchen, Madrid einzunehmen. Hasta esa fecha no se puede hablar de guerra, esto es, una confrontación entre dos conjuntos más o menos homogéneos, sino de una seria de asaltos, golpes de mano, escaramuzas, marchas y combates callejeros que un ejército regular emprende contra un pueblo hostil, movilizado y organizado a su manera. 353 Entsprechend der Definition und der Unterscheidung Clausewitz‘ von Krieg und Gefecht differenziert Benet zwischen einer großen, organisierten Konfrontation zweier Parteien im Krieg und der unorganisierten Aneinanderreihung kleinerer Gefechte und Scharmützel. Auch hier gilt, dass von einer ideologischen Bewertung Abstand genommen wird und die Analyse vor dem Hintergrund eines profunden militärtheoretischen Wissens erfolgt. Spanien war Benet zufolge nicht auf einen Krieg vorbereitet, sondern nur auf Gefechte, und dies gilt sowohl für die aufständischen als auch für die republikanischen Truppen. Aunque suene a paradoja me atrevo a afirmar que los militares sublevados estaban tan poco preparados para la guerra como sus adversarios gubernamentales. Todos los historiadores de la guerra convienen en afirmar que a lo postre fue ganada por el ejército […] más profesional en una palabra. Pero el ejército español estaba preparado para el combate, no para la guerra […] una diferencia nada sutil […]. Ein Krieg hätte eine entsprechende strategische Planung vorausgesetzt, die den Regeln der Kriegsökonomie gefolgt wäre und das Erreichen eines Ziels vor Augen gehabt hätte. Man war rein materiell für Gefechte ausgerüstet, 352 Ebd., S. 34. 353 Benet: „Tres fechas“, S. 97. <?page no="139"?> 139 diese wurden jedoch nicht in einen erkennbaren Plan ein- und ihm somit untergeordnet. Dementsprechend spricht Benet auch von der „guerra sin plan“ 354 . III.2.3 Krieg ohne Plan und anachronistische Kriegsführung Ausgehend von der Feststellung, die ersten offiziellen Monate des Bürgerkriegs seien lediglich eine lose Aneinanderreihung unkoordinierter Scharmützel gewesen, kritisiert Benet scharf sowohl die (fehlende) Strategie und die fehlende Orientierung an modernen Formen der Kriegsführung 355 auf beiden Seiten als auch die unnötige Verzögerung des Kriegsendes mittels einer bewusst späten Einnahme Madrids durch Franco. Benet ordnet den Bürgerkrieg militärhistorisch ein und spricht von der Notwendigkeit eines Kriegsplanes, von der auch Clausewitz ausgeht. Demnach war es spätestens seit Bismarck und den sich immer wieder verschiebenden Allianzen in Europa notwendig, einen Plan für den ständig als Option lauernden Krieg bereit zu halten: „De acuerdo con ello, la guerra europea se haría en obediencia a unos planes arduamente elaborados y prolijamente definidos […].“ 356 Die aufwendige und kostspielige Mobilisierung von Truppen war nur zu rechtfertigen, wenn diese Mobilisierung in einem größeren Zusammenhang stand und weitreichenden politischen Interessen folgte. Los ejércitos movilizados habían de seguir un plan, establecido de antemano de acuerdo con la doctrina Schlieffen, aceptada por todos los Estados Mayores, a cuyos objetivos tanto mediatos como finales tan sólo se oponía un obstáculo: el enemigo. 357 Der Plan stand monumental am Anfang eines jeden Kriegsgeschehens. War dieses einmal durch eine massive Truppenmobilisierung initiiert, konnte der Plan im Notfall angepasst werden, jedoch bildete er stets die Grundlage der Kriegsführung: „Pero jamás se haría la guerra sin plan, ni siquiera en los momentos más críticos.“ 358 Diesen state of the art der Militärtheorie beschreibt Benet für den Beginn des 20. Jahrhunderts. Spanien hingegen war von den sich verschiebenden Allianzen und dem Ersten Weltkrieg als neutrales Land ausgenommen. Es befand sich vielmehr 354 Ebd., S. 99. In Páginas impares findet sich auch ein mit „La guerra sin plan“ betitelter Text. Dieser setzt sich aber offensichtlich nur aus Teilen von „Tres fechas“ zusammen, weswegen er hier nicht weiter beachtet wird. 355 Ich konzentriere mich im Folgenden vor allen Dingen auf den Anachronismus bezüglich des Verständnisses von Strategie und Taktik. Darüber hinaus ließen sich noch weitere Punkte nennen, auf die Benet eingeht, wie etwa der naive und fast nutzlose Einsatz der modernen Technik in der Form von Panzern und Flugzeugen. 356 Ebd., S. 98. 357 Ebd., S. 98f. 358 Ebd., S. 99. <?page no="140"?> 140 seit 1898 und der Unabhängigkeit der letzten Kolonien in einer ständigen Dekadenz. Keinen unmittelbaren externen Feind vor Augen bestand nicht die Notwendigkeit einer theoretisch fundierten und detaillierten Ausarbeitung eines Kriegsplanes: „En contraste con sus colegas europeos, los militares españoles carecían en 1936 de planes de guerra. En verdad, no tenían por qué tenerlos.“ Die Bekämpfung des möglichen Feindes im Inneren bedurfte keines Kriegsplanes. Diese ließ sich besser durch die Anlehnung an revolutionäre Kämpfe und Staatsstreiche realisieren. 359 Dementsprechend versuchten die Nationalisten im Juli 1936 mehr oder weniger erfolgreich mit den großen Städten neuralgische Punkte zu besetzen: El golpe de 1936 no tenía otro objetivo que la ocupación de las grandes ciudades y al fracasar en la mayor parte de ellas, con excepción de Sevilla y Zaragoza, por fuerza se veía obligado a evolucionar hacia una operación militar que con la mayor celeridad posible alcanzase aquel objetivo perdido en primera instancia por los insurrectos. 360 Die Erarbeitung eines Plans fiel aus und erste strategische Schritte wurden erst unternommen, als man sah, dass die revolutionären Techniken versagt hatten. Dabei war Madrid als die Hauptstadt von Anfang an das erklärte Ziel aller Gefechte und später des Krieges. 361 Ein weiteres Merkmal der nicht zeitgemäßen Kriegsführung in der guerra civil manifestiert sich bei der Unterscheidung der Begriffe Niederwerfungsstrategie und Ermattungsstrategie 362 . Die Niederwerfungsstrategie versucht, den Feind durch schnelle und kräftige Truppenvorstöße und Schlachten zu besiegen und dient als Merkmal der modernen Kriegsführung. Die Ermattungsstrategie hingegen vermeidet Entscheidungsschlachten und versucht den Gegner über einen längeren Zeitraum hinweg, etwa durch Belagerung, zu schwächen. Letztere gehört Benet zufolge, der wiederum den britischen Historiker Michael Howard zitiert, in das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert. Die von Franco nach und nach erarbeitete Strategie sah nach dem ersten Scheitern im November 1937 nie die schnelle Eroberung Madrids und damit ein baldiges Ende des Krieges vor. Stattdessen setzte er darauf, das Kriegsende künstlich nach hinten zu verschieben, den Gegner langfristig zu schwächen und ihn nicht, obwohl er die militärischen und logistischen Mit- 359 Vgl. die Anspielungen auf die Französische Revolution, die Bolschewistische Revolution und die Machtergreifung der Faschisten in Italien ebd., S. 100. 360 Ebd., S. 100f. 361 Siehe hierzu Benet: ¿Qué fue la guerra civil? , S. 31: „ […] [S]ólo a partir de la batalla de Madrid se puede hablar con propiedad de una ‚guerra‘ organizada, que por ambas partes antes de esa fecha se trató de eludir mediante una eliminación del adversario llevada a cabo por las armas pero no por los métodos bélicos.“ 362 Beide Begriffe verwenden Benet und auch die Literatur, auf die er sich bezieht, im deutschen Original. <?page no="141"?> 141 tel dazu gehabt hätte, schnell zu überwältigen und die Hauptstadt einzunehmen. 363 Dies geschah offensichtlich aus machtpolitischen Gründen: Je länger der Krieg andauerte, desto mehr war Franco in der Lage, seine eigene Position als Befehlshaber der Truppen und staatliches Oberhaupt zu festigen. 364 Der spanische Bürgerkrieg, ein Krieg ohne strategische Planung, ein Stellungskrieg und kein moderner Blitzkrieg steht somit von Beginn an unter anachronistischen Vorzeichen, die von einer schlechten oder gar ausbleibenden militärischen Vorbereitung zeugen. Dabei wird der strategische Zweck eines Krieges, wie Clausewitz ihn formuliert, nämlich der Sieg unter den Vorzeichen der ökonomischen Kriegsführung und des Friedens, ideologischen und machtpolitischen Zielen untergeordnet. Taktische Schritte wurden zunächst nicht in einen größeren strategischen Zusammenhang eingeordnet. Vielmehr kann man auf beiden Seiten von der „táctica del carnero: embestir de frente contra la testuz del adversario“ 365 ausgehen. Das Bild des Widders, der sich frontal auf den Gegner wirft und sich in dessen Hörnern verkeilt, unterstreicht, wie weit die beiden Seiten des Bürgerkriegs von einer theoretisch elaborierten Kriegsführung entfernt waren. Wie erwähnt, folgt das Verhalten der nationalistischen Truppen zu Beginn des Bürgerkriegs eher der Logik eines spontanen Putsches als der eines Kriegsplanes. Jedoch gelang es ihnen nach der gescheiterten Eroberung Madrids bis zum Frühling 1937 einen solchen Plan zu entwickeln: […] [E]l ejército “nacional” se hallaba dispuesto para llevar a cabo tres ofensivas de largas miras cuyos objetivos, una vez alcanzados, le habían de suponer una notable consolidación territorial, una apropiación de reservas de todo orden y un fuerte respaldo para hacer frente a cualquier reacción de sus adversarios. 366 Das nationalistische Vorgehen zeugt aber dennoch eher von taktischem Verhalten als von strategischer, zielgerichteter Planung: la elección del camino indirecto y el ataque de flanco, con gran capacidad de maniobra, en busca del punto débil del adversario y aprovechamiento de su desequilibrio local. 367 363 Vgl. hierzu zum Beispiel ebd., S. 21f. 364 Vgl. etwa ebd, S: 78: „[…] [L]a guerra era un instrumento precioso del que no se podía renunciar ni hacer un uso precario, breve e indebido; por un lado, mientras durasen y primasen las operaciones militares su autoridad [=de Franco] no habría de ponerse en duda en su propio bando sino - antes al contrario - reafirmarse y consolidarse actuando con tacto, y por otro sólo mediante una guerra de atrición podía alcanzarse la aniquilación de un enemigo político que había movilizado media España.“ 365 Benet: „Tres fechas“, S. 110. 366 Benet: ¿Qué fue la guerra civil? , S. 36. 367 Ebd., S. 38. <?page no="142"?> 142 Spätestens nach dieser, wenn auch mangelhaften, strategischen Ausrichtung und nachdem sich Franco der Unterstützung durch die faschistischen Regimes in Italien und Deutschland sicher sein konnte, stellten die nationalistischen Truppen die klar überlegene Kriegspartei dar. Jedoch wird diese Überlegenheit nicht militärisch umgesetzt - das Kommando zeigt vor allen Dingen „falta de actualidad teórica“ 368 und eine incapacidad […] para poner en práctica los principios de la guerra moderna cuando en 1937 contaba sobradamente con los medios - hombres, material, logística, asesores y expertos - para hacerlo. 369 Die Überlegenheit wird dem oben beschriebenen, unüberbrückbaren tomar partido, das nur die Vernichtung des Gegners, nicht aber die Kommunikation mit demselben zulässt, untergeordnet: […] [E]l mayor ingenio estratégico será aquel que partiendo de una inferioridad o cuando menos una paridad global logre en un punto de concentración una superioridad local que desequilibre y desorganice al adversario; que permita ulteriormente explotar y extender aquella superioridad a todos los puntos del encuentro y que, en definitiva, sepa transformar la ventaja táctica en una victoria estratégica. 370 No siendo ese el caso de los españoles que se lanzaron a la guerra por no admitir la existencia del otro y dispuestos, por ende, a suprimirla por la fuerza de las armas, nada tiene de extraño que el espíritu que animó la actitud guerrera - que rehuía la victoria si no venía acompañada del exterminio - tenía que traducirse militarmente en una serie de campañas de insólitas y ambiguas características. 371 Das Problem ist also einerseits, dass die nationalistischen Truppen nicht ihre Überlegenheit strategisch einzubinden und mit ihr das Ziel eines baldigen Sieges zu erreichen wussten. Andererseits ist mit dem Ziel der Vernichtung des Gegners das eigentliche Prinzip des Krieges, wie es oben formuliert wurde (den Gegner zur Erfüllung des eigenen politischen Willens zu bringen), obsolet geworden. Der Prozess des Krieges wird nicht durch eine Rückführung in die Politik (etwa durch Aushandlung von Kapitulations- und Friedensbedingungen), die ja Grundlage des Krieges darstellt, beendet. Stattdessen wird durch die unbedingte gewaltsame Vernichtung eines der beiden Gegner dem Prozess ein Teil des Movens entzogen. Eine der wenigen Operationen, bei welcher Francos Truppen ihre Überlegenheit tatsächlich unter Beweis stellten, war die Schlacht bei Teruel. Entgegen der sonstigen 368 Benet: „Tres fechas“, S. 95. 369 Ebd., S. 94. 370 Benet: ¿Qué fue la guerra civil? , S. 38. 371 Ebd., S. 39. <?page no="143"?> 143 anachronistischen Kriegsführung wurde hier die moderne Form des Blitzkrieges antizipiert und das Verhalten der nationalistischen Truppen ließ Einheit und Kontrolle des Territoriums erkennen. 372 Das Verhalten der republikanischen Truppen lässt sich von Beginn an am ehesten mit defensiver Taktik beschreiben, die auf das Vorgehen der Nationalisten weitestgehend reagierte. Dies beginnt schon mit der sogenannten ‚proletarischen Revolution‘, die sich dort ergab, wo der nationalistische Putsch scheiterte: „Por el contrario, su fracaso [del alzamiento] fue el acicate para la revolución proletaria en las grandes ciudades […].“ 373 Dementsprechend haben die republikanischen ‚Truppen‘ von Anfang an eher einen „carácter inicialmente miliciano, provisional y un tanto amateur de su formación.“ 374 Auch unmittelbar nach dem Erfolg in den meisten Großstädten beschränkte man sich auf die Defensive: Por su parte el gobierno republicano, dueño de las grandes poblaciones (a excepción de Sevilla y Zaragoza) se limitó a aprestarse a la defensa, sin aventurarse en acciones bélicas […]. 375 Nachdem Madrid im November 1936 erfolgreich verteidigt werden konnte, gelang es den Republikanern aufgrund der bereits erwähnten internen Konflikte nicht, während der relativen Waffenruhe im Winter eine eigene Strategie zu entwickeln: Debido a sus dificultades internas, el gobierno de la República […] no había tenido tiempo de elaborar planes ofensivos de gran alcance para la primavera, limitándose a preparar ciertas acciones de alivio en los frentes de Aragón y Madrid. 376 Die einzige Operation, die nicht nur bloßes Reagieren auf Seiten der Republikaner, sondern sowohl einen strategischen als auch einen taktischen Erfolg darstellte, war nach Benets Einschätzung die Schlacht am Ebro. Die nationalistischen Truppen hatten durch die Einnahme großer Flächen Nordspaniens das republikanische Gebiet in zwei Teile geteilt und Katalonien war weitestgehend isoliert. Im Juli 1938 durchschritten die republikanischen Truppen den Ebro - zwar wohl wissend, dass die gegnerischen Truppen ihnen überlegen waren, jedoch mit dem Kalkül für sich selbst eine bessere Position für mögliche Verhandlungen und eine Kapitulation zu schaffen. Es kam zu einem verlustreichen Stellungskrieg, bei dem die Republikaner so wenig wie möglich versuchten, zurückzuweichen („se clavaron al terreno“ 377 ). Die Schlacht erfüllte jedoch durchaus ihren Zweck: „La campaña 372 Vgl. ebd., S. 65. 373 Ebd., S. 19. 374 Benet: „Tres fechas“, S. 95. 375 Benet: ¿Qué fue la guerra civil? , S. 21. 376 Ebd., S. 36. 377 Ebd., S. 70. <?page no="144"?> 144 del Ebro provocó una crisis de nerviosismo en la España nacional, tanto como en sus aliados.“ Selbst der Rückzug der Republikaner nach drei Monaten gelang „con perfecto orden“ und mit „precisión“, sodass er als erfolgreiches Beispiel Einzug in die Lehrpläne an sowjetischen Militärakademien fand. Dementsprechend kommt Benet zu der positiven Einschätzung der von Anfang an defensiven militärischen Operation: „[…] [Y]o opino que la batalla del Ebro fue un éxito militar de la República, al inducir al adversario a morder el cebo que le había preparado […].“ 378 Beiden Seiten wird also - mit den erwähnten Einschränkungen - schlechte Kriegsführung bescheinigt. Weder wussten die Nationalisten ihre Überlegenheit strategisch umzusetzen und einzubinden, noch profitierten die Republikaner von den taktischen Mitteln - wie Finten und Überraschungen - die ihnen die Kriegstheorie zur Verfügung stellt. Stattdessen wird die Konfrontation der beiden ideologischen Positionen zum Prinzip erhoben. Die Kriegsführung ist zwar ideologisch durchaus auf der Höhe des 20. Jahrhunderts und dessen Katastrophen anzusiedeln, jedoch keinesfalls militärtheoretisch. Der Krieg konnte so nur in der Vernichtung einer der beiden Seiten enden. III.3 Strategie und Taktik im raumtheoretischen Kontext Ein wesentlicher Bestandteil von Certeaus handlungstheoretischer Konzeption des Raumes ist die Übertragung der Begriffe Strategie und Taktik (in expliziter Anlehnung an Clausewitz 379 ) auf seine Raumtheorie. Er geht bei seiner Analyse von Alltagspraktiken und Konsumverhalten im weitesten Sinne davon aus, dass der „gemeine Mann“ 380 als Verbraucher, Konsument und im Allgemeinen als Handelnder nicht zu Passivität und Anpassung an Gegebenheiten verurteilt ist. La présence et la circulation d’une représentation (enseignée comme le code de la promotion socio-économique par des prédicateurs, par des éducateurs ou par des vulgarisateurs) n’indiquent nullement ce qu’elle est pour ses utilisateurs. Il faut encore analyser sa manipulation par les pratiquants qui n’en sont pas les fabricateurs. 381 Definiert er die Begriffe von Strategie und Taktik, so ist dies stets vor dem Hintergrund einer Profilierung der ‚passiven Konsumenten‘ und des ‚gemeinen Mannes‘ hin zu einem aktiven und subversiven Umgang mit bzw. zur Benutzung von bestehenden Machtverhältnissen zu verstehen. Das Be- 378 Ebd., S. 688. 379 Vgl. den expliziten Verweis auf Clausewitz Certeau: Arts de faire, S. 61f. 380 Certeau: Kunst des Handelns; S. 9. 381 Certeau: Arts de faire, S. XXXVIII. <?page no="145"?> 145 griffspaar stellt für ihn ein adäquates Werkzeug dar, diese Machtverhältnisse zu beschreiben und zu analysieren. Bezeichnend und hervorzuheben ist dabei weiterhin, dass er zum einen in seiner Untersuchung immer wieder Bezug auf Sprache, Rhetorik und Erzählung nimmt und zum anderen Überlegungen zum Raum von Beginn an unmittelbar an sein Verständnis von Strategie und Taktik geknüpft sind. Strategie setzt demnach stets einen eigenen lieu 382 voraus, der als Ausgangspunkt für Operationen, und Planungen dient. Sie arbeitet rational darauf hin, das Eigene vom Umfeld abzugrenzen: […] [T]oute rationalisation « stratégique » s’attache d’abord à distinguer d’un « environnement » un « propre », c’est-à-dire le lieu du pouvoir et du vouloir propres. Geste cartésien, si l’on veut : circonscrire un propre dans un monde ensorcelé par les pouvoirs invisibles de l’Autre. Geste de la modernité scientifique, politique, ou militaire. 383 Weiterhin wird durch die Setzung des lieu die zeitliche Perspektive untergeordnet. Die Expansion der Macht durch strategische Planung geht immer von diesem Ort aus und die Strategie wird stets versuchen, zeitliche Unwägbarkeiten einem Netz von Orten unterzuordnen. Strategie setzt auf das Sehen, auf den panoptischen Blick vom gesetzten Ort aus. Nur indem von einem hohen Abstraktionsgrad alles in den Blick genommen wird, lässt sich Kontrolle ausüben: La partition de l’espace permet une pratique panoptique à partir d’un lieu d’où le regard transforme les forces étrangères en objets qu’on peut observer et mesurer, contrôler donc […]. 384 Dieser panoptische Blick steht dem diametral gegenüber, was zuvor mit der haptischen und nahsichtigen Anschauung beschrieben wurde (Kapitel II.4.2). Darüber hinaus ist die Wechselbeziehung von Strategie, Macht und Wissen zu nennen. Indem durch Abgrenzung und durch den beschriebenen ‚eigenen Ort‘ Machtbereiche geschaffen werden und der panoptische Blick erreicht wird, wird Wissen überhaupt erst möglich gemacht. Gleichzeitig ist Wissen nötig, sich diesen lieu überhaupt erst schaffen zu können. Taktik hingegen ist die Kunst der Schwachen. Sie ist durch die Absenz des Eigenen und des Ortes charakterisiert: La tactique n’a pour lieu que celui de l’autre. Aussi doit-elle jouer avec le terrain qui lui est imposé tel que l’organise la loi d’une force étrangère. Elle 382 Vgl. Kapitel II.4.1. Dass diesem Verständnis von Ort gerade aus phänomenologischer Sicht nicht immer zugestimmt wird, zeigt folgender Aufsatz: Edward Casey: „Vom Raum zum Ort in kürzester Zeit. Phänomenologische Prolegomena“, in: Phänomenologische Studien 8 (2003), S. 55-95. 383 Certeau: Arts de faire, S. 59. 384 Ebd., S. 60. <?page no="146"?> 146 n’a pas le moyen de se tenir en elle-même, à distance, dans une position de retrait, de prévision et de rassemblement de soi […]. 385 Die Taktik kann nicht zu Planungszwecken ein Territorium überblicken und den Anderen nicht in einem abgetrennten Bereich objektivieren und gleichsam beobachten. Der panoptische Blick ist ihr nicht gegeben. Stattdessen reagiert sie spontan auf Gegebenheiten und handelt Schritt für Schritt. Was einerseits eine Schwäche bedeutet, verschafft ihr andererseits eine große Bewegungsfreiheit und eine Vielzahl an unvorhersehbaren Möglichkeiten: Ce non-lieu lui permet sans doute la mobilité, mais dans une docilité aux aléas du temps, pour saisir au vol les possibilités qu’offre un instant. Il lui faut utiliser, vigilante, les failles que les conjonctures particulières ouvrent dans la surveillance du pouvoir propriétaire. Elle y braconne. Elle y crée des surprises. Il lui est possible d’être là où on ne l’attend pas. Elle est ruse. 386 Die stärkste und wichtigste Eigenschaft der Taktik ist also die List. Diese verkehrt alle ihre Schwächen in einen großen Vorteil: Sie taucht dort auf, wo man sie nicht erwartet, wo der panoptische Blick sie nicht vorsieht. Je größer die Schwäche, desto weniger wird der Unterlegene versuchen, Stärke vorzutäuschen und desto mehr wird er sich auf die List, auf den Kern der Taktik besinnen. Taktiken sind für de Certeau immer Handlungen, die nur in der Zeit, in der sie vollzogen werden, an Bedeutung gewinnen können. Festzuhalten ist, dass Strategie auf die „Etablierung eines Ortes“, Taktik hingegen auf den „geschickten Gebrauch der Zeit“ 387 setzt. Indem der lieu jedoch in Abstraktion vom Raum entsteht, setzt die Strategie auf das Verfahren der carte und abstrahiert vom erfahrbaren und dynamischen Raum. Die Strategie setzt auf Punkte, die miteinander verbunden werden. Indem die Taktik die Zeit zu ihrem Vorteil ‚geschickt‘ nutzt, setzt sie auf das vektorielle Verfahren des parcours, der unvorhersehbar Raum durchwandert und somit gleichsam praktiziert und erschafft. Insbesondere im Hinblick auf den Einsatz von Karten und auf die Verabsolutierung strategischer Prinzipien (wie zum Beispiel in der Figurenrede des Oberst Hoffmann in En el estado) ist diese direkte Verknüpfung von raum- und militärtheoretischen Begriffen von Interesse. Gleichzeitig liegt die Vermutung nahe, Benets Erzählverfahren, die sich aus den erarbeiteten poetologischen Überlegungen zum Raum ergeben, mit den Begriffen Strategie und Taktik weitergehend profilieren zu können. Die These lautet dann, dass das Motiv bzw. Sujet Bürgerkrieg narrativ mittels strategischer und taktischer Verfahren vom Text inkorporiert wird und sich textuell materialisiert, während oberflächlich das mimetische Verfahren nachgeahmt wird. 385 Ebd., S. 60f. 386 Ebd., S. 61. 387 Certeau: Kunst des Handelns, S. 92. <?page no="147"?> 147 III.4 Die Kriegsmaschine Der Begriff der Kriegsmaschine wird von Deleuze und Guattari in dem zentralen Kapitel zur ‚Nomadologie‘ 388 in den Tausend Plateaus erläutert. Die Kriegsmaschine steht dort vor allen Dingen im Zusammenhang mit einer politischen Philosophie zur Entstehung und zum Funktionieren von (geopolitischen) Staatsgebilden. Dabei bezeichnet die Kriegsmaschine stets jene Bewegung, die der Festigung und territorialen Absicherung solcher Staatsgebilde entgegensteht. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführung zum Krieg ist zu beachten, dass die Kriegsmaschine nicht mit dem Krieg gleichzusetzen ist. Krieg erscheint in der Folge Clausewitz’ als legitimes Mittel zur politischen Festigung von staatlichen Interessen. Er geht aus dem Staat hervor und wird nach Beendigung wieder in politische Prozesse zurückgeführt. Die Kriegsmaschine hingegen ist dem Staat äußerlich und nicht institutionell gebunden, wie es etwa eine Armee ist. Sie ist „[...] ist eher so etwas wie eine reine und unermeßliche Mannigfaltigkeit, die Meute, das Hereinbrechen des Ephemeren und der Wandlungsfähigkeit.“ 389 Während der Staatsapparat zur Festigung seiner selbst, seines lieu auf die Kerbung des Raumes setzt, sind die Elemente der Kriegsmaschine stets im Werden. Die Autoren erläutern die Unterscheidung anhand der Spiele Schach und Go, die beide auf ihre Weise Krieg simulieren: Schach ist tatsächlich Krieg, aber ein institutionalisierter, geregelter, codierter Krieg mit einer Front, Rückzugsgefechten und Schlachten. Dagegen ist ein Krieg ohne Schlachtlinie, ohne Zusammenstöße und Rückzüge, sogar ohne Schlachten typisch für Go. Es ist reine Strategie, während Schach eine Semiologie ist. Und schließlich handelt es sich auch nicht um denselben Raum. Beim Schach geht es darum, sich einen begrenzten Raum einzuteilen, also von einem Punkt zum anderen zu gehen, eine maximale Anzahl von Feldern mit einer minimalen Anzahl von Figuren zu besetzen. Beim Go geht es darum, sich einen offenen Raum einzuteilen, den Raum zu halten und sich die Möglichkeit zu bewahren, an irgendeinem Punkt überraschend aufzutauchen: die Bewegung geht nicht mehr von einem Punkt zum anderen, sondern sie wird beständig, sie hat kein Ziel und keine Richtung, keinen Anfang und kein Ende. Der ‚glatte‘ Raum des Go-Spiels gegen den ‚eingekerbten‘ Raum des Schachspiels. 390 Der Strategie-Begriff, den Deleuze und Guattari verwenden, ist offensichtlich ein anderer als der, der in dieser Arbeit in der Folge Clausewitz’ und 388 Ich beziehe mich auf das Kapitel „1227 - Abhandlung über Nomadologie: Die Kriegsmaschine“ in Deleuze/ Guattari: Tausend Plateaus, S. 481-585. Die Unterscheidung von ‚Königswissenschaft‘ und ‚Nomadologie‘, in deren Kontext die Kriegsmaschine erläutert wird, wird bewusst vernachlässigt. 389 Ebd., S. 483. 390 Ebd., S. 484. <?page no="148"?> 148 Certeaus zur Geltung kommt. Demnach ist Schach die „reine Strategie“ - ein Spiel, in welchem jeder Figur eine bestimmte Funktion mit einer relativen Macht zugewiesen wird. Go hingegen wäre dementsprechend ein taktisches Spiel - den Figuren kommen situationsbezogene Funktionen zu, die immer wieder neu bestimmt werden müssen. Bei der Kriegsmaschine handelt es sich um eine ständige Bewegung der Deterritorialisierung, sie versucht den gekerbten Raum des Staatsapparats zu glätten. Dieser wiederum versucht sich die Kriegsmaschine immer wieder anzueignen und sie innerhalb staatlicher Institutionen zu ‚zähmen‘: Der Staat hat keine eigene Kriegsmaschine. Er eignet sie sich nur in Form einer militärischen Institution an, die ihm immer wieder Probleme bereitet. 391 Auch Deleuze und Guattari stellen einen direkten Bezug zu Clausewitz her, wenn sie von der oben erläuterten Idee des ‚absoluten Krieges‘ sprechen. Demzufolge ist die Tatsache, dass der absolute Krieg bei Clausewitz tatsächlich bloße Idee bleibt, die durch Friktionen und letztendlich durch entsprechend ‚gute‘ militärische Führer nie Realität wird, ein Anzeichen dafür, dass die Kriegsmaschine selbst eine Bewegung ist, die von außen auf den Staat trifft und ihm immer fremd sein wird. 392 Gleichzeitig haben Staaten seit jeher versucht, sich die Kriegsmaschine anzueignen, um dem eigenen Untergang entgegenzuwirken. In der Aneignung der Kriegsmaschine durch den Staat findet eine Verkehrung von Zielen und Motiven und der Zusammenhänge zwischen der Schlacht bzw. dem Gefecht im Kleinen und dem Krieg im Großen, wie man sie bei Clausewitz findet, statt. 1. [D]ie Kriegsmaschine ist eine nomadische Erfindung, deren erste Aufgabe nicht einmal der Krieg ist, sondern für die der Krieg nur ein zweites, supplementäres oder synthetisches Ziel in dem Sinne ist, daß sie dazu dient, die Staats-Form oder die Stadt-Form zu zerstören, mit der sie zusammenstößt; 2. wenn der Staat sich die Kriegsmaschine aneignet, bekommt sie offenbar ein anderes Wesen und eine andere Funktion, da sie nun gegen die Nomaden und gegen alle Staatsfeinde gerichtet wird, sie drückt die Beziehungen zwischen Staaten aus, so daß ein Staat mit ihr jetzt nur einen anderen vernichten oder ihm seine Ziele aufzwingen will; 3. gerade wenn der Staat sich die 391 Ebd., S. 486f. 392 Vgl. ebd., S. 487f. Auf S. 581ff gehen die Autoren kommentarlos von dem ‚absoluten‘ Krieg Clausewitz’ zum ‚totalen‘ Krieg Ludendorffs über und überblenden meiner Ansicht nach beide Begriffe auf problematische Art und Weise. Auch wenn sie damit richtig liegen, dass Clausewitz’ Abschwächung des absoluten Kriegs als Idee, die durch staatliche Kräfte gezähmt und auf den Boden der Tatsache geholt wird, einen ideologischen Hintergrund hat (immerhin war Clausewitz treu ergebenes Mitglied des preußischen Militärs), so ist doch bei ihm tatsächlich keine Mobilisierung aller staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen zugunsten des totalen Kriegs vorgesehen. Bei Clausewitz kann es nie zur Umsetzung kommen, bei Ludendorff (und in dessen Folge bei Hitler und Goebbels) ist die Umsetzung intendiert. <?page no="149"?> 149 Kriegsmaschine auf diese Weise aneignet, neigt diese dazu, den Krieg zum direkten und ersten Ziel, zum „analytischen“ Ziel zu machen (und der Krieg neigt dazu, die Schlacht zum Ziel zu machen). Kurz gesagt, während sich der Staat eine Kriegsmaschine aneignet, macht die Kriegsmaschine den Krieg gleichzeitig zum Ziel und der Krieg wird den Zwecken des Staates untergeordnet. 393 Krieg ist nicht mit der Kriegsmaschine gleichzusetzen, Krieg ist vielmehr eine Äußerungsform der angeeigneten Maschine durch den Staat. Die Schlacht selbst wird zum Ziel. Das bedeutet, dass die Maschine nach Aneignung und Einbindung in staatlichen Institutionen auf Äußerung in Form von gewaltsamen Schlachten drängt - und dies kann bis zum Äußersten, bis zum Vernichtungskrieg gehen. Demgegenüber steht die Vermeidung tatsächlicher Schlachten, die Deleuze und Guattari als das Ziel der rein taktisch agierenden Guerilla ansehen. 394 Mit dem durch Staatsapparate realisierten Krieg und der Kriegsmaschine als bloßer Idee werden zwei Pole beschrieben, die wieder in die Re- und Deterritorialisierungsbewegungen des glatten und des gekerbten Raums eingeordnet werden können. Am einen Pol ist der Krieg ihr Ziel [=der Kriegsmaschine] und sie bildet eine Destruktionslinie […]. Der andere Pol scheint uns der des Wesens zu sein, bei dem die Kriegsmaschine mit unendlich geringen „Quantitäten“ nicht den Krieg zum Ziel hat, sondern die Bahnung einer schöpferischen Fluchtlinie, die Bildung eines glatten Raumes und die Bewegung der Menschen in diesem Raum. 395 In Benets Analyse des Verhaltens Francos und seiner Truppen während der guerra civil lässt sich die langsame Aneignung der Kriegsmaschine durch ein sich bildendes faschistisches Staatsgebilde erkennen. Die Aneignung geschieht durch die Bildung institutioneller Gruppierungen (FE-JONS), die allmähliche Ausrichtung auf ein Ziel (nicht die Restaurierung der Monarchie, sondern die Einsetzung Francos als diktatorisches Staatsoberhaupt und Befehlshaber) und den Willen den Krieg zum Ziel zu machen und den Gegner so gut es geht zu vernichten (und nicht zu einem schnellen Kriegsende zu kommen). Die Begriffe Strategie und Taktik spielen wiederum auf zwei Ebenen eine Rolle. Zum einen lässt sich das Verhalten der Staatsapparate, die darauf aus sind, den glatten Raum zu kerben und ein Netz von feststehenden lieus zu schaffen, als strategisch verstehen. Demgegenüber steht der ‚nomadische‘, taktische Umgang mit dem Raum, der vektoriell in den Raum verweist und bestehende gekerbte Strukturen glättet. Andererseits beruht 393 Ebd., S. 578. 394 Eine reine Trennung ist eigentlich nicht möglich, übernehmen doch Guerilla und Krieg ständig Methoden voneinander. 395 Ebd., S. 584. <?page no="150"?> 150 die Idee der Kriegsmaschine, wie sie in Anschluss an Clausewitz von Deleuze und Guattari formuliert wird, bereits auf dem dynamischen Verhältnis von Strategie und Taktik, das eine Bewegung, bzw. einen Prozess beschreibt. Bewährt sich die These, dass Benets Texte die Prinzipien von Strategie und Taktik als Elemente des discours inkorporieren, so muss beobachtet werden, inwiefern und mit welchen Folgen sich der Text als Kriegsmaschine beschreiben lässt. III.5 Entideologisierung der guerra civil und Ausbildung von Fronten II Auch bei Benets literarischen Darstellungen des Krieges und bei seinen Referenzen auf historisch verbürgte Kriege geht es in erster Linie nicht um eine eindeutige ideologische Stellungnahme. Im Folgenden soll mit Hilfe mehrerer Textstellen aus Volverás a Región und Herrumbrosas lanzas gezeigt werden, inwiefern es bei der immer wieder geschilderten Ausbildung der beiden verfeindeten Fronten als grundlegende Voraussetzung des Bürgerkriegs eher um einen entideologisierenden Prozess als um eine eindeutige semantische Festlegung ideologischer Positionen geht. In Volverás a Región 396 werden im Kontext der ständigen Verspätung, die die republikanische Bewegung in Región im Hinblick auf die gesamtspanische Entwicklung auszeichnet, auch die Umstände der ‚Entscheidung‘ für die republikanische causa geschildert. Fue republicana por olvido u omisión, revolucionaria de oído y belicosa no por ánimo de revancha hacia un orden secular opresivo sino por coraje y candor, nacidos de una condición aciaga y aburrida. (S. 57f.) Demnach war Región nie republikanisch - weder wegen einer proletarischen Bevölkerung, die die Gegend schon zehn Jahre vorher verlassen hatte („carente de un proletariado que había emigrado diez años antes“, ebd.) noch wegen eines profunden Antiklerikalismus, der in Región immer schon ein Witz gewesen ist („el anticlericalismo será siempre un chiste“, ebd.) noch wegen einer starken gewerkschaftlichen oder anarchistischen Bewegung, die beide in Región nie Fuß gefasst hatten („el sindicato una vanidad y la anarquía, el respeto a la tradición“, ebd.). Vielmehr hat eine Mischung aus geographischen Gegebenheiten, die Región vom Rest des Landes abschotten, historischem Zufall und der „condición aciaga y aburrida“ zum Schulterschluss mit den Linken geführt. So ist auch die Bildung des „ridículo Comité de Defensa“ (S. 58) und seines Nachfolgers, des „Ejecutivo Popular“ in der Stadt Región keineswegs ideologisch eindeutig. 396 Alle Zitate aus Volverás a Región erfolgen im Fließtext bis die Analyse zu Herrumbrosas lanzas übergeht. Alle anderen Literaturnachweise erfolgen über Fußnoten. <?page no="151"?> 151 En el Ejecutivo no sólo estaban representados todos los partidos sino también todas las pasiones y facciones; no cabía hablar de delegados porque nadie representaba más que a sí mismo […]. (ebd.) Das ursprünglich als republikanisches Komitee konzipierte Organ wird zum Parlament von Einzelgängern, in dem keine ideologische Blockbildung möglich ist, da sich jeder Versuch in den Einzelinteressen der Individuen verliert. Der Eindruck der Kontingenz der Entscheidung für die eine oder die andere Seite wird mit der weiteren Lektüre verstärkt. Dieses Mal schildert die Figur Doktor Sebastián den Kriegsbeginn in Región. Cuando todo el país fue dividido por la catálisis del 36 no supieron al punto a qué polo acudir, cuál era la naturaleza de su carga íntima. Porque aquel que respetaba la Religión, ¿cómo iba a ponerse del lado del padre Eusebio? Y aquel que por sus lecturas se sentía republicano, ¿qué forma de respeto iba a guardar para Rumbal? (S. 138) Die Metapher der Katalyse wird beibehalten, wobei die positive und negative elektrische Ladung für die republikanische und nationalistische Seite stehen und sich die Bewohner Región für einen der beiden Pole entscheiden bzw. herausfinden müssen, welcher Ladung ihre „carga íntima“ entspricht. Dabei entscheidet jedoch auch in diesem Fall nicht eine innere oder eine historisch gewachsene ideologische Überzeugung - die Gesellschaft ist vielmehr von einem hohen „grado de desorientación“ geprägt. Kurz danach wird als Beispiel der junge Eugenio Mazón genannt, der die Linken wählte, obwohl er genauso gut die Rechten hätten wählen können. Es [= el campo] lo único que eligieron [= Eugenio y sus amigos], lo demás - el horror, la lucha fratricida, la mediocridad de los dirigentes, el engaño de la doctrina, la falta de apoyo y hasta la carencia de entusiasmo - les fue dado. Así que jugaron a sabiendas de que la partida estaba perdida, ¿qué más se podía pedir de ellos? Porque a fuer de sinceros es preciso considerar que si hubieran cambiado un par de circunstancias, es posible hubieran combatido del otro lado. Quizá fue el padre Eusebio quien les empujó hacia las izquierdas. (S. 140) Auch hier wird ständig die Möglichkeit offengehalten, dass es auch anders hätte kommen können. Eugenio Mazón ist später einer der Protagonisten und Anführer der republikanischen Truppen, und selbst er hätte genauso gut auf der Seite der Falangisten kämpfen können. Die Entscheidung für die Linke beruht also vielmehr auf einem historischen Zufall und den Vorkommnissen, die auf diesen Zufall folgen, als auf ideologischen Überzeugungen. Dementsprechend hält die Politik erst Einzug in das apolitischen Región, als sich Eugenio folgenreich für die linke Seite entschieden hat: <?page no="152"?> 152 La política - o más bien la expresión de alegría y desenfado republicanos - entró en Región subida en un coche grande y viejo que había adquirido Eugenio Mazón nadie sabe cómo. (S. 58) Nicht nur ist das Auto 397 eine ironische Metapher für den vermeintlichen Einzug der Moderne in Región. Darüber hinaus ist das Auto Vehikel für politisch-ideologische Positionen, die mit ihm genauso schnell wieder gehen können, wie sie gekommen sind. Ideologie wird im wahrsten Sinne transportiert und von außen nach Región hineingebracht. Mit diesen Darstellungen wird intensiv an dem ideologischen Gerüst des unbedingten tomar partido gerüttelt. Ideologische Überzeugungen sind weder historisch gewachsen noch gefestigt vorhanden, vielmehr überwiegen Opportunismus und Kontingenz. In Herrumbrosas lanzas 398 sind die Fronten, die sich gegenüberstehen, nicht nur republicanos und falangistas. Vielmehr bilden sich im Verlauf des Romanfragments immer weitere Fronten aus. So sehen sich die Kämpfer aus Región innerhalb der republikanischen Truppen mit plötzlichen Anforderungen aus Madrid und einer entsprechenden Gruppe von Abgesandten konfrontiert, die alles andere als freudig aufgenommen werden. Darüber hinaus kommen Feindseligkeiten innerhalb der Truppen in Región auf, die das eigene militärische Vorankommen nachhaltig behindern. Des Weiteren stehen sich die Städte Región und Macerta feindlich gegenüber (bzw. die Täler der Flüsse Torce und Lerna). Diese letzte Feindschaft verläuft zwar durchaus entlang der ideologischen Linien von Republikanern und Nationalisten, geht jedoch darüber hinaus. Die Feindschaft scheint jenseits der ideologischen Gräben schon seit längerer Zeit zu bestehen und ist des Weiteren durch eine territoriale Gegenüberstellung und Trennung gekennzeichnet. Der Wunsch der Falangisten in Macerta, Región zu ‚befreien‘, rührt daher auch nur sekundär von ideologischen Überzeugungen und primär von einer diffusen Rivalität zwischen den beiden Städten: Por todo ello solamente en la primera decena de septiembre empezaron a lanzarse y oírse los primeros gritos macertanos en pro de la ‚liberación de Región‘, una aspiración que no dejaba de estar emparentada con una vieja rivalidad local auspiciada por la oportunidad única de cobrarse esa clase de gratuita venganza, que no responde a ninguna afrenta anterior, sino que se 397 Das Auto ist in Volverás a Región - wie zum Beispiel auch der olmo oder die diligencia de Concarneau in En el estado - ein immer wiederkehrendes Element, das unabhängig von seiner semantischen Einbindung in die ‚Handlung‘ dem Leser als Orientierungshilfe dient. Vgl. zur Bedeutung des Autos und zu dem ‚vermeintlichen Scheitern der Technik‘ in Herrumbrosas lanzas Münster: Das Unsagbare sagen, S. 58-61. 398 Alle Zitate aus Herrumbrosas lanzas erfolgen im restlichen Verlauf dieses Kapitels im Fließtext. Alle anderen Literaturnachweise erfolgen über Fußnoten. <?page no="153"?> 153 alimenta de un despecho que ni siquiera es histórico, sino meramente verbal. (S. 75f.) 399 Das Interesse, Región einzunehmen, beruht auf einem Rache-Affekt und hat keineswegs das Ziel, die nationalistische Ideologie missionarisch zu verbreiten. Die Zuordnung zur republikanischen bzw. falangistischen causa erscheint somit auch hier vielmehr zufällig als historisch gewachsen, kann aber auf bereits bestehenden Rivalitäten aufbauen. Der Krieg im Allgemeinen kommt von außen, anstatt auf inneren Überzeugungen zu fußen: Salvo muy pocas excepciones - salvo las revueltas campesinas, en último término -, la guerra en una comarca apartada y atrasada viene siempre de fuera, es un regalo más del gobierno y la capital, una irrupción de lo moderno en el reino de la anacronía; sin que nada nuevo haya ocurrido dentro de sus límites de repente la comarca, una mañana de julio, se encuentra en guerra […]. (S. 70) Der Krieg dringt unter den Vorzeichen der Modernität - ähnlich wie das Auto Mazóns - in die abgeschiedene und vor allen Dingen vom Fortschritt abgeschnittene Region ein. Somit ist der Ursprung des Krieges nicht in Región selbst zu suchen. Genauso wenig hat die Zuordnung der beiden Flusstäler zu einem der verfeindeten ideologischen Lager ihren Grund dort: Das Tal der Stadt Región wird von republikanischen Truppen aus Nordspanien regelrecht besetzt und damit unweigerlich diesem Lager zugeordnet: Tras la alargada camionera que comenzó el 18 de julio, la revolución en Región hubiera quedado en nada, de no ser por la llegada de un [sic! ] caravana de coches […] procedente de Asturias, con una veintena de verdaderos revolucionarios decididos a enardecer los ánimos un tanto tibios de la clase trabajadora local. En realidad fueron a saquear […]. (S. 76) Die Bemerkung, dass mit den Asturianern ‚richtige Revolutionäre‘ nach Región kommen, weist darauf hin, dass alles, was bisher in der Gegend an politischer Agitation stattgefunden hat, wenig mit den republikanischen Beweggründen gemeinsam hat. Macerta und das Tal des Lerna wird den Falangisten zugeordnet, weil ein dorthin abkommandiertes Regiment ‚es so will‘: En contraste con Región y toda la ribera del Torce, el contiguo valle del Lerna y su capital natural, Macerta, abrazaron la causa de la rebelión porque así lo quisieron los mandos del Regimiento de Ingenieros allí acantonado. (S. 72) 399 Was genau mit diesem ‚verbalen Zorn‘ gemeint sein könnte, bleibt unklar. Eine Deutung wäre, dass die Rivalitäten jeglicher greifbaren Fundierung (wie zum Beispiel territoriale Konflikte in der Vergangenheit) entbehren und seit jeher rein verbaler - und damit oberflächlicher - Natur sind. <?page no="154"?> 154 Der spanische Bürgerkrieg als Gipfel der ewigen Konfrontation der dos Españas war und ist dermaßen ideologisch aufgeladen, dass die Schilderung der absoluten Kontingenz, was die Zuordnung der beiden Flusstäler zu einem der beiden Lager betrifft, regelrecht verstörend wirkt. Die Tatsache, dass die asturianischen ‚Besatzer‘ nicht kommen, um die republikanische Idee in Región einzuführen, sondern um zu plündern, verleiht dieser Beschreibung noch einen zusätzlichen zynischen Unterton. Es wurde bereits angemerkt, dass es nicht nur die Republikaner und die Falangisten sind, die zwei sich gegenüberstehende Fronten bilden. Innerhalb der republikanischen Gruppierungen bilden sich zwei Lager aus - die einheimischen Republikaner in Región, vertreten durch el Comité de Defensa de Región, und die nach Región entsandten madrilenischen Republikaner, die den republikanischen Generalstab vertreten, vor allen Dingen in der Person des Oberstleutnants (teniente coronel) Fernández Lamuedra. Beide Seiten verfolgen unterschiedliche Interessen, stehen grundsätzlich dem anderen Lager misstrauisch gegenüber und sind sich feindlich gesinnt. So hat Región für den Generalstab keinerlei militärische Bedeutung, sondern ist vielmehr Hindernis als nützliche Bastion: Incluso se llegó a pensar [la República] - en el segundo año de la guerra - en una operación militar de pequeña escala lanzada […] sin otro propósito que espolear la reacción del adversario y empujarle, aun a regañadientes, a limpiar de una vez aquel incómodo y recalcitrante foco de resistencia. (S. 41) 400 Die Delegation aus Madrid mit Lamuedra an der Spitze kommt nach Región mit keinen geringeren Intentionen, als das dortige comité aufzulösen, die Menschen aus Región um ihre militärische Eigenständigkeit zu bringen und um sie in die Reihen der Truppen des Generalstabs ein- und vor allen Dingen diesen unterzuordnen. Die Abgesandten verfolgen einen Plan im engen und im weitesten Sinne: Ihr Vorgehen und ihr Verhalten gegenüber den regionatos während der Versammlung ist von vornherein abgesprochen und geplant. Des Weiteren bringen sie einen elaborierten militärischen Plan mit, der in der Versammlung nach den Vorgaben des Generalstabs weiter ausgearbeitet und abgeschlossen werden soll 401 . Im Gegensatz dazu haben die regionatos weder einen Plan, wie sie den Machenschaften in Madrid etwas entgegensetzen sollen, noch einen militärischen Plan zur strategischen Vorbereitung der militärischen Maßnahmen. So sind die regionatos noch nicht einmal unter sich geeinigt, als sie in eine Versammlung am 8. Februar mit den Abgesandten aus Madrid gehen: „[E]n tanto de los nueve de Región no había tres que hasta entonces hubieran pensado de la misma manera en una u otra ocasión […].“ (S. 51) In dieser Versammlung sollen Pläne für den 400 Auf das militärische Verhalten der republikanischen und falangistischen Generalstäbe wird an späterer Stelle noch näher eingegangen. 401 Siehe zu den Plänen der Delegation aus Madrid S. 43f. <?page no="155"?> 155 weiteren Fortgang des Krieges und vor allen Dingen für den Feldzug gegen Macerta („La Ofensiva de Macerta“) geschmiedet und abgesegnet werden: A la reunión del 8 de febrero asistieron catorce personas, nueve de Región, cinco enviados por Madrid. Aun cuando con anterioridad se había decidido que todos los acuerdos serían tomados por unanimidad, para todos era evidente que los de Madrid y los de Región formaban dos bloques antagonistas, cada uno de los cuales deseaba dominar la convocatoria, a fin de llegar a unas resoluciones concordantes con sus puntos de vista. (S. 50) Mit der Bezeichnung „bloques antagonistas“ wird das Oppositionsverhältnis zu einem ernsthaften internen Konflikt. Dieser Eindruck wird durch die Sitzordnung auf den ersten Blick noch verstärkt. 402 So nehmen die beiden Anführer der „bloques antagonistas“ jeweils die beiden Tischenden ein: En una cabecera de la larga mesa del claustro de profesora se sentó el teniente coronel Fernández Lamuedra […]. En el otro extremo de la mesa […] acostumbraba a tomar asiento el viejo Constantino […]. (S. 44f.) Die Bereitschaft, Kompromisse im Sinne der republikanischen Sache einzugehen, ist so gut wie nicht vorhanden. Das vorrangige Interesse beider Blöcke ist, ihre eigenen Interessen durchzusetzen, welche Art sie immer auch sein mögen und unabhängig davon, ob sie militärisch sinnvoll sind oder nicht. Die Vertreter des Comité setzen ganz eindeutig auf eine Verzögerung. Sie wollen eine Entscheidung zur Umbenennung und Unterordnung der eigenen Truppen so lange wie möglich herauszögern, damit es nicht zur Besprechung der militärischen Pläne kommt. 403 Darüber hinaus etablieren sich weitere Fronten innerhalb der Gruppe der regionatos. Sie ziehen nicht, wie vermutet werden könnte, gegenüber den madrilenischen Abgesandten an einem Strang, sondern verlieren sich in persönlichen Animositäten und Hierarchiekämpfen. So gibt es zum Beispiel Julián Fernández alias Manchado, der ursprünglich als Nachfolger des alten Constantino - neben Eugenio Mazón eine Anführerfigur der Truppen in Región - gehandelt wurde. Während der Versammlung steht er aber in direkter Konkurrenz zum jungen Constantino 404 und richtet sich nun eher nach den Madrilenen, insbesondere nach der Figur des capitán Arderíus. 402 Vgl. zu Benets ‚Zerschreibung‘ von realistischen Sitzordnungen und der Unmöglichkeit der Etablierung von Hierarchien durch räumliche Ordnung die Kapitel II.2.3 und II.7. 403 „Tanto Constantino como Eugenio Mazón vislumbraron enseguida el excelente provecho que podían extraer de aquella espinosa cuestión con la que prolongar discusiones, remitir su solución a sucesivas convocatorias y demorar el examen del siguiente punto, mucho más comprometedor para ellos.“ (S. 58f.) 404 Vgl. zu dieser Rivalität S. 52f. <?page no="156"?> 156 Ein anderes Beispiel für die Feindseligkeiten innerhalb der Truppen von Región ist das Verhalten der Figur Estanis, welche das „Batallón Metalúrgico“ (S. 81) 405 innerhalb der Kolonne von Eugenio Mazón während militärischer Operationen im Jahr 1938 anführt. Nachdem die Falangisten die Stadt El Salvador eingenommen haben, kommen die in drei Gruppierungen aufgesplitteten republikanischen Truppen dort zu spät an. Anstatt sich jedoch auf den militärischen Gegner zu konzentrieren, ist Estanis komplett auf seinen Mitstreiter Timoner fixiert: Para aquel entonces ya había olvidado el enigma de las descargas del mediodía y, situado en aquellas alturas, tan sólo ansiaba ser el primero en entrar en combate, aprovecharse en lo posible de la sorpresa y verse envuelto en él con una sustancial ventaja sobre sus seguidores y, por encima de todo, a poder ser, sobre Timoner, a quien detestaba. (S. 94) „[S]us seguidores“ sind in diesem Fall die Mitstreiter Mazón und Timoner mit ihren Truppen. Das heißt, Estanis will, koste es, was es wolle, als Erster auf die feindlichen falangistischen Truppen treffen und als Erster in den Kampf eintreten. Doch dabei geht es ausschließlich um seine persönlichen Befindlichkeiten und seinen Ehrgeiz und nicht darum, auf militärisch sinnvolle Art und Weise den Feind einzukreisen und in Zusammenarbeit mit seinen Mitstreitern zu besiegen. Dieses Konkurrenzverhältnis wird an späterer Stelle im Text als purer Hass beschrieben: Pero detestaba a Timoner: lo detestaba hasta el punto de no tomarlo en consideración, hasta el punto de suspirar por la posibilidad de convertirse un día en su adversario, hasta el punto de aceptar sólo mediante la ignorancia la camaradería de las armas y hasta el punto de borrar de todos los mapas el espacio ocupado por él. (S. 138f.) Estanis steigert sich immer weiter in diese Feindschaft hinein, bezeichnet seinen eigentlichen Kameraden als zukünftigen Feind und will ihn aufgrund der Repräsentationsmacht von militärischen Karten aus eben solchen auslöschen - was für Estanis der Auslöschung Timoners gleichkäme. Gerade für Herrumbrosas lanzas, der Text, der sich am konsequentesten der Beschreibung von Kriegshandlungen und dem Kriegsverlauf in Región widmet, ist es charakteristisch, dass sowohl aus Sicht der republikanischen als auch der falangistischen Truppen erzählt wird. Nicht nur verhindert die Erzählung so aufgrund ihrer Fokalisierung eine eindeutige Entscheidung für oder gegen das eine oder das andere Lager. Darüber hinaus verliert eine klare Unterscheidung zwischen beiden Lagern an Trennschärfe, verliert der 405 Zur Vorstellung der Figur Estanis und zu seinem Beruf des Metallarbeiters - eine relativ absurde Vorstellung angesichts der Tatsache, dass es in Región keine Metallindustrie gibt - siehe S. 60f. <?page no="157"?> 157 Leser sich doch in den häufigen Wechseln einerseits zwischen den Bewegungen der verschiedenen Regimenter der Republikaner (vor allen Dingen anhand der drei Truppenführer Mazón, Estanis und Timoner), andererseits zwischen republikanischer und nationalistischer Perspektive, in dem stetigen Einführen unzähliger neuer Figurennamen und in den häufigen, nicht markierten Zeitsprüngen zwischen den Jahren 1936, 1937 und 1938. Diese Beispiele belegen, dass die Texte sehr wohl die grundsätzliche Struktur der Ausbildung von zwei Fronten aufnehmen, die die strukturelle Voraussetzung für ein Kriegsgeschehen bilden. Mit den entsprechenden Bezeichnungen als Linke und Rechte, als Republikaner und Falangisten, wird auch die entsprechende ideologische Zuordnung geliefert. Oberflächlich bieten die Texte also die konventionelle Deutung einer literarischen Darstellung des spanischen Bürgerkriegs an, wobei die unüberbrückbare Spaltung in zwei ideologische Lager auch im Text - ähnlich wie bei der kartographischen Darstellung mit dem Mapa de Región - ihre geographische Entsprechung in zwei benachbarten Tälern findet. Tatsächlich bleibt diese ideologische Aufladung jedoch substanzlos. Keine der Figuren - weder in Región- Stadt, noch im verfeindeten Lager in Macerta - handelt aus ideologischer Überzeugung. Ideologie erscheint als etwas, das den Figuren aufoktroyiert bzw. wie eine Verkleidung übergezogen wird 406 . Es ist ein Oberflächenphänomen ohne essentielle Bedeutung. In einem weiteren Schritt nehmen die Texte die eindeutige ideologische Deutung durch die Verselbstständigung der Aufspaltung zurück. Die Bildung von zwei oppositionellen Lagern wird zum Automatismus, der das Verhältnis zwischen den Figuren und Figurengruppen an sich ausmacht. So verliert die ideologische Deutung an Virulenz. Darüber hinaus werden beiden politischen Lagern Absichten unterstellt, die von der ‚einen, ehrlichen‘ ideologischen Absicht abrücken (wie z.B. die Plünderungen), und die Handlungen entbehren zum Teil jeglicher fundierten Entscheidungsgrundlage (wie z.B. das plötzliche Interesse an der vom Feind eingekesselten Front von Región und die militärischen Entscheidungen, die daraufhin getroffen werden). Persönliche Animositäten und Bestrebungen gehen tiefer und reichen weiter zurück als jegliche aufoktroyierte Ideologie. Der Bürgerkrieg an sich ist Región fremd und kommt von außen. Demnach lässt sich einerseits von einer konsequenten Entideologisierung des ‚Motivs‘ des spanischen Bürgerkriegs in der Erzählung sprechen, welche die Entideologisierung, die in den Essays vollzogen wurde, aufgreift. Andererseits wird die grundlegende kriegerische Dynamik der Konfrontation zweier ver- 406 Vgl. hierzu den Beginn des in Kapitel II.5 besprochenen Zitats: „[...] [S]e fue impersonalizando la tragedia, encomendada no a héroes, sino a representantes de las diversas facciones, pero sin que en el reducido escenario de una pequeña ciudad de provincias semejantes libreas acertaran a encubrir plenamente a las personas que con ellas se cobijaban.“ (S. 117, Hervorhebung von mir) <?page no="158"?> 158 feindeter Lager konsequent in den Text eingebunden und als narratives Movens verwendet. 407 Die Ausbildung von Fronten stellt - wohl am offensichtlichsten in Herrumbrosas lanzas - eine grundlegende Antriebskraft für den Erzählprozess dar und nicht bloßes Sujet einer kaum rekonstruierbaren Handlung. III.6 Der Kampf Mazón - Ochoa als mise en abyme Am Beispiel der Schilderung eines Zweikampfes in Form einer mise en abyme in Herrumbrosas lanzas 408 wird im diesem Kapitel gezeigt, wie sich anhand dieses Zweikampfes, nach Clausewitz ja die Kernzelle des Krieges, wesentliche Elemente nicht nur der histoire, sondern insbesondere des discours äußern. Das heißt, an diesem Zweikampf manifestiert sich die Dynamik, die den Krieg von einem Darstellungsmotiv zu einem narratologischen Prozess werden lässt. Große Teile des siebten Buches von Herrumbrosas lanzas widmen sich der Familiengeschichte der Mazón. Ein wichtiges Element dieser Familiengeschichte ist der Kampf zwischen dem erstgeborenen Eugenio Mazón, einem Vorfahren des Eugenio Mazón zur Zeit des Bürgerkriegs, der seine Heimat Región verlassen hat, und dem Erstgeborenen der Familie Ochoa aus Pamplona. Eugenio besiegt Ochoa unerwarteterweise im Zweikampf. Die Nachricht über diesen Sieg eilt ihm in die Heimat voraus und verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Bezeichnend ist, dass die Bevölkerung von Región und selbst Eugenios eigene Familie die Nachricht von diesem sehr ruhmreichen Sieg nicht etwa von ihrem Sohn selbst erfahren, sondern von einem Augenzeugen, dem „testigo presencial“ 409 . Im Folgenden wird dann, nach einigen Einschüben, von dem Zweikampf berichtet. Dies geschieht jedoch nicht einfach über den (zumeist) extradiegetischen Erzähler, sondern in einer pseudointradiegetischen 410 Erzählung durch den testigo presencial, der von dem berichtet, was er selbst gesehen hat. Die gesamte Textstelle lässt sich als mise 407 Vgl hierzu auch die Familienfehde der Mazón, auf die im nächsten Unterkapitel im Kontext der mise en abyme eingegangen wird. 408 Alle Zitate aus Herrumbrosas lanzas erfolgen in diesem Kapitel im Fließtext. Alle anderen Literaturnachweise erfolgen über Fußnoten. 409 „Al mes, aproximadamente, de su fugaz paso por Región se supo por un testigo presencial del acontecimiento que Eugenio Mazón había ganado en Pamplona un combate de lucha contra el hijo mayor de los Ochoa […].“ (S. 291) Mit diesem Satz beginnt die Textstelle bzw. das isolierbare Textsegment, das hier als mise en abyme bezeichnet und untersucht wird. Zum Ende der Textstelle siehe S. 173 der vorliegenden Arbeit. 410 Auf den Begriff des pseudodiegetischen Erzählers nach Genette und seiner Anwendung hier wird später noch näher eingegangen. <?page no="159"?> 159 en abyme 411 mit stark metapoetischem Charakter sowohl auf inhaltlich-thematischer als auch auf struktureller Ebene beschreiben. III.6.1 Der Kampf - el grano Auf der thematisch-inhaltlichen Ebene handelt es sich bei der mise an abyme zunächst einfach um die Erzählung des Kampfes bzw. eines kriegerischen Konflikts. Der testigo presencial 412 reist durch Región und erzählt stets vor Publikum vom Kampf, dem er beiwohnte: El combate había levantado mucha expectación […]. En ocasiones el testigo presencial, para prolongar su relato, introduciría alguna nota pintoresca sobre la Pamplona en fiestas […] a lo que el público - sabiamente conducido - replicaría bien con gritos “¡Al combate, al combate! ¡Al grano, al grano! “ (S. 296) Mit der Aufforderung „¡Al grano, al grano! “ wird auf einer metanarrativen Ebene die Bewegung des Textes vorgegeben. Der Kampf stellt den Kern bzw. die Essenz und das Sujet der Erzählung dar. 413 Hervorzuheben ist hier einerseits die Formulierung des combate als grano. Vor dem erarbeiteten militärtheoretischen Hintergrund ist es sicherlich kein Zufall, dass der Kampf, „una confrontación entre dos conjuntos más o menos homogéneos“ 414 , als grano einer Erzählung bezeichnet wird. Hier findet eine direkte narratologische Übertragung von Clausewitz‘ Konzept statt, mit welchem das Gefecht als Kernzelle des Krieges bezeichnet wird. Der Kampf ist grano im Sinne des Sujets einer Erzählung, gibt die Gegenüberstellung von zwei Fronten doch die binäre Struktur vor, die Voraussetzung für eine Grenzüberschreitung und damit für ein Ereignis und in dessen Folge für einen sujethaltigen Text 411 An dieser Stelle kann keine theoretische Diskussion über den Begriff der mise en abyme geführt werden. Die mise en abyme wird hier als Figur der Rekursivität und Selbstreferenz verstanden, die sich durch ein isolierbares Textsegment auf einer untergeordneten Textbzw. Erzählebene manifestiert und somit signifikant für Handlung oder poetologische Aspekte der übergeordneten Ebene oder des gesamten Textes wird. Vgl. zu kurzen, zusammenfassenden Definitionen Werner Wolf: „Mise en abyme“, in: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart: Metzler, 2004, S. 461 und den Eintrag „Mise en abyme“ in Carlos Reis/ Ana Cristina Lopes/ àngel Marcos de Dios (Hgs.): Diccionario de narratología, Salamanca: Almar Ediciones, 2002, S. 143f. 412 Der Name Ventura León wird erst sehr spät genannt. Der testigo presencial wird die meiste Zeit in der mise en abyme auf seine Funktion als berichtender und erzählender Augenzeuge reduziert. Auf diese Funktionalisierung der Figur und auf eine entsprechende funktionelle Wandlung wird später noch näher eingegangen. 413 Siehe auch S. 292: „[...] [Y] aun despojando todo su discurso de los halagos cartageneros, quedaba una noticia que durante mucho tiempo fue el plato fuerte de toda conversación entre hombres.” 414 Vgl. das entsprechende Zitat auf S. 135 der vorliegenden Arbeit. <?page no="160"?> 160 nach Lotman ist. 415 Durch den Kampf suchen die Figuren dementsprechend die Grenze dieser binären Struktur zu überwinden. Das Ereignis, der grano des Zweikampfes zwischen Mazón und Ochoa wird in den immer wiederkehrenden Erzählungen des Augenzeugen nicht verändert werden. Das Was der Erzählung, der eigentliche Bericht dessen, was bezeugt wird, bleibt somit gleich. Das Wie hingegen erfährt bei dem fahrenden Erzähler immer neue und ausufernde Ausschmückungen. 416 Der Kampf ist also inhaltlicher und struktureller grano. Der Krieg stellt das Motiv einer großen Anzahl fiktionaler Texte Benets dar. Somit kann die Erzählung des Kampfes zwischen Mazón und Ochoa schon auf thematischer Ebene als Metaerzählung und als mise en abyme verstanden werden. Darüber hinaus wird über den combate auf den engeren diegetischen Rahmen der Textstelle verwiesen: In das große Romanfragment Herrumbrosas lanzas, dessen hauptsächlicher Handlungsstrang in der Zeit des spanischen Bürgerkriegs zu verorten ist, wird unter anderem im siebten Buch die Familiengeschichte der Mazón eingeschoben. Diese spielt zur Zeit der Karlistenkriege, sprich im 19. Jahrhundert. Die Karlistenkriege bilden den historischen Hintergrund, vor welchem die Familienfehde der Mazón geschildert wird. Dabei geht es vor allen Dingen um die Aufspaltung der Familie in zwei Klans, die sich zu eben jener Zeit vollzogen hat: Eugenio Mazón era el último vástago de una de las dos ramas de la familia, la que a lo largo de cuatro generaciones había permanecido en Región con una decidida preferencia hacia las propiedades y los asuntos urbanos, en contraste con la otra rama que encontró la estabilidad campesina a cambio de la trasposición del apellido. (S. 255) Die Entstehung der „dos ramas de la familia“ wird letztendlich durch zwei Brüder, Cristino und Eugenio, und deren Mutter Laura Albanesi ‚vollendet‘. Der Kampf des Vorfahren Eugenio mit Ochoa und die Nachricht davon, die sich wie ein Lauffeuer verbreitet, fördert wiederum den Familienstreit: Por consiguiente, al poco tiempo de la llegada de la noticia traída por el testigo presencial y confirmada por buen número de pruebas documentales, se desató una nueva guerra entre Laura Albanesi por un lado y por otro los que pretendían que entre madre e hijo mediaba un abismo […]. (S. 293) 415 Inwiefern diese binäre Struktur in einer topologischen Raumordnung ihre Entsprechung findet, konnte in Kapitel II der vorliegenden Arbeit gezeigt werden. 416 Siehe S. 299f: „ El relato, en esencia, era siempre el mismo, pero cada nueva edición el testigo presencial se sentía obligado a añadir algo hasta entonces inédito y no sólo como propina, sino para suministrar a la mayoría del auditorio […] un nuevo ingrediente […].“ <?page no="161"?> 161 Era la tercera guerra que se libraba en una década. No podía convenir más a los intereses de Cristino […]. […] [E]l apasionamiento provocado por su hazaña [la de Eugenio] bastaba para caldear el ambiente contra su madre, sin necesidad por su parte de aportar leña al fuego […]. (S. 294) Der Kampf spiegelt sich also auf mehreren Ebenen der Diegese. Dabei handelt es sich nicht um symmetrische Spiegelungen, sondern vielmehr um vielseitige thematische Doppelungen, die um das Motiv des Bruderkriegs kreisen. Das Publikum des Augenzeugen wird von vornherein als ein kritisches dargestellt. Mit dem Ausruf „¡Al combate, al combate! ¡Al grano, al grano! “ duldet es keine Abschweifungen von dem eigentlichen inhaltlichen Kern der Erzählung, vom Kampf. Es möchte, dass der Augenzeuge auf den Punkt kommt. Durch die aktive Rezeptionsweise des Publikums öffnet sich somit eine weitere Dimension: die Erzählung selbst wird zum Kampf, bei welcher Erzähler- und Publikumsinteressen im Widerstreit stehen. Liest man den Ausruf „¡Al combate, al combate! ¡Al grano, al grano! “ als selbstironischen Kommentar, so finden Erzähler- und Publikumsinteressen wiederum ihre Entsprechung in Text- und Leserinteressen. Denn tatsächlich kommen Benets Texte nie sofort ‚auf den Punkt‘. Sie erzählen schon immer mehr als das bloße Ereignis oder bleiben gar ereignislos. Auch die für Benet typische Syntax sperrt sich gegen das Anliegen, zum Punkt zu kommen. Durch unendliche Hypotaxen und Hyperbata streben die Sätze in die Breite, anstatt linear im Syntagma zum Punkt zu kommen. Sie verräumlichen die Textoberfläche und gehen auf Um- und Abwege. Sowohl inhaltlich als auch syntaktisch widerstreben die Texte dem ir al grano, was jedoch von Seiten des Lesers zunächst einmal eingefordert wird. Sowohl das intradiegetische Publikum in Región, das sich kritisch mit der Erzählweise des testigo presencial auseinandersetzt, als auch der Leser möchten, dass die Erzählung, bzw. der Text auf den Punkt kommen. Der thematische Kern, der Kampf als grano, wird somit auch auf das Verhältnis von Erzählung bzw. Text und Publikum bzw. Leser übertragen: Dieses Verhältnis ist ein ständiger Kampf, ein Widerstreit zwischen den Interessen der Erzählung auf der einen und denen der Rezipienten auf der anderen Seite. Während erstere der Lust am Erzählen auf Abwegen folgt, möchten letztere zunächst einmal eine tatsächliche Erzählung, die Anfang, Mitte und Ende, sprich eine Handlung und ein Sujet hat. Sie möchten einen Text, dessen Sätze nicht das Kurzzeitgedächtnis des Lesers überschreiten, und eine Erzählung, die zum Punkt kommt. Der Leser sieht unweigerlich seine eigene Erwartungshaltung an den Text reflektiert. Auch hier lässt sich beobachten, wie der Text den Leser in gewisser Weise ‚einberuft‘, da er, sei es bewusst oder unbewusst, dazu angehalten wird, die eigene Rezeptionshaltung zu hinterfragen. Der Text wiederum spielt mit dem Auf- <?page no="162"?> 162 greifen des Prozesses, der die Dynamik des Krieges ausmacht, gleichermaßen Erkenntnisinteresse, eigene Darstellungsverfahren und die Lust an Sprache und am Erzählen gegeneinander aus. Darüber hinaus ist die Parallele zum metapoetischen Kommentar, der in Kapitel II.5 analysiert wird, zu unterstreichen. Mit dem grano, dort das ‚Filmkorn‘, verweist der Text vor diesem Hintergrund auch auf die eigenen räumlich-bildlichen Darstellungsverfahren und das sich selbst ständig torpedierende epistemologische Vorgehen, zum Wesen der Dinge vordringen zu wollen. III.6.2 Inszeniertes Erzählen Das aktive, kritische Publikum belässt es nicht bei der Aufforderung, zum Punkt zu kommen, sondern stellt weitere kritische Rückfragen: “¿Como un gato? ”, preguntaría alguno del público, sin duda descontento de una comparación tan poco favorecedora, que obligaría al relator a moderar sus metáforas. (S. 296) Der Augenzeuge verwendet offensichtlich inadäquate Metaphern, die ihm das Publikum nicht glaubt und wegen derer es ihn zurechtweist. 417 Darüber hinaus verwandelt sich die Zuhörerschaft immer mehr zu einem Publikum, das dem Kampf tatsächlich beiwohnt. Die ursprünglich intradiegetisch angelegte Erzählung wird insofern wieder zurückgenommen, als dass der testigo presencial keine eigene Stimme hat - es handelt sich um eine pseudodiegetische Erzählung 418 . Der Text markiert somit nicht den Wechsel zwischen der Hypodiegese 419 und den Reaktionen der intradiegetischen Zuhörer. Dies hat zur Folge, dass die Erzählung zur Inszenierung wird und das Publikum sich auch dementsprechend verhält: Sabía el público que se acercaban los momentos más dramáticos y había un rebullir de cuerpos, toses, ruidos de patas de silla, algunos que reclamaban 417 Warum nun genau der Vergleich von Eugenio Mazóns Art und Weise sich zu bewegen mit der einer Katze in den Augen des Publikums wenig vorteilhaft ist, bleibt offen. In dieser Argumentation geht es vielmehr um die beständige kritische Einstellung des Publikums zum Bericht des Augenzeugen. 418 Siehe Gérard Genette: Figures III, Paris: Editions du Seuil, 1972, S. 248f.: „Partout ailleurs […] la pratique constante du récit dans la Recherche est ce que nous avons baptisé le pseudo-diégétique, c’est-à-dire un récit second en son principe, mais immédiatement ramené au niveau primer et pris en charge, quelle qu’en soit la source, par le héros-narrateur.“ 419 Um begriffliche Klarheit zu garantieren, wird hier anders als bei Genette nicht die Kategorie ‚Metadiegese‘ verwendet (vgl. ebd, S: 238ff). Zum Begriff der Hypodiegese siehe Shlomith Rimmôn-Qênān: Narrative fiction. Contemporary poetics, London: Routledge, 1991, S. 91ff. ‚Hypodiegese‘ bezeichnet somit die Diegese in der Intradiegese. <?page no="163"?> 163 silencio y otros que se levantaban de su asiento para observar mejor al narrador, como si les fuese dado seguir en su faz el desarrollo del acontecimiento que una historia desatenta les había privado de contemplar. (S. 297) Die Zuhörer reagieren durch Unruhe und Husten körperlich auf das Erzählte. Darüber hinaus ist nicht mehr nur das bloße Zuhören wichtig, sondern die tatsächliche Sicht auf den Erzähler. Der Kampf ist ein theatrales Spektakel 420 , das betrachtet und erlebt werden muss. Der Boxring selbst ist bereits eine Bühne in der Bühne, denn offensichtlich wird er in der Stierkampfarena von Pamplona errichtet: „El combate había levantado mucha expectación - en una plaza de toros donde acababan de terminar los festejos taurinos […].“ (S. 296) Der Zweikampf trägt somit den Charakter der Inszenierung bereits in sich. Der Vergleich des Rings und des ihn umgebenden Publikums mit einer Theaterbühne findet sich im Text auch wieder: En el decimosegundo asalto Ochoa le pilló; todo fue tan rápido que nadie pudo ver el fallo de Mazón o el acierto de Ochoa, pero el caso es que le pilló en el mismo centro del cuadrilátero y sin darle tiempo a reaccionar le aplicó sin misericordia su triple golpe; triple o tal vez cuádruple. Fue un golpe terrible que levantó del público - que ya para entonces miraba con cierta simpatía a Mazón, maravillado de su arte - un unánime grito de dolor […]. (S. 297) Das Publikum bezeichnet an dieser Stelle das Publikum in der Hypodiegese, das dem Kampf tatsächlich beiwohnt - jedoch ohne, dass dies merklich gekennzeichnet würde. Es fiebert und leidet mit, als Mazón auf dem Boxring („cuadrilátero“) von Ochoas gewaltigem Schlag getroffen wird - und erfüllt damit die aristotelischen Erregungszustände phóbos und éleos, die letztendlich zur Katharsis führen. Durch die ausbleibende Markierung der Grenze zwischen hypo- und intradiegetischer Erzählung überlagern sich nicht nur Zuhörerschaft und Publikum. Auch der Leser wird zum Zeugen des Spektakels. Die strukturelle Distanz zum grano, die mit den Ebenen aus der Hypodiegese zum Leser zunimmt 421 , wird ‚verkürzt‘ und der Text wird zur Bühne. Es wird nicht mehr nur erzählt, sondern gleichzeitig gezeigt. Der Kampf kommt so zu einer plötzlichen Präsenz und der Leser wird zum eigentlichen Augenzeugen. So wenig wie zwischen Publikum und Zuhörerschaft unterschieden wird, so wenig kann auch der Leser sich dem Schauspiel entziehen: 420 Siehe auch den andeutenden Vergleich der tänzelnden Schritte Mazóns mit einer Flamencoaufführung: „[...] [E]l buen aficionado había de fijarse en el baile de sus piernas, siempre abiertas y en juego, en un espectáculo digno de admirarse en un tablado de calidad.“ (S. 296) 421 Diese zunehmende Distanz ergibt sich aus der zunehmenden Vermittlung: Während das Publikum in Pamplona dem Kampf beiwohnt, bekommt das Publikum in Región es vom Augenzeugen erzählt. Der Leser dann rezipiert wiederum die Erzählung der Erzählung als Text. <?page no="164"?> 164 Así como el público de Pamplona al segundo golpe de Mazón se levantó de las gradas no sabiendo si aplaudir o llorar, el de Región no acertaba a abandonar sus asientos cuando León [el testigo presencial] ponía punto a su relato. (S. 299) Mit Bezug auf das Publikum ist auch deutlich geworden, dass dem testigo presencial als Erzähler und damit als Vermittler eine ebenso hohe strukturelle Bedeutung zukommt. Nicht umsonst heißt es im Anschluss an die zuvor zitierte Textstelle: Le [al público] sabía siempre a poco, quería volver a oírlo, no podía prescindir de esa repetición (más intensa sin duda que el primer contacto), gracias a la cual el buen relato emociona más profundamente que el mejor espectáculo […]. Auch wenn sich diese vordergründige Lobeshymne auf die Erzählkunst des Augenzeugen, der eigentlich ein fahrender Krämer ist, als ironischer Kommentar liest, so kommt man nicht umhin, sie vor dem Hintergrund der hypodiegetischen Erzählung ernst zu nehmen. Es kommt erst durch die Vermittlung einer Erzählung bzw. eines literarischen Textes zu einer verstärkten emotionalen Einbindung und Reaktion des Publikums bzw. des Lesers. Erzählung und - übertragen auf die Rahmenerzählung - Text sind das bessere Spektakel und stellen die bessere Bühne bereit. Unmittelbar verknüpft mit der Konfiguration des Zweikampfes als theatralische Inszenierung ist die räumliche Trennung von Publikum bzw. Zuhörerschaft und Kämpfenden bzw. dem vermittelnden Erzähler. Deutlich wird dies zum Beispiel in dem bereits zitierten Textabschnitt, in dem beschrieben wird, dass der Kampf zwischen Mazón und Ochoa in einem bühnenähnlichen Boxring stattfindet, der sich wiederum innerhalb einer Stierkampfarena befindet. Wer spielt und wer zuschaut, ist durch die Ränder des Boxrings eindeutig differenzierbar. Die zu unterscheidenden Räume, die sich durch die Situation der Inszenierung auftun, sind mit jeweils unterschiedlichen Funktionen der Teilhabenden verknüpft: Mazón und Ochoa sorgen mit ihrem mitreißenden Kampf für das Spektakel und für Unterhaltung, während die Zuschauer sich emotional mitreißen lassen und - je nach Sympathie - die Geschehnisse entsprechend kommentieren. Ähnlich gestaltet sich diese Aufspaltung auch bei der ‚Stellvertreterinszenierung‘ durch den testigo presencial. Auch hier richten sich die Zuhörer als Publikum in dem Hotel Cuatro Naciones in Región ein: [...] [H]abían aportado todos los sillones de mimbre y las sillas del comedor, detrás una triple fila escuchaba de pie y algunos asomaban sus cabezas por entre los balaustres de la escalera […]. (S. 296f.) <?page no="165"?> 165 Die Zuhörerschaft formiert sich als Publikum, nicht nur um möglichst gut hören, sondern auch um möglichst gut sehen zu können 422 . III.6.3 Strategie, Taktik und Kriegsökonomie Neben der räumlichen Aufspaltung und der Funktionalisierung der Teilhabenden zu Schauspielern und Publikum enthält der Kampf zwischen Mazón und Ochoa eine dritte strukturelle Besonderheit. Dabei geht es um das grundsätzliche Verhalten der Kämpfenden im Kampf, um die Ausdifferenzierung von strategischem und taktischem Verhalten. Eugenio Mazón ist nicht nur körperlich unterlegen 423 , sondern gegenüber dem absoluten Favoriten Ochoa auch ein Außenseiter. […] [S]u victoria [=de Eugenio Mazón] había sido recibida con asombro en Pamplona por cuanto había venido a romper - y por un desconocido, ni siquiera navarro - el monopolio de victorias en aquella clase de lucha que atesoraba la familia Ochoa a lo largo de cuarenta años y tres generaciones […]. (S. 291) Dementsprechend wird der Kampf zu „una magistral lección de economía bélica“ (S. 295) für Eugenio. Im Theorieteil der vorliegenden Arbeit wurde bereits die Bedeutung einer Kriegsökonomie bei Clausewitz dargelegt. Das Haushalten mit den eigenen Mitteln wird dabei umso wichtiger, je geringer oder schwächer diese sind. So weiß auch der kräftemäßig eindeutig unterlegene Eugenio, seine Mittel ökonomisch und taktisch klug einzusetzen. In den ersten Runden zwingt er Ochoa dazu, einen Rhythmus anzunehmen, der nicht dem seiner gewöhnlichen Kämpfe entspricht. Mazón beschränkt sich darauf, nicht in die Bredouille zu kommen, auszuweichen und das Kampfverhalten des Gegners genau zu studieren - während Ochoa nichts dergleichen tut: „Durante los primeros asaltos Eugenio no hizo más que estudiar, tantear y esquivar a su enemigo y apenas se dejaba atrapar se desasía como un gato.“ (S. 296) Während Ochoa vergeblich versucht, auf seine bewährte Art und Weise zu kämpfen, ohne sich auf den aktuellen Gegner einzulassen, studiert Mazón ihn und passt sein eigenes Kampfverhalten an. Er hat bereits im Vorfeld Ochoas Stil genau analysiert und verhält sich insofern taktisch, als dass er ständig in Bewegung ist und den vorgegebenen Raum des cuadrilátero ausnutzt. Nur so gelingt es ihm, Ochoa auf Dauer zu ermüden: 422 Siehe die bereits zitierte Textstelle auf S. 159 der vorliegenden Arbeit: „[...] para observar mejor al narrador […]“. 423 Siehe hierzu S. 295f. Zu Ochoa heißt es: „[...] [E]l navarro era todo una fortaleza, con cualquiera de sus miembros […] podía hacer una demostración de supremo vigor […]“, wohingegen von dessen Gegner gesagt wird „[…] Eugenio - mucho más espigado - ofrecería un cuerpo metálico y flexible […]“. <?page no="166"?> 166 Estaba demostrado que Mazón […] había estudiado la manera de pelear de Ochoa […] y contra su estilo uniforme y monótono había ensayado y puesto a punto una táctica basada en la movilidad, tanto en el cuadrilátero como dentro de los límites del cuerpo, para eludir la aplicación y los efectos de aquel terrible golpe del navarro. (S. 297) Es ist offensichtlich, welche zwei Prinzipien hier gegenübergestellt werden und welches letztendlich zum Sieg des Kampfes aus der Außenseiterposition Eugenios herausführt. Ochoas Strategie setzt auf eine Machtposition, die von seinem bisherigen Ruhm und Ruf herrührt. Er ist Eugenio körperlich vollkommen überlegen und gibt aus dieser starren Machtposition heraus zunächst die Dynamik des Kampfes vor. Was ihm jedoch zuvor einen Vorteil sichert, wird bald zum Nachteil. Denn er ist nicht in der Lage, sich während des Kampfes kurzfristig auf die Eigenheiten seines Gegners einzustellen, um aus dessen offensichtlicher Schwäche und Unterlegenheit einen Vorteil zu ziehen. Seine Strategie versucht ohne taktische Anpassung an die aktuellen Gegebenheiten auszukommen. Eugenio hingegen verhält sich taktisch. Er überlistet Ochoa regelrecht. Seine Taktik basiert auf Beweglichkeit, sodass er den gefährlichen und gewaltsamen Stößen Ochoas immer wieder ausweichen kann. Während Ochoas Stil „uniforme und monótono“ ist, wird Mazóns Stil später als „arte“, also als Kampfkunst bezeichnet. Nichtsdestoweniger gelingt es Ochoa in der zwölften Runde, Mazón zu treffen - das Publikum (d.h. weder das hypodiegetische Publikum, noch die intradiegetischen Zuhörer, noch der Leser) kann nicht beurteilen, wie es dazu kam. Man weiß nicht, ob es sich einfach um einen Fehler Eugenios oder ausnahmsweise um einen gezielten Treffer Ochoas handelt. Doch die Pause zur nächsten Runde lässt Eugenio neue Kraft schöpfen und es gelingt ihm ein Gegentreffer. Zu seiner Beweglichkeit und seinem geschickten Ausweichen gesellt sich nun noch ein drittes Element: die Finte. Als er wieder in den Ring steigt, tut er dies „con una mirada perdida, dispuesto al sacrificio“ (S. 298) und man erfährt nicht, ob dies Ausdruck seiner schwindenden Kräfte oder nur „una finta“ ist, um seinen Gegner in Sicherheit zu wiegen und in dem Glauben zu lassen, er habe es tatsächlich mit einem unterlegenen Gegner zu tun. Letzten Endes fügt Mazón Ochoa einen Schlag zu und gewinnt, nachdem er zweimal eine Art Geheimwaffe 424 - einen besonders effektvollen Schlag auf den Hinterkopf des Gegners - zückt und ihn zu Boden bringt. Strategie - hier das bewusste Setzen auf die eigene Macht, auf eine starre Position und Stärke, unabhängig vom Gegenüber - und Taktik - also das kurzfristige und spontane Einstellen auf die Herausforderung der aktuellen Situation und die entsprechende Reaktion - werden gegeneinander ausgespielt. Letzten Endes gelingt dem schwächeren Eugenio Mazón durch kluges, taktisches Verhal- 424 „[...] Mazón descubrió un arma que hasta entonces había mantenido oculta […].“ (S. 298) <?page no="167"?> 167 ten der Sieg. Dabei kommt ihm die Tatsache zugute, dass er Ochoas Kampfverhalten vorher studieren konnte - dessen Vorgehen setzt also nicht nur selbst auf den strategischen Überblick der Situation und die unflexible Etablierung seines eigenen lieu, sondern ist damit auch selbst entzifferbar. Mit den beiden Kontrahenten werden die Prinzipien von Strategie und Taktik auf der Bühne des cuadrilátero verkörpert. Erst die Tatsache, dass es zu einem Konflikt zwischen beiden kommt, setzt einen mehrfach geschachtelten narrativen Prozess in Gang. Dieser wiederum formuliert sein Sujet als Kampf bzw. Gefecht und verweist damit auf einen größeren Krieg auf der Metaebene. Der Kampf ist also nicht nur „una magistral lección de economía bélica“ für Eugenio, sondern auch für den Leser. Kommen im Text die unterschiedlichen Interessen von einer sich verselbstständigenden Erzählung und vom sich nach der Einheit der Erzählung sehnenden Leser und der Widerstreit zwischen beiden zur Geltung, so reflektiert der Kampf als grano auch das Verhältnis zwischen Text und Leser. III.6.4 Economía bélica - arte bélica - arte de narrar - economía narrativa? Wenn man bei der „magistral lección de economía bélica“ verharrt, so kommt man nicht umhin, sich intensiver mit dem tatsächlichen Beruf des testigo presencial zu beschäftigen. Er ist ein fahrender Krämer, „un oscuro viajante de comercio“ (S. 295), eine zwielichtige Gestalt, deren offensichtliches Anliegen es ist, durch die Verbreitung der Geschichte vom Zweikampf zwischen Mazón und Ochoa den eigenen Absatz und Gewinn zu vergrößern. Es lässt sich von einem regelrecht ökonomischen, im Sinne von an wirtschaftlichen Gewinnen interessiertem Erzählen sprechen. Der Text lässt offen, ob der Augenzeuge eigentlich erzählen will, zunächst jedoch nicht den entsprechenden Erfolg hatte und sich mit dem Handel mit Kämmen aushelfen musste - oder ob sein ursprünglicher Beruf der des Krämers ist und er sich durch den Zufall der Augenzeugenschaft eine günstige Möglichkeit geschaffen hat, Zubrot zu verdienen. Einerseits wird, nicht ohne ironischen Unterton des Erzählers, seine „técnica extremada“ hervorgehoben und behauptet „con el mayor empeño ha estado afinando un arte poco menos que secundario para la industria que le mantenía“ (S. 295). 425 Während hier also die Erzähltechnik immer weiter verfeinert wird, wird gleichzeitig deutlich, dass das hauptsächliche Geschäft das des Krämers ist. Andererseits wird wenig später festgehalten, dass 425 Eine Unterscheidung zwischen Technik, técnica, und Kunst, arte, wie sie einem vielleicht aus einem umgangssprachlichen Wortgebrauch im Deutschen und Spanischen bekannt sein mag, wird an dieser Stelle nicht gemacht und ist auch nicht notwendig, da hier eine Besinnung auf die Etymologie der Worte zu erkennen ist. Schließlich ist das lateinische ars die Übersetzung des griechischen technê. <?page no="168"?> 168 […] sólo gracias a la oratoria lograba vender peines y artículos de desecho, irreconocibles para el propio fabricante, y llegado el momento de narrar el combate no sería superado por el mejor cronista de la época. (S. 295) Der extradiegetische Erzähler gibt also durchaus widersprüchliche Informationen darüber, welches die primäre und welches die sekundäre Tätigkeit des testigo presencial ist. Festzuhalten ist jedoch, dass er durch sein Erzählen den Absatz steigert und die Erzählkunst diejenige ist, durch die er überhaupt Umsatz macht. Während wiederum seine Ware von minderwertiger Qualität ist, ist seine oratoria ausgefeilt und anerkannt. Je mehr er seine tertulia ausbauen kann, je größer sein Publikum, desto größer wird auch sein Absatz. Entre otras cosas, al final del verano vendía con suma facilidad todos sus artículos; si antes necesitaba dos días para colocar el contenido de una bandeja para mediados de septiembre le bastaba dejar el cajote abierto […] para liquidar toda su mercancía en una tarde, mientras desarrollaba la tertulia, y volverse a Macerta y León sin una navaja ni un collar, pero con una extensa hoja de pedidos a sus suministradores. (S. 301) Es kommt also zu einer parallelen Proliferation von Erzählung und Gewinn. Es geht nicht um die Einzigartigkeit des ‚Kunstwerks‘ Erzählung, sondern um die Masse und die Vermehrung der ‚Ware‘ Erzählung. Das heißt, je öfter und in je mehr Varianten erzählt wird, desto besser. Das Erzählen ist im heutigen Sinne des Wortes ökonomisch interessiert. Geht man auf den ursprünglichen Begriff der oikonomia (‚Hausverwaltung‘) bei Aristoteles 426 zurück, so wird hier bereits eine grundlegende Unterscheidung vorgenommen zwischen einer naturgemäßen und zweckgebundenen Erwerbskunst, die ein Teil der guten Hausverwaltung und „für das Leben unerläßlich ist, nämlich der Kunst, Nahrung zu beschaffen“ 427 , und einer „widernatürlichen“ Erwerbskunst, die unbegrenzt ist und deren Zweck allein in der unendlichen Gewinnsteigerung liegt. Indem er die Umrisse einer Ökonomie (oikonomia) zeichnet, die mit dem Primat des Politischen in Einklang steht, charakterisiert Aristoteles zugleich als negative Folie die ‚widernatürliche‘ Ökonomie, die in der Tat eine Ökonomie im heutigen Sinne, also eine Marktwirtschaft, ist. 428 426 Siehe hierzu Aristoteles: Politik, Hamburg: Meiner, 2012, insbesondere Buch I, Kapitel 8-11. 427 Ebd., S. 23. 428 Pierre Pellegrin: „Hausverwaltung und Sklaverei (I 3-13)“, in: Otfried Höffe (Hg.): Aristoteles: Politik Berlin: Akademie-Verlag, 2011, S. 29-47, hier S. 34. <?page no="169"?> 169 Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen der Erwerbskunst im Sinne der oikonomia und der gewinnsüchtigen Erwerbskunst (oft als „Chrematistik“ bezeichnet 429 ) liegt in der Motivation beider. Die natürliche Erwerbskunst dient dazu, die menschlichen Bedürfnisse (wie Hunger und Durst) zu befriedigen, und hat damit ihr Ziel außerhalb ihrer selbst. Die gewinnsüchtige Erwerbskunst hingegen macht das Mittel zum Zweck, ihr Ziel ist schon immer intrinsisch. Sie strebt danach, Gewinn um des Gewinnes willen zu machen: Und wenn Menschen sich diese [Übersteigerung ausschweifenden Genießens] nicht durch die gewinnsüchtige Erwerbskunst beschaffen können, versuchen sie es auf anderem Wege, indem sie dafür jede Fähigkeit nutzen - nicht naturgemäß; denn Aufgabe der Tapferkeit ist es nicht, Geld, sondern Mut zu machen; und ebenso haben Feldherrnkunst und Medizin nicht diese Aufgabe, sondern die eine soll den Sieg erringen, die andere Gesundheit wiederherstellen. Aber jene Leute machen alle diese Künste zu Mitteln, Gewinn zu erzielen, als sei das das Ziel und auf das Ziel müsse alles ausgerichtet sein. 430 Genau einem solchen Ökonomieverständnis, also einer grenzenlosen Gewinnsteigerung, scheint der testigo presencial zu folgen. Durch diese Einordnung wird jedoch in keiner Weise eine moralische Wertung unternommen. Vielmehr ist die Unterscheidung der beiden Wirtschaftsformen aufgrund ihrer Motivation zu unterstreichen. Die eine ist Mittel zum Zweck, die andere macht sich ihr Mittel zum Zweck. Nimmt man also an, dass das Erzählen des Augenzeugen den gleichen (nach aristotelischen Kriterien nicht-) ökonomischen Interessen folgt, wie sein Geschäft, so folgt es eben keinem außerhalb der Erzählung selbst liegendem Ziel: Es ist das Erzählen um der Erzählung selbst willen, die Lust am Erzählen. Eine ähnliche Argumentation liefert Aristoteles, wenn er poiesis (‚Herstellen‘) von praxis (‚Handeln‘) unterscheidet. 431 Während poiesis auf ein außerhalb der Tätigkeiten selbst liegendes Ziel ausgerichtet ist, geschieht praxis um der Tätigkeit selbst willen. Dabei werden nicht einzelne Tätigkeiten in zwei unterschiedliche Kategorien eingeordnet (sprich ein Instrument spielen ist immer schon praxis, während etwa tischlern immer schon poiesis ist). Vielmehr handelt es sich um eine aspektuelle Differenzierung: Ich kann ein Instrument spielen um des Musizierens willen, ich kann aber auch ein Instrument spielen, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen. 429 Siehe ebd., S. 36ff. 430 Aristoteles: Politik, S. 23. 431 Vgl. zur Unterscheidung der beiden Begriffe in der Nikromachischen Ethik und der hier zusammengefassten Argumentation Theodor Ebert: „Praxis und Poiesis. Zu einer handlungstheoretischen Unterscheidung des Aristoteles“, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 30: 1 (1976), S. 12-30. <?page no="170"?> 170 Aristoteles hat erkannt, daß Herstellen und Handeln nicht disjunkte Tätigkeitsklassen unter sich befassen, sondern daß sie unterschiedliche Aspekte an Tätigkeiten auszeichnen. 432 So geht es auch in der aristotelischen Poetik um die Produkte der nachahmenden, mimetischen Dichtkunst. Die Dichtkunst selbst ist Mittel zum Zweck, so wie auch alle anderen nachahmenden Künste: Denn wie manche mit Farben und mit Formen, indem sie Ähnlichkeiten herstellen, vielerlei nachahmen - die einen auf Grund von Kunstregeln, die anderen durch Übung - und andere mit ihrer Stimme, ebenso verhält es sich auch bei den genannten Künsten: sie alle bewerkstelligen Nachahmung mit Hilfe bestimmter Mittel, nämlich mit Hilfe des Rhythmus und der Sprache und der Melodie […]. 433 Dichtkunst verwendet Sprache als Mittel zur Nachahmung. An späterer Stelle wird in der Poetik auch unterschieden zwischen der Verwendung der Sprache im Hinblick auf die Nachahmung und der Verwendung der Sprache für naturkundliche Untersuchungen: Homer und Empedokles haben indes außer dem Vers nichts Gemeinsames; daher wäre es richtig, den einen als Dichter zu bezeichnen, den anderen aber eher als Naturforscher denn als Dichter. 434 Wie bei Aristoteles’ handlungstheoretischen Darlegungen kommt es auch hier auf die Motivation an: Dichtkunst ist poiesis, gerade weil sie auf das ‚herzustellende Produkt‘, etwa auf die Tragödie und die Nachahmung von Handlung hin ausgerichtet ist, und nicht etwa, weil der Dichter Gefallen am Ausüben der Tätigkeit selbst findet. Dichtkunst als reine Tätigkeit könnte aber auch theoretisch als ‚bloßes‘ Handeln aufgefasst werden, das seinen Sinn und Zweck in sich selbst trägt. So erwähnt auch Aristoteles kurz im allgemeinen einleitenden Teil der Poetik die Ursprünge der Dichtkunst: Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen: Denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren […] als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat. 435 Das heißt, sowohl das Nachahmen selbst als auch die Rezeption des Nachgeahmten sind naturgegeben und tragen ihren Sinn zunächst einmal in sich selbst. In der Dichtkunst (und in den anderen nachahmenden Künsten) wird das Nachahmen dann Mittel zum Zweck und durchläuft eine Entwicklung 436 bis hin zur Ausdifferenzierung in Tragödie, Epik und Komödie. 432 Ebd., S. 29. 433 Aristoteles: Poetik, Stuttgart: Reclam, 1987, S. 6. 434 Ebd., S. 7. 435 Ebd., S. 11. 436 Vgl. ebd., S. 15ff. <?page no="171"?> 171 Schlägt man nun den Bogen zurück zum ökonomisch interessierten Erzählen und zur Erzähllust des Augenzeugen, so zeigt sich, dass hier nicht weniger stattfindet als die Neuverhandlung der aristotelischen Grundsätze der Dichtkunst. Zuvor wurde bereits angedeutet, wie konsequent Benets Texte die aristotelischen Kriterien von der Einheit der Handlung, Anfang, Mitte und Ende der Handlung, Angemessenheit und Überschaubarkeit unterlaufen bzw. ihnen nicht entsprechen. Gleiches gilt auch für die Erzählweise des Augenzeugen - das Erzählen wird als Sprachhandlung aufgefasst, als Praxis des Erzählens, die aus sich selbst heraus motiviert ist und so in gewisser Weise zu den Ursprüngen der Dichtkunst zurückkehrt. Das Produkt des Erzählens, die Geschichte an sich, rückt in den Hintergrund - ohne freilich komplett zu verschwinden. Denn immerhin trifft der testigo presencial auf ein kritisches Publikum, das sich nicht einfach den eigenen Erregungszuständen hingibt, sondern die Erzählweise hinterfragt. Die Erzählweise des testigo presencial verweist metonymisch auf Benets eigenes, taktisches Erzählen, das sich einer Zähmung im Sinne eines strategischen und panoptischen Überblicks durch den Leser entzieht. Über den Beruf des Augenzeugen und die konsequente Parallelisierung von wirtschaftlichen Interessen und Erzählen rekurriert die mise en abyme also auf die aristotelischen Grundsätze der Poetik. Diese Grundsätze werden thematisiert und das zweckgebundene gegen das ‚zwecklose‘ Erzählen ausgespielt. Gleichzeitig wird auch der arte de narrar, die sehr wohl ausgefeilte Erzählkunst des testigo presencial über den Begriff der economía mit der Kampfkunst des Helden Eugenio Mazón in Relation gesetzt. Beide werden explizit als artes, als Künste (im Griechischen technê), verhandelt. Der testigo presencial „ha estado afinando un arte“ und ist im Besitz einer „técnica extremada“, die in einer Art Automatismus immer mehr Publikum anzieht: „[...] [A] medida que lo [=hacer con el público lo que quería] hacía mejoraba su técnica y más envolvía al público.“ (S. 295) Eugenios Kampfkunst fasziniert das Publikum gleichermaßen: „[...] [El público] ya para entonces miraba con cierta simpatía a Mazón, maravillado de su arte […].“ (S. 297) Die Kunstfertigkeit des Erzählers wird mit der des Kämpfers in ein enges Korrespondenzverhältnis gesetzt. Und somit geht es nicht nur um einen Kampf, der auf der Ebene des Verhältnisses zwischen Erzähler und Publikum gedoppelt wird, sondern auch um das Haushalten mit den kämpferischen Mitteln. Denn Eugenios taktisches Verhalten besteht genau darin, mit der relativ geringen eigenen körperlichen Kraft hauszuhalten und den Gegner dazu zu bringen, seine überbordenden Kräfte zu verschwenden. Der testigo presencial hingegen verfährt genau anders herum: Er zieht erzähltechnisch alle Register und neigt dazu, eher mehr als nötig zu tun, um seine Zuhörer zufriedenzustellen. Es geht ihm nicht um die haushaltende economía, sondern um ein verschwenderisches Erzählen: „Ése era su oficio, vivía de la exageración porque sin énfasis no se vendía un peine […].“ (S. 292) Durch die Doppelung <?page no="172"?> 172 von Kampf (im Sinne des Zweikampfes und im Sinne des Widerstreits zwischen den Interessen von Erzähler und Publikum), ökonomisch interessiertem Handeln (einerseits beim gewinnsüchtigen Wirtschaften und Erzählen und andererseits bei der mit Körperkräften haushaltenden Kampfstrategie) und letztlich der beiden artes (Erzählkunst und Kampfkunst) entsteht ein enges Geflecht an Motiven und Strukturen, die die Grenzen der Diegesen überschreiten und unterlaufen. III.6.5 Augenzeugenschaft: die Erzählung zwischen Fiktionalität und Wahrheitsanspruch Der Augenzeuge wird bei seinem Auftreten in Herrumbrosas lanzas zunächst über mehrere Seiten hinweg ausschließlich als testigo presencial bezeichnet und nicht mit seinem Namen Ventura León. So ist es auch zuallererst seine Aufgabe, die Funktion der Rolle ‚Augenzeuge‘ zu erfüllen. 437 Über seine Funktion als Augenzeuge kommt er in die Geschichte und die Augenzeugenschaft ist zunächst seine einzige funktionale Daseinsberechtigung im Kontext des Romans. Denn eine eigene Stimme bekommt er nie - aus rein erzählpraktischer Sicht ist er funktionslos: Der extradiegetische Erzähler lässt den Augenzeugen nie wirklich zu Wort kommen und könnte eigentlich die Geschichte vom Zweikampf selbst berichten. Es muss also um die Augenzeugenschaft an sich gehen und um die mit ihr verbundenen Konsequenzen für das Erzählen. Der Bericht des Augenzeugen stellt im Prinzip eine Ursituation des Erzählens dar: Man berichtet die eigene Version eines Ereignisses, dessen Zeuge man war. Nicht umsonst wird später in mehreren Nebensätzen Bezug auf die große Dichtertradition seit Homer genommen: Pero su [= de Eugenio] laconismo y su incomparecencia a los centros de opinión y discusión eran ampliamente compensados - y sin duda más que compensados por las exageraciones a que son tan proclives todos los vates, y no sólo los del sector épico - por las homéricas descripciones del testigo presencial […]. (S. 294) 437 Die hier zu untersuchende Textstelle wird durch einen sehr langen Satz (der im Übrigen fast die ganze Seite ausfüllt) eingeleitet, der die essentiellen Bestandteile der mise en abyme bereits enthält: die Erwähnung des Zweikampfes zwischen Mazón und Ochoa, die Rolle des Augenzeugen und der Bericht des Augenzeugen als indirekte Rede und somit die sofortige Rücknahme der angedeuteten Hypodiegese als Pseudodiegese: „Al mes, aproximadamente, de su fugaz paso por Región se supo por un testigo presencial del acontecimiento que Eugenio Mazón había ganado en Pamplona un combate de lucha contra el hijo mayor de los Ochoa […].“ (S. 291) Dieser lange Satz wird bis zum Absatzende in immer neuen Nebensätzen des indirekten Berichts des Augenzeugen (‚man erfuhr durch ihn, dass …‘) fortgeführt. Das erste Mal taucht der Name Ventura León eher beiläufig auf S. 302 auf. Dann ist er auch nicht mehr Augenzeuge, sondern agente. Er wird nach und nach in die Geschichte um die Familie Mazón eingebunden und zum Geschäftspartner Eugenios, der in Región ein öffentliches gimnasio errichtet. <?page no="173"?> 173 Der testigo wird mit den großen epischen Seher-Dichtern, mit den vates und vor allen Dingen mit Homer 438 in eine Reihe gestellt. Das performative und inszenatorische Moment der mündlichen Erzählung durch den Augenzeugen wird hervorgehoben. Durch diesen Bezug werden drei Aspekte des Erzählens angedeutet. Zunächst einmal ist das enge Verhältnis, das ‚Aufeinanderangewiesensein‘ von Sänger, Rhapsode und Held zu nennen. Der Held wird nur bekannt, indem seine Ruhmestaten durch den Sänger bekundet (kléos) werden. Darüber hinaus wird hier auf das referentielle Moment hingedeutet, das jeder Erzählung zu Grunde liegt, und zuletzt auf den Authentizitätsanspruch einer jeden Erzählung. Der Dichter erzählt das, was er selbst gesehen hat und damit bezeugen kann. Die Erzählung ist authentisch und nicht bloße Erfindung - wodurch sie letztlich legitimiert wird. Die Epen in der Antike werden durch den Anruf der Musen legitimiert, die wiederum allgegenwärtig und damit Augenzeugen des Geschehens 439 sind. Wissen im Allgemeinen gründet sich auf das Sehen der Geschehnisse und wird über das Hörensagen (sprich mündlich) weitergegeben. Die Musen wiederum sind der Garant für den Wahrheitsgehalt der Dichtung. Über die Figur des testigo presencial wird an diese Tradition angeknüpft. Beide Vorgehensweisen können insbesondere in Herrumbrosas lanzas sowohl als Verbürgung der historischen Wahrheit als auch als Fiktionalitätssignal gedeutet werden. 440 Denn wie bereits mehrmals betont, erzählt der Augenzeuge seine Version, besser gesagt seine Versionen des Ereignisses. Das heißt, seine Berichte sind authentisch, beanspruchen jedoch nicht unbedingt die objektive Wahrheit für sich, sie sind vielmehr das ‚Original‘: Lo había contado innumerables veces, pero con el pretexto de que siempre había alguien que no lo había oído de sus propios labios (sino de labios de terceros, lo que no hacía sino aumentar el interés por conocer la versión original) se imponía la necesidad de que lo contara una vez más. (S. 299, Hervorhebungen von mir) 438 Homers Werke gelten auch in Aristoteles’ Poetik stets als Musterbeispiel für gelungene Epen. 439 Vgl. z.B. die Verse 484-487 des zweiten Gesangs der Ilias, das sogenannte Proömium zum Schiffskatalog: „Sagt mir nun, Musen! die ihr die olympischen Häuser habt - / Denn ihr seid Göttinnen und seid zugegen bei allem und wißt alles, / Wir aber hören nur die Kunde und wissen gar nichts - : / Welches die Führer der Danaer und die Gebieter waren.“ Zitiert nach: Homer: Ilias. Wolfgang Schadewaldts neue Übertragung, hg. von Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt am Main: Insel-Verlag, 1988, S. 35, Hervorhebungen von mir. 440 Vgl. für einen Überblick über die Deutung der Musenanrufe in antiken Epen Stefan Tilg: „Antike“, in: Matías Martínez (Hg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart: Metzler, 2011, S. 167-183, hier insbesondere S. 169f. <?page no="174"?> 174 Nur der Augenzeuge kann den Originalbericht (wenn auch in vielerlei Versionen) aus erster Hand liefern, alle weiteren Berichte sind durch unbeteiligte Dritte vermittelt und deshalb nicht legitimiert. Zusammen mit der Referenz auf die antiken und insbesondere auf die homerischen Epen und damit auf den Ursprung von Fiktionalitätsmomenten und Erzählung verweist der extradiegetische Erzähler auf einen weiteren Zusammenhang, der der Legitimierung des Augenzeugen als allein berechtigtem Erzähler dient: Er figuriert den testigo presencial gebrochen als Propheten, der im Dienste einer höheren Instanz agiert und das göttliche Wort verkündet. Nicht umsonst wird Eugenio Mazón an mehreren Stellen zu einem heilbringenden Messias 441 für Región stilisiert, der kommt, um die industriell, kulturell und technisch zurückgebliebene Region in das 19. Jahrhundert zu befördern, damit es mit dem verfeindeten Macerta gleichziehen kann. 442 Die Stilisierung der Figuren zu Messias und Prophet geht jedoch noch einen Schritt weiter. Ist Eugenio der „nuevo Mesías o [el] joven Sebastián“, so wird der Überbringer der frohen Botschaft selbst zum Helden. Dabei wird das Verhältnis von Prophet (Überbringer der Nachricht, „el que anuncia la llegada“) und Messias (‚Inhalt‘ der Nachricht, Ereignis, „[lo] anunciado“) - nicht ohne ironische Übertreibungen seitens des extradiegetischen Erzählers - mit einerseits antiker und andererseits moderner Erzähltheorie überblendet: El mensajero - decían los clásicos de Grecia - ha de tener algo divino, y si su elección es correcta es muy posible que él mismo se convierta en héroe. Al- 441 Siehe hierzu insbesondere den zweimaligen Verweis auf den sebastianismo, d.h. auf die portugiesische Legende des verschwundenen Königs Sebastian im 16. Jahrhundert und die damit verbundene Mythenbildung auf S. 293 und S.301. Die Legende erhebt die historische Person zur messianischen Figur und geht von deren Rückkehr aus, um die Portugiesen von der spanischen Herrschaft zu befreien. Siehe zum Motiv des sebastianismo und zur Mythenbildung António Machado Pires: „Sebastianismo“, in: José Augusto Cardoso Bernardes: Biblos. Enciclopédia Verbo das literaturas de língua portuguesa, Lisboa: Verbo, 2001, S. 1212-1216 und Jacinto do Prado Coelho: „Sebasti-o (Dom) e o Sebastianismo“, in: ders. (Hg.): Dicionário de literatura, Porto: Figueirinhas, 1997, S. 110-113. Auf deutsch ist zuletzt folgende Dissertation zum Thema erschienen: Ruth Tobias: Der Sebastianismo in der portugiesischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Zur literarischen Konstruktion und Dekonstruktion nationaler Identität am Beispiel eines Erlösermythos, Frankfurt am Main: TFM, Ferrer de Mesquita, 2002. 442 Siehe S. 292f. Zunächst wird Eugenio als Held beschrieben, der seine Heimat rettet und modernisiert. Im zweiten Abschnitt auf S. 293 wird jedoch die Stilisierung zur Messiasfigur sofort wieder ironisiert und zurückgenommen, da hier gesagt wird, im Prinzip kenne ihn auf Grund seiner zehnjährigen Abwesenheit niemand in seiner Heimat und man versuche lediglich zu vergessen, dass er Sohn von Laura Albanesi ist. Des Weiteren ist hier wieder die Parallele zum sebastianismo erkennbar. Ähnlich wie Sebasti-o trägt Eugenio einen wesentlichen Teil dazu bei, dass Región (wie Portugal) wieder erstarkt und selbstbewusst dem traditionellen Feinbild Macerta (wie Spanien) entgegentritt. Gleichzeitig ist es auch denkwürdig, dass der Text auf eine dezidiert portugiesische Mythenbildung zurückgreift, um das Dilemma einer spanischen Region zu beschreiben. <?page no="175"?> 175 gunos teóricos de hoy - sin necesidad de recurrir a la erudición ni hacer referencia a los escritores de la antigüedad - han venido a concluir en que el vehículo y el modo de presentación de la noticia pueden ser tan interesantes y excitantes como la noticia en sí, cuando no más, y dado que en el mundo moderno éstas no faltan nunca y cubren un campo más extenso que el de la más fértil imaginación, será menester cuidar aquéllos y dotarles de la mayor vivacidad posible si se quiere conseguir el efecto sobrecogedor que se persigue de la nueva. Así el que anuncia la llegada del nuevo Mesías o del joven Sebastián ha de estar tan convencido de ella y tan persuadido del poder del anunciado para salvar a su grey de los males que la aquejan que no podrá tolerar que alguien le aventaje en su fe y pueda propagar la noticia con más calor y convicción que él mismo; y por eso insistirá - cada vez que toma la palabra - en denostar a sus oyentes con el epíteto que califica lo que menos teme: descreídos, pues mientras muestren abismos de cierta indiferencia hacia su profecía con más vehemencia le harán creer en ella y con palabras más arrebatadas le repetirá en cada ocasión que se le presente. De esa forma su personalidad y sus convicciones aumentan con su oratoria, su ardiente palabra no es más que un reflejo del fuego que abrasa su alma y es tal la velocidad con que el incendio consume sus entrañas - en triste comparación con la lentitud con que su fe se propaga por la muchedumbre - que pronto (en cuanto el mesías se hace esperar) empieza a personificar su mixtificación y a convertirse en lo anunciado para, mediante una sutil suplantación por nadie recibida, relegar a un plano del olvido a la criatura de su imaginación y tras sustituirla por su carne, sus huesos, su sangre y su palabra, subrogar sus actos para transformarse en salvador de la comunidad. (S. 301) Hier wird in Rückgriff auf den Ursprung der Erzählung in biblischer Prophetie und antiken Epen und auf die moderne Bevorzugung der Form vor dem Inhalt sehr plastisch vor Augen geführt, wie das Wie der Erzählung über das Was Überhand gewinnt und es letztendlich substituiert. Bereits in der Antike haftete demnach den vates etwas Göttliches an - nicht irgendwer konnte von den Heldentaten berichten. Das heißt, schon hier treten der Erzähler und das Medium der Berichterstattung nicht komplett in den Hintergrund. Und auch in der modernen Welt ist anerkannt, dass der „modo de presentación“ genauso wichtig oder wichtiger als die Nachricht selbst sein kann. Da es an eigentlichen Ereignissen, von denen berichtet werden könnte, nicht mangelt, muss das Wie der Präsentation gefördert und immer weiter perfektioniert werden. Denn letzten Endes geht es darum, eine Schar von Ungläubigen zu überzeugen. An diesem Punkt jedoch setzt die erwähnte Substitution ein. Indem der Prophet nämlich umso mehr auf seiner eigenen Prophezeiung insistiert je weniger die „descreídos“ von ihr überzeugt sind, spaltet er sich von seinem ursprünglichen Anliegen - die Menge zu überzeugen - ab. Er selbst wird zur Botschaft, es kommt zu einer Art Selbster- <?page no="176"?> 176 mächtigung und Personifizierung des Wie bzw. des Mediums der Erzählung, das ganz von dem „mensajero“ Besitz ergreift und selbst zum Heilsbringer, zum „salvador de la comunidad“, wird. Indem sich hier die Prophetie - personifiziert durch den testigo presencial - verselbstständigt, wird erneut ein ähnlicher Prozess durchgespielt wie beim oben analysierten ökonomisch interessierten Erzählen: Das, was die Tätigkeit ursprünglich einmal legitimiert hat (wirtschaften, um lebensnotwendige Bedürfnisse zu befriedigen bzw. von der Ankunft des Messias berichten, um Gottes Willen zu verkünden), entfällt, das Erzählen wird regelrecht entfesselt und zum Selbstzweck. Die mise en abyme kommt kurz danach zum Abschluss. Dies lässt sich sehr deutlich an der Umfunktionalisierung des Augenzeugen erkennen. Zwei Absätze nach dem oben zitierten vollzieht sich seine Wandlung vom Handelsreisenden zum ‚Vertreter‘ und damit vom namenlosen testigo presencial zu Ventura León 443 , der als Figur in die weiteren Ereignisse der Familienfehde Mazón verstrickt wird: Así, en breve espacio de tiempo pasó de ser viajante de comercio a ser agente, y fundamental, primordial y esencialmente agente sería a partir de aquellas fechas. (S. 302) In einer Art performativem Sprechakt tauft der extradiegetische Erzähler hier die Figur neu und mit der neuen Bezeichnung erhält sie eine neue Funktion. Tatsächlich tut der „agente“ nicht viel Anderes als der „viajante de comercio“ - er verkauft alle möglichen Waren -, jedoch bedeutet diese Taufe und Umfunktionalisierung insofern einen Aufstieg, als er nun Waren verkauft, die tatsächlich nützlich sind 444 . Die Bezeichnung testigo presencial findet man ab diesem Moment nicht mehr und wenig später wird der Name Ventura León eingeführt. En cuanto agente, la noticia de su venida era precedida del rumor de su venida que alguno traería de la estación de Macerta, a la que […] llegaba facturado su cargamento […] con una elegante chapa de bronce que ostentaba el nombre de su propietario: Ventura León. El mismo día que el factor de Macerta recibía el cargamento, la noticia salía del hall del Cuatro Naciones - pues ya antes de la instalación de la línea telefónica los rumores y anuncios de desgracias volaban por un éter dispuesto al inalámbrico gracias a una tradición que preparaba para la tragedia antes de que se produjera, como en las costas de Noruega - para con sus cuatro palabras, „Mañana llega el agente“, levantar en el valle una expectación, un entusiasmo y una sensación de alivio 443 Der Name Ventura León und die Betonung desselben im Schlussteil des hier untersuchten Textabschnitts legen nahe, dass es sich um einen sprechenden Namen handelt. Da der Name jedoch im Gegensatz zur Bezeichnung testigo presencial erst später an Bedeutung gewinnt, wird eine entsprechende Analyse hier nicht vorgenommen. 444 Siehe S. 303: „Ya no eran baratijas, sino artículos de primera necesidad […. <?page no="177"?> 177 que con toda seguridad no se habían producido desde los días de la llamada a las armas […] contra el invasor francés. 445 (S. 302f.) Nicht umsonst wird der Name Ventura León schriftlich auf einem Namensschild auf seinem Gepäck festgehalten - der Abschluss der mise en abyme findet seine Entsprechung in dem allmählichen Zurückgehen der mündlichen Tradierung und Weitergabe von Informationen. Nicht nur steht der Augenzeuge in der Tradition der oral poetry, sondern auch die Bewohner von Región selbst geben in ihrer vorindustriellen Rückständigkeit Informationen bevorzugt mündlich weiter, wovon der agente selbst immens profitiert. Nur so konnte er sich einen Ruf als Erzähler und Händler machen und nur so konnte er den Aufstieg vom reisenden Krämer zum agente schaffen. Doch mit der fortschreitenden Distanz zum grano und dem Abschluss der mise en abyme wird auch die mündliche Informationsweitergabe nicht mehr fortgeführt: Con la ampliación de sus actividades la noticia de su llegada dejaría de ser oral y tomaría la forma de un gran cartel apaisado, de dos metros de longitud, con los colores de la enseña nacional y un lacónico: „Mañana, VENTURA LEÓN“ […]. (S. 303) Damit auch dem letzten Leser und dem letzten Bewohner von Región nun bewusst ist, dass es keinen testigo presencial mehr gibt, wird der Name Ventura León in Majuskeln geschrieben, die aus dem Fließtext herausstechen, um endgültig im Gedächtnis des Lesers zu bleiben. Danach wird ein allerletztes Mal der Zweikampf angesprochen, jedoch auch nur, um ein letztes Mal den Abschluss der Thematik zu betonen und den Übergang zu beschließen. Ventura León befindet sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere, doch einige Bedenken werfen Schatten auf den „soleado y próspero panorama“. Diese Bedenken „[...] procedían de la sombra que su propio héroe proyectaba sobre su relato […]“. (S. 303) Denn Ventura León befürchtet, der Held seiner Erzählung, Eugenio Mazón, könne eines Tages wieder auftauchen und mit dem Bild, das sein ‚Prophet‘ von ihm entworfen hat und das ihm in der Heimat weit vorausgeeilt ist, nicht einverstanden sein. Der agente traut dem Helden in Anspielung an Achilles Übermenschliches zu: „¿Qué venganza no sería capaz de tomarse - aquel Aquiles - si, por desgracia, no resultaba de su gusto la pintura que de él había trazado el agente? “ (S. 304) Mit dem Schatten wird auf die Möglichkeit angespielt, dass Eugenio eventuell andere Interessen verfolgen könnte als der 445 Der „invasor francés“ verweist auf den spanischen Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich zu Beginn des 19. Jahrhunderts und die Aufspaltung Spaniens in die dos Españas. Dieser Hinweis steht somit in einer Reihe mit dem erwähnten Bruderkrieg innerhalb der Familie Mazón, mit der historischen Einordnung der mise en abyme in die Zeit der Karlistenkriege und mit dem bei Benet allgegenwärtigen Thema des spanischen Bürgerkriegs. <?page no="178"?> 178 agente und der frühere testigo presencial. Das oben angesprochene Verhältnis von Sänger und Held erhält hiermit eine ganz neue Qualität. Die Bedrohung, die ausdifferenzierte Struktur der Erzählsituation und die gesamte mise en abyme könne durch das Eingreifen des Helden zusammenbrechen, kündigt sich an. Der Widerstreit und Kampf der verschiedenen strukturellen Ebenen (Text - Leser bzw. mündliche Erzählung - Zuhörer) wird durch den angedeuteten Übergang der hypodiegetischen Figur Eugenio Mazón zur intradiegetischen Figur Eugenio Mazón erneut aufgerufen. Dieses Mal geht es jedoch nicht um auseinandertreibende Interessen von Erzähler und Zuhörern bzw. Text und Leser, sondern um die möglicherweise unterschiedlichen Intentionen von hypodiegetischer Figur und intradiegetischem Erzähler. Bemerkenswerterweise bleibt diese Bedrohung und damit der Widerstreit bestehen und wird nicht ein- oder aufgelöst. Der Text entgeht der Bedrohung einfach, indem nun endgültig von der mise en abyme Abschied genommen wird. Der zuvor zitierte Satz steht am Ende eines Absatzes. Der folgende Absatz nimmt dann ein neues Movens der Geschichte auf, den carro, den der agente sich besorgt, um sein Geschäft weiter voranzutreiben. Alle bisherigen Themen - der Zweikampf, seine Protagonisten, das Publikum und der Erfolg des testigo presencial - sind beendet und mit ihnen die mise en abyme. Ein letztes Mal wird jedoch das Thema des Wahrheitsanspruchs der Erzählung aufgegriffen. Ventura León befürchtet nicht nur, Eugenio Mazón könne etwa mit seiner Version der Geschichte nicht einverstanden sein, sondern „[…] que bien podía enojarle [a Mazón] si demostraba ser más amigo de la verdad que de sí mismo […]“. (S. 304) Die Möglichkeit, Mazón sei an der Wahrheit gelegen, stellt die eigentliche Bedrohung für den Erfolg des Augenzeugen dar. Damit wird gleichzeitig angedeutet, die Erzählungen entsprächen nicht den Fakten, wie der Kampf tatsächlich abgelaufen ist. Diese Befürchtung des Augenzeugen entspricht den Eindrücken, die der Leser erhält und die in dieser Analyse auch bereits mehrmals angedeutet wurden: Der Augenzeuge legitimiert sich zwar durch seine eigene Zeugenschaft und erhält darüber hinaus auch noch die quasi-göttliche Legitimation durch den extradiegetischen Erzähler. Das heißt jedoch nicht, dass er faktual von dem Ereignis des Kampfes berichtet. Eine antike Poetik, in der ein Fiktionsbegriff noch nicht ausdifferenziert existierte, stellt zwar den Bezugsrahmen dar, die Problematik ist jedoch eine moderne. Denn der testigo presencial kostet mit jeder neuen Version seine Freiheit als Erzähler aus und fügt neue Details nach Belieben hinzu. Die Frage nach der Ausdifferenzierung von faktualem Berichten bzw. Historiographie und fiktionalem Erzählen bzw. Literatur wird virulent. Homer und Aristoteles bilden, wie gezeigt wurde, zwei wichtige poetologische Bezugspunkte der mise en abyme. Gleichzeitig bewegt sich der Augenzeuge anachronistisch im Oralitätsparadigma des vormodernen Región, leitet aber mitunter eine Übergangsphase zur Schriftlichkeit und zur <?page no="179"?> 179 ‚Modernisierung‘ der Gegend ein. Darüber hinaus wird das Verhältnis von Erzählung und Wahrheit thematisiert. Wolfgang Rösler 446 hat gezeigt, wie gerade Homer und Aristoteles den Anfangs- und den vorläufigen 447 Endpunkt einer Entstehung und Ausdifferenzierung des Fiktionalitätsverständnisses in der Antike bilden. Seine grundlegende These lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: […] [D]ie Entdeckung der Fiktionalität bei den Griechen ist letztlich - in einem Zweischritt - Konsequenz der Schrift: zunächst, insofern deren Einsatz zu einer zuvor unerreichbaren Akkumulation und Fixierung von Tradition führte […]; sodann, insofern sie den Rezeptionsakt von der persönlichen Teilnahme am mündlichen Vortrag hin zum Alleinsein mit dem geschriebenen Text verlagerte […]. 448 Nach Rösler geht mit dem Übergang von einer mündlich geprägten Tradition zur Schriftkultur ein sich ausdifferenzierender Fiktionalitätsbegriff einher. Darüber hinaus werden diese beiden Entwicklungen von einer sich langsam herausbildenden Historiographie begleitet. 449 Denn das, was die Dichtung an Übertreibungen hervorbringt, wird von einer auf Fakten basierenden Geschichtsschreibung kritisiert. Diese Unterscheidung von Dichtung und Geschichtsschreibung wird auch bei Aristoteles angesprochen: Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d.h. dass nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt […]; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. 450 Alle diese Thematiken, Mündlichkeit - Schriftlichkeit, Legitimierung der Fiktion und Entstehung der Historiographie als Gegenstück, finden sich in der mise en abyme wieder. Dabei ist es auch wichtig, sich erneut den Aufbau und die komplexe Struktur dieser auf wenige Seite begrenzten Textstelle vor 446 Wolfgang Rösler: „Die Entdeckung der Fiktionalität in der Antike“, in: Poetica 12 (1980), S. 283-319. An dieser Stelle kann nicht diskutiert werden, inwiefern das aristotelische Verständnis der Mimesis bereits dem modernen Verständnis von Fiktionalität entspricht (was sicherlich nicht der Fall ist). Wichtig ist aber, dass Aristoteles unterscheidet zwischen dem, was ist, und dem, was wahrscheinlich sein könnte, und damit von einem allumfassenden Wahrheitsanspruch der Dichtung Abschied nimmt. 447 Siehe zu einer Fortschreibung und zu einem modifizierten Verständnis dieser Entwicklung Martin Hose: „Fiktionalität und Lüge. Über einen Unterschied zwischen römischer und griechischer Terminologie“, in: Poetica 28 (1996), S. 257-274. 448 Ebd., S. 285. 449 Siehe hierzu Rösler: „Die Entdeckung der Fiktionalität“, S. 259. 450 Aristoteles: Poetik, S. 29. <?page no="180"?> 180 Augen zu führen: Von einem intradiegetischen Ereignis, dem der Augenzeuge beiwohnt, wird mündlich-inszenierend berichtet. Während der Augenzeuge auf der Schwelle zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit steht, ist er selbst Figur in einem Text, der seine Textualität in hohem Maße ausstellt. Das übergreifende Motiv des Romanfragments Herrumbrosas lanzas, der spanische Bürgerkrieg, wird auf unterschiedlichen Textebenen thematisch und strukturell gespiegelt. Das heißt, das historisch und außertextuell verbürgte Ereignis wird in der Fiktion und durch dezidiert literarische und schriftliche Instrumente verhandelt. Durch den Rückgriff auf die Antike, jedoch mit den Vorzeichen eines modernen Fiktionalitätsbegriffes, wird der historiographische Imperativ, der Geschichtsschreiber müsse stets sagen, was eigentlich passiert ist, widerlegt. Denn wichtig ist nicht mehr, was passiert ist, sondern was auch hätte passieren können und wie etwas dargestellt wird. Dabei werden die Grenzen von historisch-faktischer ‚Wahrheit‘ und literarischer ‚Authentizität‘ unscharf und durchlässig. Wahrheit ist nicht in Fakten zu finden, sondern in der Erwägung aller Möglichkeiten, in der Komposition des Textes. Denn dieser reflektiert in Herrumbrosas lanzas ständig seine eigene Herkunft und holt seine eigenen Ursprünge - und damit die Aufspaltung in Dichtung und Geschichtsschreibung - ein, freilich ohne seine eigene (literatur-) historische Einordnung zu ignorieren. Das ursprüngliche performative Moment der mündlich-inszenierten Erzählung wird nicht zuletzt durch die oben fehlende Trennschärfe zwischen den verschiedenen diegetischen Ebenen wieder in den Text hinein geholt. Nicht nur inszeniert der Augenzeuge seinen Vortrag, sondern der Leser wird zum eigentlichen Augenzeugen, indem das Spektakel des Zweikampfes regelrecht an die Textoberfläche drängt - von der Hypodiegese an die Grenze zwischen Diegese und außertextueller Realität. Eine Unterscheidung zwischen hypodiegetischem und intradiegetischem Publikum wird erschwert und durch die inszenierte Darstellung der tatsächlichen Kampfszene wird gleichzeitig der Leser in die beschriebene Ursituation des Erzählens miteinbezogen. III.6.6 Zusammenfassung Die Analyse des Berichts vom Zweikampf zwischen Mazón und Ochoa als mise en abyme hat folgende Ergebnisse erbracht: Der Zweikampf stellt die grundlegende Struktur einer Erzählung dar, die auf mehreren strukturellen und inhaltlichen Ebenen gespiegelt bzw. gedoppelt wird und die prototypische Voraussetzung für einen sujethaften Text ermöglicht. Die intradiegetische Erzählung und der Text werden regelrecht vom Kampf durchdrungen. Dabei wird das Prinzip der im vorherigen Kapitel analysierten Ausbildung von Fronten weitergeführt. Stets manifestieren sich in den beiden sich gegenüberstehenden Prinzipien unterschiedliche Interessen und Verfahrensbzw. Verhaltensweisen - unter anderem findet eine Ausdifferenzierung von Strategie und Taktik als Verfahren im Kampf und in der Erzählung statt. <?page no="181"?> 181 Während jedoch auf der Ebene der histoire der mise en abyme der Kampf sich eindeutig zu Gunsten des Helden Eugenio Mazón entscheidet, bleiben die ‚strukturellen Kämpfe‘ zwischen den Interessen des testigo presencial und dem Publikum oder dem Helden bzw. zwischen Text und Leser in der Schwebe und werden nicht aufgelöst. Die mise en abyme verstärkt also die Inkorporierung der Prinzipien des Krieges als narratives Verfahren noch weiter. Weiterhin wird die enge Verbindung von räumlicher Strukturierung und dem inszenatorischen Charakter des Textes aufgezeigt. Die strenge räumliche Trennung von Bühnenraum und Zuschauerraum legt die Grundsteine für eine bestimmte Rezeptionssituation und für die funktionale Aufspaltung in diejenigen, die aufführen, und diejenigen, die zusehen. Diese räumliche Strukturierung wird vom Zweikampf zwischen Mazón und Ochoa auf die Situation zwischen Augenzeuge und Zuhörerschaft und letztendlich auf Text und Leser übertragen, wobei jeweils auch die Besonderheiten der Inszenierung übertragen werden. Nicht nur wird die Inszenierung an eine räumliche Aufspaltung geknüpft, sondern auch ein Zusammenhang zwischen Kampf und Inszenierung hergestellt. Denn der grano, der Zweikampf zwischen Mazón und Ochoa, wird von Anfang an als theatralisches Spektakel dargestellt und aufgefasst. Dadurch wird ihm von Beginn an das ‚Alsob‘ des Theaters unterstellt. Der Charakter der Inszenierung bzw. theatralische Elemente werden somit von der inhaltlichen Ebene in eine Eigenschaft des Textes übertragen. Die mise en abyme verweist bereits auf mehrere Prinzipien der Theatralität, die in Kapitel IV näher analysiert werden. Der enge Zusammenhang von Erzählung und Inszenierung und strukturellen Zusammenhängen von Räumlichkeit und Theatralität werden hier offensichtlich. Des Weiteren muss die poetologische Reflexion herausgehoben werden, die über die Figur des Augenzeugen und durch einen vielschichtigen Rückgriff auf die Ursprünge von Poetik und Fiktionstheorie in der Antike stattfindet. Dabei geht es nicht um einen simplen Abschied von der aristotelischen Lehre von den Einheiten und einer plakativen Gegenüberstellung von antikem Wahrheitsanspruch der Dichtung und modernem Autonomiepostulat von Fiktion und Literatur. Vielmehr wird dieser antike Wahrheitsanspruch der Dichtung dezidiert aufgerufen und unter modernen Vorzeichen neu verhandelt. Der Augenzeuge wird mehrmals als Erzähler von höheren Instanzen legitimiert und doch ist offensichtlich, dass er stets neue Versionen liefert, seine erzählerischen Freiheiten in jeder Hinsicht auskostet und er um des Erzählens und um des Profits willen erzählt. Der grano bleibt immer derselbe, doch um diesen herum entspinnen sich Geschichten um den Helden und um das Ereignis, die sich immer weiter vom ursprünglichen Sujet entfernen. Das heißt, es geht nicht darum, so zu tun, als würde man faktual zu erzählen, sondern im vollen Bewusstsein die Möglichkeiten der Fiktion <?page no="182"?> 182 auszukosten und dabei trotzdem einen eigenen Wahrheitsanspruch zu postulieren. Auch das Verhältnis von Erzähltem, Erzähler, Text und Leser stellt in diesem Zusammenhang einen letzten wichtigen Punkt dar. Der Inszenierungscharakter, der der mündlichen Tradierung von antiken Epen durch die Rhapsoden zu eigen war, wird aufgerufen und durch die verschiedenen Textebenen an die Oberfläche transportiert. Die Erzählung reflektiert somit ständig ihre eigenen Ursprünge und Bedingungen. Des Weiteren sind weder die Erzählung des testigo presencial noch die des extradiegetischen Erzählers dazu da, dem Rezipienten zu gefallen. Beide sind vielmehr darauf ausgerichtet, bei der Rezeption auf Widerstände zu stoßen, die provozieren und nicht aufgelöst werden. Erst durch die aufeinandertreffenden Interessen von Erzählung und Leser und den entsprechenden Widerstand wird eine Dynamik in Gang gesetzt, die den Text entstehen lässt. Dieser versucht, durch ein konsequentes Nichteinhalten der ökonomischen Vorgaben die eigenen strategischen Anlagen zu sprengen. Er will - immer im Rahmen der eigenen Bedingungen - nicht strategisch überschaubar sein, sondern sucht sich immer wieder neue Um- und Auswege. Dem Leser wird es somit immer schwerfallen, sich auf das Textverhalten einzustellen. Dabei wird er insofern zur ‚Verantwortung‘ gezogen, als dass er beginnt, seine eigenen Erwartungen an den Text und an das Erzählen zu hinterfragen. III.7 Krieg als narrativer Prozess - die guerra civil in Volverás a Región Wie bereits in der vorhergegangenen Analyse zur mise en abyme in Herrumbrosas lanzas gezeigt werden konnte, ist es ein vorrangiges Interesse dieser Arbeit zu untersuchen, wie die Prinzipien des Krieges von einer inhaltlichen Darstellung auf die Ebene des narrativen Prozesses, sprich von der histoire auf den discours gehoben werden. Ist es bei dem Kampf zwischen Ochoa und Mazón hauptsächlich das Verhältnis zwischen Publikum bzw. Leser und Erzähler bzw. Text, das zu Geltung kommt, so soll in diesem Kapitel anhand der Darstellung einzelner Schlachten und des Verlaufs der guerra civil in Volverás a Región 451 gezeigt werden, wie sich mit den Prinzipien von Strategie und Taktik weitere Dimensionen des narrativen Prozesses beschreiben lassen. Im Gegensatz zu den Essays zum spanischen Bürgerkrieg zeigt sich, wie der Erzähler sein Wissen über den Krieg bewusst einsetzt, um den Leser zu lenken und in hohem Maße zu desorientieren. Das Erzählen vom Krieg wird zum kriegerischen Erzählen. 451 Alle Zitate aus Volverás a Región erfolgen in diesem Kapitel im Fließtext. Alle anderen Literaturnachweise erfolgen über Fußnoten. <?page no="183"?> 183 III.7.1 Der ereignislose Beginn: la primera campaña Das erste Mal wird eine Schlacht bzw. ein Feldzug relativ am Anfang von Volverás a Región erwähnt: La primera campaña que emprendió la fuerza republicana de Región - agrupada y organizada por el Comité de Defensa - fue librada en los alrededores del puerto de Socéanos, en los primeros días de noviembre del año 1936. (S. 28) Mit diesem einleitenden Satz werden die grundlegenden Informationen von Beteiligten (die republikanischen Truppen aus Región), Ort (der Bergpass bei Socéanos) und Zeit des Feldzugs (Anfang November 1936) von einem unbeteiligten, extra- und heterodiegetischen Erzähler geliefert. Der nächste Satz liefert mit dem Ziel die strategische Ausrichtung des Feldzuges: Se trataba de cortar el avance de una columna, en su mayor parte formada de falangistas, que había salido de Macerta por la carretera real con la intención de alcanzar el valle de Torce. Die Republikaner wollen mit dem Feldzug den Vormarsch und den Eintritt der Falangisten in das Flusstal des Torce verhindern. Was nun jedoch folgt, ist nicht die Schilderung des Verlaufs der Schlacht, sondern vielmehr die Vermeidung einer solchen Darstellung durch eine sehr explizite Beurteilung der sich gegenüberstehenden Truppen durch den Erzähler und durch eine äußerst knappe Zusammenfassung der Ergebnisse der Schlacht: En verdad más que la lucha entre dos ejércitos aquello fue la pugna de dos caravanas de coches y camiones anticuados […] que saliendo de los valles respectivos del Torce y del Formigoso trataron de encontrarse y enfrentarse en el divortium aquarum. Pero ninguna de las dos se mostró capaz de coronar el puerto, por cualquiera de las vertientes. Anstatt zweier Heere treffen zwei Karawanen aus veralteten Autos und Lastwägen an der Wasserscheide aufeinander, die durch die Bergkette und den zu erobernden Bergpass markiert ist. Hier wird durch den Erzähler mit einer vergleichsweise unkomplizierten Informationsvergabe die fast symmetrische Aufteilung des Territoriums durch einen Bergzug in zwei verfeindete Flusstäler, wie sie bereits schon anhand des Mapa de Región analysiert wurde, suggeriert. So wie es zwei Täler und zwei Berghänge gibt, die zum puerto aufsteigen, so gibt es zwei Fahrzeugkarawanen, die aufeinander zusteuern. Jedoch wird hier bereits die Ergebnislosigkeit dieser pugna angedeutet, ohne weiter ins Detail zu gehen. Keine der beiden verfeindeten Kräfte schafft es, den Pass tatsächlich einzunehmen. So bleibt dieser Kampf ergebnislos. Er wird zwar zwischenzeitlich auf künstliche Art und Weise verlängert, letzten Endes ziehen sich jedoch beide Feinde unverrichteter Dinge zurück: <?page no="184"?> 184 Los combates […] se prolongaron con ayuda de las caballerías […] hasta la llegada de las primeras nieves en el mes de diciembre, cuando ambas fuerzas decidieron retirarse, por toda la duración del invierno, a sus respectivas bases de Región y Macerta, manteniendo levantadas las espadas y dejando el puerto al cuidado de los leñadores. Die ergebnis- und - nach Lotman - ereignislose Schlacht, die durch die veralteten Gefährte bereits unter anachronistischen Vorzeichen stand, wird durch den Einsatz der Kavallerie künstlich und unnötig verlängert. Auch die genaue Schilderung der republikanischen Kräfte als „muestrario“ aus Männern, Motoren, Hemden, Liedern und Musketen (eine Waffe, die eher in den Kriegen des 19. als des 20. Jahrhundert zu verorten ist) unterstreicht das Anliegen des Erzählers, die Mittel dieser Kriegsführung als vollkommen veraltet und nicht auf dem Stand der Zeit zu beschreiben. Es geht hier nicht um die Darstellung von Schlachten, sondern um eine eindeutige Beurteilung der Kriegsführenden und ihrer Mittel in dieser guerra civil. Und dieses Urteil fällt - dem Duktus des Essays sehr ähnlich - vernichtend aus. Der Erzähler stellt sich hier bereits als militärisch informiert und interessiert aus, der somit seine Distanz zum Dargestellten nicht nur durch eine fehlende Beteiligung, sondern auch durch eine extrem kritische Haltung und einen Vorsprung an militärischem Wissen etabliert. Diese Einstellung wird durch das ausbleibende Ereignis dieser ersten Schlacht (am Ende ziehen sich beiden Truppen auf ihre ursprünglichen Ausgangspunkte zurück) unterstützt. III.7.2 Verhinderung des Fortgangs: la acción de Burgo Mediano Der zweite längere Textabschnitt (S. 41-48) widmet sich konkreten Kriegshandlungen. Es wird direkt an eine Landschaftsbeschreibung angeknüpft, die zwei Wege, die von Macerta nach Región führen, unterscheidet: Este segundo fue el camino que en la primavera de 1938 decidió seguir el coronel Gamallo - en franca oposición a la estrategia dictada por el Estado Mayor del Grupo de Ejércitos del norte - en la operación destinada a liquidar la bolsa de Región que hasta esas fechas, aislada del resto de la República y reducida a sus propios recursos desde finales del año 1937, había logrado mantenerse y aun rechazar dos ataques sucesivos. (S. 41) Während mit dem Ziel auch die strategische Ausrichtung der Operation des nationalistischen Oberst Gamallo genannt wird („liquidar la bolsa de Región“), wird gleichzeitig auf die in Kapitel III.5 untersuchte Ausbildung von Fronten angespielt: Gamallo möchte seinen Plan in direkter Opposition zur offiziellen, vom Generalstab bestimmten Strategie realisieren. Es herrscht also keine Einigkeit auf Seiten der nationalistischen Truppen. Auch lieht die Fokalisierung des Erzählers zunächst ausschließlich auf den Nationalisten. Diese neue Operation findet im Jahr 1938 statt, also fast zwei Jahre nach der <?page no="185"?> 185 oben geschilderten, ergebnislosen Schlacht. Anscheinend erweist sich Región als resistentes Ziel, da es den regionatos bereits zweimal in den Jahren 1936 und 1937 gelungen ist, zielgerichtete Attacken abzuwehren. Das Kommando der offiziellen Operation wird einem Oberst aus Navarra zugeteilt, der mit Infanterie, Artillerie und Kavallerie anrückt. Nicht ohne die üblichen narrativen Umwege kommt es - im Gegensatz zu dem oben beschriebenen Feldzug im Jahr 1936 - tatsächlich zur Schlacht. Die vom navarro befehligten Truppen erreichen einen Hügel über dem Fluss Torce, von dem aus der strategische Überblick über das Flusstal möglich ist: Cuando la división alcanzo la collada - en cuya ascensión el joven coronel navarro hizo gala de una energía y unas dotes de mando notables -, a la vista del valle del Torce, el único hombre que conocía el terreno trató de poner una serie de objeciones al avance que solamente le proporcionaron ciertas dificultades con sus superiores. (S. 41) Dieser namenlose hombre, der vom Erzähler als einziger Kenner des Territoriums bezeichnet wird und damit eigentlich eine wertvolle Funktion für die nationalistischen Truppen hätte, ist gleichzeitig ein Obstakel für die Schlacht. Dies gilt nicht nur auf inhaltlicher Ebene, wie es der Erzähler bekräftigt, sondern auch auf der narrativen Ebene. Anstatt der zu erwartenden fortlaufenden Schilderung der Schlacht geht der Erzähler nun zunächst dazu über, diesen namenlosen und im weiteren Verlauf völlig bedeutungslosen hombre ausführlich als unglaubwürdig, gescheitert, militärisch ungebildet, für den Einsatz auf dem Schlachtfeld vollkommen ungeeignet und groteskerweise nägelkauend zu charakterisieren: su carencia de principios, sus fracasos en la vida familiar, su escaso sentido táctico, su falta de maneras, su mano agarrotada, su afición a la lectura y […] su poca adaptación a la vida del monte […]. (S. 42) Die Tatsache, dass er gerne liest 452 , lässt seine Vorahnung beim Erreichen des Gipfels („Empezó a sentirse a disgusto cuando alcanzaron la collada […].“) nicht glaubwürdiger erscheinen. Die „objeciones al avance“, die durch diese Figur verursacht werden, entbehren also inhaltlich jeder Grundlage und auch der Oberst aus Navarra lässt sich mit ihm auf keine Diskussionen ein. Auf der Ebene des discours führen diese Hindernisse und die Einführung der ansonsten funktionslosen Figur zu einer taktischen Verzögerung dessen, worauf die Erzählung erwartungsgemäß hinsteuert: der tatsächlichen Schlacht. In Missachtung der Einwürfe des Namenlosen befiehlt der Oberst 452 Bei Benet liegt die Assoziation der „afición a la lectura“ mit Don Quijote und dessen Wahnvorstellungen nahe. <?page no="186"?> 186 kurzerhand den Angriff und schiebt den anderen mit dem Kommando vollkommen unwichtiger Positionen, die informationstechnisch von den restlichen Truppen abgeschnitten sind, ab: […] [S]e decidió a lanzar el ataque sin perder una fecha y le encargó la organización de unos pequeños puestos defensivos, casi carentes de enlace e información […] a medida que la columna avanzara hacia el Torce. (S. 43) In den letzten Augusttagen werden die nationalistischen Truppen bei ihrem Abstieg von den Berghängen intensiv von den Republikanern bedrängt. Mit dem nun folgenden Einstieg in die einzelnen Geschehnisse der Schlacht verliert die Erzählung erstens eine stabile Fokalisierung auf den einen oder den anderen Gegner und zweitens werden zwar ständig Landmarken oder Ortschaften genannt. Diese tragen aber letzten Endes nicht zur räumlichen Orientierung, sondern vielmehr zur vollkommenen Desorientierung des Lesers bei. So wird zunächst von den enérgicos e imprevisibles contraataques lanzados con aquel inconfundible estilo guerrillero de Eugenio Mazón (a la sazón ya eran tres, él, Julián Fernández y el viejo Constantino) gesprochen. Kurz darauf wird jedoch wieder der Oberst aus Navarra in den Fokus genommen: Por primera vez el coronel picó el anzuelo: al llegar al valle en lugar de avanzar sobre el río giró su flanco izquierdo hacia el sur y entró en Burgo Mediano el día de la Virgen de Agosto, persiguiendo a la brigada de Julián Fernández a la que tomó por el grueso de las fuerzas enemigas. Al tener noticia de ello el viejo Gamallo fue a reunirse apresuradamente - a lomos de una caballería - con su coronel, a fin de celebrar una entrevista y sugerirle que consolidara aquella posición mientras no conquistara o destruyera el Puente de Doña Cautiva […]. Neben den Republikanern ist auf einmal der vom offiziellen Kommando der Nationalisten abtrünnige Oberst Gamallo wieder mit im Spiel. Des Weiteren scheinen die drei genannten republikanischen Einheiten nicht an ein und demselben Ort zu kämpfen, da der Kommandierende der Nationalisten nur der Brigade von Julián Fernández folgt. Auf einer halben Seite multiplizieren sich also die Schauplätze der Schlacht und die Teilnehmer, ohne dass der Leser in der Lage wäre, diese durch eine räumliche Orientierung miteinander in Verbindung bringen zu können. Die genannten Landmarken (wie etwa der Puente de Doña Cautiva) oder Ortschaften (wie Burgo Mediano) werden in Kombination mit der Topographie der Gegend (Fluss und Tal) und den Himmelsrichtungen („hacia el sur“) zwar konsequent verwendet, es entsteht jedoch keine strategisch ausgerichtete Orientierung wie beim Mapa de Región. Um die einzelnen Kriegshandlungen und Schlachten in ei- <?page no="187"?> 187 nen konsequenten Zusammenhang setzen zu können, reicht der syntaktische Zusammenhang des Textes nicht aus. Durch die ständige Verwendung jener ‚Orientierungslexeme‘ wird vielmehr das Gegenteil erreicht. Man weiß nicht, warum der coronel navarro die Position nicht befestigen soll, solange Gamallo nicht die Brücke zerstört hat, da unklar bleibt, in welchem territorialen Verhältnis beide zueinander stehen. Die Multiplikation der Schlachten und die räumliche Desorientierung werden durch weitere narrative Verfahren verstärkt. So wird die zeitliche Linearität ebenso wenig beibehalten. War gerade bereits vom Vorrücken der Truppen am „día de la Virgen de Agosto“, also am 15. August die Rede, wird kurz darauf von der „memorable acción de Burgo Mediano [que] tuvo lugar entre el 6 de agosto y el 3 de septiembre“ (S. 44) gesprochen. Hier erfährt der Leser in einer Analepse, wie es zu der bereits erwähnten Aufteilung der Republikaner in drei Gruppen kommt: Während die Kräfte aus Navarra Kurs auf Región halten, splitten sich die Republikaner auf. Mazón bleibt mit seiner Brigade auf dem rechten Flussufer bei besagter Brücke für den Fall, dass die navarros sich nähern. Der alte Constantino und seine Leute halten sich entlang des Weges von Bocentella nach La Requerida auf. Das Bataillon von Julián Fernández letztendlich positioniert sich mit den Resten der deutschen Brigade Theobald an der carretera de Región Richtung Berge. Nach dieser Positionierung liefert der Text ein weiteres Hindernis, das sich der fortlaufenden Schilderung der militärischen Operation entgegenstellt. Auf einer halben Seite wird der Aufzählung der Bewaffnung und der Zusammensetzung der republikanischen Truppen Raum gegeben. Diese erneute Verzögerung sorgt vor allen Dingen für ein vollkommen anachronistisches und zerfallenes Bild der militärischen Ausstattung auf republikanischer Seite („las formaciones parecían haber salido de una estampa de Epinal, de una vitrina de museo o de un desfile de viejas y alborotadas glorias“, S. 44). Auf der Ebene der histoire wird nach und nach der Verlauf der Operation weiter geschildert, wobei auch die inhaltliche Gegenüberstellung von strategischer Planung und taktischer Anpassung an den aktuellen Schlachtverlauf relevant ist. So greift am 26. August der coronel navarro die Republikaner an. In der darauffolgenden Nacht überquert Mazón den Fluss und trifft bei der Brücke auf eine kleinere gegnerische Einheit, die sich jedoch so gut wie gar nicht zu verteidigen weiß. Trotzdem scheint alles nach dem Plan der Nationalisten zu verlaufen: „Y el ataque y el avance navarros se prosiguieron con el plan previamente establecido y previsto.“ (S. 45) Diese Information lässt sich jedoch nicht überprüfen, da zuvor nicht im Zusammenhang erläutert wurde, worin genau der „plan previamente establecido y previsto“ besteht. Eine erneute Unterbrechung folgt mittels der Beurteilung des Territoriums der Kampfhandlungen durch die Erzählerstimme, die durch einen Tempuswechsel in das Präsens deutlich markiert ist. Das Territorium bietet <?page no="188"?> 188 denkbar ungünstige Voraussetzungen für einen Angriff, da es sich um eine große, weite Hochebene ohne Rückzugsmöglichkeiten handelt: No existe, para una división a pie, con escasa protección artillera, en todo el valle del Torce un frente de ataque más ingrato que la llanada de Burgo Mediano […]. Diese Ebene ist von Hügeln umgeben, „desde las cuales el menor movimiento de la tropa será observado día y noche.“ Das heißt, die topographischen Gegebenheiten dieses Hinterlandes (der Erzähler verwendet hier den deutschen Begriff hinterland) bieten ideale Beobachtungsvoraussetzungen in Bezug auf das Geschehen auf der Ebene. Der Erzähler stellt sich einmal mehr - wie auch bei der detaillierten Aufzählung des armamento - als militärtheoretisch interessiert und informiert aus. Bei dem Wiedereinstieg in den Schlachtverlauf springt der Erzähler wieder einen Tag zurück auf die Nacht vom 25. auf den 26. August. Die Nationalisten spähen die soeben vom Erzähler als für militärische Operationen ungeeignet befundene Ebene die gesamte Nacht aus und überqueren sie im Morgengrauen. Darauf hatten die Republikaner in einem Hinterhalt gewartet und nutzen genau jenen territorialen Vorteil aus, der durch Hügel um die Ebene herum gegeben ist. Sie überfallen die Nationalisten mit einer taktischen List, überrumpeln diese vollkommen und können einen punktuellen Erfolg davon tragen: „Casi un tercio de la columna [navarra] había sucumbido en menos de diez horas […].“ Das heißt, im Nachhinein wird die Beurteilung des Territoriums durch den informierten Erzähler narrativ funktionalisiert, da sich die Republikaner aus demselben Wissen einen taktischen Vorteil verschaffen bzw. die Nationalisten aus dem entsprechenden Unwissen in einen taktischen Hinterhalt geraten. Die aus militärischer Sicht adäquate Beurteilung des Hinterhalts gelingt aber nur mit den vorher durch den Erzähler bereitgestellten Informationen zum Territorium. Von dem Hinterhalt lassen sich das nationalistische Kommando und vor allen Dingen der befehlende Oberst jedoch nicht aufhalten. Der Befehl zum Angriff wird aufrechterhalten und man versucht, der Ebene auszuweichen und nähert sich den Hügeln, wo sie bereits mit Constantinos Truppen ein Teil der Republikaner erwartet. Wieder schaltet sich der informierte Erzähler ein: „Tal fue el origen de la batalla de La Loma - el único triunfo real que obtuvieron los republicanos en dos años de guerra.“ (S. 46) Er nimmt also erneut einen folgenden Triumph der Republikaner mit einer eindeutigen Beurteilung vorweg. Handelt es sich um ihren einzigen Erfolg in zwei Jahren, so kann davon ausgegangen werden, dass sich der restliche Kriegsverlauf für sie als katastrophal herausstellt. Wurde zuvor bereits der schlechte Zustand der Truppen und der Bewaffnung betont, so stellt sich nun die Frage, wie die Republikaner zu diesem einzigartigen Triumph kommen. Die navarros verlassen in Masse und zusammen mit dem Kommando den Ort Burgo Mediano und dieser wird unmittelbar danach von Mazón und <?page no="189"?> 189 seiner Truppe besetzt. Die Erzählung springt danach erneut vollkommen unvermittelt zu den die Ebene umgebenden Hügeln. Dort entfaltet sich nun eine sieben Tage andauernde Schlacht, bei der die navarros von allen Seiten bedrängt werden und sich in eine Stellungsschlacht begeben müssen („se pegaron al terreno“, S. 46), da sie nicht noch einmal riskieren wollen, sich auf die freie Ebene zu begeben. Ende August erreichen die Nationalisten „la venta de El Quintán“, was die Position ihres maximalen Vordringens sein wird. Ob diese Position ein sehr weites Vordringen in die republikanischen Reihen bedeutet oder nicht, kann nicht beurteilt werden. Wieder werden detaillierte territoriale Kenntnisse vorausgesetzt, ohne die der Leser sich von den räumlichen Positionsangaben im Text überfordert sieht. Mit dem unspezifischen Pronomen „los otros“ springt die Schilderung wieder zu einer Fokalisierung auf die republikanische Seite. Dort entscheiden ‚die Anderen‘ „sacrificar su estrategia combinada para reforzar a la brigada del viejo Constantino y tratar de detener el avance en aquel punto.“ Das heißt, die ursprüngliche strategische Ausrichtung der Republikaner, sich in drei relativ eigenständige Bataillone aufzuteilen, wird zum Teil den situativen taktischen Notwendigkeiten angepasst, um die Brigade des Constantino zu unterstützen und das weitere Vordringen der Nationalisten zu verhindern. Letzten Endes sieht sich der coronel navarro so sehr bedrängt, dass er am letzten Augusttag nach einer geeigneten Rückzugsmöglichkeit für seine Truppen sucht und diese auf derselben Achse, auf der er ursprünglich vorgerückt war, findet. Er zieht sich zurück nach El Burgo. „Era lo que los otros esperaban: sabiendo que carecía de fuerzas para salir de allí no se preocuparon sino de contemplar el cerco […].“ (S. 47) Die Fähigkeiten, zu antizipieren, und die Kenntnisse über das Territorium führen zu einem deutlichen Vorteil für die Republikaner („el terreno que conocía [Mazón] como la palma de su mano“). Den Nationalisten wird der letzte Fluchtpunkt genommen. Nachdem die Ortschaft El Burgo Anfang September dreimal die Besatzer wechselt, siegen letzten Endes, wie zuvor angekündigt, die Republikaner. Erst nach dieser Niederlage der Nationalisten kommt die Figur Gamallo wieder ins Spiel, mit dessen nicht weiter erläutertem, dissidentem Plan die Schlacht anfangs eingeleitet wurde. Gamallo erfährt erst von dem Desaster des navarro, als er nicht mehr eingreifen, sondern nur noch betrachten kann: Al frente de unos mil quinientos hombres sólo llegó a tiempo para contemplar, desde un punto elevado, el holocausto de la división; esperó durante dos días en aquel cerro a medio camino entre el Burgo y el Puente de Dona Cautiva, con los periscopios fijos sobre aquel montón de polvo y humo donde todo, incluso la guerra civil, parecía haberse consumado. (S. 47) Die strategische Übersicht, die eigentlich für den kommandierenden coronel navarro vonnöten gewesen wäre, um den territorialen Kenntnissen der Republikaner etwas entgegenhalten zu können, dient Gamallo lediglich dazu, das Sich-Ereignen der guerra civil aus der Ferne zu beobachten. Gerade aus <?page no="190"?> 190 der Sicht des Oberst Gamallo erweist sich jedoch das Scheitern des offiziellen Kommandos als notwendiges Übel, um seine eigene dissidente Strategie umsetzen zu können. Dementsprechend beobachtet er den Rückzug der Republikaner und schleicht über das Schlachtfeld, um genau die Informationen sammeln zu können, die dem coronel navarro offensichtlich gefehlt hatten: Durante casi una semana merodeó por el teatro de la batalla […] dispuesto a consumir el tiempo necesario para […] obtener la mayor cantidad de información […]. (S. 48) Rückblickend erweist sich die über Umwege geschilderte Schlacht in den Monaten August und September also als narrativ-strategische Notwendigkeit, damit Gamallo seinen Plan überhaupt in die Praxis überführen kann, was im folgenden Kapitel analysiert wird. III.7.3 Die ewiggestrige Strategie: un anacrónico informe Im auf die Schlacht folgenden Winter entwickelt Gamallo einen eigenen Schlachtplan, dessen Qualität vom Erzähler jedoch sogleich wieder abgeurteilt wird: Aquel invierno en Macerta lo dedicó al estudio y a la redacción de un anacrónico informe dirigido al Alto Mando para dar cumplida cuenta de las causas del fracaso y de su posible enmienda en un ulterior ataque. (ebd.) Der Bericht, der das Geschehene analysieren soll und eine entsprechende Schlacht zur Korrektur vorschlägt, ist militärisch gesehen in keiner Weise auf der Höhe der Zeit. So schlägt Gamallo eine große Attacke auf die Stadt Región vor, wobei weitestgehend dem Vorgehen des gefallenen Obersts gefolgt werden soll. Da der Erzähler Gamallo von Beginn an Anachronismus in seinem strategischen Denken bescheinigt hat, sind auch weitere Bemerkungen, die oberflächlich die Kompetenz Gamallos unterstreichen, nicht ohne ironischen Unterton zu verstehen. Demnach ist der Plan […] fundamentado no sólo en su experiencia de la campaña anterior, sino en otras muchas razones, en cierto modo evidentes para cualquier hombre que contase con un conocimiento sumario de aquellas tierras. Nicht nur bleibt völlig unklar, was diese „otras razones“ sein sollen. Dem Leser erschließt sich ebenso wenig die „experiencia de la campaña anterior“, da während der tatsächlichen Schlacht von der Figur Gamallo gar keine Rede war. Seinen Vorschlag, die Stadt Región mit einem groß angelegten Angriff einzunehmen, begründet Gamallo folgendermaßen: Erstens könne der Bergpass von Socéanos mit einer Bergexpedition leicht eingenommen werden; zweitens verlange die Einnahme des gesamten Flusstals des Torce eine <?page no="191"?> 191 Schlacht von mindestens vier Monaten, wobei zu viele Gefallene und sonstige Schäden riskiert werden würden. Dementsprechend müssten sich die Republikaner, sobald die Nationalisten einmal den Bergpass, der auf zwei Dritteln des Tals liegt, eingenommen haben, wahrscheinlich darauf beschränken, Región zu verteidigen, oder bei jedem Angriff die Stadt verlassen und im Zweifelsfall Zuflucht in den Bergen suchen. Danach nimmt der „informe anacrónico“ die möglichen Folgen eines solchen Vorgehens in den Blick: Falls die Republikaner Región verteidigen, müsse man sie nur in die Enge des Tals treiben und in den Flussauen besiegen. Falls die Republikaner sich aber in die Berge flüchten, so bestünden dort erhebliche Probleme, die Truppen zu organisieren, und man könne Región leicht einnehmen. Nachdem der wesentliche Inhalt des Plans wiedergegeben wurde, zögert der Erzähler nicht, diesen sogleich wieder zu beurteilen. Todo el informe, en efecto, no era sino una cadena de sofismas que el más inexperto oficial del Estado Mayor - a sabiendas de que para aquellas fechas lo último que la liquidación del frente de Región exigía era una operación de gran estilo - podía echar abajo con un comentario marginal. (S. 49) Auch wenn dem Leser sowohl militärtheoretische als auch territoriale Kenntnisse fehlen, so wird kein Zweifel daran gelassen, dass das Vorgehen Gamallos im Sinne einer Kriegsökonomie nicht sinnvoll ist. Demnach erfordert die Einnahme Regións keineswegs eine so groß angelegte Operation und die „cadena de sofismas“ spricht eher für eine übertriebene Eitelkeit des Obersts als für adäquate Fachkenntnisse. Trotz dieser eindeutigen Einschätzung durch die Erzählerstimme findet der Plan Beachtung beim nationalistischen Generalstab. Doch auch dieser Sachverhalt gerät durch die Vermittlung des Erzählers in ein zweifelhaftes Licht. Demnach ist der Generalstab im Jahr 1938 nach einigen militärischen Fortschritten und der „división en dos del mapa republicano“ von dem eigenen Erfolg dermaßen überwältigt, dass niemand auf die Zeit nach dem Sieg, der in greifbare Nähe rückt, vorbereitet ist. Dem schnellen Sieg („apetito de velocidad primero“) droht eine Leere („vértigo ante el vacío después“) zu folgen. Die fehlgeleitete Reaktion des nationalistischen Alto Estado Mayor ist, alle Attacken in langfristige Feldzüge umzuwandeln, um das tatsächliche Ende des Krieges hinauszuzögern: Todas las ofensivas den año 1938 se traducirán, por deseo expreso del Mando, en batallas de usura, en ataques frontales con los que desgastar los cuadros, […] en largas campañas de inútil atrición al único objeto de prolongar hasta sus últimas consecuencias una guerra concluida con un plantel de vencedores demasiado numeroso e inquietante. (S. 50) Diesem Unvermögen zur Weitsicht in den Reihen des nationalistischen Generalstabs ist es letzten Endes auch zu verdanken, dass Gamallos anachronistischer Plan beachtet und zur Ausführung ausgewählt wird: „El Plan <?page no="192"?> 192 Gamallo fue, por consiguiente, uno de aquellos de última hora que se estudió con severidad y rigor y que […] fue elegido.“ Der Plan und die Umsetzung desselben im Monat September wird einige Seiten später wieder aufgegriffen: La ofensiva organizada por Gamallo se proponía no sólo la captura sino la ocupación de todo el valle medio del Torce, mediante una serie de ataques simultáneos. (S. 60f.) Diese geplanten simultanen Attacken werden im Detail geschildert, wobei es vorrangig darum geht, das Heer in drei Kolonnen aufzuteilen, die an verschiedenen Punkten das Flusstal in Angriff nehmen und sich später wieder vereinigen. Das Ziel des Plans ist es demnach, innerhalb von zehn Tagen nicht nur das Tal einzunehmen, sondern auch die Defensivkräfte der Republikaner signifikant zu schwächen und von den restlichen Truppen abzuschneiden. Nach der detaillierten Darlegung des Plans folgt wieder eine eindringliche Verurteilung desselben durch den Erzähler: Parece evidente que sus intenciones no estaban exclusivamente dictadas por la mejor estrategia para ocupar Región; si ése hubiera sido su único propósito le habría bastado […] o bien lanzar un único ataque frontal en lugar de escalonarlo y fragmentarlo en tres fases o bien repetir la vieja técnica […] de rodear la ciudad, cortar sus suministros, hacer cundir el pánico y dejar abierto uno de sus caminos de escape para que por allí evacuara un enemigo con escaso ánimo de defenderse. (S. 61) Indem er zwei Alternativen zum Plan des Gamallo angibt, zeigt der Erzähler erneut seine militärischen Fachkenntnisse und stellt unter Beweis, dass es nicht darum geht, ideologiegetriebene, haltlose Kritik zu äußern. Ihm geht es um das Gebot der Ökonomie, dem weder Gamallo noch der nationalistische Generalstab folgen: „Toda la campaña del 38 se hubiera podido resolver con mayor economía y en menor plazo con un solo ataque frontal lanzado sobre Región.“ (S. 62) Die Stadt Región stellt sich dabei als neuralgischer Punkt heraus, der, einmal erobert, zu einer massenhaften Aufgabe der Republikaner geführt hätte. Die unzweifelhafte Einschätzung und Verurteilung der Strategie Gamallos, der Motivation und des Vorgehens des Generalstabs entspricht im weitesten Sinne den Kritikpunkten, die Benet auch in den in Kapitel III.2 vorgestellten Essays zum spanischen Bürgerkrieg wiederholt und detailliert dargelegt hat. Das heißt, aus militärtheoretischer Sicht findet durch die in den entsprechenden Textstellen zuverlässige und informierte Erzählerstimme eine dezidierte Be- und Verurteilung der verschiedenen Aspekte der Kriegsführung auf beiden Seiten statt. Diese eindeutige Positionierung steht der bereits beschriebenen konsequenten Desorientierung und Unentschiedenheit bezüglich der Fokalisierung auf eine der beiden gegnerischen Truppen konträr gegenüber. <?page no="193"?> 193 III.7.4 Die scheiternde Umsetzung des Plans: la ofensiva organizada por Gamallo Unmittelbar nach dieser wiederholten Verurteilung des „Plan Gamallo“ steigt der Text erneut in die Schilderung einer Schlacht ein, nämlich in konkrete Umsetzung der zuvor präsentierten Strategie. Demnach finden die ersten Kämpfe im Morgengrauen des 13. Septembers entlang der carretera de La Requerida a Macerta etwa neun Kilometer von der Brücke entfernt statt. Durch einen Einstieg in medias res ist der Leser, trotz der vorherigen strategischen Einführung, wieder vollkommen orientierungslos. Man weiß nicht, ob man sich mit den „voluntarios“, die in die Aktionen verwickelt sind, auf der Seite der Republikaner oder der Nationalisten befindet: Una avanzada de voluntarios, abandonando las laderas y adentrándose en la vega, llegó a vista de él [puente] al mediodía del día 12 para batirlo con fuego de morteros durante toda la tarde […]. (S. 62) Die Unsicherheit darüber, wer gerade wen beschießt, wird nur punktuell während der Schilderung der einzelnen Gefechte durch die Benennung von Republikanern und Nationalisten geklärt. Anstatt wie zuvor den gesamten Schlachtverlauf nachzuzeichnen, soll hier der Fokus auf zwei andere Punkte gelenkt werden: zum einen auf das ständige Einholen früherer spanischer Kriege während der Gefechte und zum anderen auf die fatalen Auswirkungen der unaufhaltsamen Ausbildung von Fronten. So ist in Anlehnung an die marokkanischen Söldner als Teil der nationalistischen Truppen von den moros die Rede, die sieben Tage und sieben Nächte versuchen, die Brücke einzunehmen: [L]os últimos moros - las medias azuladas y los amplios capotes, un pañuelo blanco y algún bonete rojo que asomaba entre los setos - que enardecidos por el coñac barato intentaron durante siete días y sus noches el asalto a las viejas torres de rajuela (y tal los descendientes de la misma jarca, los mismo collares de hueso, de jade o de malaquita enhebrados con hilo de esparto, los mismos rosarios y las mismas talegas de lino cargadas con el fruto seco del Rif, el mismo polvo mogrebino que doce siglos atrás vadeara el mismo río con las mismas voces agarenas para acuchillar a un centenar de caballeros erguidos bajo estandartes, cuyos lamentos y ruidos de ferralla entre el chapoteo de los caballos en el agua parece evocar y volver a interpretar todos los años para conmemorar una fecha, los días de avenida) para depositar bajo la mirada risueña e intemporal del león borbónico apoyado en su blasón, unos cuantos cadáveres que a la luz de la luna en la explanada brillaban como las gavillas en la era, sus capotes agitados por el céfiro de la mañana mientras la luz del nuevo día despertaba los chillidos de los heridos, enloquecidos por la sed, que arrastraban sus vísceras por la arena y llamaban a sus compañeros de armas ocultos entre los espinos. (S. 63) <?page no="194"?> 194 Das Bild der moros, die betrunken und vergeblich auf die Brückentürme zustürmen, wird in eine sehr dichte Symbolik eingebettet, die direkten Bezug auf die maurische conquista der iberischen Halbinsel im achten Jahrhundert („doce siglos atrás“) nimmt. Die marokkanischen Söldner werden zu direkten Nachfahren („descendientes de la misma jarca“) der Umayyaden, die nun nicht gegen christliche Ritter, sondern unter dem Kommando der Nationalisten gegen die Republikaner am Flussufer ankämpfen. Die Schlacht am Guadalete (mit der den Umayyaden der Einfall nach Spanien gelang) 453 und die Schlacht am Fluss Torce werden überblendet („el mismo río“). Über all dem thront, vergnügt und zeitlos, der bourbonische Löwe als Symbol für das letzte spanische Königshaus. Übrig bleiben bei den jetzigen wie bei den damaligen Kriegen nur Zerstörung und sterbende Soldaten. Bei dem Versuch, dem Ursprung, der descendencia der Kriegsführenden nachzugehen, stößt man demnach wieder nur auf eine weitere Schlacht, auf einen weiteren Krieg. Dieser ist zwar vermeintlich kein ‚Bruderkrieg‘, da mit den Mauren das ‚Andere‘, Nicht-Christliche, Einzug hält. In dem extrem verdichteten Bild gelangt der Text jedoch von der guerra civil zur maurischen conquista und zurück, von der Schlacht am Torce zur Schlacht am Guadalete. Beide können nicht voneinander getrennt werden. Ein weiterer narrativer Umweg, der nun von der linearen Schilderung der Umsetzung des „Plan Gamallo“ abweicht, dient also der historischen Desorientierung. Der Text überspringt in der Verknüpfung der beiden Schlachten zwölfhundert Jahre und kehrt wieder zum aktuellen Kriegsschauplatz zurück. Die eine Schlacht ruft automatisch die andere auf, ohne dass dafür eine historische oder narrative Notwendigkeit bestünde. Die Schlacht als die taktische Einheit, als ‚Kernzelle‘ des narrativen Konvoluts sorgt somit zur narrativen Vervielfältigung ihrer selbst. Mit dem Fortschreiten der Operation des Oberst Gamallo wechselt auch wieder die Fokalisierung auf die republikanischen Truppen. Die anscheinend zuvor aufgeteilten Brigaden von Julián Fernández und Mazón vereinigen sich zur Konsolidierung der eigenen Kräfte in der Nacht des 24. September, worauf drei Tage relativer Ruhe folgen. Was einer ausreichenden Konsolidierung jedoch entgegensteht, ist der innere Zustand der republikanischen Truppen: En los últimos días de septiembre el cáncer que amenazaba al organismo republicano presentó unos síntomas que pusieron al manifiesto la envergadura del mal y el irremediable final de aquel cuerpo enfermo que aún ayer tenía la apariencia de salud y de reservas como para superar la crisis. (S. 63) Konnte man im Jahr 1937 das ‚interne‘ Übel noch ignorieren, um das Übel von außen - sprich die Nationalisten - zu bekämpfen, so gibt man sich der 453 Vgl. zur Schlacht am Guadalete auch die Erzählung des Königs in La otra casa de Mazón in Kapitel IV.2.1 dieser Arbeit. <?page no="195"?> 195 Krankheit nun widerstandslos hin. Und dieses Übel, diese Krankheit besteht genau in der in Kapitel III.5 beschriebenen Ausbildung von Fronten, die über die Konfrontation zweier Gegner im Kampf hinausgeht. Persönliche Animositäten und die unzähligen Fraktionen, die lediglich eigene Interessen vertreten, führen zu einer Internalisierung und Automatisierung des Prinzips des Gefechts, bei dem sich zwei Gegner gegenüberstehen und dem anderen jeweils den eigenen Willen aufzwingen wollen. Längst hat sich dieses Prinzip innerhalb des ‚republikanischen Körpers‘ verselbstständigt und führt so - im Sinne des Kriegsprozesses - zu einer unaufhaltsamen Zersetzung desselben: [El cuerpo] se había abandonado ya al proceso de la enfermedad, sacudido por los cañonazos rebeldes, las luchas entre grupos y las diferencias personales, desmembrado en un número de facciones […]. Als Exekutive dieses Körpers soll der Comité de la Defensa fungieren, zwischenzeitlich in Ejecutivo Popular und dann in junta de Defensa umbenannt. Da das Komitee aber nicht hierarchisch aufgebaut ist, sondern eher „una especie de parlamento sin gobierno“ (S. 64) darstellt, wird die oben beschriebene Krankheit eher befördert als unterbunden: [P]or eso pocas horas después de que un cabecilla abandonara airado la sala de juntas […] la gente del frente desertaba de sus posiciones para retirarse a un feudo privado y continuar la campaña como francotiradores cuando no disparaban contra sus antiguos camaradas de armas. Demnach führt die fehlende Entscheidungskraft des Komitees dazu, dass auch an der Front die Einheit der republikanischen Truppen aufgrund von persönlichen Befindlichkeiten zerfällt und dass es sogar passieren kann, dass auf die eigenen Kameraden geschossen wird. Dementsprechend sorgt die Inkorporierung und Automatisierung des Prinzips der Ausbildung von Fronten dafür, dass auf oberster Ebene, auf der Ebene der guerra civil, genau jene einheitlichen Fronten nicht mehr gegeben sind. Die konsequente, ‚internalisierte‘ Fortführung des Kriegsprozesses führt zur Verkomplizierung desselben auf oberster Ebene. Auch nach zehn Tagen der Offensive kann so die republikanische junta keine Entscheidung treffen, weswegen man sich schlichtweg ohne weiteren Plan dazu entschließt, die Positionen, auf denen man sich befindet, zu verteidigen. Man ist sich uneinig, ob es sinnvoller wäre, angesichts des eigenen geschwächten Zustands eine Kapitulation auszuhandeln oder bis zum bitteren Ende zu verteidigen. Nachdem mit dem fatalen Zustand der republikanischen Truppen ein weiteres retardierendes Moment in den Schlachtverlauf eingebaut wurde, fährt die Erzählung mit dem weiteren Verlauf derselben fort. Während zunächst die Fokalisierung mit den „trescientos hombres de la columna de Mazón“ und „la gente de Asián“ (S.65) auf den Republikanern liegt, wechselt <?page no="196"?> 196 diese wieder sehr schnell und unvermittelt. Asián verteidigt mit der Ortschaft Bocentellas den direkten Zugang zur Stadt Región. Daraufhin heißt es: Las acciones de Porticelle, de Nueva Elvira y Bocentellas vinieron a definir las líneas de acción de una estrategia directa cuyo objetivo no era difícil presumir; a finales de octubre entraba Gamallo en Bocentellas, un pueblo incendiado entre cuyas ruinas yacían aniquilados los restos de la vieja columna Theobald […]. Was genau mit diesen „acciones“ und der dem Erzähler nach so leicht durchschaubaren Strategie gemeint ist, bleibt wieder unklar. Der unvermittelte Übergang von der Verteidigung durch die Republikaner über eine Strategie hin zum Einmarsch Gamallos in Bocentellas erschwert die Nachvollziehbarkeit. Dabei wirkt die Einschätzung „no era difícil a presumir“ fast bösartig, da für den gut informierten Erzähler vieles sehr viel ersichtlicher ist als für den Leser. Während auf der inhaltlichen Ebene Strategie und Taktik, Pläne und deren Umsetzung im Gefecht verhandelt werden, wird es immer deutlicher, wie wichtig eine Karte für das tatsächliche Verständnis und die Möglichkeit, Truppenbewegungen und eine strategische Ausrichtung nachzuvollziehen, wäre. Das einzige, was bleibt, ist, sich den militärischen Bewertungen des Erzählers anzuschließen. Der weitere Verlauf lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Republikaner starten mehrere Versuche, dem Vorstoß der Truppen Gamallos etwas entgegenzusetzen. Sie ziehen alle ihre Truppen zusammen, um dem mächtigen Gegner mit vereinten Kräften zu begegnen. Man versucht, dessen nächste Schritte zu antizipieren. Tatsächlich muss Gamallo einmal Nachschub schicken. Doch all diese Versuche bleiben letzten Endes vergeblich und stellen einmal mehr die unökonomische Kriegsführung unter Beweis. Während die Republikaner im wahrsten Sinne des Wortes bis zum bitteren Ende kämpfen, handelt es sich auf der anderen Seite um eine guerre à outrance, einen Vernichtungskrieg, der bis zum Äußersten geht. So wird zu einer der letzten Operationen der Republikaner gesagt: Nunca fue otra cosa que una fuerza agresiva lanzada en pos de la presa pero - despectiva a toda previsión, indiferente a los planes y carente en tal medida de fibra resistente que nunca supo consolidar esporádicos triunfos - apenas dispuesta y preparada para soportar los rigores de la “guerre à outrance” […]. (S. 66) So wie die Republikaner nicht gewillt sind, die Bedingungen einer Kapitulation auszuhandeln, so ist Gamallo nicht gewillt, mit den eigenen Kräften hauszuhalten. Die letzten Kämpfe ziehen sich bis in den November hinein. Bevor die Republikaner in die Berge flüchten, bäumen sie sich noch ein letztes Mal auf: <?page no="197"?> 197 [T]ras abandonar todo el sector entre la cabeza de puente y Región las fuerzas de la república, antes de la huida final a la montaña, atacaron en dirección norte-sur y llegaron a entrar en posesión de toda llanada de El Puente - era la segunda decena de noviembre y había caído la primera nevada - que en los últimos días de su combate será el escenario de su final: su objetivo, su trampa y su tumba. (S. 67) Tragischerweise nehmen sie so den Ort ein, wo sich ihr militärisches Schicksal besiegeln wird. Als Gamallo von diesem letzten Kraftakt erfährt, beschließt er wiederum, dem Gegner den letzten Stoß zu versetzen. Denn die Republikaner haben zwar wieder die Brücke eingenommen, jedoch nicht mehr ausreichend Kräfte, diese zu verteidigen. Somit kommt er dazu, den Schritt zu realisieren, auf den er seit Beginn seines Planes gewartete hatte: Entonces se le presentó la ocasión con que había soñado desde que empezó a planear la operación: perseguir por el valle hacia aguas arriba, en dirección al norte y con una división considerable y unificada bajo su mando, los restos de un grupo de combate que trataría por todos los medios de buscar refugio en la montaña. Diese letzte Operation und mit ihr die vollendete Umsetzung des „informe anacrónico“ wird realisiert. Doch bleibt in der Erzählung Gamallo keineswegs bei diesem Triumph stehen. Stattdessen wird er einen Monat später in seinem Auto von feindlichen guerrilleros erschossen und stirbt an der Seite seines Chauffeurs im Straßengraben: [E]l hombre que, movilizando todo un ejército, había intentado, con el pretexto de una vieja afrenta, violar la inaccesibilidad de aquella montaña y poner a la luz el secreto que envuelve su atraso. Pocos días más tarde el Mando ordenó suspender sine die la operación de limpieza y la guerra concluyó, en la sierra de Región, dejando las cosas (en lo que a la tradición se refieren) no sólo igual que estaban el año 35 sino agravadas por la oculta y no desmentida presencia de uno pocos hombres de resistencia que buscaron su cobijo en los terrenos prohibidos. (67) Rückblickend ist zwar Gamallo in dem Sinne erfolgreich, als dass er Región einnehmen konnte und wahrscheinlich einen Großteil der dortigen republikanischen Truppen vernichtet hat. Doch es stellt sich heraus, dass er weder die verschlossene und unzugängliche Topographie Regións, noch die letzten Männer des Widerstands tatsächlich auslöschen kann. 454 Am Ende des „Plan 454 Auf S. 68 wird geschildert, wie diese wenigen verbleibenden Männer des republikanischen Widerstands sich in ein „ejército fantasmal“, in ein „nuevo regimiento espectral“ verwandeln, das sich den „fieros voluntarios carlistas“ anschließt, die in den Bergen ihr Unwesen treiben. Das heißt, auch hier wird wieder eine direkte Verbindung mit einem weiteren spanischen Bürgerkrieg geschaffen, die einerseits für die Wiederkehr des Historischen mit den Mitteln des Krieges spricht und andererseits diese Wiederkehr in den Bereich des Phantastischen verlegt <?page no="198"?> 198 Gamallo“ steht zwar die Durchführung desselben, doch gleichzeitig auch das Ende der Figur Gamallo selbst. Und tatsächlich bleibt alles so wie vorher oder noch ‚schlimmer‘ in Bezug auf den Widerstand von Land und Leuten. Die Schlacht bleibt ohne Sujet, und in ihrer Folge wird mit Gamallo der Schöpfer von Plan und Schlacht getilgt. So wird letzten Endes die Einschätzung des Plans als anachronistisch und militärisch nicht sinnvoll narrativ bestätigt. Gleichzeitig zeigt sich jedoch erneut, wie schwer sich die Erzählung mit einer konsequenten narrativen Umsetzung des Plans tut. III.7.5 Das endlose Ende: el día final de la contienda Die letzten Kriegshandlungen finden sich fast am Ende des Romans Volverás a Región (S. 213-219). Die Rede des extradiegetisch-heterodiegetischen Erzählers schiebt sich unvermittelt in die langen Redeanteile der Figur Marré ein: Se trataba del combate que en la primera decena de noviembre libraba la División 42, a las órdenes del viejo Constantino, para despejar la cabeza del puente que el enemigo logró establecer a la altura de Doña Cautiva, habiendo llegado a cortar la carretera de la Sierra. (S. 213) Es ist kein Jahr angegeben. Trotzdem liegt es nahe, diese Schlacht aufgrund der Landmarken, die hier wiederholt genannt werden, in das Jahr 1938 einzuordnen. 455 Damit wird also eine Schlacht, die eigentlich zuvor mit der letztendlich gescheiterten Umsetzung des „Plan Gamallo“ für beendet erklärt wurde, erneut narrativ aufgegriffen. Diese Vermutung wird durch folgenden Satz etwas später bestätigt: El combate, que se prolongó hasta los primeros días del año 39, fue el último que libraron los dos ejércitos, ya que a partir de él la guerra se redujo a aquellas operaciones de persecución y limpieza contra las bandas dispersas del ejército republicano que optaron por refugiarse en el monte […]. Das Ende des Krieges, das eigentlich schon ‚zu Ende erzählt‘ war, wird mit der letzten Schlacht noch einmal erzählt. Dies wird auch militärisch vom Erzähler begründet: Denn alles, was auf diese letzte Schlacht folgt, sind nur noch kleinere ‚Säuberungsoperationen‘ um auch noch den letzten flüchtigen Republikaner zu verfolgen, die aber keinen entscheidenden Einfluss auf den Ausgang des Krieges haben. Dieser letzte combate ist eine sehr heftige Gegenattacke der Republikaner angesichts des stetigen Vorrückens der nationalistischen Truppen. 455 Die Tatsache, dass eine zeitliche Orientierung, wenn überhaupt, nur über die Topographie und Landmarken möglich ist, unterstreicht die Bedeutung, die diesen beiden zukommt. Zeit wird in diesem Sinne über Raum erschließbar. <?page no="199"?> 199 Su objetivo inmediato era la reconquista de El Puente de Doña Cautiva y su última finalidad la eliminación de todas las fuerzas enemigas en la orilla derecha del río al objeto de agrupar y constituir un reducido núcleo de resistencia, aguas arriba de aquel punto, que lograse contemporizar hasta la llegada de una paz honorable. (S. 214) Mit dem „objeto inmediato“ und der „última finalidad“ wird klassisch von einem kurzfristigen, taktischen Anliegen und einer langfristigen, strategischen Zielführung, in welche ersteres eingebunden wird, unterschieden. Angesichts der Situation ist die strategische Zielsetzung, alle gegnerischen Kräfte zu vernichten um auf die „llegada de una paz honorable“ zu warten, eine äußerst utopische, womit diese Strategie sich nicht ansatzweise im Horizont des Realisierbaren bewegt. Tatsächlich wird das kurzfristige, taktische Ziel mit der Rückeroberung der Brücke im November mittels eines blutigen Kampfes, „la más encarnizada lucha“, erreicht. Den Republikanern gelingt es lediglich, einige Kilometer in das vom Feind besetzte Territorium vorzudringen: „Y eso fue todo.“ Die Besetzung der Stadt Región durch Gamallo und der Beginn von dessen „campaña de usura“ in den ersten Dezembertagen wird ebenso erneut geschildert, wie die Verhandlung möglicher Kapitulationspläne unter den verschiedenen republikanischen Anführern. In einer neuen Variation wird dieselbe Schlacht mit denselben inhaltlichen ‚Zutaten‘ erneut erzählt. Dabei ist jedoch zu beachten, dass es aufgrund des Abstands zwischen der ersten und der zweiten Variation des último combate (ca. 150 Seiten) und der ständigen Desorientierung des Lesers höchst schwierig ist, einen direkten Zusammenhang zwischen beiden herzustellen. In der zweiten Variation treffen sich Ende November alle republikanischen Anführer nach der Rückeroberung der Brücke, da sie bisher in den verschiedenen Bataillonen mehr oder weniger isoliert gekämpft hatten. Unter dem Kommando Constantinos wird ein Rückzugsplan beschlossen, der die Truppen Richtung Norden führen soll, die offensichtlichen Vernichtungspläne der gegnerischen Seite akzeptierend. Der Plan wird jedoch nicht durchgeführt: „El plan no se ejecutó porque la obstinación y la resistencia de Constantino convirtieron aquella retirada en una batalla inmóvil […].“ (S. 215) Die Sturheit Constantinos macht den geplanten Rückzug zu einem unbeweglichen Stellungskampf, bei dem die Republikaner nicht nur vernichtet, sondern auch voneinander getrennt werden, sodass eine Verbindung über das Territorium hinweg nicht beibehalten werden kann. Nur wenige bewegliche Gruppierungen können sich in die Berge retten. De forma que a la postre solamente un par de grupos muy exiguos, veinte o cuarenta personas en total, alcanzaron a contemplar el día final de la contienda, de pie en un risco (las armas ocultas en unos peñascales) observando con los prismáticos aquellas soleadas, lejanas y humeantes llanuras donde el vencedor estrenaba e imponía su ley. <?page no="200"?> 200 Die verbliebenen Republikaner, die sich vor den nationalistischen Truppen in die Berge flüchten konnten, betrachten hier aus der Höhe „el día final de la contienda“, also den letzten Tag des Kampfes. Aus der hohen Position, aus der normalerweise der strategische Überblick zur Ausspähung von Feind und Territorium erfolgt, können sie nur noch die Ebene in der Ferne beobachten, die zum Schauplatz („estrenaba“) für das Gesetz des Siegers wird. Somit werden sie zum Publikum ihrer eigenen Niederlage und das Kriegsgeschehen nicht zum ersten und zum letzten Mal zu einer theatralen Inszenierung, die es in die Inkommensurabilität des Fiktiven rückt. Die Betrachtung des „día final de la contienda“ in der Position des Zuschauers macht dabei möglich, was die Erzählung immer wieder als unmöglich ausstellt: eine simultane Darstellung und Rezeption des Krieges. Ist die Erzählung mit dieser hochgradig inszenierten Szene wieder am Ende des Kampfes (Ende November) angelangt, so springt sie kurz darauf wieder zurück, um einen neuen Anlauf zu nehmen. In der Nacht des 17. Novembers finden sich einige Republikaner unter der Führung von Mazón zusammen und werden an einem abgelegenen Ort, wo der Fluss langsam in Sumpfgebiet übergeht, überraschenderweise angegriffen, während sie den Fluss durchqueren. Ein Teil erreicht so das andere Ufer nicht mehr. Der Rest rettet sich in den Schutz einer Mühle. Doch auch dort werden sie stark unter Beschuss genommen. Am 19. November durchqueren mit den moros die nationalistischen Truppen den Fluss, um die Mühle besser attackieren zu können. Daraufhin lässt der Fokus vom Geschehen an der Mühle kurz ab: Pero por aquellas fechas llegó a su cenit la penetración republicana por la carretera de El Puente a Burgo Mediano y las avanzadas navarras que operaban al norte de este punto empezaron a temer su posible incomunicación por lo que demoraron el ataque para dedicar mayor atención a la vigilancia de sus líneas. (S. 216) In der Folge kommt es zur Aufsplittung in mehr oder weniger gleichzeitig stattfindende Operationen auf beiden gegnerischen Seiten. Die Konfrontation mehrerer Truppenteile aus verschiedenen Richtungen und erhebliche Kommunikationsprobleme „no [hicieron] sino aumentar la confusión“. Diese erhöhte Verwirrung trifft nicht nur auf Mazón und seine Männer zu, sondern auch auf den Leser, der sich von dem Versuch der Erzählung, die multilateralen Gefechte narrativ einzufangen, überfordert sieht. Der Angriff auf die Mühle wird am 5. Dezember wiederaufgenommen, indem die moros erneut den Fluss durchqueren. Währenddessen muss sich die deutsche Brigade, die auf der Seite der Republikaner kämpft und bis dahin die carretera de Región verteidigt hat, auf demselben Weg zurückziehen wie Mazón zwei Wochen zuvor: <?page no="201"?> 201 [L]os alemanes que ocupaban la carretera de Región eran atacados frontalmente y obligados a retirarse por la misma senda que una quincena atrás había utilizado Mazón. Durch diese Wiederholung des Rückzugs wird ein weiteres Mal auf der Sinnlosigkeit dieser Kampfhandlung insistiert. Es wurde bereits an mehreren Stellen mehr oder weniger explizit gesagt, dass der Krieg für die Republikaner verloren ist, und doch wird Gegenangriff auf Gegenangriff gestartet. Die Niederlage ist so lange nicht zum Faktum geworden, solange die Kampfhandlungen andauern. Was eine guerre à outrance, eine batalla de aniquilación bedeutet, wird durch die Wiederholungen und die immer neuen Erzählvariationen überhaupt erst erfahrbar gemacht. Gleichzeitig wird der Prozess des Krieges zur Bedingung des Erzählens. Auch die Überblendung des Überfalls der betrunkenen moros mit dem Einfall der Mauren auf der iberischen Halbinsel wird wieder aufgegriffen: Estaban los alemanes descansados tras unos arbustos cuando oyeron muy lejos […] más allá de las lomas vespertinas […] el último eco […], el aliento de aquella belicosa sierra que al cabo de diez siglos volvía a ser hollada por los mismos intrusos que vinieron a acuchillar a los caballeros rubios con sus aceros curvos y sus lanzas de fresno y que hoy repetían su misma algarabía, con ruido de ferralla y música de arrabal, para acompañar el definitivo rictus de la muerte. Durante toda la noche se sucedieron los combates: avanzadas de moros bajo sus amplios capotes que sólo sabían correr encorvados y que la noche vomitaba, embriagados de coñac y griterío, para abandonarlos ante las tapias del molino […]. (S. 217) Die ‚kriegerische‘ sierra wird wieder („volvía“) von denselben Eindringlingen („los mismos intrusos“) betreten, wieder werden ‚blonde Ritter‘ niedergestochen und wiederholt („repetían“) überschwemmen sie das Land mit ihrer Musik und ihrer unverständlichen Sprache. 456 Das nationale Trauma des maurischen Überfalls wird als wiederholbares und sich wiederholendes Ereignis in die Gegenwart des spanischen Bürgerkriegs hineingeholt. Diese moros, die, von der Nacht erbrochen, der Mühle regelrecht entgegengeschleudert werden, werden von sich dort verschanzenden Republikanern niedergeschossen. Nach einem intensiven Schusswechsel während der gesamten Nacht schweigt im Morgengrauen alles. Doch auch in diesem Angriff der maurischen Söldner wird mit dem Ende der letzten Schlacht das Ende des Krieges durch die ständige Wiederholung hinausgezögert. Die moros wagen einen weiteren Angriff auf die Mühle: A la mañana siguiente, tras un repliegue de cobertura, embriagados por el coñac barato y alentados por el frecuente e inútil apoyo artillero, trataron de 456 Dabei ist es selbstverständlich kein Zufall, dass die Wörter algarabía und arrabal arabischen Ursprungs sind. <?page no="202"?> 202 nuevo de forzar la entrada de las ruinas y desalojar a los alemanes y los hombres de Mazón […] de su reducto. (S. 218) Immer wieder wird der Angriff auf die Ruinen der Mühle gestartet, auf den unmittelbar Beschuss von Seiten der Republikaner folgt. Anstatt dass der Sturm jedoch aufgehalten werden kann, erheben sich die moros immer wieder: „[E]l grupo se incorporaba, ante el cañón caliente, como una emanación y materialización del humo mágico.“ Und auch nach einer neuen Gewehrsalve stehen die Gegner gespenstisch wieder auf, um mit dem Angriff auf die Mühle fortzufahren: [A]l disiparse la neblina del humo apareció el grupo blanquecino, las cinco figuras encorvadas con la misma imperturbable, quizás estática, y contradictoria actitud de avanzar. Nach diesem erneuten Scheitern der Beendigung der Schlacht läuft der Schütze, einer der Deutschen, schreiend aus der Mühle den untoten Marokkanern entgegen. 457 Anstatt die Kampfhandlungen zu Ende zu bringen, werden sie auch dieses Mal narrativ ins Phantastische enthoben. Dabei kann man sich nicht sicher sein, ob die sich immer wieder erhebenden moros das Produkt eines über den Krieg verrückt gewordenen deutschen Kämpfers oder in der erzählten Welt der guerra civil in Región ein Faktum sind. Mit diesen letzten Kampfhandlungen, sowohl was den Roman Volverás a Región als auch die guerra civil in Región betrifft, erschließt sich demnach ein weiterer Aspekt der Narrativierung des Krieges: das Paradoxon, dass der Krieg als Prozess ein Ende nimmt und doch kein Ende nehmen kann. Nicht nur wird innerhalb desselben Romans eine angeblich letzte Schlacht immer wieder aus den unterschiedlichsten Perspektiven erzählt. 458 Darüber hinaus erweisen sich die einzelnen Schlachten durch die Geschichte hindurch nur als Variationen ein und derselben Zelle: der Konfrontation zweier Kräfte, die aus von außen nicht mehr nachvollziehbaren Gründen nicht voneinander ablassen können. Dementsprechend kann es keinen „día final de la contienda“ geben. Narrative Entsprechung findet das Prozessuale des Krieges nicht nur in dem nichtlinearen und sujetlosen Erzählen, sondern auch in der Erzählung, die endlose historische und narrative Schleifen zieht. 457 In einer Art Epilog zu der Operation bei der Mühle wird der Schütze von einem anderen Mann am 9. Dezember tot im Wasser gefunden. 458 In dem Bewusstsein, eine Überinterpretation zu riskieren, lässt sich im Hinblick auf das Benetsche Erzählen auf Umwegen auch noch auf folgende Textstelle hinweisen: In einem Moment der Stille zwischen den intensiven Schusswechseln bei der Mühle hört man nicht nur Hundegebell, sondern einen wahrhaftigen coloquio de los perros: „[…] los ladridos […] con que los perros se llamaban y buscaban, de serna en serna y de ruina en ruina, para reanudar el coloquio que el fuego había momentáneamente interrumpido.“ (S. 217) Dies kann als Anspielung auf die metapoetische und metanarrative Novelle Cervantes’ aus den Novelas ejemplares gelesen werden. <?page no="203"?> 203 III.7.6 Zusammenfassung Vor dem im theoretischen Teil zum Krieg erarbeiteten Hintergrund erweist sich der Erzähler der Schilderungen der guerra civil in Volverás Región als militärisch extrem informierte Instanz, die ein immenser Wissensvorsprung häufig nicht nur dem Leser, sondern auch den Figuren gegenüber auszeichnet. Die Bewertungen der militärischen Mittel, des ökonomischen Einsatzes derselben, der strategischen Ausrichtung und des taktischen Verhaltens beider im Bürgerkrieg beteiligten Fronten entspricht dabei mehr oder weniger der Quintessenz der Essays Benets zum Thema: eine ideologische Verbohrtheit mit fatalen Folgen, die Unfähigkeit zur Einigkeit, die Rückständigkeit der eingesetzten Mittel und des militärischen Verhaltens bei Planung und Umsetzung. Dementsprechend wird der Krieg und mit ihm Strategie und Taktik auf inhaltlicher Ebene zunächst einmal im Sinne einer Be- und Verurteilung durch die Erzählerstimme verhandelt. Diese Stimme lässt gleichzeitig keinen Zweifel in Bezug auf ihre militärtheoretische Zuverlässigkeit und fungiert in diesem Sinne als Orientierungshilfe für den Leser bei der Bewertung der guerra civil in Región. Dem steht in Bezug auf die Darstellbarkeit der Kriegshandlungen selbst eine vollkommene Desorientierung zum Teil der Figuren aber in vollem Maße des Lesers gegenüber. Der Erzählung gelingt es zu keinem Zeitpunkt, das Kriegsgeschehen stringent und nachvollziehbar zu vermitteln. An dieser Stelle muss auch darauf hingewiesen werden, dass die vorangegangene Textanalyse bereits auf einem immensen Rekonstruktionsaufwand fußt, stellt sie doch einzelne Textstellen miteinander in einen Zusammenhang, der durch das Textgefüge zunächst einmal nicht gegeben ist. Die Realisierung des Krieges erweist sich somit im Sinne einer einheitlichen Schilderung als nicht darstellbar. Stattdessen ist es eine Textstrategie im Iserschen Sinne 459 , bei dem Versuch der Darstellung des Krieges in höchstem Maße taktisch zu verfahren: Nie kann man die einzelnen Kriegshandlungen überblickten, weder räumlich, noch zeitlich, noch was die sich gegenüberstehenden Fronten betrifft. Es gelingt, sich situativ in einzelnen Operationen zurechtzufinden, 459 Siehe Iser: Der Akt des Lesens, S. 143f.: „Zur Konkretisierung dieser virtuell gebliebenen Äquivalenz des Repertoires bedarf es der Organisation, die von den Textstrategien geleistet wird. Ihre Aufgaben sind von unterschiedlicher Zielrichtung. Sie müssen Beziehungen zwischen den Elementen des Repertoires vorzeichnen, und das heißt bestimmte, für das Erzeugen der Äquivalenz notwendige Kombinationsmöglichkeiten solcher Elemente entwerfen. Sie müssen aber auch Beziehungen stiften zwischen dem von ihnen organisierten Verweisungszusammenhang des Repertoires und dem Leser des Textes, der das Äquivalenzsystem zu realisieren hat. Strategien organisieren folglich die Sujetfügung des Textes genauso wie dessen Kommunikationsbedingungen. Sie sind daher weder mit der Darstellung noch mit der Wirkung des Textes ausschließlich zu verrechnen, vielmehr liegen sie dieser begriffsrealistischen Trennung der Ästhetik immer schon voraus. Denn in ihnen fällt die textimmanente Organisation des Repertoires mit der Initiierung der Erfassungsakte des Lesers zusammen.“ <?page no="204"?> 204 jedoch entsteht ein größerer Zusammenhang ausschließlich über die rein militärtheoretischen Bewertungen des Erzählers. Bringt man also die Begriffe Strategie und Taktik auf die Ebene des discours, so erweist sich die Konfrontation beider mit den poetologischen Begriffen argumento und estampa als fruchtbar. Mit Certeau gesprochen verfährt der argumento immer strategisch, da er stets den narrativen Überblick verfolgt. Die estampa hingegen verfährt taktisch, die Erzählung verfährt Schritt für Schritt und orientiert sich zu jedem Zeitpunkt neu. Sie nutzt im wahrsten Sinne den Raum, den die Narration ihr verschafft. Einer Darstellbarkeit des Krieges und damit einem entsprechenden Wissen über Krieg wird bei Benet eine Erfahrbarkeit der desintegrierenden Dynamik des Krieges durch ein taktisches Erzählverfahren gegenübergestellt. In diesem Spannungsfeld zwischen Strategie und Taktik des Textes wird Krieg zum narrativen Prozess und von der Ebene der histoire auf die des discours gehoben. In einem weiteren Schritt lassen sich der Benetschen Erzählung die Anliegen einer Kriegsmaschine zuschreiben. Das gekerbte (Nicht-) Wissen 460 über die guerra civil, das gekerbte Territorium des diktatorischen Staatsapparats wird narrativ geglättet. Das so in der Erzählung generierte ‚Wissen‘ befindet sich stets im Werden. An diesem Punkt unterscheidet sich die literarische Verarbeitung der guerra civil auch dezidiert von den Essays (denn in der bloßen Beurteilung der militärischen Leistungen ähneln sich die Essays und die Rede des Erzählers nachgewiesenermaßen). Während man anhand der Essays lediglich indirekt die Aneignung der Kriegsmaschine des sich langsam formierenden faschistischen Staates unter Franco herausarbeiten kann (vgl. Kapitel III.4), so lassen sich die Romane als eine literarische Kriegsmaschine lesen. Das Wissens-Territorium und die mit ihm unmittelbar verknüpfte Geschichte, die von Krieg zu Krieg springt, ist nicht kerbbar. Es kann sich kein entsprechendes Wissen dauerhaft etablieren, sondern nur literarisch erfahrbar gemacht werden. Ein letzter Aspekt des Übergangs von Krieg als Element der histoire zum Element des discours ist die Ausbildung von Fronten. Das sich Gegenüberstehen zweier Gegner ist nach Clausewitz konstitutiv für den Krieg. Über diese konstituierende Notwendigkeit hinaus jedoch verselbstständigt sich das Prinzip kontinuierlich und unendlich, sodass letztendlich auch der Kriegsprozess auf der obersten Ebene nicht zum Abschluss zu bringen ist. Dieser inhaltliche Auflösungsprozess mittels einer Multiplikation der Fronten findet seine Entsprechung in der Multiplikation der Schauplätze, Schlachten, Fokalisierungen und Kämpfenden, die die einheitliche narrative Wiedergabe des Krieges verhindern. 460 Wie im Zusammenhang mit den Essays gezeigt wurde, kritisiert Benet ja die mangelnde militärhistorische Aufarbeitung des Bürgerkriegs in Spanien und damit auch den Zustand des ‚Wissens‘ über ihn. <?page no="205"?> 205 IV Theater Obwohl Benet vor allen Dingen durch seine Erzählliteratur und Essays bekannt wurde, darf nicht vergessen werden, dass er in den Jahren seiner literarischen Anfänge und vor dem ersten Roman Volverás a Región nicht nur Mitglied der komödiantisch-kabarettistischen Theatergruppe Orden de Caballeros de Don Juan Tenorio war, 461 sondern auch selbst Theaterstücke schrieb. Darunter fallen die drei größeren Dramen Anastas o el Origen de la Constitución, Agonía Confutans und Un caso de conciencia. Diese drei Theaterstücke betreffend schreibt Vicente Cabrera in einer kurzen Analyse, dass sie nicht nur wichtige „stylistic and technical devices, later implemented with greater emphasis and skill in the major works of fiction“ 462 vorwegnehmen. Darüber hinaus sei die Bühne der Dramen stets von essentieller Unsicherheit geprägt: „The Uncertain Stage“. 463 By his skillfully juxtaposing reality with fiction and by eliminating all barriers between them, the reader (or audience) is forced to remain in a permanent state of uncertainty concerning what is happening on the stage […]. 464 Vicente Molina Foix, selbst Schriftsteller und Freund Benets, stellt in seinem Vorwort zu der Ausgabe der gesammelten Dramen fest: „Juan Benet tenía un alma teatral en un cuerpo matemático.“ 465 Er macht außerdem wichtige Anmerkungen zum Thema in seinem Vorwort zur zweiten Auflage zu En el estado: En el estado se desarrolla como una farsa política, y el origen teatral del término sustantivo es de subrayar. Aunque el libro también recurra al procedimiento cervantino de los relatos de posada en un alto de viaje, el escenario (pero las acotaciones del decorado, atención, vienen al final), los golpes de efecto, el tráfago de las entradas y salidas, la dialogación y el insistente corte monologal son propios de la escena; un escenario donde los figurones de opereta vienesa se comportan y expresan no pocas veces como los prototipos más castizos y arrevistados del tradicional juguete cómico. 466 461 Vgl. hierzu das Vorwort zu der 2010 erschienenen Gesamtausgabe von Benets Dramen: Vicente Molina Foix: „Benet comediante“, in: Juan Benet: Teatro completo, Madrid: Siglo XXI, 2010, S. IX-XXIII. 462 Vicente Cabrera: Juan Benet, Boston: Twayne, 1983, S. 23. Cabrera setzt sich in dieser Studie kapitelweise mit den Essays, den Kurzgeschichten, den Romanen und eben auch mit den Dramen Benets auseinander. 463 Ebd. Mit diesem Begriff ist das Kapitel zu den Dramen Benets überschrieben. 464 Ebd, S. 29. 465 Molina Foix: „Benet comediante“, S. IX. 466 Vicente Molina Foix: „Prólogo - Estados de gracia“, in: Benet: En el estado, S. 1-9, hier S. 5. <?page no="206"?> 206 Im Vorwort zum Briefwechsel zwischen Carmen Martín Gaite und Juan Benet merkt José Teruel an, dass das Theater in seinen unterschiedlichsten Formen den ‚poetologischen Kern des literarischen Universums Benets‘ ausmache: Este epistolario podría servir para recabar la atención de la crítica sobre el teatro de Benet, ya que las dos obras citadas, a las que se podría añadir Anastas o el origen de la Constitución (1958), son un adelanto del núcleo de la poética y del universo literario del autor, como demostrarán dos importantes títulos de su narrativa durante la década de 1970: La otra casa de Mazón y En el estado. No soy el primero en advertirlo, ya lo señalaron Eduardo Chamorro y Vicente Molina Foix. El primero insistió en que en el teatro de Benet el imperio de la palabra es el “único escenario donde la acción tiene lugar”. El segundo nos regaló una magnífica epopeya de nuestro autor: “Juan Benet tenía un alma teatral en un cuerpo de matemático”. 467 Zu den Dramen Benets gibt es außerdem mehrere aktuelle Artikel 468 des Literaturwissenschaftlers Miguel Carrera Garrido, dessen Dissertation zum Thema bedauerlicherweise bisher nicht veröffentlicht wurde. Dieser kurze Einblick in Benets literarische Anfänge und die Forschungsliteratur geben einen Hinweis auf die Notwendigkeit, einen dritten Themenbzw. Motivkomplex zu untersuchen, der mit den beiden vorhergegangenen - Raum und Krieg - in engem Zusammenhang steht: das Theatrale. Dabei wird von der Lektüreerfahrung ausgegangen, dass Benets narrative Texte sich nicht nur einer extensiven Theater-Metaphorik bedienen, sondern strukturelle Eigenschaften aufweisen, die typischerweise dem Drama zugeordnet werden. In der vorliegenden Arbeit zeigte sich dies bereits an der Inszenierung des Zweikampfes zwischen Mazón und Ochoa in Herrumbrosas lanzas (Kapitel III.6). In seiner sehr ausführlichen und informativen „Introducción“ zur Cátedra-Ausgabe von Saúl ante Samuel weist Margenot ebenfalls auf die theatrale Metaphorik hin: La metáfora metateatral se desarrolla a lo largo de Saúl ante Samuel y numerosos términos - tablas, escenario, telón, actor, disfraz, mascarilla, papel, soliloquio, tragedia, héroe, público, tramoyista, etcétera - sugieren la noción calderoniana del mundo como teatro. Desde las primeras páginas, se nos dice 467 José Teruel (Hg.): Carmen Martín Gaite, Juan Benet: Correspondencias, Barcelona: Galaixa Gutenberg, 2011, S. 17f. Das erste Zitat bezieht sich auf Eduardo Chamorro: Juan Benet y el aliento del espíritu sobre las aguas, Barcelona: Muchnik Editores, 2001, S. 71-89. Das zweite bezieht sich auf das eben von mir zitierte Vorwort „Benet comediante“ zur Gesamtausgabe der Theaterstücke Benets. 468 Siehe z.B. Miguel Carrera Garrido: „Dramaturgías del ser. Juan Benet y el trasfondo existencialista del Absurdo“, in: Analecta Malacitana 1-2 (2012), S. 119-151 und ders.: „Formas del humor absurdo en el teatro de Juan Benet. Absurdo, ironía y parodía“, in: Cuadernos de Aleph 6 (2014), S. 25-57. <?page no="207"?> 207 que se presencia una representación teatral en cuyas tablas se desenvuelve la tragedia bélica familiar. 469 Diese Feststellung ließe sich ebenso auf Volverás a Región übertragen. Als offensichtlichste Beispiele für diese Theatralität von narrativen Texten sollen in diesem Kapitel, wie bereits im obigen Zitat erwähnt, La otra casa de Mazón - ein Text, der auf der Gattungsebene zwischen Drama und Roman oszilliert - und En el estado - ein Roman, bei dem, in Anlehnung an Benson, eine auffällige ‚Proliferation des Theatralen‘ leicht beobachtbar wird - untersucht werden. Im Gegensatz zu den beiden vorangegangenen Kapiteln zum Raum und zum Krieg kann jedoch nicht auf entsprechende Essays Benets zurückgegriffen werden, um theoretische Grundlagen zu schaffen. Benet hat sich zum Thema Theater bzw. Theatralität nicht weitergehend geäußert. Theatralität im Allgemeinen wird jedoch im kultur- und literaturtheoretischen Kontext große Aufmerksamkeit gewidmet. Im ersten Unterkapitel handelt es sich also vielmehr um eine vergleichsweise kurze Hinführung zum Thema Theatralität und Literatur als um eine ausdifferenzierte theoretische Grundlegung. Dabei wird Anknüpfungspunkten zum bisher Erarbeiteten Beachtung geschenkt. IV.1 Theatralität als literatur- und kulturtheoretische Kategorie Eine vollständige Einführung zum Thema Theatralität als literatur- und kulturtheoretische Kategorie kann hier nicht geleistet werden kann. Für einen entsprechenden Überblick sei auf die Arbeiten von Erika Fischer-Lichte verwiesen und die Sammelbände, die im Umfeld des DFG Schwerpunktprogramms zum Thema „Theatralität“ in den 2000er Jahren erschienen sind. 470 In der vorliegenden Arbeit steht insbesondere die Frage im Zentrum, welche Formen das Theatrale in narrativen Texten annehmen kann. Von Interesse sind des Weiteren die Zusammenhänge von Theatralität und Prozess, Theatralität und Räumlichkeit und die Frage, inwiefern das Theatrale Wahrnehmungs- und Erkenntnismöglichkeiten konfiguriert bzw. konstituiert. 469 John Margenot: „Introducción“, in: Juan Benet: Saúl ante Samuel, Madrid: Cátedra, 1994, S. 9-100, hier S. 39f. 470 Siehe Erika Fischer-Lichte/ Christian Horn/ Sandra Umathum/ Matthias Warstat (Hgs.): Diskurse des Theatralen, Tübingen: Francke, 2005; diess.: Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften, Tübingen: Francke, 2004 und vor allen Dingen Gerhard Neumann/ Caroline Pross/ Gerald Wildgruber (Hgs.): Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft, Freiburg: Rombach, 2000. <?page no="208"?> 208 IV.1.1 Theatralität und bzw. in Literatur In den bereits erwähnten kulturwissenschaftlichen Studien Fischer-Lichtes wird von einem grundlegenden Aufführungs- und Inszenierungscharakter von Kultur und von kultureller Bedeutungsproduktion ausgegangen. Die explizit literaturwissenschaftlichen Ansätze in diesem Kontext konstatieren, dass literarischen Texten als sprachlichem Produkt einer solchen kulturellen Bedeutungsproduktion eine privilegierte Stellung zukommt. So gesehen muß Literatur als einer jener privilegierten Orte verstanden werden, an denen die Frage nach den Gründungsmodellen von kulturellem Sinn und kultureller Ordnung aufgeworfen wird, wo diese Modelle formiert und projektiert, zur Diskussion gestellt oder auch deformiert und subvertiert werden. 471 Denn die Sprache, so die These, hat ihre Szene, ihre Bühne in sich selbst, womit sich im literarischen Text die Sprache selbst ereignet. 472 […] Theatralität [ist] […] nicht erst als steuerndes Dispositiv kultureller Formationen, sondern schon auf der Ebene elementarer Sprachoperationen aufzusuchen […]. 473 Dem Text kommt insofern eine besondere Funktion zu, als dass er als Produkt eines medialen Sinnprozesses verstanden werden kann. In Anlehnung an den Sprachwissenschaftler Ludwig Jäger stellt Neumann die Bedeutung von Transkriptionsprozessen heraus, die die Kulturgeschichte seit jeher geprägt haben. Dabei geht es darum, dass in solchen medialen Prozessen „der Schreibakt einen Prozeß der Inszenierung von Sinn in Gang setzt.“ 474 Offensichtlich […] bildet sich Sinn in menschlichen Gesellschaften erst dadurch, daß verschiedene Symbolsysteme zueinander in transkriptive Beziehung gebracht werden - in einem Vorgang der Sinnstiftung, welcher Inszenierungscharaker hat. 475 Des Weiteren wird vor allen Dingen auf sprachwissenschaftliche und semiotische Entwicklungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückgegriffen - auf Saussure, Tesnière, Greimas, und in deren Folge vor allen Dingen auf Roland Barthes, der den Begriff der Szenographie prägte. Er fasste Sprachproduktion als Zeichentheater auf, als inszenatorische Praxis der Herstellung 471 Gerhard Neumann: „Einleitung“, in: ders./ Pross/ Wildgruber: Szenographien, S. 11-32, hier S. 15. 472 Siehe hierzu vor allen Dingen den folgenden Beitrag: Gerald Wildgruber: „Die Instanz der Szene im Denken der Sprache“, in: ebd., S. 35-63. 473 Neumann: „Einleitung“, S. 17. 474 Neumann: „Die Instanz der Szene im Denken der Sprache. Argument und Kategorie der ‚Theatralität‘ in der Literaturwissenschaft“, in: Fischer-Lichte/ Horn/ Umathum/ Warstat: Theatralität als Modell der Kulturwissenschaften, S. 139-157, hier S. 143. 475 Ebd., S. 144. <?page no="209"?> 209 von sozialem Sinn, bei welcher der Text als Bühne sprachlicher Performanz verstanden werden kann. Wichtig für den Kontext der langen narrativen Texte Benets ist, dass das entwickelte Argument der Theatralität in der Literatur von der kleinsten Einheit über die Syntax auf die Erzählung übertragbar wird: Durch diese Kette der Merkmalsübertragungen - das Modell des Theaters teilt im Anfang der Theorie seine Struktur dem Satz mit, der sich seinerseits auf die Struktur der Erzählung projiziert - gelangen bestimmte Implikate der Konzeption Theatralität in die strukturale Erzählanalyse. 476 Neben diesem strukturalistischen Ansatz bei Barthes lässt sich des Weiteren beobachten, dass mit der Moderne und der fortschreitenden Erosion der ‚großen Erzählungen‘ auch dem Theater als in sich geschlossene Repräsentation immer mehr die transzendenten Fluchtpunkte (Gott, Staat, Leben, Autor) abhandenkommen. Das große Welttheater bzw. das Weltmodell ‚Theater‘ und die Schauspielmetapher funktionieren nicht mehr. 477 Damit einher gehen die oben angedeuteten theoretischen Begründungsversuche des Theatralen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dabei scheint es, als entwickelte sich die Theatralität immer mehr als Oppositionsbegriff zur Repräsentation. Dies ließe sich auch bei Barthes beobachten: Theatralität bedeutet in diesem Zusammenhang die Ablehnung eines der bürgerlichen Gesellschaft inhärenten Anliegens, des Desinaugurierens von Zeichenprozessen. Theatralität, als Protokoll und inszeniertes Sprechen, stellt ihren Zeichencharakter aus, im Gegensatz zum Bemühen der bürgerlichen Kultur, an den Zeichen und Anweisungen, die sie in Umlauf setzt, das Aussehen von Zeichen zu minimieren und sie vielmehr als unmittelbar real, als Natur auszugeben. 478 Theatralität kann in diesem Sinne also als der Prozess verstanden werden, in welchem sich die Zeichenhaftigkeit der Sprache materialisiert und die mimetische Funktion derselben unterminiert wird. Und dies umso mehr, je mehr das Theater selbst seine Repräsentationsfunktion verliert. Ausgestellte Theatralität irritiert den Mimesis-Begriff und wird zum Symptom der Moderne, die auch eine Erosion von Wahrnehmungs- und epistemischen Mustern mit sich zieht. 479 476 Wildgruber: „Die Instanz der Szene“, S. 49, vgl. auch Neumann: „Einleitung“, S. 24f. 477 Vgl. hierzu ebd., S. 20ff. 478 Wildgruber: „Die Instanz der Szene“, S. 52. 479 Vgl. zur Krise der Wahrnehmung und zur gleichzeitigen Dynamisierung des Text- Bild-Verhältnisses im fin de siècle und im 20. Jahrhundert Gerhard Neumann: „Wahrnehmungstheater. Semiose zwischen Bild und Schrift“, in: ders./ Claudia Öhlschläger (Hgs.): Inszenierungen in Schrift und Bild, Bielefeld: Aisthesis, 2004, S. 91-108. <?page no="210"?> 210 Für narrative Texte bedeutet dies, dass etwa die integrative und erläuternde Funktion eines allwissenden Erzählers abhandenkommt. Das Theatrale holt das Rauschen in die Literatur, die naturalisierende literarische Kommunikation und Lektüre werden gestört. Theatralität wird zur „Strategie einer Verkomplizierung der Informationsweitergabe“ 480 . Sie prägt das Textgeschehen von Beginn an und damit Wahrnehmungs-, Darstellungs- und Erkenntnisweisen, die über den Text transportiert werden. Die präsentierten Thesen gehen von einem sehr grundlegenden Verständnis von Theatralität aus. Wenn sprachliche Äußerungen an sich als theatral verstanden werden können und der Text als Szene dieser sprachlichen Inszenierung fungiert, läuft man im literaturwissenschaftlichen Kontext Gefahr alles als Theatralität zu verstehen. Ein griffiges Analyseinstrumentarium wäre damit nicht geschaffen. Der Gefahr einer solchen Banalisierung soll jedoch in den später anschließenden Textanalysen entgegengewirkt werden. Denn die Texte, um die es geht, transportieren jenen inszenatorischen und anti-mimetischen Gestus an die Textoberfläche. Die geschieht nicht nur durch Theater-Motive bzw. eine Theater-Metaphorik, sondern auch durch ein intensives intertextuelles Spiel, durch die Hybridisierung von Gattungen und strukturelle Unentschiedenheit. Der zu analysierende Themenkomplex Theater/ Theatralität verweist auf jene Verfasstheit von Sprache und Text, die nur in ihrer materiellen, diesseitigen Form fassbar sind. Die Texte, so die These, stellen somit intensiv und auf immer neue Weise […] die Frage nach der Mimesis und der Kategorie der Ähnlichkeit im Spannungsfeld zwischen Imitatio und Actio, zwischen konstativen und performativen Vorgängen; die Frage schließlich nach der Grenze zwischen Ereignis und Repräsentation, zwischen culture of performance und culture of meaning. 481 Die verschiedenen Arten der Inszenierung zielen ständig auf den Modus des Als-ob ab und auf die damit einhergehende epistemologische, aber auch ontologische Verunsicherung. IV.1.2 Theatralität und Räumlichkeit More than a property with analyzable characteristics, theatricality seems to be a process that has to do with a “gaze” that postulates and creates a distinct, virtual space belonging to the other, from which fiction can emerge. […] Thus, theatricality as alterity emerges through a cleft in quotidian space. 482 Diese Annäherung der kanadischen Theaterwissenschaftlerin Josette Féral an den Begriff der Theatralität enthält drei wesentliche Aspekte, um die es 480 Wildgruber: „Die Instanz der Szene“, S. 60. 481 Neumann: „Die Instanz der Szene“, S. 154. 482 Josette Féral: „Theatricality: The Specificity of Theatrical Language“, in: SubStance 31: 98/ 99 (2002), S. 94-108. <?page no="211"?> 211 hier gehen soll. Dies ist die konstituierende Rolle, die einer spezifischen Räumlichkeit bzw. einer räumlichen Aufspaltung bei der Entstehung von Theatralität zukommt. Des Weiteren ist der aktive Blick, die gerichtete Wahrnehmung bei der Aufspaltung dieser Räume zu nennen. Und drittens ist es das Prozesshafte, auf das es hier ankommt - Theatralität entsteht und zerfällt. Während es in dem vorherigen Kapitel zur Theatralität als literaturwissenschaftliche Kategorie eher um eine abstrakt-theoretische Annäherung ging (Was macht das Theatrale in literarischen Texten? ) sollen in diesem Unterkapitel konkrete Punkte für die Textanalysen eingegrenzt werden. Die Basis stellt der erwähnte Zusammenhang von Theatralität und Räumlichkeit dar. Bereits der Begründer der Theaterwissenschaft, Max Herrmann, betont „[d]as theatralische Raumerlebnis“ 483 . In der Theaterkunst handelt es sich […] nicht um die Darstellung des Raumes, sondern um die Vorführung menschlicher Bewegung ‚im‘ theatralischen Raum. 484 Dabei beschreibt Herrmann, wie der real begrenzte Bühnenraum und die räumliche Trennung von Bühnen- und Zuschauerraum (bei einer konventionellen Guckkastenbühne) die Entstehung von virtuellen Räumen durch die Schauspielkunst erst möglich macht und begünstigt. Gleichzeitig spricht er von der „mitschöpferischen Tätigkeit des Publikums an ‚allem‘ schauspielerischen Spiel“ 485 . Was Herrmann noch am institutionellen Theater beschreibt, überträgt Féral u.a. auf Alltagssituationen, in welchen durch den aktiven Blick die tatsächliche räumliche Begrenzung einer Guckkastenbühne hinfällig und die räumliche Aufspaltung durch eine spezielle Wahrnehmungseinstellung vollzogen wird. If the notion of theatricality goes beyond the theater, it is because it is not a “property” belonging to the subjects/ things that are its vehicles. It belongs neither to the objects, the space, nor to the actor himself, although each can become its vehicle. Rather, theatricality is the result of a perceptual dynamics linking the onlooker with someone or something that is looked at. This relationship can be initiated either by the actor who declares his intention to act, or by the spectator who, of his own initiative, transforms the other into a spectacular object. 486 Neben dem zuvor immer wieder betonten Inszenierungscharakter ist es also ein bestimmter Wahrnehmungsprozess, der Bühnen- und Zuschauerraum erst entstehen lässt. Bereits an dieser Stelle lässt sich erkennen, dass Theatralität erst durch eine bestimmte Raum- und Wahrnehmungspraxis, wie sie 483 Max Herrmann: „Das theatralische Raumerlebnis“; in: Dünne/ Günzel: Raumtheorie, S. 501-514. 484 Ebd., S. 502. 485 Ebd., S. 508. 486 Josette Féral: „Theatricality“, S. 105, Hervorhebung von mir. <?page no="212"?> 212 bereits in dem Kapitel zum Raum erläutert wurden, konstituiert wird. Beim theatralen Raum muss es sich immer schon um einen espace im Sinne Certeaus handeln, der eher taktischem Verhalten als einer stabilen, präfigurierten, räumlichen Ordnung entspricht. Kirsten Kramer und Jörg Dünne gehen in dem Einleitungstext zu dem Band Theatralität und Räumlichkeit 487 weiter. Ihnen geht es darum, beide Kategorien „in einen medienkulturwissenschaftlichen Untersuchungshorizont zu rücken“ 488 . Demzufolge sind Räumlichkeit und Theatralität nicht als gegebene Größen vorauszusetzen, sondern auf Grundlage ihrer gemeinsamen Konstitutionsbedingungen durch Körperpraktiken und mediale Systeme zu beschreiben. Dabei wird Theatralität mithilfe vierer, von Fischer-Lichte entlehnten Kategorien (Inszenierung, Körperlichkeit/ Verkörperung, Wahrnehmung und Performanz als einer Art Oberbegriff) als komplexes mediales Gefüge beschrieben, das erst im Zusammenspiel von Wahrnehmungssituation, Bühnenraumgestaltung und Spiel der Akteure zur Geltung kommt. Bei der Räumlichkeit gehen auch sie auf die Opposition eines absoluten Ordnungsraums einerseits und eines relationalen Interaktionsraums andererseits ein: Wenn die Ordnung dabei tendenziell ein Effekt von Medientechniken und die Praxis doch eher eine Sache der körperlichen Interaktion zu sein scheint, so ist doch zu beachten, dass keine als solche wahrnehmbare Körperpraxis ohne den medientechnischen Rahmen existiert, in dem sie sich konstituiert und von dem sie sich absetzt, wie umgekehrt auch kein Rahmen ohne die Praktiken zu Stande kommen kann, die ihn hervorbringen. 489 Im Theater nun, so die These, tritt das beschriebene mediale Zusammenspiel von Ordnungs- und Interaktionsraum in besonderem Maße hervor. Der Ordnungsraum wird vor allen Dingen, wie bei Herrmann angedeutet, durch 487 Jörg Dünne/ Kirsten Kramer: „Einleitung. Theatralität und Räumlichkeit“, in: Dünne/ Friedrich/ Kramer: Theatralität und Räumlichkeit, S. 15-32. Die Einbindung des Theorieangebots von Kramer und Dünne geschieht im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass die beiden Autoren die Frage nach der Manifestation der von ihnen skizzierten Theatralität im Medium der Literatur und gerade in Bezug auf Neumanns Ansatz als problematisch ansehen (vgl. ebd., S. 27f.). Während es in dieser Arbeit ja dezidiert um die Frage nach der Theatralität jenseits des Theaters und in literarischen Erzähltexten geht, ist es gerade das komplexe mediale Gefüge des Theaters, das Kramer und Dünne interessiert. In ihrem Aufsatz finden sich jedoch einige Punkte in Bezug auf den Zusammenhang von Theatralität und Räumlichkeit, die für die Ausführungen an dieser Stelle hilfreich sind. 488 Ebd., S. 15. 489 Ebd., S. 23. <?page no="213"?> 213 den geschlossenen Bühnenraum begünstigt. 490 Der Interaktionsraum bzw. Praxisraum entsteht durch die Verkörperung und die Präsenz der Schauspieler. Jedoch kommt auch in diesem Ansatz der Wahrnehmung (vor allen Dingen bei der Entwicklung des modernen Theaters) eine besondere Rolle zu. Gesteuert wird die Wahrnehmung des Betrachters wesentlich durch die Form der Rahmung oder Grenzziehung, die die übergreifende Raumordnung des Theaters kennzeichnet, indem sie eine je spezifische Relationierung von Spielfläche und Zuschauerraum vornimmt, die maßgeblich die unterschiedlichen kulturellen und sozialen Funktionalisierungen des dispositiven Raumgefüges bestimmt. 491 Erst durch diese Wahrnehmungseinstellung des Betrachters kann ein Schauraum entstehen, der das dort Gesehene auf Distanz hält und als das Andere versteht, das nicht der Lebenswelt des Betrachters angehört. Durch komplexe Beobachtungssituationen kann dieser zunächst einmal als rigide und eindimensional beschriebene Blick ambivalent werden. Denn einerseits kann insbesondere im Fall einer Guckkastenbühne das Raumschema von Bühnen- und Zuschauerraum nur funktionieren, indem der Zuschauer gleichzeitig Teil des Bühnenraumes ist und sich dennoch von demselben distanziert. 492 Anderseits kann es spätestens seit den Avantgarden des 20. Jahrhunderts und insbesondere in Situationen der Theatralität außerhalb des Theaters zur bewussten oder spontanen Aufhebung und Überschreitung jener Grenze zwischen fiktiver Welt der Szene und Lebenswelt des Zuschauers kommen. Gerade durch diese Überschreitungen oder Umkehrungen der Rolle von Zuschauer und Schauspieler können „komplexe Beobachterverhältnisse“ 493 entstehen. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen werden letztlich folgende Fragestellungen für die Textanalysen virulent: Wie kommt es in den Texten zur Emergenz theatraler Räume? Wer blickt bzw. wer beobachtet wen? Ist bereits ein (topologischer) Ordnungsraum vorhanden, der die notwendige Grenzziehung und Rahmung vorgibt, oder entstehen Bühnen- und Zuschauerraum spontan? In welchem Verhältnis stehen dieser Ordnungsraum und der theatrale Raum? Sind die Blickrichtungen und die Grenzziehungen stabil oder kippt die Rollenverteilung? Inwiefern reflektieren die theatralen Situationen ihre eigene instabile, prozessuale Verfasstheit und darüber hinaus die Verfasstheit des Textes? Wie hängt die situative oder auch langfristig 490 Zugunsten der Profilierung von Analysekategorien wird die historische Dimension, also die Entwicklung des Theaters seit der Frühen Neuzeit, hier anders als bei Dünne und Kramer zumeist ausgeblendet. 491 Ebd., S. 23. 492 Vgl. hierzu die Erläuterungen zur Zentralperspektive und dem körperlosen Auge des Beobachters auf ebd., S. 24. 493 Ebd., S. 26. <?page no="214"?> 214 und strukturell angelegte Errichtung von theatralen Räumen mit dem taktischen und dem strategischen Umgang mit Raum zusammen? Diesen Fragen liegt die Annahme zugrunde, dass es gerade die noch im Detail nachzuweisende und zu beschreibende Theatralität der Benetschen Texte ist, mittels welcher sich die dynamisch-räumliche Poetik der estampa in den Texten manifestiert. Im theatralen Raum können Wahrnehmungsprozesse hervorgehoben und problematisiert werden und der Text kommt zur Reflexion über sein eigenes Vorhaben: fiktive Welten zu brechen und sie gleichsam in ihrem Schaffensprozess auszustellen. Besonders virulent wird dieser Schauraum, der literarische Verfahren zur Beobachtung bringt, wenn sich im Kriegsschauplatz, dem teatro de la guerra, die drei in dieser Arbeit vorgestellten Themenkomplexe Raum, Krieg und Theater, kristallisieren. Der spanische Ausdruck für ‚Kriegsschauplatz‘ enthält noch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Theater. Es leitet sich vom griechischen θεᾶσθαι (the-sthai) für ‚schauen, anschauen‘ ab. 494 IV.2 Das Gattungs-Hybrid: La otra casa de Mazón Signifikant für den hybriden Text La otra casa de Mazón 495 aus dem Jahr 1973 ist das konsequente Abwechseln von narrativen und dramatischen Textteilen, das eine eindeutige Zuordnung zu den Gattungen Roman oder Drama verhindert. Darüber hinaus ist dem Text, der mit „El drama“ betitelt wird, ein längerer, narrativer proemio, also eine Art einleitender ‚Gesang‘, vorangestellt, womit auch der Bezug zu antiken Epen und Dichtungen hergestellt ist. Carrera Garrido behandelt La otra casa de Mazón im Rahmen seiner Dramen-Forschung 496 zu Benet. In die bereits erwähnte Anthologie Teatro completo ist der Text jedoch nicht aufgenommen worden. Einzelne Aufsätze wie zuletzt von Margenot 497 oder, etwas früher, von Molinaro 498 befassen sich detaillierter mit dem Text. Carrera zielt dabei vorrangig auf ironische und absurde Elemente in La otra casa de Mazón ab, Margenot untersucht systematisch, inwiefern der Text als gothic bezeichnet werden kann, und Molinaro 494 Vgl. auch die Ausführungen zu Certeau auf S. 59 der vorliegenden Arbeit. Auf den etymologischen Zusammenhang von Theorie und Theater weist u.a. Neumann hin. Vgl. Neumann: „Die Instanz der Szene“, S. 143. 495 Alle Seitenangaben für Zitate aus La otra casa de Mazón erfolgen in diesem Kapitel im Fließtext. Alle anderen Literaturnachweise erfolgen über Fußnoten. 496 Carrera Garido: „Formas del humor absurdo“. 497 John Margenot: „Gothicism in Juan Benet’s La otra casa de Mazón and Herrumbrosas lanzas II“, in: Ojáncano 33 (2008), S. 69-85. 498 Nina Molinaro: „Other Knowledge, Other History, and La otra casa de Mazón“, in: John Margenot (Hg.): Juan Benet: a critical reappraisal of his fiction, West Cornwall: Locus Hill Press, 1997, S. 115-126. <?page no="215"?> 215 postuliert anhand desselben die Diskontinuitäten von Wissen und Historie. Auch wenn vor allen Dingen bei Carrera das Bewusstsein für den „híbrido narrativo-teatral“ 499 durchaus vorhanden ist, wird die eigenartige Form des Textes, der sich aus narrativen und dramatischen Elementen zusammensetzt, nicht tiefer gehend thematisiert. Carrera hält sich an eine Eigenaussage Benets 500 und setzt die narrativen Elemente mehr oder weniger mit dem Tragischen, die dramatischen Elemente mit dem Komischen gleich und leitet aus diesem equilibrio fragil „una visión marcadamente absurdista del universo“ 501 ab. Was dabei im Detail die Funktionen der dramatischen und der narrativen Elemente sein könnten und was, neben dem Tragikomischen, durch die Konfrontation beider in ein- und demselben Text entstehen kann, bleibt dabei unbeachtet. Die folgende Textanalyse legt dementsprechend zwei Schwerpunkte: Zum einen zielt sie auf die eben erläuterte Leerstelle in der Forschungsliteratur ab, indem untersucht wird, wie sich die dialogischdramatischen und die narrativen Textteile inhaltlich und strukturell zueinander verhalten. Zum anderen untersucht die Textanalyse mit dem Würfelspiel im Drama ein Spiel im Spiel, d.h. nicht nur ein von vornherein metapoetisches, sondern auch ein immer wiederkehrendes Motiv der Benetschen Texte. Wie das Würfelspiel ist auch das Kartenspiel, sind die naipes, ein Glücksspiel. Die naipes sind das Mittel für Vorhersehungen der sibyllinischen Großmutter in Saúl ante Samuel, das dominante Glücksspiel im Kasino 502 in Volverás a Región ist ein Kartenspiel, und auch in Herrumbrosas lanzas heißt es, in den Häusern in Región „se prolongaba indefinidamente 499 Carrera Garido: „Formas del humor absurdo“, S. 32. 500 In einem Interview aus dem Jahr 1976 äußert sich Benet bezüglich La otra casa de Mazón folgendermaßen: „En esencia son [=dos distinciones elementales] los dos talantes básicos de la literatura. Es decir, la comedia y la tragedia. Te pones a leer una comedia como The Tempest o una tragedia como Hamlet y desde la primera frase sabes si se trata de uno u otro tipo de obra. El uso discriminativo de ciertas palabras, la manera de hablar, el tono, te impulsan a pensar que estás en la comedia o en la tragedia. Esa distinción, que yo no me la creo, en cuanto a vestidura, y que es real, que corresponde a tratamientos literarios distintos, me molestaba en el sentido de que imponía una especia de corsé. Es decir, no te puedes salir del talante cómico o del trágico por mucho que hagas. La manera de salirse era disfrazar lo cómico de una cosa y lo trágico de otra a fin de lograr, no la simbiosis, que la simbiosis es prácticamente imposible, la simbiosis está en el carácter del lenguaje, sino el juego de dos personajes que disfrazados de otras cosas, uno fuera trágico y otro fuera cómico pero que no se supiera lo que era cada uno. Entonces le di a uno el carácter dramático y al otro el narrativo; el primero asumía el papel trágico y el segundo el carácter cómico. Mediante ese juego pretendía hacer un producto híbrido, una especie de maíz nuevo, combinando lo que no es combinable.“ (Benet: Cartografía personal, S. 102) 501 Carrera Garido: „Formas del humor absurdo“, S. 32. 502 Vgl. zur Glückspielpartie Gerhard Poppenberg: „Juan Benet: Volverás a Región“, in: Ralf Junkerjürgen (Hg.): Spanische Romane des 20. Jahrhunderts in Einzeldarstellungen, Berlin: Schmidt, 2010, S. 144-169, insbesondere S. 160-165. <?page no="216"?> 216 una partida de naipe“ 503 , während draußen der Krieg ein fortgeschrittenes Stadium erreicht. Das Würfelspiel scheint in La otra casa de Mazón das Element zu sein, was das Drama aufgrund seines sujetlosen Charakters überhaupt in Gang hält und gleichsam das, was den Einbruch eines Ereignisses von außen in das Haus, in welchem sich die Figuren befinden, verhindert. IV.2.1 Zwischen Narration und Dialog La otra casa de Mazón lässt sich in die folgenden Abschnitte aufteilen: Auf den erwähnten narrativen proemio (S. 9-28) folgt ein kurzer Einleitungstext zum Drama mit den dramatis personæ (S. 29), bevor der Haupttext des Dramas (S. 30) beginnt. Daraufhin wechseln sich Dramen- und Erzähltext ab: escena I (S. 33-64), erster narrativer Teil (S. 65-79), escena II (S. 80-11), zweiter narrativer Teil (S. 115-129), escena III (S. 131- 146), dritter narrativer Teil (S. 147- 151), escena IV (S. 154-188), vierter narrativer Teil (S. 189-204) und escena V (S. 205- 229). Anstatt in Akte ist das Drama in Szenen aufgeteilt. Die fünfteilige Struktur legt trotzdem eine Anlehnung an einen aristotelischen Dramenaufbau und eine damit verbundene, die Regeln der Einheiten befolgende Handlungsstruktur nahe. Vor dem Hintergrund dieser klaren Unterscheidung von narrativen und dramatischen Textteilen ergeben sich folgende Erwartungen und Fragestellungen: Wie ist das inhaltliche Verhältnis der beiden Teile? Erfüllen die dramatischen Teile die Erwartung, eine Handlung wiederzugeben? Liefern die erzählenden Teile dementsprechend ergänzende Hintergrundinformationen? Wie ist das Verhältnis von Handlung zu Historie und von dialoghafter, szenischer Darstellung zur Erzählung? Wird hier, mit Neumann gesprochen, die Diskrepanz zwischen imitatio und actio, zwischen Repräsentation und Ereignis durch das Aufeinanderprallen zweier Gattungen paradigmatisch vor Augen geführt? Wie bei so vielen Texten Benets liegt auch hier der Verdacht nahe, dass ein tatsächliches Sujet auf der Ebene der histoire ausbleibt. Auf den ersten Blick lässt sich festhalten, dass sich die dramatischen escenas durchgängig in einem Innenraum, in der titelgebenden casa de Mazón abspielen: „La escena representa la cocina de la casa de Mazón.“ (S. 33) Die Hauptfiguren sind Cristino Mazón, der einzig überlebende Spross der Familie Mazón, Eugenia Fernández, die eine Art Haushälterin und frühere Geliebte Cristinos ist, und der König, eine anachronistische Figur, die sich hauptsächlich damit befasst, von früheren Schlachten und von ihrem eigenen Tod zu berichten. Die narrativen Teile hingegen versuchen vor allen Dingen, die Geschichte bzw. die Familiengeschichte seit dem 19. Jahrhundert, die mit dieser otra casa verknüpft ist, zu erzählen. Dabei wird das Proömium zu diesen narrativen Teilen hinzugezählt, sodass sich fünf erzählende Textabschnitte mit fünf escenas abwechseln. Die Figuren in beiden Textarten, 503 Benet: Herrumbrosas lanzas, S: 175. <?page no="217"?> 217 Familienmitglieder der Mazón, überschneiden sich also zum Teil. Im Folgenden werden zunächst die narrativen und danach die dramatischen Textabschnitte untersucht. Wie Molinaro treffend festgestellt hat, handelt es sich bei der Familiengeschichte der Mazón um eine Geschichte des Scheiterns, des Verschwindens und der Dekadenz: „The five prose sections follow the Mazón family through various phases of extinction […].“ 504 Dabei betrifft das Scheitern, wie im Folgenden gezeigt werden soll, nicht nur die Etablierung einer Genealogie, sondern ebenfalls das erforderliche, ortsgebundene ‚Sesshaftwerden‘ einer Sippe, des ‚Hauses Mazón‘ 505 , und letztendlich auch die Historie, das heißt, die Möglichkeit, Geschichte auf Fakten basierend zu rekonstruieren, an sich. Bereits im Proömium beginnt die fragwürdige Etablierung des Hauses Mazón (im Sinne eines Familiengeschlechts und im Sinne eines Sitzes eben jenes Familiengeschlechts). Das Proömium enthielt im antiken Epos zumeist einen Musenanruf 506 , die Vorgabe des Themas oder eine Vorstellung des Rhapsoden (wenn es sich um das Proömium eines mündlichen Vortrags handelte). In La otra casa de Mazón erfüllt es diese Funktion insofern, als dass das Thema der narrativen Textabschnitte mit dem langsam verfallenden Haus durchaus eingeleitet und vorgestellt wird: El lugar era apartado, inhóspito y malsano. Sólo una parte de la casa se mantenía todavía en pie, gracias en gran medida a su laxa, comprometida decadencia. (S. 11) Der Zustand des Hauses ist bezeichnend. Es ist abgelegen, alles andere als einladend, geradezu gesundheitsschädigend und zerfällt langsam. Es ist darüber hinaus nicht nur der karge Rest einer Dynastie, sondern gleichzeitig eines gesamten Stadtbezirks und einer Schlacht: Al comenzar la segunda mitad del siglo de todo el antiguo término de El Auge tan sólo la casa de Mazón permanecía habitada. De la enfática coloni- 504 Molinaro: „Other Knowledge“, S. 120. 505 Für die Erkenntnis, dass das Haus neben dem architektonischen Gebäude auch immer schon ein Familiengeschlecht bezeichnet, zieht Margenot einen Sekundärtext zur gothic literature zu Rate: „The use of the Gothic dwelling usually carries a dual significance: it defines architectonic space as well as the family line, thus scrutinizing the structure of patriarchal order […].“ (Margenot: „Gothicism“, S. 73) An dieser Stelle wird u.a. deutlich, wie wenig einleuchtend die Charakterisierung von La otra casa de Mazón als gothic, bzw. wie gering der damit generierte Erkenntnisgewinn ist. Casa hat schon immer, ebenso wie Haus im Deutschen und house im Englischen mindestens die zwei genannten Bedeutungen. Zur Erkenntnis, dass der Begriff hier auch in diesem doppelten Sinn verwendet wird, kommt der Leser sehr schnell bei einer einfachen Lektüre. 506 Vgl. hierzu das bereits in Fußnote 439 erwähnte Proömium zum Schiffskatalog in der Ilias. <?page no="218"?> 218 zación que - al conjuro de un nombre épico, la cercanía de la sierra, las cualidades de la leche local y un aristocrático afán de retiro - más de cincuenta años atrás había tratado de asentar allí, no quedaba en aquellas fechas más que las ruinas de un pueblo arrasado en la batalla de la Loma, en cuya reconstrucción jamás se había detenido en pensar nadie. (S. 12) Mit dem Bürgerkrieg erfährt eine aus einer etwas fragwürdigen Motivation 507 heraus entstandene Besiedelung von El Auge 508 ein abruptes Ende. Die Ruine ist gleichsam Überrest und Symbol der Zerstörung und des Niedergangs. Sie bezeugt den Zerfall und stemmt sich doch gegen diesen, da sie ja immer noch da ist und nicht, wie das übrige Dorf „arrasado en la batalla“, also im wahrsten Sinne des Wortes während einer Schlacht dem Erdboden gleichgemacht wurde. Das Haus der Mazón ist mit seinen Bewohnern eine solche Ruine und vereint somit beide Charakteristika: dessen, was die Zerstörung und den Niedergang überdauert und dessen, was die Zerstörung belegt und sie somit überhaupt historisierbar macht. Der Landschaft, in welcher sich das Haus befindet, haftet des Weiteren von Beginn an etwas Episches bzw. Legendäres an, wodurch direkt Bezug auf den proemio genommen wird. Jedoch wird die direkte Anspielung an die Gattung Epos mit der im weitesten Sinne umgangssprachlichen Verwendung von épico, eben im Sinne des Legendären und des Heroischen, überblendet. Der „nombre épico“ taucht nicht nur in dem Zitat oben, sondern auch an weiteren Stellen auf. In einer der für Benet so typischen Landschaftsbeschreibungen ist die Rede von […] hoces milenariamente excavadas por el casi extinguido gigante de nombre épico (recuerdo, herencia y venganza de un brazo del mar terciario), reducido - como de las antiguas gestas que ornaron sus riberas con dos lenguas no queda más que el susurro de los arbustos […] o las garabateadas páginas de un manual de historia […] - a la quimérica condición de un nombre […]. (S. 11, Hervorhebungen von mir) Der ‚epische Name‘ ist der Name eines fast ausgetrockneten Flusses, dessen Schluchten die Landschaft prägen. Ohne den Namen zunächst tatsächlich zu nennen, ist der Fluss von Beginn an ein zentrales Element der Umgebung der casa: 507 Ein ‚epischer Name‘ und die angebliche Qualität der Milch sind angesichts der durch und durch verarmten und vom technischen Fortschritt abgeschnittenen Bevölkerung und angesichts der stets kargen und feindseligen Landschaft Regións als höchst ironisch zu verstehen. 508 Der Name El Auge, ein wie auch immer gearteter Höhepunkt, ist angesichts der Tatsache, dass hier gerade ein absoluter zivilisatorischer Tiefpunkt beschrieben wird, ebenfalls ironisch zu verstehen. <?page no="219"?> 219 The river supplies a recurring motif that is taken up in subsequent sections; although the family members appear and disappear […], the continuing presence of the river gives the illusion of constancy over time. 509 Dabei ist mit dem Namen auch der Fluss im oben beschriebenen Sinne ‚ruinenhaft‘: Als Überrest bzw. ‚Erbe‘ des tertiären Meeres aus einer längst vergangenen Zeit ist der Fluss heute schon fast nicht mehr Fluss und sein Name besteht nur noch als ‚imaginäre Bedingung‘ eines Namens. Er bezeugt mit seiner Existenz seine eigene geologische Entstehungsgeschichte und steht trotzdem ganz im Zeichen des Verfalls und des Verschwindens. Dabei sind die „antiguas gestas“ in demselben Kontext zu lesen wie der „nombre épico“. Beide verweisen auf eine Mythen- und Legendenbildung, welchen vermeintlich historische Fakten im Laufe der Zeit und im Laufe der Narrativierung ausgesetzt sind. Mit einer leichten Abänderung wird die Formulierung zwei Seiten später wiederholt - wobei dieses Mal der Name des Flusses tatsächlich genannt wird: „Al conjuro de un nombre legendario - un río, el Torce 510 , sobrecargado de gestas históricas […].“ (S. 13) Dem Fluss, der konventionell den Fortgang der Zeit symbolisiert, haftet hier darüber hinaus von Beginn an das Problem der narrativen Überlieferung von historischen Ereignissen an: Er ist mit Heldensagen regelrecht überfrachtet. Weitere Formulierungen im proemio belegen diese Interpretation und das Problem der Historisierung bzw. des historischen Narrativ taucht immer wieder auf: „un reyezuelo […] es personificado por esa única forma tolerable del azar que constituye el pasado“ (S. 13); „una de tantas transferencias con que la historia […] financia sus inversiones“ (S. 14); „una montaña de arcilla roja vomitada por el río […] más por un gesto económico de aprovechamiento que por memorializar [sic! ] la gesta para consideración de generaciones venideras“ (ebd.); „el día de la gesta y la desaparición del último monarca“ (ebd.). Das heißt, mit dem proemio sind die narrativen Teile von La otra casa de Mazón von Beginn an ein Formulierungs- und Problematisierungsversuch von Historie. Haus und Landschaft sind Überreste längst vergangener Zeiten und Zeichen des Verschwindens, erhalten gleichzeitig als Zeugen bzw. Zeugnisse eine Funktion, die historiographisch von höchster Bedeutung ist. Der Fluss bestimmt die topographische Situierung der casa („el desviar la corriente hacia la margen puesta, donde se elevara la casa de Mazón“), gibt der Genealogie also einen Ort. Gleichzeitig symbolisiert der Torce nicht einfach den unaufhaltsamen Fortgang der Zeit, sondern problematisiert selbst das 509 Molinaro: „Other Knowledge“, S. 120. 510 Margenot spricht in einer nicht nachvollziehbaren Übersetzung in seinem gesamten Artikel vom „Acer River“ (siehe z.B. Margenot: „Gothicism“, S. 70), obwohl er sich ausschließlich auf die spanischsprachige Ausgabe hält. Acer bezeichnet im Englischen den Ahorn, was nach meinem Verständnis nicht mit dem spanischen Namen Torce in Verbindung gebracht werden kann. <?page no="220"?> 220 Verhältnis von Geschichte und Erzählung, die unausweichliche Fiktionalisierung des vermeintlich Faktualen, für die Heldensagen und Mythenbildung stehen, und den Zufall, der die Geschichte prägt und der rückblickend durch die Einbindung in ein lineares Narrativ des Zufälligen beraubt wird. In den weiteren narrativen Teilen wird, wie bereits erwähnt, der Versuch unternommen, mit der Genealogie der ‚anderen‘ Mazón 511 eine Geschichte zu erzählen, die in besonderem Maße auf die rückblickende Linearität der Erzählung angewiesen ist, um einen funktionalen Stammbaum nachvollziehbar zu machen. Was dieses ‚andere‘ Familiengeschlecht der Mazón ausmacht, ist vor allen Dingen die Tatsache, dass es nicht auf Blutsverwandtschaft aufbaut. In die Familie wird jeder aufgenommen, der vom ‚Stammhalter‘, meistens nur el viejo genannt, für ‚würdig‘ erklärt wird: Unos meses más tarde nació la criatura, un niño muy robusto al que pusieron el nombre de José, porque así se le antojó al viejo, quien advirtió a sus hijos - Eugenio, el mayor, Clara y Enrique, el enfermo - que en lo sucesivo habrían de considerarlo como su propio hermano […]. (S. 65) Neben der Willkür des Alten ist es die Tatsache, dass alle Kinder in dem gleichen Haus geboren wurden, die sie zu einer Familie macht. Die Funktion der casa im Sinne eines Familiengeschlechts, das sich über Blutsverwandtschaft etabliert, wird also auf die architektonische casa übertragen. Neben den ‚legitimen‘ Kindern werden in dem Haus weitere Kinder geboren, die alle denselben Familiennamen erhalten, ganz unabhängig davon, wer ihre Eltern sind: Ya en el siglo […] nacieron otras cuatro o cinco criaturas más, a todas las cuales registraron con el nombre de Mazón sin que el viejo acemilero […] ni cualquier de los otros cónyuges hicieran nada por impedirlo […]. (S. 66) Im 20. Jahrhundert lebt die dritte Generation der Mazón, wobei nur wenige bis zum Beginn des Bürgerkriegs überleben. Sechs der Kinder „sobrevivían, cuando estalló la guerra civil“ (S. 67) und werden einzeln aufgezählt. Die fehlende Blutsverwandtschaft hat außerdem zur Folge, dass eine Unsicherheit darüber besteht, welches Kind von welchen Eltern abstammt und dass sich unwahrscheinliche äußerliche Ähnlichkeiten bilden: Cristino […], nacido hacia 1908, quien aunque se dijera de él que era el vivo retrato de Eugenio el primogénito, no debía de ser hijo suyo, por haber - éste - abandonado la casa casi dos años antes del nacimiento de la referida criatura. (ebd.) 511 Wie auch schon in Herrumbrosas lanzas, wird hier von einer Aufspaltung der Familie Mazón ausgegangen. „There are two houses, one in El Auge, ‘la otra casa’ of the title, and the other nearby Región, built later by a family deserter, Eugenio.“ (Molinaro: „Other Knowledge“, S. 119) <?page no="221"?> 221 Während manche Kinder den gleichen Vornamen wie ihre Eltern tragen und es so irreführenderweise mehrere Figuren gleichen Namens gibt („la tercera Clara, hija de la segunda“), haben andere Kinder gar keinen Namen und werden lediglich auf unzuverlässige Art und Weise durchnummeriert („el tercer (o cuarto) hijo de la mujer del administrador“). Der Versuch, einen Stammbaum zu etablieren, scheitert insofern, als dass eine regelrechte Anti- Genealogie 512 aufgebaut wird. Es ist nicht möglich, die einzelnen Kinder und Kindeskinder genau zuzuordnen und auch die Nennung von Geburtsjahren trägt letztendlich mehr zur Verwirrung als zur Klärung von familiären Verhältnissen bei. Der Genealogie haftet etwas Kontingentes an und sie steht somit einem konventionellen Verständnis dessen, was Abstammung ist, konträr gegenüber. Des Weiteren ist die Familiengeschichte eine Geschichte des Verschwindens, das durch Inzest, Vergewaltigungen, sonstiger physischer Gewalt, Selbstmord und genetische Krankheiten ausgelöst wird. Zum Beispiel wird das Kind, von dem gesagt wird, es habe die Züge des verschwundenen erstgeborenen Eugenio, auf einmal auch Eugenio anstatt Cristino getauft. Nach und nach nimmt es jedoch die Züge des Großvaters an: El niño nació […] bastante después de la marcha del primogénito del abuelo y […] le bautizaron con el nombre de Eugenio, que conservaría hasta la guerra civil. Poco a poco se fueron manifestando en él unos rasgos […] tan contrapuestos a los del desaparecido y en cierto modo tan afines a los del abuelo que éste a duras penas soportaba la presencia del niño […] como si estuviera deseoso de olvidar que era hijo suyo. Se hacía más retraído y huraño […] y en las primeras horas de la mañana hacía su entrada en la habitación de la madre de José, para abalanzarse semivestido sobre ella, jadeando como un perro y no profiriendo más que sonidos incomprensibles, acaso aprendidos de aquel nieto que muriera carbonizado […]. (S. 74) Nachdem die Abstammung nicht eindeutig festgestellt werden kann, ändern sich auch die äußerlichen Züge des Jungen und die Ähnlichkeit macht ihn erst zum Sohn des Erstgeborenen und dann zum Sohn des Großvaters, wobei der Verdacht des Inzests naheliegt. Dabei ist zu unterstreichen, dass die Züge des Großvaters und des Erstgeborenen als „contrapuestos“ bezeichnet werden, obwohl man bei ihnen zunächst von einem Verwandtschaftsverhältnis ausgeht. Weder der Name noch das Äußere können somit als Evidenzen für die Blutsverwandtschaft herangezogen werden. Im selben Zuge wird die Vergewaltigung einer der Mütter beschrieben, ebenso wie das Schicksal eines der Kinder der dritten Generation: „[A]quel nieto“ verbrennt in einem Fass, nachdem er bereits in seinen kurzen Lebensjahren eine schwere körperliche Behinderung erleiden musste (vgl. S. 69-71). Von dem 512 Den Begriff verwendet Molinaro: „Continuity slides into excess, and intransitivity twists the patriarchal order into an anti-geneology […].“ (ebd., S. 121) <?page no="222"?> 222 Enkel Carlos wird mehrmals berichtet, dass er geistig behindert sei, Zeit in einer geschlossenen Anstalt verbracht hat und mindestens zwei Suizidversuche hinter sich hat: Unos días o una quincena más tarde llegó la otra comunicación, una carta con el membrete del manicomio de Palencia, informando a la familia del ingreso en el establecimiento de su pariente Carlos Mazón, tras dos intentos de suicidio. (S. 151) Neben diesen familiären Dekadenzphänomenen lässt sich außerdem die tatsächliche, physische Auslöschung einzelner Figuren beobachten. Die Erzählung belässt es nicht beim Tod, sondern legt alles daran, auch die sterblichen Überreste der Figuren zu tilgen. Am Ende des zweiten narrativen Abschnitts wird eine solche Szene beschrieben, wahrscheinlich handelt es sich um die Leiche des viejo: [S]in duda tenía que haber muerto decúbito y desnudo y casi todo él había desaparecido, tórax y abdomen e incluso los húmeros y fémures hasta codos y rodillas, puesto que no restaban sino la calavera y los huesos posteriores de las extremidades: el resto se había transformado en una mancha sólida y parda que había impregnado todo el centro de la sábana hasta convertirla en una suerte de duro linóleo, como si ante el poder absorbente del lecho hasta los huesos se hubieran licuado […]. (78f.) Hier ist nicht mehr von einem Leichnam die Rede. Bis auf den Schädel und die unteren Knochen der Extremitäten ist nichts mehr da - weder der Obernoch der Unterleib, die Oberarme oder Oberschenkel. Diese rätselhaften Auflösungserscheinungen werden durch die Tatsache, dass die verschwundenen Körperteile lediglich einen dunklen Fleck auf dem Laken hinterlassen haben, und durch die Absorptionsfähigkeit bzw. -macht des Bettes noch unterstrichen. Der sich auflösende Körper wird eins mit dem Laken, er wird zu einem anorganischen Material. Bei all diesen Zerfallserscheinungen und Auslöschungsversuchen gilt auch für die narrativen Teile von La otra casa de Mazón, dass sie durch die mehrfach beschriebene ausbleibende Linearität der Handlung und eine verkomplizierte Syntax für eine erschwerte und auf Ungewissheit abzielende Lektüre sorgen. Wie gezeigt werden konnte, ist in ihnen in besonderer Weise das Verhältnis von Narration und Geschichte im Sinne von belegbaren Fakten problematisiert. Nicht nur thematisiert die beschriebene Landschaft ihre eigene Historizität - ihre Entstehung in vergangenen Erdzeitaltern und durch die Vergangenheit hindurch - sondern knüpft diese an eine Legendenbildung, die eine Fiktionalisierung des Faktualen favorisiert und befördert. Diese Landschaft ist Bedingung und Ausgangsort einer vollkommen kontingenten Genealogie, die in jeder Hinsicht der Sicherung der eigenen Linie entgegenwirkt. Da der familiäre Zusammenhang allein durch die gemeinsame architektonische casa garantiert wird, kann die Bedeutung der <?page no="223"?> 223 Landschaft, in welcher sich diese casa befindet, nicht genug hervorgehoben werden. In die Problematik von Historiographie im Allgemeinen wird eine Familiengeschichte im Speziellen eingebettet. Die Kontingenz und der immer wieder in verschiedenen Facetten durchgespielte Niedergang der Familie begünstigt in besonderem Maße die für Benet so typische Art und Weise des nichtlinearen Erzählens. Dass dabei die Geschichte Spaniens und insbesondere die guerra civil als historische Orientierungshilfen herangezogen werden, trägt in keiner Weise zu einem besseren Verständnis oder einem klareren ‚Wissen‘ über Geschichte bei. Tatsächlich versuchen also die erzählenden Abschnitte die escenas in einen adäquaten historischen Hintergrund einzubetten, um die zu erwartende actio entsprechend vorzubereiten. Dabei kann jedoch Historisches nicht mehr von Fiktionalem unterschieden werden und umgekehrt. Historie entsteht erst in der ständig sich selbst und die eigenen Darstellungsmittel reflektierenden Erzählung. In Bezug auf die Dramenabschnitte des Textes werden vor den fünf escenas die Figuren angegeben und eine zeitliche und örtliche Situierung des Schauplatzes vorgenommen: Pues se trata de un drama del que fueron partícipes, en el otoño de 1954 (y unos años antes y otros después), cuando pareciera que ya nadie había de acordarse de aquella casa - y los caminos que conducían a ella sólo se manifestaban por las cortinas de polvo los días de tormenta de aire - ni de aquella familia que no podía esperar otra cosa que su próxima extinción […]. (S. 29) Das Drama ist also dezidiert in der spanischen Nachkriegszeit angesiedelt und auch das Haus wird bereits erwähnt, ebenso wie die Familie, die symptomatisch wie die gesamte Gegend dem Vergessen anheimfällt und auf nichts Anderes warten kann als auf die eigene Auslöschung. Die Figuren, die daraufhin genannt werden, sind Cristino Mazón, Eugenia Fernández, Alejandro Lassa, der anscheinend nach über zwanzig Jahren plötzlich wieder aufgetaucht ist, Yosen, ein Gast und der König, sowie otras figuras borrosas, semidesnudas e ininteligibles, que pertenecieron o pertenecían a la familia y traídas a la memoria porque también, irremediablemente, seguían habitando o merodeando la casa. Bei allen Figuren bis auf den König und Alejandro Lassa wird hinzugefügt, dass sie in dem Haus wohnen („que habitaba la casa“). Zum König erhält man keine zusätzlichen Informationen und Alejandro Lassa erinnert sich angeblich erst nach seiner langen Abwesenheit wieder an die Existenz des Hauses und kehrt zurück. Das Haus ist also nicht nur bloßer Schauplatz, sondern verbindendes Element zwischen den Figuren. Während die narrativen Teile und v.a. der proemio vorgaben, eine historische Einbettung zu liefern, holt das Drama die Figuren zwar nicht in die Gegenwart, aber zumindest mit dem Jahr 1954 in die unmittelbare Vergangenheit (La otra casa de <?page no="224"?> 224 Mazón erschien 1973). Vor der ersten, der dritten und der vierten escena finden sich Regieanweisungen, die das Interieur des Hauses, genau genommen die Küche beschreiben. Während die Einheit des Ortes also gegeben zu sein scheint, bleibt der zeitliche Ablauf vollkommen unklar. Vor der ersten Szene heißt es, es sei „el crepúsculo de una fría tarde de invierno“ (S. 33), vor der dritten wird von „una tarde de calor“ (S. 131) gesprochen und in der vierten ist es „el mediodía“ und die Unordnung im Raum „indica una noche más agitada que lo normal“ (S. 153). Um zu den Figuren zurückzukommen, wurde bereits mit der Auflistung der dramatis personæ angesprochen, dass viele von ihnen in keiner Weise als einheitliche Charaktere konzipiert sind. Es handelt sich vielmehr um geisterhafte und unvorstellbare („ininteligible“) Wesen, Mitglieder der Familie, die eigentlich schon längst verstorben sind und die oft wie im Delirium sprechen. So ist der Auftritt der Figur Clara in der zweiten escena beispielhaft 513 : De repente, la puerta (tras ser sacudida y aporreada con violencia) se abre de un golpe y entra CLARA, que queda en el umbral: habla arrastrando las palabras y equivocándose con frecuencia. CLARA: ¡Mientes, Cristino! ¡Kiristino, mmientes! […] CLARA: De nuevo pretendes engancharnos. Quiero decir, engañarnos. Maldito seas. Tu nombre va unido a la crus de la familia; la memorria de todos los hermanos está hablando por ti. Tu padere te estará mirando. Y Eugenio, su vivo retrato, todavía huya por el monte, perseguido por tu delación. Y Joosé arruga las últimas voluntades del difunto abuelo en una pensión de Zaragoza. Y Carlos, Carlos el joven, el pueno; Carloss el limpio, sentado en el camastro de la celda, te mira sin rencor, con las manos atadas a la espalda. […] (S. 94f.) In der fünften Szene folgen noch weitere Familienmitglieder, die in das Haus eindringen und zumeist dem Patriarchen Cristino Vorwürfe machen, er habe illegitime Ansprüche auf das Erbe der Familie erhoben und durchgesetzt: José, Carlos, der am Anfang genannte Alejandro Lassa, Clara und Bruna. Margenot spricht von Cristino als dem „principal usurper“ 514 . Allerdings muss man sich vor dem Hintergrund der gescheiterten Genealogie die Frage stellen, worin überhaupt die Legitimität bzw. legitimes Handeln in einer solchen Familie besteht. Auch der König, obwohl er in den Szenen eine relativ kontinuierliche Rolle spielt, ist eigentlich bereits gestorben und nimmt dies zum Anlass, ab der zweiten escena von seinem eigenen Tod und den Umständen post mortem zu erzählen. Lediglich Cristino Mazón und Eugenia Fernández können als einheitliche Figuren im konventionellen Sinne verstanden werden. 513 Ein weiteres Beispiel ist die Figur Yosen, die in der dritten escena von sich selbst durchgängig in der dritten Person spricht. 514 Margenot: „Gothicism“, S. 75. <?page no="225"?> 225 Was die Handlung betrifft, so lässt sich schwerlich von einer solchen sprechen. Die einzige kontinuierliche Tätigkeit der Figuren stellt das Würfelspiel dar, weswegen dieses im nächsten Unterkapitel gesondert analysiert wird. Darüber hinaus bestehen die escenas hauptsächlich aus einem andauernden Dialog, oder besser gesagt aus einem dialoghaften Schlagabtausch ohne inhaltliche Stringenz, wobei durchaus sich wiederholende Themen auszumachen sind. Cristino bringt so vorrangig seine diffuse Angst vor Eindringlingen von außen zum Ausdruck („Es posible que vengan esta noche.“, S. 143) und verweist ständig auf Geräusche, die deren Ankunft belegen könnten („¿No habéis oído nada? “, S. 144). Oft, aber nicht immer, ließen sich diese Geräusche im Nachhinein mit anderen ankommenden Figuren in Verbindung setzen wie z.B. am Ende der ersten escena mit dem König und in der fünften escena mit den anderen geisterhaften Familienmitgliedern. Das Insistieren auf der ständigen Befürchtung, jemand oder etwas könne in das Haus eindringen, bleibt dennoch bestehen. Darüber hinaus beleidigt Cristino kontinuierlich seine Haushälterin Eugenia Fernández, indem er sie auf ihren aus seiner Sicht niedrigen sozialen Status hinweist, um seine eigene angeblich hohe soziale Stellung zu betonen („No pretendas averiguar mis pensamientos. No quiero entrar en detalles, soy de clase superior. Superior en todo, ¿me escuchas, Eugenia? “, S. 36). Trotzdem wird nahe gelegt, dass die beiden in der Vergangenheit ein Verhältnis hatten („Eugenia, no me mortifiques. Hace bastantes años decías no sé qué del brillo de mis ojos. Repítelo ahora.“, S. 43). Cristinos Überlegenheit gegenüber Eugenia enttarnt sich jedoch unweigerlich als Phantasma. Etwas später in der ersten Szene wirft er ihr vor: Qué desvergonzada eres. Qué poco sabes a pesar de ser tan vieja. El miedo, Eugenia, es privilegio de unos pocos: de los que somos de cuna. Cada día estoy más convencido de que eso es todo, la cuna, la alcurnia. Vosotros no tenéis nada, ni vergüenza; la gente ordinaria, la masa, ni siguiera tiene miedo. (S. 57) Vor dem Hintergrund, dass Cristinos eigene „cuna“ von vollkommen ungewisser Herkunft ist, hebt sich seine eigene Linie, seine „alcurnia“ von selbst auf und wird als Distinktionsmerkmal gegenüber ‚den Massen‘, zu deren Vertreterin er Eugenia macht, hinfällig. Die Figurenrede des Königs weist ebenfalls eine relative inhaltliche Stringenz auf. Auch wenn er in das sonstige Gespräch eingebunden wird, so ist sein vorrangiges Interesse, von den Umständen seines Todes und vergangener Schlachten, an denen er teilgenommen hat, zu erzählen. Dies geschieht hauptsächlich in der zweiten escena, indem die Geräusche einer Schlacht, der er beiwohnte und bei der er ums Leben kam, in die Gegenwart des Theaterstückes hineinholt: „Me parece que ya vienen. ¡Ya vienen! ¿No los oís? Ya les oigo chapotear en el río.“ (S. 87) Die Vergangenheit, die Inhalt der folgenden <?page no="226"?> 226 Erzählung des Königs ist, und die Gegenwart des Bühnengeschehens werden so metaleptisch 515 miteinander vermischt. Cristino lässt sich sofort auf den Bericht ein und stellt entsprechende Rückfragen („¿Cuántos eran? “ „¿Hersault estaba a tu derecha? “). Dies motiviert den König weiter, woraufhin er ausführlich von jener Schlacht berichtet und damit den längsten Monolog der escenas überhaupt führt (S. 88-89). Dabei ist die Schlacht nicht historisch verifizierbar, vielmehr scheint es, also würden die Napoleonischen Unabhängigkeitskriege Spaniens mit einer großen vormodernen Schlacht von cristianos gegen moros verknüpft. So ist zum Beispiel von Fuentes de Oñoro und Zamora die Rede: „Habíamos salido una semana antes de Fuentes de Oñoro, donde se unieron los de Zamora y hasta algunos de más allá de la raya.“ (S. 88) In Fuentes de Oñoro wurden 1811 die Franzosen in der Nähe der portugiesischen Grenze von einer britisch-portugiesischen Allianz geschlagen. In Zamora kam es 1809 zu einem blutigen und letztendlich erfolglosen Aufstand der Stadtbevölkerung gegen die napoleonischen Truppen. Ausrufe wie „Todo el ejército de Occidente! La flor de la Fe en un páramo castellano.“ (S. 88), die Rede von „moros“ (S. 89) und das Beklagen einer ausbleibenden christlichen Bestattung „Nade, esa gente no da ni cristiana sepultura.“ (s. 91) weisen jedoch eher auf eine Schlacht zwischen Mauren und Christen hin. Eine Referenz könnte die bekannte Schlacht 711 am Fluss Guadalete in Andalusien sein, bei welcher der letzte westgotische König Rodrigo fiel und den Umayyaden der Einfall auf die iberische Halbinsel gelang. Der König nennt in seinem Bericht mehrere Namen angeblicher Kämpfer auf seiner Seite: Onofre San Julián con Aarón Lamarca, el converso, y Henry del Lago. Hersault, Milón de Merodio, el de Vizcaya, y Valcarce habían llegado los primeros, explorando el terreno. (S. 88) Von diesen Namen konnte jedoch keiner historisch referenziert werden. Mit dem relativ ausführlichen Bericht des Königs von seinem eigenen Niedergang in jener Schlacht driftet der sonst von sehr kurzen Redeeinwürfen geprägte Dialog der escenas in die Erzählung ab. Darüber hinaus ist es eine eigentlich unmögliche Erzählung, denn der König stirbt und treibt am Ende leblos im Wasser, ist also zum Zeitpunkt der Erzählung bereits tot: „A la mañana siguiente mi cabeza seguía hundida en el agua, con la boca y los ojos abiertos, y flotaban mis pies.“ (S. 90) Die Erzählung post mortem vom eigenen Tod und in der ersten Person ist der Punkt, an dem die Erzählung versucht, sich selbst einzuholen. Der König verkörpert die Unmöglichkeit, als Augenzeuge und Berichtender des eigenen Todes aufzutreten. Diese Deutung wird umso virulenter, als dass er etwas später in derselben escena wieder darauf zurückkommt: 515 Da der König innerhalb des Dramas tatsächlich als Erzählerfigur auftritt, wird hier der narratologische Begriff der Metalepse bewusst verwendet. <?page no="227"?> 227 Yo sólo volvería a condición de morir apuñalado de nuevo. Aquello era apasionante, aquellos hierros! ¡Qué puñales! ¿Sabéis vosotros cómo encontré la muerte? ¿Conocéis mi famoso relato? Escuchad... (S. 103) Obwohl Cristino sich ob des Angebots der erneuten Erzählung wenig erfreut zeigt („No, no. Por favor, no. Lo conocemos de memoria. Hersault estaba a tu derecha. Otra vez, no, rey, por caridad.“), setzt der König zu der erneuten unmöglichen Erzählung an: EL REY: Escuchad: me mataron como a un conejo. Me rodearon por todas partes y me forzaron a introducirme en el agua aborrecida. Luego clavaron en mi cuerpo una docena de hierros de todas clases. ¿Qué os parece? EUGENIA FERNÁNDEZ: Antes lo contaba usted mejor. CRISTINO MAZÓN: En cambio a mí me parece que ahora lo cuenta mucho mejor. Más lacónico, pero más expresivo. Lo que ocurre es que esa historia carece de todo interés. EL REY: La culpa es mía; la historia es bella, pero estoy tan acostumbrado a no despertar más que indiferencia, que ya la cuento sin entusiasmo. EUGENIA FERNÁNDEZ: Nosotros nunca hemos echado entusiasmo a nada. (S. 104) Anstatt wie zuvor in allen Einzelheiten die Schlacht zu erzählen, die letztendlich zu seinem Tod führt, beschränkt der König sich dieses Mal darauf, allein seine Ermordung in dem Fluss zu schildern. Dabei holt er sich die Meinung seiner Zuhörer Cristino und Eugenia ein („¿Qué os parece? “). Anstatt jedoch auf den unerhörten Inhalt der Erzählung (die brutale Ermordung des Königs) oder deren paradoxen Charakter (Erzählung des eigenen Todes) einzugehen, bewerten beide die Art und Weise zu erzählen. 516 Der König lässt sich auf die Kritik ein und bedauert, dass es ihm nicht mehr gelingt, Begeisterung für seine Geschichte auszulösen. Die Bewertung des Inhalts ist dabei widersprüchlich - für Cristino entbehrt sie einfach jeglichen Interesses, für den König ist sie ‚schön‘ und sekundär. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die actio der dramatischen Textteile in La otra casa de Mazón allein in einem verbalen Schlagabtausch, in einem ewigen, inhaltlich diskontinuierlichen Dialog erschöpft, der jeglicher tatsächlichen Handlung entbehrt. Die escenas versuchen oberflächlich einem nach Einheit strebenden und nach aristotelischen Vorgaben operierenden Drama nahe zu kommen. Dabei wird jedoch sehr schnell deutlich, dass die einzige Einheit, die tatsächlich gegeben ist, die des Ortes, des Innenraums der otra casa ist. Aus den narrativen Textabschnitten war das Haus 516 Hier kommt es zu einer ähnlichen Situation wie bei der Erzählung des testigo presencial in Herrumbrosas lanzas, bei der sich das kritische Publikum auch nicht einfach so mit der ausschweifenden Erzählweise abfinden will. <?page no="228"?> 228 bereits als die einzige Kontinuität in einer vollkommen kontingenten Familien- und Geschichtskonzeption hervorgegangen. In den escenas ist der Innenraum des Hauses die Bühne, auf der auf ähnlich kontingente Art und Weise Historie verhandelt wird: indem Cristino ein anachronistisches und funktionslos gewordenes Patriarchat und eine entsprechende Klassengesellschaft aufrecht erhalten will, indem der König verschiedene traumatische Kriegsereignisse der spanischen Geschichte in dem Paradoxon der Erzählung des eigenen Todes verhandelt und damit eigentlich die Unmöglichkeit einer tatsächlichen Zeugenschaft postuliert und indem Cristino von seiner eigenen Familie und Geschichte, verkörpert durch jene „figuras borrosas, semidesnudas y ininteligibles“, eingeholt wird. Die Bühne dient hier also nicht Möglichkeitsraum der Performanz und Schauplatz einer Handlung - wobei man bei La otra casa de Mazón berechtigterweise die Frage stellen kann, inwiefern die dramatischen Teile überhaupt für eine Aufführung gedacht waren. Die Bühne ist vielmehr der Ort, an dem Narration und Dialog 517 , Vergangenheit und Gegenwart, Historisches und Ahistorisches ineinander übergehen und sich untrennbar miteinander verweben. Ist die Bühne normalerweise das Medium der Präsenz, so ist sie hier durch die Abwesenheit von Handlung und die unausweichliche Anwesenheit des Historischen geprägt. Somit kann Molinaro nur mit Einschränkungen zugestimmt werden: Significantly the dramatic sections belie any illusions of theater: although the text features stage directions, dramatic dialogue and scenic divisions, there is absolutely no sense of either drama or spectacle. One might make a case for representation in its most abstract sense, that is representation conceived as that invisible lens or filter that marks the iterability of an event. More likely in La otra casa de Mazón dramatic conventions are purposefully stripped of their efficacy. What Benet takes from the genre is its immediacy, or the chimera of immediacy, and its orality, as contrasted with the pronounced scriptivity of the prose segments. 518 Selbstverständlich ist dies kein Illusionstheater und selbstverständlich werden hier „dramatic conventions“ im Sinne eines inhaltsleeren Gerüsts verwendet. Geht man jedoch davon aus, dass hier das Theatrale auf die Funktionen „chimera of immediacy“ und „orality“ reduziert wird, so ist doch 517 Auch der stets als Roman rezipierte Text Volverás a Región ist streng genommen auf weiten Strecken ein ins Extreme getriebener Dialog zwischen den Figuren Marré und Doctor Sebastián. Nur sind die einzelnen Redeanteile so lang und die Frequenz des Sprecherwechsels so niedrig, dass für den Leser die Unterscheidung zwischen intradiegetischer Figurenrede und Erzählung eines extradiegetischen Erzählers fast nicht bemerkbar ist und somit hinfällig wird. So geht die szenische Darstellung durch Dialog in Erzählung über. Die Erzählung des Königs von der Schlacht am Fluss tendiert in eine ähnliche Richtung, auch wenn sie selbstverständlich sehr viel kürzer ist. Trotzdem ist sie aufgrund ihrer Länge in dem Dramentext auffällig. 518 Molinaro: „Other Knowledge“, S. 123. <?page no="229"?> 229 gerade interessant, dass in der Unmittelbarkeit des Dialogs und der szenischen Darstellung und im Rahmen des beschränkten Innenraums des Hauses keine Handlung entstehen kann und durch das Aufeinandertreffen verschiedener Figurenreden dieselben Problemfelder (soziale Stellung durch genealogische Legitimierung, Geschichte und Erzählung) verhandelt werden, wie in den narrativen Textteilen. Das Theatrale wird auf seine dialogische, verbale Funktion reduziert und konzentriert. Das, was hier zur Aufführung kommt, ist die Sprachhandlung selbst. Zu unterstreichen ist, dass die narrativen und die dramatischen Teile von La otra casa de Mazón nicht dieselbe ‚Handlung‘ entsprechend der unterschiedlichen Gattungskonventionen darstellen. Die erzählenden Kapitel liefern mit einer Art ‚Vorgeschichte‘ den Hintergrund zum gegenwärtigen Geschehen der dramatischen escenas. Worin die beiden Elemente des ‚Gattungs-Hybrids‘ sich treffen, ist das Verhandeln derselben Problematik von Geschichte, Genealogie und Erzählen mit jeweils unterschiedlichen Mitteln. IV.2.2 Das Spiel im Spiel Bei all den unterschiedlichen und schwer differenzierbaren Figuren, die in den escenas auftreten, ist das Würfelspiel eine der wenigen Konstanten, die einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen den Szenen garantiert. 519 Das Spiel beginnt in der ersten escena, indem der Patriarch Cristino Mazón relativ unvermittelt die partida einbringt: EUGENIA FERNÁNDEZ: Yo no he sabido nunca lo que es la educación. CRISTINO MAZÓN: Pero sí sabes lo que es ser hombre. EUGENIA FERNÁNDEZ: Tampoco. CRISTINO MAZÓN: ¿Cuándo vas a terminar con eso? Ya tengo ganas de echar la partida. Cristino Mazón coge el tablero de un rincón y lo coloca encima de la mesa, junto a los montones de lentejas. EUGENIA FERNÁNDEZ: La ribera del Torce, la misa de San Sicario. ¿Se acabará alguna vez esta puerca vida? CRISTINO MAZÓN: Ya verás qué pronto. Cuando menos lo pienses. Estoy casi seguro de que no llegas a la próxima primavera. EUGENIA FERNÁNDEZ: La próxima primavera... A los pies de los caballos, como quien dice. CRISTINO MAZÓN: Anda, tira. Deja las evocaciones para otro momento. Tira, mujer, que me impaciento. 519 Bis auf die escena III taucht das Spiel in allen Szenen auf. <?page no="230"?> 230 EUGENIA FERNÁNDEZ: La primavera de leche. ¿Qué hará usted cuando yo falte? (S. 44f.) Cristinos Bekundung, jetzt endlich mit dem Würfelspiel beginnen zu wollen, kommt unvermittelt, da bis dahin weder von dem tablero noch von der partida selbst die Rede war. Damit reiht sich die Rede vom Würfelspiel in den oben beschriebenen Duktus des das Drama bestimmenden Dialogs ein: Nichts in dem Dialog zwischen Eugenia und Cristino dient der Hinführung zum Glücksspiel und auch unmittelbar nachdem Cristino den tablero herangeholt hat, wird nicht direkt darauf eingegangen. Stattdessen beklagt sich Eugenia über ihr miserables Leben. Auch als Cristino sie ungeduldig auffordert zu würfeln, sinniert sie weiterhin darüber, was aus dem Patriarchen werden wird, falls sie eines Tages nicht mehr sein sollte. Das beharrliche Ignorieren des Spiels auf Seiten Eugenias weicht jedoch im weiteren Verlauf des Dialogs immer mehr einem verbalen Insistieren auf demselben, was anhand eines längeren Zitats gezeigt wird. So fährt die Szene folgendermaßen fort: CRISTINO MAZÓN: Te echaré de menos, no lo dudes. Anda, tira. Tendré que jugar solo. Todas las tardes, al llegar esta hora, me diré: “La vieja Eugenia descansa bajo tierra. Bien mirado, no valía para otra cosa”. EUGENIA FERNÁNDEZ: Se acerca el fin, es verdad. CRISTINO MAZÓN: ¿El fin? El fin... el fin. Pero ¿qué fin? ¿Por qué quieres angustiarme? ¿Qué pretendes, qué andas buscando? […] EUGENIA FERNÁNDEZ: ¿El qué? CRISTINO MAZÓN: ¡Si pudiera responder! Si al menos hubiera otra palabra, además del fin, con un sentido oculto. Juega Eugenia, te permito que eches la primera. EUGENIA FERNÁNDEZ: Voy a llamar a Yosen. CRISTINO MAZÓN: Déjale. ¿Oyes? ¿Qué ha sido eso? EUGENIA FERNÁNDEZ: Un tres. CRISTINO MAZÓN: Me refiero al ruido bastante lejos. EUGENIA FERNÁNDEZ: Más allá de El Salvador. En la paramera. CRISTINO MAZÓN: Los errores de ayer. Las culpas deben ser del prójimo. EUGENIA FERNÁNDEZ: Nosotros también. CRISTINO MAZÓN: ¿Tú crees que eso cuenta? EUGENIA FERNÁNDEZ: ¿El qué? <?page no="231"?> 231 CRISTINO MAZÓN: Nosotros. ¿Contamos algo? Debe haber todo un mundo en marcha que, sin embargo, no repara en nosotros. Mira esa tierra. ¿Tú crees que se ocupan de nosotros? EUGENIA FERNÁNDEZ: A veces creo que sí. CRISTINO MAZÓN: Yo creo que no. Nadie. EUGENIA FERNÁNDEZ: El fin. Es lo que digo yo: el fin. CRISTINO MAZÓN: Quizás el remedio esté en el juego. Tira, Eugenia, voy a tratar de consolarme. Es raro que cuando se va de mal en peor se desemboque en la desesperación; a la postre, lo intolerable es el alivio. Es posible que vengan esta noche. EUGENIA FERNÁNDEZ: ¡Jesús! CRISTINO MAZÓN: Tira, tira. Un dos, no vales para nada. Mírame a mí, en cambio, qué hermoso cinco. EUGENIA FERNÁNDEZ: Era un tres. CRISTINO MAZÓN: He dicho que era un cinco, y basta. ¿Desde cuándo se discuten en esta casa mis decisiones? ¿Es que también me vas a negar el consuelo de ser arbitrario en mis determinaciones? Montón de carroña, voy a tirar otra vez. EUGENIA FERNÁNDEZ: Me toca a mí. CRISTINO MAZÓN: Tiro yo. Comprenderás que no estoy hoy para concesiones a la extravagancia. Soy yo el único que se puede permitir ciertas licencias. Aún me parecen pocas si pienso en el rigor del destino. EUGENIA FERNÁNDEZ: [Cantando.] Porque el destino hace trampas como astuto jugador. CRISTINO MAZÓN: Tú te callas. Entre tú y yo hay una insalvable diferencia de clase social. Que tengamos que sufrir la misma suerte es una inconveniencia que algunas tardes me llena de repugnancia y me arrastra al borde de la desesperación. (S. 45-49) Neben die Reflexion über den menschlichen Tod im Allgemeinen und Eugenias möglicherweise baldiges Ableben im Besonderen schiebt sich Cristinos erneute Aufforderung an Eugenia, zu würfeln. Gönnerhaft überlässt er ihr den ersten Wurf („Juega Eugenia, te permito que eches la primera“), womit sich schon andeutet, dass Cristino sich in besonderer Weise als allmächtiger Spielmacher begreift. Darüber hinaus sorgt das Hereinholen des Würfelspiels auf die inhaltliche Ebene des Dialogs dafür, dass der Gesprächsgegenstand für die beiden Figuren jeweils ein anderer ist. Während Cristino nicht weiter beschriebenen Lärm von draußen wahrnimmt, bezieht sich Eugenia mit ihrer Antwort auf die Frage „¿Qué ha sido eso? “ auf die Zahl, die sie <?page no="232"?> 232 gewürfelt hat. Cristino ist sich sicher, dass ‚sie‘ sich nähern („Es posible que vengan esta noche“) und durch eben jene Geräusche angekündigt werden. Um wen oder was es sicher genau handelt, erfährt der Leser nicht. Vielmehr reiht sich diese Ahnung in die Verhandlung von existentiellen Ängsten und Problemen ein, die mit dem Schicksal (destino) oder auch dem Zufall (suerte, wobei die suerte auch als Synonym zum destino verstanden werden kann) verbunden sind. Während Eugenia sich mit dem baldigen Ende zufrieden und sich als ‚schicksalsergeben‘ gibt („El fin. Es lo que digo yo: el fin“), sucht Cristino Zuflucht im Spiel („Quizás el remedio esté en el juego“). Als Patriarch funktionslos geworden, versucht er seine Macht im Würfelspiel auszuüben, indem die Spielregeln ausgehebelt werden und dem Würfelspiel das genommen wird, was es ausmacht: der Zufall. In seiner kulturanthropologischen Untersuchung des Spiels Homo ludens 520 definiert Johan Huizinga formale Kennzeichen, um Spiele 521 sozialer Art als Kulturfunktion beschreiben zu können. Um die besonderen Eigenschaften und Funktionen des Würfelspiels und das Verhältnis zum Theaterspiel besser fassen zu können, werden im Folgenden diese Kennzeichen zusammengefasst. 522 Demnach bedeutet spielen stets frei zu handeln. Das Spiel kann nie befohlen werden, ohne seinen Spielcharakter zu verlieren. Des Weiteren ist das Spiel überflüssig und nicht zweckgebunden. Es kann jederzeit unterbrochen werden oder auch vollkommen ausbleiben, ohne dass dies Konsequenzen hätte. 523 Mit dem Spiel tritt der Mensch zeitweilig aus seinem gewöhnlichen und alltäglichen Leben heraus und befindet sich in einer anderen Sphäre. Trotz dieses ständigen ‚Als-Ob‘-Charakters bleibt der Gegensatz zwischen Ernst und Spiel in der Schwebe: „Die Minderwertigkeit des Spiels hat ihre Grenze im Mehrwert des Ernsts. Das Spiel schlägt in Ernst um und der Ernst in Spiel.“ 524 Besteht das ‚ernste‘, alltägliche Leben in „der unmittelbaren Befriedigung von Notwendigkeiten und Begierden“, so stellt das Spiel eine Unterbrechung jenes Prozesses dar, die von unterschiedlicher Dauer sein kann. Als Unterbrechung des Alltäglichen ist das Spiel jedoch zeitlich und räumlich begrenzt und in sich abgeschlossen. Es hat einen Anfang und ein Ende und kann damit sowohl zeitlich als auch räumlich deut- 520 Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2004. 521 Dabei fallen sowohl das Theaterspiel, also das Drama in La otra casa de Mazón, als auch das Würfelspiel unter die Kategorie ‚Spiel‘, wie Huizinga sie versteht: „Wir werden von Wettkampf und Wettlauf, von Schaustellungen und Aufführungen, von Tänzen und Musik, von Maskerade und Turnier zu reden haben.“ (ebd., S. 16) 522 Ich beziehe mich dabei auf ebd., S. 16-22. 523 Mögliche Verpflichtungen kommen erst auf einer zweiten Ebene hinzu: „Erst sekundär, dadurch, daß es [das Spiel] Kulturfunktion wird, treten die Begriffe Müssen, Aufgabe und Pflicht mit ihm in Verbindung.“ (ebd., S. 16) 524 Ebd., S. 17. <?page no="233"?> 233 lich vom gewöhnlichen ‚Realen‘ unterschieden werden. Seine zeitliche Dimension erschöpft sich des Weiteren in der Wiederholbarkeit, während die räumliche Begrenzung auf bestimmte Spielplätze, wie zum Beispiel eine Arena, eine Bühne oder einen Spieltisch, bezogen ist. Somit werden durch das Spiel „zeitweilige Welten innerhalb der gewöhnlichen Welt“ 525 erschaffen. Ein weiteres wichtiges Merkmal ist nach Huizinga die Dynamik von Spannung und Entspannung, die den spielenden Menschen herausfordert und auf die Probe stellt. „Im Würfelspiel und im sportlichen Wettkampf ist es [das Element der Spannung] auf das Höchste gestiegen.“ Fähigkeiten wie zum Beispiel Kraft, Ausdauer und Geduld des Spielers werden so ausgetestet. Nicht zuletzt sind die Spielregeln von essentieller Bedeutung. Jedes Spiel hat zur Gewährleistung der von ihm aufgestellten Ordnung und Welt Spielregeln, die unerschütterlich sind: Gegenüber den Regeln eines Spiels ist kein Skeptizismus möglich. […] Sobald die Regeln übertreten werden, stürzt die Spielwelt zusammen. Dann ist es aus mit dem Spiel. 526 Der Spielverderber, der die Regeln übertritt, nimmt dem Spiel mit der Illusion seine Grundlage und zerstört es damit. Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel also zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als ‚nicht so gemeint‘ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders von der gewöhnlichen Welt abheben. 527 Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach dem Charakter des Würfelspiels bereits nach dessen erster Erwähnung in der ersten escena legitim. Für Eugenia ist das Spiel keine freie Handlung. Ihr wird in ihrer Rolle als Haushälterin ‚niedriger Klasse‘ vom Patriarchen Cristino regelrecht befohlen, zu würfeln. Demnach lässt sich auch annehmen, das Spiel habe zumindest für Cristino eine Funktion außerhalb seiner selbst, wobei noch nicht klar wird, was diese Funktion sein könnte. Die Tatsache, dass er ungeduldig auf den Spielbeginn drängt, und die oben beschriebene Verwebung von existentiellen Ängsten der Figuren mit dem Charakter des Würfelspiels und seines Verlaufs legen diese Vermutung jedoch nahe. Auch die Entstehung der ‚zeitweiligen Welt‘, einer Spiel-Sphäre, die sich dem Alltag der Figuren entzieht, ist fragwürdig. Da die Figuren, wie so oft bei Benet, im wahrsten Sinne des 525 Ebd., S. 19. 526 Ebd., S. 20. 527 Ebd., S. 22. <?page no="234"?> 234 Wortes aneinander vorbeireden, werden im selben Gespräch Spielinhalt und Alltagswelt verhandelt, ohne dass die Figuren in den speziellen Modus des ‚Als-ob‘ gerieten. Somit ist das Würfelspiel zwar räumlich durch den tablero von der sonstigen Bühne des Dramas abgegrenzt, eine eindeutige zeitliche Differenzierung lässt sich jedoch nicht ausmachen. Damit stellt sich die Frage, ob das Spiel auch einfach ausgesetzt und jederzeit wieder aufgenommen werden kann, wie bei Huizinga beschrieben. Zwar ist der Zeitpunkt des Spieles klar, die ausbleibende zeitliche Abgrenzung vom Alltag der Figuren verschiebt jedoch das mögliche Ende des Würfelspiels in ungreifbare Ferne. Denn was passiert mit dem ‚echten‘ Leben, sollten sie aufhören zu würfeln? Des Weiteren sind auch die Spielregeln und damit das Spannungspotential fragwürdig. Cristino behauptet eine Fünf gewürfelt zu haben, während Eugenia angeblich eine Drei gesehen hat. Auch als Eugenia für sich reklamiert, an der Reihe zu sein, bestimmt Cristino, dass er selbst wieder würfeln wird. Die ‚Regeln’ sind also vollkommen der Willkür Cristinos untergeordnet: ¿Desde cuándo se discuten en esta casa mis decisiones? ¿Es que también me vas a negar el consuelo de ser arbitrario en mis determinaciones? Montón de carroña, voy a tirar otra vez. (S. 48) Es findet eine vollkommene Vermengung von Spielwelt und Lebenswelt der Figuren statt - vor diesem Hintergrund rechtfertigt Cristino sein eigentlich illegitimes Eingreifen in den Spielablauf: Er ist Schiedsrichter seiner eigenen Entscheidungen und will weder die suerte im Spiel noch die suerte seines eigenen Lebens aus der Hand geben. Als anachronistischer Patriarch hat er seine soziale Funktion verloren und versucht nun, die ihm entgleitende Macht im Spiel auszuüben. Es bleibt jedoch bei einem Versuch, weswegen er im Sinne Huizingas auch nicht als Spielverderber gelten kann, der mit seinen eigenen Regeln ein eigenes Spiel etabliert. Die Zahlen sind nicht durch das Glück im Würfelspiel bedingt, sondern werden genannt und somit bestimmt. Hinzu kommt, dass unklar ist, worauf es Cristino ankommt: Ist nur die Fünf eine ‚gute‘ Zahl? Soll eine möglichst hohe Zahl gewürfelt werden? 528 Dem Spiel wird somit genau das Element entzogen, das für Spannung und Entspannung sorgen könnte: die Ungewissheit über die Anzahl 528 Erst später, in der zweiten escena, werden auch Spielsteine, fichas, erwähnt (S. 91). Möglicherweise handelt es sich um parchís oder ein anderes Brettspiel. In der Textstelle findet ebenfalls eine eigenwillige Vermengung von Spielwelt und Lebenswelt der Figuren statt. Cristino behauptet dort, die Tatsache, dass Eugenia rote Spielsteine hat, spräche dafür, dass sie „sangre agarena“, also muslimisches Blut in sich trage. Daraufhin verteidigt sich Eugenia: „Vaya usted a saber. Soy tan vieja que apenas debo llevar sangre, mora o cristiana. La poca que tengo me la consumen por las noches.“ An den ‚evidenten‘ Spielsteinen wird also noch auf komisierende Art und Weise das sehr alte spanische Phantasma der limpieza de sangre in direktem Anschluss an den Schlachtbericht des Königs verhandelt. Wie sich im Folgenden zeigen wird, geht es im weiteren <?page no="235"?> 235 der Würfelaugen, die nach jedem Wurf oben liegt. Das Würfelspiel bietet kein Potential mehr für eine individuelle, spielerische Entäußerung. Stattdessen überträgt Cristino die ihm im eigenen Leben entglittene Selbstbestimmung auf den Ausgang des Spiels. Er kämpft so gegen den „rigor del destino“, dem er in seiner Lebenswelt nichts entgegenzusetzen weiß. Eugenia weist währenddessen durch ihren Gesang („Porque el destino hace trampas como astuto jugador“) auf einen weiteren Aspekt hin. Sie singt einen Vers aus der Zarzuela La llama (1918) des spanischen Modernisten Gregorio Martínez Sierra und spielt darauf an, dass das Schicksal sich selbst wie ein gewitzter Spieler verhält, dass es sich nicht in die Karten blicken lässt und unvorhersehbare Spielzüge (im Leben der Figuren, insbesondere zweier Liebenden wie in La llama) bereithält. Damit wird die Auffassung, das Leben selbst sei ein Spiel, in dessen Verlauf die Figuren jedoch nur schwerlich eingreifen können, verstärkt. Diese behelfen sich dann mit der Erklärung, jemand spiele falsch 529 („hace trampas“), um nicht die eigene Hilflosigkeit zuzugeben. Auch Cristino beschuldigt Eugenia, im Spiel zu betrügen: EUGENIA FERNÁNDEZ: Y la gente se aprovecha de todo. CRISTINO MAZÓN: ¡La gente! Hasta los muertos. EUGENIA FERNÁNDEZ: La sombra de Satanás, otro cuatro. Como siga así, voy a terminar la partida en la caja muerta. Entre flores. CRISTINO MAZÓN: Tal vez, haciendo trampas. Es lo único que sabéis hacer los de vuestra clase. EUGENIA FERNÁNDEZ: ¿Los muertos? CRISTINO MAZÓN: Eso es. ¿Has dicho los muertos? (S. 50f.) Anscheinend würfelt Eugenia wiederholt eine Vier, was von den Figuren als Erfolg gewertet wird, sonst hätte Cristino keinen Grund, ihr Mogelei („haciendo trampas“) vorzuwerfen. Gleichzeitig wird das mögliche Ende des Spiels („terminar la partida“) von Eugenia mit dem Tod assoziiert („en la caja muerta“), was für die oben postulierte unlösbare Verquickung von Spiel und Leben der Figuren spricht: Ist das Spiel einmal begonnen, ist sein Fortgang von existentieller Bedeutung. Wird es ausgesetzt, oder findet es ein Ende, ist auch ein Fortleben der Figuren fraglich. Diese Interpretation, sprich die enge Verknüpfung von Spielverlauf und Schicksal der Figuren, bleibt Text jedoch vor allen Dingen um das Würfeln und die Spielsteine bleiben im Hintergrund. 529 Bei Huizinga ist die Unterscheidung zwischen Falschspieler und Spielverderber essentiell. Während der Falschspieler die Illusion des Spieles aufrecht erhält und so tut, als spiele er mit, durchbricht der Spielverderber die Spielwelt und zerstört sie: „Dadurch, daß er sich dem Spiel entzieht, enthüllt er die Relativität und die Sprödigkeit der Spielwelt, in dem Spiel die Illusion, die inlusio, buchstäblich: die Einspielung […].“ (Huizinga, S. 20) <?page no="236"?> 236 auch unabhängig von möglichen Ironiesignalen und Sprachkomik im Text bestehen. Auch die Tatsache, dass Cristino das angebliche Mogeln Eugenias als Symptom ihrer Zugehörigkeit zu einer in seinen Augen niedrigen sozialen Klasse versteht, bestätigt die unwiderrufliche Verflechtung von Spiel und Leben der Figuren. Dementsprechend verärgert es Cristino, als Eugenia ihn auf harmlose Art und Weise dazu auffordert, zu würfeln: CRISTINO MAZÓN: […] Algunas veces me pregunto si no serás completamente idiota, Eugenia. EUGENIA FERNÁNDEZ: También me lo pregunto yo. Tire usted de una vez. CRISTINO MAZÓN: Tiraré cuando me dé la gana. No tengo ninguna prisa. Ante todo, calma, mucha calma. Tenemos que proceder con orden. ¡Hay tanto que hacer! EUGENIA FERNÁNDEZ: Yo no veo que haya mucho que hacer. Esperar, todo lo más. (S. 53) Anscheinend ist Cristino an der Reihe zu würfeln, duldet es jedoch nicht, dass seine Haushälterin ihn daran erinnert, das Spiel fortzusetzen. Mit der Feststellung „Tenemos que proceder con orden“ fordert er letztendlich nur dasselbe ein wie Eugenia: den ordnungsgemäßen Fortgang des Spiels. Doch um seine Machtposition im Spiel und damit im sozialen Gefüge unangetastet zu wissen, duldet er keine Einmischung von anderen Figuren, sei sie berechtigt oder nicht. Der Patriarch würfelt, wann immer es ihm legitim erscheint, und nicht, wenn andere ihn dazu auffordern oder es die Regeln - falls vorhanden - verlangen. Der Dialog über das ewige, sinnlose Warten 530 wird fortgesetzt: CRISTINO MAZÓN: Ni siquiera eso; ¿qué demonios podemos esperar? EUGENIA FERNÁNDEZ: El invierno, el fin. CRISTINO MAZÓN: No, no caerá esa breva, Eugenia. Nunca hemos tenido suerte, Nunca, nunca, ésa es la triste realidad. EUGENIA FERNÁNDEZ: Entonces habrá que prepararse a bien morir. CRISTINO MAZÓN: Tampoco; eso es lo último. Además, nadie muere bien. Lo sé por experiencia. A mi padre lo mató una caballería y el más afortunado de mis hermanos se habrá dado por satisfecho con una bala entre las cejas. EUGENIA FERNÁNDEZ: Entonces no se me ocurre lo que queda por hacer. CRISTINO MAZÓN: Jugar, disfrutar... hacer caso omiso de la naturaleza, volver la espalda a los sentimientos personales. Y a los impersonales también, si existen. Al parecer, el hombre empieza a extinguirse […]. (S. 54) 530 Zum Verhältnis zum absurden Theater und zu Warten auf Godot siehe die Textanalyse zu En el estado, insbesondere S. 261f dieser Arbeit. <?page no="237"?> 237 Das Spielen wird damit zum einzig möglichen Zeitvertreib, der den Figuren während des sinnlosen Wartens auf den Tod bleibt. Die suerte, dieses Mal im Sinne von ‚Glück‘, das Eintreten einer positiven Wendung, bleibt der Familie Cristinos systematisch verwehrt. Er beschreibt eine regelrechte Entmenschlichung, der nur das Spiel und der damit verbundene angebliche Genuss („disfrutar“) entgegengesetzt werden kann. Ein wirklicher Genuss des Spiels, so wie er durch die Konstituierung „zeitweiliger Welten“ nach Huizinga entstehen würde, ist jedoch weder bei Cristino noch bei Eugenia zu beobachten. Ihrem Spiel haftet etwas Krampf- und Zwanghaftes an. In der escena II wird mit dem König, el rey, eine dritte Figur in das Würfelspiel eingebunden. Das Spiel als Konstante und Movens des Dramas wird somit weiter profiliert: CRISTINO MAZÓN: […] ¿Qué tiempo hace por ahí fuera, rey? Vamos, vamos, hay que aguantar como un hombre. Levanta la cabeza. ¿A quién tocaba tirar, Eugenia? Hay que terminar la partida. EUGENIA FERNÁNDEZ: ¿Con el rey delante? CRISTINO MAZÓN: Por supuesto. ¿Acaso no representa la tradición? Las costumbres más sagradas, un pasado glorioso. Adelante, un seis. EUGENIA FERNÁNDEZ: Me tocaba a mí. Ánimo, rey, ya vendrán tiempos mejores. CRISTINO MAZÓN: ¿Por qué crees tú que van a venir tiempos mejores? Inconsciente, yo siempre espero tiempos peores, y no me equivoco. EL REY: ¿Peores? ¿Peores todavía? […] CRISTINO MAZÓN: Ánimo, te hacemos un sitio en el juego. EL REY: No estoy para juegos esta noche. CRISTINO MAZÓN: Nosotros tampoco, pero es igual. Esto más que un juego, es una fatalidad: ni siquiera un pasatiempo. Al contrario, se diría que las horas se hacen mucho más largas y penosas con el ruido insoportable de ese dado. Anímate, hombre, aquí no hay nada que ganar. Lo único que tienes que hacer es tirar el dado y maldecir el número que salga, sea cual sea. EL REY: Para eso no vale la pena jugar. Bastante rencor llevo ya dentro. CRISTINO MAZÓN: Ya de rencor nunca me harto. Por eso juego, tratando de perder. Mi desgracia es que con Eugenia no hay manera de perder. EL REY: Esta Eugenia. ¿no tenía antes más carnes? Además, ya no me acuerdo de cómo se juega. Cuando se llega tan alto como yo he llegado, resulta más fácil recordar las minucias que sobrellevar las grandes culpas. <?page no="238"?> 238 CRISTINO MAZÓN: Olvida eso: tú tira el dado, que lo demás es cosa nuestra. Incluso las trampas. Te dejamos ganar, si ése es tu antojo. EL REY: Todo lo que yo he perdido, Cris, no se puede recuperar ni con trampas. El propio Carlomagno no me sacaría del pozo. Qué bajo he caído. Estoy arruinado, tan arruinado que he llegado a padecer remordimientos. Y conciencia. Vivir para ver, Cris. CRISTINO MAZÓN: Más bien morir para ver. (S. 81ff) Indem Eugenia und Cristino den König, der im weiteren Verlauf von seinem eigenen Tod und zurückliegenden Schlachten berichten wird, in ihr Spiel einbinden, versuchen sie, ihn aufzumuntern („Ánimo“). Dies mutet fast lächerlich an, bedenkt man den Fatalismus, der ihre vorhergegangenen Dialoge bestimmt hat. Es ist auffällig, dass der König sich zunächst ziert, mitzuspielen. Er hat mehrere Einwände, warum er nicht mitspielen sollte. Cristino hingegen startet mehrere Überredungsversuche, die den König zum Mitspielen bringen sollen: Er verneint erstens den Spielcharakter des Spiels: Es sei noch nicht einmal ein Zeitvertreib, da es die Zeit gefühlt langsamer vergehen lässt. Darüber hinaus gebe es nichts zu gewinnen - man müsse nur den Würfel werfen und die Augenzahl verfluchen. Zweitens führt er an, dass man nie genug Groll in sich tragen könne, und diesen Groll könne man mit einem Spiel, bei dem man fast nur verlieren kann, pflegen. Drittens lässt er den Einwand, der König wisse nicht, wie man spielt, nicht gelten. Denn das Würfelspiel, das hauptsächlich von Cristinos Willkür geprägt ist, verlangt dem neuen Mitspieler nichts weiter ab, als den Würfel zu werfen. Somit wird hier das Bild, das in der ersten escena vom Würfelspiel entworfen wird, bestärkt: Es ist ein fatales Spiel, das kein Potential für eine positive, performative Entäußerung des Individuums außerhalb des Alltags bietet. Stattdessen pflegen die Figuren mit dem Spiel ihren Fatalismus, zelebrieren die ständige Gegenwart des Todes. Und obwohl Cristino auch durch das Spiel versucht, soziale Gefälle zu festigen, ist es doch auffällig, dass sich im Spiel auf gewisse Weise alle Teilnehmer auf einer Ebene befinden. Denn als der König versucht, sich als tragischen Helden mit entsprechender Fallhöhe zu stilisieren („Cuando se llega tan alto como yo he llegado […]“), rät Cristino all dies zu vergessen und sich ganz und gedankenlos dem Spiel hinzugeben („Olvida eso […]“). Das Tragische hat keine Funktion in diesem Spiel. Dabei ist es außerdem einerlei, ob man gewinnt oder verliert. Nach wie vor erschließt sich das Ziel des Spiels nicht, es bietet keinen Spannungsbogen. Einige Wortwechsel weiter hat der König dann auch alle Einwände vergessen und ist gleichberechtigter Teilnehmer sowohl des Gesprächs als auch des Spiels geworden: CRISTINO MAZÓN: ¿Has venido solo? EL REY: Solo, ciego de enojo, buscando el camino a tientas. <?page no="239"?> 239 CRISTINO MAZÓN: ¿No te ha seguido nadie? EL REY: Pero ¿quién quieres que siga a los reyes ahora? ¿Qué es eso que he sacado? ¿Acaso un cinco? CRISTINO MAZÓN: Es un cuatro. (S. 84) Die geworfenen Würfelaugen stehen mehr oder weniger zur Diskussion, zumindest besteht wie auch zuvor zunächst Unklarheit darüber, was geworfen wurde. Beim Leser bzw. Zuschauer entsteht so der Eindruck der absoluten Unzuverlässigkeit der Figurenrede und die Willkür dieses Würfelspiels lässt den eigentlichen Charakter eines Glücksspiels, dessen Ausgang von den Spielteilnehmern nicht beeinflusst werden kann, vollkommen in den Hintergrund treten. Eine weitere Dimension des Würfelspiels wird zu Beginn der vierten Szene angesprochen. Der König betritt zunächst alleine die Bühne, setzt sich an das Spielbrett und wirft immer wieder den Würfel. Erst später treten die anderen Figuren hinzu. EL REY: El número, la ley, qué cosas extrañas. Incluso la ley de los grandes números, por citar una. Y que el hombre persista en creer en la influencia del individuo. Que todavía actúe la fuerza que rige nuestros actos. Que todavía haya fe. Un cuatro. Que la raza humana siga creyendo en un orden dirigido por la razón; que no se hayan echado ya, a estas alturas, al caos y el atropello, es extraño. Y ahora un cinco. ¿No sería más juicioso encomendarse al azar donde todo capricho tendría un sentido? Entra CRISTINO MAZÓN. EL REY: Dime, Cristino, ¿este juego es de azar? CRISTINO MAZÓN: No lo sé de cierto. EL REY: Ya nunca he entendido demasiado bien lo que quiere decir esa palabra. CRISTINO MAZÓN: ¿Cuál? EL REY: El azar. CRISTINO MAZÓN: Tú eras un predestinado y no te estaba permitido saberlo. Pero después de tantos años podías haberlo aprendido. De otra forma nunca sabrás lo que es vivir. EL REY: Así es, nunca lo sabré. Pero en mi tiempo el azar apenas tenía importancia, no pasaba de ser una mera curiosidad. CRISTINO MAZÓN: Y así os fue. EL REY: No tan mal, créeme. Todo estaba tan determinado por las faltas y las culpas, que todo el mundo acababa condenado. Era hermoso, au fond. No había tanta mixtificación como ahora. Mira, Cris, qué día de invierno: el aire <?page no="240"?> 240 está tan claro que se distinguen desde aquí los caminos de la Sierra. Cómo brillan, es la pizarra. Y el monje con su penacho blanco, ¿qué más se puede pedir? CRISTINO MAZÓN: ¿De qué color está el Monje? EL REY: Plateado. CRISTINO MAZÓN: ¿Y el cielo? EL REY: Azul. CRISTINO MAZÓN: ¿Qué clase de azul? EL REY: Azul... turquesa. CRISTINO MAZÓN: Imposible, no puede ser. EL REY: Algo tenía que decir. Perdón ¿cuántas clases de azul hay? CRISTINO MAZÓN: Azul cielo, azul celeste y azulete. EL REY: Me parece que está azulete. CRISTINO MAZÓN: [Tirando el dado.] También imposible: los números dicen que está más claro. EL REY: Los números que digan lo que quieran: yo me fío de la vista. CRISTINO MAZÓN: Haces mal. La vista sólo dice lo que ve. Yo me fío de los números, todo lo demás es superchería. Y los números anuncian una desgracia terrible con tiempo despejado. […] (S. 155-158) Die Szene beginnt mit einer Reflexion des Königs, in welcher er mehrere Elemente miteinander verknüpft: die Tatsache, dass in einem Würfelspiel die Zahlen entscheiden, der rationale Charakter, der allen Zahlen und der Mathematik - berechtigterweise oder nicht - anhaftet, der Vernunftglaube der Menschen und der Zufall, der diesem Vernunftglauben diametral entgegensteht. Erst im Anschluss an diese Verkettung stellt der König sich und dem auftretenden Cristino die Frage, ob das Würfelspiel auch auf dem Zufall basiere. In dem sich daraufhin entspinnenden Dialog wird deutlich, dass die Figur des Königs aus einer vormodernen Zeit stammt, in welcher Sinn- und Deutungszusammenhänge durch ein religiöses Weltbild unzweifelhaft gegeben waren („Todo estaba tan determinado por las faltas y las culpas, que todo el mundo acababa condenado. […] No había tanta mixtificación como ahora.“). Der azar jedoch, der Zufall und die Kontingenz der Existenz, sind Merkmale der modernen Welt, an die sich der König noch nicht richtig angepasst zu haben scheint. Somit wird jedoch auch offenbar, dass die Unterscheidung jener vormodernen und der modernen Welt nicht in der Existenz des Zufalls, sondern in der offiziellen Anerkennung der Existenz des Zufalls besteht („Tú eras un predestinado y no te estaba permitido saberlo.“). Das <?page no="241"?> 241 Würfelspiel wird somit immer mehr zu Dreh- und Angelpunkt einer epistemologischen und existentialistischen Diskussion: Nicht nur geht es darum was die jeweiligen Eckpfeiler eines Welt- und Wissensmodells sind, sondern auch darum, was die menschliche Existenz bestimmt: Ist sie predestinada oder wird sie durch und durch vom azar bestimmt? Und falls letzteres zutrifft: Welche Rolle kommt dann dem menschlichen Individuum selbst zu? Auch Cristino, der dem König zu deutlich vor Augen hält, dass er aus einer anderen Zeit stammt und deswegen gar nicht wissen kann, was der Zufall ist, kann auch nicht eindeutig festhalten, ob das Spiel, dessen er sich bedient, um ein Mindestmaß an Selbstbestimmung aufrecht zu erhalten, auf dem Zufall beruht oder nicht. Die intensive Funktionalisierung des Würfelspiels wird im weiteren Verlauf des Dialogs zwischen Cristino und dem König noch zugespitzt. Sie unterhalten sich über die Farbe des Himmels, den der König durch das Fenster sieht. Cristino hält ihn dazu an, ein treffenderes Farbadjektiv als azul für die Beschreibung zu verwenden. Als der König den Himmel mit „turquesa“ beschreibt, widerspricht ihm der Patriarch vehement, um ihm gleichsam den engen Rahmen von nur drei ‚gültigen‘ Adjektiven vorzugeben. Dem König werden also mit der Aufforderung, präziser zu sein, gleichzeitig die Beschreibungsmöglichkeiten extrem eingeschränkt. Noch dazu sind die semantischen Unterschiede zwischen zwei der möglichen Adjektive „azul cielo“ und „azul celeste“ nicht vorhanden, während der dritte ‚Farbton‘ „azulete“ genaugenommen gar keine Farbe ist, sondern vielmehr ein Farbstoff (Indigo), den man früher in geringen Mengen der Kleidung beim Waschen hinzufügte. 531 Dieser sollte jedoch nicht färben, sondern sorgte eher für ein strahlendes Weiß mit einem leichten blauen Schimmer. Anstatt dem König also funktionale Adjektive an die Hand zu geben, um diesem die intersubjektive Vermittlung des Gesehenen zu erleichtern, begibt sich Cristino in eine terminologische Bredouille. Noch dazu gibt er sich mit der kontingenten Antwort des offensichtlich mit der Aufgabe überforderten Königs nicht zufrieden. Anstatt auf dessen Urteil zu vertrauen, lässt er sich von den Würfeln, die ja im die Szene eröffnenden Monolog des Königs bereits mit dem Rationalen der Zahlen assoziiert wurden, die Farbe des Himmels ‚anzeigen‘: „También imposible: los números dicen que está más claro.“ Doch auch dieser erneute Beschreibungsversuch läuft ins Lächerliche. Denn welches Blau könnte noch heller sein als die bloße Andeutung des Blau, als azulete? Am Ende des zitierten Textabschnitts steht Position gegen Position: Während der König sich auf das, was er sieht und damit auf die Empirie verlässt, setzt Cristino in der Illusion einer ‚Vernunftsentscheidung‘ auf die Zahlen des Würfels und überlässt damit die Beurteilung seiner Außenwelt dem Zufall. Indem er auf das Rationale setzt, setzt seine eigene Urteilskraft 531 Vgl. den Eintrag im DRAE zu azulete: „‘Viso de color azul que se daba a las medias de seda blanca y a otras prendas de vestir.’“ <?page no="242"?> 242 aus. Doch auch die Position des Königs ist nicht glaubhaft, da er sich nicht auf seine eigene Beobachtung verlässt, sondern sich von der völlig haltlosen Argumentation Cristinos leiten lässt. Am Ende der vierten Szene kommt das Spiel erneut zur Sprache. Cristino, Eugenia und der König unterhalten sich über Geräusche, die sie in den Räumen über sich hören, aber niemandem konkret zuordnen können. Dabei handelt es sich vor allen Dingen um Schritte und Papierrascheln. Die Geräusche werden als bedrohlich wahrgenommen. CRISTINO MAZÓN: Ahora baja las escaleras. De prisa, Eugenia, saca el tablero. Vamos, rey, a jugar. Éste es el momento. Que al menos nos sorprenda deleitándonos despreocupadamente en el juego. ¿A qué esperas, Eugenia, no me has oído? Hay que dar impresión de tranquilidad, que no crea que nos turba su viaje. Hay que disimular. Vamos, vamos, venga el dado, un cinco. Y otro para ti, Eugenia, hoy voy a permitirte ciertas cosas. A veces me recuerdas la Eugenia de antes. EUGENIA FERNÁNDEZ: ¿La de cuándo? CRISTINO MAZÓN: Es igual. Tira. Y otro cinco para el rey. Ya tengo tres fichas fuera. Un seis. Adelante. EUGENIA FERNÁNDEZ: Ahí viene. CRISTINO MAZÓN: Tú juega, no hagas caso del resto. EUGENIA FERNÁNDEZ: Ahí viene. CRISTINO MAZÓN: Hay que embriagarse con el juego. Hasta perder los sentidos. Otro seis. En verdad que el juego pierde al hombre. EL REY: Mi voluntad se adormece. ¿Eso qué es? CRISTINO MAZÓN: Un uno. EL REY: Eso es, cuando es un uno, para el rey. EUGENIA FERNÁNDEZ: Ahí está. CRISTINO MAZÓN: No contestéis si pregunta algo. Arrimaos más. Más cerca. Todos bien juntos. Así muy juntos y unidos. Tú hazte sorda. EUGENIA FERNÁNDEZ: ¿Cómo quiere que me haga la sorda? Usted no está en su sano juicio. CRISTINO MAZÓN: Entonces, hazte la dormida. EUGENIA FERNÁNDEZ: Si me hago la dormida, me duermo. Yo no sirvo para eso. CRISTINO MAZÓN: ¡La bajeza de tu cuna! Silencio todos. Al juego. Un uno, rey. (S. 187f.) <?page no="243"?> 243 Die Schritte scheinen sich die Treppe hinab zu bewegen. In der Erwartung, dass in jedem Moment eine Figur die Bühne betreten kann, ist es Cristino ein sehr dringliches Anliegen, dem ‚Feind‘ nicht den Anschein zu geben, man unterhalte sich sorgenvoll über die Situation. Der erneute Griff zum Spielbrett wurzelt in dieser diffusen Angst des Patriarchen. Er möchte nach außen ruhig und in das Spiel vertieft wirken. Das Würfelspiel wird hier also zu einer Art Ablenkungsmanöver, das eine unspezifische Bedrohung von außen wenn nicht abhalten, dann zumindest abschwächen soll. Somit entsteht auch in dieser Situation das Spiel nicht in einer ungezwungenen, sich selbst genügenden Atmosphäre. Das Spiel wird zur Abwehr realer oder eingebildeter Gefahren in der Alltagswelt der Figuren instrumentalisiert. Somit ist auch der ‚Als-ob-Modus‘, den Cristino seinen beiden Mitspielern abverlangt („Hay que disimular“), ein auferlegter. Das Spiel soll eine Gemeinschaft der Spielenden bilden, die eng beieinander der Bedrohung von außen standhalten können („Arrimaos más. Más cerca. Todos bien juntos. Así muy juntos y unidos.“). Dabei liest sich das Spiel und seine räumliche Begrenzung durch das Spielbrett, auf welchem sich die Spielsteine befinden, als Spiegelung nicht nur der casa, welche als ewiger Innenraum den einzigen Schauplatz des Dramas darstellt, sondern auch der Bühne selbst, auf welcher sich das Drama abspielt. Es wird einerseits versucht, die Grenzen zur ‚realen‘ Welt außerhalb des Spiels als Schutzfunktion aufrecht zu erhalten und zu festigen, andererseits ist das Würfelspiel in La otra casa de Mazón von Beginn an von der undifferenzierbaren Verquickung von Spiel und Alltagswelt geprägt. Dabei stellt die Bedrohung von außen genauso wie das Spiel selbst eine der wenigen kontinuierlichen Elemente des Textes dar. So wird auch die fünfte und letzte escena mit dem Spiel eröffnet und knüpft somit direkt an das Ende der eben beschriebenen vierten Szene an: CRISTINO MAZÓN: Un seis, la partida toca a su fin. EL REY: Volved a empezar, soñad un poco, dijo el poeta. CRISTINO MAZÓN: Eso no lo dijo el poeta. Arrimaos un poco más. ¿Tú crees que se atreverá a emplear armas? (S. 205) Wer genau die Figuren bedroht, erschließt sich dem Leser zu keinem Zeitpunkt. Darüber hinaus wird auch ein tatsächliches Ende einer partida nie geschildert. Auch wenn es sich über den Dramenverlauf hinweg möglicherweise um mehrere verschiedene Runden handelt, so spielt das Spielende nie eine Rolle. Stets geht es darum, zu würfeln und die unterschiedlichen Funktionen des Würfelspiels auszuloten. Das Spiel in seinem Verlauf, in seiner Ausführung und als Prozess rückt damit in den Vordergrund. <?page no="244"?> 244 IV.2.3 Zusammenfassung In dem ‚Gattungs-Hybrid‘ La otra casa de Mazón werden mit den Erzähl- und den Dramenabschnitten des Textes nicht nur zwei Gattungen direkt miteinander konfrontiert, sondern mit ihnen auch zwei unterschiedliche Textfunktionen und zwei unterschiedliche Arten der metapoetischen Selbstreflexion. Die narrativen Teile zeigen durch ihre unmittelbare Anlehnung an die Antike 532 und durch die analysierten inhaltlichen Elemente, dass Geschichte sich nie im Faktualen erschöpfen kann. Denn sobald es zur Tradierung und Narrativierung der Fakten kommt, um diese überhaupt rezipierbar zu machen, unterliegen sie auch einer Fiktionalisierung. Ein möglicherweise der Historie inhärenter argumento wird somit als Phantasma ausgestellt. Denn die Zusammenhänge entstehen erst in der Erzählung, so wie der linaje der Mazón über den gemeinsamen Ort, die casa, hergestellt wird. Die Erzählung ermöglicht die Einhegung des Kontingenten. Gleichzeitig stellt sie diese Ambiguität aus und reflektiert ihre eigenen Darstellungsmittel und -bedingungen. Nur so kann sie dem Dilemma des Historischen gerecht werden, dass die vermeintliche Faktizität sich nur über Zeugnisse belegen lässt, die selbst paradoxer Natur sind. Wie der Fluss Torce, das Haus selbst und später im drama auch der König sollen diese Zeugnisse als ruina das bezeugen und vergegenwärtigen, was längst vergangen ist. Das theatrale Element der Dramenabschnitte erschöpft sich in der Unmittelbarkeit des Dialogs. Es gibt keine Handlung, die actio wird auf das verbal-textuelle Element reduziert. Dabei erweist sich dieser Dialog insofern als fragil, als dass keine einheitliche inhaltliche Ebene gegeben ist, auf die sich die Figuren gleichermaßen beziehen können. Auch halten, wie gezeigt, die Erzählung und das Historische Einzug in den Dialog. Hier wird somit bereits eine Funktionalisierung des dramatischen Dialogs und der Bühne zum Schauraum verbal-textueller Abläufe vorbereitet, wie er sich in En el estado im nächsten Kapitel manifestieren wird. Am Würfelspiel, d.h. am Spiel im Spiel, zeigt sich die unauflösliche Verknüpfung von Spiel und Leben. Es ist keine Differenzierung zwischen beiden möglich. Damit gewinnt das Spiel eine existentielle Bedeutung: Es ermöglicht den Figuren die Illusion der Einhegung von Zufall, der epistemologischen Gewissheit, der sozialen Stabilität und der existentiellen Selbstbestimmtheit. Gleichzeitig erweist sich das Spiel als fortlaufender Prozess - es geht darum, das Spiel zu spielen, es andauern zu lassen. Da es so aber nicht in sich geschlossen ist, ist auch die bewirkte Illusion nicht stabiler 532 Bereits die Analyse der mise en abyme in Kapitel III.6 hatte gezeigt, dass in den intertextuellen Beziehungen zur Antike bei Benet die Fiktionalisierungsmomente immer schon mitgedacht werden müssen. <?page no="245"?> 245 Natur. Das Spiel ist somit ein Prozess, an dem sich gleichzeitig auch die Brüchigkeit all der genannten Elemente manifestiert. Und diese Brüchigkeit zeigt sich nicht in der Form von Aussagen, sondern indem die Figuren das Spiel ausagieren. IV.3 Die Diegese als multiple Bühne: En el estado Die Ausgangsthese für die Lektüre des 1977 erschienenen Romans En el estado 533 ist, dass der Roman sich prinzipiell aus vier räumlich ineinander geschachtelten Bühnen zusammensetzt, die jeweils von Figuren bespielt werden. Dabei wird durch die Fokussierung auf die Theatralität in Kauf genommen, dass einige wichtige Themen überhaupt nicht oder nur am Rand behandelt werden. Das betrifft zum Beispiel den sich über mehrere Kapitel (III, VI, XI und XIV) ziehenden Monolog einer weiblichen Stimme, die detaillierte Analyse der einzelnen Figuren oder etwa das Spiel mit den Kapitelanfängen 534 . Die vielschichtigen intertextuellen Bezüge und Zitate werden nicht alle in ihrer Tiefe untersucht. Dies geschieht nur, insofern sie theatralen Aspekten zuträglich sind. Der Roman, der bisher von der Forschungsliteratur nur stiefmütterlich behandelt worden ist, wäre eine eigene, detaillierte Analyse wert. Unabhängig von Benets eigener Aussage, der Text sei als Ablenkung im Kontext des Großprojekts Saúl ante Samuel entstanden 535 , lassen sich viele der bei Benet immer wiederkehrenden Themen in En el estado in konzentrierter und oft selbstironischer Form wiederfinden. 536 Die Forschungsliteratur hat sich bedauerlicherweise oft auf den Selbstkommentar des Autors bezogen und sich entsprechend bei der Wahrnehmung des Tex- 533 Alle Zitate aus En el estado erfolgen in diesem Kapitel im Fließtext. Alle anderen Literaturnachweise erfolgen über Fußnoten. 534 Vgl. hierzu Fußnote 569. 535 „Es una novela menor en que he cambiado el tono. Es una novela más humorística, que ha gustado poco a mis amigos. […] Ya le digo, es una novela en tono menor que escribí para acompañar la redacción de otra mucho más larga que todavía no he acabado, y que no acabaré hasta dentro de tres, cuatro, cinco años.“ (Benet: Cartografía personal, S. 121f.) 536 Vgl. hierzu ebenfalls Benets eigene Aussage: „Es una parodia. Es una parodia de estilos literarios y están parodiados, pues, desde Homero hasta Cervantes, y desde Cervantes hasta Bataille pasando por Flaubert, y pasando por Turgeniev, Chejov, mucha gente.“ (ebd., S. 122) <?page no="246"?> 246 tes beeinflussen lassen. Vielleicht wurde sie auch schon durch die frühe, negative Rezension David Herzbergers 537 gelenkt. Ein fast hilfloses Kapitulieren vor der Dichte des Textes 538 und ein tendenzielles Überfrachten mit Theorien der Postmoderne 539 haben somit bisher eine vorbehaltlose und konsequente Annäherung an den Roman verhindert. Eine sehr hilfreiche Einführung von Vicente Molina Foix findet sich in der zweiten Auflage des Romans von 1993. 540 IV.3.1 Die erste Bühne: La Portada Folgt man dem Textverlauf des Romans, so lässt sich die Landschaft La Portada als erste Bühne beschreiben. Sie stellt einen Makroschauplatz dar, der den strukturellen Rahmen des Romans bildet. Sowohl das Anfangsals auch das Schlusskapitel spielen in La Portada bzw. beschreiben diese Landschaft. Innerhalb dieser zyklischen Rahmung gibt es jedoch Variationen, bzw. Abweichungen. Endet das erste Kapitel mit „un solo personaje de mediana edad y educadas maneras, rodeado de bultos y maletas“ (S. 21), so bildet die „presencia […] de esos tres viajeros, un tanto sorprendidos bajo el corpulento olmo, en torno a un montón de bultos y maletas“ (S. 211) den Schluss des letzten Kapitels. Während also zu Beginn eine einzige Figur von Reisegepäck umkreist wird, sind es am Schluss drei Figuren, die um das Reisegepäck herumstehen. Die zyklische Struktur wird durch die Figurenkonstellation wiederholt und gleichzeitig variiert. Dadurch wird die Frage nach dem Verhältnis zwischen jenen „bultos“ und den Figuren virulent. Wer umkreist wen, wer steht im Zentrum des Interesses, wer zieht die Blicke des Publikums auf sich? Wie viele Figuren gibt es in dem Roman? Die Portada umrahmt das sonstige Romangeschehen und bildet gleichermaßen einen Anhaltspunkt für den Leser. Über sie wird er in den Roman eingeführt und 537 Herzberger meint, der Roman sei nur „[…] partially successful, because Benet seems to be most at home in Región, the mythical setting of his five previous novels.“ (David Herzberger: „Reseña de En el estado“, in: Anales de la novela de posguerra 3 (1978), S. 143- 144, hier S. 144) Lässt man sich auf Benets Spiel mit Karte und Roman ein, muss man Herzberger heftig widersprechen. Auf dem mapa de Región ist La Requerida, von der auch im Text die Rede ist, sehr wohl eingezeichnet. Demnach befindet man sich mit En el estado in Región. Auch Robert Manteigas einziges Anliegen in seiner kurzen Romanbesprechung scheint zu sein, zu beweisen, dass La Portada nicht in Región liegt. Siehe Robert Manteiga: „Benet Ventures Beyond Región“, in: Denver Quarterly 17: 3 (1982), S. 76-82. 538 Gonzalo Navajas: „El significado diseminado de En el estado de Juan Benet“, in: MLN 99: 2 (1984), S. 327-341. 539 Siehe Isabel Estrada: „En el estado de Juan Benet y la poética de lo lúdico“, in: España contemporánea 14: 2 (2001), S. 7-30. Der Aufsatz von Estrada enthält jedoch zahlreiche sehr wichtige und hilfreiche Hinweise, was die historischen und intertextuellen Bezüge im Roman betrifft. 540 Molina Foix: „Prólogo“. <?page no="247"?> 247 über sie wird er aus dem Roman wieder herausgeführt. Der Verdacht, all das zuvor Erzählte sei nicht wirklich passiert, wird durch die Beschreibung der Protagonisten im Schlusskapitel, die aus unerfindlichen Gründen „un tanto sorprendidos“ erscheinen, und dem lakonischen Kommentar Hervás‘ „Vaya“ verstärkt. Zusätzlich zur kreisförmigen bzw. gespiegelten Rahmung beschreibt die Portada eine Grenze. Diese ist schon lexikalisch in der Polysemie des Wortes portada angelegt. La Portada ist das Eingangstor zur fiktiven Welt, das haptisch vom (empirischen) Leser erfassbare Deckblatt des Buches. Glaubt man der Überschrift des ersten Kapitels, so befinden sich Leser und Figuren „en la portada“, also im Begriff, dieses Tor zu durchschreiten. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob die Grenze über- und das Tor durchschritten werden können, oder ob dieses Durchbzw. Überschreiten nicht schon immer auf Dauer gestellt wird und deswegen gar nicht bis zur letzten Konsequenz vollzogen werden kann. Schon zu Beginn, ja bevor der eigentliche Erzähltext beginnt, wird ein Verfahren angelegt und durchgespielt, das für den gesamten Roman von Bedeutung ist: die Überblendung von topologischen und ontologischen Grenzen bzw. Schwellen. Schon hier wird die Grenze zwischen extratextueller und fiktiver Welt bewusstgemacht und gleichzeitig in dem Maße hinterfragt, wie sie durch die Kapitelüberschrift prinzipiell durchlässig wird. Die Unterscheidung dessen, was inner- und außertextuelle Realität ist, ist nicht mehr klar. Für das weitere Beschreiben der Portada sind die Kapitel I, II und XVIII relevant, da diese eindeutig die Portada und noch nicht die später zu analysierenden ventas als Schauplatz haben. Había un corpulento olmo, que nacía en el mismo borde de la cuneta, a cuya sombra se detuvo el autobús. Se trata del único punto de sombra en toda la extensión que alcanza la vista, esto es, en todo el llano de La Portada, como dirá más adelante el señor Hervás, comentando sus impresiones de viaje con la señora Somer, que tiene la costumbre de no escucharle cuando el señor Hervás se alarga en innecesarias explicaciones. (S. 13) Hier wird die Vorstellung, bei der Portada handele es sich um ein Grenzgebiet zwischen Realität und Fiktion und gleichsam um den Ursprung und konstitutiven Schauplatz für alle weiteren Schauplätze im Roman, fortgeführt: Der einzige Fixpunkt in der leeren weiten Ebene der Portada ist eine korpulente Ulme, die am Straßenrand sprießt („nacía“) und in deren Schatten ein Bus anhält. Mit dem ersten Satz des Romans, mit dem andauernden Eintritt in die fiktive Welt, erschafft sich diese Welt gleichermaßen selbst, indem sie im instabilen Raum einen nicht zu übersehenden Fixpunkt entstehen lässt. Dieser erste Eindruck, der nicht nur der Figur Hervás, sondern auch der des Lesers ist, wird über den Blick („en toda la extensión que alcanza la vista“) geleitet. Es entsteht eine weite Leere, in der sich die Ulme regelrecht materialisiert und mithin als Anhaltspunkt gelten kann. So greift <?page no="248"?> 248 die bereits zitierte Schlusssequenz genau diesen „corpulento olmo“ wieder auf und auch in anderen Kapiteln erscheint immer wieder, oft inhaltlich unmotiviert, die Ulme. Schon in den beiden ersten Sätzen des Romans wird also versucht, in den nicht näher bestimmbaren, glatten Raum der Portada eine feststellbare Ordnung mittels bestimmter, lokalisierbare Orte, durch lieus einzuführen - sei es durch den Erzähler, durch die Figuren 541 oder letztlich durch den Leser. Die Beschreibung der Portada wird etwas später fortgeführt, indem der Erzähler, nun auch im Präsens, die vorherige Einschätzung des Hervás zu bestätigen scheint: Es [el señor Hervás] el primero que desciende del autobús para observar, sin una mueca de disgusto, la desolación del páramo en las primeras horas de la tarde de uno de los postreros días de junio. En todo lo que alcanza la vista, aparte de las ventas, no se ve ni un punto de sombra ni un alma […]. (S. 14) Wieder wird dieser Makroschauplatz durch den Blick eingeführt und die vorherige Beschreibung aufgegriffen und variiert. Während zuvor die Ulme Anhaltspunkt für den Blick war, sind es nun die ventas, die als das schattige Andere der weiten Ebene dienen. 542 Die ventas bilden den einzigen differenzierbaren Punkt in der Weite. Im Folgenden wird nun detailliert die relativ trostlose und karge Hochebene von La Requerida beschrieben. Sie wird zunächst als mehr oder weniger leblos und wenig einladend wahrgenommen, da sie sich jeglicher Kultivierung widersetzt, der Boden sehr trocken ist und aus einer einzigen Kalkkruste besteht. Er ist von Felsbrocken, die ausgehöhlten Schädeln ähneln, und aschfarbenen Schwämmen übersät. Der gesamte Boden schreit regelrecht nach Wasser. Die Erwähnung von Falken und Krähen unterstützt jene Lebensfeindlichkeit noch weiter (S. 14). Erst etwas später erhält die Portada einen sehr dynamischen Charakter: Nada invita al viajero a detenerse donde ni siquiera se percibe el aroma del monte, demasiado tímido para desafiar la vigilancia permanente de un sol de 541 Bei der zitierten Textstelle sei auf den wenig markierten und nur bei genauem Lesen bemerkbaren Wechsel zwischen Erzähler- und Figurenrede hingewiesen. Dieses Verfahren ist im Übrigen nicht nur für En el estado, sondern eigentlich für alle Romane Benets typisch. Hier ist dieser Wechsel zwar durchaus angezeigt (durch den Tempuswechsel vom imperfecto zum Präsens und durch den Einschub „[…] como dirá más adelante el señor Hervás“), jedoch schließt sich die Bemerkung der Figur Hervás so nahtlos an den einleitenden Satz des Erzählers an, dass die Feststellung, bei der Ulme handele sich um den einzigen schattigen Platz in der Ebene, zunächst einmal als wahr und zuverlässig in Bezug auf die dargestellte Welt eingeschätzt werden kann. 542 An dieser Stelle wird u. a. die Unzuverlässigkeit von Erzähler- und Figurenrede offenbar. Denn ganz offensichtlich widersprechen sich die Aussagen, es gäbe jeweils nur die Ulme oder nur die ventas als einzigen schattenspendenden Ort in dieser Landschaft. Später stellt zum Beispiel auch Somer fest, es gäbe keinen einzigen Baum, obwohl zuvor schon mehrmals von jener Ulme die Rede war. Siehe S. 19: „‘No hay un árbol.’“ <?page no="249"?> 249 castigo, que rodea su dominio penitenciario de una nube de calina bien para hacer más manifiesto su aislamiento bien para no tolerar otras indiscreciones que las miradas de la sierra tan fascinada por la desolación del circo como satisfecha de su condición de espectadora, a resguardo de los trágicos sucesos que sin interrupción se vienen sucediendo en la arena; […]. (S. 14f.) Dieser dynamische Charakter ist einer belebten Natur zu verdanken. Dies ist nicht in dem Sinne zu verstehen, als dass die verkalkte Erdkruste nun doch Leben bzw. Fruchtbarkeit verhieße. Stattdessen stellt diese Natur auf einmal ein Repertoire an Akteuren einer theatralen Aufführung zur Verfügung: die strafende und stets wachende Sonne, eine sierra, die sich aufs bloße Zuschauen beschränkt, und eine Landschaft, die als Zirkusarena verstanden werden kann. Die Portada ist als Schauplatz für nicht näher identifizierbare ‚tragische Begebenheiten‘ eine Bühne und bringt Zuschauer und Schauspieler gleichermaßen hervor. Dabei wird sie nicht nur durch die Benennung „circo“ zur Bühne, sondern durch den Blick der sierra, die über ihre eigene „condición de espectadora“ sinniert. Dieser theatrale Prozess reflektiert sich also von Beginn an selbst, die Portada ‚weiß‘ um ihre Verfasstheit als Bühne. Umso mehr wird das ambivalente Geschehen auf dieser Bühne deutlich. Einerseits gibt es in der endlosen Weite nichts als bloßen Dunst, auf welchen die Sonne erbarmungslos scheint. Andererseits ‚ereignen‘ sich in der Arena angeblich ohne Unterlass tragische ‚Ereignisse‘. Durch das lexikalische Insistieren auf den „sucesos que […] se vienen sucediendo“ stellt sich allerdings die Frage, was sich dort tatsächlich ereignet. Die Ereignishaftigkeit, das Sujet eines argumento wird so in Frage gestellt. Die Dynamik der Portada lässt einen theatralen Raum in der Weite des páramo entstehen, die aber durch das ausbleibende Spiel in eine Art Leerlauf gerät. Nach der beschriebenen Zirkusarena geht der Text dazu über, die erwähnten ventas und deren Innenraum näher zu beschreiben, obwohl diese Beschreibung eher wie ein Gerücht als wie eine verlässliche Beschreibung anmutet („Se dice […].“, S. 15). Dieser Innenraum interessiert erst im nächsten Unterkapitel, wobei an dieser Stelle schon darauf hingewiesen sei, wie die Grenze zwischen dem Außenraum La Portada und dem Innenraum der ventas zum ersten Mal beschrieben wird: durch Vorhänge oder Abwandlungen von Vorhängen in der Form von Jalousien: […] [A] la vista de la perezosa pero inquietante agitación que les anima [a los espíritus] cada vez que en la carretera resuena el motor del ordinario o chirrían sus frenos o retiemblan las lunas y a continuación un inesperado visitante agita la persiana de cadeneta que cubre el hueco de la puerta. (S. 15f.) Durch die Bewegung des „agita“ wird die Jalousie als Grenze zwischen dem Innen und dem Außen besonders hervorgehoben. Wie sich im Verlauf der Textanalyse zeigen wird, tauchen an der Grenze von dem einen Bühnenraum zum nächsten immer wieder diese Vorhänge auf. <?page no="250"?> 250 Eine weitere Variation der Portada als Bühne ergibt sich durch die ausgestellte Verkörperung bzw. Selbstinszenierung der Protagonisten des Romans, señor Hervás und señora Somer. Recordará el esforzado lector que no bien se hubo detenido el autobús, el primero en pisar la tierra de La Portada fue nuestro viejo conocido el señor Hervás, tras abandonar aquél por su puerta delantera. Ved cómo se sacude los pantalones y las solapas de la chaqueta, cómo se ajusta el nudo de la corbata y cómo, sujetando con dos dedos el puño de su camisa, cepilla con el antebrazo el fieltro negro de su sombrero, acaricia su trencilla y, con un breve y experto golpe con el canto de la mano, rehace por completo su pliegue. (S. 17f., Hervorhebung von mir) Hervás steigt aus dem Bus, richtet sich zunächst her und stellt sicher, dass seine Kleidung nach der Busfahrt richtig sitzt. Dabei wird der fiktive, und bösartigerweise vom Erzähler als ‚tapfer‘ bezeichnete Leser im Schulterschluss dazu aufgefordert, hinzusehen. Folgt der Leser dem „ved“, begibt er sich automatisch in die Position des Zuschauers, der der Figur Hervás dabei zusieht, wie sie den Bühnenraum betritt. Ähnlich wie Hervás verfährt im Übrigen dessen Reisebegleiterin Somer, die als nächstes den Bus verlässt und die Bühne bzw. den Boden der Portada betritt (S. 8). Auch sie richtet sich und ihren Hut „con modales parecidos a su compañero“ her, bevor sie den Schauplatz mit ihren Augen abmisst. Die weitere Beschreibung der Portada erfolgt durch die Perspektive dieser beiden Figuren, die mit ihren Blicken den Bühnenraum abtasten. Der Horizont als Begrenzung dieses Raums ist hierbei omnipräsent. Die beiden betrachten ihn nicht nur, sondern spähen ihn regelrecht aus („Ocupados en otear el horizonte […]“, S. 19). Es entspinnt sich im Folgenden ein redundantes Gespräch zwischen Somer und Hervás, in welchem sie sich ständig verbaler und nonverbaler Versicherungsstrategien bedienen. Dies macht sich zum Beispiel in der Beantwortung offensichtlich rhetorischer Fragen und in dem immer wieder beschriebenen Nachdruck, den Hervás seinen Aussagen verleiht, bemerkbar. So fragt Somer: “¿Hemos llegado? ” “Sí, hemos llegado”, confirma el señor Hervás, acompañando su mirada a lo largo del horizonte, como si se tratara de cosa propia. “Y con bien”, añade con aplomo. “¿Con bien? ” “Hemos llegado con bien. No es poca cosa. No ha sido fácil; en modo alguno. Decididamente no ha sido fácil. En modo alguno. Pero hemos llegado.” (S. 18f) Dieser Nachdruck und die Selbstsicherheit wird - zumindest auf lexikalischer Ebene - im Laufe des Romans zu einem auffälligen Charakteristikum der Figur Hervás. Der aplomo wird jedoch so häufig erwähnt, dass die Figur <?page no="251"?> 251 tatsächlich immer mehr an Glaubwürdigkeit verliert und der Leser sie immer weniger ernst nimmt. Zum anderen tendiert vor allen Dingen Hervás offensichtlich zu Wiederholungen von Worten bis hin zu ganzen Sätzen, die er über mehrere Einwürfe Somers hinweg immer wieder neu aufnimmt. Der dritte Protagonist, Ricardo, wird im ersten Kapitel nur beiläufig im Zusammenhang mit dem Reisegepäck erwähnt, um das sich der Busfahrer und sein Mitarbeiter bemühen. Für das Gepäck wird neben anderen Bezeichnungen konsequent das Wort bultos verwendet. Mit dem Begriff werden also zunächst nicht näher definierte Gepäckstücke bezeichnet, die die Protagonisten bei ihrer Ankunft mitbringen. Der Monolog Hervás‘ wird bald von dem abfahrenden Bus übertönt. Sein letzter Satz verliert sich in der Staub- und Abgaswolke des Fahrzeugs. Der Bus fährt jedoch nicht nur einfach davon, sondern „[…] se aleja en dirección de la nada, hacia su histriónica fusión con el cosmos […]“ (S. 21, Hervorhebung von mir). Der Bus verhält sich wie ein histrión, wie ein Schauspieler. Die Inszenierung seiner Verschmelzung mit dem Kosmos wird durch auditive („chirridos de goznes y repique de cristales“; „rugidos“) und visuelle („reflejos anaranjados“) Effekte untermalt. Der Bus entfernt sich so weit, bis er sich selbst wundersam in Landschaft verwandelt („taumatúrgica transformación“) und somit nicht mehr da ist. Was bleibt, ist, wie bereits oben angemerkt, […] un paisaje desierto, atravesado por una carretera ocupada por un solo personaje de mediana edad y educadas maneras, rodeado de bultos y maletas. Das Anfangskapitel lässt sich demnach folgendermaßen zusammenfassen: Ein Bus erscheint in der Gegend von La Portada, d.h. auf dem Deckblatt bzw. in dem Eingangstor zur fiktiven Welt. Er lässt eine bis drei Personen aussteigen und fährt wieder davon. Der letzte Satz des ersten Kapitels nimmt die Entfaltung von drei Hauptfiguren im Roman zurück - wohingegen der letzte Satz des Schlusskapitels diese drei Figuren wieder aufnimmt. Der Bus fährt jedoch nicht nur davon, sondern verschmilzt regelrecht mit der Welt, die ihn entstehen ließ. Dabei bleiben folgende Elemente in Erinnerung: Die karge und doch gleichsam belebte, sich selbst beobachtende Landschaft; die inszenierten Auftritte der Figuren Hervás und Somer; der unzuverlässige Erzähler, der den Leser in höchstem Maße verunsichert, ihn aber gleichzeitig dazu auffordert, den Figuren bei ihrem Spiel zuzusehen, und der nicht zu überhörende und übersehende Abgang des Busses. Letzteren nimmt die Portada, die ihn hervorgebracht hat, wieder in sich auf. Das erste Kapitel präsentiert von Beginn eine Romanwelt, die theatral verfasst ist. Die räumliche Erfahrung wird über den Blick konstituiert, der sofort in einen theatralen Prozess eingebunden wird, sodass Bühnen- und Zuschauerräume entstehen. Dies gilt sowohl für die Figuren als auch für den Leser. Der aktive Blick, der <?page no="252"?> 252 das Gesehene zum Schauspiel werden lässt, ist essentiell für die sich formulierende Welterfahrung. Gleichzeitig ist diese Art der Theatralität schon immer selbstreflexiv, sie weiß um ihren ‚Als-ob-Modus‘. Im zweiten Kapitel stehen Hervás und Ricardo vor einer der erwähnten ventas, auch als „chigre“ (S. 25) bezeichnet. Auch hier wird die Jalousie als Türersatz, die „cortina de cadenetas“ erwähnt. Das Schauspiel der Portada wird nun in einer neuen Variation weitergeführt, wobei dieses Mal Ricardo als einer der Protagonisten im Zentrum steht. Aus einem der Gebäude tritt die Inkarnation der Abenddämmerung, die die zuvor installierte theatrale Konstellation durcheinanderbringt: La puerta se abre sin dificultad y de la oscuridad - destacando primero sus bordes morados -, como una tumescencia del vacío, se adelanta la silueta de la dama, ya entrada en años, encarnación de tal medida del crepúsculo y el desorden que el sol, avergonzado de su error, se apresura a esconderse tras una nube para mitigar los extravíos de su delirio vespertino. Die dama betritt den Schauplatz. Als „tumescencia del vacío“, als eine physische ‚Anschwellung der Leere‘ ist sie, wie so viele der Benetschen Figuren, von höchst ambivalentem Wesen. Sie erscheint aus der Dunkelheit und ist mehr ein Umriss („silueta“) als eine klar identifizierbare Figur. Trotzdem ist auch dieser Auftritt hochgradig inszeniert. Die Sonne, zuvor noch unerbittliche Wächterin über das Bühnengeschehen, muss sich nun, da die Dämmerung ihren Auftritt hat, hinter einer Wolke verstecken um das eigene ‚abendliche Delirium‘ zu lindern. Die dama verursacht eine regelrechte kosmologische Unordnung. Sie versucht daraufhin mit Ricardo in einen Dialog zu treten, wobei diesem vom Text die Rolle des caballero zugeschrieben wird. Die Szene nimmt im Folgenden parodistische Züge in Bezug auf das höfische Thema an. Hervás bleibt bei der ganzen Szenerie außen vor und Ricardo schickt sich an zu gehen. Ein Ausruf der dama hält ihn jedoch davon ab: Ricardo se vuelve. Hasta entonces ha observado la escena manteniéndose aparte, con la elegancia y la displicencia de un verdadero caballero, pero al oír su nombre tan nítida y vehemente pronunciado se ve obligado a retroceder. La dama desciende tres peldaños y se detiene de nuevo, como si no diera crédito a sus ojos. […] De manera disimulada comprueba [el señor Hervás] que se ha abrochado los pantalones cuando la dama desciende con agilidad por la escalera. Por primera vez en mucho tiempo sus pies desnudos hallan la tierra seca de La Portada para detenerse extasiada delante del caballero. Echa la frente hacia atrás y los brazos hacia el cielo. (S. 28) Der langsame Auftritt der dama wird über mehrere Textabschnitte fortgeführt und hinausgezögert, wobei der Moment, in dem sie vollkommen die <?page no="253"?> 253 Treppenstufen hinabgestiegen ist und die Bühne, sprich die Portada tatsächlich betritt, denkwürdig ist. Das erste Mal seit langem kommt sie wieder ins Rampenlicht. Das kosmologische Schauspiel, bzw. der Konflikt zwischen Sonne oder vollem Tageslicht und der Abenddämmerung um die Macht über die Tageszeit geht weiter. Die Sonne versucht erneut zu erscheinen, muss sich aber geschlagen geben. El sol vuelve a asomar con toda violencia, como el perro reprimendado que - esperando que haya olvidado su fechoría - abandona su escondrijo para restablecer el clima de amistad moviendo la cola, pero ella [la dama] se vuelve iracunda. […] Ambos amigos observan asombrados cómo el sol se oculta tras una nube solitaria, dejando asomar sus rayos como las patas o el hocico del perro que se ha ocultado tras un sillón. […] De súbito cae el crepúsculo y detrás de las corralizas surge cierta agitación. Unas mallas rechinan, azotadas por un cuerpo silencioso pero de peso. El sol incapaz de ladrar, por órdenes severas del aburrimiento, bosteza. (S. 29) Die Wut der dama darüber, dass die Sonne sich noch einmal hervorwagt, bringt diese dazu, sich endgültig zurückzuziehen. In dem Moment, in dem die Dämmerung dann endgültig hereinbricht 543 , ist die richtige Atmosphäre auf der Portada geschaffen und ein neues Schauspiel kann beginnen. Die Abenddämmerung, el crepúsculo, ist hier also keine zeitliche Kategorie, die den Tagesablauf kennzeichnet, sodass darauf Nacht, Morgengrauen und ein neuer Tag folgen. Stattdessen schafft sie eine bestimmte Atmosphäre, eine ‚räumliche Stimmung‘, die in ihrer Eigenschaft als Schwellenzustand (zwischen Tag und Nacht, bzw. zwischen Hell und Dunkel) konstitutiv für die sich in ihr ereignenden Geschehnisse ist. Schon bewegt sich etwas hinter dem Vorhang zur zweiten Bühne (sprich innerhalb einer der ventas) und auch die Landschaft hält in erwartender Spannung den Atem an, während der antike Chor seinen Part in dem Schauspiel beginnt: El paisaje retiene la respiración, a conciencia del momento que se avecina, y hasta las tierras se adelantan para escuchar cómo - en el vasto silencio de La Portada - su frente [el frente del crepúsculo caído] hurga la tierra seca mientras más allá de las cercas comienza a gemir el coro. (S. 29f.) Die vor Ricardo zu Boden gefallene dama 544 bewegt sich auf allen Vieren zum caballero, um ihm im Folgenden ein Geständnis zu machen, zu dem sie nie die Gelegenheit hatte, und um - in Anspielung auf die biblische Maria Magdalena - ihm zwar nicht die Füße zu waschen, ihm aber in die Ferse zu 543 An dieser Stelle ist die Doppeldeutigkeit des Verbs caer zu unterstreichen. Es wird hier als Zeugma verwendet: Zum einen bricht die Dämmerung herein (cae el crepúsculo), zum anderen fällt die Dame vor Ricardo zu Boden (cae la dama). 544 Die Tatsache, dass el crepúsculo jetzt tatsächlich ‚gefallen‘ ist, wird durch eine erneute ironische Übertreibung unterstrichen. Die Dame ist ‚so sehr‘ zu Boden gefallen, dass sie mit ihrer Stirn die Erde umgräbt („su tierra hurga la tierra seca“). <?page no="254"?> 254 beißen und Kratzspuren an seiner Wade zu hinterlassen. Ricardo hingegen behauptet, sich selbst vor Hervás verteidigend, die dama nicht zu kennen. Dabei scheint es einen inhaltlich nur schwer nachvollziehbaren Konflikt zwischen Ricardo und Hervás zu geben. Doch auch hier wird offensichtlich, dass es darum geht, dass die Figuren die Kontrolle über die eigene Situation verlieren, sie wiedergewinnen und gegen die eigene ontologische Verunsicherung ankämpfen. Azorado el caballero conserva empero aplomo suficiente para comprobar que, antes que a sí mismo, debe una explicación a su compañero de viaje. […] Hervás aspira el aire crepuscular de La Portada. Había desconfiado demasiado, se había temido lo peor. Ahora, con la intimidación de su amigo, siente que el control de la situación vuelve a sus manos. Recupera la flema. (S. 30) Hervás gewinnt angeblich seine innere Ruhe und die Kontrolle über die Situation zurück. Dabei ist auch diese Ruhe bereits wieder übertrieben, indem die calma zur ‚calma excesiva‘ 545 , zur flema, also zur Trägheit wird. Er selbst zweifelt die Wahrhaftigkeit von Ricardos Beteuerungen an und rät zu „[...] ideas claras y calma, mucha calma.“ Die dama wirft sich unter Geschrei erneut zu Boden. Ricardo stellt ihr, in seiner Rolle als galanter caballero und in Sorge, sie könne zu Boden fallen, ein Bein zur Verfügung, sodass sie sich daran in einer Umarmung festhalten kann. Danach fordert er sie auf, ihm nun das zu beichten, was sie so lange zurückgehalten hat. In diesem zweiten Kapitel wird die Portada erneut zur Bühne. Das im ersten Kapitel begonnene landschaftlich-kosmologische Schauspiel wird ausgeweitet. Nicht nur die konkrete Romanwelt, sondern die Welt an sich wird theatral verhandelt, wenn der Auftritt einer Figur die natürliche Ordnung so durcheinander bringt wie die dama-crepúsculo. Diese kann als Allegorie als eine parodistische Anlehnung an die allegorischen Figuren der autos sacramentales 546 verstanden werden. Sie ist darüber hinaus Gegenspielerin zur Sonne im beschriebenen kosmologischen Schauspiel, greift zusammen mit Ricardo das seit dem Mittelalter bestehende höfische Liebeskonzept zwischen dama und caballero auf und spielt auf die biblische Figur der Maria Magdalena an. All dies sind Rollen, die dieser Gestalt bzw. Silhouette zugeschrieben werden. Die Rollen treffen in der Gestalt aufeinander und verweben sich durch den Text miteinander, vermögen jedoch keine einheitliche Figur zu bilden. Demnach äußert sich in dem zweiten Kapitel eine neue Art von Schauspiel, in welchem Figuren keine Figuren sind, sondern eher als nicht einheitliche Träger unterschiedlichster intertextueller und motivischer Bezüge verstanden werden können. Die Gestalten dienen dazu, dem Leser als Zuschauer diese Bezüge im Text zur Anschauung zur bringen. 545 Vgl. den dritten Eintrag zu flema im DRAE: „‘Calma excesiva, impasibilidad.’“ 546 Mehr zu den intertextuellen Bezügen zur Calderón de la Barca siehe Kapitel IV.3.2. <?page no="255"?> 255 IV.3.2 Die zweite Bühne: las ventas Im fünften Kapitel betreten Somer und Hervás gemeinsam eine der ventas. Ricardo wird zwar erwähnt, jedoch bleibt unklar, ob er auch hineingeht. Denn Hervás lässt außer einem „bolso de mano de henchidas formas y modelo anticuado“ (S. 59) und einem Koffer Somers das restliche Gepäck in Ricardos Obhut. Da er im weiteren Verlauf zunächst nicht mehr erwähnt wird, kann davon ausgegangen werden, dass nur Somer und Hervás eintreten. Bereits in einem kurzen Abschnitt zu Beginn des zweiten Kapitels wird ein längerer Aufenthalt Hervás‘ in dem „chigre“ erwähnt: “Bendita sea, ¿qué pasa ahora? ”, pregunta Hervás, con un punto de irritación, tras apartar la cortina de cadenetas que cubre el hueco de la puerta del chigre y volver de nuevo al campo después de su larga permanencia en la casa de sombras. “¿Es que cree usted que me voy a pasar la tarde en la cuneta vigilando los equipajes? ”, pregunta a su vez su amigo Ricardo, sin perder su habitual calma. (S. 25) Da Somer in dem zweiten Kapitel nicht erwähnt wird und Hervás laut Text lange Zeit innerhalb des Gebäudes verbracht hat, liegt nahe, dass dieses Kapitel zeitlich gesehen eher an den Schluss des Romans gehört. Für den Leser rückt dieser kurze Hinweis jedoch sehr schnell in den Hintergrund. Eine eindeutige lineare Handlung ist nicht rekonstruierbar und im Text auch nicht angelegt. Es werden Pisten gelegt, die der Leser für einen Moment nachverfolgt, dann aber wieder davon ablässt, da der Text den Fokus schnell wieder auf einen anderen Schauplatz oder eine andere Figur legt. Es kann festgehalten werden, dass innerhalb der Portada ein zweiter Raum geschaffen wird, dessen Grenzen und Schwellen (die cortinas und der umbral) durch ständige Nennung in ihrer Bedeutung herausgehoben werden. Dieser zweite Raum funktioniert ebenfalls als Bühne, wenn auch unter anderen Voraussetzungen und mit anderen Schauspielern. Hervás lässt, nach einem kurzen Blick in das Innere des chigre und „[a]l no descubrir más que las inescrutables y un poco fétidas sombras“ (S. 29), Somer den Vortritt und hält ihr den Vorhang auf. Die Schwelle wird explizit noch einmal erwähnt: „[D]ejó la maleta ante el umbral“. Hinter dem Vorhang, der die Grenze zwischen Außenwelt und Innenraum markiert, verbirgt sich jedoch sogleich ein zweiter ‚Vorhang‘, die oben zitierten ‚unergründlichen‘ und anscheinend mit bloßem Auge undurchdringbaren, übelriechenden Schatten. Diese lichten sich erst später: “Parece que no hay nadie”, observa la Somer, con la vista clavada en una botella, cuando se van disipando las tinieblas para dar paso a la penumbra. (S. 60) <?page no="256"?> 256 Mit den Schatten öffnet sich der zweite Vorhang nach den cortinas, um dann doch wieder nur die Bühne für den Halbschatten freizugeben. Jeder Vorhang verheißt jedes Mal den Beginn eines neuen Schauspiels, ein neues ‚Den-Blick-freigeben‘ für neue Szenen. Doch statt durch eine ‚freie Manege‘ zeichnet sich die Bühne der venta durch eine extrem eingeschränkte Sicht und epistemologische Unergründbarkeit aus. 547 Hervás ruft nach der Bedienung, worauf eine Stimme antwortet - „[…] posiblemente se trata de la voz de las tinieblas.“ Diese ‚Stimme der Finsternis‘ verliert sich in einem Monolog, stellt sich als „titular de un negocio“ (S. 61) 548 und damit als der anzunehmende Eigentümer der Wirtschaft vor. Er fragt die beiden Gäste, was sie zu trinken wünschen. Beide bestellen, wieder verliert sich die ‚Stimme der Finsternis‘ in einem Monolog und nimmt dann erneut die Bestellung der Gäste auf. Daraufhin ruft der titular nach seinem Gehilfen, den er verächtlich „piltrafa humana“ (S. 62) nennt. Auch der Auftritt des Gehilfen, bzw. der zweiten Stimme, wirkt hochgradig inszeniert: Las sombras detrás del mostrador se agitaron como las aguas de la negra estanca que esconden al monstruo, cuando al mediodía asoma el encargado de la pitanza; “¡atención! ”, dice la voz de las tinieblas en acompañamiento del turbio remolino. “Ya te veo venir”, replica la de las alturas; “a mí no me vengas con esas”. “¡Atención! ”, repite la de las sombras al tiempo que chasca con energía dos dedos. Tanto la señora Somer como Hervás se ven obligados a apartarse del mostrador, con un paso atrás de sorpresa más que de repugnancia, al contacto del bulto - mayor que un gato y menor que un cerdo - que se abre camino propinándoles unos ligeros manotazos en las canillas, “vamos, vamos”. (S. 62f.) Somer und Hervás müssen dem bulto, das nun seinen Auftritt hat, Platz machen. Wurden bultos zuvor ausschließlich mit der Bedeutung ‚Reisegepäck‘ verwendet, so findet hier offensichtlich eine Bedeutungsverschiebung statt. Aus den immer wieder erwähnten ‚Reisebündeln‘ sind nicht näher zu definierende Figuren geworden, die eher wie die dama-crepúsculo gleichermaßen als ‚Gestalt‘ bzw. ‚Silhouette‘ oder als ‚Anschwellung‘ verstanden werden 547 Extrem eingeschränkte Sichtverhältnisse durch wenig oder fehlendes Licht und somit gestörte Wahrnehmungsprozesse sind insbesondere bei Benet immer schon an die Problematisierung von Erkenntnis geknüpft. Man denke u.a. an den in dieser Arbeit nicht behandelten Roman En la penumbra. Literatur muss für Benet immer schon eine „zona de sombras“ konstituieren, um genau die Bereiche ergründen zu können, die der Empirie nicht zugänglich sind. Siehe dazu das entsprechende Zitat aus En ciernes, Fußnote 102. 548 Der Besitzer der venta wird schon im ersten Kapitel erwähnt und beschrieben. Siehe S. 16f. <?page no="257"?> 257 können. 549 Neben diesen Bedeutungen weist der polyseme Begriff bulto jedoch noch zahlreiche weitere auf. Durch das wiederholte Auftauchen des Wortes, das zum Träger einer ‚Bedeutungswanderung und -bündelung‘ wird, und die gestörte Wahrnehmung, die die undefinierten Gestalten provozieren, stößt sich der Leser immer wieder an dem Lexem. Die bultos innerhalb der zweiten Bühne erweisen sich im Verlauf des Textes mehr und mehr als Träger verschiedener Intertexte und unterschiedlichster Redeweisen. Indem sie nicht klar differenzierbar sind, torpedieren sie die Vorstellung von einheitlichen Figuren und von Verkörperung durch Schauspieler. Die bultos werfen so unweigerlich epistemologische bzw. wahrnehmungstheoretische (Warum können die verschiedenen Eindrücke der Figuren Somer und Hervás nicht mehr zu einem einheitlichen Bild zusammengefasst werden? Garantiert die Wahrnehmung noch verlässliche Informationen über die Welt, die die Figuren umgibt? ) und ontologische (Was ist der Status dieser ‚Wesen‘? Existieren sie überhaupt innerhalb der Diegese? Was sagt ihr Auftauchen über den Status der im Text dargestellten Welt aus? ) Fragestellungen auf. Was innerhalb der venta verkörpert bzw. inszeniert wird, ist kein Spiel mehr zwischen Figuren, sondern das Spiel von Intertexten, direkten Zitaten und Redeweisen, die aufeinandertreffen und durch den Text für den Leser zur Anschauung gebracht werden. Dieses Verfahren wurde durch die damacrepúsculo begonnen und wird über die bultos weitergeführt und auf die Spitze getrieben. Die ewigen Schatten lichten sich nicht. Stattdessen erscheint eine unterdeterminierte Figur nach der anderen. Auch dem Zuschauer Hervás ist instinktiv bewusst, dass in dieser venta nicht alles mit ‚rechten Dingen‘ zugeht. So muss er, und dies nicht nur einmal, nach dem ersten Auftritt der beiden bultos seine Selbstgewissheit und Standhaftigkeit, seinen aplomo zurückgewinnen: „[…] dando por supuesto que es lícito recurrir al apriorismo para recuperar o fingir el aplomo.“ (S. 63) Ähnlich wie die Ulme, die in ihrer Vertikalität einen Orientierungspunkt in der unspezifischen Weite der Portada darstellen soll, so muss auch Hervás immer wieder zu seiner eigenen Vertikalität, zu seinem ‚Lot‘ zurückfinden, um sich in der ungewissen Welt seiner eigenen Existenz zu vergewissern. Es ist unklar, wem genau ‚die Stimme der Finsternis‘ und ‚die Stimme von oben‘ („de las alturas“) zuzuordnen sind. Beide führen Leser und Zu- 549 Siehe hierzu die die ersten drei Bedeutungen des Lemma bulto im DRAE: „‘Volumen o tamaño de cualquier cosa’; ‘Cuerpo distinguible por la distancia, por falta de luz o por estar cubierto’; ‘Elevación de una superficie causada por cualquier tumor o hinchazón.’“. <?page no="258"?> 258 schauer bei dem Versuch vor, sie einem bestimmten Akteur, einem tatsächlichen Körper zuzuordnen. 550 Sie sind sich aber gleichzeitig bewusst, dass sie Publikum haben: “Inmunda piltrafa, ¿cómo has llegado tan bajo? En cuanto tienes público te transformas y embriagas con tu afán de ostentación. […]“ Es entspinnt sich, wie noch häufiger in dem Roman, ein komischer Dialog zwischen den bultos, in welchem der eine den anderen in Anspielung auf Flauberts Protagonisten Bovary mit Charles anspricht, sehr zum Missfallen des Angesprochenen. Der Name Charles tritt in En el estado wiederholt auf und oft in Verbindung mit der Postkutsche („diligencia“, S. 65ff). Die Postkutsche kommt wahlweise aus Concarneau oder aus Rosporden, beides Städte in der Bretagne, die Flaubert während einer Reise dort besuchte 551 . ‚Charles‘ beginnt, die Geschichte des anderen zu erzählen, unterbrochen von den besorgten Gästen Hervás und Somer, die nach Ricardo suchen. ‚Charles‘ erhebt sich von seinem Stuhl und öffnet, während er weitererzählt, ein kleines Fenster, ein „ventanuco“ (S. 65). Die Geschichte über die Vergangenheit des anderen Bündels enthält sehr auffällige Parallelen zu den Geschehnissen zwischen Ricardo und der dama-crepúsculo. Der Roman spinnt also nicht nur ein intertextuelles, sondern auch ein intratextuelles Netz aus Anspielungen und Verweisen. Angeblich sei der bulto, als er bei ‚Charles‘ ankam, sehr erschöpft gewesen und habe als aller erstes dem Gastgeber in das Bein bzw. in die Ferse gebissen. Der Blick aus dem Fenster bestätigt die Annahme, dass Ricardo sich draußen vor der venta befindet, „sentado sobre uno de los bultos como un monarca de las estepas“ (S. 67). Während die Gäste von diesem erwartbaren „fenómeno“ enttäuscht sind, sehen die beiden gestaltähnlichen bultos etwas ganz Anderes. Die Postkutsche aus Concarneau scheint sich zu entfernen und erinnert dabei an den Bus aus dem ersten Kapitel und dessen wundersamen („taumatúrgico“) Abgang. Denn die Postkutsche berührt den Grund kaum und hat angeblich keine Räder, „se dice que careciendo de ruedas se 550 Allein schon die Verortung der Stimme aus den Schatten ist ambig und damit in ihrem ursprünglichen Sinne hinfällig: „[…] se oye gemir al bulto oculto en cualquier rincón en sombras no lejos de la silla […].“ (S. 63) 551 Vgl. Gustave Flaubert: Par les champs y par les grèves, Genève: Droz, 1987, S. 370-405. Weitere Hinweisen auf Flaubert (vgl. Estrada: „En el estado“, S. 18-22) machen den französischen Romancier zur allgegenwärtigen literarischen Referenz in En el estado. Zur Auseinandersetzung Benets mit Flaubert siehe auch den Essay Juan Benet: „La ofensiva del 1850“, in: ders.: La inspiración y el estilo, S. 65-86. Benet machte kein Geheimnis daraus, wie wenig er Flauberts literarisches Werk schätzte: „El propósito de Flaubert puede ser utilizado como ejemplo palmario de una voluntad estética y descriptiva carente de inspiración; de un quehacer literario que el escritor se impone a sí mismo a partir de unas convicciones y obligaciones estrictamente profesionales.“ (Juan Benet: „Introducción“, in: ebd., S. 21-42, hier S. 38) <?page no="259"?> 259 desliza sobre una nube de estupor“. Weiterhin wird ihr die Kraft zugesprochen, ähnlich wie die dama-crepúsculo den normalen Tageslauf zu unterbrechen und - „el día que no acabó“ - den Tag auf Dauer zu stellen. Auch der Blick durch den ventanuco nach draußen wird im Verlauf des Textes noch häufig vorgenommen werden und markiert deutlich die Grenze zwischen Außenwelt und dem Inneren der Schänke. 552 Das Spiel der bultos wird in Kapitel X wieder aufgegriffen, das mit „Gemisto y Genadio“ 553 überschrieben ist. In Bezug auf die sprechenden bultos könnte mit der Titelüberschrift auf ein karnevaleskes Prinzip der Paarbildung angespielt werden, ähnlich wie etwa Don Quijote und Sancho Panza oder auch Dick und Doof. Eine andere, sicherlich nicht fernliegende Assoziation ist Becketts Figurenpaar Estragon und Vladimir. Die sich entspinnenden Dialoge der bultos erinnern stark an diejenigen aus Warten auf Godot. Benet war erklärtermaßen ein großer Bewunderer Becketts und dessen wohl bekanntestes Drama beschrieb der Spanier als den Höhepunkt des gesamten Werkes. 554 Auf das Verhältnis des Romans zum Absurden Theater wird am Ende dieses Unterkapitels näher eingegangen. Zu Beginn von Kapitel X entfernt sich Hervás von besagtem ventanuco und muss erkennen, dass Somer auf einmal verschwunden ist. Er verlässt auf der Suche nach ihr und nach Ricardo die Gastwirtschaft. 555 Die bultos verfolgen seinen Abgang mit einem Blick aus demselben ventanuco und nach einem kurzen abschätzigen Kommentar in Bezug auf Hervás, der ihnen zu geschwätzig ist, entspinnt sich wieder ein Gespräch zwischen beiden. Eine der Stimmen holt ein Buch herbei, das lediglich als „el libro“ bezeichnet wird. Denkt man dabei zunächst an das ‚Buch der Bücher‘, die Bibel, so drängt sich sehr schnell eher die Vermutung auf, es handele sich um eine Anspielung auf einen ontologischen bzw. existenzialistischen Diskurs im Allgemeinen und Hegels Lehre vom Sein aus der Wissenschaft der Logik im 552 Dieser Blick durch ein kleines Fenster von einem Innenraum nach außen lässt sich auch in anderen Texten Benets beobachten, so zum Beispiel beim Haus des Doctor Sebastián in Volverás a Región. 553 Estrada weist auf den platonischen Philosophen Georgios Gemistos Plethon aus dem 15. Jahrhundert als mögliche historische Vorlage hin. Siehe Estrada: „En el estado“, S. 8. 554 Siehe Juan Benet: „Samuel Beckett, Premio Nobel 1969“, in: Revista de Occidente 28: 83 (1970), S. 226-230. 555 Hervás „[...] aprovechará el viaje para hacer una micción por parte trasera del caserío.“ (S. 114) Auch dieser Hinweis auf das feierliche Urinieren in Kapitel II lässt annehmen, dass dieses chronologisch relativ am Ende des Romans stehen müsste. <?page no="260"?> 260 Speziellen. 556 Das sich nun entwickelnde Gespräch besteht neben diesen Anspielungen aus wörtlichen Zitaten und Regieanweisungen aus Racines 557 Stücken Bajazet und Andromaque, aus den Dramen von Calderón de la Barca La devoción de la cruz, La vida es sueño und dessen autos sacramentales A Dios por razón de estado und La vida es sueño. 558 Dabei werden die Zitate nicht nur einfach wild aneinandergereiht. Stattdessen sind sie durchsetzt mit eigenen Kommentaren der bultos, die immer wieder die Abstraktheit von Zitaten auf die eigene Situation beziehen oder uneigentliches Sprechen wörtlich nehmen. So kommt es zu abwegigen Konkretisierungen: “Eso es, página 140, último párrafo, exactamente lo que yo decía.” “No digas eso, por Dios; no digas eso, Charles. ¿Qué te propones? ¿Acabar conmigo? Será mejor que lo digas abiertamente. Dímelo cara a cara, por favor.” “¿Cara a cara? ¿Cómo voy a mirarte a la cara si careces de ella? ” (S. 114) Innerhalb weniger Sätze kommt der Text von Hegel über Flaubert und über sehr pathetisches Sprechen zu einer extremen Situationskomik. Erneut wird bewusst gemacht, dass es sich um zwei Gestalten bzw. Stimmen handelt, die weder einen eigenen Körper geschweige denn ein Gesicht besitzen. Auf ähnliche Art und Weise verfährt auch die folgende Textstelle: “Aquí dice que ‘se tiene sin duda razón al decir que no hay que detenerse en el simple ser’.” “¿Lo ves? ¿No era eso lo que andábamos buscando? ” “No lo sé.” “No podemos quedarnos siempre en el mismo sitio.” “¿Quién ha dicho que estamos siempre en el mismo sitio? ” (S. 117) Von der philosophischen Abstraktheit der Diskussion über das Sein gelangt man unmittelbar zu einer Konkretisierung in Bezug auf die eigene Situation, woraus der eine bulto schließt, man könne sich unmöglich ständig an ein und 556 Neben den mehr oder weniger redundanten ontologischen Reflexionen über das Sein („ser“), das Nichtsein („no-ser“) und das Seiende („siendo“) ist es vor allen Dingen die Erwähnung der Zusätze I und II auf S. 116 und des ersten ‚Zitats‘ auf S. 115, die Hegel als Vorlage nahe legen. Das ‚Zitat‘ lautet folgendermaßen: „El no-ser, en tanto que es este momento inmediato, igual a sí mismo, es por su parte la misma cosa que el ser. Por consiguiente, la verdad del ser como la del no-ser está en su unidad.“ In den Grundlagen seiner Logik geht Hegel davon aus, das Sein und Nicht-Sein sich gleichermaßen enthalten. Es konnte jedoch kein Zitat tatsächlich identifiziert werden. Da der Text vor allen Dingen mit begrifflichen Gemeinplätzen aus der Ontologie operiert, sind auch andere Vorlagen oder eine generelle Parodie auf den ontologisch-philosophischen Diskurs denkbar. 557 Racine und dessen Tragödien „tan estomagantes“ halten - neben Flaubert - oft als Beispiel für Benets ausbleibende Begeisterung an der französischen Literatur her. Vgl. Juan Benet: „Prólogo“, in: ders.: La inspiración y el estilo, S. 9-20, hier S. 10. 558 Ich nehme an, dass es noch mindestens einen weiteren Intertext gibt, den ich nicht eindeutig identifizieren konnte. <?page no="261"?> 261 demselben Ort aufhalten. Dieses oszillierende Spiel zwischen direkten Zitaten aus Intertexten und konkreter Bezugnahme durchzieht das gesamte Kapitel. Darüber hinaus nimmt der Roman selbst die Gestalt eines Dramentextes an. Dies geschieht zum einen durch den intensiven Dialog der beiden bultos. Das telling rückt so sehr in den Hintergrund, dass der Text zum Teil nur noch bloßer Dialog ist. Zum anderen tragen dazu das intertextuelle Spiel und die Inkorporation fremder Texte, vor allem fremder Dramentexte, bei. Regieanweisungen wie „(Sale LA LUZ con un hacha encedida [sic! ]).“ und „(Dichos, menos EL ALBEDRIO.)“ (S. 114) aus dem auto sacramental A dios por razón de estado oder die französischen Zitate überführen den Roman über große Strecken hinweg in einen Dramentext. Die bultos selbst stellen ein deutliches Bewusstsein für das eigene Theaterspiel aus und wollen dabei nicht unterbrochen werden. Hervás, der nach einiger Zeit wieder in die venta hineinkommt, stört dabei nur. Er versucht indes immer wieder, das intensive Spiel zu unterbrechen. Die bultos lassen sich jedoch nicht abbringen und konzentrieren sich zunächst ganz auf ihren Dialog: “El tipo ése.” “El muy marrano.” “¿Qué se le habrá perdido por aquí? ” “Un atropello a la ciencia.” “Tal vez el estudio, la pasión del saber.” “Ni lo sueñes.” “No hagamos caso. Sigamos con lo nuestro.” “Eso es, lo nuestro.” “La embriaguez de lo absoluto.” (S. 117f.) “Señores, por favor...”, interrumpe Hervás. “A ver si se calla”, dice uno de ellos, el de más genio. (S. 120) Letztendlich gelingt es Hervás, wieder richtig zu Wort zu kommen. Er knüpft mit einem eigenen Monolog an den vorherigen Dialog der bultos an. Jedoch hat seine Rede weder inhaltlich noch lexikalisch etwas mit dem zuvor Gesagten zu tun. Er spricht über nicht näher definierte, zurückliegende und sehr schwierige Ereignisse, die er nur durch stoisches und aufopferungsvolles Durchhaltevermögen überstehen konnte. Hervás stilisiert sich selbst zu einer Art Messiasfigur und fordert umfassende Vergebung ein. Das Kapitel endet mit den bultos. Der kleinere von beiden meint zu der Lektion, die Hervás aus der Vergangenheit lernt, sie wäre zu nichts gut („Que no sirve para nada“, S. 122), was der andere mit einem erneuten Blick aus dem ventanuco <?page no="262"?> 262 bestätigt und sich dann der Treppe zuwendet, um nach dem Oberst Hoffmann 559 zu rufen. Die Unfähigkeit Hervás‘, Teil des Spiels der bultos zu werden, unterstreicht die strukturelle Verschiedenheit der beiden Parteien. Hervás ist hierbei der ewige Zuschauer, der nicht in das, was ihm geboten wird, eingreifen kann und es genauso wenig begreift. Er kann kein Teil des unbestimmten Halbschattens der venta werden - weder diskursiv noch seinem Wesen nach. Denn während die undifferenzierbaren Gestalten sich beschwingt dem textuellen Spiel hingeben, sucht Hervás immer noch nach seinem aplomo, der ihm eben jene Differenzierbarkeit garantieren soll. Das Schauspiel der Bündel wird in Kapitel XV fortgesetzt. In direkter Anknüpfung an Kapitel X befindet sich nun der Oberst Max Hoffman, aus dem Keller aufgestiegen, im gleichen Raum wie die Bündel und Hervás. Die bultos setzen ihr intertextuelles Rollenspiel fort, diesmal mit direkten Zitaten oder Anspielungen auf Texte des russischen Realismus von Dostojewski 560 , Tschechow 561 , Turgenev 562 , Lomonossow 563 , auf Flaubert durch die omnipräsente diligencia, auf zwei weitere Dramen von Racine 564 , durch Verweise auf die europäische Geschichte wie das schottische Königshaus Stuart 565 und auf 559 Dieser Oberst Hoffmann ist zunächst der dritten und der vierten Bühne zuzuordnen, wie sie in den folgenden Unterkapiteln dieser Arbeit beschrieben werden. Ähnlich wie Hervás und Somer bewegt er sich aber zwischen den unterschiedlichen Bühnen hin und her. 560 Auf S. 171 wird die Figur Varvara Petrovna aus Die Dämonen bzw. Die Besessenen genannt. „Aspasia Filipovna“ auf S. 172 könnte als Anspielung auf die Figur Nastasia Filipowna aus Der Idiot gelesen werden, ebenso wie „Pulqueria Yegorovna“ als spanische Verballhornung der Figur Natalia Yegorowna aus Schuld und Sühne. 561 Bei „Matvei Semyonich“ handelt es sich um eine Figur aus dem Stück Iwanow und „Pavel Konstantinovich“ könnte auf einen der beiden Protagonisten aus Die Dame mit dem Hündchen anspielen. 562 „Arkadi Grigorich“ könnte eine Anspielung an die Figur Arkadi Kirsanow aus Väter und Söhne sein. Auf S. 173 wird „Kapitolina Marovna“ genannt, was der Name der Tante Tanjas in Rauch ist. „Shurochka“ entspricht dem Namen einer Nebenfigur aus Ein Adelsnest, ein Roman, aus dem auch das kursiv gedruckte Zitat „Tout ça c‘est des bêtisses [sic! ]! “ wörtlich übernommen wurde. „Ecoutez moi, je vous en conjure! “ stammt aus Neuland. 563 Alle Textstellen in russischer Sprache (Transkriptionen in lateinischer Schrift) in Kapitel XV stammen aus dem Gedicht „Abendliche Betrachtung über Gottes Majestät anläßlich des Nordlichtes“ des russischen Universalgelehrten Michail Wassiljewitsch Lomonossow, der im 18. Jahrhundert lebte und selbstverständlich nicht mehr in die Reihe des russischen Realismus gehört. Für die Identifizierung dieser Zitate danke ich Sergej Gordon. 564 Siehe S. 178. Das erste französische Zitat „Ils sauront récuser […].“ stammt aus Britannicus, die Antwort „Armez-vous donc, […].“ aus Alexandre le Grand. 565 Auf Spanisch Estuardo, siehe S. 171. <?page no="263"?> 263 das letzte Zarenpaar, das durch die Bolschewiki ermordet wurde 566 . Die Verknüpfung der einzelnen Zitate und Anspielungen entsteht, indem die russische Namensbildung nachgeahmt wird. So entsteht ein regelrechtes Namensnetz (S. 171-174): Nikolaevna - Kapiton Kapitonich - Varvara Petrovna - Aspasia Filipovna - Pulqueria Yegorovna - Matvei Semyonich - Pavel Konstantinovich - Arkadi Grigorich - Nadeyda Ignatievna - Semion Sergeievich - Kapitolina Marcovna - Shuroshka - Advotia Yegorovna - Ekaterina Liubovna. Dieses Netz sorgt einerseits für den Zusammenhang auf lexikalischer Ebene und andererseits zeichnet es den russisch-slawischen Kulturraum zusammen mit den intertextuellen Verweisen und der Rede des Oberst Hoffmann als wichtigste Referenz in diesem Kapitel aus. Darüber hinaus werden die Texte der oben genannten prominenten Vertreter des russischen Realismus im Spiel der bultos als bloße Variationen ein- und desselben Motivs ausgestellt. Im Übrigen war Dostojewski in Benets literarischer Einschätzung ähnlich niedrig angesiedelt wie Racine oder Galdós: „No me divierte ni espero que me enseñe nada. Por si fuera poco, su estilo me parece zafio, exento de toda finura.“ 567 Turgenev und Tschechow gegenüber zeigte er sich in demselben Zeitungsartikel gnädiger. Auch in Kapitel XV konnten nicht alle Anspielungen oder Zitate eindeutig identifiziert bzw. zugewiesen werden. Es ist jedoch annehmbar, dass gerade aufgrund des spielerischen Charakters des Textes zum Teil keine Identifizierung möglich ist. Hervás’ Rolle ist wieder die des ewigen Dritten, dem es nicht gelingt, Teil dieses Spiels zu werden. Er ist nicht Herr seiner eigenen Gedanken und Reflexionen, weder in verbalisierter Form noch, wenn er sie absichtlich für sich behält. Die bultos hingegen beherrschen mit Freude am intertextuellen Rollenspiel die experimentellen Spielregeln 568 . Die Regeln sind tektonischer 569 , 566 Mit der Nachfrage „¿Y Nikolaevna? “ (ebd.) könnte auf die jüngste Tochter des letzten Zarenpaares Anastasia Nikolajewna Romanowa angespielt werden. Immerhin bestünde insofern eine Verbindung zu dem zuvor genannten schottischen Königshaus, als dass beide in gewisser Weise das Ende einer Monarchie durch eine revolutionäre Bewegung markieren. Die englische Monarchie wurde durch den englischen Bürgerkrieg 1642 bis 1649 und die wenn auch kurze Republik unterbrochen. Die gesamte Zarenfamilie wurde 1918 von den Bolschewiki ermordet. 567 Juan Benet: „Un estilo exento de toda finura“, in: El País, 28.01.1981, online verfügbar unter http: / / elpais.com/ diario/ 1981/ 01/ 28/ cultura/ 349484401_850215.html [zuletzt konsultiert am 31.03.2016]. 568 Im Folgenden beziehe ich mich auf Ulrich Ernst: „Typen des experimentellen Romans in der europäischen und amerikanischen Gegenwartsliteratur“; in: Arcadia 27: 3 (1992), S. 225-320. Ernst unterscheidet bei seiner Klassifikation experimenteller Romane tektonische, sprachspielerische, visuelle und permutative Verfahren. Dabei kann auch auf die Ähnlichkeiten mit den Verfahrensweisen von OULIPO verwiesen werden. 569 En el estado hat, wie gezeigt, eine zirkuläre Struktur. Zu den tektonischen Spielregeln, die den Kapitelanfängen zugrunde liegen, siehe den Anhang des Artikels Estrada: „En el estado“. Demnach werden die Buchstaben der letzten Kapitelüberschrift „Fármaco con olor a vid“ in eine Matrix aus den ersten sechs Konsonanten des Alphabets auf der x-Achse und den ersten drei Vokalen auf der y-Achse in Leserichtung eingetragen. <?page no="264"?> 264 sprachspielerischer 570 und permutativer Art 571 . Hervás hingegen versucht immer noch, sich selbst, seine Gedanken und sein Agieren zu verstehen, sich selbstbewusst in das Gespräch einzubringen und seinen aplomo zu erlangen, was jedoch in der venta nicht vorgesehen ist und ihm deswegen auch nicht gelingt. 572 Hervás spricht stets nur mit seinen adentros, also mit sich selbst. Gleichzeitig ist er sich seiner fatalen Situation nur allzu bewusst, was extrem komische Züge annimmt: “¿Hacia qué fecha sería eso? “, pregunta inopinadamente nuestro héroe, deseoso de entrar en la conversación, para añadir con satisfacción hacia sus adentros: „Bien, Hervás, bien; esta vez lo has cazado.“ (S. 175) Neben den Bündeln und Hervás bietet die venta des Weiteren in diesem Kapitel auch eine Bühne für andere Figuren, die aus ihren ursprünglichen Bühnen in die Schänke kommen. So steigen zunächst der Oberst Max Hoffmann und dann sein Gehilfe, der ujier 573 , aus dem Kellergeschoss in das Erdgeschoss auf. Auch die dama-crepúsculo betritt die venta. So kommen in einer Dann nimmt man jeweils die ersten beiden Buchstaben eines jeden Kapitelbeginns, die wiederum mit einem Buchstaben in der erstellten Matrix korrelieren. Für das erste Kapitel wären dies die Buchstaben ha des Wortes „Había“. In der Matrix entsprechen h auf der x-Achse und a auf der y-Achse dem Buchstaben c. Folgt man diesen Regeln für jedes einzelne Kapitel, so erhält man schließlich folgendes Anagramm der letzten Kapitelüberschrift: Cómo olvidar a Franco. 570 Als sprachspielerische Elemente können u.a. das bewusste Ausstellen der Polysemie einzelner Wörter, die Nonsens-Unterhaltungen der bultos, der spielerische Umgang mit Intertexten und Zitaten, die gleichzeitige Nachahmung russischer Namensbildung und die Verballhornung mehrerer Romanfiguren des russischen Realismus gelten. 571 Die in Fußnote 569 beschriebenen Spielregeln verfahren auch permutativ, da sie letztendlich als Textgenerator für die einzelnen Kapitel wirken. Nimmt man an, dass der Satz Cómo olvidar a Franco zuerst dagewesen ist, dann generiert er, eingetragen in die Matrix aus Vokalen und Konsonanten, die Kapitelanfänge. 572 „Recordará el sufrido lector que a fin de llenar el vacío provocado por la ausencia momentánea de su compañera de viaje, nuestro héroe dejó volar su imaginación hacia aquellas regiones del pensamiento que le eran más queridas; y a sabiendas de que su anterior reflexión, un tanto alocada, había escapado a su propio entendimiento, queriendo más sincero y explícito consigo mismo e involuntariamente contagiado del estilo que predominaba en el local, dijo para sus adentros ‚La novia del Reverte‘ […].“ (S. 171f., Hervorhebungen von mir) Der vorherige „esforzado lector“ (siehe S. 225 der vorliegenden Arbeit) ist hier zum „sufrido lector“ geworden, was erneut eine gewisse Bosheit des Erzählers gegenüber dem fiktiven Leser zum Ausdruck bringt. 573 Auch die Figur des ujier/ Gapón wäre eine detaillierte Analyse wert, wird in dieser Arbeit jedoch vernachlässigt. Mehrere Charaktere scheinen hier in einer Figur zusammenzufallen. Während Somers Aufenthalt im Offiziersbüro verschmelzen die beiden ‚Gehilfen‘-Figuren des Obersts, nämlich der ordenanza und der ujier zu einer Figur, die im weiteren Verlauf dann nunmehr als pope Gapón auftritt. Auch hier gibt es eine historisch belegte Referenz: Georgi Apollonowitsch Gapon war ein Pope, der während der russischen Revolution 1905 eine wichtige Rolle als Anführer von Arbeiterprotesten und Unterstützer von sozialen Reformen spielte. Die Figur bildet also einen Teil des Netzes aus Referenzen zum russisch-slawischen Kulturraum, das weiter unten noch <?page no="265"?> 265 Art Finale in Kapitel XVII 574 Figuren aus allen Bühnen in der Schänke zusammen. Das Kapitel erinnert an die Schlussszenen in Komödien, in welchen alle Figuren aufeinandertreffen und ein fröhliches Fest feiern. Auf das Absurde der venta übertragen, treffen hier mit den Figuren auch deren Redeweisen aufeinander und versuchen, mehr denn je, eine Verkettung und Verknüpfung zu bilden (S. 202ff). Dies geschieht auf textueller Ebene, indem die bultos den noch mehr oder weniger ‚sinnvollen‘ Schlagabtausch zwischen dem ujier und dem Oberst unterbrechen. Auch Hervás versucht sich wie gewohnt vergeblich in das Gespräch einzubringen. Zuletzt schaltet sich die dama ein, die das Lokal betritt und offensichtlich unerwünscht ist: “¡Viva Primo de Rivera! ”, exclama la mujer de los pechos caídos y la túnica color crepúsculo, entrando como un vendaval en el local y tratando de desasirse del oficial, a duras penas capaz de sujetarla. (S. 203f.) Dieses zunächst auf textueller Ebene vollzogene Aufeinandertreffen der Redeweisen der Figuren findet seine Entsprechung in der physischen Aneinanderkettung der entsprechenden Figuren: La dama se aferra a los calcañares de Hervás para resistir el tirón del oficial, que sujetándola por los tobillos trata de sacarla del local y Hervás, dando media vuelta, al buscar un asidero en el mostrador se encuentra con los brazos extendidos del ujier, que ya ha lavado el cuchillo en la pila de fregar. (S. 204) Der Oberst versucht die Dame aus dem Lokal zu befördern, diese hält sich an Hervás fest, der in letzter Minute am ujier Halt findet. Das Kapitel schließt auch mit einem weiteren Monolog dieses letzten Glieds in der Kette, der Hervás den Mund zuhält, um sein Identitätsphantasma („Gapón es siempre el mismo.“) zur Sprache zu bringen. beschrieben wird. Die Figur zeichnet weiterhin eine Art Identitäts-Besessenheit aus, da ihre Monologe ständig von der Frage nach der eigenen Identität bestimmt sind. Des Weiteren lässt sich eine Tendenz der ständigen Verschiebung von Wortbedeutungen beobachten (vgl. z.B. auf S. 183f. das Delirieren über sentarse und encontrarse). Über die Rede der Figur wird außerdem das Thema Zeit und Ereignis, bzw. dem das Herausfallen aus der Zeit im contratiempo verhandelt. 574 Dieses Kapitel ist auch das letzte, bevor der Roman wieder komplett aus dem absurden Theater der venta hinaustritt, um die zirkuläre Struktur des Textes zu schließen. Das Schlusskapitel nimmt, wie erwähnt, mit kleinen Variationen das Anfangskapitel wieder auf. Dass dem Kapitel XVII als eine Art Klimax und Finale in der venta besondere Bedeutung zukommt, wird ironisch von einem der Bündel zur Sprache gebracht: „‘He aquí un último capítulo en el que, según es costumbre, se debería desentrañar el misterio. Pues bien, el que lo quiere descifrar es quien lo crea. He dicho.’“ (S. 204) Es wird suggeriert, der Leser könne, wie in einem Kriminalroman, im letzten Kapitel alle Fäden zusammenführen und das Rätsel lösen. Dies ist freilich in En el estado in keiner Weise vorgesehen. <?page no="266"?> 266 Mit dem Bezug zu Beckett stellt sich insbesondere in Zusammenhang mit dem Spiel in der venta die Frage, inwiefern hier mit dem Begriff des Absurden bzw. des Absurden Theaters gearbeitet werden kann. Nach wie vor scheint Martin Esslins Buch Das Theater des Absurden 575 als Orientierung für Arbeiten zum Absurden zu dienen, so auch bei den erwähnten Artikeln von Carrera zu den Dramen Benets. Dabei bleibt Carrera bei einer rein thematischen Definition des Absurden stehen und untersucht die entsprechenden thematischen Merkmale „La inexistencia de Dios“, „La relativización del tiempo“, „La inconsistencia del yo“ und „La incomunicación“ in Benets Dramen. 576 Diese Analysepunkte sind jedoch eher allgemeingültige Phänomene, die soziale und kulturelle Umbrüche im 20. Jahrhundert beschreiben, als Spezifika des Absurden. Carola Veit 577 kritisiert eine solche starre thematische Definition des Absurden. Sie fordert insbesondere für Beckett, das Absurde als ein dynamisches, rezeptionsästhetisches Phänomen zu verstehen, das ein Gefühl der Fremdheit beinhaltet. In ihre Argumentation fließt auch eine historische Rekapitulation verschiedener Definitionsversuche des Absurden ein. Das Absurde ist dialektisch zu verstehen, denn erst durch das Verlangen nach Verstehen und Einheit kann das Andere als vernunftwidrig und sinnlos empfunden werden. Je stärker das Verlangen ist, um so schmerzlicher wird die Trennung des Subjekts vom Objekt und damit das Absurde empfunden. Das Absurde stellt als Grenzsituation für den Verstand eine Beschneidung der Aneignungsbestrebungen des Individuums dar. Diese Beschränkung wird aber in den Definitionen durch den Sprung in den Glauben, den Entwurf und die Revolte überwunden und in die Autonomie des Subjekts umgekehrt. Das Absurde stellt also den Ausgangspunkt für den ‚Sprung‘ in eine neue Dimension dar. 578 Diese neue Dimension kann auch das Irrationale sein, was sich Veit zufolge an Becketts Texten beobachten lässt. Folgt man einem solchen Verständnis des Absurden, so kann man sicherlich auch En el estado als ein Text beschreiben, der auf das Absurde abzielt. Dies lässt sich insbesondere an dem Spiel der bultos erfassen. Im funktionalen Rahmen des Theatralen und auf der Textoberfläche treffen mittels Zitaten und Anspielungen verschiedene kulturelle, literarische, historische und philosophische Traditionen aufeinander. Dieses unkommentierte Aufeinanderprallen löst ein Befinden der 575 Martin Esslin: Das Theater des Absurden, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2006. Die englische Erstausgabe erschien 1961. 576 Vgl. Carrera Garrido: „Dramaturgías del ser“. 577 Carola Veit: „Das Absurde in Becketts Werk - Reconsidered“, in: Peter Brockmeier/ Carola Veit (Hgs.): Komik und Solipsismus im Werk Samuel Becketts, Stuttgart: M & P, 1997, S. 29-43. 578 Ebd., S. 37f. <?page no="267"?> 267 Fremdheit aus, da dem Leser keine Schemata zur Bewertung und Einordnung der jeweiligen Hintergründe zur Verfügung stehen. Gleichermaßen birgt der Text aber auch ein immenses Komik-Potenzial. Dabei wird das Komische als Kipp-Phänomen 579 verstanden, das in jedem Moment von Ernst in Unernst, von der Opposition in die komische Dekonstruktion der Opposition kippen kann. In diesem Sinne lassen sich die Dialoge der bultos oder die oben beschriebene Figurenkette auch nicht mehr rational fassen. Vor dem erläuterten historischen und Benet-spezifischen Hintergrund handelt es sich ja durchaus um ernsthafte Themen und Diskurse, die in den Roman aufgenommen werden. Nicht zuletzt wird mit dem Motiv des Krieges bei Benet auch immer die Frage nach der narrativen und historischen Verarbeitung der guerra civil aufgeworfen. Die Ernsthaftigkeit verschwindet also nicht vollkommen. Gleichzeitig werden die Intertexte und Diskurse durch die verschiedenen experimentellen Verfahren extrem verfremdet, zum Teil lächerlich gemacht und im Spiel mit den Signifikanten der Semantik beraubt. Der Text kippt in das Irrationale. IV.3.3 Die dritte Bühne: der sótano Bei der dritten Bühne handelt es sich um das Kellergeschoss der venta. Die relevanten Kapitel sind VII, VIII, XII und XIII. Die wichtigsten Figuren sind der Oberst Hoffmann, der ujier und señora Somer, die durch einen Treppensturz in Kapitel VII 580 in den Keller gelangt. Sie ist somit eine Art Grenzgängerin zwischen der zweiten und der dritten Bühne. En ese momento, en ese preciso momento, la señora Somer cae por las escaleras y queda sentada en el último peldaño, con las piernas abiertas y delante del grueso cortinón de color chocolate que es apartado por la mano del ordenanza. (S. 89) Der Versuch, den genauen Moment des Sturzes zu bestimmen, ist in En el estado ein abwegiges Vorhaben. Durch seine Erzählstruktur unterläuft der 579 Vgl. Rainer Warning: „Komik/ Komödie“, in: Ulfert Ricklefs (Hg.): Fischer Lexikon Literatur, Frankfurt am Main: Fischer, 2002, S. 897-936, hier S. 908f. 580 Kapitel VII kommt insofern eine Sonderstellung zu, als dass es in viel höherem Maße als andere Kapitel des Romans Versatzstücke der unterschiedlichen Geschichten in En el estado enthält. So wird einerseits von Somers Sturz die Treppe hinunter berichtet und somit eine Einführung in die dritte Bühne gegeben. Andererseits wird wieder auf die Vorgeschichte der Protagonisten inklusive der Tochter Somers und der Frau Ricardos rekurriert. Darüber hinaus gibt es einen Schwenk auf die Szene vor der Tür zwischen Ricardo und der dama-crepúsculo. Die Stimme des dueño, der das Schauspiel durch den ventanuco beobachtet, kommentiert das Geschehen fluchend und berichtet, der Kaffee für Hervás sei fertig. Während die anderen Kapitel sich mehr oder weniger auf eine Bühne und/ oder eine Erzählung konzentrieren, findet hier also eine Häufung und eine direkte, oft relativ abrupte Verknüpfung der verschiedenen Ebenen statt. <?page no="268"?> 268 Text jegliche zeitliche Festlegung. Umso wichtiger wird die räumliche Strukturierung der vier Bühnen - Figuren und Gestalten werden nicht durch eine zeitliche Abfolge miteinander in Verbindung gebracht. Stattdessen erfolgt die Kontextualisierung - neben den erwähnten experimentell-spielerischen Erzählverfahren - intradiegetisch durch die räumliche Einordnung. Der Übergang vom Innenraum der venta zum Kellergeschoss ist also durch diesen Sturz markiert. Auch hier wird die Schwelle mit einem Vorhang beschrieben, hinter dem sich eine nicht weiter differenzierbare Dunkelheit verbirgt: “La señora Somer, si no me equivoco”, dijo el ordenanza, al tiempo que sin pedir explicaciones ni permiso, le despojaba de su capa. “Hace tiempo que la están esperando.” La señora Somer no quedó sorprendida. Apenas le había hecho esperar tras su aparatosa caída de la que - con excepción de la redolente sensación en el trasero - apenas recordaba nada: unas escaleras empinadas y oscuras y un cortinón de terciopelo o damasco de color chocolate, un tanto inapropiado para el lugar. Sentada todavía en el suelo, sin acertar a distinguir nada en la fresca oscuridad que había sucedido a la penumbra del chamizo, había sido asistida por el ordenanza, pulcramente uniformado, que le ayudó a incorporarse. (S. 86) Obwohl hier scheinbar die ‚frische Dunkelheit‘ des Kellers gegenüber dem ‚Halbdunkel der Spelunke‘ hervorgehoben ist, bleibt doch höchst fragwürdig, ob diese neue Bühne mehr eindeutiges Erkenntnispotential birgt als die Portada und die venta. Die Rede des Oberst Max Hoffmann ist im Nachhinein leicht identifizierbar, da die vorrangigen Themen Kriegsstrategie und die Ausschaltung einer ungewissen Zukunft sind. Während er Somer in seine strategischen Geheimnisse einweiht, die in den Plänen, „lo más importante“ (S. 81), enthalten sind, verhält er sich wie ein Schauspieler, „como un actor en un aparte“. Für Somer stellt der Oberst einen Mann dar, der sich nicht wie Hervás ständig in irgendwelchen verbalen Abwegen verirrt, sondern weiß, wo er hinmöchte. Der Oberst stellt klar, dass es sich bei seinen militärischen Überlegungen um Strategien für große Kriege handelt, bei denen es um Überleben und Vernichtung geht und nicht um kleine taktische Scharmützel: “Me refiero, claro está […] a las guerras de supervivencia y exterminación, y no a las campañas de objetivos limitados, esas que - hablando entre nosotros - podríamos denominar de alcance táctico.” (S. 82) Von Beginn an lassen sich in der Rede Hoffmanns die verschiedenen militärischen Prinzipien identifizieren, die bereits im Kapitel zum Krieg erarbeitet wurden. Strategie und Taktik werden gegeneinander ausgespielt, auch wenn dies aus militärtheoretischer Sicht nicht sinnvoll ist. Der ‚große strategische Wurf‘ wird gegenüber dem ‚kleinen, taktischen Scharmützel‘ als <?page no="269"?> 269 überlegen angeführt. Hoffmann positioniert sich selbst auf der Seite der großen, modernen Kriegsführung - sein Prinzip ist der Vernichtungskrieg. Die Verheißung, den unsicheren Hervás durch einen Mann der Vorhersehungen ersetzen zu können, stimmt Somer so freudig, dass sie sich - wieder in Übertreibung - fragt, ob sie mit dem Sturz nicht gleichzeitig die Schwelle zum Paradies überschritten hat: Escudriñando a través de la niebla de los sentidos se preguntaba si con el tropezón en la escalera no habría cruzado los umbrales del paraíso. ¿Era posible? […] ¿cómo era posible morir, pasar a mejor vida y conservar el dolor en el coxis? Por otra parte, aunque la escena había cambiado por obra instantánea del taumaturgo, ella misma conservaba íntegra su vestidura terrenal. (S. 83) Somer erkennt, dass sich auch hier der Schauplatz wie von Zauberhand 581 komplett geändert hat. An diesen in Kapitel VII geschilderten Sturz der señora Somer und die Vorstellung der Figuren Oberst Hoffmann (wenn auch noch nicht namentlich genannt) und Pope Gapón schließt Kapitel VIII direkt an. Wieder wird die Überschreitung der Grenze zwischen der zweiten Bühne und dem Keller durch Somers Sturz und die veränderte Atmosphäre dem fiktiven Leser in Erinnerung gerufen: No debe olvidar el lector que su primera sensación, tras la caída, había sido de gratitud y que el ambiente donde había desembocado, una vez que el ordenanza retirara el cortinón de damasco, no le sorprendió. (S. 93) Somer dringt nach dem Sturz immer tiefer in den sótano ein: Zunächst befindet sie sich direkt vor dem erwähnten schokoladenfarbigen Vorhang, der zum Vorzimmer des Offiziersbüros 582 führt. Der Bote („el ordenanza“) bringt sie hinein und wie schon bei ihrem ersten Auftritt in der Portada muss sie sich zunächst, im Bewusstsein der ständigen Beobachtung, erneut zurechtmachen und dem Anlass entsprechend in Szene setzen: La señora Somer se sacudió la falda y enderezó su sombrero; a sí misma se vio como el sujeto de una de tantas fotografías […]. (S. 93f.) Durch das Überprüfen ihrer Zähne und des Zahnfleisches kurz darauf wird diese Selbstinszenierung wieder parodistisch übertrieben. Nach kurzer Bekanntschaft mit der Figur des Popen Gapón wird Somer dann vom Oberst empfangen. Sie dringt weiter in das Reich der militärischen Eliminierung des Zufalls ein: 581 Vgl. zum Werk des ‚Wundertäters‘ das Ende des ersten Romankapitels (S. 21), in der vorliegenden Arbeit auf S. 185 behandelt. 582 In Bezug auf die Figur Max Hoffmann wird sowohl die Bezeichnung „coronel“ (‚Oberst‘) als auch, weniger häufig, „oficial“ (z.B. S. 95, ‚Offizier‘) verwendet. <?page no="270"?> 270 El gabinete era una amplia habitación, forrada de mapas y ocupada casi exclusivamente por mesas y tableros abarrotados de papeles, iluminada por focos aislados que colgaban de una nube de polvo y humo, que resultaba imposible saber si era alta o baja y consagrada en su gravedad por el descomunal tic tac de un reloj de pared, de paso muy lento, cuyo compás bien podía ser aquel que marcara el ritmo original del Tiempo, anterior a la invención del Estado. (S. 95) Auch das Büro ist von einer undurchdringbaren Staub- und Rauchwolke geprägt, die die Wahrnehmung und Einschätzung des Raumes erschwert. Des Weiteren beherrschen zahllose Karten und Pläne sowie eine extrem verlangsamte Zeit 583 den Eindruck. Der Oberst befindet sich hinter einem der Tische und heißt Somer mit großer Geste willkommen. Anscheinend hat man schon seit längerer Zeit auf Somer gewartet. Dem Leser wird nahegelegt, die von Hervás, Somer und Ricardo unternommene Reise diene einzig und allein dem Zweck, Somer nun in dem Offiziersbüro den Plan des Generalstabs darzulegen. Die dritte Bühne greift das Halbdunkel bzw. die durch die Lichtverhältnisse erschwerte Wahrnehmung der vorherigen Schauplätze auf. Gleichzeitig bereitet sie, indem sie den Offizier als charakterliches Gegenteil Hervás’ begreift, die vierte Bühne vor. IV.3.4 Die vierte Bühne: el mapa del teatro de operaciones Somer soll zwar nicht mit technischen Details gelangweilt, jedoch in das Projekt im Großen und Ganzen mittels einer zu betrachtenden Karte eingeweiht werden: “[...] Permítame que le ofrezca este asiento, apreciada señora, desde el que podrá usted contemplar, como a vuelo de pájaro, tanto el despliegue inicial como la evolución prevista de los acontecimientos.” De debajo de la mesa el oficial extrajo una pequeña silla de campaña, plegable, una silleta de tijera con la lona gastada por el uso y donde, al tomar asiento, la señora Somer quedó clavada, con la barbilla en contacto con el mapa del teatro de operaciones, a escala 1: 5000. (S. 96f., Hervorhebungen von mir) Somer hat mit dem Offiziersbüro die dritte Bühne betreten und ist als Figur zum Teil derselben geworden. Mit dem Blick auf die Karte, auf den mapa del teatro de operaciones, wird sie zur Zuschauerin und Betrachterin des Geschehens auf der vierten Bühne: der Karte bzw. des Schlachtplans des Krieges. Auf dieser Bühne sollen alle Zufälle eliminiert werden und die Ereignisse 583 Auf das Motiv der Uhr und Benets Konzeption der Zeit kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. <?page no="271"?> 271 bis ins kleinste Detail vorhersehbar sein. Dabei stellt el mapa del teatro de operaciones den grundlegenden Zusammenhang zwischen den bisher präsentierten Bühnen und der militärisch-strategischen Rede des Obersts her. Der Begriff el mapa del teatro de operaciones enthält einerseits die Möglichkeit zur Schau der Ereignisse - auf der Fläche der Karte fallen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eins und werden im räumlichen Dispositiv der kartographischen Projektion für den Betrachter aus der Vogelperspektive erschaubar. Die Ereignisse, die eigentlich einer zeitlichen Abfolge unterliegen, werden durch die Karte simultan dargestellt. Andererseits werden die Ereignisse und die Akteure des Krieges zu Marionetten in einem strategischen Schauspiel. In mehreren Monologen ruft Hoffmann nun mit dem Feldzug des deutschen Heeres in Ostpreußen im ersten Weltkrieg ein historisch belegtes Kriegsereignis auf. Neben den bereits erwähnten Monologen in der venta, die auf der Ebene der histoire wahrscheinlich nach Somers Besuch im Offiziersbüro liegen, geschieht dies in einem kursiv gedruckten Absatz auf Französisch (S. 97) 584 . Dort geht es um das Verhalten der deutschen Armee in Ostpreußen im Falle einer möglichen russischen Attacke. Weitergeführt wird das Treffen zwischen dem Oberst und Somer in Kapitel XII. Die Pläne Hoffmanns konkretisieren sich. In einer sehr langen ununterbrochenen Rede, die fast das gesamte Kapitel einnimmt, legt er eine Wissenschaft des Krieges dar. Nilsson hat auf die militärischen Technokraten zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Vorbilder verwiesen: Die Vorstellung, einen Krieg durch technische Studien und gründliche Planung am Reißbrett im Vorab entscheiden zu können, ist eine Idee, die […] das strategische Denken in Europa und Nordamerika ab etwa 1850 maßgeblich zu beeinflussen begann. 585 Dabei geht es immer weniger um die tatsächlichen Geschehnisse auf dem Schlachtfeld. Denn der Oberst entfernt sich gemeinsam mit seinen theoretischen Darlegungen immer mehr von der Praxis, auf die sie anwendbar sein sollten: “[...] Una contienda actual es una pugna entre dos previsiones que, si están cuidadosamente desarrolladas, si se han considerado los menores detalles, incluso aquellos reveses locales que puedan amenazar la consecución del plan, apenas deben verse afectadas por los resultados en el campo. […] Ya no se trata solamente de establecer planes de campaña y, a la vista de los resultados, dictar nuevas directrices para la consecución de los objetivos de la guerra. Se trata mucho más de eso; se trata de hacer la guerra aquí, sobre el tablero, mucho más que en el campo y tal vez con olvido de él. […] Se trata, en otras palabras, de apoyarnos en esa obediencia para poder desdeñar los acontecimientos que 584 Falls es hier einen bestimmten Intertext gibt, so konnte er nicht identifiziert werden. 585 Nilsson: Der ironische Diskurs, S. 119. <?page no="272"?> 272 no se ajusten a la previsión y si es menester, trazar una neta línea de divorcio entre lo que ocurra en el campo de operaciones y lo que debe seguir ocurriendo aquí.” (S. 135f.) Der richtige Kampf findet demnach schon lange nicht mehr auf dem Schlachtfeld statt, sondern ist vielmehr ein Widerstreit zwischen zwei Vorhersehungen, die nicht miteinander vereinbar sind. Dieser erste Hauptsatz des Zitats stellt dabei eine fatale Fehlinterpretation dessen dar, was Clausewitz zum Kampf und zum Verhältnis von Schlacht und Krieg sagt. Die Schlacht, die eigentlich als taktische Einheit einer Kriegsplanung verstanden werden kann, wird hier ihrer ‚Aktualität‘ und dem Schlachtfeld enthoben. Taktik an sich wird demnach hinfällig und der Krieg erschöpft sich vollkommen in der Strategie. Die Planung auf dem Reißbrett wird wörtlich genommen und umgesetzt. Falls notwendig, wird man auch das, was auf dem Schlachtfeld passiert, absichtlich ignorieren und weiterhin das verfolgen, was der Plan eigentlich vorschreibt. „Die Arbeit seines Stabes besteht vordringlich in der konkreten Anwendung von theoretischen Axiomen.“ 586 Durch diese Herangehensweise stellt der Generalstab des Obersts dem Roman zufolge durchaus eine Ausnahme dar: Während andere, verfeindete Stäbe noch viel zu sehr im Konkreten des Schlachtfeldes verhaftet sind 587 , haben Hoffmann und seine Mitstreiter den Krieg in den Bereich des Erhabenen gebracht: „‘[...] [H]emos sublimado la guerra […], hemos transformado la prueba de fuerza en un ejercicio de la inteligencia.’“ Dabei wehrt er auch den möglichen Vorwurf ab, es handele sich bei diesem „ejercicio de inteligencia“ um ein bloßes Spiel. Trotz der Distanz zum tatsächlichen Schlachtfeld geht es immer noch um „[...] la guerra con todo su aparato de destrucción, muerte, despojo, sangre, envilecimiento y brutalidad.“ (S. 137) Der Soldat, der mit seiner „excesiva imaginación“ (S. 138f.) zunächst den Plänen des Generalstabs entgegensteht, muss gleichsam ‚erweckt‘ und ‚erleuchtet‘ bzw. ‚aufgeklärt‘ werden („Ni por un momento lo engañamos, sino que lo despertamos. […] Era una iluminación, una revelación indefectible“ 588 ). Er soll dem ‚Fortschritt der Vernunft‘ („progreso de la razón“), der die Arbeit des Generalstabs ausmacht, gerecht zu werden. Dabei entspricht dem ‚Sieg des Geistes‘ („triunfo del espíritu“) die ‚Insuffizienz des Materiellen‘ („la insuficiencia de los medios materiales“). Mit diesen Formulierungen 586 Ebd., S. 118. 587 „Eso es lo que nos diferencia de otros Estados Mayores que […] siguen apegados al terreno. Siguen, en una palabra, dependiendo de la suerte, de las contingencias.“ (S. 136) 588 Dieser Satz könnte darüber hinaus auch als Anspielung auf Sigismundos Zustand zwischen Träumen und Wachen in La vida es sueño erstanden werden. <?page no="273"?> 273 wird das Vorgehen des Obersts in die Nähe des Vernunftsbegriffs der Dialektik der Aufklärung gerückt. 589 Der ewige aufklärerische Fortschritt wird ins Extreme vorangetrieben, bis eben jene Vernunft instrumentelle, ideologische und gar diktatorische Züge erhält, die jegliches kreative Aufbäumen einer imaginación unterdrücken. Das verabsolutierte Strategische wird so mit dem verabsolutierten Rationalen gleichgesetzt. Das Materielle ist in diesem Konzept per se schon mit dem Makel der Unzulänglichkeit behaftet. Hoffmann beginnt, rückblickend die Entstehung des Plans seines Generalstabs zu erzählen, bei dem Alfred von Schlieffen 590 die Rolle eines Propheten zukommt, der die initiale Idee für den Plan hatte. “Un profeta, un verdadero visionario. A partir de aquellos principios se podían confeccionar los planes, aunque exigieran un edificio de nueva planta, una numerosa plantilla de oficiales, técnicos, agentes, observadores, topógrafos, geodestas, una red en el extranjero, un presupuesto especial. Cinco años más tarde salían de nuestros gabinetes los primeros planes parciales, imperfectos todavía, susceptibles de cuantiosas correcciones, pero ya marcaban una diferencia - incluso gramatical - con cuanto un Estado Mayor hubiera podido confeccionar en aquellos días. Planes que, a pesar de sus deficiencias colmaban de confianza a los más escépticos. Por ejemplo, observe usted la detallada lógica factual que encierra esta breve colección, dijo, abriendo un álbum con tapas de cartón, atado con cintas carmesí, un tanto ajadas.” (S. 139f.) 589 Adorno und Horkheimer sprechen in der Vorrede zur Dialektik der Aufklärung von einem selbstzerstörerischen Element, das die Aufklärung, indem sie die Vernunft an die Spitze einer erstrebenswerten, dialektischen Fortentwicklung der Menschen stellt, schon immer in sich trägt: „Die Aporie, der wir uns bei unserer Arbeit gegenüber fanden, erwies sich somit als der erste Gegenstand, den wir zu untersuchen hatten: die Selbstzerstörung der Aufklärung. Wir hegen keinen Zweifel […], daß die Freiheit in der Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriff eben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet. Nimmt Aufklärung die Reflexion auf dieses rückläufige Moment nicht in sich auf, so besiegelt sie ihr eigenes Schicksal.“ (Theodor Adorno/ Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main: Fischer, 1969, S. 3) 590 Alfred von Schlieffen war von 1891 bis 1906 war Chef des Generalstabs der deutschen Armee und somit der faktische Oberbefehlshaber im Kriegsfall. 1904/ 05 entwickelte er den „Schlieffen-Plan“, der zur Vernichtung des französischen Heeres mit fünf auf einen Schlag durch Belgien vorstoßenden deutschen Armeen führen und die Ostfront absichtlich vernachlässigt werden sollte. Der Plan wurde unter Schlieffens Nachfolger Helmuth von Moltke in modifizierter Form angewendet. Faktisch führte dies zu einem Stoppen des deutschen Vormarsches im ersten Weltkrieg und zu großen Verlusten. Siehe für eine kurze Einführung: Wolfgang Petter: „Schlieffen, Alfred Graf von“, in: Neue deutsche Biographie, S. 81-83, online verfügbar unter http: / / www.deutsche-biographie.de/ ppn118759396.html [zuletzt konsultiert am 31.03.2016]. <?page no="274"?> 274 Diese Überhöhung Schlieffens ist nicht nur wegen der rhetorischen Übertreibung parodistisch. Der historische Schlieffen-Plan scheiterte bekanntermaßen, nicht zuletzt aufgrund der Missachtung von politischen, militärischen und logistischen Realitäten, die im Plan nicht vorgesehen waren. Die Verabsolutierung des Strategischen wird somit bis ins Lächerliche getrieben. Im Anschluss erläutert der Oberst ein konkretes Beispiel, das sich auf den Kartonseiten des Albums findet. Auf diesen „tapas de cartón“ kann Somer den Verlauf einer Schlacht - die anscheinend auch zum deutschen Feldzug in Ostpreußen gehört - direkt mitverfolgen. Sie kann das geplante Schauspiel des Krieges, bereinigt von jeglichen Ambiguitäten und Zufällen, auf den zweidimensionalen Plänen betrachten. Dabei berichtet der Oberst im Futur, was auf den Kartonseiten zu sehen ist. Am Schluss des Kapitels unterbricht der Oberst seine Ausführungen, betrachtet kurz Somer, bis er aus der Leere her gerufen wird. 591 Man kann annehmen, dass er daraufhin in die Schänke aufsteigt, um seinen Monolog dort fortzusetzen. Auch wenn Teile des Monologs des Obersts also nicht in dem Büro im sótano stattfinden, kann man sie trotzdem als verbales und textuelles Korrelat des mapa del teatro de operaciones verstehen. Er versucht in all seinen Monologen, das, was auf der Karte gesehen wird, verbal wiederzugeben. Für den Leser jedoch gibt es hier - anders als bei Herrumbrosas lanzas - keine tatsächliche Karte. Was Somer angeblich sieht, kann der Leser nicht sehen. Die Rede des Obersts wird zum Substitut der Karte. Sie versucht, eine ähnliche Rezeptionsweise hervorzurufen, wie es die Karte täte, existierte sie materiell. In Kapitel XVII holt der Oberst die Schlacht in Ostpreußen 1914 wieder zurück in das Geschehen. Als ob er und sein Zuhörer 592 der Schlacht direkt beiwohnten, erzählt und kommentiert er die Kriegsgeschehnisse dieses Mal im Präsens. Dabei wird deutlich, dass auch hier die von ihm erzählten Ereignisse auf verschiedenen planos gesehen werden können: „‘Y pasando a otro plano ¿vio usted el cruce del Maranz al oeste de Waplitz? ’“ (S. 197) Dabei werden u.a. die Verhandlungen des Friedensvertrags von Brest-Litowsk, bei dem auf russischer Seite Trotzki Verhandlungsführer war, geschildert. Hoffmann schließt mit der Bemerkung: “[...] Trotsky no encuentra palabras con que replicar y se produce un silencio tan embarazoso que la sesión se levanta rápidamente.” “Tuvo que ser un momento muy emocionante”, conviene el señor Hervás. 591 „Luego se dirige [uno de los bultos] al arranque de la escalera y llama con sonora voz: ‘Hoffmann! ’“ (S. 122) 592 Dieser Zuhörer wird immer wieder durch Nachfragen zum Kriegsgeschehen direkt angesprochen (z.B. „‘¿Y qué le ha parecido? ¿Vio usted el ataque de la 37.ª División? ’“ (S. 197) Da im Kapitelanfang der Zuhörer nicht näher definiert ist, man aber zwei Seiten später wieder innerhalb der Schänke verortet wird, kann man darüber hinaus sowohl vom fiktiven Leser als auch von Hervás oder dem ujier als Publikum und Angesprochene ausgehen. <?page no="275"?> 275 “Lo es todavía y lo seguirá siendo siempre, he ahí la gran diferencia. Cuando se proyecta la historia con tanta precisión se alcanza el techo del tiempo y no se puede seguir adelante. Ni adelante ni atrás. Se queda uno clavado al terreno, como un buen soldado.” (S. 199f.) Auch hier wird wieder die Korrelation der Funktionsweise von Karte und Rede des Obersts hervorgehoben. Die Projektion bewirkt, dass die Darstellung nicht nur um die räumlichen Tiefe, sondern vor allen Dingen um die zeitliche Dimension gemindert wird. Doch dabei wird offensichtlich, dass die entsprechende Funktionalisierung der Rede des Obersts scheitern muss. Ob im Präsens - ähnlich einer Mauerschau - oder im Futur gehalten, nie gelingt es der Rede, eine carte zu realisieren. Der Leser kann nicht como a vuelo de pájaro mit dem Text alle Ereignisse strategisch überblicken. Stattdessen wirken die sprachlichen Darstellungen der Kriegsereignisse wie ein parcours - der Leser ist gezwungen, die jeweilige Perspektive einzunehmen, die vom Text vorgegeben ist. Nie kann eine Simultaneität entstehen, die die sukzessive Abfolge der Ereignisse unterschlägt. Im Folgenden werden zur Verdeutlichung kurze Abschnitte aus den Monologen des Obersts im Präsens und im Futur zitiert. “En cuanto el 1. er Cuerpo de reserva toma posiciones en la línea Alt-Vierzighufen-Kirschdorf, sin haber detectado al enemigo, el general von Below, de acuerdo con el 17. o Cuerpo de ejército, decide no avanzar más que con unos destacamentos de la 36. a División hacia Klein-Bössau contra el flanco de los rusos que operan al este del lago.” (S. 197) “Por otra parte, el ataque a ambos lados de Waplitz será contenido por la resistencia enemiga del río Maranz y toda la progresión del dispositivo central bloqueada por la inmovilización de sus brazos; tan sólo el 2. o Batallón de la 59. a de infantería conseguirá cruzar el Maranz al oeste de Waplitz y consolidar una cabeza de puente que se demostrará inútil, pues poco después una espesa niebla impedirá al comandante de la fuerza la explotación de su éxito inicial.” (S. 142) Bei dem Auftritt Hoffmanns in der venta in Kapitel XV ist dessen Rede auch mit zahlreichen Verweisen auf Russland durchsetzt. Tatsächlich war die historische belegte Person Hoffmann wesentlich an den Geschehnissen der deutschen Ostfront im Ersten Weltkrieg beteiligt. 593 In Kapitel XV konzentriert er sich vor allen Dingen darauf, die theoretischen und strategischen 593 Nilsson hat sich eingehend mit dem ‚militärischen Diskurs‘ im Benetschen Gesamtwerk auseinandergesetzt und geht auch auf die historischen Bezüge der Figur Hoffmann ein. Vor allen Dingen die Überschrift des Kapitels VII „El XX Cuerpo de Ejército (Von Scholtz) toma posiciones en la línea Loetzen-Nikolaïken“, und die Rede des Obersts in den Kapiteln, die hier noch im Zusammenhang mit der dritten Bühne behandelt werden, enthalten zahlreiche Anspielungen und eine „Vielzahl von für Benetsche Verhältnisse sehr genauen Orts- und Truppenbezeichnungen“ in Bezug auf die <?page no="276"?> 276 Überlegungen herauszustellen, die den konkreten Kriegsgeschehnissen an der Ostfront zugrunde liegen. Dabei schwingt die Rede wieder zwischen (historischer) Distanz und Konkretisierung in Bezug auf die Deixis des Romans: “[...] Hemos lanzado todo nuestro ejército al ataque - hace ya más de sesenta años de eso - y éste es el momento en que todavía no tenemos la menor noticia de él. Lo recuerdo perfectamente. ¿Véis [sic! ] aquel olmo en el collado, allá en la revuelta, donde la carretera se pierde de vista? ” (S. 174) Nicht nur nimmt Hoffmann durch den Hinweis, der Angriff sei nun mehr als sechzig Jahre her, Bezug auf die extratextuelle Situation von En el estado - der Roman wurde 1977, sprich 63 Jahre nach den Kriegsgeschehnissen, auf die hier angespielt werden, veröffentlicht. Darüber stellt er historische Fakten mit der fiktiven Welt des Romans in direkten Zusammenhang, indem er auf die immer wieder auftauchende Ulme verweist - der ständige Bezugspunkt in der weiten Leere der Portada. Es wird versucht, die Rede über stabile Bezugspunkte zu verankern. 594 Das Heer Hoffmanns ist der Figur zufolge vor über sechzig Jahren ausgezogen, um aufopferungsvoll dem Kampf entgegenzugehen. Doch in all der Zeit hat sich keine Schlacht ergeben. Verzweifelt fragt sich Hoffmann deswegen: Quizá nuestras previsiones se quedaron cortas y tras tantos años de combates cronometrados y anticipados en sus más insignificantes detalles, hayamos entrado en la cara oculta de la historia. Er erzählt daraufhin im Präsens in einer Art Mauerschau, wie das Heer sich, ausgehend von der Ulme, auf der Suche nach der Schlacht immer weiter in unzivilisierte Länder (S. 176) 595 begibt - um letztendlich enttäuscht zu werden: Kriegsgeschehnisse in Ostpreußen im Jahre 1914. „Im Kern geht es um die Rückschläge, welche die 41. Division des deutschen XX. Korps in den Tagen des 27. und 28. August 1914 am Mühlensee in der Nähe des heute polnischen Stebark zu erleiden hatte. Es handelt sich bei den Ausführungen Hoffmanns nicht nur um eine historisch belegbare Wiedergabe militärischer Auseinandersetzungen, die Passagen rücken den Roman nicht allein in die Nähe ‚historischer Romane‘, der Diskurs vollzieht formal, ja gelegentlich nahezu wörtlich einschlägige militärgeschichtliche Darstellungen der Kampfhandlungen von 1914 nach.“ (Nilsson: Der ironische Diskurs, S. 122) 594 Freilich wird dieses Bestreben durch einen der bultos torpediert: Er verneint die Frage und damit auch die mögliche Existenz der Ulme: „‘Pues no, no lo veo. Para qué nos vamos a engañar, mamenka. Retournons à nos moutons. No lo he visto nunca ni creo que ya lo alcance a ver.’“ (S. 174) 595 Die genannten Völker befinden sich allesamt auf russischem Gebiet: Die Wogulen bzw. Mansen („los vogules“), ein ugrisches Volk, das sein ursprüngliches Gebiet im heutigen Sibirien, nordöstlich des Urals hat; die Wotjaken bzw. Udmurten („los votiacos“), ein finno-ugrisches Volk, im europäischen Teil Russlands, westlich des Urals ansässig; <?page no="277"?> 277 “Allá va nuestro ejército, ciego de furor, para no encontrar más que una meseta vacía cuyos confines escapan a toda información o una costa desértica, un mar negro que en el litoral rompe su sonrisa sarcástica para mofarse de los estandartes.” (S. 177) Am Ende der Suche nach der Erfüllung dessen, was im Plan, in der Strategie des Kampfes antizipiert worden war, steht mehr oder weniger nichts: die leere Landschaft und ein Meer, das sich über das Heer lustig macht. Der Krieg ist dabei zum Selbstläufer geworden, denn niemand erinnert sich mehr an die wahren Gründe und Ziele des Feldzuges. Hoffmann spricht weiter davon, dass er stets standhaft gewesen und den Vorhersehungen in Bezug auf den Krieg überzeugt gefolgt sei - er sei nicht von jener Krankheit, „el morbo isáurico“ (S. 175), befallen, die den kriegerischen Geist befällt und ihn ‚weich‘ werden lässt. Diese Krankheit sorgt dafür, dass Soldaten sich tatsächlich in die Schlacht werfen, dass also der Krieg materiell ausgeführt wird. Nach Hoffmann sind die Auswirkungen dieser Krankheit verheerend „‘Todo desorganiza. […] El efecto suele ser demoledor.’“ Die Rede des Obersts verliert nach und nach den konkreten Bezug auf einen bestimmten Krieg oder Feldzug und tendiert immer mehr dazu, allgemeingültige Aussagen zu formulieren. Gleichzeitig wird erneut direkt auf die Situation in der venta Bezug genommen. Die Geräusche, die aus dem Keller und aus dem Dachgeschoss zu ihnen dringen, weisen auf einen Kampf hin: “¿Qué razones les mueven para conducirse así? ”, pregunta a sus adentros el señor Hervás, apurando su flema ante los síntomas de lucha - ruidos de golpes, lamentos, insultos, carreras, objetos que caen - que proceden del sótano. (S. 178) So wird auch der Oberst in seiner Rede von den ‚Kampf-Symptomen‘ vollkommen aus dem Konzept gebracht: “[...] así me he ido quedando solo, alimentando ideas cada día más amplias, libre ya de la servidumbre de los detalles. Las paredes se agrietaban ¡ese inmundo sótano! Los planos abarquillados e ilegibles, minúsculos excrementos y chirridos de muebles. Muy solo, sí, muy solo […].” (S. 179) War er gerade noch dabei, seine Standhaftigkeit gegenüber „el efecto isáurico“ zu beteuern, so kann er nun nicht anders, als mitten in seiner Selbstbeschreibung die Geräusche aus dem Kellergeschoss zu kommentieren. Der Kampf, zunächst aus zeitlicher und örtlicher Distanz, dann in theoretischer Abstraktheit beschrieben, hält Einzug in die Deixis der venta und und die Kalmücken („los kalmucos“), ein westmongolisches Volk buddhistischen Glaubens, das auch ursprünglich im europäischen Teil Russland siedelte. Möglicherweise wird hier auch auf das später von Hitler propagierte Bestreben, ‚Lebensraum im Osten‘ zu besetzen, angespielt. <?page no="278"?> 278 hinterlässt somit auch materielle 596 Spuren. Hervás versucht sich wieder relativ hilflos in das Gespräch einzubringen und rät dazu zu vergeben. Die Reaktion des Oberst folgt: „‘Perdonar ¿qué? ’, el oficial se vuelve hacia él, con el rostro desencajado, los puños crispados. […] ‘¡Mentís! ’, rugió el oficial, perdiendo la compostura.“ Er verliert nicht nur die Fassung im emotionalen Sinne, sondern auch in Bezug auf seine physische Erscheinung. Nicht nur leistet die Rede des Obersts als funktionales Korrelat zur Karte nicht das, was sie eigentlich leisten soll: der strategische Überblick bleibt aus. Darüber hinaus erledigt sich die Vorstellung einer verabsolutierten Strategie von selbst: die Soldaten gelangen bei dem Verfolgen der Pläne und bei der Flucht vor dem „morbo isáurico“ des realisierten Kampfes an ihre räumlichen Grenzen: das Meer oder die leere Weite einer meseta. Gleichzeitig muss der Oberst an seinem eigenen Körper das erleben, was in den Plänen nicht vorgesehen ist: die physische Versehrtheit nach dem Kampf. In Bezug auf den mapa als Bühne lässt sich festhalten, dass auf der innersten Bühne versucht wird, den irrationalen Elementen und epistemologischen bzw. ontologischen Unwägbarkeiten der vorherigen Bühnen zu entgehen. Durch die strategische Verabsolutierung und Rationalisierung werden die Ereignisse in ein starres Netz der Vorhersehbarkeit eingebunden. Was sich hier dem Zuschauer zeigt, ist kein ‚absurdes Theater‘, sondern die auf eine zweidimensionale Karte projizierte Zeit. Hier gibt es kein Halbdunkel, sondern eine klare Schau der Ereignisse. Die mit der Karte korrelierende Rede des Offiziers ist selbst-sicher und thematisch einheitlich. Doch gleichzeitig demonstriert eben jene Rede das Scheitern der verabsolutierten Strategie. In der verbal-textuellen Realisierung zeigt sich, dass ein solches Vorhaben nicht umgesetzt werden kann. IV.3.5 Zusammenfassung Theatrale Räume entstehen in En el estado, indem Figuren im Text die Funktionen von Zuschauern und Schauspielern einnehmen. Diese Funktionen konstituieren sich durch Selbstinszenierung der Schauspieler und durch den Blick der Zuschauer. Der fiktive Leser wird dabei von Beginn an dazu angehalten, die Funktion eines Zuschauers einzunehmen. Er ist sowohl Zuschauer des Geschehens auf den Bühnen der Diegese als auch - wie sich später zeigen wird - des Geschehens auf der Textoberfläche. Weiterhin kann es durchaus passieren, dass Figuren beide Funktionen einnehmen. So ist zum Beispiel Hervás in der ersten Bühne Schauspieler, in der venta jedoch der ewige Dritte, der verbal und damit auch räumlich aus dem Spiel der bultos ausgeschlossen wird. Somer ist zunächst ebenfalls Schauspielerin, sowohl in der Portada als auch im Offiziersbüro. Beim Blick auf den mapa jedoch wird sie zur Zuschauerin. 596 Ähnliches ließe sich an der Figur des ujier beobachten. <?page no="279"?> 279 Die Portada versucht immer wieder einen stabilen Ordnungsraum zu etablieren, der über eindeutig identifizierbare lieus und geometrischen Strukturen 597 verfügt. Dieser Ordnungsraum dient dabei vor allen Dingen durch die ständige Erwähnung des olmo sowohl den Figuren als auch dem Leser als Orientierungspunkt. Da jedoch der imaginäre Ordnungsraum, den der Text aufwirft, aufgrund der unzuverlässigen Erzählsituation höchst instabil bzw. in seiner Existenz fragwürdig ist, trägt einzig und allein das lexikalische Netz, das auf der Textoberfläche durch das Wort olmo gebildet wird, zu Orientierung bei. Eine absolute räumliche Orientierung wird zugunsten einer relativen textuellen Orientierung aufgegeben. Der Leser bleibt auf der Schwelle, en la portada, eine einheitliche Diegese ist durch die Errichtung von Bühnen immer nur im Entstehen begriffen, jedoch nicht von Dauer. Die Portada als Titelseite ist gleichzeitig Teil der Diegese und beschreibt deren Grenze zur extratextuellen Welt. Die weiteren Bühnenräume entstehen durch die Markierung und Semantisierung von topologischen Grenzen - der Eingang zum Innenraum der venta, die Treppe in den sótano und der Vorhang zum Offiziersbüro, die Karte als zweidimensionaler Schauraum und Projektion. Die theatralen Räume werden ineinander geschachtelt, als ging es auch hier darum, zum grano 598 , zur Essenz der Diegese zu kommen: von der empirischen Welt des Lesers zum Makroschauplatz der Diegese, in den Innenraum einer Spelunke, tiefer in das Offiziersbüro im Keller und letztendlich noch ‚tiefer‘ in den Schauraum einer Projektion. Die Projektion ermöglicht eine simultane Darstellung von eigentlich chronologischen Ereignissen. Sie stellt letzten Endes das instrumentale Äquivalent zur Rede des Obersts da, dessen Bestrebungen auf die Verabsolutierung des strategischen Prinzips und die Ausschaltung von Kontingenz abzielen. Gleichzeitig zeigt sich bei der textuellen Umsetzung dessen, was auf der Karte erschaubar wird, dass die Sätze inhaltlich dem grammatikalischen Futur entfliehen - es ist keine Vorhersehbarkeit der folgenden Ereignisse möglich. Der Text wird zum parcours und verhält sich taktisch. Die Ereignisse entgleiten in der Verbalisierung durch den Oberst und in der schriftlichen Fixierung durch den Text der strategischen Planung. Die Lektüre kann nicht das leisten, was die Karte einfordert: die Projektion der Ereignisse ohne zeitliche Dimension. Die Lektüre erfolgt sukzessiv. Indem also alle vier Bühnen wie auch die Figuren bzw. Gestalten von extremer Instabilität geprägt sind, reflektieren sie die Verfasstheit des Textes. Er leistet keine mimetische Darstellung einer Welt. Stattdessen zeigt er 597 Vgl. zu den geometrischen Strukturen auch das Schlusskapitel: „Aun así a todo lo largo del valle de La Portada corre un regato - cortado ortogalmente por la carretera, no lejos de aquel corpulento olmo, definitivamente asentado en la imaginería del lector - que en tiempos tenía fama de cangrejero.“ (S. 209) 598 Vgl. zum Begriff des grano die Textanalysen zu Herrumbrosas lanzas. <?page no="280"?> 280 das Aufeinandertreffen und das Spiel unterschiedlichster Stoffe, Zitate und Motive. Er verhandelt im grano die Möglichkeiten strategischen und taktischen Erzählens. Dabei geht es jedoch nicht um ein bloßes intertextuelles Nonsens-Spiel. Insbesondere durch die prominenten dramatischen Intertexte Calderóns und Racines werden historische Kontexte in den Text hineingeholt, in welchen das Theater eine extrem wichtige und identitätsstiftende Rolle spielte. Calderóns Vorstellung vom Welttheater, in welchem dem Menschen im Diesseits lediglich Rollen zugeteilt werden, die Verhandlung des freien Willens und die ideologische Belehrung kommen dabei ebenso zum Tragen, wie das auf Repräsentation ausgerichtete Modell der (nicht nur) französischen höfischen Gesellschaft, die sich selbst als prunkvolles Schauspiel inszenierte, und der absolutistisch herrschende König als beobachtende Überfigur, die über allen anderen schwebte. Das Theatrale in En el estado hat keine Repräsentationsfunktion, mittels welcher sich etwa die (höfische) Gesellschaft und der religiös-ideologische Überbau ihrer selbst versicherten. Das Theatrale ist hier vielmehr Symptom wie auch zentrales, konstituierendes Element eines Textes, der den Leser in eine Beobachtungssituation bringt und darüber hinaus die Fähigkeit des Romans zu erzählen befragt. Dabei wird einem ideologischen Überbau nicht inhaltlich widersprochen - der Monolog des Obersts wird genauso wenig bewertend kommentiert wie auch alle anderen Anspielungen und Intertexte. Stattdessen verfährt der Roman textuell genau gegenteilig zu dem, was die strategische carte einfordern würde. Gleichzeitig werden über die Theatralität des Textes Wahrnehmung und Erkenntnis problematisiert. Zum einen baut jegliche Wahrnehmung immer schon auf dem Blick auf - ein Blick, der stets versucht, sich dunklen oder halbdunklen Räumen zu nähern und diese zu durchdringen. Die Figuren sind nicht klar differenzierbar und fügen sich in die Konfiguration extrem erschwerter Wahrnehmung ein. Jedoch ist auch zu keinem Zeitpunkt ein Versuch angelegt, diese erschwerten Wahrnehmungsbedingungen zu vereinfachen oder zu beseitigen. Sie sind konstituierendes Element der Wahrnehmung überhaupt. Der Finsternis oder dem Halbdunkel werden lediglich neue Qualitäten zugeschrieben, jedoch ändert sich nie etwas an der Tatsache, dass fast überall die Sicht aufgrund mangelnden Lichts eingeschränkt sein muss. Zum anderen scheint der Roman selbst strukturell immer weiter ins ‚Innere‘ vorzudringen. Wenn jedoch auf der ‚innersten‘ Bühne gezeigt wird, dass ihr Vorhaben vom Text nicht umgesetzt werden kann bzw. torpediert wird, so wird auch dem epistemologischen Vorhaben, zum Wesen der Dinge vordringen zu können, eine Absage erteilt. Eine ‚innere Wahrheit‘ des Romans, die vollkommen ergründbar und objektiv vermittelbar wäre, erschließt sich nicht. Das Kunstwerk im Kunstwerk im Kunstwerk führt nur zum Entzug desselben. Dem Leser/ Zuschauer zeigen sich nur immer neue <?page no="281"?> 281 theatrale Situationen, die jedoch nie von Dauer sind - so wie auch die Bühnen nur in dem Moment Bestand haben, in dem sie bespielt werden. <?page no="283"?> 283 V Engführung Raum, Krieg und Theater - die Themen, die zugunsten einer Schwerpunktsetzung in den Textanalysen thematisch aufgefaltet wurden, werden nun enggeführt. Die drei Begriffe kreisen terminologisch Benets literarisches und essayistisches Schaffen ein. Dabei haben sich in der vorliegenden Arbeit mehrere Dimensionen seiner Poetik profiliert. Bezeichnend ist, dass es sich bei allen drei Themen weder um reine Darstellungsmotive noch um rein strukturelle Phänomene handelt, weswegen sich der metaphorisch verwendete Begriff des (musikalischen) Themas als dankbar erweist. Weiterhin besteht zwischen den Themen kein hierarchisches Verhältnis, vielmehr bilden sich in Benets Texten zwischen den spezifischen Konfigurationen von Raum, Krieg und Theater vielfältige und sehr dynamische Relationen heraus. Sprache und (visuelle) Wahrnehmung stehen in einem engen Verhältnis. Sie teilen die Perspektive. Beiden ist es stets versagt, sich der Welt und den Objekten in ihr mit dem universellen Anspruch, eine vollkommene Darstellung zu liefern, nähern zu können. Doch dieser ‚Makel‘, den die realistische Literatur und die positivistischen Wissenschaften zu überdecken versuchen, wird emphatisch bejaht und er äußert sich als ein äußerst produktives Movens der literarischen Gestaltung. Der ständige Vollzug der Annäherung, der den visuellen Rezeptionsprozess beschreibt, findet seine Entsprechung in einer sprachlichen Realisierung, die nicht auf dauerhafte Repräsentation, sondern auf ein Erschreiben von sprachlichen Bildern, den estampas, abzielt. Doch auch in Bezug auf die Sprache selbst kann keine adäquate wissenschaftliche Erfassung stattfinden. Sprache als Objekt kann wiederum nur in ihrem Vollzug erfahrbar gemacht werden. In der Verquickung von visueller Wahrnehmung und sprachlicher Produktion äußert sich bei Benet - neben der metapoetischen Ebene - das enge Verhältnis von poetologischen Vorgaben für das eigene literarische Schaffen und rezeptionsästhetischen Anforderungen, die eine entsprechende Einstellung des Lesers und Betrachters erfordern. Benets Essays und literarische Texte ‚berufen‘ den Leser stets ‚ein‘, indem sie ihn herausfordern und ihn mit seinen eigenen Erwartungen konfrontieren. Der Text erweist sich immer wieder als opakes und glattes Gebilde und nicht als analysierbares und gekerbtes Gewebe. Die ‚rezeptionsethische‘ Dimension dieser Poetik muss daher ausdrücklich hervorgehoben werden, vor allen Dingen vor dem Hintergrund der dezidiert ideologie- und sprachkritischen Ausrichtung Benets. Aus der Verschränkung von Wahrnehmung und Poetik folgt weiterhin das räumliche, ungeordnete und simultane Prinzip der estampa. In ihr sucht die Literatur die ständige Transzendenz ihrer eigenen Bedingungen und Begrenzungen, die ihr durch die Sprache und deren linearen Prinzip, dem argumento, gegeben sind. Nimmt <?page no="284"?> 284 man dieses lineare Prinzip als gegeben hin, so unterwirft man sich einer bloßen Sprachideologie. In der praktischen Umsetzung der estampa heißt dies zum einen, dass Benets Texte sich in ihrer Gestalt tatsächlich durch die gehäuften syntaktischen Umwege verräumlichen. Zum anderen ergeben sich momenthafte Bilder, die ohne Dauer sind und durch das Lesen jedes Mal erneut realisiert werden müssen. Die estampa entsteht eben durch die Unterbrechung und Störung des Linearen und des Informationskontinuums, durch den Hiat der Kurve. Raum ist aber nicht nur ein poetologisches Extrem, dem sich der Text nähern soll, sondern gleichzeitig Bedingung der fiktionalen Formung einer Welt. Vor allem hier kommt der phänomenologische Hintergrund zum Tragen. Benets Texte schaffen kein Territorium, das mittels Karten operationalisierbar und greifbar gemacht würde. Karten werden vielmehr als Instrumente einer epistemologischen Konditionierung vorgeführt, indem der Mapa de Región zum einen seine eigenen Mittel und Funktionsweisen ausstellt und mit ihnen spielt, aber indem zum anderen die Dichotomie von statischer Karte und dynamischer Handlung mit den sujethaltigen Karten aufgelöst wird. Kein Wissen über Raum wird so generiert, kein eindeutiger Zugriff auf das Territorium wird möglich, es ergibt sich auch kein strategischer Überblick aus einer Machtposition. Stattdessen ist Raum immer nur als Potential da - indem die räumliche Tiefe zwischen Nähe und Entfernung ausgelotet wird, sowie in der Andeutung einer Topographie, durch die Nennung rudimentärer Landmarken und durch das Erwandern der Landschaft mit dem viajero. Das absolute Machtdispositiv der Karte wird gegen die Perspektive des textuellen parcours ausgespielt, der sich jeder Situation im Raum neu anpasst. Nie ist der Raum eine erkennbare, soziale Ordnung wie in dem Familienfoto, nie ist er ein absolutes, in sich abgeschlossenes System, in welchem der Leser Figuren eindeutig zu situieren wüsste. Dementsprechend äußert sich bereits hier die deterritorialisierende Funktion der Literatur. Räumliche Konfigurationen sind bei Benet Ausdruck der von Blumenberg beschriebenen „erfahrenen Widerständigkeit des Gegebenen“ bzw. des „unüberwindlichen Widerstandes der imaginären Wirklichkeit gegen ihre Deskription“ 599 . Wirklichkeit entzieht sich der Beschreibung, infolgedessen kann sich eine Annäherung nur unter perspektivischen und phänomenologischen Vorzeichen vollziehen. Die ‚Möglichkeit des Romans‘ ergibt sich bei Benet nur in einem niemals vollends realisierten Potential von Welt in ihren räumlichen Konfigurationen. Diese bewegen sich im Spannungsfeld zwischen dem Phantasma eines objektiven Ordnungsraums, der strategisches Wissen ermöglicht, soziale Ordnungen etabliert bzw. festigt und dem taktischen Erschreiben von Raum, das vor allen Dingen Erfahrung ermöglicht, Ordnungen torpediert und desintegrierende 599 Hans Blumenberg: „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“; in: Hans Robert Jauß (Hg.): Nachahmung und Illusion, München: Wilhelm Fink, 1964, S. 9-27, hier S. 24. <?page no="285"?> 285 Kräfte freisetzt. Die Widerständigkeit der Wirklichkeit findet ihre Entsprechung in der nie vollkommen überwindbaren Opazität des Benetschen Textes. Certeaus Übertragung der militärischen Prinzipien von Strategie und Taktik auf eine handlungsorientierte Raumkonzeption ermöglicht die schnelle Erkenntnis, dass sich auch bei Benet der Zusammenhang zwischen Raum und Krieg nicht allein in der Besetzung von Territorium in der histoire erschöpfen kann. Benet war, ebenso wie sein Erzähler, militärhistorisch und -theoretisch sehr gut informiert und belesen. Dies trifft nicht nur auf sein historisches Wissen in Bezug auf die europäischen Kriege der neueren Geschichte zu, sondern auch besonders in Bezug auf Spanien. Benet kritisiert in seinen Essays die mangelhafte historische Aufarbeitung der guerra civil 600 und erklärt in seiner Nota del autor zu Herrumbrosas lanzas, er wollte eigentlich selbst ein historiographisches Werk verfassen, sei dann aber aufgrund der Erkenntnis, dass er diesem Projekt wegen seines Ausmaßes nie gerecht werden würde, dazu übergegangen, den Roman zu schreiben 601 . Wissend, dass eine objektive Darstellung unmöglich sein würde, wählt Benet die einzige Möglichkeit, die bleibt: den Versuch einer literarisch-narrativen Darstellung. Die Kritik an der mangelhaften historischen Aufarbeitung bleibt dennoch bestehen, und so überfordert nicht zuletzt der militärisch informierte Erzähler den konventionellen Leser, indem er aus seinem Wissensvorsprung keinen Hehl macht und die Vorbereitung, den Ablauf und die Ausrüstung beider Gegner stets fachkundig (und zum Teil ironisierend) kommentiert und kritisiert. Der Leser wird als Teil all jener vorgeführt, die sich, wenn überhaupt, nur im Rahmen eines fachlich nicht angemessenen Diskurses über den Krieg äußern können. Nicht zuletzt ist es dieses Erzählerverhalten, das die theoretische Einführung in Clausewitz rückblickend notwendig macht. Benet setzt aber nicht nur Fachwissen voraus, sondern übernimmt mehrere Elemente Clausewitz’: die grundlegende Ausbildung und Konfrontation zweier Parteien, die Bedeutung der Kriegsökonomie, 600 Siehe vor allen Dingen Benet: „‘La Marcha sobre Madrid’“ und S. 132f der vorliegenden Arbeit. 601 „Desde hace años abrigaba la idea de escribir, en un futuro siempre lejano, una historia de la Guerra Civil dedicada exclusivamente a sus operaciones militares […]. A medida que pasaba el tiempo más me atraía el proyecto y más miedo me producía. Un día en Chicago - en cuyas librerías de viejo encontré muchos libros relativos a la guerra española - lo vi muy claro: no teniendo la capacidad de estudio, investigación y trabajo para abordar el proyecto en toda su envergadura, y no atrayéndome ningún fragmento del mismo más que cualquier otro, lo mejor que podía hacer era renunciar a él. La lectura de la descomunal y apasionante historia de la Guerra Civil americana, de Shelby Foote, me inspiro la idea de convertir aquel proyecto en una larga narración que describiera toda la guerra reducida a un sector aislado y, por supuesto, imaginario.“ (Benet: Herrumbrosas lanzas, S. 23) Siehe auch S. 63 der vorliegenden Arbeit. <?page no="286"?> 286 und vor allen Dingen das Verhältnis von Strategie und Taktik, von Kriegsplanung und Umsetzung derselben auf dem Schlachtfeld. Die Struktur und die Dynamik des Krieges bieten aus narratologischer Sicht die idealen Voraussetzungen für Ereignisse und in deren Folge für ein Sujet. Die beiden aufeinandertreffenden Fronten finden gerade bei Benet auch ihre territoriale Entsprechung auf den Karten und werden somit topologisch gestützt. Die sierra stellt nicht nur die Grenze zwischen zwei Tälern, sondern auch zwischen ideologisch linker und rechter Partei dar. Diese Grenze suchen beide Gegner durch den Krieg zu durchbrechen um idealerweise eine neue Ordnung herzustellen. Diese bestehenden prototypischen strukturellen Voraussetzungen führen aber nicht zu einer prototypischen Umsetzung auf der Ebene der histoire. Stattdessen wird der Krieg als unabschließbarer Prozess nicht nur zum Symptom einer Geschichte, die sich in der wiederholenden Austragung desselben kriegerischen Konflikts in unterschiedlichen ‚Gewändern‘ 602 erschöpft. Er wird darüber hinaus zum wesentlichen Merkmal und zur wesentlichen Bedingung des narrativen Prozesses. Anstatt zum grano vorzudringen, vollzieht sich der Krieg des Erzählens in seiner zeitlichen Ausdehnung, in der endlosen Dynamik der Ausbildung von Fronten, des Gegeneinanderausspielens der unterschiedlichen Interessen von intradiegetischem Publikum und Erzähler, von Text und Leser, des Erzählens um des Erzählens willen und nicht, um eine Ordnung zu bestätigen oder zu zerstören. Erzählen vom Krieg bedeutet hier nicht, Krieg darzustellen, sondern die Dynamik des Krieges narrativ erfahrbar zu machen. Die binäre Struktur, die die Voraussetzung hierfür darstellt, bleibt ewig bestehen (so wie auch die dos Españas in der Geschichte immer wieder auftauchen), jedoch nicht als statisches Gerüst, sondern als dynamisches Verhältnis. Die Erzählung widersetzt sich dem Ereignis und dem Sujet. Die Karte zwischen epistemologischen Interessen und einer phänomenologischen Raumkonzeption wird in Zusammenhang mit dem Krieg besonders als militärisches Instrument virulent. Bei der narrativen Umsetzung der guerra civil in Volverás a Región zeigt sich, dass sich der Krieg zwar im Territorium abspielt, das Territorium jedoch nicht im strategischem Sinne verfügbar ist. Die Erzählung zielt einmal mehr auf eine vollkommene Desorientierung ab. Der mapa del teatro de operaciones in En el estado versucht ein narratives Äquivalent zu einer tatsächlichen Karte zu schaffen und führt doch nur das Scheitern eines solchen Vorhabens vor. Das strategische Panoptikum, die carte, die in der Verabsolutierung des strategischen Prinzips nicht nur das Territorium, sondern auch die Zeit bzw. die Zukunft verfügbar machen soll, kann durch den Text nicht realisiert werden. Der Text verhält sich taktisch, und dies nicht 602 Vgl. die Bezeichnung von ideologischen Positionen als „libreas“ in Benet: Herrumbrosas lanzas, S. 117. Insbesondere die mehrmalige virtuose Verquickung des Kampfes zwischen moros und cristianos mit der guerra civil macht den Wiederholungscharakter der Geschichte in Kriegen deutlich. <?page no="287"?> 287 nur beim Entwurf der räumlichen Konfiguration der Diegese, sondern auch bei der narrativen Darstellung im Allgemeinen. Ist es eine Textstrategie im Iserschen Sinne, taktisch zu verfahren, so wird auch die These der deterritorialisierenden Erzählfunktion erneut gestützt. Die Konfrontation der Theorie von Certeau mit der von Deleuze und Guattari hat gezeigt, dass sich die in den beiden Ansätzen verwendeten Begriffe von Strategie und Taktik zwar nicht decken, dass das Konzept der Kriegsmaschine sich jedoch im Sinne Clausewitz’ und in dessen Folge im Sinne Certeaus als ein rein taktisch verfahrender Prozess beschreiben lässt. Die Kriegsmaschine als Prozess und stetes Werden, so schreiben Deleuze und Guattari, [hat] nicht den Krieg zum Ziel […], sondern die Bahnung einer schöpferischen Fluchtlinie, die Bildung eines glatten Raumes und die Bewegung der Menschen in diesem Raum. 603 In diesem Sinne setzt Benet dem Projekt eines historiographischen opus magnum zum spanischen Bürgerkrieg eine narrative Kriegsmaschine entgegen. Im teatro de operaciones oder teatro de la guerra treffen sich Raum, Krieg und Theater nicht nur terminologisch. Das Theatrale entsteht durch räumliche Aufspaltung und durch komplexe Wahrnehmungsverhältnisse der Figuren in den narrativen Texten. Es eröffnet, der ursprünglichen Wortbedeutung von ‚Theater‘ entsprechend, einen Schauraum und macht so die Kriegsgeschehnisse beobachtbar, stellt diese aber zugleich als inszeniert aus. Es schafft die Illusion der strategischen Übersicht, etwa, wenn Soldaten von einem erhobenen Standpunkt aus Feind oder Schlachten beobachten können oder wenn der Oberst Hoffmann den kompletten Verlauf einer Schlacht auf dem Plan erblickt. Doch nie entstehen aus diesen Beobachtungssituationen Machtpositionen oder tatsächliche strategische Vorteile. Vielmehr konterkariert das Theatrale, sprich die stetige Inszenierung von Diegese, den argumento, also das Erzählen in seiner Linearität. Denn auf einer Bühne können, ähnlich wie auf einem Gemälde oder Bild, die Geschehnisse simultan dargestellt werden. In diesem Sinne stellt das Theatrale als Darstellungsmodus eine konsequente Ergänzung zur estampa dar. Theatralität kann nicht ohne die Aufspaltung in Bühnen- und Zuschauerraum entstehen. Die Position des Zuschauers beinhaltet immer dessen unmittelbare Distanzierung vom Bühnengeschehen und die Entstehung von Fiktion auf der Bühne. Dort kommt es jedoch nicht zur strategischen Fixierung oder Aufführung von Handlung, sondern zum Freilegen der Funktionsweisen von Sprache und Wahrnehmung, zur metapoetischen Reflexion und zur Beobachtung des Verhältnisses zwischen Geschichte und Fiktion. Geschichte stellt sich immer als Narrativ heraus, denn erst durch das Erzählen wird Geschichte rezipierbar. Die Erzählung kommt jedoch nicht ohne ein gestalterisches ‚Mehr‘ und ein immer weiter fortschreitendes Abrücken von ‚der Wahrheit‘ aus. Das zeigen 603 Deleuze/ Guattari: Tausend Plateaus, S. 584. Siehe auch S. 146 der vorliegenden Arbeit. <?page no="288"?> 288 sowohl der testigo presencial in Herrumbrosas lanzas als auch der Umgang mit Geschichte in La otra casa de Mazón. Gerade in der Inszenierung wird der Drang zum fiktionalen Erzählen in den Vordergrund gerückt. Darin ist insofern eine Abwendung von Historiographie erkennbar, als dass absolute gültige Wahrheits- und Objektivitätsansprüche abgelehnt werden. Auch Geschichte ist nicht gegeben, sondern muss immer wieder eingeholt werden. Das inszenierte Erzählen wird ständig mit einer kritischen bzw. widerständigen Haltung konfrontiert - sei es durch das intradiegetische Publikum, sei es durch den Leser, der mittels entsprechender Textstrategien stets in die distanzierte Beobachterposition gedrängt wird, bei der das Dargestellte nie als gegeben, sondern als stetes Werden wahrgenommen wird. Die Erzählung ist somit kein Faktum, sondern eine Möglichkeit, die sich in immer neuen Versionen realisiert sieht. Erst durch das Theatrale wird weiterhin ein letzter Zusammenhang von Krieg (hier als historiographischer Gegenstand) und Raum deutlich: die ‚Historizität‘ des Territoriums. Die Geschichte ist der Topographie von Región regelrecht eingeschrieben und wird an ihr ‚ablesbar‘. Dies geschieht jedoch immer unter den Vorzeichen einer nie vollkommenen Verfügbarkeit von Territorium und Geschichte. In diesem Sinne bezeugt die Topographie wie in La otra casa de Mazón ihre eigene Vergangenheit und Entstehungsgeschichte. Das Bezeugen ist nicht im Sinne einer dauerhaft verfügbaren ‚objektiven‘ Vergegenwärtigung von Geschichte zu verstehen. Die Topographie ist ein ruinenhafter Rest des Vergangenen, der für die widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Zerstörung und Fortbestand steht. Ferner findet die Narrativierung von Historie in der otra casa ihre räumliche Entsprechung: Erst durch das architektonische Haus kommt es zur Etablierung des genealogischen Hauses. Die örtliche Koinzidenz garantiert den genealogischen Zusammenhang, den linaje. Geschichte ist nicht das, was tatsächlich gewesen ist, sondern das, was durch narrative bzw. räumliche Relationen entsteht. Das Theatrale ist darüber hinaus der Modus, in dem epistemologische und existentielle Problematiken beschrieben werden können. Die Selbstbestimmtheit des Individuums ist nicht nur nicht vorhanden, sie wird darüber hinaus im theatralen Spiel ausgestellt. Dies manifestiert sich entweder durch die Teilhabe am Spiel oder an deren Ausbleiben. Entweder man zelebriert karnevalesk, wie die bultos, den Wegfall ontologischer Koordinaten, die die eigene Existenz bestimmen könnten, und agiert diese Unsicherheit aus. Oder man verliert vollkommen den aplomo, die Vertikalität der eigenen Existenz, wie Cristino in La otra casa de Mazón oder Hervás in En el estado. Beide Figuren versuchen vergeblich, sich über verbale (Hervás) und soziale (Cristino) Mechanismen bzw. Strategien wieder ‚ins Spiel zu bringen‘. Das Theatrale stellt des Weiteren eine problematisch gewordene Wissensgenerierung aus. Die Karte und die Würfel sind Instrumente, durch welche Theatralität entsteht. Sie sind aber auch Instrumente der Erkenntnis: für den Oberst Hoffmann zur Schau des ‚wahren‘ Krieges in <?page no="289"?> 289 Form der verabsolutierten Strategie, für den König und Cristino, um die eigene wahrgenommene Umgebung überhaupt beschreiben zu können. Beide Fälle stehen symptomatisch für eine epistemologische Krise, die vor allen Dingen auf der Unfähigkeit beruht, mit ambigen Wahrnehmungen umgehen zu können. In diese Reihe ordnet sich ebenfalls die Szene der falangistischen Truppen ein, die die Ortschaft El Salvador durch das Fernrohr beobachten (Kapitel II.5). Auch ihnen bleibt die endgültige Erkenntnis, ob sich in der Ferne eine feindliche Wache oder eine Vogelscheuche befindet, verwehrt. Erst durch die Distanz von Zuschauer und Bühnengeschehen, von Betrachter und Betrachtetem werden Wahrnehmungsprozesse und die mit ihnen einhergehenden epistemologischen Fragen überhaupt operationalisierbar. In den Wahrnehmungsprozessen schließt sich also wieder der Kreis der Themen Raum, Krieg und Theater. Auch ist es das räumliche Ineinanderschachteln von Bühnen in En el estado, das die erkenntnistheoretische Bewegung von einer äußeren Beobachtung zum Wesen, zum grano der Dinge nach Innen vordringen zu können, nachahmt. Doch im Inneren, auf der Bühne des mapa del teatro de operaciones ‚zeigt‘ sich außer dem Sprachspiel des Textes nichts, weder eine Handlung noch das, was den Krieg ‚im Kern‘ ausmacht. Stattdessen werden diese epistemologischen Mechanismen strukturell aus- und fragmentarischen Beschreibungsversuchen gegenübergestellt. Nicht zuletzt ist es auch diese Art der Wahrnehmungsproblematik, in deren Folge Visualität in ein enges Verhältnis zur Schrift gesetzt wird, über die sich die hier beschriebene Poetik Benets jenseits des spanischen Kontextes einordnen lässt. In den sechziger, siebziger und achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts entstehen eine Reihe von ‚aisthetischen Poetiken‘, die weit über den nouveau roman in Frankreich hinausreichen, wie zuletzt die Dissertation Mit anderen Augen sehen von Berit Callsen 604 gezeigt hat. Demnach sind in den dort untersuchten Poetiken die unterschiedlichen Aufgliederungen des Sehens und die Verknüpfung von Schrift und Bild Ausgangspunkte für „Paradigmen von Posthermeneutik, verkörpertem Denken und Performativität“ 605 . In der systematischen Formulierung der am Bildmedium orientierten Poetik der estampa äußert sich die Aktualität des Benetschen Werkes im internationalen und interkulturellen Kontext. Gleichzeitig ist die spanische guerra civil die historische Referenz in Benets Texten. Somit formuliert sich über die Trias Raum, Krieg und Theater auch ein besonderes Verhältnis zur nationalen Geschichte. Ken Benson ist 604 Berit Callsen: Mit anderen Augen sehen. Aisthetische Poetiken in der französischen und mexikanischen Literatur (1963-1984), Paderborn: Wilhelm Fink, 2014. Callsen untersucht in ihrer Studie aisthetische Poetiken in Frankreich und Mexiko am Beispiel von Nathalie Sarraute, Alain Robbe-Grillet, Juan García Ponce und Salvador Elizondo. 605 Ebd., S. 252. <?page no="290"?> 290 einer von wenigen, der sich tiefergehend mit dem Verhältnis vom Bürgerkrieg als historische Referenz und Benets Literatur auseinandergesetzt haben. Auch wenn in vielerlei Hinsicht den grundlegenden Thesen der sehr breit angelegten Studie Bensons Fenomenología del enigma zugestimmt werden kann (insbesondere was die phänomenologischen Aspekte der Poetik der estampa betrifft), so gilt dies nur eingeschränkt für den Umgang Benets mit der guerra civil. Wie er schon in kürzeren Studien andeutete 606 , wird der Krieg in Bensons Argumentation vom historischen Kontext gelöst und in den Bereich der Imagination verlegt. Formulierungen wie Consecuentemente, su discurso, si bien guarda relación con hechos históricos concretos, se vale de géneros literarios (leyendas, mitos) que se caracterizan por su ucronía 607 oder La acción de la guerra es así transmitida a través de un personaje [=el hermano menor en Saúl ante Samuel] que en su pasividad ‘imagina’ la realidad, no la ‘vive’ 608 sind daher irreführend. Der Krieg ist ein wesentlicher Bestandteil der Darstellungsmechanismen, ohne sich je vollständig vom Krieg als Gegenstand der Darstellung lösen zu können. Im Zuge der Formulierung eines ‚gran estilo‘, so Benson, benutze Benet „la sobria prosa militar“ 609 , um nur den eigenen „estilo ‘solemne’“ besser zu profilieren. Die historischen Referenzen wiederum erschöpfen sich demnach in dem virtuosen intertextuellen Spiel mit historiographischen Chroniken und in der Parodie des Diktators Franco. An dieser Stelle müssen die Thesen Bensons ergänzt werden. Aufgrund des Oszillierens zwischen histoire und discours ist die guerra civil der bedingungslose Ausgangspunkt der Literatur Benets, und so verschwindet sie auch als historische Referenz nie - trotz des anti-mimetischen und anti-realistischen Impetus bzw. der konsequenten Auflösung von Sinnstrukturen. Hinter dem ständigen Wiedereinholen und der konsequent betriebenen Deterritorialisierung von historischem Wissen verbirgt sich nicht nur eine vehemente Ideologiekritik, sondern eine selbstbewusste Positionierung der Literatur gegenüber dem Diskurs über die guerra civil der spanischen Nachkriegszeit. Diese Literatur hört nie auf, den Leser dazu anzuhalten, die eigenen historischen, ideologischen und epistemologischen Einstellungen zu befragen. 606 Vgl. die Bemerkungen zu Benson auf S. 120 der vorliegenden Arbeit. 607 Benson: Fenomenología, S. 385. 608 Ebd., S. 386. 609 Ebd., S. 390. <?page no="291"?> 291 Danksagung Mein Dank gilt Esther, Valerie, meiner Mutter und Uli für die interessierte, spontane, schnelle und kritische Lektüre; Horst Weich und Gerhard Poppenberg für die wohlwollende Betreuung und Unterstützung der Dissertation; und erneut Uli für die unbezahlbare Ermöglichung diverser Freiheiten im letzten Jahr der Promotion, für die Hilfe bei der Annäherung an Benet matemático und für die unaufgeregte, unnachgiebige Begeisterung. <?page no="293"?> 293 VI Literaturverzeichnis A: Juan Benet Benet, Juan: ¿Qué fue la Guerra Civil? , Barcelona: La Gaya Ciencia, 1976. 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