Zeitlichkeit als Ordnungsprinzip der gesprochenen Sprache
1010
2016
978-3-8233-9056-5
978-3-8233-8056-6
Gunter Narr Verlag
Benjamin Stoltenburg
Der Band versucht, "die Zeitlichkeit der mündlichen Sprache ernst zu nehmen" (Auer), und berücksichtigt Linearität und Prozessualität als konstitutive Strukturmerkmale der (gesprochenen) Sprache systematisch bei deren Beschreibung und Analyse. Dahinter steht die Überzeugung, dass das natürliche Ordnungsprinzip der Zeit sich nicht nur in den Gesprächen selbst niederschlägt, sondern auch für die wissenschaftliche Betrachtung gesprochener Sprache in Anschlag gebracht werden muss. Der Schwerpunkt liegt auf der Syntax der gesprochenen Sprache, auch wenn ein ausschließlich syntaktischer Blick auf sprachliche Strukturen der interaktionalen Praxis nicht sinnvoll ist und deshalb durch semantisch-pragmatische Überlegungen, sequenzielle Gliederungsmerkmale und prosodische Abschnittsbildung ergänzt wird. Dadurch wird ein wichtiger Beitrag zu einer realistischen, prozessorientierten und interaktionsbezogenen Beschreibung der gesprochenen Sprache geleistet.
<?page no="0"?> TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik Zeitlichkeit als Ordnungsprinzip der gesprochenen Sprache Benjamin Stoltenburg <?page no="1"?> Zeitlichkeit als Ordnungsprinzip der gesprochenen Sprache <?page no="2"?> Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 557 <?page no="3"?> Benjamin Stoltenburg Zeitlichkeit als Ordnungsprinzip der gesprochenen Sprache <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0564-7959 ISBN 978-3-8233-8056-6 D6 <?page no="5"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort .............................................................................................................................V 1 Einleitung ..................................................................................................................... 1 1.1 Thema der Arbeit ................................................................................................................. 1 1.2 Zielsetzung der Arbeit ......................................................................................................... 2 1.3 Gliederung der Arbeit ......................................................................................................... 2 2 Zugänge zur gesprochenen Sprache............................................................................. 5 2.1 Gesprochene-Sprache-Forschung ..................................................................................... 8 2.2 Ethnomethodologische Konversationsanalyse.............................................................. 10 2.2.1 Ethnomethodologie............................................................................................... 11 2.2.2 Konversationsanalyse............................................................................................ 15 2.3 Interaktionale Linguistik................................................................................................... 20 2.4 Datengrundlage der Arbeit............................................................................................... 24 2.4.1 Korpus ..................................................................................................................... 24 2.4.2 Transkription der Beispiele.................................................................................. 25 2.4.3 Darstellung der Prosodie ...................................................................................... 30 2.5 Zusammenfassung und Diskussion ................................................................................ 31 3 Kulturelle, wissenschaftliche und symbolische Konstruktion der Zeit .....................35 3.1 Naturwissenschaftliche Messung der Zeit...................................................................... 35 3.2 Erkenntnistheoretische Grundlagen der Zeit ................................................................ 38 3.3 Kulturelle Konstruktion der Zeit ..................................................................................... 40 3.4 Symbolische Repräsentation der Zeit ............................................................................. 46 3.5 Zusammenfassung und Diskussion ................................................................................ 51 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen ......................................................................................................................55 4.1 „Le caractère linéaire du signifiant“ (Ferdinand de Saussure).................................... 55 4.1.1 Ent-zeitlichung des Saussure’schen Zeichens durch die Konzentration auf den (abstrakten) sprachlichen Wert ................................. 56 4.1.2 Ent-zeitlichung des Saussure’schen Zeichens durch die Konzentration auf la langue und l’écriture ........................................................ 58 4.1.3 Ent-linearisierung des Saussure’schen Sprachbegriffs durch den geringen Stellenwert der ‚unmotivierten Anreihungsbeziehung‘ (Syntax) innerhalb einer Beschreibung der langue .......................................... 60 <?page no="6"?> Inhaltsverzeichnis VI 4.1.4 Fazit.......................................................................................................................... 63 4.2 „Ergon“ und „Enérgeia“ (Wilhelm von Humboldt)..................................................... 63 4.2.1 Sprache und Welt .................................................................................................. 65 4.2.2 Sprache als Ausdruck der Gedanken.................................................................. 67 4.2.3 Die dialogische Natur der Sprache ..................................................................... 68 4.2.4 Fazit.......................................................................................................................... 69 4.3 „L’idée vient en parlant“ (Heinrich von Kleist)............................................................. 72 4.3.1 Adressatenzuschnitt und Hörerreaktionen: Diskussion an einem Beispiel .................................................................................................................... 75 4.3.2 Analogien zu Montaignes Essay „Du parler prompt ou tardif“ ..................... 77 4.3.3 Gedanken, die einem beim Reden kommen: Diskussion an einem Beispiel .................................................................................................................... 79 4.3.4 Fazit.......................................................................................................................... 82 4.4 „Sequentiality“ (Harvey Sacks) ........................................................................................ 83 4.4.1 Die Organisation des Sprecherwechsels ............................................................ 85 4.4.2 Paarsequenzen........................................................................................................ 88 4.4.3 Erweiterte Paarsequenzen: Diskussion an mehreren Beispielen.................... 90 4.4.4 Fazit.......................................................................................................................... 99 4.5 „Chrónos“ und „Kairós“ (Frederick Erickson) ........................................................... 101 4.5.1 Mythologischer Hintergrund ............................................................................ 103 4.5.2 Konzeptuelle Umdeutung und Anwendung auf Gesprächsstrukturen ...... 105 4.5.3 Multimodale Transkription als quasi-musikalische Partitur: Diskussion an einem Beispiel ............................................................................ 108 4.5.4 Fazit........................................................................................................................ 112 4.6 „Idea units“ (Wallace Chafe).......................................................................................... 114 4.6.1 Chafes Diskussion von Empirie und Introspektion....................................... 115 4.6.2 Bewusstseinsinhalte............................................................................................. 117 4.6.3 Intonationseinheiten ........................................................................................... 118 4.6.4 Fragmentarische, substantielle und regulatorische Intonationseinheiten: Diskussion an zwei Beispielen.................................... 124 4.6.5 Fazit........................................................................................................................ 128 4.7 „Emergent Grammar“ (Paul J. Hopper)....................................................................... 130 4.7.1 „Emerging“ und „emergent“.............................................................................. 132 4.7.2 Die Emergenz einer grammatischen Konstruktion: Diskussion an einem Beispiel ...................................................................................................... 134 4.7.3 „A priori Grammar“ vs. „Emergent Grammar“ - eine Neuauflage einer alten Diskussion......................................................................................... 138 <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis VII 4.7.4 Fazit........................................................................................................................ 141 4.8 „Dialogism“ (Per Linell).................................................................................................. 142 4.8.1 Dialog, Monolog und „written language bias“ ............................................... 142 4.8.2 Externe Syntax von Konstruktionen ................................................................ 145 4.8.3 Kommunikative Projekte, Aktivitätstypen und „inter-acts“ ........................ 147 4.8.4 Dialogizität als Methode: Diskussion an einem Beispiel............................... 151 4.9 Zusammenfassung und Diskussion .............................................................................. 159 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien...................................................................................................167 5.1 „Grammar of Speech“ (David Brazil) ........................................................................... 167 5.1.1 Ausgangspunkt .................................................................................................... 167 5.1.2 „Immediate Constituent Grammars“............................................................... 173 5.1.3 „Finite State Grammar“ ...................................................................................... 180 5.1.4 Brazils lineare, echtzeitliche, inkrementelle und handlungsgesteuerte Grammatik des Sprechens: Diskussion an einem Beispiel............................ 183 5.1.5 Leistungen und Grenzen .................................................................................... 192 5.2 „Linear Unit Grammar“ (John McH. Sinclair & Anna Mauranen) ......................... 200 5.2.1 Ausgangspunkt .................................................................................................... 200 5.2.2 „Chunking“: Diskussion an einem Beispiel..................................................... 203 5.2.3 Leistungen und Grenzen .................................................................................... 213 5.3 „Pattern Grammar“ (Susan Hunston & Gill Francis) ................................................ 219 5.3.1 Ausgangspunkt: Muster, Phraseme, Konstruktionen.................................... 219 5.3.2 Korpusgesteuerte Linguistik: von „grammatical patterns“ zur „Pattern Grammar“ ............................................................................................. 221 5.3.3 „Pattern flow“ und „pattern strings“ ................................................................ 224 5.3.4 Leistungen und Grenzen .................................................................................... 228 5.4 On-line-Syntax (Peter Auer)........................................................................................... 233 5.4.1 Ausgangspunkt: Flüchtigkeit, Irreversibilität und Synchronisierung ......... 234 5.4.2 Grundoperationen der On-line-Syntax: Projektion, Expansion und Retraktion ............................................................................................................. 236 5.4.3 Grille-Darstellung eines Beispiels...................................................................... 238 5.4.4 Leistungen und Grenzen der Grille-Darstellung ............................................ 243 5.4.5 Zäsurieren eines Beispiels .................................................................................. 244 5.4.6 Leistungen und Grenzen des Zäsurierens ....................................................... 254 5.5 Zusammenfassung und Diskussion .............................................................................. 257 <?page no="8"?> Inhaltsverzeichnis VIII 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax.........................................................................................................................265 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt.......................................................... 265 6.1.1 „Pre’s“ und „action projection“......................................................................... 265 6.1.2 Diskursmarker und Projektorkonstruktionen................................................ 267 6.1.3 Vor-Vorfeldbesetzungen .................................................................................... 271 6.1.4 Apokoinu-Konstruktionen ................................................................................ 273 6.1.5 Parenthesen .......................................................................................................... 276 6.1.6 Reparaturen .......................................................................................................... 289 6.1.7 Inkremente ........................................................................................................... 293 6.2 Zusammenfassung und Diskussion .............................................................................. 315 7 Schlussbetrachtungen................................................................................................319 Literaturverzeichnis .......................................................................................................325 <?page no="9"?> Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine überarbeitete Fassung meiner an der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im April 2015 eingereichten Dissertationsschrift. Herzlich danken möchte ich allen, die mir über die Jahre durch inhaltliche und moralische Unterstützung geholfen haben, dieses Projekt abzuschließen. Besonderer Dank geht an Susanne Günthner (Universität Münster) für die Betreuung der Arbeit. Karin Birkner (Universität Bayreuth) gilt mein Dank dafür, dass sie kurzfristig das zweite Gutachten übernommen hat. Wolfgang Imo danke ich für seine engagierte Hilfe, als es darum ging, neue Ideen und neue Kraft für den Abschluss des Projekts zu finden. Außerdem möchte ich Peter Auer danken, der mich als Student für das Thema der zeitlichen Emergenz von gesprochener Sprache begeistert hat. Diese Arbeit wurde abgeschlossen im Rahmen des DFG-Projekts Grammatik und Dialogizität: Retraktive und projektive Konstruktionen im interaktionalen Gebrauch (GU 366/ 5- 1), das von 2010 bis 2013 an der Universität Münster unter der Leitung von Susanne Günthner durchgeführt wurde. Mein Dank geht an das gesamte Team - Susanne Günthner, Jörg Bücker, Wolfgang Imo, Katharina König, Lars Wegner, Marcel Fladrich, Frieda Berg und Yvonne Mende - für hilfreiche Kommentare und gemeinsame Datensitzungen. Außerdem danke ich den Ko-Doktorandinnen am Lehrstuhl Ilka Peschek, Elisa Franz und Beate Weidner für ihre konstruktive Kritik und Diskussionsbereitschaft. Ohne die Hilfe meiner Eltern hätten weder ich noch diese Arbeit das Licht der Welt erblickt. Tarik El-Dessouki danke ich ganz herzlich für seine Unterstützung und unsere schöne gemeinsame WG-Zeit zwischen meinen USA-Aufenthalten. Die Korrekturleserinnen und -leser Viktor Stoltenburg, Gisela Stoltenburg-Didinger und ganz besonders Caroline Sommer und Martin Kerscher waren mir eine unschätzbare Hilfe. Münster, im September 2016 Benjamin Stoltenburg <?page no="11"?> 1 Einleitung All events take place in time and take time to take place - William Emerson Bull (1960: 12) 1.1 Thema der Arbeit Diese Arbeit versucht, „die Zeitlichkeit der mündlichen Sprache ernst zu nehmen“ (Auer 2000a: 43), und Linearität und Prozessualität als konstitutive Strukturmerkmale der (gesprochenen) Sprache systematisch bei deren Beschreibung und Analyse zu berücksichtigen. Diese Perspektive auf Sprache ist nicht selbstverständlich, wurde doch lange Zeit so getan, als hätten sprachliche ‚Produkte‘ gar keine zeitliche Erstreckung, wären also keine Prozesse, für die das vorherige, nachfolgende und simultane Geschehen von großer Wichtigkeit ist (Auer 1993a, Deppermann & Günthner 2015, Günthner & Hopper 2010, Linell 2005). Erst seit der intensiven Beschäftigung mit gesprochener Sprache hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine konstitutive Eigenschaft von Gesprächen darin liegt, dass sie linear in der Zeit verlaufen. 1 Auer 2000a Diese Erkenntnis soll in dieser Arbeit zum Ausgangspunkt genommen werden, um die traditionelle Deskription und Analyse syntaktischer Phänomene in der gesprochenen Sprache auf den Prüfstand zu stellen. Dahinter steht die Überzeugung, dass das natürliche Ordnungsprinzip der Zeit sich nicht nur in den Gesprächen selbst niederschlägt, sondern auch bei der Deskription und Analyse gesprochener Sprache in Rechnung gestellt werden muss ( , Günthner 2011a). Temporalität und Linearität sind dabei Aspekte, die für viele Bereiche der Sprachwissenschaft von Belang sind: Prosodie, Morphologie, Syntax bis hin zur ‚textuellen‘ Dimension der Diskursorganisation und der sequenziellen Organisation. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf der Syntax der gesprochenen Sprache, auch wenn sich noch zeigen wird, dass ein rein syntaktischer Blick auf sprachliche Strukturen der interaktionalen Praxis nicht sinnvoll ist und durch semantisch-pragmatische Überlegungen, sequenzielle Gliederungsmerkmale und prosodische Abschnittsbildung ergänzt werden muss. 1 Der Urheber oder die Urheberin dieser Erkenntnis ist schwerlich auszumachen. Trotzdem soll das Ausbleiben von Literaturverweisen an dieser Stelle nicht unterstellen, dass Linearität und Zeitlichkeit als Erstreckungsdimensionen gesprochener Sprache meine Entdeckung wären. Da es sich aber dabei um einen zentralen Punkt der Untersuchung handelt, sei an dieser Stelle auf die entsprechenden späteren Kapitel verwiesen. Die wichtigsten Akteure dieser Auseinandersetzung werden in den Kapiteln 3, 4 und 5 vorgestellt. <?page no="12"?> 1 Einleitung 2 1.2 Zielsetzung der Arbeit Diese Arbeit will einen Beitrag zum Aufbau einer Grammatik der gesprochenen Sprache leisten mit dem Ziel einer realistischen, prozessorientierten und interaktionsbezogenen Sprachbeschreibung. Daraus ergibt sich ein dreifaches Erkenntnisinteresse: das theoretische Erkenntnisinteresse, einen Beitrag zur Ausarbeitung eines Syntaxmodells für die gesprochene Sprache zu liefern; das empirische Erkenntnisinteresse, den Gegenstandsbereich ‚Syntax des gesprochenen Deutsch‘ einzugrenzen, um herauszufinden, welche Leistungen ein solches Syntaxmodell erfüllen muss; das praktische Erkenntnisinteresse, die Leistungen und Grenzen von vier aktuellen Theorien und Modellen inkrementeller Syntax, die dem zeitlichen Aufbau mündlicher Äußerungen gerecht werden wollen, aufzuzeigen und durch die systematische Formulierung der praktischen Anwendungsprobleme die weitere theoretische und methodologische Forschung zu stimulieren. 1.3 Gliederung der Arbeit Kapitel 2 setzt den methodologischen Rahmen, den es braucht, um Sprache-in-Interaktion zu analysieren. Hier werden die theoretischen Hintergründe und Grundlagen der Gesprochene-Sprache-Forschung, der ethnomethodologischen Konversationsanalyse und der interaktionalen Linguistik geliefert. Außerdem wird auf das der Arbeit zugrunde liegende Korpus und dessen Aufbereitung eingegangen. In Kapitel 3 wird geklärt, welchen Zeitbegriff man benötigt, um den zeitlichen Verlauf sprachlicher Strukturen zu beschreiben, und wie dieser sich von alternativen Zeitbegriffen und Fragestellungen in wissenschaftlichen Nachbardisziplinen abgrenzen lässt. Wissenschaftsgeschichtlich lassen sich drei verschiedene Blickwinkel auf das Thema Zeit feststellen: Der physikalische Blickwinkel widmet sich der Zeit als objektiv messbarer Größe, der philosophische interessiert sich für das Verhältnis zwischen objektiver Zeit und subjektiver Zeitempfindung und fragt nach dem Wesen der Zeit, der psychologische und soziologische Ansatz fokussiert schließlich auf die subjektive Zeit als Zeitempfinden bzw. auf die kulturelle Konstruktion von Zeit. Darüber hinaus tauchen die Zeit betreffende Fragestellungen in fast jeder Wissenschaft auf: die Frage nach dem Verhältnis zwischen Zeit und Ewigkeit in der Religion, soziale Zeit in der Soziologie und Anthropologie, Zeit als Ware in der Ökonomie etc. In Kapitel 3 wird versucht, diese verschiedenen Zugänge zu systematisieren. Dabei zeigt sich schnell, dass die großen physikalischen, theologischen und erkenntnistheoretischen Fragen nur wenig Anknüpfungspunkte zu einer linguistischsyntaktischen Untersuchung bieten, dass aber kulturelle und anthropologische Fragen <?page no="13"?> 1.3 Gliederung der Arbeit 3 durchaus Bezugspunkte zum interaktionalen Management von Handeln in der Zeit haben. Auch die Sprach- und Literaturwissenschaften haben sich mit dem Thema Zeit beschäftigt, zum einen in Form von Tempus und Aspekt, zum anderen in Form von Erzählzeit und erzählter Zeit, Zeitraffung und Zeitdehnung usw. Hier ergibt sich schon aus der Notwendigkeit der Begriffsklärung, diese verschiedenen Zeitbegriffe ‚Tempus‘ und ‚Prozessualität‘ sauber voneinander abzugrenzen. Schließlich haben ‚Zeit in der Sprache‘ (=Tempus und Aspektualität) und ‚Sprechen in der Zeit‘ (=Stück-für-Stück-Produktion sprachlicher Einheiten) nichts gemein. Die Frage, welche Implikationen damit verbunden sind, dass Sprache-in-Interaktion immer in der Zeit verläuft, ist - bei aller Verschiedenheit der Ergebnisse, Methoden und Terminologie - die große Klammer, die die nun folgenden sprachwissenschaftlichen Ansätze rahmt (insbesondere Kapitel 4 und 5). Bei der Sichtung der Forschungssituation zum Thema „Grammatik der gesprochenen Sprache“ fiel auf, dass, wo immer der Prozesscharakter von Sprache angesprochen wird, die gleichen klassischen Autoritäten aufgerufen werden, die Linearität und Prozesshaftigkeit schon immer als oberstes Prinzip von Sprache erkannt haben. Eine Aufarbeitung dieser ‚Klassiker‘ in Kapitel 4 soll zeigen, inwieweit deren Thesen einer interaktionslinguistischen Studie dienlich sind und ob sich die Vorstellung von Prozesshaftigkeit im Laufe der Jahrhunderte verändert hat. Dies ist deshalb hilfreich, weil es erlaubt, wichtige Terminologien einzuführen, die aufgrund von zeitlicher Entfaltung interaktionaler Sprache entwickelt worden sind, ohne dass die jeweiligen Arbeiten zum Ziel hatten, ein Grammatikmodell - geschweige denn ein Syntaxmodell - zu etablieren. Die Liste umfasst neben Klassikern wie Ferdinand de Saussure, Heinrich von Kleist und Wilhelm von Humboldt auch neuere Ansätze mit einem prozessorientierten Blick auf sprachliche Strukturen wie die von Harvey Sacks, Frederick Erickson, Wallace Chafe, Paul Hopper und Per Linell. Die genannte Auswahl bleibt auf die wesentlichen Protagonisten beschränkt und ließe sich sicherlich noch erweitern. Der gemeinsame Nenner dieser unterschiedlichen Einzeluntersuchungen besteht darin, dass sie Zeitlichkeit bei ihren Analysen berücksichtigen, ohne dass diese jedoch zu einem konstitutiven Bestandteil der Modellbildung wird. Das unterscheidet sie von den vier Beiträgen in Kapitel 5, für die Zeitlichkeit und Prozesshaftigkeit zu einem wesentlichen Faktor der sprachlichen Modellbildung werden und die sich dabei nicht auf Einzelfälle beschränken, sondern ganze Grammatiktheorien daraus ableiten. Da es sich um eine Vielzahl von Einzeluntersuchungen unterschiedlicher Herkunft handelt, wirken diese auf den ersten Blick wie ein Sammelsurium heterogener Ansätze. Es wird jedoch versucht, bei jedem einzelnen die Gemeinsamkeiten - aber auch die spezifischen Unterschiede - zu betonen, wo immer zeitliche Prozesse in den jeweiligen Arbeiten relevant werden. Zur besseren Orientierung werden die Arbeiten entweder unter einer gemeinsamen Überschrift gebündelt, wenn es einen übergeordneten thematischen Zusammenhang gibt, oder sie stehen unter <?page no="14"?> 1 Einleitung 4 einem Personennamen, dessen Name dann Stellvertreter für die dahinterliegenden Themen und Konzepte ist. Schließlich werden in Kapitel 5 vier aktuelle Syntaxmodelle auf den Prüfstand gestellt, um der Frage nachzugehen, ob sie in der Lage sind, die Entfaltung sprachlicher Strukturen in der Zeit abzubilden und einer weiteren Analyse zuzuführen. Während es zahlreiche Einzeluntersuchungen gibt, wie gesprochene Sprache funktioniert, wird immer wieder die mangelnde Theoriebildung bzw. Integration in eine Grammatik des (gesprochenen) Deutschen bemängelt (Deppermann 2006, Deppermann et al. 2006b, Eisenberg 2007, Günthner 2007, 2011a, Hennig 2006, Selting 2007). Dieser Mangel an theoretischer Vorarbeit hat zur Folge, dass die Darstellung von Prozesshaftigkeit und Emergenz in Grammatiken und Syntaxtheorien noch keine kanonische Form gefunden hat. Es werden daher vier alternative Ansätze diskutiert, wobei sich zeigen soll, inwieweit sie sich eignen, um die hier in Frage stehenden Strukturen angemessen abzubilden: Es handelt sich dabei um die „Grammar of Speech“ von David Brazil, die „Linear Unit Grammar“ von John McH. Sinclair und Anna Mauranen, die „Pattern Grammar“ von Susan Hunston und Gill Francis und um das Modell der „On-line-Syntax“ von Peter Auer. In Kapitel 6 werden sprachliche Prozesse der Interaktion zusammengestellt, die offensichtliche Spuren einer zeitlichen Verlaufsstruktur tragen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Phänomenen in der Größenordnung des Satzes bzw. der Turn-Konstruktionseinheit. Der zeitliche Verlauf führt dazu, dass am Anfang, in der Mitte und am Ende von Gesprächsbeiträgen ganz unterschiedliche interaktionale Aufgaben von den Gesprächsbeteiligten bewältigt werden müssen. Die angeführten Strukturen und Prozesse sind das Minimum, das ein Syntaxmodell im Rahmen einer Grammatik der gesprochenen Sprache beschreiben können muss. Sie sollen daher als Prüfstein dienen, um die Leistungsfähigkeit und Gegenstandsadäquatheit der Theorien aus Kapitel 5 zu beweisen. In Kapitel 7 wird als Ergebnis eine Antwort auf die Frage gegeben, wie Zeit - in Form von Zeitlichkeit als Prozessualität - in Sprach- und Handlungszusammenhängen relevant wird. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht wird Zeitlichkeit dabei auf ganz unterschiedlichen ‚Baustellen‘ der modernen Sprachbeschreibung und -analyse in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Dass Sprechen - wie alle anderen menschlichen Handlungen - Zeit braucht, ist dabei an sich eine triviale Erkenntnis. Jenseits aller Trivialität stellt sich aber für den/ die SprachforscherIn die Frage, wie diese Zeitlichkeit bei der Beschreibung sprachlicher und interaktionaler Strukturen berücksichtigt werden soll. Es geht also darum, „dass beim Sprechen nicht nur Zeit vergeht, sondern dass diese Zeit genutzt wird, um eine Strukturiertheit in und mit der Zeit zu erzeugen“ (Couper-Kuhlen 2007: 71). Nach meiner Auffassung muss diese Erkenntnis auch Eingang in die grammatische Modellbildung erhalten. <?page no="15"?> 2 Zugänge zur gesprochenen Sprache „And what is the use of a book,“ thought Alice, „without pictures or conversation? “ - Lewis Carroll (1866: 11) Alice's Adventures in Wonderland, Chapter I Wer sich die Mühe macht, eine datenbasierte interaktionslinguistische Arbeit über Alltagsgespräche in face-to-face-Situationen zu schreiben, findet sich immer noch in der Situation wieder, sowohl den Gegenstand als auch die Herangehensweise legitimieren zu müssen. Das ist besonders deshalb merkwürdig, da bei alternativen linguistischen Ansätzen (Korpuslinguistik, generative Theorie) keine entsprechende Methodendiskussion stattfindet. 2 Die Beschäftigung mit gesprochener Sprache ist auf der einen Seite sehr alt - insbesondere wenn man die antike abendländische Rhetorik dazurechnet - auf der anderen Seite recht jung. Obwohl man sich auch vor dem strukturalistischen Schisma in langue und parole mit gesprochener Sprache beschäftigt hat, hat die moderne Forschung zur gesprochenen Sprache nicht so sehr an diese Tradition angeknüpft, sondern vielmehr Anregungen aus der amerikanischen Soziologie genutzt. Denn statt auf die frühen Arbeiten aus der Dialektologie Dieses Nachdenken muss jedoch nicht völlig nutzlos sein, erlaubt es doch, die verdeckte und offene Wirkungsgeschichte einiger historischer sprachwissenschaftlicher Paradigmen zu entlarven. 3 , der Phonetik 4 oder der frühen Umgangssprachenforschung 5 2 Das zeigt sich auch an der innerhalb des generativen Paradigmas geführten Diskussion, ob Grammatikalitätsurteile von dekontextualisierten Beispielsätzen in Zukunft durch Informantenbefragung auf eine etwas stabilere - allerdings immer noch intuitionsbasierte - Basis zu stellen seien, vgl. aufzubauen, brauchte die heutige Gesprochene-Sprache-Forschung den Anstoß aus anderen akademischen Disziplinen, um einen eigentlich genuin sprachwissenschaftlichen Gegenstand - das Bornkessel-Schlesewsky & Schlesewsky (2007), Featherston (2007), Haider (2007), Hartmann (1998), Pullum (2007), Schütze (1996). 3 Die Dialektologie hatte zu Beginn allerdings auch nicht die technischen Möglichkeiten, Sprachaufzeichnungen durchzuführen und sich daher auf die Transkription von Lautformen beschränkt (vgl. die Wenker-Sätze). An dieser Methode hat sich daraufhin auch später nur zögernd etwas geändert. 4 In der Phonetik kam zwar das Grammophon als Aufzeichnungsinstrument zum Einsatz, aufgrund der bescheidenen Qualität und des komplizierten und teuren Aufnahmeverfahrens blieben die Erfolge jedoch hinter den Erwartungen zurück. Es kam allerdings zur Gründung von Phonogrammarchiven in Österreich, Deutschland und der Schweiz (Zwirner et al. 1966). 5 Vgl. Behaghel (1927), Vološinov (1929), Wunderlich (1894). <?page no="16"?> 2 Zugänge zur gesprochenen Sprache 6 Gespräch - wieder für sich zu entdecken. Kennzeichnend für die weitere Entwicklung der Erforschung der gesprochenen Sprache ist seitdem die fortschreitende Emanzipation von der soziologisch ausgerichteten conversation analysis, deren ursprüngliches Interesse nicht in den grammatischen Strukturen und dem formalen Inventar lag, sondern in der Betrachtung der Konstruktion von sozialer Wirklichkeit durch sprachliches Handeln. Da es der ethnomethodologischen Konversationsanalyse bei der Rekonstruktion, wie Interaktionsteilnehmer durch ihr Handeln interaktiv Sinn erzeugen, wichtig ist, dies aus der Teilnehmerperspektive zu tun, sind alle Kategorien und Begriffe, die sie identifiziert, nachweislich von den Interaktionspartnern relevant gesetzt worden. Es ist nicht möglich, dass die Rekonstruktion der sprachlich-kommunikativen Praktiken durch die Konversationsanalyse dazu führt, dass dabei sekundäre (wissenschaftliche) Konstrukte herauskommen, die im Widerspruch zu den primären Konstrukten stehen (an denen die Teilnehmer sich orientieren). 6 Auer 2013b: 133 Die dadurch entstehende Redundanz zwischen Geschehen und dessen Beschreibung ist gewollt und erwünscht, zeigt doch „der Wiedererkennungseffekt im Resultat […] die Qualität der Analyse, der es ja gar nicht um die Entwicklung eines alternativen (besseren) Schemas zum Begreifen der sozialen Wirklichkeit geht, sondern um die Rekonstruktion der primären Alltagskategorien.“ ( ) Dieser Automatismus, dass die Ethno- Methoden nur entdeckt und nicht von Wissenschaftlern oktroyiert werden, ist mit der Hinwendung zu immer stärker linguistischen Fragestellungen außer Kraft gesetzt worden. Für syntaktisch-grammatische Fragestellungen ist es nötig, auch auf tertiäre Konstrukte in Form von grammatischen Kategorien und Funktionen zurückzugreifen. Diese haben ihre Berechtigung, sind aber nicht immer kompatibel mit den Erkenntnissen der Sprachwissenschaft der kommunikativen Praxis. Bezogen auf Analysen gesprochener Sprache bedeutet dies eine Hinwendung zur Performanz und damit zu den spezifischen Merkmalen mündlicher Sprachverwendung: Statt gesprochene Sprache als ein schriftanaloges Objekt zu beschreiben, hat eine solche an der Mündlichkeit orientierte Sprachtheorie die Spezifika mündlicher Kommunikation zu berücksichtigen […]. Hierzu gehört, den tatsächlichen Sprachgebrauch nicht einfach als Implementation abstrakter Strukturen bzw. als Instantiierung eines abstrakten mentalen Systems, das der Sprecher beherrscht und das in einzelnen Sätzen realisiert wird, zu studieren, vielmehr gilt es, sprachliche Strukturen und Regelhaftigkeiten als Verfestigungen zu betrachten, die dem Diskurs entstammen, dort sedimentiert und transformiert werden. (Günthner 2006b: 96f.) 6 Die Teilnehmerkategorisierungen nicht als amateurhaft und unwissenschaftlich abzukanzeln, ist eine der Grundfesten ethnomethodologischen Denkens: Die Unterscheidung zwischen „first-order constructs“ und „second-order constructs“ geht insbesondere auf Schütz (1953) zurück. <?page no="17"?> 2 Zugänge zur gesprochenen Sprache 7 Trotzdem ist es nicht angebracht, das Rad aufs Neue zu erfinden, sondern jede einzelne traditionell-grammatische Begrifflichkeit muss auf ihre Eignung für die Beschreibung gesprochener Sprache geprüft werden. Ein aktuelles Problem sind die Schwierigkeiten, die beim Übertragen von grammatischen Kategorien auf Phänomene der gesprochenen Sprache entstehen, da sie schnell dazu führen, die Eignung dieser Kategorien für deren Beschreibung generell in Frage zu stellen: Hand in Hand mit der Besinnung auf das ‚natürliche Zuhause gesprochener Sprache‘ (Goffman) geht die Infragestellung und Problematisierung (schrift)grammatischer Beschreibungskategorien, die gerade die zentralen Eigenschaften gesprochener Sprache häufig nur im Sinne eines Defizites an Ordnung und Struktur in den Blick kommen lassen. (Hausendorf 2001: 975) Die Rede von zwei getrennten grammatischen Systemen 7 wird noch verstärkt durch die vollkommen unterschiedliche Terminologie 8 , die sich in der eher sozialwissenschaftlich gerichteten Tradition herausgebildet hat: Durch ihre funktional-pragmatischen Interessen sind Begriffe wie Reparatur, Korrektur, Sequenz, TCU und TRP ohne Rekurs auf die abendländische Grammatiktradition gebildet worden (auf welche auch? ) und haben bis heute kein Pendant in der (schriftsprachlich orientierten Standard-) Grammatik. 9 7 Die Frage, inwieweit gesprochensprachliche Besonderheiten Eingang in die Grammatikschreibung finden sollen, wird von den Beteiligten heftig diskutiert ( Problematisch ist zudem die missverständliche Unterscheidung in langue und parole in der Interpretation von Sprachsystem auf der einen und vereinzelter Äußerung auf der anderen Seite. z. B. Eisenberg 2007), wobei sich in letzter Zeit ein Trend zu Gunsten der gesprochen Sprache beobachten lässt (vgl. Deppermann 2006, Fiehler 2007, Günthner 2007, 2011a, Hennig 2006, Zifonun et al. 1997 Abschnitt C: „Zur Grammatik von Text und Diskurs“). 8 Vgl. Fiehler (2000b: 28): „Die Erkenntnis gesprochener Sprache wird […] erschwert und die Dominanz der geschriebenen Sprache im Sprachbewußtsein immer von Neuem perpetuiert durch die Tatsache, daß zentrale Analyse- und Beschreibungskategorien schriftsprachlich ausgerichtet sind. Es bedarf deshalb der theoretischen Reflexion und Kritik der gängigen Analyse- und Beschreibungskategorien sowie der Entwicklung modifizierter, gegenstandsangepaßter Kategorien, um die Ablösung von der Schriftorientierung nicht nur auf der Daten-, sondern auch auf der Kategorienebene vollziehen zu können.“ 9 Um der Duden-Grammatik nach dem Verlust ihrer hoheitlichen Aufgaben ein Alleinstellungsmerkmal zu verleihen, wurde seit der vorletzten Auflage ein Kapitel über „Gesprochene Sprache“ hinzugefügt (Fiehler 2006, 2009). Diese ‚Grammatik in der Grammatik‘ ist sicherlich noch kein gelungener Versuch, gesprochensprachliche Besonderheiten abzubilden. Stattdessen wäre es leserfreundlicher und systematischer, die Besonderheiten in den jeweiligen Kapiteln zu erwähnen, wie z. B. in der englischen Grammatik von Biber et al. (1999), die Schritt für Schritt nach mündlichen und schriftlichen Besonderheiten unterscheiden. Das ‚Autorenkollektiv‘ der Duden-Grammatik steht sich bei dieser völligen Überarbeitung möglicherweise selbst im Weg. <?page no="18"?> 2 Zugänge zur gesprochenen Sprache 8 Diese Lesart scheint das Vorhandensein eines Systems auf Seiten der parole auszuschließen. Diesen Irrtum konnte die conversation analysis seit den 70er Jahren beeindruckend widerlegen und hat damit einen neuen Forschungsgegenstand ins Leben gerufen, nämlich die nach der „Kompetenz in der Performanz“ (Briggs 1988). 10 2.1 Gesprochene-Sprache-Forschung Die folgenden Abschnitte wollen daher den theoretischen Rahmen dieser Arbeit abstecken, indem drei der wichtigsten Entwicklungsstationen auf dem Weg zur Erforschung der gesprochenen Sprache aufgegriffen werden. Im Anschluss daran folgt eine kurze Erläuterung zur Herkunft der Daten, die in dieser Arbeit verwendet werden und zu deren Aufbereitung in Form von Transkription bzw. phonetischer Analyse. Die Gesprochene-Sprache-Forschung kann im Gegensatz zur (soziologischen) Konversationsanalyse (vgl. Kapitel 2.2) als genuin sprachwissenschaftliche Forschungsrichtung bezeichnet werden. 11 Das Interesse an gesprochener Sprache wurde geweckt und flankiert von der „pragmatischen Wende“ in der Sprachwissenschaft, also einerseits der Abkehr von strukturalistischen Grundannahmen bzw. der ausschließlichen Behandlung der langue und andererseits von den technischen Innovationen auf dem Gebiet der Tonbandgeräte ( Das hat allerdings auch zur Konsequenz, dass die Gesprochene- Sprache-Forschung jeden Paradigmenwechsel der Sprachwissenschaft der vergangenen 60 Jahre mitgemacht und sich immer wieder neu ausgerichtet hat. Je nach Erscheinungsjahr der Publikationen findet man daher unterschiedliche Schwerpunkte: psychologische Erklärungsmuster, Sprechakttheorie, funktionale Satzperspektive, Dialogtheorie, Konversationsanalyse usw. vgl. Auer 1993a). Die Erfindung und kostengünstige Verfügbarkeit der Aufzeichnungstechnologien nach dem Zweiten Weltkrieg hatte für die Sozialwissenschaften eine „eine ähnliche Bedeutung [...], wie die Erfindung des Mikroskops für die Biologie“ (Bergmann 1981: 19). Die Verfügbarkeit dieser neuen Technologie und die sich mit ihr eröffnenden Möglichkeiten stellten zu Anfang jedoch ein bloßes Potenzial dar, das statt von der Linguistik in erster Linie von den Sozialwissenschaften ausgeschöpft wurde. Die Linguistik machte ausgerechnet jetzt eine ‚formale‘ Wende, so dass sich ein tiefes Verständnis von Sprache, Sprechen und 10 Zum „performativ turn“ in den Kulturwissenschaften generell vgl. Wirth (2002), Bohle & König (2001), Krämer (2001). 11 Einen forschungsgeschichtlichen Überblick der Gesprochene-Sprache-Forschung in Deutschland liefern Agel & Hennig (2007), Auer (1993a), Betten (1977, 1978), Hennig (2006), Imo (2007), Schwitalla (2001). <?page no="19"?> 2.1 Gesprochene-Sprache-Forschung 9 Kommunikation aufgrund kurioser Abneigung 12 Chafe 1996b: 37 bis auf weiteres verzögerte: „a curious unwillingness to observe language as it really is, the majority of linguists, not to mention psychologists, being content to examine data they have invented.“ ( ) Anfänglich wurde kontrastiv auf Unterschiede zwischen schriftlichen und mündlichen Texten hingewiesen, wobei die korpuslinguistischen, statistischen Untersuchungen sich fast ausschließlich auf syntaktische Phänomene bezogen (z. B. Leska 1965). Dieser kontrastive Blick läuft schnell Gefahr, gesprochensprachliche Phänomene nur in negativer Abgrenzung zur schriftsprachlichen Norm zu formulieren, und die plakative Kontrastierung von Gesprochenem und Geschriebenem verdeckt, dass es sich hier in beiden Fällen nicht um homogene Untersuchungsgegenstände handelt, sondern um medial unterschiedlich realisierte Sprachprodukte, die jeweils aus ganz unterschiedlichen Textsorten (Heinemann 2000) und kommunikativen Gattungen (Günthner & Knoblauch 1995) bestehen. Die Gesprochene-Sprache-Forschung stand bis weit in die 70er Jahre hinein ganz unter dem Zeichen der Erforschung der Syntax. Man wollte wissen, wie weit unkorrigierte mündliche Äußerungen von den grammatischen Normen der geschriebenen Sprache entfernt sind. In der Forschungspraxis schlug sich damit ein Blick auf die gesprochene Sprache nieder, der noch stark von der Schrift bestimmt war […]. Alle grammatischen Theorien seit der Antike wurden für die Schreibsprache entwickelt und auch aus ihr gewonnen. Eine großangelegte empirische Analyse syntaktischer Kategorien, in der mehrere vergleichbare Textsorten aus dem mündlichen und schriftlichen Bereich einbezogen werden, steht aber noch aus. (Schwitalla 1997: 66) Um vergleichbare „Texte“ zu erhalten, wurde anfänglich monologischen Reden der Vorzug gegeben - was interaktionale, sequenzielle und viele prosodische Phänomene ausblendete oder verzerrte (z. B. Heinze 1979). Erst mit der Konzentration auf konzeptionell mündliche, dialogische, natürliche Gespräche konnte die verzerrende Perspektive, die Gespräche durch eine schriftsprachlich-normative Brille betrachtet, überwunden werden. Die erste auf wirklich spontanen Gesprächen beruhende Untersuchung im deutschsprachigen Raum ist die Dissertation von Zimmermann (1965). Mit der Hinwendung zu natürlichen Gesprächsdaten stellte sich sehr bald das Problem, wie typisch gesprochensprachliche Phänomene zu bewerten oder zu erfassen sind. Das zeigte sich besonders in der Diskussion, welche Einheiten gesprochenen Texten zu Grunde 12 Diese Ironie der Geschichte ist sicherlich nicht nur auf die schlechte Qualität, die mangelnde Praktikabilität oder die hohen Anschaffungspreise der ersten Magnetbandrekorder zurückzuführen, sondern muss auch als „verpasste Chance“ auf Seiten der Sprachwissenschaft gesehen werden: „There is more than a little irony in the fact that this preoccupation with concocted data swept over linguistics at almost exactly the moment when tape recorders made it possible for the first time in human history to observe spoken language as it really was.“ (Chafe 1996b: 38) <?page no="20"?> 2 Zugänge zur gesprochenen Sprache 10 zu legen seien - eine Auseinandersetzung, die sich stellvertretend an der Frage nach dem Status von Ellipsen, Anakoluthen, Parenthesen und Reparaturen abspielte. Hierbei kam immer wieder die Frage auf, „ob die gesprochene Sprache überhaupt mit den aus der Schriftsprache gewonnenen grammatischen Kategorien beschrieben werden kann und nicht vielmehr andersartige Beschreibungsmodelle erfordere, oder ob es sich bei ihr nur um eine bestimmte Gebrauchsweise von Sprache handelt, die eine mit der Schriftsprache gemeinsame Norm deshalb nicht außer Kraft setze.“ (Betten 1977: 346) Mit der Abwendung von monologischen Texten (z. B. Bundestagsredeprotokollen) und der Aufgabe, Gesprächstypen mithilfe von (statischen) Redekonstellationen zu bestimmen, öffnete sich die Gesprochene-Sprache-Forschung den Methoden und Ergebnissen anderer pragmatischer Forschungszweige, insbesondere der Konversationsanalyse, der mündlichen Erzählforschung und der Ethnographie des Sprechens. Damit rückte nicht mehr die statistische Häufigkeit bestimmter grammatischer Formen in der gesprochenen Sprache gegenüber der geschriebenen Sprache in den Vordergrund, sondern „ganz neue Fragestellungen interaktionstheoretischer und soziolinguistischer Art“ (Schwitalla 2001: 901) wie Sprecher-, Themen- und Aktivitätswechsel. Mit anderer Akzentsetzung und geläutert von der Vorstellung einer „defizitären“ Mündlichkeit kann man seit einiger Zeit „eine erneute Erforschung der gesprochensprachlichen Syntax feststellen, nun unter Berücksichtigung der dialogischen Bezüge und der Prosodie.“ (Schwitalla 2001: 901) 2.2 Ethnomethodologische Konversationsanalyse Die Konversationsanalyse wurde in den späten 1960er Jahren im Umfeld des kalifornischen Soziologen Harvey Sacks (1935-1975) entwickelt. Sie entstammt dem Programm der Ethnomethodologie, das von dem amerikanischen Soziologen Harold Garfinkel in den 1960er Jahren ins Leben gerufen wurde. Obwohl ihr Gegenstand natürliche, sprachliche Interaktion ist, gilt das Interesse in erster Linie nicht den sprachlichen Strukturen, sondern den Methoden, „mit denen Gesellschaftsmitglieder soziale Wirklichkeit erzeugen und füreinander als geordnet, erklärbar, regelhaft darstellen“ (Streeck 2005: 1417). Neben dieser konstruktivistisch angelegten soziologischen Forschungsrichtung wirkten auch Erving Goffmans interaktionalistischen Ansätze, Aspekte der kognitiven Anthropologie, John Gumperz’ und Dell Hymes’ Ethnographie des Sprechens sowie die Philosophie des späten Wittgensteins auf die Konzeption ein. <?page no="21"?> 2.2 Ethnomethodologische Konversationsanalyse 11 2.2.1 Ethnomethodologie Die Ethnomethodologen 13 Garfinkel (1967b: 1 kritisieren den strukturfunktionalistischen Ansatz Talcott Parsons’, der in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Sozialwissenschaften dominierte, nach dem soziale Ordnung durch den Rückbezug auf allgemeine geteilte kulturelle Wertesysteme hergestellt werde. Für seinen früheren Doktoranden Harold Garfinkel ist der Schritt von allgemeinen Werten zu konkreten Handlungssituationen jedoch zu groß, und er ist der Meinung, dass diese allgemeinen Werte in die aktuelle Handlungssituation hinein vermittelt werden müssen, um handlungsrelevant zu werden. In gewissem Sinne stellt der Übergang - vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus - auch eine Ebenenverletzung dar bzw. muss ein Übergang von allgemeinen Handlungsprinzipien zu vereinzelt-aktuellen Handlungen zumindest problematisiert werden. Diese Vermittlung kann nach Garfinkel nur so verstanden werden, dass mit jeder Handlung zugleich eine Interpretationsanweisung mitgeliefert wird, die es erlaubt, allgemeine soziokulturelle Werte mit der Situation zu verknüpfen. In seinem Aufsatz „What is ethnomethodology? “ formuliert ) sein Programm folgendermaßen: The following studies seek to treat practical activities, practical circumstances, and practical sociological reasoning as topics of empirical study, and by paying to the most commonplace activities of daily life the attention usually accorded extraordinary events, seek to learn about them as phenomena in their own right. Their central recommendation is that the activities whereby members produce and manage settings of organized everyday affairs are identical with members’ procedures for making those settings ‚account-able‘. Das Ziel besteht also darin, die Techniken und Methoden zu untersuchen, mit denen Mitglieder einer soziokulturellen Gemeinschaft ihre alltäglichen Handlungen organisieren und erfolgreich gestalten. Diese Methoden sind dabei identisch mit den Methoden, mit denen die Mitglieder ihre Handlungen „accountable“ (= interpretierbar) machen. Die Mitglieder schreiben ihren Handlungen Sinn zu, indem sie sie auf der Folie zugrunde liegender Muster interpretieren, in der heuristischen Annahme, dass es sich dabei um geteiltes Wissen handelt. Dieses Wissen kann in sogenannten breaching experiments (Garfinkel 1967a) aufgedeckt werden, in denen ein Muster unterbrochen wird und damit entsprechende Erwartungen gestört werden. Cicourel (1975) hat dieses alltagsweltliche Wissen, das dem common sense jeder alltäglichen sozialen Interaktion und den daraus folgenden Deutungs- und Verständigungsprozessen zu Grunde liegt, in Form von sechs „Basisre- 13 Zur Ethnomethodologie vgl. Cicourel (1970) und Garfinkel (1967b) oder die Einführung von Heritage (1984), Bergmann (1988), Streeck (2005) und Auer (2013b: 131-140). <?page no="22"?> 2 Zugänge zur gesprochenen Sprache 12 geln“ 14 Diese „Regeln“ der Gesprächsführung sind notwendig, um die sprachliche Vagheit, die in jedem sprachlichen Ausdruck liegt, zu kompensieren. Die Vagheit aller Ausdrücke ist in ihrer indexikalischen Natur begründet, durch die sich die Bedeutung jedes Ausdrucks situationsabhängig verschiebt (Deixis/ indexicality). Diese Bedeutungsungenauigkeit stellt jedoch eher den beobachtenden Forscher einer konkreten Kommunikationssituation vor Probleme als deren TeilnehmerInnen selbst. Die zeitliche und lokale Platzierung einer sprachlichen Handlung in einem Gespräch liefert die Hinweise für deren Interpretation nämlich gleich mit. Hält man sich an die Regeln, ist die Sinngebung für die Beteiligten problemlos. Verstößt man gegen die Regeln (z. B. in breaching experiments), werden bald darauf die Regeln selbst zum Gesprächsgegenstand. Entreißt man die sprachliche Handlung ihres Kontextes, wird sie (z. B. für einen Wissenschaftler in einem Textbuch) mehrdeutig oder uninterpretierbar. Weil sprachliche Handlungen immer in einer konkreten Handlungssituation vollzogen werden, sind sie für die Beteiligten verstehbar und „adequate-for-all-practical-purposes“ ( zusammengefasst: Sie umfassen die „Reziprozität der Perspektiven“, d. h. dass die Beteiligten annehmen, dass ihre Deutungsmuster trotz biographischer, sozialer, regionaler etc. Differenzen hinreichend übereinstimmen. Die „prospektiv-retrospektive Sinnzuschreibung“, nach der sich die Beteiligten darauf verlassen, dass Unklarheiten im Verlauf der Interaktion rückwirkend einen Sinn bekommen. Die „Etcetera-Annahme“ der Beteiligten geht davon aus, dass Dinge, die nur angedeutet werden können, mit dem geteilten Alltagswissen zu Sinnvollem ergänzt werden. Und schließlich die „Normalform- Annahme“, nach der Ereignisse und Handlungen der Beteiligten - falls nichts Gegenteiliges signalisiert wird - als normal eingestuft werden. Garfinkel 1967b: 9) formuliert. Wie dieses Verstehen von den Beteiligten für die Beteiligten methodisch erzeugt wird, ist die Leitfrage der Ethnomethodologie. Das ethnomethodologische Programm ist von Garfinkel „in einer Reihe berühmter, allerdings enigmatischer Formulierungen“ (Streeck 2005: 1420) definiert worden: I use the term ‚[1]ethno[2]methodology‘ to refer to the investigation of [3] the rational properties of indexical expressions [4] and other practical actions as [5] con- 14 Die sechs Basisregeln Cicourels (1975, 1981) stellen den Versuch dar, die auf Schütz & Luckmann (1994a, 1994b) zurückgehende Idee der Reziprozität der Perspektiven, also die Möglichkeit, den Standpunkt des anderen einzunehmen, weiter auszubauen. Dessen sogenannte Generalthese der wechselseitigen Perspektiven umfasst zwei Idealisierungen des Alltags, die der Vertauschbarkeit der Standpunkte und die der Kongruenz der Relevanzsysteme, um eine intersubjektive „Lebenswelt“ herzustellen, obwohl das aufgrund unserer vereinzelten Existenz und Wahrnehmung und unseren individuellen Biographien eigentlich nicht möglich ist und daher eine „Idealisierung“ erfordert. <?page no="23"?> 2.2 Ethnomethodologische Konversationsanalyse 13 tingent ongoing accomplishments of [6] organized artful properties of [7] everyday life. (Garfinkel 1967b: 11) Da fast jedes Epitheton dieser Definition erklärungsbedürftig ist, soll mit deren Erläuterung schlaglichtartig auf die zentralen Aspekte des Forschungsprogramms hingewiesen werden: Zu (1) ethno: Der Begriff verweist darauf, dass es um die alltäglichen Wissensbestände der Mitglieder einer Gesellschaft geht, die im Gegensatz zum Struktur-Funktionalismus nicht als „cultural dopes“ (Garfinkel nach Hutchby & Wooffitt 2008: 139), die nicht in der Lage sind, ihre Kategorien explizit zu machen, angesehen werden. Externe, vermeintlich objektive Begriffe aus der wissenschaftlichen Außenperspektive heranzutragen, ist irrig, da in diesem Fall auf Wissensbestände zurückgegriffen wird, die es gerade zu entdecken und zu erklären gilt. Zu (2) methodology: Jeder alltäglichen sozialen Handlung liegen unreflektierte Verfahren zugrunde, mit deren Hilfe der Handelnde seine Handlung als solche konstituiert. Die Herstellung und sinnhafte Ordnung sozialer Wirklichkeit wird von allen „kompetenten“ Gesellschaftsmitgliedern getragen und verläuft daher nicht willkürlich, sondern methodisch. Zu (3) the rational properties of indexical expressions: Da weder die Prinzipien noch die Handlungen selbst situationsentbunden verstanden werden, spielt der Kontext für die lokale Erzeugung sozialer Ordnung eine entscheidende Rolle. Die Handlungsteilnehmer nutzen diesen Kontext, wodurch ihre Handlungen einen indexikalischen Charakter erhalten. Da die Sinnhaftigkeit einer Handlung nicht durch Rückbezug auf allgemeine Prinzipien erfolgt, ist jede Sinnzuschreibung ihrem Wesen nach auch reflexiv. Die Handlung wird durch den dargestellten Sinn interpretierbar und der Sinn manifestiert sich in der vollzogenen Handlung. Zu (4) and other practical actions: Die prinzipielle Wahlfreiheit des Menschen führt zu dem ‚praktischen‘ Problem, dass der Mensch ununterbrochen die Frage beantworten muss „What to do next? “ (Garfinkel 1967b: 12). In der Realität kann er sich dieser Frage jedoch nur selten ausgiebig widmen und daher dienen die Techniken der alltäglichen Sinnkonstruktion auch dazu, schnell, ökonomisch und angemessen zu agieren. Zu (5) contingent ongoing accomplishments: Der konstruktivistische Ansatz führt dazu, dass Wirklichkeit nicht als statische Konstante aufgefasst werden darf, sondern von den Teilnehmern immer erst lokal, d. h. im jeweiligen sequenziellen Kontext, und situativ hergestellt wird und sich im Laufe der Zeit auch verändern kann. Das bedeutet für die Teilnehmer, dass sie sich ständig über die aktuelle Wirklichkeitsdefinition verständigen, Schemawechsel markieren und sich der gemeinsamen Handlungsdefinition gegenseitig versichern müssen. Ihre Handlungen folgen dabei keinen exter- <?page no="24"?> 2 Zugänge zur gesprochenen Sprache 14 nen (internalisierten) Normen und Regeln, sondern die Regeln und Normen werden durch ihr Verhalten erst konstituiert und stehen mit diesem in einem dialektisch-reflexiven Verhältnis (und lassen sich also auch nicht situationsunabhängig beschreiben). Jede neue Äußerung steht in Bezug zur Vorgängerhandlung und schafft zugleich einen neuen Kontext für die Folgehandlungen. Durch diese retrospektivische und prospektivische Verkettung der einzelnen Äußerung wird die laufende Interaktion „kontextualisiert“ und zwischen den Interaktionspartnern ständig neu ausgehandelt. Zu (6) organized artful properties: Die Sinnzuschreibung einer Handlung kann nur erfolgen, weil parallel zu ihr Verfahren eingesetzt werden, die diese Handlungen sinnvoll machen. Das „making accountable“ bezeichnet die sinnvermittelte Konstruktion der Wirklichkeit, indem eine Handlung nicht nur vollzogen, sondern zugleich auch verstehbar, interpretierbar, erklärbar gemacht wird. Zu (7) everyday life: Im Gegensatz zur soziologischen Tradition wird der Analyseschwerpunkt auf Alltagshandlungen „as phenomena in their own right“ (Garfinkel 1967b: 1) gelegt. Die Lösung des ‚praktischen‘ Problems par exellence „What to do next? “ (Garfinkel 1967b: 12) stellt sich schließlich in allen Lebensbereichen und alltagspraktische Verfahren verlaufen genauso methodisch ab wie z. B. feierliche Initiationsriten (nur dass die alltäglichen Verfahren bisher nicht im Vordergrund standen). 15 Obwohl es sich bei der Ethnomethodologie um eine eigentlich soziologische Forschungsrichtung handelt, hat sie über den Umweg der etnomethodologischen Konversationsanalyse bedeutenden Einfluss auf die Erforschung verbaler Interaktion. Gerade das neue Verständnis des Kontextes als eines „self-organizing settings“, nach dem „Verhaltensweisen […] erst durch ihre Einbettung in […] Kontexte zu sinnhaften Handlungen“ werden, und umgekehrt „settings erst durch die Handlungen, die in ihnen stattfinden, konstituiert werden“ (Auer 2013b: 139), hat die systematische Erforschung der lokalen Semantik von Wörtern und Äußerungen und die teilnehmerzentrierte Auswertung authentischer Gesprächssituationen erst möglich gemacht. 15 Die (Re)konstruktion der Alltagswirklichkeit kommt oft zu buchstäblich ‚trivialen‘ Ergebnissen und nicht ohne Ironie haben sich ihre Vertreter auch von anderen sozialwissenschaftlichen Strömungen (insbesondere Parsons Strukturfunktionalismus) als „sociology of nothing happend today“ (Sacks) abgesetzt (vgl. Auer 2013b: 133). <?page no="25"?> 2.2 Ethnomethodologische Konversationsanalyse 15 2.2.2 Konversationsanalyse Das ethnomethodologische Programm wurde besonders erfolgreich durch die „conversation analysis“ 16 Hutchby & Wooffitt (2008: 11 umgesetzt. Das Ziel der Konversationsanalyse besteht laut ) in der „systematic analysis of the talk produced in everyday situations of human interaction: talk-in-interaction.“ Hier offenbart sich schon ein terminologisches Problem, bedingt durch den Umstand, dass der Gegenstand der Forschungsrichtung sich im Laufe der Zeit verschoben hat. Anfangs stand tatsächlich „ordinary conversation“ im Vordergrund der Untersuchungen, schon früh wurden jedoch auch institutionelle Daten einbezogen. Es wäre also angemessener, den Gegenstand der Konversationsanalyse als „talk-in-interaction“ (vgl. Schegloff 1987c, Schegloff 1991) bzw. als Sprachein-Interaktion (Imo 2013) zu beschreiben, insbesondere weil die Bezeichnung „Konversation“ im Deutschen nicht alle Arten von Gesprächen abdeckt, sondern für ein gehobenes Register reserviert ist. Die Grundgedanken der Konversationsanalyse wurden von dem amerikanischen Soziologen Harvey Sacks, einem Schüler Harold Garfinkels und Erving Goffmans, in seinen (postum edierten) Vorlesungen skizziert und in den darauf folgenden Jahren von Emanuel A. Schegloff, Gail Jefferson, sowie später Charles Goodwin u. a. weiterentwickelt. 17 Sacks (1984b: 22 Dabei wird die Überzeugung der Ethnomethodologie übernommen, dass (sprachliche) Interaktion nicht chaotisch, sondern methodisch und geordnet abläuft. An die Stelle der üblichen wissenschaftlichen Praxis, sich auf die „big issues“ zu konzentrieren und dabei viele Phänomene als zufällig und uninterpretierbar aus der Analyse auszuschließen, setzt ) das methodische Postulat „we may alternatively take it that there is order at all points.“ Die zugrunde liegenden Ordnungsprinzipien beruhen dabei nicht auf der Sinnzuschreibung des Analytikers, sondern müssen sich im intersubjektiven Verhalten der Gesprächsteilnehmer widerspiegeln: If the materials [...] were orderly, they were so because they had been methodically produced by members of the society for one another, and it was a feature of the conversations that we treated as data that they were produced so as to allow the display by the coparticipants to each other of their orderliness, and to allow the participants to display to each other their analysis, appreciation, and use of that orderliness. (Schegloff & Sacks 1973: 290) 16 Gute Einführungen in die Konversationsanalyse liefern Bergmann (1981) und (1994), Goodwin & Heritage (1990), Hutchby & Wooffitt (2008), Levinson (2000: 320-402), Stukenbrock (2013), Deppermann (2008), (Sidnell & Stivers 2013) und Auer (2013b: 141-152). 17 Die Beziehungen zwischen den CA-Vertretern der ersten Stunde lassen sich in E. Schegloffs Einleitung zu Sacks’ „lectures“ nachverfolgen (Sacks 1995: ix-lxii). <?page no="26"?> 2 Zugänge zur gesprochenen Sprache 16 Konversationsanalytische Forschung erfolgt daher in folgenden Schritten: 18 (1) Ein Ordnungselement wird in den Daten identifiziert, (2) das Datenkorpus wird nach weiteren Vorkommen des gleichen Phänomens durchgesehen, (3) die Materialsammlung wird genutzt, um die strukturellen Eigenschaften des Phänomens zu isolieren, (4) die geordneten Merkmale des Phänomens werden hinsichtlich ihrer interaktiven Funktion für die gemeinschaftliche Produktion erklärt. 19 Es bieten sich für die konversationsanalytische Forschung somit zwei Strategien an: das Datenmaterial kann entweder mit dem Ziel bearbeitet werden, Aspekte der kontext-freien Organisation der konversationellen Interaktion aufzudecken; oder es kann - in Fallstudien - nachvollzogen werden, wie Individuen in einem konkreten Fall die abstrakten Ressourcen dieser Organisation in Anschlag bringen, um lokale Probleme des singulären Kontextes zu lösen […]. ( Sobald einmal ein Ordnungsmerkmal im Gespräch als relevant nachgewiesen worden ist, kann die Analyse jedoch auch den umgekehrten Weg gehen: Streeck 1983: 99) Die „Detailversessenheit der Konversationsanalyse“ in den Fallstudien auf der einen Seite und die Formulierung allgemeiner Formate auf der anderen erzeugt dabei „eine fruchtbare Spannung zwischen Typisierungen sprachlicher Handlungen oder Handlungssequenzen [...] und deren kontextuellen Einbettung/ Bearbeitung“ (Auer 2013b: 152), die den besonderen Reiz gesprächsanalytischer Arbeiten ausmacht und sie von anderen Forschungsansätzen abhebt. 18 Auch Deppermann (2007: 25) weist darauf hin, dass die Gesprächsanalyse „keiner hypotheticodeduktiven Forschungslogik [folgt], die a priori spezifizierte Hypothesen anhand empirischer Daten testet.“ Er kommt jedoch auf sieben methodologische Grundprinzipien, die die Analyse von Gesprächen leiten sollen: Datenzentrierung, Rekonstruktionshaltung, Sinnhaftigkeitsunterstellung, Suche nach Form-Funktions-Zusammenhängen, Mehrebenenbetrachtung, Sequenzanalyse und Kontextualtiät sowie Detailgenauigkeit und Explizitheit (vgl. Deppermann 2007: 24-54). 19 Schegloffs Formulierung des Verfahrens in Form eines methodischen Dreischritts („noticing something“, „collecting generously“ und „singling out boundary cases“ ist zwar prägnanter, unterschlägt aber den eigentlichen Analyseschritt: „Boundary cases are on both sides of the boundary, and in specifying the boundary, they help specify what belongs inside it and what does not. They also help us convert mere interpretation, based on what something seems or appears to be, into analysis, where that ‚seeming‘ is empirically grounded in analytically formulated features of the conduct, features by which it does what it is designed to do, and gets so understood by coparticipants.“ (Schegloff 1997: 502, Hervorhebungen im Original) Im Umgang mit Regelverletzungen zeigt sich das ethnomethodologische Erbe der Konversationsanalyse, und der Stellenwert und die Behandlung von ‚Grenzfällen‘ als Analyseinstrumente ist etwas, was die Konversationsanalyse von allen anderen linguistischen Disziplinen unterscheidet. <?page no="27"?> 2.2 Ethnomethodologische Konversationsanalyse 17 Wenn man Sacks’ Worten Glauben schenken will, war es nicht eigentlich das Interesse an Sprache, das ihn Gespräche aufzeichnen ließ, „but simply because I could get my hands on it and I could study it again and again, and also, consequentially, because others could look at what I had studied and make of it what they could, if, for example, they wanted to be able to disagree with me.“ (Sacks 1984b: 26) Die Interaktionale Linguistik versucht seit einigen Jahren, diese etwas willkürliche Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand Sprache durch eine leichte Akzentverschiebung zu korrigieren, ohne die Konversationsanalyse ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Meriten zu berauben (vgl. Kapitel 2.3). Auch wenn Sacks sich hier dezidiert als Sozial- und nicht als Sprachwissenschaftler positioniert, sind Alltagsgespräche doch in besonderer Weise geeignet, das „ethnomethodologische Programm“ umzusetzen, d. h. die interaktive Herstellung von Intersubjektivität an konkretem Material nachzuzeichnen. Das Interesse an der interaktiven Herstellung und Sicherung von Handlungssinn führte dazu, dass gerade Gesprächsprozesse (oder -prozeduren) unter die Lupe genommen wurden, in denen dieses „accomplishment“ in besonderer Weise sichtbar wird. Einige dieser Organisationsmechanismen, die kontextübergreifend in jeder sprachlichen Interaktion wirksam bleiben, wurden von der Konversationsanalyse in systematischer Weise herausgearbeitet: ganz besonders die Organisation von Sequenzen, von Reparaturen und der Mechanismus zur Verteilung des Rederechts. Laut Deppermann (2014: 22) besteht das Ziel der Sequenzanalyse darin, zu rekonstruieren, „wie die GesprächsteilnehmerInnen gemeinsam ihre Interaktion als schrittweise aufeinander bezogenen Prozess der Sinnbildung und Herstellung von Interaktionsstrukturen organisieren.“ Ob eine sprachliche Handlung richtig verstanden wurde, zeigt sich spätestens an der Reaktion des Gegenübers. Wer z. B. zwischen Entschuldigung oder Rechtfertigung abwägt, hat die Vorgängerhandlung als Vorwurf identifiziert (vgl. Günthner 2000). Diese Abfolgen von typischen Handlungsschritten nennt Sacks „adjacency pairs“ (Schegloff & Sacks 1973). Solche Paarsequenzen oder Nachbarschaftspaare binden zwei Handlungstypen aneinander, werden von unterschiedlichen Teilnehmern ausgeführt, folgen i. d. R. unmittelbar aufeinander und nach dem ersten Paarteil wird der zweite konditionell relevant. 20 Auer 2013b: 148 Durch solche Ablaufformate werden Alltagsgespräche hochgradig vorstrukturiert: „Sequentialität [...] ist daher das wichtigste Thema der ethnomethodologischen Konversationsanalyse“ ( ). Im Gegensatz zur Sprechakttheorie, die davon ausgeht, dass die „illocutionary force“ einer Äußerung dieser inhärent sein muss, geht die Konversationsanalyse davon aus, dass die ‚Kraft (oder besser: Funktion) einer Äußerung allein von ihrer sequenziellen Platzierung abhängt. Weder prosodische, syntaktische, semantische noch logische Eigenschaften konstituieren eine Antwort als Antwort (im Unterschied zu einer Feststellung), sondern allein ihre Platzierung nach einer voraus- 20 Zur sequenziellen Organisation von Gesprächen siehe Levinson (2000: 399-402), Pomerantz (1978), Schegloff (1968), Schegloff & Sacks (1973). <?page no="28"?> 2 Zugänge zur gesprochenen Sprache 18 gehenden Frage. Der Sinn einer Äußerung kann nicht unabhängig vom Handlungskontext beschrieben werden, in dem er produziert wurde, denn „a pervasively relevant issue (for participants) about utterances in conversation is ‚why that now‘, a question whose analysis may [...] also be relevant to finding what ‚that‘ is.“ (Schegloff & Sacks 1973: 299) Ein anderes Phänomen, bei dem die Methoden der interaktiven Sinnproduktion sichtbar werden, ist die Reparatur. 21 Schegloff et al. (1977 In ) wird eine Präferenz für Selbstreparaturen nachgewiesen, der ein System von Reparaturstrategien zugrunde liegt, das das vermeintliche „Performanzphänomen“ in den Stand eines effizienten und methodischen Sinngebungsverfahrens erhebt. Reparaturen gelten in einer an schriftlichen Texten orientierten Sprachideologie als Fehlleistungen. Für die Etablierung von Sprache-in-Interaktion als ernstzunehmendem Untersuchungsgegenstand ist die Tatsache umso bedeutender, dass es sich bei Reparaturen um ein methodisch produziertes Phänomen handelt, dem ein beschreibbares Organisationsprinzip zu Grunde liegt und das einer spezifischen Funktion dient. Neben Reparaturen und Sequenzen zeigt sich die interaktive Herstellung von Sinn auch im Mechanismus der Verteilung des Rederechts (turn taking) 22 Auer 2013b: 151 , der sich „als abstraktes, inhaltlich unspezifiziertes Regulierungsschema über die sequenzielle Organisation von Handlungsabläufen [legt] und […] deren genaue zeitliche Plazierung [spezifiziert]“ ( ). Diese als grundlegend ausgewiesenen Mechanismen der Gesprächsorganisation (Sequentialität, Reparatur, Rederechtsvergabe) haben intrinsische Relevanz für die Modellierung der Syntax und die Analyse sprachlicher Handlungen. Denn Sätze treten in Gesprächen innerhalb von Turns auf und sind somit „subject to the organization of turns and their exingencies“ (Schegloff 1979: 281). Da mit dem Erreichen syntaktischer Abschlusspunkte die Neuverteilung des Rederechts relevant wird, muss eine syntaktische Beschreibung von Turn-Konstruktionseinheiten auch ihr „progressive development toward possible completion“ (Schegloff 1979: 281) in Rechnung stellen. Denn bei der Äußerungsplanung spielen für den Sprecher nicht nur semantische Erwägungen, den intendierten Sinn zu vermitteln, oder der Gedanke daran, die grammatikalischen Beschränkungen der verwendeten Sprache einzuhalten, eine Rolle, sondern er darf bei der Planung und Produktion auch nie außer Acht lassen, dass jeder Abschluss einer Konstruktionseinheit mit dem Verlust des Rederechts verbunden sein kann: „whatever the units employed for the construction, and whatever the theoretical language employed to describe them, they still have points of possible unit completion, points which are projectable before their occurrence“ (Sacks et al. 1974: 720). Aufgabe einer „syntax-for-conversation“ (Schegloff 1979) muss 21 Zur Organisation von Reparaturen siehe Egbert (2009), Jefferson (1974), Schegloff (1979, 1997), Schegloff et al. (1977). 22 Zur Verteilung des Rederechts vgl. Sacks et al. (1974). <?page no="29"?> 2.2 Ethnomethodologische Konversationsanalyse 19 also sein, die strukturellen und interaktiven Implikationen von syntaktischen Konstruktionen für den Sprecherwechsel zu berücksichtigen, auch Pausen, Dehnungen und Verzögerungen als „potentially deployable syntactic objects“ (Schegloff 1979: 281) aufzufassen, die als interaktive Ressourcen zur Rederechtsvergabe genutzt werden können. Darüber hinaus müssen die Möglichkeiten der syntaktischen Expansion von Sätzen nicht nur in einem semantischen Licht betrachtet werden, sondern aus interaktionaler Perspektive gesehen und Turn-Konstruktionseinheiten immer in ihrem übergeordneten Zusammenhang analysiert werden. Das Gleiche gilt für das Verhältnis von Syntax und Reparatur: Sprachliche Strukturen müssen so gestaltet sein, dass sie dem Bedürfnis sprachlicher Interaktion nach sofortiger lokaler Schadensbehebung gerecht werden. Denn „für die gesprochene Sprache gibt es [...] kein Tipp-Ex“ (Streeck 1983: 75) und die Bereitstellung und Ausbeutung von Reparaturmechanismen - „the self-righting mechanism for the organization of language use in social interaction“ (Schegloff et al. 1977: 381) - ist einer der größten Unterschiede zwischen schriftsprachlichen Sätzen und authentischen Alltagsgesprächen. Die Sätze, mit denen wir es in Gesprächen zu tun haben, unterscheiden sich also signifikant von ihren ausgedachten, schriftsprachlichen Gegenstücken (Auer 2000a, Hutchby & Wooffitt 2008: 11-40, Sacks et al. 1974, Schegloff 1979, Streeck 1983: 74f.): Sie sind an Turns gebunden und struktureller Bestandteil der „Sprecher-Wechsel- Maschinerie“. Sie treten nicht isoliert auf, sondern sind von Vorgängeräußerungen geprägt und enthalten ihrerseits Implikationen für Folgeäußerungen. Sie sind an einen konkreten Empfänger gerichtet (recipient designed), d. h. sie sind an diesem bestimmten Punkt des Gesprächs für diesen bestimmten Gesprächspartner hinreichend verständlich (was situationsenthoben nicht mehr gelten muss). In einem reflexiven Verhältnis sind sie das Ergebnis eines Handlungskontextes und gleichzeitig strukturierender Bestandteil desselben. Sie sind offen für möglicherweise notwendig werdende lokale Reparaturverfahren. Sprachliche Interaktion wird organisiert durch lokal operierende Regeln oder Regelsysteme, deren Maschinerie auf einer Fall-für-Fall-Grundlage arbeitet. Diese Mechanismen sind sowohl kontext-frei als auch kontext-sensitiv. 23 23 Das Oxymoron der kontext-sensitiven und zugleich kontext-freien Eigenschaften der Ordnungsprinzipien haben Sacks et al. (1974: 699f.) folgendermaßen erläutert: „[w]e have found reasons to take seriously the possibility that a characterization of turn-taking organization for conversation could be developed which would have the important twin features of being context-free and capable of extraordinary context-sensitivity. [...] Conversation can accommodate a wide range of situations, interactions in which persons in varieties (or varieties of groups) of identities are <?page no="30"?> 2 Zugänge zur gesprochenen Sprache 20 Die Einheitenfrage der gesprochenen Sprache steht eng mit der zeitlich-linearen Produktion gesprochener Sprache in Verbindung. Wichtig ist an dieser Stelle, dass der Zusammenfall von syntaktischen, prosodischen und semantischen Grenzen mit den Grenzen von Redebeiträgen kein Zufall ist, sondern Ausdruck ihres reflexiven Verhältnisses: „Linguistic forms are tailored to the needs of organizing interaction and interaction is organized by them.“ (Barth-Weingarten 2008: 84) Auch wenn es im Folgenden nicht um die Umsetzung der „reinen Lehre“ der Konversationsanalyse geht, profitiert die Arbeit doch immer noch von ihrer strengen Methodik und ihren wegweisenden Ergebnissen: Die Methoden der Interaktionsanalyse haben sich durch die Konversationsanalyse grundlegend verändert. Weder erfundene Beispiele noch statistische Regularitäten sind die empirische Grundlage, sondern tatsächliche, möglichst genau dokumentierte Interaktionsabläufe. (Auer 2013b: 152) Da sich das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit jedoch nicht vollständig dem ethnomethodologischen Programm verschrieben hat, wird auch auf Weiterentwicklungen eingegangen. 2.3 Interaktionale Linguistik Unter dem programmatischen Begriff ‚Interaktionale Linguistik‘ wird seit einiger Zeit versucht, Konversationsanalyse mit linguistischen Fragestellungen zu betreiben. 24 2.2 Die Methodologie der Konversationsanalyse (siehe Kapitel ) wird von ihrem ursprünglich soziologischen Forschungsinteresse gelöst und stattdessen steht „die Beschreibung und Erklärung sprachlicher Phänomene im Vordergrund“ (Selting & Couper-Kuhlen 2001a: 260). Durch diesen Schwerpunkt unterscheidet sie sich von der klassischen Konversationsanalyse, „die sprachliche Phänomene nicht um ihrer selbst willen [betrachtet], sondern als Manifestationen der interaktionalen Ordnung und daher als Instrument, um soziale Interaktion zu operating; it can be sensitive to the various combinations; and it can be capable of dealing with a change of situation within a situation. Hence there must be some formal apparatus which is itself context-free, in such ways that it can, in local instances of its operation, be sensitive to and exhibit its sensitivity to various parameters of social reality in a local context.“ Vgl. auch Hutchby & Wooffitt (2008: 31; Hervorhebung im Original): „The reconciliation of Sacks’ vision of talk-ininteraction as the product of a ‚machine‘ and his aim to see the order of conversation as a members’ concern is found in his central idea that the structural resources used in conversation are simultaneously context-sensitive and context-free […].“ 24 Zur Programmatik der ‚Interaktionalen Linguistik‘ vgl. Barth-Weingarten (2008), Deppermann (2007: 1-24), Imo (2014b), Selting & Couper-Kuhlen (2000, 2001a, 2001b), Stukenbrock (2013: 246-252). <?page no="31"?> 2.3 Interaktionale Linguistik 21 verstehen.“ (Stukenbrock 2013: 247) Selting & Couper-Kuhlen (2001b: 3) formulieren das Ziel dieser vergleichsweise jungen Forschungsrichtung, deren Vertreter in erster Linie aus europäischen Ländern, aber auch Korea und Japan kommen, in einem ihrer vielen programmatischen Aufsätze folgendermaßen: Its goal is a better understanding of how languages are shaped by interaction and how interactional practices are molded through specific languages. It treats speech as an ongoing or emergent product in a social semiotic event and language as providing one set of resources for the accomplishment of goals or tasks within this event. Neben der Ethnomethodologie und Konversationsanalyse gibt es auch noch andere Forschungsrichtungen und -traditionen, die Einfluss auf das Programm der Interaktionalen Linguistik haben, u. a. die Interaktionale Soziolinguistik, die Anthropologische Linguistik, die Kontextualisierungstheorie, Discourse-Functional Linguistics etc. Gemeinsam ist diesen Ansätzen ihr Interesse an Sprachstrukturen und -verwendungsweisen in natürlichen Verwendungssituationen und eine ganzheitliche Betrachtungsweise, die alle linguistischen Analyseebenen einschließt (Prosodie, Syntax, Phonetik, Phonologie, Morphologie, Lexik, Semantik, Pragmatik). Deren Strukturiertheit und ihr Zusammenspiel werden daraufhin untersucht, „wie Sprache von der sozialen Interaktion geprägt wird und wie Sprache ihrerseits soziale Interaktion prägt“ (Selting & Couper-Kuhlen 2000: 78). Durch die Zusammenführung dieser unterschiedlichen Teildisziplinen, denen allen gemeinsam ist, sich der Erforschung der (sprachlichen) Interaktion verschrieben zu haben, sollen Synergien für Untersuchungen im Rahmen einer ‚Interaktionalen Linguistik‘ freigesetzt werden: „[D]ie technische Beschreibung wird von der Linguistik profitieren, die Forschungsmethodologie von der Konversationsanalyse, die kulturelle Breite von der Anthropologie“ (Selting & Couper-Kuhlen 2000: 78, FN 3). 25 In einer vollständigen deskriptiven Analyse, die syntaktische, semantische, pragmatische und prosodische Eigenschaften umfasst, werden sprachliche Strukturen daraufhin untersucht, inwieweit sie sich als Ressourcen eignen, mit deren Hilfe Gesprächsteilnehmer ihre interaktionalen Ziele verfolgen und erreichen. Besonderes Augenmerk gilt der Frage, auf welche Weise die Strukturen auf ihre Funktionen hin zugeschnitten sind und wie sich die Funktionen in den Strukturen widerspiegeln. Dabei kann man die Beziehung zwischen formalen Strukturen und interaktionalen Funktionen auf zwei unterschiedlichen Wegen hinterfragen (vgl. Abbildung 1): Welche linguistischen Ressourcen werden zur Herstellung spezifischer Gesprächsstrukturen eingesetzt, um interaktionale Aufgaben zu bewältigen? 25 Wie erfolgreich diese vereinten Bemühungen sind, zeigt sich in zahlreichen Publikationen, z. B. Couper-Kuhlen & Selting (1996), Ford & Wagner (1996), Ochs et al. (1996), Deppermann (2007). <?page no="32"?> 2 Zugänge zur gesprochenen Sprache 22 Welche interaktionalen Herausforderungen werden durch bestimmte linguistische Formen bewältigt? 26 Abbildung 1: Doppelperspektivik der Interaktionalen Linguistik In dieser Vorgehensweise kommt die Grundüberzeugung zum Ausdruck, dass sprachliche Untersuchungen von formalen Konstruktionen unabhängig vom Gebrauch und Kontext, in dem sie auftreten, zu Fehlschlüssen führen und keine Berechtigung mehr besitzen. Die Gründung der Interaktionalen Linguistik ist daher auch eng mit technischen Errungenschaften verbunden, die diese datenzentrierte Methode überhaupt erst möglich bzw. erschwinglich gemacht haben (vgl. Auer 1993a, Barth-Weingarten 2008: 79), so dass Audio- und in zunehmendem Maße auch Videoaufnahmen von natürlicher Interaktion die Grundlage und den Ausgangspunkt jeder interaktionallinguistischen Untersuchung bilden. Interaktionale Linguistik bedient sich also einer eigentümlichen Sichtweise - „a perspective on language structure and use informed by language’s natural habitat in the interaction order“ (Couper-Kuhlen & Selting 2001: 1) - welche dazu führt, dass zum Erreichen ihrer Ziele eine Reihe methodologischer Prinzipien aufgestellt wurden, die auch die Nähe zur ethnomethodologischen Sichtweise und zu den Entdeckungsprozeduren der Konversationsanalyse widerspiegeln (vgl. Barth-Weingarten 2008, Selting & Couper-Kuhlen 2001a). 26 Diese zwei Blickrichtungen auf Form-Funktions-Paare haben bereits Eingang in die etablierte Grammatik(be)schreibung gefunden, siehe Kapitel 3. „Doppelperspektivik als leitendes Prinzip“ in der „Einführung“ der „Grammatik der deutschen Sprache“, wo die theoretischen Grundannahmen diskutiert werden (Zifonun et al. 1997: 7f.). <?page no="33"?> 2.3 Interaktionale Linguistik 23 Methodologische Prinzipien der ‚Interaktionalen Linguistik‘: Gesprochene Sprache aus „natürlichen“ Gesprächen bildet die primäre Datengrundlage, d. h. es muss sich um spontane Sprache-in-Interaktion handeln, die nicht in einem künstlichen Versuchsaufbau entstanden ist oder einstudiert wurde. Die Daten werden als integraler Bestandteil des Ko(n)textes analysiert, in dem sie entstanden sind, d. h. alle Phänomene werden mit Rücksicht auf ihre sequenzielle Platzierung und ihre situative Einbettung bewertet. Die Daten werden als emergente Strukturen und als Resultat interaktiver Leistung analysiert. Analysekategorien werden aus den Daten heraus entwickelt. (Prozessanalyse, Kookkurrenzanalyse, Restriktions- und Alternationsanalyse, Funktionsanalyse durch Analyse der Nachfolgeäußerung, Analyse abweichender Fälle). Das Vorgehen ist streng induktiv, es werden keine vorgefertigten wissenschaftlichen Kategorien in die Analyse eingebracht, sondern die Teilnehmerkategorien werden rekonstruiert. Die Validierung der Analyse erfolgt durch den Nachweis, dass sich die Interaktionspartner beobachtbar und rekonstruierbar an der Kategorie orientieren. Behauptungen, die sich nicht empirisch durch das Handeln der TeilnehmerInnen (z. B. im Sinne der next-turn proof procedure) belegen lassen, sind spekulativ. Es geht bei der zugleich deskriptivals auch funktional-linguistischen Analyse immer um die Paarung von formalen Mitteln und deren funktionalen Zielen et vice versa. Darüber hinaus wird im Rahmen der Interaktionalen Linguistik davon ausgegangen, dass es auf der einen Seite einzelsprachliche Lösungen einer kommunikativen Aufgabe gibt, abhängig von den sprachtypologischen Ressourcen in dieser Einzelsprache, auf der anderen Seite kulturspezifische Anforderungen, die wiederum in der Einzelsprache auf spezifische Weise gelöst werden. Das macht es erforderlich, durch sprachvergleichende Untersuchungen die relevanten Aspekte herauszuarbeiten und gegebenenfalls zu „anthropologischen Konstanten“ bzw. allgemeinlinguistischen Ergebnissen zu kommen. What interactional linguistic research on typologically different languages thus suggests is that the way common problems are dealt with in interaction may be shaped by the distinct linguistic resources which a language provides. (Selting & Couper- Kuhlen 2001b: 8) Es wäre wünschenswert, wenn auch diese Forderung in Bezug auf die Frage des Einflusses von Zeitlichkeit und Linearität auf Interaktionsstrukturen erfüllt werden könnte. Dazu müsste eine große Zahl nicht-verwandter Sprachen herangezogen werden, um zu untersuchen, ob interaktionale Herausforderungen zu gleichen (oder ähnlichen) grammatischen <?page no="34"?> 2 Zugänge zur gesprochenen Sprache 24 Strukturen führen bzw. ob unterschiedliche grammatische Ressourcen der jeweiligen Sprachgemeinschaft ihren interaktionalen Stempel aufdrücken. Ein solcher Sprachvergleich könnte zeigen, „dass gemeinsame interaktionale Probleme zu gemeinsamen Sprachstrategien führen, zum anderen [...], dass die Art, wie gemeinsame interaktionale Aufgaben erfüllt werden, von den spezifischen Ressourcen, die eine gegebene Sprache bereit stellt, mit geformt werden.“ (Selting & Couper-Kuhlen 2000: 89) Das kann im Rahmen dieser Arbeit natürlich nicht geleistet werden. Die detaillierten einzelsprachlichen Analysen und die sprachvergleichenden Ergebnisse werden aber eines Tages zu einer allgemeinen Theorie über Sprache in der sozialen Interaktion beitragen. 2.4 Datengrundlage der Arbeit 2.4.1 Korpus Die Beispiele dieser Arbeit dienen aufgrund der Fragestellung in erster Linie der Illustration oder Problematisierung der Leistungen und Grenzen der verschiedenen Syntaxmodelle und Grammatiktheorien. Sie entstammen einem Datenkorpus, das informelle face-to-face- Interaktionen im Familien- und Freundeskreis, institutionelle Gespräche sowie Gespräche in unterschiedlichen medialen Kontexten (Radio-Phone-Ins, Talkshow-Gespräche und Interaktionen aus Reality-TV-Shows) enthält. Dabei handelt es sich sowohl um Videoals auch um Audioaufnahmen im Gesamtumfang von ca. 100 Stunden, die nach dem Gesprächsanalytischen Transkriptionssystem (siehe Kapitel 2.4.2) verschriftlicht wurden. Die Aufzeichnung und Transkription der ersten beiden Staffeln einer Reality-TV-Sendung erfolgte im Rahmen eines Kooperationsprojekts zwischen Susanne Günthner (Universität Münster) und Peter Auer (Universität Freiburg), denen ich für die Bereitstellung danke. Die Bewerbungsgespräche wurden mir von Karin Birkner (Universität Bayreuth) zur Verfügung gestellt, der ich ebenfalls dafür dankbar bin. Werden an einigen Stellen auch Beispiele aus anderen Korpora herangezogen (weil z. B. einige kommunikative Gattungen nicht repräsentiert sind), wird ausdrücklich darauf hingewiesen. <?page no="35"?> 2.4 Datengrundlage der Arbeit 25 Tabelle 1: Datengrundlage n Korpus Dauer/ h: m Wörter 30 Reality-TV 17: 54 217.513 11 Bewerbungsgespräche 6: 39 90.246 12 geleitete Interviews 3: 45 53.830 9 Schlichtungsgespräche 68: 25 525.704 andere o. A. o. A. Σ 96: 44 887.293 2.4.2 Transkription der Beispiele Ein wesentlicher Arbeitsschritt bei der Analyse von Gesprächen besteht in der Transkription der Daten. Das Credo der Konversationsanalyse „that there is order at all points“ erfordert, dass auch die vermeintlich kleinsten und unscheinbarsten Phänomene nicht vorschnell als unbedeutend oder zufällig aus der Analyse ausgeschlossen werden dürfen. Das bedeutet, „dass bereits die Transkription des Datenmaterials […] ein wichtiger, mit großer Sorgfalt zu erledigender Arbeitsschritt und eine professionelle Praxis ist.“ (Stukenbrock 2013: 224) Jede Transkription ist eine Gratwanderung zwischen Lesbarkeit und Informationsdichte. Auch wenn die Qualität des Transkripts entscheidend davon abhängt, inwieweit es gelingt, die Fülle der verbalen, paraverbalen und nonverbalen Ereignisse der ursprünglichen Audio- (bzw. Video-) Daten festzuhalten, machen Sonderzeichen und -schrifttypen das Schriftbild schnell unleserlich. Die Transkription der Daten folgt den Konventionen des Gesprächsanalytischen Transkriptionssystems 2 (GAT 2). 27 27 Da sich die GAT-Konventionen immer stärker als Standard in der Gesprächsforschung etablieren, wird auf eine ausführliche Darstellung und Begründung der Konventionen im Einzelnen verzichtet und auf die aktuelle Version „GAT 2“ ( Die GAT-2-Konventionen versuchen das oben genannte Dilemma insoweit zu lösen, dass nach einem „Zwiebelprinzip“ ein Basistranskript den Ausgang bildet, dem je nach Bedarf zusätzliche Informationen (Feintranskript) hinzugefügt werden (können). Der Kompromiss, der damit eingegangen wird, ermöglicht also eine erleichterte Lesbarkeit, ohne dabei generell auf detaillierte prosodische und interaktionale Informationen verzichten zu müssen. Wenn sie sich für die Interpretation als relevant erweisen, können sie im Bedarfsfall hinzugefügt werden. Neben der Ausbaufähigkeit („Zwiebelprinzip“) und der Lesbarkeit des Transkripts, folgen die Selting et al. 2009) verwiesen. Ein ausführlicher Überblick über das Basis- und das Feintranskript nach GAT findet sich in Deppermann (2001: 119 - 121) und Dittmar (2004: 150-164). Eine hilfreiche praktische Anleitung zum gesprächsanalytischen Transkribieren nach GAT 2 ist das Online-Tutorial „GAT-TO“ von Bergmann, Mertzlufft & Held (http: / / paul.igl.uni-freiburg.de/ gat-to/ ). <?page no="36"?> 2 Zugänge zur gesprochenen Sprache 26 Konventionen noch weiteren Kriterien: Die Transkripte sollen ökonomisch (nicht mehrere Zeichen für ein Phänomen), robust (keine schwer darstellbaren Sonderzeichen), ikonisch (also bis zu gewissem Grad selbsterklärend, vgl. die Akzentschreibung, Überlappungsmarkierung, Tonhöhensprünge usw.), relevant (aufgrund bisheriger Forschungsergebnisse oder der Forschungsfragestellung), formbezogen (interpretative Qualifizierungen wie ‚ironisch‘ sollen nach Möglichkeiten in formbezogene Parameter aufgelöst werden) und kompatibel mit anderen Transkriptionsweisen sein. Bei den Beispieltranskripten in dieser Arbeit handelt es sich um ein erweitertes Basistranskript (s. u.), das z. B. auch relevante prosodische Informationen wie die Veränderung der Stimmqualität und Informationen zu begleitenden Handlungen enthält. Die Beiträge der Sprecher (turns) werden gemäß ihrer Reihenfolge untereinander geschrieben. Jede neue Intonationsphrase 28 Nicht nur in den Beispielen, sondern auch im Fließtext wurde die Schreibung von Beispieläußerungen in Minuskeln (bis auf die Akzentsilben) beibehalten. Personen- oder Ortsnamen werden - falls nötig - anonymisiert. Der Wortlaut der Äußerungen wird in der sogenannten „literarischen Umschrift“ wiedergegeben, die eine phonetisch orientierte Notation gesprochensprachlicher (und dialektaler) Merkmale auf der Basis der Standardorthografie anstrebt. Dabei werden nur Abweichungen von ‚normalen‘ sprechsprachlichen Realisierungen der Standardsprache markiert (also ‚dat‘ statt ‚das‘ aber nicht ‚könich‘ für ‚könig‘). steht in einer neuen Transkriptionszeile: der zeitliche Verlauf der Gespräche findet sich also im räumlichen Verlauf des Textes wieder. Die aus Intonationsphrasen gebildeten Einheiten, die in einer Zeile mit eigener Zeilennummer stehen, werden als Segmente bezeichnet. Zu Beginn jeder Zeile steht eine Zeilennummer, die entweder der Nummer des Originaltranskripts entspricht oder bei 01 beginnt. Bei neuen Redebeiträgen folgt die Angabe des Sprechers oder der Sprecherin. Darauf folgt das Transkript der Äußerung. In längeren monologischen Gesprächen (z. B. Interviews) kann, je nach Fragestellung, statt des Zeilenumbruchs auch ein vertikaler Strich „|“ die Segmentgrenzen anzeigen, um Platz zu sparen. 29 28 In der ersten GAT Version wurde anstelle von Intonationsphrasen noch von „Phrasierungseinheit“ gesprochen, deren Ende sich dadurch eindeutig identifizieren lässt, „wenn dort eine prosodische, syntaktische und semantische Grenze erkennbar ist.“ ( Die entstehenden Ungenauigkeiten bei der Widergabe von standardfernen Varietäten werden dabei nolens volens in Kauf genommen und nur in seltenen Fällen durch phonetische Umschrift (API) ausgeräumt. Selting et al. 1998: 13). Hier haben sich in GAT 2 die Kriterien für die Segmentierung in Einheiten (ikonisch wiedergegeben durch den Zeilenumbruch) zugunsten einer stärkeren Bedeutung der Prosodie verschoben: „Für die Gliederung des Transkripts in Segmente ist allein die Prosodie ausschlaggebend, d. h. die Gliederung in Intonationsphrasen.“ (Selting et al. 2009: 370) 29 Zu Regeln der Orthoepie und dem Problem einer einheitlichen gesprochensprachlichen Bezugsnorm im Deutschen vgl. Mangold et al. (2010: 34-68). <?page no="37"?> 2.4 Datengrundlage der Arbeit 27 Zu Beginn jedes Beispieltranskripts findet sich eine Transkriptnummer (z. B. BB1_36/ 367), aus der sich die Herkunft des Sprachdatums erschließt. Über die laufende Nummer hinaus wird den Beispielen in der Regel noch ein repräsentativer Titel gegeben, um bei späteren Rückbezügen das schnelle Verständnis und die Orientierung zu erleichtern. Häufig ist es nötig, dem eigentlichen Gesprächsausschnitt noch eine kurze Schilderung des Interaktionskontextes vorauszuschicken. Die Konventionen des erweiterten Basistranskripts, die dieser Arbeit zugrunde liegen, lauten wie folgt: Sequenzielle Struktur 01 Der Zeilenumbruch bildet die Segmente eines Sprecherbeitrags ab, die aus Intonationsphrasen, Pausen oder Gesten bestehen können. Geht eine Intonationsphrase über eine Zeile hinaus, wird die normalerweise fortlaufende Zeilennummerierung ausgesetzt. [ ] [ ] Anfang und Ende von Überlappungen und Simultansprechen = schneller, unmittelbarer Anschluss eines neuen Turns oder einer neuen prosodischen Einheit ohne die übliche Mikropause („latching“) Pausen (.) Mikropause (-) (--) (---) kurze, mittlere und längere geschätzte Pause von ca. 0,2-0,5 Sek. Dauer; bis zur Pausendauer von ca. 1 Sek. (2.5) gemessene oder geschätzte Pausenlänge ab Pausen von 1 Sekunde Sonstige segmentale Konventionen und_äh Verschleifungen innerhalb von Einheiten so: so: : so: : : Dehnung, Längung, je nach Dauer äh ähm öh usw. Verzögerungssignale („gefüllte Pausen“) ich hab geda Abbruch mit Glottalverschluss ich hab geda\ Abbruch ohne Glottalverschluss Lachen hahaha hehe hihi kürzeres und „silbisches“ Lachen, je nach ungefährer Realisierung ((lacht)) Beschreibung des Lachens <<lachend> soo> Lachendes Sprechen mit Bereichsangabe <?page no="38"?> 2 Zugänge zur gesprochenen Sprache 28 Rezeptionssignale hm ja nein nee einsilbige Signale hm_hm ja_a zweisilbige Signale nei_ein nee_e redupliziertes Signal mit Glottalverschlüssen, in der Regel verneinend Akzentuierung akZENT Die Silbe, die den Hauptakzent der Intonationsphrase trägt, wird groß geschrieben ak! ZENT! extra starker Akzent Unakzentuierte Turn-Übernahmesignale und Anhängsel Sie werden in der Regel als prosodisch unselbstständige Elemente artikuliert und werden in diesen Fällen in derselben Zeile notiert wie die Intonationsphrase, zu der sie gehören (signalisiert durch „=“). hm ja naja nee Vorlaufelemente (Turn-Übernahmesignale) ne nicht gell wa Nachlaufelemente (unakzentuierte Anhängsel, tags) Tonhöhenbewegung am Einheitenende ? hoch steigend , steigend gleichbleibend ; fallend . tief fallend Auffällige Tonhöhensprünge am Beginn oder im Verlauf der Einheit Tonhöhensprung nach oben Tonhöhensprung nach unten Verändertes Tonhöhenregister <<t> > tiefes Tonhöhenregister <<h> > hohes Tonhöhenregister <?page no="39"?> 2.4 Datengrundlage der Arbeit 29 Lautstärke- und Sprechgeschwindigkeitsveränderungen <<f> > forte, laut (mit Reichweite) <<ff> > fortissimo, sehr laut <<p> > piano, leise <<pp> > pianissimo, sehr leise <<all> > allegro, schnell <<len> > lento, langsam <<cresc> > crescendo, lauter werdend <<dim> > diminuendo, leiser werdend <<acc> > accelerando, schneller werdend <<rall> > rallentando, langsamer werdend Ein- und Ausatmen °h °hh °hhh Einatmen, je nach Dauer (0,2-0,5 / 0,5-0,8 / 0,8-1,0 Sek. Dauer) h° hh° hhh° Ausatmen, je nach Dauer (0,2-0,5 / 0,5-0,8 / 0,8-1,0 Sek. Dauer) Sonstige Konventionen <<hustend> > Kommentar zu einer Redepassage mit Angabe der Reichweite ((hustet)) para- und außersprachliche Handlungen und Ereignisse ( ) unverständliche Passage ja nach Länge (xxx xxx xxx) unverständliche Passage mit Angabe der Silben (jedes ‚xxx‘ steht für eine Silbe (solche) vermuteter Wortlaut (solche/ welche) mögliche Alternativen, zwischen denen nicht sicher entschieden werden kann ((...)) Auslassung im Transkript weil also ja es is Verweis auf die im Text erläuterte Transkriptstelle 30 30 Diese Form der Markierung ist in den GAT-Konventionen nicht vorgesehen. Normalerweise erfolgt ein Verweis durch einen Pfeil am Zeilenanfang. Im Falle von Parenthesen, Reparaturen oder Abbrüchen ergibt sich das Problem, auf diese Weise nur auf vollständige Intonationsphrasen verweisen zu können. Die relevanten Ausschnitte müssten dann teilweise umständlich definiert werden. Da die Fettschreibung (im Gegensatz zur Großschreibung) jedoch in den GAT- Konventionen nicht diakritisch ausgebeutet worden ist, lässt sie sich relativ problemlos funktional einsetzten. Problematisch ist höchstens, dass die Passagen buchstäblich hervorgehoben werden und auch beim Lesen ein größeres Gewicht erhalten. Das gilt jedoch für jede Art der Hervorhebung (außer für den Pfeil). <?page no="40"?> 2 Zugänge zur gesprochenen Sprache 30 2.4.3 Darstellung der Prosodie Schon bei der Transkription muss auf prosodische Parameter geachtet werden. Während sich einige noch relativ gut darstellen lassen (Fokusakzent, finale Tonhöhenkontur), führt die suprasegmentale Natur anderer prosodischer Parameter dazu, dass erhebliche Probleme bei deren Visualisierung entstehen und sie nur sehr reduziert und grob dargestellt werden können (Intonationsverläufe, Sprechgeschwindigkeit). 31 Prosodie ist neben der Syntax eines der Mittel, um zwischen sprachlichen Einheiten Hierarchien zu bilden. In seinem Aufsatz zur Prosodie und Syntax von Turn-Erweiterungen fragt Auer (1996a: 68): „Does prosody (in particular intonation) build up gestalts independent form those in syntax? “ und seine Antwort ist ein klares „ja, aber…“. Denn so unabhängig sich die Prosodie auch erweist, bleibt doch festzustellen „[i]f […] the independence of prosody from syntax is considerable, the priority of syntax nonetheless cannot be denied either“ (Auer 1996a: 75). Neben der Frage der syntaktischen Platzierung gilt es also, Anzeichen für Integration oder Desintegration auf prosodischer Ebene nachzuweisen. Dazu stehen die prosodischen Parameter Sprechgeschwindigkeit, Tonhöhe, Lautstärke, Pausen und Akzent zur Wahl. Die prosodische Analyse erfolgte sowohl auditiv als auch instrumentalphonetisch mithilfe der Analyse-Software Praat (http: / / www.praat.org.). Das Programm wird von Paul Boersma und David Weenink ständig weiterentwickelt und hat sich inzwischen zum Standard in der akustischen Phonetik entwickelt. Hier wurde die aktuelle Version Praat 5.3.83 verwendet. Die Darstellung der Konturverläufe basiert auf dem Praat-eigenen Algorithmus zur Extraktion der Grundfrequenz (F0). Eine realistische Abbildung des F0-Verlaufs kann durch Nebengeräusche, sogenannte Oktavsprünge, Stimmqualitätsveränderungen oder zeitweises Parallelsprechen immer wieder gestört sein, wenn bei der F0-Extraktion falsche Frequenz- Kandidaten ausgewählt werden. Das Programm stellt jedoch mehrere Einstellungsoptionen bereit, um solche Messfehler zu bereinigen oder wenigstens einzudämmen. Im Großen und Ganzen basieren die visualisierten Intonationskonturen (vgl. z. B. Abbildung 20) jedoch auf den Originalmesswerten. Lediglich offensichtliche Oktavsprünge wurden eliminiert und perzeptiv nicht relevante Mikrovariationen mithilfe der Smoothing-Funktion von Praat in der Bandbreite von 10 Hz geglättet. Für die Messung irrelevant - für die intuitive Interpretation der Abbildungen jedoch von großer Bedeutung - ist die Achsskalierung. Auf der Ordinatenachse werden konventionell der Tonhöhenverlauf und/ oder die Lautstärke abgebildet. Die Tonhöhe wird in Herz (Hz) gemessen und auf einer logarithmischen Skala dargestellt, da das menschliche Gehör Töne nicht linear auflöst, sondern die wahrgenommene Intervallgröße von der Lage auf der Frequenzskala abhängt. Die physikalisch-akustische Intervallgröße zwischen 0 und 50 Hz entspricht der zwischen 50 und 100 31 Zur „Entsinnlichung“ des Lauts in der abendländischen Tradition der Alphabetschrift und zur Trennung von Ton, Klang und Laut vgl. Krämer (2000: 44f.) und Maas (1986). <?page no="41"?> 2.5 Zusammenfassung und Diskussion 31 Hz, der Tonhöhenunterschied im unteren Bereich wird jedoch wesentlich größer empfunden als der im oberen (das menschliche Ohr nimmt einen Ton als doppelt so hoch wahr, wenn die Frequenz verdoppelt wird, daher die nicht-linearen Oktavsprünge 50, 100, 200, 400 usw. Hz). Obwohl sich der Frequenzbereich von Männer- und Frauenstimmen unterscheidet, macht die logarithmische Skalierung es weitgehend unnötig, das Spektrum individuell anzupassen. Um schon auf den ersten Blick eine Vergleichbarkeit zu haben, wurde in der Regel ein konstanter Frequenzbereich von 100-500 Hz abgebildet. Schwieriger ist die einheitliche Darstellung des zeitlichen Verlaufs t, der traditionell auf der Abszissenachse abgebildet wird, da Praat keine Eichung der Proportionen t (s)/ l (cm) vorsieht. 2.5 Zusammenfassung und Diskussion Der Konversationsanalyse haben wir es zu verdanken, dass die gesprochene Sprache in einer nie dagewesenen Weise in den Blick gerückt wurde. Ihre rigide Datenbesessenheit hat sie über weite Strecken vor dem vorschnellen Theoretisieren bewahrt. Würde sie dabei in detaillierten, qualitativen Einzelfallanalysen steckenbleiben, wäre sie heute wahrscheinlich in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Ihren Charme erhält sie aus der Ambivalenz, aus der Detailanalyse übereinzelfallgültige Regeln ableiten zu können. Von der Konversationsanalyse profitiert diese Arbeit in mehrerer Hinsicht: es kann auf die bereits gewonnen Erkenntnisse zurückgegriffen werden, es kann von ihrer „Methodologie“ Gebrauch gemacht werden und - vor allem - die Eigenart genutzt werden, dass am Anfang aller Überlegungen Daten natürlicher Gespräche stehen. Da die Konversationsanalyse sich nicht per se für Sprache interessiert, sondern viel mehr für Interaktion, ist der Untersuchungsgegenstand ausgeweitet worden, so dass heute niemand mehr in Frage stellen würde, dass Mimik, Gestik, Prosodie, Situationskontext und - für unsere Zwecke besonders relevant - Zeit eine große Rolle für den Interaktionsablauf spielen. Dass der performative Gebrauch von Sprache ein deformiertes Ergebnis zeitigt, das sich durch Fehler, Chaos und Unzulänglichkeiten auszeichnet, hat die Konversationsanalyse auf bestechende Weise wiederlegen können. Genau diese Eigenschaft, dass Sprache im Dienste erfolgreicher Kommunikation steht, ist von der Interaktionalen Linguistik hervorgehoben worden. Das Erbe der gebrauchsbasierten Herangehensweise der Konversationsanalyse wird erweitert durch stärkere linguistische Fragestellungen insbesondere dem Wechselspiel, wie sprachliche Formen ihre Funktionen erfüllen bzw. welche Formen zur Erzielung von spezifischen Funktionen in den Einzelsprachen zur Verfügung stehen. Um der Zielsetzung dieser Arbeit (vgl. Kapitel 1.2) gerecht zu werden, werden immer wieder authentische Beispiele natürlicher Interaktion herangezogen. Diese Beispiele haben im Rahmen des dreifachen Erkenntnisinteresses in den jeweiligen Kapiteln unterschiedliche Funktionen. Für die theoretische Frage nach einem Syntaxmodell, das die Struktur <?page no="42"?> 2 Zugänge zur gesprochenen Sprache 32 gesprochener Sprache so verlustfrei und angemessen wie möglich zu repräsentieren in der Lage ist, dienen die Beispiele in erster Linie der Illustration. Für das praktische Erkenntnisinteresse nach der Leistungsfähigkeit der vier Syntaxbzw. Grammatiktheorien dienen die Sprachbeispiele Testläufen, bei denen sich die Vor- und Nachteile der Modellierungen zeigen sollen. Für das empirische Erkenntnisinteresse, auf welchen Gebieten Zeitlichkeit und Temporalität als Ordnungsprinzip der gesprochenen Sprache in Erscheinung tritt, sind die Beispiele Repräsentanten von Kollektionen, die bereits an anderer Stelle als Prozesse nachgewiesen worden sind, die ohne Bezug auf deren zeitliche Erstreckung nicht sinnvoll beschrieben werden können. Für eine datenbasierte Auseinandersetzung mit Repräsentationen und Modellen von Sprache-in-Interaktion braucht es jedoch einen archimedischen Punkt, von dem aus sich die Qualität der Modellierung überhaupt erst beurteilen lässt. Natürlicherweise besteht der in der Interaktion selbst. Da Sprache-in-Interaktion jedoch nicht nur einen zeitlichen Verlauf hat, sondern in ihrer Urform auch recht flüchtig ist, müssen Anstrengungen zu ihrer Konservierung unternommen werden (vgl. Auer 1993a, Bergmann 1985). Dieser Prozess der Konservierung ist idealerweise so neutral wie möglich, in der Realität jedoch von der Aufzeichnung bis zur Verschriftung mit zahlreichen Risiken behaftet. Es wäre naiv zu glauben, dass nicht jede Form der Repräsentation ständig Gefahr läuft, Informationen zu verlieren oder - schlimmer noch - hinzuzufügen, die noch (nicht) in der ursprünglichen Gesprächssituation vorhanden waren. Die immer besser werdenden technischen Möglichkeiten sind dabei auch nur teilweise eine Hilfe, weil sich als echtes Nadelöhr die Visualisierung situierter Interaktion und deren zeitliche und räumliche Dynamik erwiesen haben. Auch in dieser Arbeit werden also nicht Interaktionen selbst, sondern Transkriptionen von Gesprächen als Grundlage genommen, und mit den anderen Visualisierungstechniken verglichen. Ehrlicherweise beginnt die Auseinandersetzung mit Modellen jedoch schon mit dem Gesprächsanalytischen Transkriptionssystem (GAT 2), dass auch nur eine Form der Darstellung ist. Die Methoden der Interaktionalen Linguistik wurden trotzdem als Ausgangspunkt genommen, da sie in ihrer radikal positivistischen Grundhaltung neutral genug erscheinen, um die Vergleichsbasis für alle anderen Darstellungsvarianten zu bilden. Die detailgenaue Transkription nach den GAT-2- Konventionen ist also der archimedische Punkt, von dem aus die anderen Modelle „aus den Angeln gehoben werden“ oder ihre Stärken offenbaren. Die Interaktionale Linguistik bzw. die Konversationsanalyse scheinen dafür besonders geeignet, denn sie wenden „zentrale Konstitutionseigenschaften der Interaktion, nämlich Sequenzialität (das zeitliche Nacheinander von Aktivitäten), Interaktivität (das Sich-aufeinander-Beziehen), den Handlungsbezug von Interaktionen, die Methodizität des Handelns (die systematische Verwendung von Interaktionspraktiken) und ihre multimodale Konstitution methodologisch an“ (Deppermann 2014: 24). Sowohl das Postulat der „ethnomethodologischen Indifferenz“ (vgl. Garfinkel & Sacks 1976), nach dem sich die Wissenschaftler jeglicher Bewertung über Angemessenheit und <?page no="43"?> 2.5 Zusammenfassung und Diskussion 33 Bedeutung der von den AkteurInnen verfolgten Ziele enthält, der methodische Verzicht auf Kontextwissen zurückzugreifen, als auch die Datenfixiertheit der Konversationsanalyse bzw. Interaktionalen Linguistik, prädestinieren sie, als Ausgangspunkt und Vergleichsmaßstab der Beispielanalysen dieser Arbeit zu dienen. Die mehr oder weniger historische Abhandlung des theoretischen Rahmens dieser Arbeit konnte nicht alle Facetten der verschiedenen Forschungsrichtungen und ‚Schulen‘ wiedergeben. Laut Fiehler et al. (2004: 13) unterscheidet sich die „Gesprochene-Sprache- Forschung“ von der „Gesprächsforschung“ dadurch, dass erstere sich mit der „grammatisch-lexikalisch[n] Analyse von Produkten mündlicher Sprachproduktion“ beschäftigt, und letztere die Prozesse des Sprechens und der Interaktion in den Vordergrund stellt. Konversationsanalyse und Gesprächsanalyse wird von vielen ForscherInnen synonym verwendet, obwohl laut Imo (2013) durchaus Berechtigung besteht, die beiden Begriffe zu unterscheiden, ganz zu schweigen von „Diskursanalyse“, „Dialoganalyse“, „Gesprächslinguistik“, „Funktionaler Pragmatik“ usw. „Da die verschiedenen Schwerpunktsetzungen der Betrachtung gesprochensprachlicher Phänomene m. E. nicht trennscharf voneinander abgrenzbar sind“ (Hennig 2006: 7) und die Unterscheidung der verschiedenen Forschungsrichtungen für unsere Fragestellung nachrangig ist bzw. bereits an anderer Stelle versucht wurde (Antos & Ventola 2010, Imo 2013, Staffeldt & Hagemann 2014), handelt es sich hier um eine verkürzte Widergabe der gesprochensprachlich orientierten Forschungslandschaft in Deutschland. Die Gegenstände und Forschungsfragen der Interaktionalen Linguistik sind nicht neu, neu ist aber die Konsequenz mit der diese an empirische Daten rückgebunden werden, wobei jeweils zu zeigen versucht wird, „dass und auf welche Weise linguistische Kategorien auf die Regelung von lokaler, inkrementeller und situationsgebundener Produktion und Interpretation von Gesprächen in sequenzieller sozialer Interaktion zugeschnitten sind.“ (Selting & Couper-Kuhlen 2000: 79) Dadurch unterscheiden sich nicht nur ihr methodischer Zugang, sondern oft auch ihre Ergebnisse von traditionellen Untersuchungen, die auf geschriebenen Texten, kontextfreien Einzelsätzen oder selbstkonstruierten Beispielen beruhen. Die meisten grammatischen Beschreibungen und ihre Kategorien orientieren sich an geschriebener Sprache und abstrahieren von ihrem Gebrauch: „Die Übertragbarkeit dieser Beschreibungen auf und ihre Relevanz für den Umgang mit gesprochener Sprache ist unklar.“ (Selting & Couper-Kuhlen 2000: 80) Es gibt zahlreiche Evidenzen dafür, dass Äußerungen nicht die Leistungen von EinzelsprecherInnen und ihrer sprachlichen Kompetenz sind, sondern interaktiv hergestellt werden. <?page no="44"?> 2 Zugänge zur gesprochenen Sprache 34 Ziel der interaktionalen Linguistik ist es, sequenziell interpretierte Redebeiträge, Turnkonstruktionseinheiten und Äußerungen in ihre sprachlichen Bestandteile zu zerlegen, um festzustellen, wie einzelne sprachliche Hinweise zu Praktiken wie der Bildung von Einheiten, Redebeiträgen und Handlungen beitragen, und zu zeigen inwiefern diese Hinweise interaktional relevant sind. (Selting & Couper-Kuhlen 2000: 84) Trotz der Kontextabhängigkeit von sprachlichen Mitteln soll dabei nicht vergessen werden, dass auf der Grundlage von Einzelanalysen letzten Endes auch Verallgemeinerungen vorgenommen werden sollen, und „die konstitutiven Praktiken und Hinweise“ rekonstruiert werden sollen, anhand derer „Gesprächsteilnehmer genau diese Handlungen inferieren und keine anderen“ (Selting & Couper-Kuhlen 2000: 84). Kritisch anzumerken bleibt allerdings, ob die vielen Überschneidungsbereiche mit den anderen Zweigen der Gesprochene-Sprache-Forschung eine eigene Forschungsdisziplin mit neuem „Etikett“ rechtfertigen. Grundsätzlich ist es sicherlich angebracht, neben den klassischen linguistischen Teilgebieten (Phonologie, Grammatik, Semantik) einen Teilbereich zu etablieren, der sich den Strukturen sprachlicher Interaktion widmet (besonders da die „Pragmatik“ etwas vorbelastet ist und oft einseitig als „dialogische“ Sprechakttheorie betrieben wird - mit allen theorieinhärenten Problemen, die damit zusammenhängen). „Es bedarf einer empirisch fundierten, allgemeinen Theorie über Sprache und Sprachgebrauch in der sozialen Interaktion und es muß beständig nachgewiesen werden, dass diese Konzeption rein kognitivistischen Theorien überlegen ist.“ (Selting & Couper-Kuhlen 2000: 92) <?page no="45"?> 3 Kulturelle, wissenschaftliche und symbolische Konstruktion der Zeit Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio - Augustinus, confessiones XI 14 Ziel dieser Arbeit ist es, die Relevanz von Zeitlichkeit für die Produktion, Rezeption und Analyse sprachlicher Strukturen aufzuzeigen. Während die Begriffe Temporalität, Sequenzialität, Linearität und Prozessualität gerade in der Gesprochene-Sprache-Forschung und Interaktionalen Linguistik en vogue sind, wird das dort zugrundeliegende Konzept von Zeitlichkeit in der Regel nicht hinterfragt. Wie sich zeigt, gibt es ‚die Zeit‘ als solche jedoch gar nicht, da sie z. B. mit dem gleichen Recht als objektive physikalische Größe behandelt als auch als kulturelles Konstrukt betrachtet werden kann. Ziel dieser Darstellung ist es, einen Überblick über die verschiedenen Zeitkonzepte zu geben. Denn schließlich haben „[v]erschiedenste Wissenschaften, z. B. Philosophie, Physik und Psychologie, Theologie und Biologie, […] sich gefragt, was Zeit sei; ihre Antworten sind teilweise recht dunkel.“ (Vater 2007: 1) Es wird nicht angestrebt Repräsentativität oder gar Vollständigkeit bei der Beschreibung zu erreichen, da Zeitlichkeit letztendlich nur als strukturbildende Größe beim Aufbau grammatischer Konstruktionen von Interesse ist. Neben den klassischen Zeitbegriffen in der Physik, Religion und Erkenntnistheorie stellt sich dieser Überblick vor allem der Frage, wie Zeit - in Form von Zeitlichkeit als Prozessualität - in Sprach- und Handlungszusammenhängen relevant wird. 3.1 Naturwissenschaftliche Messung der Zeit Während wir wissen, dass Zeit ständig und immer vergeht, ist unser Wissen darüber, wie viel Zeit gerade genau vergangen ist, unzuverlässig. Unser subjektives Zeitempfinden dient offensichtlich anderen Zwecken als der präzisen Messung von Zeitintervallen. Genau diese Messung war aber schon in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte nötig, da spätestens mit der Sesshaftigkeit und dem Ackerbau die Frage der Aussaat und Ernte im Zyklus der Jahreszeiten von existenzieller Bedeutung war. Die ersten Versuche, Zeit mithilfe von Zeiteinheiten zu messen, basieren auf periodischen kosmischen Ereignissen, wie z. B. dem Wechsel von Tag und Nacht oder den Jahreszeiten infolge des Laufs der Erde um die Sonne. Diese zyklischen Ereignisse bildeten die Grundlage der ältesten bekannten Kalender und Sonnenuhren der Maya, Babylonier und Chinesen (Holford-Strevens & Rochow 2008, Vogtherr 2012). Daneben gab es sogenannte Elementaruhren, die den Ablauf eines konti- <?page no="46"?> 3 Kulturelle, wissenschaftliche und symbolische Konstruktion der Zeit 36 nuierlichen Vorgangs messen, wie bei dem Rieseln von Sand oder dem Abbrennen einer Kerze. Lange Zeit dienten fließende Materialien zur Zeitmessung: Aus der frühen Wasseruhr tröpfelte nach dem Auffüllen Wasser in ein Becken, der Füllstand im Trichter verriet die verstrichene Zeit. Erst die mechanischen Uhren aus dem 13. Jahrhundert verabschiedeten sich vom Prinzip der Elementaruhren (Dohrn-van Rossum 2007). Sie wurden von Gewichten angetrieben, deren gleichmäßiger Zug von der sogenannten Spindelhemmung in einen periodischen Vorgang verwandelt wurde: „Von nun an wurden künstlich angeregte Oszillationen statt elementarer Vorgänge zur Grundlage neuer Chronometer.“ (Andrewes 2007: 28) Besonders zwei kulturelle Entwicklungen machten eine immer präzisere Zeitmessung notwendig. Zum einen die erhöhte Reisegeschwindigkeit der Eisenbahn im Unterschied zur Kutsche, die dazu führte, dass die „Ortszeit“, die sich am Höchststand der Sonne an jedem Ortspunkt orientiert, von einer vereinheitlichten Standard-Zeit abgelöst werden musste, da z. B. am 7. Dezember 1835 bei der Fahrt auf der ersten Eisenbahnverbindung in Deutschland zwischen Nürnberg nach Fürth, die Kirchturmuhren in Nürnberg und in Fürth und die Uhr des Schaffners eine andere Zeit anzeigen würden. Die andere Quelle des Innovationsdrucks bestand in der präzisen Zeitmessung zwecks Navigation auf dem offenen Meer. Zwar lässt sich der Breitengrad durch den Stand der Sonne oder des Polarsterns ermitteln, für den genauen Längengrad brauchte man jedoch die genaue Uhrzeit. Nach einem Schiffbruch ausgelöst durch einen Navigationsfehler hat das britische Parlament 1714 ein Preisgeld von 20000 Pfund ausgelobt (heutiger Wert: gut 18 Millionen Euro), für die Erfindung eines Instruments, das in der Lage ist, Positionsbestimmungen bis auf ein halbes Grad nautischer Länge genau vorzunehmen. Der Wettbewerb führte zu einer Vielzahl von Vorschlägen und gab dem Uhrmacherhandwerk einen großen Schub (zu den teilweise abstrusen Vorschlägen an das Prüfkomitees (board of longitude), vgl. Andrewes (1996)). Die technische Möglichkeit, Zeit immer genauer zu messen, förderte jedoch ein anderes Problem zu Tage. Dass nämlich die zyklischen Ereignisse, die unserem Kalender und unserer Uhrzeit zugrundeliegen, selbst nicht konstant sind. So basiert die Definition der heutigen Sekunde auf einem mittleren Erdentag zur Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, allerdings hat sich die Erdrotation aufgrund von Reibungsverlusten (Gezeiten, Magmabewegung) seitdem verlangsamt, so dass zu den theoretischen 86400 Sekunden eines Tages immer wieder „Schaltsekunden“ hinzugefügt werden müssen. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts gerieten die neuzeitlichen Naturwissenschaften darüber hinaus in eine Grundlagenkrise, da der physikalische Zeitbegriff durch die Relativitätstheorie und die Quantenphysik in Frage gestellt wurde (vgl. Hawking & Kober 2012, Kahan 2005, Sexl & Schmidt 2000). Albert Einstein begründete die physikalische Relativitätstheorie, die er 1905 als spezielle Relativitätstheorie und 1916 als allgemeine Relativitätstheorie veröffentlichte (Einstein 1905, 1916). <?page no="47"?> 3.1 Naturwissenschaftliche Messung der Zeit 37 Die spezielle Relativitätstheorie beschreibt das Verhalten von Raum und Zeit aus der Sicht von Beobachtern, die sich relativ zueinander bewegen, und die damit verbundenen Phänomene. Die Zeit erscheint nicht mehr als unabhängige Variable t, die als externer Parameter keinen Bezug zu den von der Physik untersuchten Gegenständen und Prozessen hat. Als lokale Eigenzeit, d. h. in Bezug auf die relative Geschwindigkeit des jeweiligen Inertialsystems definiert, wird sie statt des […] als abhängige Variabel in das umfassende ‚Raum-Zeit-Kontinuum‘ integriert. (Zimmerli & Sandbothe 2007: 9) Die allgemeine Relativitätstheorie geht darüber hinaus und führt die Gravitation auf eine Krümmung von Raum und Zeit zurück, die durch die beteiligten Massen verursacht wird. Raum- und Zeitangaben sind in der speziellen Relativitätstheorie keine universell gültigen Ordnungsstrukturen, sondern der räumliche und zeitliche Abstand zweier Ereignisse werden von Beobachtern mit verschiedenen Bewegungszuständen unterschiedlich beurteilt. Bewegte Objekte erweisen sich im Vergleich zum Ruhezustand in Bewegungsrichtung als verkürzt (Längenkontraktion) und bewegte Uhren als verlangsamt (Zeitdilatation). Da jedoch jeder gleichförmig bewegte Beobachter den Standpunkt vertreten kann, er sei in Ruhe (d. h. er bildet ein Inertialsystem, in dem z. B. auch die physikalischen Gesetzte der Newton’schen Mechanik gelten), beruhen diese Beobachtungen auf Gegenseitigkeit, das heißt, zwei relativ bewegte Beobachter sehen die Uhren des jeweils anderen langsamer und dessen Zollstock in Bewegungsrichtung verkürzt (siehe auch Zwillingsparadoxon). Die Frage, wer die Situation korrekt beschreibt, ist hierbei prinzipiell nicht zu beantworten und daher sinnlos. Alle diese Phänomene machen sich erst bei Geschwindigkeiten bemerkbar, die im Vergleich zur Lichtgeschwindigkeit ins Gewicht fallen, so dass sie im Alltag nicht auffallen. Die allgemeine Relativitätstheorie führt die Gravitation auf ein geometrisches Phänomen in einer gekrümmten Raumzeit zurück, indem sie feststellt: Energie krümmt die Raumzeit in ihrer Umgebung. Ein Gegenstand, auf den nur gravitative Kräfte wirken, bewegt sich zwischen zwei Punkten in der Raumzeit stets auf einer sogenannten Geodäte (Geodäten sind die kürzesten Verbindungen zweier Punkte, im euklidischen Raum sind es stets Geraden, auf einer Kugeloberfläche - z. B. der Erde oder der gekrümmte Raumzeit - wären es Kurven). Das heutige Standardmodell der Physik beruht auf der Vereinigung der speziellen Relativitätstheorie mit der Quantentheorie in den relativistischen Quantenfeldtheorien. Eine Quantentheorie, die auch die allgemeine Relativitätstheorie berücksichtigt, bezeichnet man als Quantengravitation. Die Vereinigung von Quantentheorie und Relativitätstheorie ist bisher nicht vollständig gelungen und zählt zu den größten Herausforderungen der physikalischen Grundlagenforschung. Die Relativitätstheorie hat das Verständnis von Raum und Zeit revolutioniert und Naturzusammenhänge aufgedeckt, die sich der anschaulichen <?page no="48"?> 3 Kulturelle, wissenschaftliche und symbolische Konstruktion der Zeit 38 Vorstellung entziehen. Die betreffenden Vorgänge und Eigenschaften lassen sich jedoch mathematisch präzise beschreiben und sind experimentell bestens bestätigt (Nachweis von Myonen, Periheldrehung des Merkurs, Rotverschiebung, Doppler-Effekt, Shapiro- Verzögerung). 3.2 Erkenntnistheoretische Grundlagen der Zeit „Die erste zusammenhängende Zeittheorie im Rahmen der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte ist die Platonische,“ stellt Gloy (2008: 7) fest und führt aus, wie die besonders im Dialog Timaios entworfenen Probleme sich auf drei Problemkomplexe reduzieren lassen, die in der Folge die Kontroverse um die Zeitphilosophie dominiert haben. Der erste Komplex schneidet die Frage der Quantifizierbarkeit und der Modalität der Zeit an. Indem Platon Zeit im Rahmen seiner Ideenlehre einem Abbild der Ewigkeit gleichstellt, handelt er sich zwei Zeitbegriffe ein, von denen letzterer zeitenthoben und empirisch nicht zugänglich ist. Nur der erstere - also die Zeit - kennt Teile, womit die Frage aufgeworfen wird, inwieweit Zeit als ein Instrument der Episodenbildung dem menschlichen Verstand zur Verfügung steht. Auch verharrt die Zeit - im Gegensatz zur Ewigkeit - nicht im Immergleichen, sondern kennt verschiedene Modi (vergangen, zukünftig, gegenwärtig). Der zweite Fragenkomplex bezieht sich auf die Beziehung zwischen Raum und Zeit bzw. der Frage, ob die sich im Raum bewegende Materie eine abhängige der Zeit ist, oder Zeit eine Eigenschaft des Raums. Der dritte Themenkomplex betrifft die Frage, ob die Zeit kosmologisch fundiertes objektives Geschehen ist oder nur Teil der subjektiven Seele ist. Gerade der letztgenannte Themenkomplex erfuhr in der Folge immer mehr eine Entwicklung hin zur „Entkosmologisierung der Zeit und zu ihrer Psychologisierung“ (Gloy 2008: 8). Während für Aristoteles und Plotin noch sowohl objektive, kosmologische Zeit als auch subjektive, psychologische Zeit existieren, läuten Augustinus „Bekenntnisse“ das neuzeitliche Verständnis der Zeit ein, indem objektive Zeit erst das Ergebnis der subjektiven Wahrnehmung ist. Was ist denn die Zeit? Wer kann das leicht und schnell erklären? […] Wenn wir über Zeit sprechen, wissen wir, was das ist; wir wissen es auch wenn ein anderer darüber zu uns spricht. Was also ist die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es: wenn ich es jemandem auf seine Frage hin erklären will, weiß ich es nicht. Dennoch behaupte ich, dies mit Sicherheit zu wissen: Ginge nichts vorüber, gäbe es keine zukünftige Zeit; wäre überhaupt nichts, gäbe es keine gegenwärtige Zeit. Aber wie existieren denn zwei von diesen Zeiten, die Vergangenheit und die Zukunft, wenn das Vergangene nicht mehr und das Zukünftige noch nicht ist? Und was die Gegenwart angeht: bliebe sie immer gegenwärtig und ginge sie nicht über in die Vergangenheit, wäre sie nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit. Wenn also die Ewigkeit nur dadurch Zeit ist, daß sie in die Vergangenheit übergeht, so können wir von ihr sagen, sie sei, wo <?page no="49"?> 3.2 Erkenntnistheoretische Grundlagen der Zeit 39 doch der Grund ihres Seins der ist, daß sie nicht sein wird? Dann können wir in Wahrheit von der Zeit nur behaupten, sie sei, weil sie zum Nichtsein übergeht. (Flasch & Augustinus 2004: 251) Hierbei nimmt Augustin ein Problem der Zeitphilosophie aufs Korn, die sich bis zu Heidegger fortgespannt hat. In unserer „natürlichen Einstellung“ erscheinen uns die Zeit und der Umgang mit ihr unproblematisch. Wenn wir uns allerdings die Frage stellen, was die Zeit an und für sich ist, geraten wir sofort in eine Aporie. Schließlich lässt sich über zwei der drei Zeitstufen gar nichts sagen: die eine ist nicht mehr (Vergangenheit) und die andere ist noch nicht (Zukunft). Die Gegenwart dagegen, die tatsächlich ist, dauert wiederum nicht, sondern strebt danach, in die Vergangenheit überzugehen (also nicht mehr zu sein). Ein paar hundert Jahre später kommt Kant zu demselben Schluss, dass Zeit im Sinne einer objektiven Realität „nichts“ ist, sondern „lediglich eine subjektive Bedingung unserer (menschlichen) Anschauung.“ (KrV A 35f/ B51f) In der Transzendentalen Analytik (KrV A 89/ B 121f) resümiert Kant rückblickend noch einmal seine Herleitung der subjektiven Bedingungen der Erkenntnis. Wir haben oben an den Begriffen des Raumes und der Zeit mit leichter Mühe begreiflich machen können, wie diese als Erkenntnisse a priori sich gleichwohl auf Gegenstände notwendig beziehen müssen, und eine synthetische Erkenntnis derselben, unabhängig von aller Erfahrung, möglich macheten. Denn da nur vermittelst solcher reinen Formen der Sinnlichkeit uns ein Gegenstand erscheinen, d. i. ein Objekt der empirischen Anschauung sein kann, so sind Raum und Zeit reine Anschauungen, welche die Bedingung der Möglichkeit der Gegenstände als Erscheinungen a priori enthalten, und die Synthesis in denselben hat objektive Gültigkeit. Augustins Problem, das Wesen der Zeit nicht begreifen zu können, löst Kant also insoweit auf, als Zeit eben gar kein Begriff ist, sondern eine notwendige Vorstellung, die der Wahrnehmung zugrunde liegt. Durch diese subjektive Wende ist der Forschungsgegenstand Zeit immer stärker aus der Naturphilosophie gelöst (Vorsokratiker, Platon, Aristoteles) und über die religionsphilosophische Auseinandersetzung des Unterschieds zwischen Zeit und Ewigkeit (Plotin, Augustinus) Teil der Erkenntnistheorie (Kant, Husserl, Heidegger, Bergson, Gadamer) geworden (vgl. Gloy 2008, Vater 2007: Kapitel 2, Zimmerli & Sandbothe 2007). <?page no="50"?> 3 Kulturelle, wissenschaftliche und symbolische Konstruktion der Zeit 40 3.3 Kulturelle Konstruktion der Zeit Zeit ist jetzt unsere Währung. Wir arbeiten dafür und wir zahlen damit. - „In Time“ (USA, 2011) (a) Ökonomie „Denkt immer daran: Zeit ist Geld“ schrieb Benjamin Franklin im Jahr 1784 in seinem kurzen Traktat Advice to a young tradesman. Nach Kötter (2009: 28) lag ihm dabei „allerdings nichts weniger im Sinne, als damit eine ökonomische Fußnote zu einer machiavellistischen Philosophie zu liefern.“ Seine Ermahnung zum richtigen Umgang mit Zeit und Geld ist nicht rein ökonomischer Natur, sondern moralisch: Remember, that time is money. He that can earn ten shillings a day by his labor, and goes abroad, or sits idle, one half of that day […] has really spent, or rather thrown away, five shillings. (Benjamin Franklin (1748) zitiert nach Franklin & Houston (2004: 200)) Kötter (2009) nimmt dieses Bonmot auf und setzt es mit einem Wahlspruch Goethes in Verbindung „Tempus divitiae, tempus ager meus“ 32 und interpretiert die beiden Sentenzen als Ausspruch von diametral entgegengesetzten Zeitkonzepten der abendländischen Kulturgeschichte. In antiker Zeit ergab sich der Ertrag, den ein Acker abwarf, aus einer Reihe von Faktoren, von denen viele sich dem Einfluss des Menschen entzogen (Bodenqualität, Klima, Wetter, Qualität des Saatguts). Die Aufgabe des Bauern bestand also in erster Linie darin, das Richtige (Pflügen, Säen, Ernten) zur richtigen Zeit zu tun, 33 Kötter 2009: 129 da zu dieser Zeit „die limitierenden Faktoren nur wenig Spielraum für Ertragssteigerungen“ ( ) ließen. Ein noch wesentlicherer Unterschied zur heutigen Marktwirtschaft bestand darin, dass er die Früchte seiner Arbeit nur zu einem sehr geringen Ausmaß anhäufen konnte, da sie in der Regel leicht verderblich waren. Dementsprechend war die Idee wirtschaftlichen Handelns nicht automatisch mit einem Optimierungskonzept verbunden, sondern richtete sich darauf, den Bedarf der Hausgemeinschaft durch Produktion oder Tausch zu decken: „nicht Effizienz, sondern Gerechtigkeit war der Schlüsselbegriff der antiken Ökonomik“ (Kötter 2009: 130, Hervorhebung im Original). Die Ökonomik beschreibt also, wie der gr. Oikos „Hausgemeinschaft“ funktioniert als „eine Vereinigung von Haushalten und Familienverbänden, die gemeinschaftlich das richtige Leben führen, also eine 32 Im West-östlichen Diwan, Buch der Sprüche, heißt es wörtlich: „Mein Erbteil, wie herrlich, weit und breit! / die Zeit ist mein Besitz, mein Acker ist die Zeit“ (Goethe 2005, HA 2, 52). 33 Vgl. die beiden Zeitkonzepte „Chrónos“ und „Kairós“ in Kapitel 4.5. <?page no="51"?> 3.3 Kulturelle Konstruktion der Zeit 41 Gemeinschaft zum Zwecke des vollkommenen und autarken Lebens.“ (Aristoteles 2012: 103 [Politik 1280, b33]) Ziel der antiken Oikonomia (Hauswirtschaft) liegt in einer sittlichen Lebensführung und einem guten Leben, wofür Geld immer nur ein Mittel für die Güterversorgung ist. Sobald Geld nicht mehr nur Mittel, sondern Zweck wird, 34 Nun gibt es aber zwei Formen von Gütern, wie wir schon sagten: die eine fällt in den Bereich der gewinnsüchtigen Händlertätigkeit, die andere in den der Ökonomik. Aber nur diese (zweite) befriedigt notwendige Bedürfnisse und findet lobende Anerkennung, während die Erwerbskunst nach Art des gewinnsüchtigen Handels mit Recht getadelt wird - denn sie wird nicht entsprechend der Natur ausgeübt, sondern besteht darin, daß Menschen aus (geschäftlichem Verkehr) untereinander Güter gewinnen. Daher wird mit der allergrößten Berechtigung (eine dritte Form der Erwerbstätigkeit, ) der Geldverleih gegen Zinsen gehaßt; denn dabei stammt der Gewinn aus dem Münzgeld selber, nicht aus der Verwendung, für die es geschaffen wurde - denn es entstand (zur Erleichterung) des Warenumschlages. ( steht es nicht mehr im Dienst eines guten Lebens und wird genauso wie der Zins abgelehnt: Aristoteles 2012: 24 [1258a]) Neben die Ökonomik, die auf die „Ordnung, Sicherung und Bewahrung des Besitzes“ abzielt, stellt Aristoteles die Chrematistik, der „Kunst, Geld zu machen“ (Reichert 2009: 47). Deren drei Bereiche - Warenhandel, Geldverleih auf Zinsen und Lohnarbeit - haben mit Bedarfssicherung nicht mehr viel zu tun und wurden lange Zeit geringgeschätzt. Das ändert sich erst im Laufe der Zeit. Durch die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität im Spätmittelalter konnten sich immer mehr Menschen dem Handel und Gewerbe in den Städten widmen und auf dem Markt nicht nur Naturalien zur Stillung ihrer notwendigsten Bedürfnisse tauschen, sondern auch Dienstleistungen und Waren; die Rolle des universalen Tauschmittels Geld wurde dabei immer wichtiger. Geld wurde zu Kapital und Kapital wurde eingesetzt, um mehr oder weniger riskante Investitionen zu tätigen. Gewinn und Zins waren nicht mehr „Produkte einer moralisch verwerflichen Gesinnung […], die auf die erpresserische Ausnutzung einer Notlage anderer abzielte, sondern Erträge kluger Investitionsentscheidungen.“ (Kötter 2009: 132; Hervorhebung im Original) Während sich dieser Prozess schleichend im Verlaufe der Jahrhunderte vollzogen hat, wurde die intellek- 34 Daher werden schon bei Aristoteles (2012: 22, [Politik 1257, b15]) zwei Arten von Tätigkeiten unterschieden, die zwar beide denselben Gegenstand haben, aber nicht dieselbe Wertschätzung erfahren: Bei der Ökonomik „liegt der Zweck (der Nutzung) außerhalb (des Besitzerwerbs)“ in der nützlichen und notwendigen (und maßvollen) Befriedigung menschlicher Bedürfnisse (Kleidung, Wohnung, Nahrung, Reproduktion), bei der gr. Chrematistik „Bereicherungskunst“ „ist dagegen seine [scil. Reichtum/ Besitz] Vermehrung der Zweck der Erwerbstätigkeit“ und sie gilt daher auch als maßlos und unsittlich, da „alle, die sich gewinnbringender Tätigkeit verschreiben, versuchen Geld bis ins Unendliche zu vermehren.“ <?page no="52"?> 3 Kulturelle, wissenschaftliche und symbolische Konstruktion der Zeit 42 tuelle Aufarbeitung des veränderten Verhältnisses von Zeit, Arbeit und Geld erst an der Schwelle zur Industrialisierung erreicht (Locke 2008/ 1690, Smith 2005). Die Frage, die es zu klären galt, war, wie zwei Waren unterschiedlicher Natur denselben Wert besitzen konnten. Dabei half die von Adam Smith eingeführte Unterscheidung zwischen dem Gebrauchswert einer Sache, welcher in der antiken „Marktwirtschaft“ im Vordergrund stand, und dem Tauschwert einer Sache, der sich aus der investierten Arbeit, die in ihm steckt, ergibt. Arbeit war der erste Preis oder ursprünglich das Kaufgeld, womit alles andere bezahlt wurde. Nicht mit Gold oder Silber sondern mit Arbeit wurde aller Reichtum dieser Welt letztlich erworben. Und sein Wert ist für die Besitzer, die ihn gegen neue Güter austauschen möchten, genau gleich der Arbeitsmenge, die sie damit kaufen oder über die sie mit seiner Hilfe verfügen können. (Smith 2005: 28) Die Gleichsetzung des Warenwerts mit dem in sie investierte Arbeit und Zeit bedeutet, dass beim Tauschhandel nicht mehr Konsumtionslücken geschlossen werden, sondern „Zeitopfer“ ausgeglichen werden (vgl. Kötter 2009: 132f.). Der andere große Unterschied besteht darin, dass der antike Mensch seine Leibeigenen so anleiten musste, dass ein zufriedenstellendes Produkt dabei herauskam, der moderne Mensch muss seine eigene Lebenszeit so organisieren, dass er in ihr möglichst viel produziert. 35 (b) Psychologie Zimbardo & Boyd (2011) widmen sich in ihrem Buch, das zwischen Ergebnispräsentation einer großangelegten Sozialstudie und Ratgeber zur Lebenshilfe pendelt, unserer Perspektive auf Zeit: 36 Der Begriff ‚Zeitperspektive‘ bezeichnet in der Psychologie den Vorgang, durch den wir alle unsere persönlichen Erfahrungen in zeitliche Kategorien - oder Zeitzonen - einordnen. Er ist ein Aspekt der psychischen (oder subjektiven) Zeit, der die objektive Zeit (oder Uhrzeit) gegenübersteht. Andere Arten der psychischen Zeit sind etwa 35 Ein wichtiges Mittel zur Steigerung der Produktivität ist die Arbeitsteilung, durch die der Mensch von einer Subsistenzwirtschaft im aristotelischen Sinne immer mehr entfremdet wurde. Die Erklärung der Wertschöpfungskette bei Smith enthält jedoch einen unentrinnbaren Zirkelschluss, wenn er sagt, dass der Wert eines Produkts in der in ihm enthaltenen Arbeit besteht und der Wert der Arbeit sich aus dem Tauschwert des Produkts ergibt. Dieser Zirkel, der nebenbei auch die Bildung von Profit ausschließt, ist erst durch Marx (1970: 164f.) Erklärung des Mehrwerts gelöst worden. 36 Weiterführende Literatur und kritische Hinweise zur Behandlung des Themas „Zeit“ in der Psychologie finden sich auch in FN 32 in Zimbardo & Boyd (2011: 395f.). <?page no="53"?> 3.3 Kulturelle Konstruktion der Zeit 43 die empfundene Dauer eines Ereignisses, unser Gefühl für Veränderungen der Schnelligkeit des Zeitablaufs, unser Rhythmusgefühl und das Gefühl des Zeitdrucks durch zeitliche Absprachen. (Zimbardo & Boyd 2011: XI) Die Idee ist, dass wir unsere Lebenserfahrungen in drei Kategorien einteilen (Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) und dass die meisten Menschen sich überwiegend mit einer dieser drei Zeitzonen auseinandersetzten und darüber die anderen vernachlässigen. Bei der Gegenwartsorientierung lässt sich zwischen hedonistischer Perspektive, die auf Genuss, Risikofreude und Nervenkitzel aus ist, und fatalistischer Perspektive, die sich in ihr Schicksal fügt, da man es vermeintlich sowieso nicht ändern kann, unterscheiden. Eine Vergangenheitsorientierung kann entweder freudig an positive Erinnerungen, Traditionen und Ereignisse zurückdenken, oder eine negative Einstellung gegenüber der Vergangenheit pflegen, die überwiegend aus Gefühlen der Reue, des Versagens und der verpassten Chancen besteht. Eine Zukunftsorientierung kann bedeuten, Pläne zu schmieden, Termine und Fristen zu setzen und Ziele anzusteuern, andererseits kann die Zukunft aber auch als transzendentale Zukunft ausgemalt werden, die erst mit dem Tod beginnt. Ziel ist es, zu einem optimierten Zeitperspektiven-Profil zu kommen, bei dem das Schwelgen in der (positiven) Vergangenheit, Gegenwartshedonismus und Zukunftsorientierung im Gleichgewicht sind. (c) Sozialpsychologie In welchem Zusammenhang die beiden vermeintlich kostenbarsten Ressourcen, über die der Mensch überhaupt verfügt, - Zeit und Geld - mit dem persönlichen Wohlbefinden stehen, ist ein beliebter Gegenstand in sozialpsychologischen und ökonomischen Studien (siehe die weiterführende Literatur in DeVoe & House 2012). So haben Kahneman & Deaton (2010) in ihrer großangelegten Studie zwar herausgefunden, dass ab einem Jahresgehalt von $ 75.000 kein signifikanter Zusammenhang mehr zwischen Einkommen und „emotional well-being“ besteht. Das bezieht sich jedoch nur auf das allgemeine Wohlbefinden und nicht auf augenblickliche Glücksmomente und die Frage, ob diese sich „mit Geld aufwiegen lassen“. Einige Forschungsergebnisse zum Zusammenhang zwischen materiellem Wohlstand und persönlichem Glücklichsein deuten auch darauf hin, dass diejenigen, die Geld nicht glücklich macht, es einfach für die falschen Dinge ausgeben (Dunn et al. 2011). Dunn et al. (2008) stellten in ihrer Untersuchung fest, dass Geld, das für materielle Güter oder die eigene Person aufgewendet wird, nicht besonders glücklich macht; Geld, das ausgegeben wurde, um andere Menschen glücklich zu machen, aber durchaus das eigene Glück steigert. Auch Investitionen in (positive) Erlebnisse sind eher geeignet, unser Glücksgefühl zu steigern, als der Kauf von Sachen (Van Boven & Gilovich 2003). Auf der anderen Seite konnten DeVoe & House (2012) in drei Experimenten zeigen, wie unsere Fähigkeit, angenehme Freizeitaktivitäten zu genießen, sinkt, wenn uns vorher bewusst ge- <?page no="54"?> 3 Kulturelle, wissenschaftliche und symbolische Konstruktion der Zeit 44 macht wurde, dass uns dabei potentielles Einkommen entgeht. Durch das Bewusstsein für „Zeitverschwendung“ 37 DeVoe & House 2012: 467 entsteht ein Unvermögen, eigentlich lustvolle Beschäftigungen zu genießen: „the economic evaluation of time appears poised to change how people experience time on a task that is potentially enjoyable but does not bring direct economic returns that are easily quantifiable.“ ( ) Killingsworth & Gilbert (2010) zeigen, dass die kontemplative Kunst des „stimulusindependent thought“ bzw. „mind wandering“ zwar eine evolutionäre Errungenschaft der Spezies Mensch zu sein scheint (Tiere sind allem Anschein nach nicht in der Lage, an etwas anderes zu denken als sie gerade tun), allerdings deuten ihre Ergebnisse darauf hin, dass damit eine „emotional cost“ verbunden ist. Nicht von ungefähr liegt das Geheimnis des Glücklichseins in vielen philosophischen und religiösen Lehren im „living in the moment“. In einer großangelegten „experience sampling“ Studie 38 Killingsworth & Gilbert 2010: 932 mussten die Versuchspersonen während ihres normalen Tagesablaufs angeben, was sie gerade machen, wie sie sich dabei fühlen und ob sie währenddessen noch an etwas anders denken als an das, was sie gerade tun. Offensichtlich waren die Menschen dann am glücklichsten, wenn sich ihre Gedanken um die gerade ausgeführte Aktivität drehten, wogegen „mind wandering“ die Ursache (und nicht etwa das Ergebnis) von vermindertem Glücklichsein war: „a wandering mind is an unhappy mind“ ( ). (d) Soziologie Aus der Taufe gehoben wurde die Zeitsoziologie mit einer Veröffentlichung von Sorokin und Merton (1937) mit dem Titel „social time“, die an Überlegungen von Henri Bergson und Émile Durkheim anknüpfen. Sie wiesen auf den zwischenmenschlichen Aspekt von Zeitwahrnehmung und -gebrauch hin. 37 Dass es sich bei den post-industriellen Metaphern „Zeitfresser“, „Zeitverschwendung“, „Zeitersparnis“ und „Zeitnutzen“ um eine relativ neue Konzeptualisierung von Zeit handelt, die sich keineswegs zu allen Zeiten und in allen Kulturen findet, ist auch Gegenstand von Kapitel 2 in Lakoff & Johnsons (2003: 16, Hervorhebung im Original) Untersuchung der Frage, welche Metaphern unsere Wahrnehmung, unser Denken und Handeln strukturieren: „Die Tatsache, daß wir handeln, als ob Zeit ein wertvolles Gut sei - eine begrenzte Ressource wie Geld -, hat ihre Entsprechung in der Art, wie wir mit Zeit kognitiv umgehen. Folglich verstehen und erfahren wir die Zeit als etwas, das ausgegeben, verschwendet, kalkuliert, klug oder schlecht investiert, erspart oder vergeudet werden kann.“ 38 Mit „experience sampling“ wird eine Methode bezeichnet, bei der Probanden zeitgleich mit dem Ausführen einer Aktivität ihre Befindlichkeit äußern müssen. Obwohl das Verfahren zeitaufwendig und kostspielig ist, konnten die Autoren es mithilfe einer Web Applikation für das iPhone mit einer außergewöhnlich großen Gruppe von Personen durchführen (vgl. www.trackyourhappiness .org). <?page no="55"?> 3.3 Kulturelle Konstruktion der Zeit 45 […] our investigation has disclosed the facts that social time, in contrast to the time of astronomy, is qualitative and not purely quantitative; that these qualities derive from the beliefs and customs common to the group and that they serve further to reveal the rhythms, pulsations, and beats of the societies in which they are found. (Sorokin & Merton 1937: 623) Ein gutes Beispiel für einen gesellschaftlich geschaffenen Zeitbegriff oder Zeiteinheit ist die Woche, da sie im Gegensatz zu Tag, Monat oder Jahr nicht auf periodische Naturereignisse gründet. Die Notwendigkeit, individuelle Zeitbegriffe zu „vergesellschaften“, kam erst mit der Arbeitsteilung auf, denn Jäger-und-Sammler-Kulturen unterscheiden sich deutlich von Ackerbau-und-Viehzucht-Kulturen. Obwohl die Zeitmessung in Sekunden, Minuten und Stunden in heutigen industriellen Gesellschaften übereinstimmt, gibt es immer noch große kulturelle Unterschiede in den Jahreszählsystemen (Kalenderrechnung) und dem Tagesbegriff und seinen Einteilungen. Das Vorhandensein eines gesellschaftlichen Zeitbegriffs hängt direkt mit dem Phänomen des Planens zusammen, also der gedanklichen Vorwegnahme einer zukünftig vorgesehenen Handlung. Wer nicht planen muss, braucht auch keinen Zeitbegriff. Die Bedeutung der Synchronisierung von Prozessen, an denen mehrere Handelnde beteiligt sind, nimmt dabei immer stärker zu, je ausdifferenzierter eine Gesellschaft ist. Der Gedanke des Fortschrittes setzt die Vorstellung eines linearen Zeitablaufs voraus, ebensolches gilt für Zeiteinteilung in moderne und vormoderne Gesellschaften. Auch innerhalb einer Gesellschaft können für einzelne Gruppen unterschiedliche subjektive Zeitrhythmen als Tagesablauf entstehen (Bäcker, Studenten, Arbeitslose). Auch die Freizeit wird heute anders als in früheren (bzw. anderen) Gesellschaften als Ausgleich im starken Kontrast zur Arbeitszeit gesehen. Das ist das Interessengebiet der Freizeitsoziologie. In einem Experiment von Darley & Batson (1973) wurden Theologiestudenten aufgefordert, einen Vortrag über die Parabel vom barmherzigen Samariter zu halten. Der Vortrag sollte am anderen Ende des Campus gehalten werden und als die Vorbereitungszeit um war, wurden der einen Hälfte der Studenten gesagt, sie seien spät dran und müssten sich beeilen, der anderen Hälfte wurde gesagt, es sei zwar noch reichlich Zeit, sie sollten aber ruhig schon hinübergehen. Auf dem Weg vom Seminarraum, in dem die Vorbereitung stattfand, zum Hörsaal, wo der Vortrag stattfinden sollte, begegnete jeder Student in einer Seitenstraße einer zusammengekauerten, offensichtlich hilfsbedürftigen Person. Die Person war natürlich ein Teil des Versuchs, bei dem die Teilnehmer also vor die Wahl gestellt wurden „to walk the walk or talk the talk“ und sich also entscheiden mussten, einem Fremden in der Not zu helfen (wie ein barmherziger Samariter) oder einen (verspäteten) Vortrag zu halten, über die Notwendigkeit sich wie ein barmherziger Samariter zu verhalten. 90 Prozent der Theologiestudenten, denen gesagt wurde, sie wären zu spät, haben den Notleidenden links liegen gelassen, um lieber ihren Vortrag zu halten - obwohl sie nach <?page no="56"?> 3 Kulturelle, wissenschaftliche und symbolische Konstruktion der Zeit 46 eigenen Angaben auf ihrem Weg eine notleidende Person gesehen haben. Allerdings haben auch nicht alle der Kontrollgruppe, die genug Zeit hatten, angehalten: „Thinking about the Good Samaritan did not increase helping behavior, but being in a hurry decreased it.“ (Darley & Batson 1973: 107) Während das Samariterexperiment noch sehr experimentellen Charakter hat, was den Umgang mit Zeit angeht, hat sich der Sozialpsychologe Levine (2011) bemüht, eine authentische „Landkarte der Zeit“ zu malen, die unsere Einstellung zur Zeit in Abhängigkeit von unserer Kultur misst. Das dabei ermittelte „Pace of life“ ist ein Indikator für die Hektik oder Gelassenheit, mit der wir Zeit behandeln. Dabei wurden auf der ganzen Welt verschiedene Faktoren berücksichtig, wie die Genauigkeit von Uhren, die Geschwindigkeit von Passanten, die durchschnittliche Dauer einfacher Dienstleistungen wie dem Kauf von Briefmarken im Postamt. Er hat bei seinen Messungen ebenfalls Korrelationen zwischen hohem Lebenstempo und mangelnder Hilfsbereitschaft feststellen können. 3.4 Symbolische Repräsentation der Zeit Gegenstand dieser Arbeit ist die Tatsache, dass sprachliche Interaktion in der Zeit verläuft, und wie dieser zeitliche Verlauf Wechselwirkungen auf die Grammatik und Organisation von sprachlichen Äußerungen bedingt. Während die Perspektive auf Sprache in der Zeit ein relativ neuer Forschungsgegenstand ist, hat die Frage nach der Zeit in der Sprache in der Linguistik eine lange Tradition. Daher verwundert es nicht, dass die „Erwähnung von Zeit und Zeitlichkeit […] bei LinguistInnen meist Vorstellungen von Konzepten wie Verbmorphologie, Hilfsverben oder Adverbien bzw. Tempus und Aspekt“ (Günthner & Hopper 2010: 2) hervorruft. Da alle Dinge, Gegebenheiten und Ereignisse, über die wir uns unterhalten, eine zeitliche Komponente haben, müssen auch in der Sprache, in der unsere Kommunikation über Dinge, Gegebenheiten und Ereignisse abläuft, Spuren dieser Komponente enthalten sein. Zeitreferenz wird auf vielerlei Weise in der Sprache umgesetzt, z. B. durch das grammatische Tempus, durch Zeitadverbiale (in Form von Präpositionalphrasen oder Adverbien), Wortbildung, Konjunktionen, Verlaufsstrukturen und logische Verknüpfungen (vgl. Vater 2007: 32): Tempus und Aspekt: grammatikalisierte, im Allgemeinen morphologisch ausgedrückte Kategorien: arbeitete, schrieb; temporale Präpositionalphrasen: vor Ostern, nach Freitag; Temporaladverbien: jetzt, vorher, neulich, einst, heute; temporale Nominalphrasen: die ganze Nacht, nächste Woche; temporal Verben: dauern, währen, beginnen, enden, fortbestehen, vergehen; <?page no="57"?> 3.4 Symbolische Repräsentation der Zeit 47 Temporalsätze: Als Peter kam; wenn es zwölf schlägt; sobald es dunkel wird; bis Inge kommt. Als Tempus im engeren Sinne (vgl. Bußmann 2002: 681) bezeichnet man den Ausdruck der zeitlichen Relation von Sprechzeitpunkt und Ereigniszeitpunkt des Angesprochenen in Form einer morphologisch-grammatischen Verbkategorie. Die Zeitsysteme der Einzelsprachen unterscheiden sich erheblich. Häufig überlagert sich die Kodierung von Tempus mit Aspekt- und Moduskategorien. Außerdem gibt es Überschneidungen mit dem kulturellen Konstrukt „Zeit“ und dessen formaler Ausprägung. Die grammatische und lexikalische Kodierung der Zeit stellt ein eigenes Forschungsfeld dar (für einen Überblick eigenen sich Comrie (1995), Hennig (2013) und Fabricius- Hansen (1991)). Die Diskussion, wie und ob alle Sprachen Zeit ausdrücken, findet in prominentester Form in der seit den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts schwelenden Kontroverse um sprachliche Relativität statt. Whorf benutzte das Zeitkonzept der Hopi-Indianer als Hauptargument für sein Konzept der sprachlichen Relativität, nach welchem eine enge Korrelation zwischen der Art und Weise, Informationen über die Welt zu kodieren, und der kulturellen Weltsicht der entsprechenden Sprachgemeinschaft besteht. Er behauptet, dass die nord-ostamerikanischen Puebloindianer der Hopi „no general notion or intuition of TIME as a smooth flowing continuum in which everything in the universe proceeds at equal rate, out of a future, through the present, into a past“ (Whorf 2012/ 1936: 73; Hervorhebung im Original) haben, da sie „no words, grammatical forms, construction or expressions that refer directly to what we call ‚time‘“ in ihrer Sprache besitzen. Diese Behauptung gilt spätestens seit Malotkis (1983) umfangreicher Monographie zur „Hopi-Zeit“, in der er hunderte von Beispielen dafür gibt, in denen das Konzept der Zeit auch in Hopi grammatikalisiert vorliegt, als wiederlegt. Die Diskussion ist damit jedoch noch nicht beendet, da die Tatsache bestehen bleibt, dass Zeit in Hopi anders konzeptualisiert wird als in dem von Whorf getauften „Standard Average European“ (vgl. auch Haspelmath 2001), das in der Regel Vergangenheitstempora von Nicht-Vergangenheitstempora unterschiedet, während die Hopi eher zwischen Futur und Nicht-Futur trennen. Im Unterschied zu vergangenen Ereignissen, sind zukünftige Ereignisse jedoch immer nur mögliche Ereignisse - eine Dimension, die in der Grammatik eher unter die Kategorisierung Modus fällt (real / irreal). Auch wenn die Frage nach dem Zeitkonzept der Hopi damit vorläufig geklärt scheint, ist in jüngerer Zeit eine ganz ähnliche Diskussion im Zusammenhang mit dem Phonologen und Anthropologen Everett und seinen Untersuchungen zum brasilianischen Indianerstamm der Pirah- wieder aufgeflammt. Darin werden sprachliche Prinzipien (das Gesetz der Rekursivität, Zahlen, Farben, Tempus), die insbesondere in der chomeskyschen Tradition als universal aufgefasst werden, in Frage gestellt. Everett (2005: 622) führt diese Lücken im Sprachsystem auf eine kulturspezifische Beschränkung der Pirah- zurück, „the restriction of communication to the immediate experience of the interlocutors“, die natürlich keine <?page no="58"?> 3 Kulturelle, wissenschaftliche und symbolische Konstruktion der Zeit 48 Verweistechniken auf Vergangenheit und Zukunft erfordert und deshalb auch nicht grammatisch ausgeprägt hat. 39 Comrie (1985: 10 Nach ) kann man immer dann von einer grammatischen Enkodierung von Zeit sprechen, wenn Zeitreferenz in der Sprache obligatorisch ausgedrückt werden muss und wenn dies durch gebundene Morpheme geschieht. Obwohl ein finites deutsches Verb nicht ohne Zeitmarkierung auskommt und diese häufig auch morphologisch ausgedrückt wird, sind diese Bedingen selbst im Deutschen nicht immer erfüllt: das gilt sowohl für die infiniten Verbformen als auch für die verblosen Einheiten und für die periphrastischen Tempora, in denen Zeit durch ungebundene Morpheme ausgedrückt wird. In der Folge besteht schon bei der Frage nach der Anzahl der Tempora des Deutschen Uneinigkeit (die Zahlen schwanken zwischen eins und zehn, vgl. Vater 2007: 44f.), häufig läuft es jedoch auf das Sechs-Tempora-System des Lateinischen hinaus, denn „man konnte sich vom Mittelalter bis ins achtzehnte Jahrhundert schlicht nicht vorstellen, dass das Deutsche in seinem Tempussystem vom lateinischen abweichen könnte.“ (Vater 2007: 45) Die Darstellung des deutschen Tempussystems in der Grammatik von Zifonun et al. (1997: 1686-1689) versucht dieser Tatsache Rechnung zu tragen, indem sie sich von dem sechs Tempora umfassenden System der lateinischen Schulgrammatik verabschiedet - das darüber hinaus durch die Nomenklatur Perfekt/ Präteritum eine im Deutschen nicht wiederfindbare Aspektualität einbringt 40 vgl. Rothstein 2007: 6 - und stattdessen je nach Bildungsweise zwischen finiten und infiniten bzw. zwischen analytisch und synthetisch gebildeten Formen unterscheidet ( , Zifonun et al. 1997: 1686-1689). 39 Everetts (2005) Thesen haben zu einer wissenschaftlichen Kontroverse geführt, die es bis in populärwissenschaftliche Zeitschriften, linguistische Blogs und Zeitungen geschafft hat, oder - um es in Steven Pinkers Worten zu sagen - es handelte sich bei dem Aufsatz um „a bomb thrown into the party“ (Colapinto 2007). Seine kulturanthropologische Erklärung für die bemerkenswerte Unfähigkeit, Abstraktionen auszudrücken, die sich in der Abwesenheit von Zahlwörtern, Farbwörtern, religiösen Mythen usw. ausdrückt, besteht darin, dass ihre Grundhaltung des im-Augenblick- Leben sich mit solchen Konzepten nicht vereinbaren lässt („immediacy-of-experience principle“). 40 Laut Comrie (1998: 3) handelt es sich bei Aspektualität um „different ways of viewing the internal temporal constituency of a situation“ - diese verschiedene Sichtweise liegt im Fall des imperfektiven Aspekts inmitten des Geschehens, im Fall des perfektiven Aspekts liegt der Blickpunkt außerhalb des Geschehens. Comrie (1998: 52ff.) nimmt jedoch neben dem perfektiven und imperfektiven Aspekt auch noch einen perfektischen Aspekt an, bei dem es nicht um die Betrachtung auf einen Vorgang von außen oder von innen geht, sondern um die Beziehung zwischen zwei Zeitpunkten wie im Deutschen Perfekt vs. Plusquamperfekt. Allerdings lässt sich dazu einwenden, dass die sich im deutschen Plusquamperfekt ausdrückende Vorzeitigkeit klassischerweise dem Tempus zugeschrieben wird und nicht dem Aspekt. Zu anderen Formen, Aspektualität im Deutschen auszudrücken, die nicht Teil des flexivischen Systems sind, vgl. Ebert (2000), Van Pottelberge (2004) und Andersson (2004). <?page no="59"?> 3.4 Symbolische Repräsentation der Zeit 49 Die grundlegenden Tempusbedeutungen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft lassen sich nur verstehen als Relationen zu einem weiteren, von ihnen unabhängigen Bezugspunkt. Zur Erklärung von Tempussystemen müssen wir also mindestens zwei Bestimmungen unterscheiden: Die Situations- oder Ereigniszeit, in der ein mitgeteiltes Ereignis stattfindet, und die Sprech- oder Evaluationszeit, von der aus das Ereignis berichtet wird. Die Tempusbedeutungen vergangen, zukünftig und gleichzeitig sind demnach deiktische Bedeutungen, die in der hier-jetzt-ich-Origo (Bühler 1934/ 1999: 102) der Äußerungssituation verankert sind. Gerade in Fällen, in denen kein gemeinsamer Wahrnehmungsraum geteilt wird, sondern Rezeptionszeit und Produktionszeit verschoben sind, kommt es zu Deixisverschiebungen (vgl. Welke 2005: 17f.). Dasselbe gilt für narrative oder literarische Verschiebungen infolge direkter, indirekter oder erlebter Rede. Hierzu ein beliebiges Beispiel aus Thomas Manns Zauberberg: ‚Reizend von dir‘, sagte Hans Castorp. ‚Was für ein nettes Zimmer! Hier läßt es sich gut und gern ein paar Wochen hausen.‘“ (Mann 1986: 22) Nicht um Deixisverschiebungen, sondern um zusätzliche temporale Relationen handelt es sich bei der Einführung von sekundären Referenzpunkten, wie im Fall von Plusquamperfekt, Futur II oder durch temporale Adverbien, wenn sie eine zusätzliche Evaluationszeit ausdrücken. Durch eine sekundäre Evaluationszeit kann ein Ereignis als sowohl vergangen als auch zukünftig angesetzt werden: vergangen gegenüber einem Zeitpunkt t 2 , zukünftig im Verhältnis auf einen Zeitpunkt t 1 . So liegt die Hochzeit in dem Satz Morgen um diese Zeit werden wir verheiratet sein in Bezug auf die primäre Evaluationszeit (=Sprechzeit) in der Zukunft, in Bezug auf den durch das Temporaladverbial entworfenen Referenzpunkt in der Vergangenheit (sekundäre Evaluationszeit). In der Tradition von Reichenbach (1947) werden aus diesem Grund Sprechzeit, Aktzeit und Betrachtzeit (engl. point of speech (S), point of event (E) und point of reference (R)) unterschieden. 41 Besonders durch die Tradition der lateinischen Schulgrammatik wird über die reinen Tempora hinaus von den Kategorisierungen Aktionsart und Aspekt Gebrauch gemacht. Von Aspekt spricht man, wenn wie z. B. im Russischen systematisch sprachliche Mittel (z. B. Präfixe) zur alternativen Perspektivierung von Ereignissen als ‚perfektiv‘ (Außenperspektive) bzw. als ‚imperfektiv‘ (Binnenperspektive) bereitgestellt sind. In diesem Fall ist die Ereignisperspektivierung keine Sache der lexikalischen Semantik oder der Wortbildung, sondern der Grammatik. Im Heutigen Deutsch ist der Aspekt nicht oder - wenn man die peripheren Formen mit am + Infinitiv einbezieht - kaum grammatikalisiert. (Zifonun et al. 1997: 1861) Aspekt und Tempus haben gemeinsam, dass sie in der Regel morphologisch am Verb markiert werden. Im Unterschied zu Tempus lokalisiert Aspekt kein Ereignis relativ zu einem 41 Für eine Kritik, diese Dreiteilung auch auf die Präsenstempora anzuwenden, siehe Bäuerle (1979: 51), Welke (2005). <?page no="60"?> 3 Kulturelle, wissenschaftliche und symbolische Konstruktion der Zeit 50 Referenzpunkt, sondern bringt die interne Zeitstruktur des Ereignisses zum Ausdruck. Anders verhält es sich mit der recht ähnlichen Kategorisierung Aktionsart, die zur Unterscheidung häufig auf Derivationsmorphologie eingegrenzt wird: Bei der Aktionsart handelt es sich um eine der Verbbedeutung inhärente lexikalische, vorwiegend zeitliche Struktur. Während ein Verb wie schlafen lediglich besagt, dass ein Individuum während einer gewissen Zeitspanne schläft, drückt beispielsweise erwachen einen Zustandswechsel vom Schlaf zum Wachsein aus. Die Aktionsart eines Verbs kann systematisch durch sein Verhalten in bestimmten sprachlichen Kontexten ertestet werden. So ist Der Zug kam zwei Stunden lang an ungrammatisch, wohingegen Sie schlief zwei Stunden lang möglich ist. (Rothstein 2007: 4) Zifonun et al. (1997: 1860f.) übernehmen den Vorschlag von Leiss (1992), wonach Aktionsarten den Präfixverben im Deutschen reserviert sind, wo durch die Affigierung eines Präfixes im Unterschied zum Basisverb Aktionsartendifferenzierungen manifest werden: brüllen → losbrüllen (ingressiv/ inchoativ) klingen → ausklingen (egressiv) streichen → streicheln (iterativ) lachen → lächeln (intensivierend) Die temporalen Eigenschaften des Verbs schlafen sind demgegenüber nicht morphologisch ausgedrückt, sondern Teil der Verbalsemantik. Dieser „Verbalcharakter“ summiert sich mit den Kategorisierungen Aktionsart und Aspekt zu Aspektualität. Der Verbalcharakter lässt sich durch die Kreuzklassifikation aus +/ telisch und +/ transformativ bestimmen. Transformativität schließt eine Zustandsveränderung ein (aufblühen, zerstören), Telizität besagt, das Ereignis, das im Verb zum Ausdruck kommt, hat einen Grenzphasenbezug (loslaufen, ausdiskutieren). In der Beschreibung des Deutschen sind Modalität und Temporalität Begriffskategorien, die eine grammatische Kategorie als Zentrum haben, nämlich Modus (Indikativ, Konjunktiv, Imperativ) bzw. Tempus (wenigstens Präsens und Präteritum und je nach Sicht die analytischen Konstruktionen, die als Futur, Perfekt und Plusquamperfekt bekannt sind). Parallel dazu müsste eigentlich - und das wird auch zunehmend gemacht - statt von Aspekt von einer Begriffskategorie Aspektualität gesprochen werden, die im Deutschen keine grammatische Ausdruckskategorie, also keinen Aspekt als Zentrum hat. (Andersson 2004: 6) Das bedeutet, Aspektualität hat verschiedene Realisierungsformen, von denen der Aspekt eine morphologische Markierung am Verb ist (im Deutschen nicht vorhanden) und die <?page no="61"?> 3.5 Zusammenfassung und Diskussion 51 Aktionsart sich lexikalisch über die Verbsemantik ausdrückt. Ebenfalls lexikalisch fixiert ist die Aspektualität in Temporaladverbien (im Deutschen vorhanden). 3.5 Zusammenfassung und Diskussion Augustinus Verdacht, umso mehr man über Zeit nachdenkt umso weniger weiß man darüber, scheint nicht ohne Grund in jeder großen Arbeit über Zeit zitiert zu werden. Am Ende sind die Problemfelder in den verschiedenen Forschungsrichtungen doch sehr unterschiedlich. Aus physikalischer Sicht ging es in erster Linie um Zeitmessung. Hier zeigte sich, dass immer präzisere Messverfahren dazu führten, dass die Messintervalle mit den zugrundeliegenden Einheiten nicht mehr zur Deckung kommen. Das Prinzip, einen Tag in 12 bzw. 24 Teile zu teilen, funktioniert eben nur, wenn es den Tag überhaupt gäbe bzw. alle Tage gleich lang wären. Ähnlich wie die Vereinheitlichung der anthropozentrischen Längenmaße (Fuß, Spanne, Klafter usw.) hat diese Harmonisierung dazu geführt, dass das Einheitsmaß nicht mehr viel mit der ursprünglichen Idee (meinem Fuß, meiner Spanne) zu tun hat. Im Extrem hat diese immer größere Exaktheit der Messung dazu geführt, dass der Zeit- und Raumbegriff vom Menschen gar nicht mehr wahrnehmbar ist: So entziehen sich die Zusammenhänge der Relativitätstheorie unserer Anschauung und können nur intellektuell begriffen werden. Trotzdem sind die Berechnungen, die sich daraus ergeben, Teil unseres modernen Lebens (die Uhren der GPS-Satelliten müssen z. B. schneller gehen als auf der Erde, da sie mit so großer Geschwindigkeit kreisen). Das bedeutet für eine linguistische Untersuchung, dass gerade die Möglichkeiten der akustischen Phonetik, Tonhöhe, Lautstärke und Sprechgeschwindigkeit zu messen, nicht unbedacht vorgenommen werden dürfen. Das entspricht auch den Empfehlungen zur Analyse von Sprechgeschwindigkeit und Rhythmus, wie sie in der Einleitung zu dem Sammelband „Language in Time“ formuliert sind: „[G]estalt psychology and subsequent research on perceptual thresholds for time and rhythm perception […] suggest a cautious interpretation of instrumental measurements as the basis for an interactionally oriented interpretive approach to the meaning and function of rhythm. […] what is called for is a combined auditory-perceptual and instrumental approach“ (Auer et al. 1999: 14). In philosophischer Hinsicht spielt Zeit in erster Linie im Rahmen von erkenntnistheoretischen oder phänomenologischen Überlegungen eine Rolle. Kant (KrV B50/ A34) hat die Zeit als „formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt“ angesehen: „alle Erscheinungen überhaupt, d. i. alle Gegenstände der Sinne, sind in der Zeit, und stehen notwendigerweise in Verhältnissen der Zeit.“ Im Unterschied zum Raum als reine Form der „äußeren Anschauung“ versteht Kant die Zeit als formale Bedingung eines „inneren Sinns“: alles, was dem Menschen zur Anschauung kommt, wird in Verhältnissen der Zeit vorgestellt. Es gibt im Unterschied zur äußeren Anschauung kein menschliches Sinnesor- <?page no="62"?> 3 Kulturelle, wissenschaftliche und symbolische Konstruktion der Zeit 52 gan, das Zeit selbst wahrnehmen kann. Dieses a priori müsste eigentlich auch für sprachwissenschaftliche Untersuchungen gelten: Sobald uns Sprache in der Materialität des Sprechens als etwas Hörbares begegnet, ist auch die Zeitlichkeit des Sprachlichen evident: Sprechen heißt Zeit verbrauchen, Sprechereignisse sind prozesshaft: Sie haben einen Anfang, eine Dauer und ein Ende, und sie sind irreversibel, was immer man auch sagen und (noch) hinzufügen mag. (Hausendorf 2009: 193; Hervorhebung im Original) Es scheinen ganz grundsätzliche Zweifel angebracht, ob Reihenfolgebeziehungen in der Sprache überhaupt noch analysiert werden sollten, ohne die eindimensionale lineare Erstreckung in der Zeit dabei zu berücksichtigen. Jeder Versuch, das ent-zeitlichte Konzept von Grammatik aus der Schriftlichkeit auf die gesprochene Sprache zu übertragen, ist zum Scheitern verurteilt. Das wirtschaftliche Motto, das Zeit Geld ist, liefert gleich zwei Parallelen für die Analyse interaktionaler Daten: Zum einen wird deutlich, dass auch in Gesprächen Zeit eine begrenzte Ressource darstellt, die ökonomisch von den Beteiligten genutzt und verwaltet werden muss (zur Konzeptualisierung der sprachlichen Strukturmetapher „Zeit als Ressource“ in westlichen Industriegesellschaften siehe auch Lakoff & Johnson (2003) Kapitel 9 und 13), zum anderen ist die time-is-money-Philosophie ein kulturelles Konstrukt, das sich im Laufe der Zeit entwickelt hat und durchaus nicht in allen Kulturgemeinschaften vorzufinden ist. Sprach- und kulturvergleichende Untersuchungen hätten zu zeigen, wie sich das Zeitmanagement durch die InteraktionsteilnehmerInnen abhängig von der Teilnehmerkonstellation und kulturellen Identität unterscheidet (vgl. etwa die Ergebnisse der vergleichenden Untersuchung zu Pausen und Pausenlänge (Local & Kelly 1986)). Für die Psychologie ist die objektiv messbare Zeit nur ein Mittel, um den eigentlichen Untersuchungsgegenstand, das Zeitempfinden, naturwissenschaftlich erklären zu können. Im Mittelpunkt des Interesses steht dabei, ob Tieren und Menschen ein Zeitsinn angelernt wurde, oder ob er angeboren ist, und natürlich, wie er funktioniert. Verhaltenspsychologie und kognitive Psychologie kommen zu durchaus verschiedenen Ergebnissen. Für PsychologInnen sind die verschiedenen Zeitabschnitte mindestens so relevant, wie für die TeilnehmerInnen eines Gesprächs: Die Techniken zur Aufarbeitung der Vergangenheit unterscheiden sich ganz erheblich vom Planen der Zukunft und dem Managen des gegenwärtigen Augenblicks. Hier drückt sich auf beiden Feldern die grundsätzliche Asymmetrie zeitlicher Verlaufsstrukturen aus (siehe etwa die Beiträge zum Symposion in Freiburg 2012 zu „Left/ Right-Asymmetries in Conversational Language“). Sozialpsychologische und soziologische Studien haben sich insbesondere neuzeitlichen Konzepten wie „Zeitverschwendung“ und „Freizeit“ bzw. „Zeitnot“ und dem generellen „Rhythmus“ einer Gesellschaft gewidmet. Die Soziologie der Zeit beschäftigt sich mit den gesellschaftlichen Aspekten der Zeit. Diese soziale Zeit ist in verschiedenen Gesellschaften <?page no="63"?> 3.5 Zusammenfassung und Diskussion 53 recht unterschiedlich. Das Untersuchungsgebiet ist eng verzahnt mit individueller Zeitwahrnehmung, auch wenn letztere eher ins Feld der Kognitionspsychologie fällt. Was die Sprachwissenschaft betrifft, wird die Diskussion um die sprachliche Relativität heute bei weitem nicht mehr so hitzig geführt wie noch vor Jahren. Stattdessen gehen viele Autoren inzwischen vom Prinzip der Effabilität (Katz 1978) aus, wonach in einer natürlichen Sprache alles ausgedrückt werden kann, was vom Menschen auch gedacht werden kann. Die Frage, ob alle Sprachen dasselbe ausdrücken können, ist inzwischen der wesentlich interessanteren Feststellung gewichen, dass in jeder Sprache verschiedene Dinge ausgedrückt werden müssen: „Thus the true difference between languages is not in what may or may not be expressed but in what must or must not be conveyed by the speakers.“ (Jakobson 1971: 492) Der Bereich Tempus, Modus, Aspekt und Aktionsart hat mit dem echtzeitlichen Verlauf sprachlicher Handlungen nur wenig zu tun, da es sich bereits um die symbolische Repräsentation von zeitlichen Verhältnissen handelt. Aus einer linguistischen Perspektive lässt sich sagen, „Gegenstand der Zeit-Linguistik sind sprachliche Bezeichnungen für zeitliche Konzepte und Relationen.“ (Vater 2007: 1) Es handelt sich dabei um semantisch enkodierte Relationen von zeitlichen Abfolgen, oder kurz gesagt, um sprachliche Verfahren, die Zeit in die Sprache zu bringen. Statt der Frage, wie sich Ereignisfolgen sprachlich abbilden lassen, kommt beim Sprechen in einer dialogischen Äußerungssituation jedoch ein ganz anderer Aspekt ins Spiel: Wie nämlich der zeitliche Verlauf einer sprachlichen Handlung mit ihrem inkrementellen Strukturaufbau in Wechselwirkung tritt und welche sprachlichen Mittel erst mit Rücksicht auf die durch die Zeit bedingten Aspekte der Flüchtigkeit, Synchronizität und Irreversibilität angemessen verstanden werden können (vgl. Kapitel 5.4). <?page no="65"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen Zwei Aufgaben liegen unbewältigt, ja in voller Klarheit kaum je gesehen, am Eingang der Sprachtheorie; […] Die erste ist: den vollen Gehalt und Charakter der spezifisch linguistischen Beobachtung zu bestimmen, und die zweite: die höchsten regulativen Forschungsideen, welche die eigenartigen sprachwissenschaftlichen Induktionen leiten und beseelen, systematisch aufzuzeigen. - Karl Bühler, Sprachtheorie §1. Idee und Plan der Axiomatik (1934/ 1999: 12) Das folgende Kapitel widmen sich ausgewählten Arbeiten, in denen Zeitlichkeit für die Beschreibung und Analyse von Sprache nicht nur auf die ein oder andere Weise berücksichtigt wird, sondern die vor allem in der aktuellen Diskussion immer wieder als Autoritäten angeführt werden, wenn es darum geht, Temporalität und Linearität in moderne Grammatik- und Syntax-Modelle zu inkorporieren. So weit gehen die Autoren in Kapitel 4 jedoch selten, und das unterscheidet sie daher auch von den Arbeiten in Kapitel 5, für die Zeitlichkeit und Prozesshaftigkeit zu einem wesentlichen Faktor der linguistischen Modellbildung werden und die sich dabei nicht auf Einzelaspekte beschränken, sondern ganze Grammatiktheorien daraus ableiten. 4.1 „Le caractère linéaire du signifiant“ (Ferdinand de Saussure) Ferdinand de Saussure widmet sich der Natur der sprachlichen Zeichen in den „Allgemeinen Grundlagen“ des Cours de linguistique générale (CLG). 42 Saussure 1916/ 2001: 79ff. Nach terminologischen Vorüberlegungen - bzw. der Einführung der Begriffe signifié und signifiant - stellt er zwei Grundsätze über die Natur des sprachlichen Zeichens auf: (a) es ist beliebig und (b) es hat eine lineare Ausdehnung in der Zeit ( ). Bemerkenswert sind die prominente Stelle, an der der lineare Charakter des Zeichens eingeführt wird, und die Vehemenz, mit der auf die Tragweite dieser Erkenntnis hingewiesen wird. 42 Saussure hat die Vorlesung zur allgemeinen Sprachwissenschaft zwar dreimal in Genf gehalten, die Buchfassung des Cours de linguistique générale ist jedoch nicht von ihm selbst verfasst oder publiziert worden, sondern basiert auf Vorlesungsmitschriften der Studenten die postum kompiliert und publiziert wurden. Zu einer genauen Entstehungsgeschichte und kritischen Rekonstruktion der Saussure’schen Dichotomien siehe Jäger (1975), für biographische Details siehe Jäger (2010). <?page no="66"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 56 Le signifiant, étant de nature auditive, se déroule dans le temps seul et a les caractères qu’il emprunte au temps: a) il représente une étendue, et b) cette étendue est mesurable dans une seule dimension: c’est une ligne. Ce principe est évident, mails il semble qu’on ait toujours négligée de l’énoncer, sans doute parce qu’on l’a trouvé trop simple; cependant il est fondamental et les conséquences en sont incalculable; son importance est égale à celle de la première loi. Tout le mécanisme de la langue en dépend […]. (Saussure 1916/ 2005: 103, "Second principe; caractère linéaire du signifiant"; Hervorhebung im Original) Auf den ersten Blick sieht es so aus, als wäre mit Saussure ein prominenter Mitstreiter für eine realitätsnahe, inkrementelle Syntaxtheorie gewonnen. Aber an welchen Stellen taucht die Linearität und/ oder Zeitlichkeit im Cours tatsächlich wieder auf und welche Implikaturen hat „das zweite Prinzip“ für seine Konzeption von Sprachbeschreibung? 4.1.1 Ent-zeitlichung des Saussure’schen Zeichens durch die Konzentration auf den (abstrakten) sprachlichen Wert Als Saussure Linearität als zweites Prinzip des sprachlichen Zeichens aufstellt, verweist er zwar direkt auf die Bedeutung dieses Prinzips für den „Mechanismus der Sprache“, relevant wird es jedoch schon früher, wenn er der Frage nachgeht, was eigentlich die „[k]onkreten Tatsachen der Sprache“ (vgl. CLG, Synchronische Sprachwissenschaft, Kap. II) sind. Denn bei den vermeintlich unvermittelt zugänglichen sprachlichen Einheiten wie Laut, Silbe, Wort, Satz und Gedanke handelt es sich tatsächlich um wissenschaftliche Konstrukte. Im Gegensatz zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen wie z. B. der Zoologie (Tiere) oder Astronomie (Sterne) muss die Sprachwissenschaft ihren Gegenstand immer erst hervorbringen - dazu muss sie Einheiten aus einer Kette durch Segmentieren gewinnen, wobei eine „richtige Abgrenzung verlangt, daß die Einteilung auf der akustischen Kette (α, β, γ, …) denjenigen auf der Kette der Vorstellungen (α’, β’, γ ’, …) entspricht“ (Saussure 1916/ 2001: 124). Als Einheit betrachtet wird dabei „eine Lautfolge, welche mit Ausschluß des in der gesprochenen Reihe Vorausgehenden und Darauffolgenden das Bezeichnende für eine gewisse Vorstellung ist.“ (Saussure 1916/ 2001: 124, Hervorhebung im Original) Diese so gewonnenen Einheiten werden nun weiter charakterisiert. In einem seiner berühmten Gleichnisse fragt Saussure, ob es sich bei den Wörtern eher um etwas wie ein Kleidungsstück handelt, das man verloren hat, um wenig später das identische ebenselbige Kleidungsstück wiederzufinden, oder um einen Zug, den man jeden Morgen nimmt, wobei dieser gleiche Zug eben bis auf die Tatsache, dass er von A nach B fährt nichts gleiches (Passagiere, Schaffner, Zug) haben muss. Oder in der Begrifflichkeit der Peirce’schen Semiotik gesagt, sind diese Einheiten ‚token‘ oder ‚type‘ (vgl. Peirce 1906/ 1933: 503ff.)? Bekanntlich fiel die Wahl auf ‚type‘. <?page no="67"?> 4.1 „Le caractère linéaire du signifiant“ (Ferdinand de Saussure) 57 Als Nächstes wird gefragt, welche konkreten oder abstrakten Elemente eine synchronische Realität haben. Das Problem ist, „daß die konkreten Tatsachen der Sprache sich nicht von selbst unserer Beobachtung darbieten.“ Da es „keine sprachlichen Tatsachen gibt, die unabhängig sind von einer lautlichen Masse, die in Bedeutungselemente abgeteilt ist“ (Saussure 1916/ 2001: 131), kommen zu den Unsicherheiten beim Segmentieren nun noch erhebliche Unwägbarkeiten beim Klassifizieren der so gewonnenen Einheiten hinzu. Als Letztes wird nach dem sprachlichen Wert der Einheit gefragt. Der Wert eines sprachlichen Zeichens kann nicht unabhängig von seiner Stellung im System ermittelt werden. Obwohl die Konzepte sprachliche Einheit, Wert, Realität, konkrete Tatsache und Geltung untrennbar miteinander verbunden sind und es attraktiv scheint, ausgehend von den sprachlichen Einheiten zu einem umfassenden Klassifikationssystem zu kommen, hält Saussure es für besser, „das Problem von der Seite des Wertes aus anzupacken“ (Saussure 1916/ 2001: 132). Allerdings wendet er selbst ein, dass es wünschenswert wäre, von den Einheiten auszugehen. Der Kern der strukturalistischen Ideologie drückt sich jedoch in dem Begriff valeur (frz. „Wert“) aus, da „die Sprache nichts anderes als ein System von bloßen Werten ist […]“ (Saussure 1916/ 2001: 132). An dieser Stelle wird auch noch einmal begründet, warum Saussure vom Begriff Wert und nicht von der Einheit ausgeht, weil damit „der grundlegende Gesichtspunkt gegeben ist.“ (Saussure 1916/ 2001: 132) [D]er so bestimmte Begriff des Wertes [zeigt uns], daß es ganz irrig wäre, ein Glied schlechthin als die Einigung eines gewissen Lautes mit einer gewissen Vorstellung zu betrachten. Eine solche Definition würde bedeuten, daß man es von dem System, von dem es ein Teil ist, abtrennt und vereinzelt; würde bedeuten, daß man mit den Gliedern beginnen und durch ihre Summierung das System konstruieren kann, während man im Gegenteil von dem in sich zusammenhängenden Ganzen ausgehen muß, um durch Analyse die Bestandteile zu gewinnen, die es einschließt. (Saussure 1916/ 2001: 135) In einer der berühmtesten Illustrationen in der Geschichte der Sprachwissenschaft wird die assoziative Verbindung der beiden Seiten des sprachlichen Zeichens dargestellt. Da Sprache aber keine Nomenklatur ist, ergibt sich die eigentliche Bedeutung des Zeichens aus seinem Wert im System, „dessen Glieder sich alle gegenseitig bedingen und in dem Geltung und Wert des einen nur aus dem gleichzeitigen Vorhandensein des andern sich ergeben“ (Saussure 1916/ 2001: 136f.): <?page no="68"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 58 Abbildung 2: „La valeur linguistique considérée dans son aspect conceptuel“ (vgl. Saussure 1916/ 2005: 58-62) Das Bild erweckt den Eindruck, es handle sich um eine Kette. Es ist aber vielmehr ein Feld (oder ein Raum). Die vermeintliche Linie, auf der die Zeichen wie auf einer Perlenkette aufgereiht sind, ist also keine Zeitachse. Am ehesten könnte sie stellvertretend für ein eindimensionales Wortfeld (Monatsnamen, Farben) stehen. Durch die Konzeptualisierung des sprachlichen Zeichens als Form und nicht als Substanz gehen die echtzeitlichen Aspekte des Sprachgebrauchs zugunsten einer abstrakten Kombinatorik auf der Ebene des Sprachsystems verloren. Trotzdem ist die lineare Aneinanderreihung eine charakteristische Besonderheit des Zeichensystems „Sprache“. Andere Zeichensysteme (Verkehrszeichen, Mimik) enthalten kaum syntagmatische Oppositionen und entwickeln dementsprechend kaum lineare Syntagmen. Nichtsprachliche Zeichensysteme kombinieren Zeichen in der Regel gleichzeitig im Raum (z. B. Parkverbotszeichen mit Bereichs- oder Zeitangabe) nicht als Nacheinander in der Zeit. Später wurden von Roman Jakobson „die beiden Prinzipien von Syntagma und Paradigma zu den wichtigsten Operationen der Sprache und der poetischen Kommunikation generalisiert.“ (Krampen 1981: 121) 4.1.2 Ent-zeitlichung des Saussure’schen Zeichens durch die Konzentration auf la langue und l’écriture Während für Saussure die „konkreten Tatsachen“ die sprachlichen types sind und der „eigentliche Gegenstand“ die langue, ist es theoretisch durchaus denkbar, sich eine Sprachwissenschaft des Sprechens (linguistique de la parole) vorzustellen. Streng genommen, kann man jeder dieser beiden Disziplinen den Namen „Sprachwissenschaft“ belassen, also auch von einer Sprachwissenschaft des Sprechens reden. Aber man darf diese nicht mit der Sprachwissenschaft schlechthin zusammenwerfen, derjenigen, deren einziges Objekt die Sprache ist. (Saussure 1916/ 2001: 23f.) Deutsche Übersetzungen des französischen Originals sind notorisch schwierig, da der vorwissenschaftliche Begriff „Sprache“, der Saussure (1916/ 2001: 10) als „wirrer Haufen verschiedenartiger Dinge“ erscheint, auch als Begriff in seiner wissenschaftlichen Trichotomie auftaucht: la langue/ die Sprache bezeichnet das historisch und sozial bestimmte System von Sprachkonventionen einer Sprachgemeinschaft, le langage bezeichnet die der Spe- <?page no="69"?> 4.1 „Le caractère linéaire du signifiant“ (Ferdinand de Saussure) 59 zies Mensch eigentümliche Sprechfähigkeit und la parole/ das Sprechen ist die Instanziierung der Fähigkeit (langage) nach den Konventionen der Sprachgemeinschaft (langue). Allerdings sind diese beiden Objekte [Sprache und Sprechen, BS] eng miteinander verbunden und bedingen sich gegenseitig. Die Sprache ist erforderlich, damit das Sprechen verständlich sei und seinen Zweck erfülle. Das Sprechen aber ist erforderlich, damit die Sprache sich bilde; historisch betrachtet, ist das Sprechen das zuerst gegebene Faktum. (Saussure 1916/ 2001: 22) Dabei ist zu beachten, dass Saussures hypothetische linguistique de la parole und die moderne Gesprächslinguistik nicht das Gleiche sind. Denn auch für den/ die GesprächsforscherIn besteht die parole nur aus Daten, welche die empirische Ausgangsbasis für weitere qualitative oder quantitative Analysen bilden, die letzten Endes aber immer zu Aussagen führen sollen, die über den Einzelfall hinausgehen. Denn je größer die Generalisierbarkeit, desto größer der Erkenntnisgewinn. De singularibus non est sciencia hat auch und gerade für durch Empirie gewonnene „Gesetze“ seine Gültigkeit. Auch der Gesprächslinguistik geht es nicht um den Einzelfall an sich, sondern darum, welche dahinterliegenden Strukturen sich im Einzelfall materialisieren. 43 Saussure 1916/ 2001: 27f. Saussure hat daraus seine eigenen Konsequenzen gezogen und die Geschichte der Sprachwissenschaft für die nächsten Jahrzehnte geprägt: „Der konkrete Gegenstand unserer Wissenschaft ist also das im Gehirn eines jeden Einzelnen niedergelegte soziale Produkt, d. h. die Sprache.“ ( ) Für Saussure realisiert sich also im Sprechen nur das Sprachsystem, so dass (i) die Untersuchung des einen wie des anderen keinen Unterschied macht (bzw. machen dürfte) und (ii) beide Forschungsgegenstände gleichermaßen zugänglich sind - einmal als Grammatik im Gehirn jeden Sprechers und einmal als beobachtbare Interaktion. Beide Annahmen werden heute von vielerlei Seiten in Frage gestellt, da sie auf weitreichende Idealisierungen zurückgreifen (vgl. etwa Hoppers Emergent Grammar in Kapitel 4.7 oder die leitenden Prinzipien der interaktionalen Linguistik in Kapitel 2.3). Das Interesse daran, was da „im Gehirn eines jeden Einzelnen“ abgelegt ist, ist trotzdem ungebrochen. Der Irrtum, in dem Saussure sich befand, liegt einfach darin, dass „die Sprache“ dem Wissenschaftler ohne Umwege, unvermittelt und direkt zugänglich sei. Denn als Mitglied der Sprachgemeinschaft müsste ja auch der/ die WissenschaftlerIn Zugang zu einer persönlichen „Kopie“ des Sprachsystems in seinem/ ihrem Gehirn haben. Ob diese Form der 43 Vgl. zur linguistischen Gegenstandskonstitution aus medientheoretischer Perspektive auch Schneider (2008: 5): „Die ‚Eliminierung des Sprachsystems kann nicht die richtige Antwort auf das Scheitern des chomskyschen ‚Mentalismus‘ sein, sondern es muss darum gehen, den Begriff der Langue und, damit zusammenhängend, den der Sprachkompetenz zu modifizieren. Die Langue geht der Parole weder logisch noch genealogisch voraus; vielmehr haben wir es hier mit einem dialektischen Verhältnis von Schema und Einzelereignis, von Regel und Anwendung, zu tun.“ <?page no="70"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 60 „Selbstexploration als seriöse wissenschaftliche Methode zugelassen werden kann“ (Ernst 2001: 331) und ob eine solche „reine“ Wissenschaft - also ohne Rekurs auf Sprechhandlungen in tatsächlichen Äußerungssituationen - am Ende zu angemessenen Sprachbeschreibungen führen kann, scheint inzwischen fraglich. Zumindest über die Deformierung der Ergebnisse, solange diese sich ausschließlich auf schriftliche Zeugnisse stützen, war Saussure sich bewusst (vgl. zum written language bias auch Kapitel 4.8.1 und Linell (2005)): Sprache und Schrift sind zwei verschiedene Systeme von Zeichen; das letztere besteht nur zu dem Zweck, um das erstere darzustellen. Nicht die Verknüpfung von geschriebenem und gesprochenem Wort ist Gegenstand der Sprachwissenschaft, sondern das letztere, das gesprochene Wort allein ist ihr Objekt. Aber das geschriebene Wort ist so eng mit dem gesprochenen, dessen Bild es ist, verbunden, daß es mehr und mehr die Hauptrolle für sich in Anspruch nimmt. Man gelangt schließlich dazu, der Darstellung des gesprochenen Zeichens ebensoviel oder mehr Wichtigkeit beizumessen als diesem Zeichen selbst. Es ist so, als ob man glaubte, um jemanden zu kennen, sei es besser, seine Photographie als sein Gesicht anzusehen. (Saussure 1916/ 2001: 28) Alle seine wissenschaftstheoretischen und methodologischen Aussagen lassen sich jedoch nur vor seinem übergeordneten Erkenntnisinteresse richtig verstehen: Allein das gesprochene Wort - als type - ist das Objekt einer Sprachwissenschaft des Sprechens. Es geht ihm bei der Untersuchung von Sprache immer um die „entités abstraites“, die zwar „reposent toujours, en dernière analyse, sur les entités concrètes“, aber durch ‚grammatische Abstraktion‘ gewonnen werden können. Der Linguist hat laut Saussure gegenüber dem Sprechenden einen überlegenen Zugang zu diesen ‚abstrakten Entitäten‘ bzw. „leur étude est difficile, parce qu’on ne peut savoir exactement si la conscience des sujets parlant va toujours aussi loin que les analyses du grammairien“ (vgl. auch Saussure 1916/ 2001: 164, Saussure 1916/ 2005: 190; Hervorhebung im Original (die deutsche Übersetzung ist leider mangelhaft)). Dabei über den Umweg des Verfahrens der Verschriftung zu gehen, ist legitim und seiner Meinung nach bis zu einem gewissen Grad unabkömmlich, wenn man sich „dessen Nutzen, Fehler und Gefahren“ (Saussure 1916/ 2001: 28) bewusst ist. 4.1.3 Ent-linearisierung des Saussure’schen Sprachbegriffs durch den geringen Stellenwert der ‚unmotivierten Anreihungsbeziehung‘ (Syntax) innerhalb einer Beschreibung der langue Schon bei der Einführung der Linearität als zweitem Grundsatz wird gesagt „er ist ebenso wichtig wie das erste Gesetz [Arbitrarität, BS]. Der ganze Mechanismus der Sprache hängt davon ab“ (Saussure 1916/ 2001: 82). Nach der Klarstellung, was die Aufgabe einer syn- <?page no="71"?> 4.1 „Le caractère linéaire du signifiant“ (Ferdinand de Saussure) 61 chronischen Sprachwissenschaft ist, und der Einführung der wichtigen Begriffe „sprachliches Zeichen“, „sprachlicher Wert“, „Struktur“ etc. ergibt sich, dass der so verstandene Untersuchungsgegenstand langue ein System von Abhängigkeiten darstellt, und daher „beruht denn bei einem Sprachzustand alles auf Beziehungen.“ (Saussure 1916/ 2001: 147) Je nach Orientierung lassen sich „syntagmatische Abhängigkeitsverhältnisse“ von paradigmatischen „Gruppen, die durch Assoziation im Geist gebildet sind“ (Saussure 1916/ 2001: 150) unterscheiden. Die Beziehungen und die Verschiedenheiten zwischen sprachlichen Gliedern gehen in zwei verschiedenen Sphären vor sich, deren jede eine bestimmte Art von Werten hervorbringt […]. Einerseits gehen die Worte infolge ihrer Verkettung beim Ablauf irgendwelcher Aussagen Beziehungen unter sich ein, die auf dem linearen Charakter der Sprache beruhen, der es unmöglich macht, zwei Elemente zu gleicher Zeit auszusprechen […]. Andererseits aber assoziieren sich außerhalb des gesprochenen Satzes die Wörter, die irgend etwas unter sich gemein haben, im Gedächtnis, und so bilden sich Gruppen, innerhalb deren sehr verschiedene Beziehungen herrschen. (Saussure 1916/ 2001: 147) Jede sprachliche Einheit steht also im Schnittpunkt zweier Achsen: einerseits steht sie vor und hinter anderen sprachlichen Einheiten, zu denen sie in einer syntagmatischer Relation steht, anderseits steht sie in virtueller Beziehung mit der Austauschklasse aller sprachlichen Einheiten, die alternativ ihren Platz in der Kette einnehmen könnten. Diese Achsen repräsentieren die beiden fundamentalen Operationen der Sprechtätigkeit: die Selektion und Kombination. Jede Einheit wird gemäß ihren paradigmatischen Relationen selegiert und gemäß ihren syntagmatischen Relationen hin kombiniert. Die paradigmatischen Relationen bestehen in absentia und bilden Klassen, die syntagmatischen Relationen bestehen in praesentia und bilden Konstruktionen. Wie steht es nun um die Relevanz von Linearität und Prozessualität im Saussure’schen Sprachverständnis? Fassen wir noch einmal zusammen: Saussure stellt fest, dass die eine Hälfte seines bilateralen sprachlichen Zeichens „ausschließlich in der Zeit [verläuft]“ und „Eigenschaften [hat], die von der Zeit bestimmt sind“ (Saussure 1916/ 2001: 82). Das Thema Linearität taucht im Cours dann an mehreren Stellen wieder auf. Zum einen im Kapitel darüber, was eigentlich Gegenstand der (synchronen) Sprachwissenschaft ist (die Verbindung von Vorstellung und Lautbild) und wie diese Segmente in einer ‚grenzenlosen‘ Kette von Lauten aufgefunden und identifiziert werden können. Zum anderen im Kapitel über den sprachlichen Wert, der sich aus den syntagmatischen und assoziativen Beziehungen eines Zeichens ergibt. Genau hier stoßen jedoch die schon vorher getroffenen Grundsatzentscheidungen aufeinander: Die Festlegung der Sprachwissenschaft auf die langue und die Arbitrarität des Zeichens als konstitutivem Faktor. Im Zusammenhang mit der <?page no="72"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 62 „Anreihungsbeziehung“ stellt sich die prinzipielle Frage, inwieweit Sprachwissenschaft eine Wissenschaft der Zeichen oder eine Wissenschaft der Zeichenkombinatorik ist: Man könnte hier einen Einwand machen. Der Satz ist der Haupttypus der Anreihung, aber er gehört dem Sprechen an und nicht der Sprache […]; folgt daraus nicht, daß das Syntagma dem Sprechen angehört? Ich denke nicht. Die Besonderheit des Sprechens ist die Freiheit der Zusammenstellungen; man muß sich also fragen, ob alle Anreihungen gleichermaßen frei sind. (Saussure 1916/ 2001: 148f.) Das heißt, eine Untersuchung der durch das sprachliche Kompositionalitätsprinzip gebildeten Sätze ist für die Beschreibung der langue irrelevant. Einzig und allein die Tatsache, dass der oberste Grundsatz der Arbitrarität des Zeichens nicht absolut ist, sondern dass es eine „völlige und relative Beliebigkeit“ gibt, rechtfertigt die Beschäftigung mit größeren Syntagmen, die über Einzelwörter hinausgehen. Damit werden Phraseologismen und feste Redewendungen Teil der Beschreibung, denn „[s]olche Wendungen kann man nicht improvisieren, sie sind durch die Tradition dargeboten.“ (Saussure 1916/ 2001: 149) Bei dieser problematischen, aber folgenreichen Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes taucht neben lexikalischen Einheiten und grammatischen Regeln ihrer Kombinatorik auch ein aus neuester Sicht erstaunlich modern wirkendes Konzept auf: im Gedächtnis abgelegte syntaktische Muster, um nicht zu sagen patterns (vgl. Kapitel 5.3 zur „pattern grammar“ von Francis und Hunston). Aber das ist nicht alles; der Sprache und nicht dem Sprechen sind alle diejenigen Anreihungen zuzuerkennen, die nach feststehenden Regeln gebildet sind. Denn da es in der Sprache nichts Abstraktes gibt, so existieren diese Typen in der Tat nur, wenn die Sprache eine genügende Anzahl von Beispielen davon aufgespeichert hat. Wenn ein Wort wie indécorable […] im Sprechen auftaucht […], so setzt es einen bestimmten Typus voraus, und dieser ist seinerseits nur möglich durch die Erinnerung an eine hinreichend große Anzahl von ähnlichen Wörtern, die der Sprache angehören (impardonnable, intolérable, infatigable usw.). Ebenso ist es mit Sätzen und Wortgruppen, die auf regelmäßigen Mustern beruhen; Verbindungen wie: die Erde dreht sich; was hat er zu dir gesagt? entsprechen allgemeinen Typen, die in der Sprache ihrerseits durch konkrete Erinnerungen gestützt sind. (Saussure 1916/ 2001: 149) Über den Umweg von Wortbildungsmustern und halbschematischen Konstruktionen finden also auch Frequenzphänomene Eingang in die Saussure’sche Sprachbeschreibung, auch wenn es von hier noch ein weiter Weg bis zu kognitiv-funktionalistischen Sprachtheorien ist, für die statistische und distributionelle Faktoren selbstverständlich in Sprachstrukturen eingehen, weil davon ausgegangen wird, dass „[g]rammars code best what speakers do most“ (Du Bois 1985: 363). Da sich die Grenze zwischen Sprache und Sprechen hier unmöglich bestimmen lässt und Faktoren des „allgemeinen Gebrauchs“ und solche der „in- <?page no="73"?> 4.2 „Ergon“ und „Enérgeia“ (Wilhelm von Humboldt) 63 dividuellen Freiheit“ hier untrennbar miteinander verwoben sind, sind sie für eine strukturalistische Sprachbeschreibung nicht weiter von Interesse. Das hat sich mit dem Aufkommen der Konstruktionsgrammatik und dem Aufgeben der Unterscheidung von kern- und randgrammatischen Phänomenen dramatisch geändert. 4.1.4 Fazit Obwohl Zeitlichkeit und Linearität in Saussures System vorkommen, ist es im Nachhinein doch verwunderlich, warum der zeitliche Charakter so herausgestrichen wurde (vgl. Günthner & Hopper 2010). Denn eigentlich ist Zeit nur konstitutiv für die ‚parole‘. Die ‚parole‘ steht aber im Cours gleich in mehrfacher Hinsicht als Verlierer da. Zum einen ist sie nicht der eigentliche Gegenstand der (strukturalistischen) Sprachwissenschaft und verliert gegenüber der ‚langue‘. Zum anderen arbeitet die so verstandene Sprachwissenschaft „auf dem Grenzgebiet, wo Elemente von zweierlei Natur sich verbinden; diese Verbindung schafft eine Form, keine Substanz.“ (Saussure 1916/ 2001: 134) Es ist nicht ganz klar, was bei diesem Abstraktionsprozess mit dem „Verlauf in der Zeit“ passiert und wie man sich „Zeit“ in diesem Zusammenhang vorzustellen hat. Die Folgen davon, dass Saussure zwar die Wichtigkeit des linearen Charakters der Sprache herausgestrichen hat, ohne diese „unabsehbaren Konsequenzen“ tatsächlich auszuführen, kann man z. B. darin sehen, dass in der Einführung in die Linguistik von Linke et al. (2004: 33) im Kapitel Semiotik der zweite Grundsatz und die Linearität gar nicht mehr erwähnt werden: Das bilaterale sprachliche Zeichen ist dort nur noch arbiträr, konventionell und assoziativ. 4.2 „Ergon“ und „Enérgeia“ (Wilhelm von Humboldt) ποταμοῖσι τοῖσιν αὐτοῖσιν ἐμβαίνουσιν, ἕτερα καὶ ἕτερα ὕδατα ἐπιρρεῖ. 44 - Heraklit, Fragmente B12 Wilhelm von Humboldt hat zahlreiche Schriften zum Thema Sprache und Sprachphilosophie verfasst. Seine Definition von Sprache als Tätigkeit (gr. ενέργεια), der gegenüber Grammatiken und Wörterbücher bloß noch wie ihr „todtes Gerippe“ aussehen, ist berühmt und wird von den verschiedensten Autoren als Argument für die Opposition zwischen prozesshafter Interaktion und produkthafter Textgestalt immer wieder angeführt (Bühler 1934/ 1999, Linell 2005, Weber 2010). Mit der Referenz auf diese Begriffe, die in 44 Gr. potamoisi toisin autoisin embainousin, hetera kai hetera hudata epirrei „Immer neues Wasser umfließt jene, welche in denselben Fluss steigen“. <?page no="74"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 64 der Regel aus dem Zusammenhang gerissen werden und „die, für sich genommen, zu einer beträchtlichen Verkürzung der humboldtschen Sprachauffassung geführt [haben]“ (Di Cesare 1996: 284), tut man Humboldt jedoch mitunter erhebliche Gewalt an. Die großen Themen seiner Zeit waren nämlich andere (Borsche 1997, Ruprecht 1963) und seine Kritik an falschen Sprachauffassungen lässt sich nicht immer auf den aktuellen Wissenschaftsdiskurs übertragen, ohne Humboldt dabei für die eigenen Zwecke zu missbrauchen. 45 Aus wissenschaftshistorischer Sicht ist Humboldt in ein aufregendes Zeitalter hineingeboren worden, denn besonders seine späten Jahre waren geprägt von einschneidenden Entwicklungen auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft: Der Entdeckung des indogermanischen Sprachzusammenhangs durch die Rekonstruktion des Sanskrit durch William Jones und Franz Bopp, der Anfänge der germanischen und nordischen Philologie durch Rasmus Christian Rask und Jacob Grimm, der Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen durch Champollion usw. Ein großes Thema seiner Zeit ist jedoch die Frage nach dem Ursprung der Sprache: Nach Leibniz, Herder und Fichte mischt sich Humboldt 1795 mit seinen Thesen „Über Denken und Sprechen“, seinem ersten eigenständigen Beitrag zur Sprachphilosophie, in die Debatte ein. Sprache wird in ihrer Funktion für das Denken begriffen und ist für Humboldt (im Gegensatz zu Fichte) kein beliebiges Zeichensystem, sondern nur als Tonsprache denkbar. Humboldts (1988: 242f.) vertiefte Beschäftigung mit den „Mundarten wilder Nationen“ und den „sogenannten rohen und barbarischen“ Sprachen - vor allem dem Baskischen und amerikanischen Indianersprachen - lässt sein Sprachenbild reifen und setzt ihn insbesondere von den zeitgenössischen (historisch)-vergleichenden Sprachwissenschaften ab. Die Folgen dieser Auseinandersetzung sind zum einen Humboldts synchronische Sicht auf Sprache und zum anderen die Auffassung von Sprache als „Natur“ des menschlichen Geistes. Er empfiehlt der Berliner Akademie der Wissenschaften in seinem Vortrag „Über das vergleichende Sprachstudium“ (Humboldt 1988), die Sprachen nicht aneinander zu messen, sondern als gleichwertig anzusehen. Jede Sprache drückt dabei ihre eigentümliche Weltansicht aus. Sprache wird auf diese Weise zum gestaltenden Element des „Nationalcharakters“. Interessanterweise stand also die romantische Idee eines Zusammenhangs zwischen Sprache und Volksgeist am Anfang einer allgemein-vergleichenden Sprachwissenschaft, die Sprachtheorie und evolutive Sprachtypologie auf eine empirische Basis stellte. Da sich aber schon zu Lebzeiten Humboldts transzendentalphilosophische Reflexion und 45 Ein Beispiel für eine eigenwillige Humboldt-Adaptation inklusive der missbräuchlichen Verwendung der Begriffe érgon und enérgeia wäre Weisgerbers (1973) „inhaltsbezogene Grammatik“ und die Vereinnahmung durch Chomsky (1966) als Vorkämpfer einer „generativen“ Sprachauffassung. Für einen authentischen Umgang mit Humboldts Gedankengut und als Beispiel für den Versuch, mit Humboldt der gegenwärtigen linguistischen und sprachtypologischen Forschung neue Impulse zu verleihen, vgl. Borsche (1981), Greenberg (1974), Trabant (1998). <?page no="75"?> 4.2 „Ergon“ und „Enérgeia“ (Wilhelm von Humboldt) 65 empirische Sprachforschung voneinander weg bewegten und nicht als Teil einer großangelegten Anthropologie im Sinne Humboldts aufeinander zu, wurde das Projekt einer allgemeinen-vergleichenden Sprachwissenschaft nach Humboldts Tod mehr oder weniger eingestellt. Der unterschwellige Nationalismus, die subjektiven Bewertungen von Sprachen und die Tatsache, dass einige am Ende der Sprachvergleichung besser abschneiden als andere, trugen ihren Teil dazu bei, das Unterfangen, nachdem die wissenschaftstheoretischen Rahmenbedingungen sich geändert hatten, in Misskredit zu bringen. Der Vergleich grammatischer Formen (bzw. deren Äquivalente in solchen Sprachen, die eine eigene Form dort nicht ausgebildet haben) dient dazu, sich einer Ursprache anzunähern. Humboldt fokussiert sich auf den Dualis (vgl. die Akademierede „Über den Dualis“) und die Personalpronomen ich und du (vor allem in der Abhandlung „Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues“ § 47ff.). Seine Wahl fällt nicht zufällig, sondern weil er im Dialog die Ursituation des Sprechens sieht. 46 Humboldt (2002b: 483 Dadurch kommt es zu einer Neubestimmung der Wortart Pronomen, die in der logisch-grammatischen Tradition bloß als Stellvertreter für ‚echte‘ Inhaltswörter angesehen wurden, wogegen ) glaubt, „richtig gezeigt zu haben, dass die Personenwörter die ursprünglichen in jeder Sprache seyn müssen und dass es eine ganz unrichtige Vorstellung ist, das Pronomen als den spätesten Redetheil in der Sprache anzusehen.“ Bis zu seinem Tod 1830 arbeitete Humboldt an dem großen Werk über die Sprachen der Insel Java („Kawiwerk“), in dessen Einleitung („Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“) viele seiner Gedanken noch einmal zusammenfließen und in dem er zu der berühmten Unterscheidung von Sprachen als Kraft (enérgeia) und nicht Werk (érgon) kommt. 4.2.1 Sprache und Welt Humboldt hat sich intensiv mit Kant auseinandergesetzt. Dieser hatte Empirismus und Rationalismus in seiner Transzendentalphilosophie miteinander versöhnt, nach der die sinnlichen Empfindungen mit den Formen des Verstandes erfasst werden („Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind“ (Kant, KdrV B75, A51)). Nach gängiger Auffassung ist Sprache nun entweder bloßes Instrument zur Etikettierung der sinnlichen Welt oder Instrument, die Vorgänge des Verstandes zum Ausdruck zu bringen. Diese Vorstellung einer Eins-zu-eins-Entsprechung zwischen den „Dingen“ und ihren „Bezeichnungen“ findet noch ihren Niederschlag in der Idee einer Universalsprache (mathesis bzw. characteristica universalis) eines Descartes oder Leibniz, wonach die Zer- 46 Die Argumentation ist der Begründung einer linguistischen Wende zum Dialogism bei Linell nicht unähnlich, vgl. Kapitel 4.8. <?page no="76"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 66 gliederung (sprachlicher) Begriffe einen Erkenntnisgewinn über die Welt bringt. Stattdessen sieht Humboldt Sprache als „das Organ des Denkens“ und nicht mehr als Funktion des Verstandes bzw. der Welt, womit sich Sprache als autonomes Zeichensystem emanzipiert. Der Mensch verweist nicht nur mithilfe der Sprache auf eine von dieser unabhängige Welt, sondern die Welt wird durch die Sprache erst gestaltet. Die Transformation der Idee, dass das Denken einer verborgenen Struktur der Dinge folgt, zu derjenigen, dass das Denken einfach der Struktur der Sprache entspricht, leitet später den linguistic turn in der Gegenwartsphilosophie ein. In seiner Abhandlung „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“ führt Humboldt (2002b: 426) die Organ-Metapher weiter aus: Die Sprache ist das bildende Organ des Gedanken. Die intellectuelle Thätigkeit […] wird durch den Laut in der Rede äusserlich und wahrnehmbar für die Sinne. Sie und die Sprache sind daher Eins und unzertrennlich von einander. […] Die unzertrennliche Verbindung des Gedanken, der Stimmwerkzeuge und des Gehörs zur Sprache liegt unabänderlich in der ursprünglichen, nicht weiter zu erklärenden Einrichtung der menschlichen Natur. Für Humboldt ist die Sprache also kein Instrument des Verstandes, sondern (wie schon bei Platon) ein Organ. Als Naturwesen ist der vorsprachliche Mensch eins mit der Welt, in der er lebt. Erst in einem Akt der Reflexion wird der Mensch sich selbst gewahr als Subjekt und der Welt als Objekt. In diesem Akt ist Sprache „das Mittel, durch welches der Mensch zugleich sich selbst und die Welt bildet oder vielmehr seiner dadurch bewußt wird, daß er eine Welt von sich abscheidet“ (aus einem Brief an Friedrich Schiller vom September 1800, zitiert nach Di Cesare (1996: 279)). Der sprachliche Laut ist für Humboldt in diesem Prozess mehr als nur der Informationsträger für die „intellectuelle Thätigkeit“. Ganz kantisch vermittelt der sprachliche Begriff zwischen den Sinnen und dem Verstand. Erst in der sinnlichen Form des Lautes wird die Vorstellung fürs Subjekt gegenständlich. Dies ist jedoch keine nachträgliche ‚Verlautbarung‘ einer unabhängig vorhandenen Vorstellung, sondern ein synthetischer Akt, ohne den es keine dauerhafte Verbindung zwischen Laut und Vorstellung geben würde, die andernfalls „gewissermassen spurlos vorübergehen“ (Humboldt 2002b: 426) würde. Während Humboldt (2002b: 427f.) die Eignung des „Sprachlauts“ als materiellem Träger für die unendliche Zahl von Vorstellungen und deren „Vergleichung, Trennung und Verbindung“ preist, ist damit noch nicht gesagt, wie es eigentlich um die Identität zwischen Sprache und Denken steht. Humboldts Auffassung vom Verhältnis zwischen Sprache und Denken ist im Gegensatz zu der monistischen Gleichsetzung in der sprachanalytischen Philosophie nämlich differenzierter. <?page no="77"?> 4.2 „Ergon“ und „Enérgeia“ (Wilhelm von Humboldt) 67 4.2.2 Sprache als Ausdruck der Gedanken „Wie der einzelne Laut zwischen den Gegenstand und den Menschen, so tritt die ganze Sprache zwischen ihn und die innerlich und äußerlich auf ihn einwirkende Natur. Er umgibt sich mit einer Welt von Lauten, um die Welt von Gegenständen in sich aufzunehmen und zu bearbeiten.“ (Humboldt 2002b: 434) Solcherart Formulierungen sind es, die dazu führen, dass, wann immer es um die Frage der sprachlichen Relativität der menschlichen Erfahrung geht, die Autorität Humboldt aufgerufen wird. Wenn die Sprache zwischen den Menschen und die äußere Natur tritt, dann hat das zur Folge, dass nicht nur die Welt durch einen sprachlichen Filter wahrgenommen und begrifflich bestimmt wird, sondern, dass sich auch das menschliche Denken selbst konstituiert in den Grenzen der Sprache. Daraus ergibt sich je nach Einzelsprache eine unterschiedliche Perspektive auf die Welt. Die Unterschiede der verschiedenen Sprachtypen haben sowohl Konsequenzen, was die Möglichkeiten des Übersetzens angeht, als auch, was die Frage des Spracherwerbs betrifft. Sich mechanisch mithilfe von Grammatiken und Wörterbüchern eine Sprache einzubläuen ist keine gute Art und Weise, eine Sprache zu erwerben. Viel besser ist es, man „baut […] sich […] selbsttätig […] in eine fremde erlernte Sprache hinein“ (Humboldt 1981: 108 [Über das Sprachstudium]). Humboldt, der selbst mehrere Dutzend verschiedene Sprachen sprechen konnte, beschreibt in einem Brief an Brinkmann von 1803 diesen Vorgang des Hineinbauens so: „Mein Sprachstudium treibe ich hartnäckiger als je, und es reiht sich vortrefflich an alle jene Ideen an. Der innere geheimnisvoll wunderbare Zusammenhang aller Sprachen, aber vor allem der hohe Genuß, mit jeder neuen Sprache in ein neues Gedanken- und Empfindungssystem einzugehen, ziehen mich unendlich an.“ Da Sprache das Denken konstituieren soll und da die Sprachen verschieden sind, hat das unweigerliche Konsequenzen für das Denken der Mitglieder einer jeweiligen Sprachgemeinschaft: In jeder Sprache kommt eine „eigentümliche Weltansicht“ zum Ausdruck. Auf diese Weise wird aus Humboldts Philosophieren über die Verfasstheit der menschlichen Natur ein handfestes sprachwissenschaftliches Projekt: Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens, und des Wortes von einander leuchtet es klar ein, dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst. Hierin ist der Grund, und der letzte Zweck aller Sprachuntersuchung enthalten. (Humboldt 2002b: 19f.) Dabei gilt es, die ‚Einheit in der Vielheit‘ (vgl. Humboldt 2002b: 424 [Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts]) zu suchen, ohne dabei die individuellen Eigenarten der Einzelsprachen zu verwischen. Die Vorstellung, Sprache übe Gewalt über den <?page no="78"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 68 Menschen aus, kommt in der Einleitung zum Kawi-Werk (s. o.) auf den Punkt: „Der Mensch lebt mit den Gegenständen hauptsächlich, ja, da Empfinden und Handeln in ihm von seinen Vorstellungen abhängen, sogar ausschließlich so, wie die Sprache sie ihm zuführt“ (Humboldt 2002b: 434). Dieser Sprachrelativismus, nach dem die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt sind, ist später unter dem Stichwort „linguistische Relativitätsthese“ oder „Sapir-Whorf-Hypothese“ (vgl. Kapitel 3.4) immer wieder in die Kritik geraten. 4.2.3 Die dialogische Natur der Sprache Durch die synthetische Vereinigung einer Lautform mit einem Vorstellungsinhalt wird ein subjektiver Vorstellungsinhalt vergegenständlicht und dadurch für das denkende und wahrnehmende Ich zum Objekt. Erst in einem zweiten Schritt geht diese Objektivierung der Vorstellung über das Ich hinaus und ist dann vollendet, „wenn diese Spaltung nicht in dem Subject allein vorgeht, sondern der Vorstellende den Gedanken wirklich ausser sich erblickt, was nur in einem andren gleich ihm vorstellenden und denkenden Wesen möglich ist.“ (Humboldt 2002b: 139 [Über den Dualis]) Solang dieser Schritt nicht vollzogen ist, ist die Vorstellung zwar in Form des materiellen Lauts für das Ich gegenständlich, gleicht aber „allein im Einzelnen geboren […] einem blossen Scheinobject“ (Humboldt 2002b: 202), solang es nicht sozial geteilt wird. Erst wenn das vom Ich gesprochene Wort vom Du verstanden und erwidert wird, wird aus der subjektiven Vorstellung in Lautgestalt ein objektiver Begriff. Damit nimmt die Sprache im Rahmen menschlicher Erkenntnis für Humboldt einen weit höheren Stellenwert ein als z. B. für Kant, darüber hinaus wird aus der klassischen erkenntnistheoretischen Frage nach dem Verhältnis zwischen Ich und Welt eine intersubjektive nach dem Verhältnis zwischen Ich und Du: „Die Sprache ist nicht nur eine die Subjekt-Objekt-Beziehung konstituierende poíesis, sondern auch und vor allem eine sich zwischen Subjekt und Subjekt verwirklichende prâxis.“ (Di Cesare 1996: 281) Die Begriffe sind wie gesagt weder Sklaven des Verstandes noch der natürlichen Welt. Sie existieren relativ autark in der Sprache. Die Existenzform der Sprache ist aber ihr Vollzug: Es bedarf der Anwendung der Sprache im Dialog. 47 47 Der Gedanke über den prinzipiell dialogischen Charakter von Sprache findet sich auch in dem kultursemiotischen Ansatz Bachtins ( Das hat drei Gründe: Zum einen 1996: 103), wonach das „Leben der Sprache, in jedem Bereich ihres Gebrauchs […] von dialogischen Beziehungen durchwirkt“ ist. Die Idee einer alles durchwirkenden Dialogizität wurde von Linell (2006, 2009) in seiner „dialogical linguistics“ weiter ausgebaut, deren zentrale These ebenfalls darauf beruht, dass die menschliche Fähigkeit zur Kommunikation grundsätzlich auf „interaction with others“ basiert - wobei der „the other“ nicht nur unmittelbar, sondern auch mittelbar in Erscheinung treten kann, z. B. „through texts and additional types of artifacts with ‚inscriptions‘, etc.“ (Linell 2009: 14-15). Auch beim Lesen von Texten wird eine dialogische Situation erzeugt: „The meanings of a text results from the reader’s interac- <?page no="79"?> 4.2 „Ergon“ und „Enérgeia“ (Wilhelm von Humboldt) 69 ist zur Objektivierung der Begriffe ihre Überführung in materielle Form notwendig. Zum anderen wird angenommen, dass die ursprünglichste Form des Sprechens nicht das Selbstgespräch, sondern das „Zwiegespräch“ ist. Zuletzt entsteht Bedeutung immer erst als Resonanz durch den anderen. Ich erwähne aber mit Absicht dieser zwiefachen, oberflächlicheren und tieferen, sinnlicheren oder geistigeren Auffassung erst hier, da sie vorzüglich da eintritt, wo die Sprache auf der Zweiheit der Wechselrede ruht. Es ist im Vorigen nur die ganz empirische Erscheinung hiervon angedeutet worden. Es liegt aber in dem ursprünglichen Wesen der Sprache ein unabänderlicher Dualismus, und die Möglichkeit des Sprechens selbst wird durch Anrede und Erwiederung bedingt. Schon das Denken ist wesentlich von Neigung zu gesellschaftlichem Daseyn begleitet, und der Mensch sehnt sich, abgesehen von allen körperlichen und Empfindungs-Beziehungen, auch zum Behuf seines blossen Denkens nach einem dem Ich entsprechenden Du, der Begriff scheint ihm erst seine Bestimmtheit und Gewissheit durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft zu erreichen. Er wird erzeugt, indem er sich aus der bewegten Masse des Vorstellens losreisst, und, dem Subject gegenüber, zum Object bildet. Die Objectivität erscheint aber noch vollendeter, wenn diese Spaltung nicht in dem Subject allein vorgeht, sondern der Vorstellende den Gedanken wirklich ausser sich erblickt, was nur in einem andren, gleich ihm vorstellenden und denkenden Wesen möglich ist. Zwischen Denkkraft und Denkkraft aber giebt es keine andre Vermittlerin, als die Sprache. (Humboldt 2002b: 138f. [Über den Dualis]) Sprache ist für Humboldt ihrem Wesen nach ein soziales und interaktionales Phänomen, das sowohl ein Aussprechen in Form von Lauten, ein dialogisches Gegenüber und eine Reaktion des Gegenübers erfordert. Hier sind bereits alle Argumente angelegt, die z. B. bei Wittgenstein (2001: PU § 243 und 293) dazu geführt haben, eine sinnvolle Verwendung von Wörtern im Sinne einer „Privatsprache“ kategorisch auszuschließen. Denn auch in Wittgensteins Gebrauchstheorie der Sprache sind Begriffe, die nicht intersubjektiv zugänglich sind, sinnlos. 4.2.4 Fazit Wie schon erwähnt, gilt Humboldts eigentliches Interesse der ‚Einheit in der Vielfalt‘. 48 tion with and reconstruction of the author’s construct (the text with its ‚inscriptions‘).“ ( Für seine vergleichende Sprachuntersuchung bedeutet das, dass sie sich im Spannungsfeld zwi- Linell 2009: 16; vgl. auch Kapitel 4.8) 48 Dieses Prinzip spiegelt sich auch in Humboldts Poetik wider, welche insbesondere in seinem Kommentar zu Goethes Herrmann und Dorothea ausformuliert ist. Dort heißt es schon im ersten Satz: „Nichts vollendet so sehr den absoluten Werth eines Gedichts, als wenn es neben seinen üb- <?page no="80"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 70 schen individueller Einzelsprache und universeller Übereinstimmung bewegt. Der Weg dorthin führt nur über „eine mühvolle, oft ins Kleinliche gehende Elementaruntersuchung“ (Humboldt 2002b: 423) der Einzelsprache. So wie „die Sprache“ nur in Form einer spezifischen Einzelsprache existiert, existiert eine Äußerung nur als Äußerungsakt in einer spezifischen Äußerungssituation. In strengem Sinne gibt es also auch in der Einzelsprache nichts universell und für alle Zeiten Gültiges. Die Sprache existiert in ihrer ursprünglichen Seinsweise nur im schöpferischen Akt des Sprechens mit einem Anderen über die Welt, sie ist eine „Verrichtung, ein geistiger Process“ und „nichts in ihr ist statisch, alles dynamisch.“ (Humboldt 2002b: 184) Trotzdem ist es möglich, von Sprachstrukturen zu sprechen, da diese Äußerungen zu einem organischen Geflecht verwoben sind, das aus Analogien besteht: „Das Individuum scheint in diesem Gewebe, das es nicht gewoben hat, verwickelt zu sein, verstrickt in einem Netz, das aus einer grenzenlosen Kette von Gesprächen hervorgegangen ist, an denen es nicht beteiligt war.“ (Di Cesare 1996: 283) Anstelle des Begriffs Analogie benutzt Humboldt später den der Form: Sprache fixiert die äußere Welt gleich einer Form. Die Art, in der jede einzelne Sprache das Streben nach Form verwirklicht, ist zu einem gewissen Grad vorgegeben, d. h. die möglichen und sich permanent weiterentwickelnden Einzelsprachen unterliegen gewissen Bildungsprinzipien. Es besteht damit ein Dualismus aus Determination und Variabilität. Auch die Form einer Sprache ist kein abgeschlossenes Werk (érgon), sondern eine Tätigkeit (enérgeia): Sie wird durch jeden einzelnen, gleichsam schöpferischen Sprachakt aktualisiert und modifiziert. Das Sprechen hat also bei der Betrachtung immer Vorrang vor der Sprache, bzw. die Sprache gibt es eigentlich nur im Sprechen und in der Gesamtheit der analogischen Verbindungen zwischen vergangenen und zukünftigen Sprechereignissen, die jedoch immer offene Verbindungen bleiben, die den ganzen „Organismus“ der Sprache ständig modifizieren und transformieren. Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefasst, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, dass man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn. Sie ist nemlich die sich ewig wiederholende Arbeit des rigen eigenthümlichen Vorzügen, zugleich den sichtbaren Ausdruck seiner Gattung und das lebendige Gepräge seines Urhebers an sich trägt.“ (Humboldt 2002a: 125) Die vollkommene Dichtung ergibt sich also aus der gelungenen Synthese des Allgemeinen („Ausdruck seiner Gattung“) und des Besonderen („das lebendige Gepräge seines Urhebers“). Dieser dualistische Gegensatz soll also nicht zugunsten des einen oder anderen Bestandteils aufgelöst werden, sondern es geht Humboldt in der Dichtung wie in der Sprachvergleichung immer zugleich um das Allgemeine im Besonderen und das Besondere im Allgemeinen. <?page no="81"?> 4.2 „Ergon“ und „Enérgeia“ (Wilhelm von Humboldt) 71 Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen. Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens; aber im wahren und wesentlichen Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalität dieses Sprechens als die Sprache ansehen. Denn in dem zerstreuten Chaos von Wörtern und Regeln, welches wir wohl eine Sprache zu nennen pflegen, ist nur das durch jenes Sprechen hervorgebrachte einzelne vorhanden und dies niemals vollständig, auch erst einer neuen Arbeit bedürftig, um daraus die Art des lebendigen Sprechens zu erkennen und ein wahres Bild der lebendigen Sprache zu geben. Gerade das Höchste und Feinste lässt sich an jenen getrennten Elementen nicht erkennen und kann nur (was um so mehr beweist, dass die eigentliche Sprache in dem Acte ihres wirklichen Hervorbringens liegt) in der verbundenen Rede wahrgenommen oder geahndet werden. Nur sie muss man sich überhaupt in allen Untersuchungen, welche in die lebendige Wesenheit der Sprache eindringen sollen, immer als das Wahre und Erste denken. Das Zerschlagen in Wörter und Regeln ist nur ein todtes Machwerk wissenschaftlicher Zergliederung. (Humboldt 2002b: 418f. [Über die Verschiedenheit des Menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts]) Hier zeigt sich wie auch an anderer Stelle, dass Humboldts Versuche, seine dynamische Konzeption vom „wirkliche[n] Wesen“ der Sprache definitorisch einzufangen, immer etwas hilflos wirken und am Ende unvermeidlich darin münden, sie nur im einzelnen Akt des „jedesmaligen Sprechens“ verwirklicht zu sehen. Streng genommen haben wir es hier jedoch mit einem reflexivischen Verhältnis zu tun, denn genau wie in Humboldts ästhetischer Theorie in der perfekten Dichtung literarische Gattung und Genie vereint sind, wird die Sprache durch das Sprechen erzeugt „und wächst, sich durch die Folge der Jahrtausende hinschlingend, zu einer von dem jedesmal Redenden, dem jedesmaligen Geschlecht, der Nation, ja zuletzt selbst von der Menschheit in gewisser Art unabhängigen Macht an.“ (Humboldt 2002b: 225) Was den Prozesscharakter von Sprache angeht, nimmt Humboldt eine sehr radikale Position ein, schließlich ist ein „jedesmaliges Sprechen“ ohne eine damit einhergehende zeitliche Erstreckung nicht denkbar. Trotzdem möchte ich zwei Einwände vorbringen, Humboldt als spiritus rector einer jeden inkrementellen und prozessualen Grammatiktheorie zu inthronisieren. Erstens spielt der tatsächliche zeitliche Verlauf für Humboldts Gedankengang eigentlich keine Rolle, sondern das dialektische Verhältnis zwischen Sprache und Sprechen berührt eher die ontologische Verfasstheit von Sprache, und zweitens tritt bei ihm die Temporalität des Sprechens als Ordnungsprinzip, an dem sich GesprächsteilnehmerInnen im Gespräch orientieren, weder in der Sprache noch im Sprechen in Erscheinung. <?page no="82"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 72 4.3 „L’idée vient en parlant“ (Heinrich von Kleist) °h u: nd DEShalb äh: : <<all> haben wir uns dazu entschlOssen,> (-) HEUte, (--) äh (-) eine (-) REgelung zu treffen,= =die es (.) JE: dem bürger der de de er, mÖglich MACHT, (-) äh (-) über GRENZübergangs (-) pUnkte der de de eräh AUSzureisen; - Pressekonferenz mit Günther Schabowski vom 9. November 1989 Heinrich von Kleists Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ (Kleist 1964: 319-324), der wahrscheinlich um 1805 während seiner Zeit in Königsberg entstanden ist und ursprünglich als Zeitschriftenbeitrag gedacht war, aber erst postum erschienen ist (Müller-Salget 2005), scheint auf den ersten Blick ebenfalls alle Zutaten für eine inkrementelle Syntaxtheorie zu enthalten. Die Betrachtungen enthalten viele Aspekte einer echtzeitlichen, inkrementellen Produktion von Äußerungen, kooperativ erzeugt in dialogischen Äußerungssituationen. Natürlich werden in dem kurzen Schriftstück, das in essayistisch-plauderhaftem Ton formuliert ist, keine Aussagen gemacht, die im strengen Sinne empirisch fundiert sind und naturwissenschaftlichen Ansprüchen genügen. Als Quelle dienen Kleist (i) die eigene Intuition und persönliche Erfahrungen, (ii) eine beiläufige Bemerkung Molières über das hohe Urteil, das er von seiner Magd hat, (iii) ein kolportierter Dialog der letzten Ständeversammlung in Paris am Vorabend der französischen Revolution zwischen dem Zeremonienmeister und dem Abgeordneten und Wortführer des Dritten Standes Marquis de Mirabeau, (iv) ein ‚Dialog‘ in einer von La Fontaines Fabeln und die anekdotische Rekonstruktion der Probleme, die entstehen, (v) wenn man sich nach langem Zögern in eine Unterhaltung einklinkt bzw. (vi) wenn man nach langer Vorbereitung in einer Examensprüfung sein Wissen präsentieren muss. Welches sind nun die Thesen, die in dem Text aufgestellt werden? In nuce handelt es sich um die Empfehlung, wenn man einmal nicht weiter weiß, einfach mit jemandem darüber zu reden. Die Empfehlung geht sogar so weit, dass ein nicht vorhandener Gedanke oder eine (noch) nicht erkannte Lösung einem schon während des Sprechens kommt, auf der anderen Seite aber ein voll entfalteter Gedanke nur sehr mühsam - gewissermaßen nachträglich - in Worte gefasst werden kann. Anders als die landläufige Überzeugung, dass man nur über Dinge reden sollte, von denen man auch etwas versteht, dient diese Art zu reden nicht dazu, andere zu belehren, sondern sich selbst, darauf vertrauend, dass, wie der sprichwörtliche Appetit, der mit dem Essen kommt, auch fürs Reden gilt: „l’idée vient en parlant.“ (Kleist 1964: 319) Der Intellekt des Gesprächs- <?page no="83"?> 4.3 „L’idée vient en parlant“ (Heinrich von Kleist) 73 partners spielt dabei keine Rolle, da dieser nicht Rat geben soll, sondern bloß zuhören. Nur in diesem Sinne gesteht Kleist dem französischen Dichter Molière zu, auf das Urteil seiner Magd zu trauen und es über seines zu stellen, wenn es um seine Dichtung geht. 49 Kleist 1964: 319 Laut Kleist ist es die bloße Anwesenheit eines Gesprächspartners und dessen Minenspiel beim verstehenden Zuhören, wodurch das eigene Formulieren der Gedanken beflügelt wird. Dieser Effekt ist unabhängig vom intellektuellen Vermögen oder der Fähigkeiten des Hörers, Gedanken zu verbalisieren, ja es „braucht nicht eben ein scharfdenkender Kopf zu sein“ ( ), an den man sich richtet. Laut Kleist ist es nicht nur so, dass die Spontaneität des unvorbereiteten Vortrags dafür verantwortlich ist, dass wir lebhaft und treffend Formulieren, sondern es gilt sogar umgekehrt, dass, wenn wir etwas im Vorhinein bereits zu Ende gedacht haben, wir nicht mehr in der Lage sind, es auch sprachlich auf den Punkt zu bringen. Als Beispiel führt Kleist den Teilnehmer an einer gesellschaftlichen Veranstaltung an, der - sei es aus Schüchternheit oder Bescheidenheit - damit zögert, sich an einer in seiner Nähe stattfindenden Unterhaltung aktiv zu beteiligen. 50 Kleist 1964: 323 In der Regel haben solche Personen viel Zeit, ihren Beitrag vorher in Gedanken zu überdenken, so dass sie, wenn sie sich dann endlich ins Gespräch einschalten, nur „etwas Unverständliches zur Welt bringen“ ( ) können. Dieser Zustand, dass „der Geist schon, vor aller Rede, mit dem Gedanken fertig ist“ (Kleist 1964: 322), und man schon weiß, was man gleich sagen will, tritt systematisch in Prüfungssituationen ein, weshalb es „[v]ielleicht […] überhaupt keine schlechtere Gelegenheit, sich von einer vorteilhaften Seite zu zeigen [gibt], als grade ein öffentliches Examen.“ (Kleist 1964: 324) Gerade der Stress, weder den Gedanken noch die Worte im Voraus mit Gewissheit zur Hand zu haben, sorgt für eine „gewisse Erregung des Gemüts“, die ein Garant dafür ist, lebhafte und treffende Formulierungen zu finden. Dahinter steht die Überzeugung, „daß mancher große Redner, in dem Augenblick, da er den Mund aufmachte, noch nicht wußte, was er sagen würde.“ (Kleist 1964: 320) Diesen Prozess der Bewusstwerdung beschreibt Kleist folgendermaßen: Aber weil ich doch irgend eine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit der Peri- 49 Die Überlieferung, dass „Molière als naiver Dichter […] es allenfalls auf den Ausspruch seiner Magd ankommen lassen [durfte], was in seinen Comödien stehen bleiben und wegfallen sollte“, findet sich auch in Schillers (1795: 6, FN) Beitrag über Die sentimentalischen Dichter in den Horen. 50 Laut Müller-Salget (2005: 1123) ist das Beispiel autobiographischer Natur und Kleist spielt hier „wahrscheinlich auf seine eigene Gehemmtheit in Gesellschaft an“. <?page no="84"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 74 ode fertig ist. […] Ein solches Reden ist ein wahrhaftes lautes Denken. Die Reihen der Vorstellungen und ihre Bezeichnungen gehen neben einander fort, und die Gemütsakten [sic] für eins und das andere, kongruieren. Die Sprache ist alsdann keine Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern wie ein zweites, mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner Achse. (Kleist 1964: 319f. und 322) Sicherlich überzeugen diese ethnographischen Beobachtungen eher durch ihre literarische Qualität und bilderreiche Sprache, als dass sie Ausgangspunkt einer wie auch immer verstandenen kognitiven Sprachwissenschaft sein könnten. Trotzdem ist gerade die Erkenntnis, welche Rolle dem Hörer in solchen Situationen zukommt, Ergebnis präziser Beobachtung. Schließlich ist Kleist zufolge die Anwesenheit eines Hörers die notwendige Voraussetzung für den ungebremsten Redefluss. Dieses Ziel wird nicht etwa dadurch erreicht, dass der Hörer sich durch geschicktes Nachfragen oder eigene Beiträge in die Unterhaltung einmischt, sondern allein durch die gewissenhafte Ausübung seiner ‚Hörerpflichten‘. Als Beispiel für die Nützlichkeit einer (fast) passiven Zuhörerin dient Kleist die stille Anwesenheit seiner Schwester in seinem Arbeitszimmer, während er am Schreibtisch juristische Streitsachen oder algebraische Gleichungen zu lösen versucht: Dabei ist mir nichts heilsamer, als eine Bewegung meiner Schwester, als ob sie mich unterbrechen wollte; denn mein ohnehin schon angestrengtes Gemüt wird durch diesen Versuch von außen, ihm die Rede, in deren Besitz es sich befindet, zu entreißen, nur noch mehr erregt, und in seiner Fähigkeit, wie ein großer General, wenn die Umstände drängen, noch um einen Grad höher gespannt. (Kleist 1964: 320) Ohne den Vergleich überstrapazieren zu wollen, lassen sich mit etwas Wohlwollen schon frühe Anfänge von dem erkennen, was später als „Hörerrückmeldung“ oder „backchannel-behavior“ in die Gesprächslinguistik einging und dessen Stellenwert für eine dialogische Grammatik heute unbestritten ist: 51 Es liegt ein sonderbarer Quell der Begeisterung für denjenigen, der spricht, in einem menschlichen Antlitz, das ihm gegenübersteht; und ein Blick, der uns einen halbausgedrückten Gedanken schon als begriffen ankündigt, schenkt uns oft den Ausdruck für die ganze andere Hälfte desselben. (Kleist 1964: 320) Damit hat Kleist bereits den Abschied von der Idee des Informationsaustauschs im Gespräch nach Art einer Rohr-Post vorweggenommen (vgl. zur Kritik an der "conduit"- 51 Hörerrückmeldungen sind für die interaktionale Herstellung von Sinn deshalb so zentral, weil sie eine wichtige Form von „Aufzeigehandlungen“ (display) sind, mit deren Hilfe GesprächspartnerInnen in sichtbarem Handeln ausgedrückte Interpretationen aushandeln. Zu den spezialisierten Verfahren zur Verständigungssicherung zählen neben Hörerrückmeldungen (Schegloff 1982) auch Reparaturen (Schegloff et al. 1977) und Reformulierungen (Gülich & Kotschi 1996). <?page no="85"?> 4.3 „L’idée vient en parlant“ (Heinrich von Kleist) 75 Methapher in Kommunikationsmodellen z. B. Reddy 1979). Die Erkenntnis, dass die Einzeläußerung eines Sprechers bereits dialogische Eigenschaften trägt, ist also nicht erst mit der ethnomethodologischen Konversationsanalyse aufgekommen, sondern findet sich in Kleists Essay. 4.3.1 Adressatenzuschnitt und Hörerreaktionen: Diskussion an einem Beispiel Wie wichtig Hörerreaktionen für den interaktiven Verlauf von Gesprächen sind, soll an einem kurzen Ausschnitt aus den Schlichtungsgesprächen zum Bauprojekt „Stuttgart 21“ gezeigt werden, in dem eine mimische Aufzeigehandlung von einem der Anwesenden im Publikum vom Referenten als unerwünscht markiert wird und ihn seinen Vortrag unterbrechen lässt. Es handelt es sich um das Referat des Stuttgart-21-Kritikers Karlheinz Rößler (KR), der sich über eine Reaktion des im Plenum sitzenden Stuttgart-21-Befürworters Florian Bitzer (FB) ärgert und vom Schlichter Heiner Geißler (HG) zur Raison gebracht werden muss: Beispiel 1: Schlichtungsgespräch 1 („Stuttgart 21“, 04.11.2010, Teil 4, Ausschnitt 18: 05-18: 45 min) 01 HG: der NEIgezug ist dann von anfang bis zum ende (-) der Ih Ce Eh zug; 02 KR: über ein fahrplan äh konZEPT für diesen neigezug, 03 lässt sich dann noch trEfflich diskuTIEren,= 04 =aber das ist im moMENT auch nicht °hh auch nicht angesagt. 05 (--) 06 äh wir sind bei der strecke (.) stuttgart ULM. 07 und nicht (-) woHIN der zug dann irgendwann mal fährt.= 08 =<<f> aber das sind ! DENK! modelle; >=bitte schön. 09 keine vOrschläge und KEIne Empfehlungen.=herr bitzer. 10 bitte GRINsen sie nicht. 11 Plenum ((lachen)) 12 HG: DAS kann- (-) 13 DAS können wir nicht verbieten. ((lacht)) 14 KR: ja er drückt da eine [äh (-) äh geRINGschätzung] aus. 15 HG: [das ist ( ) ] 16 sie dürfen sich nich irriTIEren lassen. 17 es gibt lEUte die °hh schüttlen mit dem KOPF,=nich wahr, 18 oder die bohren in der NA: se, <?page no="86"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 76 19 oder die GRINsen, 20 KR: okay.= werte ich sein [grinsen Ä: HNlich.] 21 HG: [ das darf sie im ] vor 22 das darf sie im vortrag (.) NICHT irritieren. 23 KR: ((lacht)) DANke. Genau wie in der Gesprächslinguistik geht Kleist davon aus, dass Bedeutung interaktiv hergestellt wird und darauf basiert, dass Sprecher gewisse Erwartungen an die Verstehensleistung ihrer Hörer haben und Hörer umgekehrt die Verpflichtung, Verständnis anzuzeigen, denn „Äußerungen (utterances) eines Sprechers werden erst dadurch zu Gesprächsbeiträgen (contributions), dass die InteraktionspartnerInnen zeigen, dass und wie sie sie aufnehmen“ (Deppermann 2007: 9). Als Konversationsanalytiker avant la lettre hat Kleist erkannt, dass es im Gespräch keine statischen Sprecher- und Hörerrollen gibt, die sich gegenseitig autonome Mitteilungen zuschanzen. 52 Deppermann 2007: 8 Das sprecherseitige Gegenstück zur Hörerrückmeldung ist der so genannte Adressatenzuschnitt oder „recipient design“, das sich darauf bezieht, dass Gesprächsbeiträge nicht in dem Moment interaktiv werden, wenn sich SprecherInnen im Gespräch bei ihren Beiträgen miteinander abwechseln, sondern „Beiträge sind von vornherein für die Interaktion strukturiert, da sie in Bezug auf AdressatInnen und den Stand des gemeinsamen Handelns konstruiert werden.“ ( ) Auch dafür finden sich Parallelen in Kleists Aufsatz. Während Kleist die interaktionalen Aspekte des ‚allmählichen Verfertigens der Gedanken beim Reden‘ und die Aufgabenverteilung zwischen HörerInnen und SprecherInnen nur locker mit Beispielen andeutet, werden die kognitiven Prozesse, die beim ‚Denken durch Sprechen‘ ablaufen sollen, anhand zweier Dialoge geradezu inszeniert. Das prominenteste Beispiel für eine Idee, die einem beim Sprechen gekommen ist, dürfte wohl die Idee der französischen Revolution sein. 53 52 Es gibt natürlich noch viele andere Vorläufer für die Aufgabe des Dualismus von Sprecher und Hörer, wie z. B. das dialogische Sprachverständnis des russischen Literaturwissenschaftlers Wenn es nach Kleist geht, soll der Marquis de Mirabeau in der letzten von Ludwig XVI. geleiteten Sitzung der französischen Ständeversammlung vom 23. Juni 1789 bei der Aufforderung des königlichen Zeremonienmeisters, die Versammlung aufzulösen, noch gar nicht gewusst haben, dass seine Reaktion schluss- Vološinov (1975: 146): „Eigentlich ist das Wort ein zweiseitiger Akt. Es wird in gleicher Weise dadurch bestimmt, von wem es ist, als auch, für wen es ist. Es ist, als Wort, genau das Produkt der Interaktion von Sprechendem und Zuhörendem.“ 53 Als Quelle diente Kleist wohl die Gesamtausgabe der Reden Mirabeaus. Dort ist die entsprechende Passage jedoch anders als bei Kleist kein Dialog: „Nous avons entendu les intentions qu’on a suggérées au roi, et vous qui ne sauriez être son organe auprès de l’assemblée nationale, vous qui n’avez ici, ni place, ni voix, ni droit de parler, vous n’êtes pas fait pour nous rappeler son discours: allez dire à votre maître que nous sommes ici par la puissance du peuple, et qu’on ne nous en arrachera que par la puissance des bayonnettes.“ (Müller-Salget 2005: 1121) <?page no="87"?> 4.3 „L’idée vient en parlant“ (Heinrich von Kleist) 77 endlich in eine Weigerung mündet, die den Lauf der Geschichte ändern sollte. Zug um Zug werden die sprachlichen Handlungen des Marquis und seine parallelverlaufenden kognitiven Prozesse rekonstruiert (bzw. eigentlich wohl eher fingiert), um das gleichzeitige, genetische Hervorbringen von Sprache und Gedanken zu dokumentieren. Die Situation wird verglichen mit einem Gegenstand ohne elektrische Ladung, der in das elektrische Feld eines anderen kommt, wodurch sich in einer Wechselwirkung der Ladungszustand beider verändert (die Übertragung physikalischer Erscheinungen auf zwischenmenschliche Verhältnisse nimmt Kleist im Allerneusten Erziehungsplan wieder auf, vgl. Müller- Salget (2005: 1122)). Wieder wird das Ergebnis als gemeinschaftlich erzeugt dargestellt und ist weder der Hörernoch der Sprecherseite allein zuzuschreiben: Vielleicht, daß es auf diese Art zuletzt das Zucken einer Oberlippe [des königlichen Vertreters, BS] war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte. (Kleist 1964: 321) Auf die gleiche Weise wie bei der Schilderung der inkrementellen Genese des Protests von Mirabeau wird mit Lafontaines Fabel über „Die pestkranken Tiere“ 54 Kleist 1964: 322 auch ein literarisches Beispiel „von einer allmählichen Verfertigung des Gedankens aus einem in der Not hingesetzten Anfang“ ( ) angeführt. Die Tiere, in deren Reihen die Pest grassiert, wollen durch ein Sühneopfer den Himmel gnädig stimmen. Unter der Leitung des Löwen unterzieht sich jedes Tier einer Selbstkritik, in der es die Gründe darlegt, warum es sich in der Vergangenheit an anderen Tieren vergangen hat und inwieweit es gerechtfertigterweise als Sühneopfer herhalten muss. Der Fuchs setzt sich so geschickt für den Löwen ein, als der seine Sünden aufzählt, dass das massenhafte Töten von Schafen (und Schäfern) am Ende weniger wiegt, als die Dreistigkeit des Esels, auf einer Klosterwiese gegrast zu haben. Wenn es nach Kleist geht, begann der Fuchs seine Verteidigungsrede, „ohne zu wissen, wo er den Stoff dazu hernehmen soll“ (Kleist 1964: 322), und entwickelte seine Argumente quasi on the fly. 4.3.2 Analogien zu Montaignes Essay „Du parler prompt ou tardif“ In der Forschung (Schlüter 1987) wird davon ausgegangen, dass Kleist mit Montaignes Essay zum selben Thema vertraut war. In Montaignes (1797) Text „Du parler prompt ou tardif/ Von trägen und allzeit fertigen Zungen“ werden zwei Typen von Beredsamkeit unterschieden, solche die „mit Leichtigkeit und Fertigkeit“ reden können und „einen solchen Fluß der Rede besitzen, daß sie aus dem Stegreife […] Reden halten können“ und auf der anderen Seite solche „von schwererer Zunge, [die] nie anders, als nach langem Besinnen und Überlegen, zu sprechen im Stande sind“ (Montaigne 1797: 59). Anders als Kleist stellt 54 La Fontaine (2009: 112-115): „Les animaux malades de la peste / Die pestkranken Tiere“. <?page no="88"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 78 Montaigne eine Verbindung zwischen dem strategisch-strukturierten Stil und dem improvisiert-spontanen Stil zu bestimmten kommunikativen Gattungen und sozialen Rollen her. Die spontane Redeweise eignet sich Montaigne zufolge eher für die Funktion des Anwalts, die bedächtige eher für die des Predigers, weil das Amt des ersten, ihm alle beliebige Musse läßt, sein Rede auszuarbeiten; und weil er solche hernach der Schnur nach vorträgt, ohne unterbrochen zu werden. Dahingegen das Gewerbe des Anwalds ihn jeden Augenblick nöthigen kann, als Kämpfer vorzutreten, die unerwarteten Einreden seiner Gegenpartey zu beantworten und ihn aus seinem Takte zu werfen, so, daß er Augenblicks einen neuen Schritt zu beginnen wissen muß. (Montaigne 1797: 60) Diese zwei „Typen der Beredsamkeit“ bilden Unterschiede ab, die sich in sich in der Fähigkeit des menschlichen Witzes, der spontan und schnell vorgeht, und des menschlichen Verstandes, der strukturiert und langsam funktioniert, wiederfinden. Diese Unterschiede im menschlichen „Naturell“ werden jedoch alsbald mit der Unterscheidung zwischen (lebhaften) dialogischen Gesprächsanlässen und monologischen, bei denen „alles sein Thun schlaff und matt“ (Montaigne 1797: 62) ist, gleichgesetzt. Die eingeführte Unterscheidung, die am Typus des Anwalts oder Priesters gewonnen wurde, wird also nicht nur auf monologische bzw. dialogische Redekonstellationen zurückgeführt, sondern bekommt auch noch eine mediale Komponente: Auch in schriftlichen Texten überwiegt das verstandesmäßig Behäbige und es fehlt an dialogischem Witz: Wir pflegen von gewissen Werken zu sagen, sie riechen nach der Studierlampe, um zu sagen, man merke an einer gewissen Härte und Rauhigkeit die saure Arbeit, die sie ihren Verfassern gekostet haben. Außer dem aber auch ist das heiße Streben nach Vollkommenheit, und das Ringen einer, auf ihr Vorhaben zu gespannten und erpichten Seele, ihr selbst hinderlich und im Wege; so, wie es mit dem Wasser geht, das vom heftigen, starken Zufluß gedrängt, keinen Ausgang aus dem offenen Halse einer Flasche finden kann. (Montaigne 1797: 62) Diese Mischung aus Redekonstellation, Medialität und sozialen Rollen ist etwas, das bei Kleist keine Erwähnung findet. Montaigne geht sogar von einer Art Automatismus aus, in dem mangelnde Planungszeit zwangsläufig zu spontanem Vortrag führen und genug Planungszeit mit einem logisch-stringenten Aufbau einhergehen. Derjenige aber, welcher ganz stumm bleibt, wenn er keine Zeit hat, sich vorzubereiten, oder auch derjenige, dem die Musse nicht den Vorzug schaft, seine Sache besser vorzutragen, die sind beyde in gleichem Grade sonderbar. (Montaigne 1797: 61) Die prinzipielle Überlegenheit des spontanen Sprechens, bei dem geniale Eingebung und sprachliches Gerüst zum gleichen Zeitpunkt empfangen werden, löst sich also anders als <?page no="89"?> 4.3 „L’idée vient en parlant“ (Heinrich von Kleist) 79 bei Kleist in den unterschiedlichen Gesprächsfunktionen bzw. -anlässen auf, die beide gleichermaßen ihre Berechtigung haben. Beide Gesprächsstile Montaignes „du parler prompt ou tardif “ sind daher sowohl idiosynkratrischer Charakterzug als auch situationsangemessene Kommunikationskompetenz. Einig sind sich Kleist und Montaigne jedoch in der hohen Wertschätzung, die GesprächspartnerInnen bei der Erzeugung von Äußerungen zukommt: Gelegenheit, Gesellschaft, selbst Ton und Tact meiner Stimme ziehen mehr aus meinem Verstande hervor, als ich darin finde, wenn ich solchen für mich allein versuchen und anwenden will. (Montaigne 1797: 63) Wie „Gelegenheit“, „Gesellschaft“ und Hörerrückmeldungen dazu beitragen, dass Sprecher Äußerungen tätigen, von denen sie vorher gar nicht gewusst haben, dass sie sie gleich machen werden, und die sie - möglicherweise - gar nicht die Absicht hatten zu machen, soll im Folgenden an einem authentischen Beispiel nachvollzogen werden. In der Pressekonferenz des SED-Zentralkomitees vom 9. November 1989 leisten die anwesenden internationalen Journalisten und der sich immer weiter in seinen eigenen Formulierungen verstrickende Günther Schabowski Geburtshilfe für eine Idee, die die Welt nachhaltig verändert hat, und liefern damit ein anschauliches Beispiel für die „Hebeammenkunst der Gedanken“ wie Kleist (1964: 324) es nennt, ausgeübt durch Situation, AdressatInnen und den eigenen Redefluss. 55 4.3.3 Gedanken, die einem beim Reden kommen: Diskussion an einem Beispiel Selbstverständlich haben wir nun keine Aufzeichnungen über den Ausbruch der Französischen Revolution. Eine Revolution aus der jüngeren Vergangenheit ist jedoch durchaus als Ton und Film zugänglich, da sie sich während einer Pressekonferenz abspielte, und weist erstaunliche Parallelen auf. Nach den wochenlangen landesweiten Demonstrationen sah sich die SED-Führung der DDR zu ersten Reformen gezwungen. Die wichtigsten Forderungen betrafen die Presse-, Meinungs-, Versammlungs- und Reisefreiheit. Der erste Entwurf einer gelockerten Reisefreiheit (DDR-Bürgern war die Ausreise über die BRD- Botschaft in Prag unter Auflagen gestattet) enthielt so viele bürokratische Hürden, dass die gesamte Führung der DDR am 7. November 1989 dem Druck der Straße nachgab und geschlossen zurücktrat. In der darauffolgenden dreitägigen Krisensitzung des SED-Zentral- 55 Kleists Bezug auf die Hebammenkunst bezieht sich auf die diskursive Technik des Erfragens zum Zwecke der Wahrheitsfindung in der Philosphie (Maieutik, gr. μαιευτική (τέχνη)), und wird in der Regel mit Sokrates verbunden: in Platons Dialog Theaitetos vergleicht Sokrates seine Didaktik mit dem Beruf seiner Mutter, einer Hebamme, wenn er mit geeigneten Fragen den Leuten hilft, selbst auf die Sprünge zu kommen. <?page no="90"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 80 komitees wurde ein neues Politbüro gewählt und eine Arbeitsgruppe des Innenministeriums arbeitete eine neue Reiseregelung aus. Die Sperrfrist für die Bekanntgabe der Regelung war der Morgen des 10. Novembers, allerdings fand noch am Abend des 9. Novembers im internationalen Pressezentrum in der Mohrenstraße eine Pressekonferenz mit Günther Schabowski statt, der der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin war. Riccardo Ehrman, ein 60jähriger italienischer Auslandskorrespondent der Nachrichtenagentur Ansa, stellte daraufhin die Frage, ab wann die Regelung gilt, worauf Schabowski etwas verunsichert antwortet: „Das tritt nach meiner Kenntnis ähh ist das sofort, unverzüglich“. 56 Die Nachricht dieser Regelung verbreitete sich so schnell, dass schon Stunden später die Grenzkontrollen an der innerdeutschen Grenze in der Berliner Innenstadt aufgehoben wurden. Beispiel 2: Pressekonferenz mit Günther Schabowski (Pressekonferenz des SED- Zentralkomitees, 09.09.1989) 57 ((...)) 01 GS: also (--) WIR (.) wOllen,= 02 =durch eine 03 dazu gehört AUCH das reisegesetz- 04 die CHAnce 05 also der °hh SOUveränen entscheidung des bürgers- (-) 06 zu REIsen wohin er will, 07 wir sind natürlich (--) äh beSORGT dass, 08 also diese it dieses reisegesetzes,= 56 Auer (2013a: 1-20) nutzt diese Äußerung in seiner Einleitung in den Band „Sprachwissenschaft“ als Beispiel, um zu zeigen, „aus welch unterschiedlichen Perspektiven sich die Sprachwissenschaft heute ihrem Gegenstand nähert.“ (Auer 2013a: 1) Dementsprechend finden sich dort detaillierte phonetische, prosodische, morphologische, (on-line-)syntaktische, textlinguistische und handlungsbezogene Analysen dieses Gesprächsausschnitts. Schabowskis Antwort in Beispiel 2 in Zeile 82-85 ist als sprachliche Handlung nicht deshalb in die Geschichte eingegangen, weil sie „besonders gut formuliert oder gar inszeniert war“ (Auer 2013a: 20), sondern weil sie in einer spezifischen Teilnehmerkonstellation im Rahmen einer Pressekonferenz geäußert wurde, die ihre historische Wirkung erst ermöglichte. Syntaktisch gesehen ähnelt sie keinem Satz aus einem Schulbuch, geschweige denn einer Stilfibel: „Dafür erlaubt er uns Einblicke in die Satzbildung als ein kognitiv und interaktiv reales Ereignis. Denn Schabowski versprachlicht nicht etwa einen Gedanken und eine grammatische Struktur, die er vorher vollständig im Kopf gebildet hatte. Vielmehr ändert sich sein sprachliches ‚Projekt‘, während es entsteht - und das ist für die Spontansprache ganz und gar nicht außergewöhnlich, sondern im Gegenteil recht typisch“ (Auer 2013a: 10). Vgl. auch die Transkription und weitere Analysen der gesamten Pressekonferenz in Auer (2013a: 14-16). 57 Die Aufnahme wurde mir vom Deutschen Rundfunkarchiv (www.dra.de) zur ausschließlich internen Verwendung im Rahmen der wissenschaftlichen Analyse zur Verfügung gestellt. <?page no="91"?> 4.3 „L’idée vient en parlant“ (Heinrich von Kleist) 81 09 =<<rhythmisch> es IST ja noch immer nicht> in kraft, 10 es ist ja ein entWURF, 11 allerdings ist HEUte, 12 soviel ich weiß eine? (0.5) 13 entSCHEIdung getroffen worden, 14 es ist eine emPFEHlung des politbüros aufgegriffen worden, 15 dass man AUS dem entwUrf des REIsegesetzes, (-) 16 den passus herAUSnimmt, 17 und in KRAFT treten lässt, 18 der stän 19 wie man so schön SACHT, 20 oder so Unschön sacht,= 21 =also die STÄNdije Ausreise regelt. 22 also das verLASsen der repuBLIK. 23 ? : hm, 24 GS: weil wir es äh: : : für einen UNmöglichen zUstand halten, 25 °h dass sich diese äh beWEgung vollZIEHT, (-) 26 äh über einen befreundeten STAAT, (.5) 27 äh: : was ja auch für DIEsen staat; 28 nicht (.) ganz EINfach ist. 29 °h u: nd DEShalb äh: : <<all> haben wir uns dazu entschlOssen,> 30 (-) HEUte, (--) 31 äh (-) eine (-) REgelung zu treffen,= 32 =die es (.) JE: dem bürger der de de er, 33 -) äh (-) 34 über GRENZübergangs (-) pUnkte der de de er- 35 äh AUSzureisen; ((...)) 81 RE: WANN tritt das in krAft. (-) 82 GS: ((raschelt mit papier)) das tritt nach meiner (.) KENNTnis, 83 ist das so 84 ? : <<p> unverZÜGlich.> 85 GS: un[verZÜGlich. 86 ? : [<<p> genau (-) unverZÜGlich. Während es eigentlich um eine moderate Lockerung der Reisefreiheit für DDR-Bürger gehen sollte, führte die von Schabowski gewählte Formulierung zum „Fall der Mauer“. Trotzdem kann man nicht behaupten, Günter Schabowski sei durch besonders listige Fragen der Journalisten in die Enge getrieben worden, schließlich sind Frage-Antwort- Sequenzen konstitutive Elemente der kommunikativen Gattung Pressekonferenz, in der „[d]ie Konstruktion dilemmatischer Antwortalternativen […] eine typische forcierende Praktik [ist], die dazu dient, den Handlungsspielraum des Partners auf für ihn ungünstige Alternativen hin zu verengen“ (Deppermann 2014: 33). Auch wenn es sich bei der Frage in <?page no="92"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 82 Zeile 81 nicht um einen Fall der für die Gesprächsgattung typischen „aggressiven Frage“ 58 Heritage & Raymond (2012 handelt, bringt sie den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin doch in Verlegenheit. Statt jedoch die „agency“ (im Sinne von Handlungsvollmacht, )) vollständig zu verweigern und sich nur als Regierungssprecher zu präsentieren, der die kollektiven Beschlüsse der Regierung berichtet, ohne sie zu kommentieren, wie es sich im Durchsuchen der vor ihm liegenden Papiere noch zeigt, oder sich auf seine Unkenntnis zu berufen, und hier nur als „animator“ 59 Deppermann 2014: 35 zu agieren, der die schriftliche Erklärung vorträgt, ohne sie verantworten zu müssen oder sie selbst formuliert zu haben, setzt er den Beschluss in Zeile 82-86 tatsächlich erst in Kraft. Der institutionelle Rahmen einer Pressekonferenz stellt erhöhte Anforderungen an Schabowski, „da in die Fragen Präsuppositionen hinsichtlich Sachverhalten und Bewertungen sowie Antwortpräferenzen eingebaut sind, die für Antwortende das Risiko implizieren, eine Reaktion zu zeigen, die kritikwürdig ist, eine unbedachte Einschätzung oder unbeabsichtigte Informationen preiszugeben oder anderweitig journalistisch auszubeuten zu sein.“ ( ) 4.3.4 Fazit Der Text ist mit der editorischen Notiz „Fortsetzung folgt“ versehen und sollte möglicherweise in Kleists Kunstjournal „Phöbus“ veröffentlicht werden (vgl. Kleist 1964: 925). Es kam jedoch weder zu einer Fortsetzung noch zu einer Veröffentlichung. Trotz der vielen feststellbaren Parallelen zu den anderen hier behandelten Konzepten über die zeitliche Entfaltung von Sprache, darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es auch wichtige Unterschiede gibt. Der Witz bei der „allmählichen Verfertigung“ besteht nämlich darin, dass der Sprecher auf den Etappen seiner Äußerungsproduktion eben nicht weiß, wohin der 58 Clayman & Heritage (2002a, 2002b) unterscheiden „aggressive“ von „höflichen“ Fragen im Rahmen von Pressekonferenzen, die sich nach der Intensität des Fragens (einfach bzw. mehrfach), nach der Direktheit der Formulierung, der Projektion einer bestimmten Antwort, dem Maß an enthaltener Kritik und am Rechtfertigungsdruck, der mit der Frage einhergeht, unterscheiden. In unserem Fall ist die Frage sehr höflich, da von den fünf Kriterien nur zwei relevant gesetzt werden: sie ist einfach, projiziert keine bestimmte Antwort, enthält keine Kritik aber sie ist direkt und baut einen gewissen Rechtfertigungsdruck auf. 59 Goffman (1981: 137-144) unterscheidet im Rahmen eines „participation framework“, der den Status der Beteiligten in einer Kommunikationssituation beschreibt, ohne auf statische „Sprecher“ und „Hörer“-Rollen zu rekurrieren, auf der Seite des Sprechers unterschiedliche Produktionsformate: Der „animator“ artikuliert einen fremden Text und ist in der Rolle des Pressesprechers prototypisch realisiert, der „author“ ist sowohl geistiger wie auch sprachlicher Urheber des Gesagten und der „principal“ ist geistiger Auftraggeber aber nicht der Sprecher des Gesagten und das diametrale Gegenstück zum „animator“. Je nach gewählter Sprecherrolle und Inszenierungsgrad ändert sich auch die Beziehung zum Rezipienten. <?page no="93"?> 4.4 „Sequentiality“ (Harvey Sacks) 83 Satz ihn führt. Dadurch setzt sich das Konzept deutlich von finite-state-Grammatiken ab (siehe z. B. Brazils Grammar of Speech in Kapitel 5.1), wo an jedem Knoten entlang einer Markoff-Kette zwar auch Ungewissheiten (im Sinne von Optionen oder Abzweigungen) bestehen, die jedoch durch den angestrebten target state - das zu erreichende Ziel, das von Beginn an bewusst vorliegt - relativiert werden. Auch das gestalttheoretische Konzept der „guten Fortsetzung“, auf das sich die On-line-Syntax (siehe Kapitel 5.4) beruft, ist nur denkbar, wenn die Kleist’schen Verhältnisse von Sprechabsicht („Gedanke“) und Sprechhandlung umgekehrt werden. 60 Beispiel 2 Allerdings liegt der eigentliche Schwerpunkt seiner Überlegungen auf der Frage, wie ein amorpher Gedanke in eine lineare Verkettung von Wörtern transformiert werden kann und welche Vorgänge dabei im Spiel sind. Welche psychologischen Motive Sprecher wie Günter Schabowski in bei der Formulierung ihrer Gedanken haben, ist jedoch eine hypothetische Frage, die im Rahmen der empirischen Untersuchung von Sprache-in-Interaktion nicht seriös beantwortet werden kann. Ziel der interaktionalen Linguistik ist es nicht, die Intentionen der GesprächsteilnehmerInnen zu rekonstruieren, sondern aufgrund ihres sichtbaren Verhaltens Praktiken und Mechnismen zu identifizieren, die für sie selbst und andere handlungsleitend sind. Kleists Humunkulus, der alle unsere Gedanken und Handlungen im Geiste kommentiert, bleibt der positivistischen und anti-mentalistischen Gesprächslinguistik daher für immer verborgen. 4.4 „Sequentiality“ (Harvey Sacks) Meaning lies not with the speaker nor the addressee nor the utterance alone as many philosophical arguments have considered, but rather with the interactional past, current and projected next utterance. - Emanuel A. Schegloff, Elinor Ochs & Sandra A. Thompson (1996: 40) Der amerikanische Soziologe Harvey Sacks wurde in dieser Arbeit bereits mehrfach erwähnt (Kapitel 2.2 und 2.3) und spielt auch für andere Arbeiten eine ganz zentrale Rolle, 60 Auer (2014) hält Kleists Essay über den Zusammenhang von Sprache und Denken „in mancherlei Hinsicht für sehr modern“ (Auer 2014: 64) und interpretiert ihn ganz im Sinne seiner On-line- Syntax als Modell für die „dialogische Emergenz der Gedanken“ (Auer 2014: 65). Syntaktische Besonderheiten der gesprochenen Sprache bestätigen die Kleist’sche These, dass Dialogbeiträge „sich nicht nach einem vorgängig festgelegten grammatischen Plan entwickel[n], den der Sprecher im Kopf hat, bevor er zu artikulieren beginnt.“ (Auer 2014: 66f.) Gerade das dritte Beispiel des Mirabeau bringt Auer (2014: 75) zu dem Schluss, dass dessen Inszenierung als Anti-Redner auch als allgemeine Kritik an den starren Prinzipien der klassischen Rhetorik gelesen werden kann. <?page no="94"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 84 wie noch zu zeigen sein wird (Kapitel 4.8, 5.4 und 6.1.7). Allein daran wird deutlich, dass seine Untersuchung zur Sequenzorganisation von Gesprächen nicht nur für die Frage der zeitlich-linearen Organisation von Interaktion von Bedeutung ist, sondern inzwischen im Mainstream interaktional-dialogischer Forschung angekommen ist und auch von WissenschaftlerInnen, die sich nicht explizit auf ihn berufen, heute kaum noch in Frage gestellt wird, sondern wie selbstverständlich in deren Modelle inkorporiert wurde. Wie schon in der methodischen und theoretischen Verortung dieser Arbeit erwähnt wurde, ist die linguistische Auseinandersetzung mit gesprochener Sprache untrennbar mit der ethnomethodologischen Konversationsanalyse verbunden, die sich über den Umweg der Frage nach der methodischen Erzeugung sozialer Wirklichkeit auch für das Bauprinzip von Gesprächsbeiträgen und den „geheimen“ Mechanismus ihres reibungslosen Ablaufs interessiert hat. Jedes natürliche Gespräch stellt sich prima facie als eine Aneinanderreihung oder Sequenz von Gesprächsbeiträgen verschiedener Sprecher oder Sprecherinnen dar. Die ethnomethodologische Herausforderung bei der Analyse dieses Ablaufs besteht nun darin, „daß das Phänomen des Sprecherwechsels zwar offensichtlich ist, der dahinter vermutlich wirksame Mechanismus jedoch keineswegs.“ (Levinson 2000: 327) In seinen „Lectures on Conversation“ greift Sacks diese zeitliche Geordnetheit von sprachlichen Handlungen unter dem Stichwort „Sequenzialität“ auf. Die Vorlesungen hat Sacks zwischen 1964-1972 an den kalifornischen Universitäten in Berkley, Irvine und Los Angeles gehalten und sie stellen sein eigentliches wissenschaftliches Vermächtnis dar, weil ihm für andere Publikationen oft sein Perfektionismus im Weg stand. 61 Schegloff (1995: xii Anders als bei Aufsätzen und Büchern war die Hürde bei Vorlesungen niedriger und sie boten Sacks eine informelle Möglichkeit, seine Überlegungen an die Öffentlichkeit zu bringen. Diese Öffentlichkeit in Gestalt der damals anwesenden Studierenden konnte laut ) den dort präsentierten „most remarkable, inventive and productive account of a strikingly new vision of how to study human sociality“ noch gar nicht zu schätzen wissen, sondern das war erst den kommenden Generationen vorbehalten. 62 Ähnlich wie bei Saussure wurden die Vorlesungen von seinen Weggefährten transkribiert und nach Sacks frühem Unfalltod 1975 publiziert; anders als bei Saussure gab es jedoch original Tonbandaufnahmen der einzelnen Vorlesungen, so dass es im Gegensatz zur kritischen Rezeption des Cours später keine Debatte um die Echtheit und Authentizität des Textes gab. 63 61 Im Vorwort zu den postum veröffentlichen Vorlesungen diagnostiziert ihm sein Kollege und Adept Schegloff (1995: xix) daher: „Sacks imposed standards of formality and precision that were extremely hard for him to meet.“ 62 Zum Rezeptionsweg der Konversationsanalyse auch nach Deutschland, siehe Kapitel 2.2. 63 Zu Sacks Vita und der Entstehungsgeschichte der Vorlesungsedition vgl. vor allem deren Vorwort von Schegloff (1995). <?page no="95"?> 4.4 „Sequentiality“ (Harvey Sacks) 85 Aspekte der Sequenzorganisation im Gespräch durchziehen fast die gesamte Vorlesungsreihe. Am Anfang stehen dabei immer ganz simple Fragen, die sich aus der präzisen Beobachtung von menschlicher Interaktion ergaben. Im Herbst 1967 versucht Sacks (1995: Volume I 622; Hervorhebung im Original) in der ersten einleitenden Sitzung nach der Sommerpause den Hörern und Hörerinnen seiner Vorlesung zu erklären, welche Voraussetzungen sie mitbringen sollten und was sie in der Veranstaltung erwartet: […] So, the work I’m doing is about talk. It’s about the details of talk. In some sense it’s about how conversation works. The work tends to change, and let me just say a little bit about what I plan to do here. I have a bunch of stuff and I want to try to see whether an order for it exists. Not that I want to try to order it, but I want to try to see whether there’s some order to it. The focus will be on sequencing in conversation. […] The aims will be, roughly, to try to lay out some of the ways that the discoverable aspects of single utterances turn out to be handleable - perhaps handleably only - by reference to sequencing considerations. That is to say, I will try to lay out how it is that sequencing considerations turn out to be implicative of what happens in a given utterance. I’ll be starting out with a characterization of a conversational system where such an event would not at all be expectable. That is to say, a conversational system in which there might not be anything in the talk that dealt with things like who should talk next, who talked last, what they did, etc. Es geht also darum, die Verfahren aufzudecken, mit deren Hilfe Gesprächspartner ihre Beiträge so gestalten, dass sie „handhabbar“ für ihre Zwecke werden. Diese Verfahren müssen zwei grundsätzliche Eigenschaften von Gesprächen erklären bzw. ermöglichen: (i) Es spricht in der Regel immer mindestens eine, aber auch nicht mehr als eine, Person und (ii) es spricht nicht immer derselbe, d. h. die Sprecherrolle kann wechseln (vgl. Schegloff & Sacks 1973: 293). Die GesprächspartnerInnen bedienen sich dabei eines Systems hierarchisierter Regelabfolgen, die als „turn-taking machinery“ einerseits Verfahren bereitstellt, den nächsten Sprecher auszuwählen, und andererseits Verfahren, die die Lokalisierung der nächsten redeübergaberelevanten Stelle erlauben. 4.4.1 Die Organisation des Sprecherwechsels Mit Beginn der systematischen Erforschung von Gesprächsstrukturen stellte sich das terminologische Problem, wie die Grundeinheit von Gesprächen zu bezeichnen sei, da sie offensichtlich nicht im Satz oder Absatz besteht. Stattdessen stellte sich als wichtigstes Strukturmerkmal der Sprecherwechsel dar, der viele Gemeinsamkeiten mit dem Spielzug („it’s my turn“) eines Spielers in einer Spielrunde hat. Auch diese „Spielzüge“ (turns) lassen sich sinnvoll nur als Sequenzen von Spielzügen beschreiben: Während eines Kartenspiels müssen die Spieler z. B. nicht nur darauf achten, welche Karten sie auf der Hand haben, <?page no="96"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 86 sondern auch welche Karten im bisherigen Spielverlauf schon gespielt wurden, wer gerade an der Reihe war und wer als nächstes an der Reihe ist. Eine Karte mit einem niedrigen Wert hat zu Beginn des Spiels eine andere Bedeutung als zum Ende. Falls man am Zug ist und nicht aufgepasst hat, beschweren sich die Mitspieler und fordern mehr Aufmerksamkeit. Was man über das Timing, die Position und den Verlauf von Spielzügen sagen kann, ließe sich genauso gut von Redezügen in einem Gespräch sagen. Anders als in Spielrunden kann es in Gesprächen jedoch dazu kommen, dass mehrere gleichzeitig an der Reihe sind und daher zur gleichen Zeit sprechen. Da aber in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle Parallelsprechen vermieden wird, muss es einen einfachen Mechanismus geben, der dafür sorgt, dass immer nur eine Person spricht, dass Sprecherwechsel möglich sind und dass zwischen den Sprecherwechseln weder Pausen noch Überlappungen liegen. Laut Sacks et al. (1974: 725) ist die Verteilung des Rederechts in Alltagsgesprächen nur denkbar als ein „local management system“, das immer nur einen und zwar jeweils den nächsten Redebeitrag zuweist. Es handelt sich also nicht um eine „Liste“, aus der hervorgeht, wann wer für wie lange etwas sagen darf. 64 Dieses turn-taking-System für Gespräche besteht aus zwei Komponenten und einer Reihe von Regeln (vgl. Sacks et al. 1974: 702-704). Die erste Komponente ist die Turn-Konstruktionskomponente: Die minimalen Einheiten, über die das System operiert, definieren sich in erster Linie über ihre syntaktischen Eigenschaften, obwohl auch die Intonation als diskriminierender Faktor eine entscheidende Rolle spielt, um z. B. aus einem Fragewort eine Ein-Wort-Frage zu machen (Wann? ). Jeder neue Sprecher bekommt erst mal nur eine dieser kleinsten beitragsbildenden Einheiten (turn-constructional unit oder TCU) zugeteilt. Mit dem Erreichen ihres Endes gelangt das Gespräch an eine übergaberelevante Stelle (transition relevance place oder TRP), an der das lokale Managementsystem des Sprecherwechsels wirksam wird. Die zweite Komponente ist die Rederechtszuweisungskomponente: sie kann zwar ganz verschiedene Gestalt annehmen, ist aber immer einer der beiden folgenden Gruppen zuzuordnen. Entweder kann der aktuelle Sprecher den nächsten auswählen 65 64 In institutionellen Kontexten wie dem Vortrag mit anschließender Gelegenheit zu Fragen in oder eine konkrete Zuweisung bleibt aus und es kommt zur Selbst-Wahl (self-selection) des nächsten Sprechers nach dem first-starter-Prinzip. Beispiel 5 spielen solche Listen und eine vorab festgelegte Länge der Beiträge durchaus eine Rolle. Dafür muss aber das alltägliche Sprecherwechselsystem aktiv außer Kraft gesetzt werden. Häufig wird dazu ein Moderator eingesetzt, der Verstöße gegen die Reihenfolge der Wortmeldungen oder gegen die thematische Kohärenz oder die Länge der Beiträge im Zweifelsfall auch sanktioniert. 65 Die Techniken des Auswählens können ganz verschieden sein und beschränken sich nicht auf die namentliche Anrede (Was hältst du davon, Günther? ). Z. B. richtet sich eine Rückfrage (Was hast du gesagt? ) immer an den letzten Sprecher davor, ganz gleich, wie viele Gesprächsparteien anwesend sind und ohne die Zuweisung explizit zu machen. <?page no="97"?> 4.4 „Sequentiality“ (Harvey Sacks) 87 Das Regelsystem, das die Zuweisung des Rederechts an eine Partei und die koordinierte Übergabe ohne Pause oder Überlappung sicherstellt, besteht aus nur zwei Regeln, von denen die erste eine geordnete Menge von Optionen enthält. 1) Mit dem Erreichen einer rederechtsübergaberelevanten Stelle (TRP) gilt: a) Wenn in dem aktuellen Beitrag ein nächster Sprecher ausgewählt wurde, hat dieser „das Recht und die Pflicht“ als nächster zu sprechen. b) Falls der aktuelle Sprecher niemanden als nächsten Sprecher ausgewählt hat, haben alle Anwesenden das Recht und die Möglichkeit (aber nicht die Verpflichtung) zu sprechen. c) Falls niemand vom aktuellen Sprecher als nächster ausgewählt wurde und niemand der anderen sich durch Selbst-Wahl zum nächsten Sprecher gemacht hat, darf der aktuelle Sprecher weitersprechen. 2) Auch im Fall von 1c wird das Rederecht nur für eine Beitragseinheit (TCU) vergeben. An deren Ende (TRP) tritt wieder das Regelbündel 1a-c in Kraft. Die Wirksamkeit und Bedeutung dieses Regelsystems lässt sicher sehr gut am Beispiel der Pause illustrieren. Phasen des Nicht-Sprechens im Gespräch, die normalerweise „an sich keine interessanten Eigenschaften aufweisen“ (Levinson 2000: 348), lassen sich durch ihre Platzierung nämlich einem Sprecher oder einer Sprecherin zuweisen und bekommen im Rahmen des Regelsystems als signifikantes Schweigen eine Funktion und Bedeutung. Wenn eine kurze Sprechpause zwischen zwei Beiträgen eines Sprecherwechsels liegt, lässt sie sich durch die chronologisch gestufte Abfolge der Regeln 1a-c erklären, denn die Selbstwahl des aktuellen Sprechers erfolgt erst nach Ausbleiben der Selbstwahl der anderen Sprecher. Handelt es sich um eine Phase des Nicht-Sprechens innerhalb einer Turn-Konstruktionseinheit (also außerhalb einer TRP) stellt sie ein Stocken oder eine Zögerung des aktuellen Sprechers dar. Spricht niemand, obwohl jemand vom aktuellen Sprecher als nächster Sprecher designiert wurde (Regelfall 1a), handelt es sich um signifikantes Schweigen. Da Schweigen nicht eigentlich von einem Sprecher ausgeführt wird, sondern ein Gesprächszustand ist, der von allen Sprechern gleichzeitig ausgeübt wird, ergibt sich die unterschiedliche Bedeutung allein aus der Position im sequenziellen Verlauf. Der geordnete Übergang „with no gap and no overlap“ (Sacks et al. 1974: 708) von einem Sprecher zur nächsten Sprecherin ist jedoch nur der erste Schritt für die strukturelle Beschreibung von Gesprächen. Sacks (1987: 54) macht einen Unterschied zwischen der bloßen seriellen Anreihung und einer sequenziellen Abfolge von Äußerungen. Sequenziell bedeutet im Unterschied zu seriell, „that the parts which are occurring one after the other, or are in some before and after relationship, have some organisation as between them.“ Die grundlegendste Form der Organisation von Gesprächen besteht aus zwei Beiträgen, die <?page no="98"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 88 aufeinander bezogen sind und ein Sequenzpaar bilden, das aus einem ersten Paarteil (first pair part) und einem zweiten Paarteil (second pair part) besteht. 4.4.2 Paarsequenzen 1963 kam Sacks auf Einladung Harold Garfinkels an die UCLA, um an einem Projekt über Krisen-Hotline-Gespräche für Selbstmordgefährdete mitzuarbeiten. Er entwickelte seine „Rules of Conversational Sequence“ (Sacks & Jefferson 1992a) anhand der Telefoneröffnungen, da sich hieran zeigen lässt, dass die Begrüßungen und Gesprächsanfänge paarweise angeordnet sind (Hallo - Hallo; Mein Name ist Schmidt, wie kann ich Ihnen helfen? - Mein Name ist Schulz) und dass zwischen diesen Paaren eine gewisse Passung besteht. Der Idee der sequenziellen Organisation von Interaktion besteht in drei wesentlichen Grundannahmen. Mit dem Ausführen einer sprachlichen Äußerung projizieren SprecherInnen in aller Regel eine Folgehandlung bzw. machen einen bestimmten Typ von möglichen Folgehandlungen durch den nächsten Sprecher erwartbar. Außerdem beziehen sich SprecherInnen mit einer Äußerung in aller Regel auf den unmittelbar vorausgehenden Kontext. SprecherInnen konzipieren ihre Gesprächsbeiträge also immer mit Rücksicht auf deren sequenzielle Positionierung. Da jede Sprachhandlung (Aktion) also mit gleichem Recht als Reaktion auf die vorhergehende Sprachhandlung verstanden werden kann, signalisieren sich die Gesprächspartner mit ihren Beiträgen ständig, wie sie die vorherige Äußerung verstanden haben. Eine Ablehnung signalisiert daher auf vielschichtige Weise, wie die Vorgängeräußerung interpretiert wurde, nämlich dass ein ganz spezifischer Typ Äußerung (z. B. Einladung) vollzogen wurde, dass der vorangegangene Turn abgeschlossen war und ein Sprecherwechsel möglich war, dass die Einladung an den zweiten Sprecher gerichtet war und so weiter. Diese gegenseitigen Interpretationen der gemeinsam durchgeführten Aktivität können allerdings auch divergieren und dann in einem Reparaturverfahren Gegenstand erneuter Aushandlung werden. What two utterances produced by different speakers can do that one utterance cannot do is: by an adjacently positioned second, a speaker can show that he understood what a prior aimed at, and that he is willing to go along with that. Also, by virtue of the occurrence of an adjacently produced second, the doer of a first can see that what he intended was indeed understood, and that it was or was not accepted. Also, of course, a second can assert his failure to understand, or disagreement, and inspection of a second by a first can allow the first speaker to see that while the second thought he understood, indeed he misunderstood. (Schegloff & Sacks 1973: 297f.) Diese drei Merkmale - das Auslösen einer erwartbaren Folgehandlung, welche durch die laufende Handlung projiziert worden ist, die Einbettung jeder Äußerung in den unmittelbaren sequenziellen Kontext und die Verstehenssicherung durch die Ausführung der rich- <?page no="99"?> 4.4 „Sequentiality“ (Harvey Sacks) 89 tigen Folgehandlung, durch die retrospektiv die vorausgehende Handlung gedeutet wird - sind Strukturmerkmale jedes Gesprächs und werden in der Konversationsanalyse als geteiltes Wissen der Gesprächsteilnehmer immer schon vorausgesetzt. Als Ausgangspunkt für die Arbeiten zur sequenziellen Organisation von Gesprächen dienten bestimmte Handlungen, welche unausweichlich einen bestimmten Typ von Folgehandlung relevant machten. Die bekanntesten dieser „paired action sequences“ sind Gruß- Gegengruß, Frage-Antwort, Einladung-Annahme/ Ablehnung und schon in den frühesten Vorlesungen widmete sich Sacks der Frage, welche ‚Verbindungsregeln‘ zwischen diesen paarweise durchgeführten Handlungen herrschen. Später führte er dafür die Bezeichnung Nachbarschaftspaar („adjacency pair“ (Schegloff & Sacks 1973) ) ein (Tabelle 2). Tabelle 2: „Adjacency pairs“ nach Stivers (2013: 192) First-pair part action Second-pair part action Summons Answer Greeting Greeting Invitation Acceptance / declination Offer Acceptance / declination Request for action Granting / denial Request for information Informative answer Accusation Admission / denial Farewell Farewell Diese Adjazenz ist jedoch nicht zwingend, d. h. die sequenzielle Abfolge kann von der seriellen Abfolge abweichen, indem z. B. eine Einschubsequenz erfolgt. Die Kraft, die die beiden Paarteile zusammenhält, besteht in der Erwartung an eine bestimmte Art von Folgehandlung, die von dem initiierenden ersten Paarteil ausgelöst wird und die in der konversationsanalytischen Literatur unter dem Stichwort der „conditional relevance“ des zweiten Paarteils behandelt wird, die dafür verantwortlich ist, dass, auch wenn der zweite Teil nicht geäußert wird, er als „noticeably absent“ wahrgenommen wird (Schegloff & Sacks 1973). Auch Einschubsequenzen (z. B. eine Gegenfrage) zeigen, dass sich die TeilnehmerInnen an der durch die erste Paarhälfte relevant gewordenen (erwartbar gemachten) zweiten Paarhälfte orientieren. Eine Gegenfrage bedeutet nicht, dass die erste Frage ignoriert wird oder nicht verstanden wurde. Diese Orientierung ist für die Teilnehmer wichtig, weil sie sich damit gegenseitig anzeigen, wie sie ihre aktuell durchgeführten Handlungen verstehen, und für den Konversationsanalytiker ist sie wichtig, weil er einen Zugang hat, die Konversation aus der Perspektive der Teilnehmer zu interpretieren: <?page no="100"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 90 But while understandings of other turns’ talk are displayed to co-participants, they are available as well to professional analysts, who are thereby afforded a proof criterion (and a search procedure) for the analysts of what a turn’s talk is occupied with. Since it is the parties’ understandings of prior turns’ talk that is relevant to their construction of next turns, it is THEIR understandings that are wanted for analysis. The display of those understandings in the talk of subsequent turns affords both a resource for the analysis of prior turns and a proof procedure for professional analysis of prior turns - resources intrinsic to the data themselves. (Sacks et al. 1974: 729, Hervorhebung im Original) Die präzise Untersuchung der Folgehandlungen auf eine Äußerung stellt also eine der wichtigsten Aufgaben für die wissenschaftliche Rekonstruktion der Interaktionspraktiken der GesprächsteilnehmerInnen dar. Während sich in den Reaktionen der InteraktionsteilnehmerInnen deren gegenwärtiges Verständnis widerspiegelt, sind sie für den analysierenden Wissenschaftler ein Prüfstein für die eigenen Interpretationshypothesen: „The turntaking system has, as by-product of its design, a proof procedure for the analysis of turns.“ (Sacks et al. 1974: 728) Um objektiv nachweisen zu können, dass die Interpretationen einer Äußerung mit der Interpretation der TeilnehmerInnen übereinstimmen, müssen sie sich im weiteren Interaktionsverlauf als tatsächlich handlungsleitend herausstellen. Als Beweisverfahren haben sich fünf unterschiedliche Arten von Evidenz herauskristallisiert, die sich hauptsächlich durch ihre Position im sequenziellen Ablauf der Interaktion unterscheiden: das Verhältnis einer kommunikativen Praktik zu der Vorgängeräußerung, simultane Evidenz innerhalb der kommunikativen Praktik, nachfolgende Behandlung der Praktik, Unterscheidbarkeit/ Identifizierbarkeit der Praktik und abweichende Fälle („deviant cases“) beim Gebrauch der Praktik (vgl. Wootton 1989: 244). 4.4.3 Erweiterte Paarsequenzen: Diskussion an mehreren Beispielen Das prominenteste Beispiel für eine Handlungssequenz ist eine Gesprächssequenz, die sich aus der Abfolge von Gesprächsbeiträgen von verschiedenen Sprechern ergibt. 66 66 Selbstverständlich können auch nicht-sprachliche Handlungen Sequenzen bilden, z. B. in der summons-answer-Sequenz bestehend aus Telefonklingeln und Abnehmen. Deren Beiträge sind häufig paarweise organisiert, da ein erster Paarteil (z. B. eine Frage) einen zweiten Paarteil relevant macht (idealerweise eine Antwort, andernfalls eine Rechtfertigung für das Nicht-Beantworten, eine Gegenfrage, eine Entschuldigung, usw.). Es gibt aber auch noch andere Sequenzen im Gespräch, die nicht auf Paarsequenzen basieren, sondern sich über drei, vier oder noch mehr Beiträge erstrecken. Dazu gehören z. B. Reparatursequenzen oder sogenannte Vor-Sequenzen (pre’s), die eingesetzt werden, um den Sprecherwechselmechanismus zeitweilig außer Kraft zu setzen, um größere Handlungseinheiten zu pro- <?page no="101"?> 4.4 „Sequentiality“ (Harvey Sacks) 91 duzieren (Erzählungen, Witze) oder um Gesichtsbedrohungen vorsorglich zu minimieren (Einladungen, Bitten). Außerdem können Handlungseinheiten auch in Form von Post- Sequenzen erweitert werden, wenn z. B. auf die Antwort auf eine Frage mit „Oh, wirklich? “ reagiert wird, wodurch die Antwort nicht nur als adäquate Folgehandlung ratifiziert wird, sondern deren Inhalt auch noch eine überraschende Qualität zugeschrieben bekommt, „which treats the answer as news - as worthy of comment - and invites possible elaboration or qualification.“ (Stivers 2013: 198) Eine Paarsequenz bestehend aus einem initiativen ersten Paarteil und einem responsiven zweiten Paarteil kann also auf drei verschiedene Arten durch abhängige Sequenzen expandiert werden, die ihrerseits wiederum paarweise organisiert sind und selbst auch komplexe Strukturen bilden können (Abbildung 3). Abbildung 3: Paarsequenz und Expansionstypen Darüber hinaus gibt es in Gesprächen noch quasi-sequenzbildende Elemente, die im Zusammenhang mit der Gesamtorganisation von Gesprächen stehen, wie z. B. die Gesprächsphasen (Eröffnung, Beendigung, Kern) und die Themenorganisation innerhalb von Gesprächen. Das Relevantsetzen einer spezifischen Folgehandlung muss dabei nicht immer so strengen Prinzipien folgen wie bei Paarsequenzen. So spricht Pomerantz (1978) im Zusammenhang mit der kommunikativen Praktik des Kompliment-Machens lieber von „chained actions“ als von einer Sequenz. Ähnlich wie bei Paarsequenzen handelt es sich bei Komplimenten und den Reaktionen darauf um zwei Handlungen, die aufeinander bezogen sind, so dass die Ausführung von Handlung 1 die Möglichkeit der Ausführung von <?page no="102"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 92 Handlung 2 als angemessene Folgehandlung vorsieht. 67 In Anders als bei einer Frage- Antwort-Sequenz ist bei der Handlungskette des Kompliments die Handlung 2 optional. Beispiel 3 soll gezeigt werden, wie eine Erweiterung einer Paarsequenz aussehen kann. In der Reality-TV-Sendung „Big Brother“ müssen die Bewohner einer geschlossenen Containersiedlung um die Dinge des täglichen Bedarfs „spielen“, indem sie unterschiedliche Wochenaufgaben gestellt bekommen und bestehen müssen. In dem folgenden Beispiel handelt es sich um eine fiktive Taxischeinprüfung, bei der die TeilnehmerInnen Routenpläne auswendig aufsagen müssen. Das Sequenzmuster entspricht dem einer „Lehrerfrage“, wie es aus der Forschung zu institutioneller Kommunikation im Klassenzimmer (vgl. die diskursanalytische Untersuchung von Coulthard & Brazil 1992, Sinclair & Coulthard 1975) bekannt ist: „A typical exchange in the classroom consists of an initiation by the teacher, followed by a response from the pupil, followed by feedback, to the pupil’s response from the teacher […]“ (Sinclair & Coulthard 1992: 3). Coulthard & Brazil (1992: 65) haben dafür den Term IRF („Initiation“, „Response“, „Feedback“) geprägt. Diese drei Gesprächsschritte lassen sich auch in der (fingierten) Prüfungssituation identifizieren. Beispiel 3: Taxiprüfung 1 (BB2_87) 01 an1: hallo TOM- 02 Tom: halLO: ? I 03 an1: dein PRÜfungsort (.) deine prüfungsstadt ist 04 Tom: hm_hm 05 an1: und wir möchten zuNÄ: CHST von der bUndslauerstraße? (.) 06 zum schiefersburger weg. 07 Tom: <<len, p> bUndslauerstraße zum schiefersburger WE: G? 08 °hh 09 das is die zweiBRÜckerstraße; R 10 Achener straße; 11 MAARweg, 67 Die Reaktionen auf Komplimente lassen sich laut Pomerantz (1978) als Lösungsstrategien für einen moralisches Dilemma begreifen, in dem sich der (nordamerikanische) Empfänger eines Kompliments befindet. Es entsteht durch die beiden konfligierenden Gesprächsmaximen „Suche Übereinstimmung mit deinem Gegenüber“ und „Vermeide Eigenlob“. Dementsprechend kann man auf ein Kompliment mit der Zurückweisung oder Abschwächung des Kompliments, einem Gegenkompliment oder Dank reagieren. Dadurch reduziert sich die Menge der möglichen Reaktionen. Das Gleiche gilt für Bewertungen. Komplimente unterscheiden sich von anderen positiven Bewertungen darin, dass sie einen Aspekt, der den Hörer betrifft, positiv bewerten (vgl. Grein 2008: 17). Auch die übrigen positiven Bewertungen bilden Sequenzmuster, die jedoch anderen konversationellen Zwängen unterliegen als Komplimente zur eigenen Person (Golato 2005). <?page no="103"?> 4.4 „Sequentiality“ (Harvey Sacks) 93 12 °h ÄUßere kanAlstraße; R 13 escherstraße; 14 SCHIEfersburger weg. F 15 an1: (3.0) 16 ja. Die Sequenzmuster ergeben sich aus den kommunikativen Aufgaben, in deren Dienst sie stehen. Die grundsätzlichen Rahmenbedingungen in Form von Zeitlichkeit und Interaktivität erzwingen die Organisation der Teilaktivitäten und deren logische Abfolge. Die verschiedenen Beitragsaktivitäten müssen bestimmte inhaltliche und pragmatische Eigenschaften besitzen, um an ihrer jeweiligen Position ihre spezifische Aufgabe zu erfüllen. Dieses Muster ist unabhängig von Erfolg und Misserfolg der durchgeführten Aktivität - vgl. den Ausschnitt in Beispiel 4 aus derselben Taxiprüfung, allerdings mit einer anderen Teilnehmerin: Beispiel 4: Taxiprüfung 2 (BB2_87) 01 an1: wir beFINden uns in hAmbu: rg? I 02 (.) und die ERste route geht von der- (-) 03 bernhard nOrd straße nach SPEERSort. R 04 Chr: °hh (.) da muss ich ja GANZ ehrlich sagen, 05 äh (1.0) ich hab da gar nich geLE: HRNT. 06 [...] Die Antwort ab Zeile 4 zeigt, dass Maßstäbe wie „Wohlgeformtheit“ und „Grammatikalität“, wie sie für den syntaktischen Aufbau von Sätzen angelegt werden, nicht sinnvoll auf die Organisation von Sequenzen übertragen werden können. Christina (Chr) verhält sich nämlich nicht unkooperativ, wenn sie eingesteht, dass sie die Antwort auf die Frage nicht kennt. Sie signalisiert sogar, dass ihre Reaktion nicht die perfekte „Passung“ für eine Frage- Antwort-Sequenz besitzt - auch wenn „Nicht-Antworten-Können“ Teil der Menge der möglichen angemessenen Reaktionen auf Fragen ist. Eine Antwort als Reaktion auf eine Frage zu geben, ist jedoch der unmarkierte Fall und Abweichungen davon erfordern einen gewissen kommunikativen Mehraufwand - in unserem Fall realisiert in der distanzierenden Formel ich muss ehrlich sagen (vgl. Stoltenburg 2009) und den Disfluenzmarkern in Form von „gefüllten“ und leeren Pausen. Aus diesen strukturellen Merkmalen lassen sich Präferenzen unter den verschiedenen Antwortkandidaten ableiten, die untereinander hierarchisch organisiert sind (vgl. zum Thema „Präferenz“ die Diskussion und den Forschungsstand bei Bilmes (1988) und Pomerantz & Heritage (2013). Auch wenn diese Sequenzmuster Folgehandlungen erwartbar machen und sie gegebenenfalls auch einfordern können, handelt es sich bei diesen Regularitäten um dynamische und flexible Strukturformate, die von den Beteiligten flexibel an die lokalen Anforderungen je nach den aktuel- <?page no="104"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 94 len Gesprächszielen angepasst werden. Nur im Extremfall, wie z. B. den institutionell erstarrten Gesprächsroutinen der römisch katholischen Liturgie (Paul 1990) oder traditionellen Trinksprüchen durch einen georgischen Tamada (Kotthoff 1991) o. ä., bekommen die Sequenzmuster die normative Qualität von Vorschriften. In dem folgenden etwas längeren Beispiel soll noch einmal deutlich gemacht werden, was damit gemeint ist, dass sich Kommunikationspartner sichtbar an der Sequenzorganisation und konditionellen Relevanz des nächsten Beitrags orientierteren. Es handelt es sich um einen Ausschnitt aus den Schlichtungsverhandlungen zum Bauprojekt der Deutschen Bahn „Stuttgart 21“. Im Anschluss an das Referat des beratenden Ingenieurs der Deutschen Bahn, Walter Wittke (WW), stellt er sich den Fragen des Gremiums. Der Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer (BP), nimmt an diesem Tag stellvertretend die Position des Projektgegners Winfried Kretschmer ein und stellt dem Experten die Frage, ob er hundertprozentig ausschließen könne, dass es in dem besprochenen Tunnelprojekt zu Problemen durch Wassereinbruch kommt. Beispiel 5: Schlichtungsgespräch 2 („Stuttgart 21“, 20. 11. 2010, Teil 2, Ausschnitt 39: 30-45: 55 min) 001 BP: und jetz möcht ich herrn wIttke n paar FRAgen stellen. 002 sie hA: ben <<p, all> wenn ich_s richtig verstanden hab> geSAGT, 003 es ist nicht vollständig auszuschließen. 004 KANN ich daraus fOlgern, 005 dass auch SIE nicht sA: gen. 006 es ist hundert prozent SICHer; 007 dass bei den TUNneln die hier gebaut werden, 008 NI: Rgendwo (.) das quellproblem auftritt. 009 oder können sie das HUNdertprozentig ausschließen.= 010 =das ist meine ERste frage. 011 meine [zweite ] 012 WW: [moMENT,] 013 dArf ich die FRAge der reihe nach beantworten? 014 BP: wenn sie mit [JA oder NEIN beantworten,] 015 HG: [ja,=BITte schön, ] 016 beANTworten sie. 017 sie kommen dann GLEICH wieder drAn,=herr palmer; 018 WW: ich würde gerne die fragen (.) der REIhe nach beantworten. 019 HG: [ja. ] 020 WW: [weil] es ein übliches verfahren ist [ZEHN fragen zu ] stellen, 021 HG: <?page no="105"?> 4.4 „Sequentiality“ (Harvey Sacks) 95 022 WW: den redner zu verWIRren, 023 anschließend (gefragt wird) die erste frage verGESsen. 024 das möcht ich dem möchte ich nich äh möchte ich [nich AUSgesetzt] sein; 025 HG: [würden sie ] 026 ja. 027 gut- 028 okAY. 029 WW: ich habe NICH gesa: gt dass das 030 wir haben QUELLdrücke angesetzt; =herr (.) herr palmer. 031 bei den TUNneln.=nich? ((39: 38-40: 33 im Transkript ausgelassen)) Allerdings hat Boris Palmer „n paar FRAgen“ (Zeile 01) angekündigt (eine typische Vor- Sequenz) und wird in Zeile 12 von Walter Wittke unterbrochen mit einer Gegenfrage. Statt also die Erwartung der im Raum stehenden Frage zu bedienen, die in der Terminologie der Konversationsanalyse eine Antwort „konditionell relevant“ gemacht hat, richtet er sich an den Schlichter Heiner Geisler (HG) mit der Bitte, die Fragen der Reihe nach beantworten zu dürfen (Zeile 13), was HG ihm zugesteht. Daraufhin folgt noch eine kurze Rechtfertigung durch WW, warum er so verfährt, obwohl sich BP eigentlich bereits das Rederecht durch die Ankündigung mehrerer Fragen bis auf weiteres reserviert hatte und alle syntaktisch oder prosodisch markierten übergaberelevanten Stellen bis zum Erreichen des Endes dieser Fragenliste blockiert sind. Nach der Aushandlung bzw. Einschubsequenz, die erste Frage direkt im Anschluss beantworten zu dürfen, kommt es anstelle eines „ja“ oder „nein“ auf die weiterhin im Raum stehende Entscheidungsfrage aus Zeile 004-009 zu einer mehr als einminütige Ausführung des Professors und Ingenieurs Wittke über „quelldrücke“ und deren Berechnung in „megapascal“, die zum großen Teil in dem Transkript ausgespart wurde. In Zeile 36 wird er vom Oberbürgermeister und Fragensteller unterbrochen, der die weitschweifigen Ausführungen nicht als Antwort auf seine Ja-Nein-Frage akzeptiert (eigentlich hat er das Ausbleiben einer angemessenen Reaktion auf seine erste Frage schon zu Beginn der insertion sequence in Zeile 14 reklamiert). ((Fortsetzung Beispiel 5)) 033 WW: - 034 TUNnel nach fel fEUerbach bad cannstatt zugrunde gelegt worden, 035 bis zu SIE: ben me[gapascal. ] 036 BP: [das war aber] Alles nicht meine FRA: ge. 037 wenn sie schon meine FRAge beantworten [wollen,] 038 WW: [doch. ] 039 BP: dann TUN sie das bitte. 040 schließen sie zu [HUNdertprozent aus,] <?page no="106"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 96 041 WW: [ich bin daBEI. ] 042 BP: dass das wasser [auch ] 043 HG: [herr PAL]mer, 044 er IS ja grade dabEI. 045 BP: I merk NICHTS davon. ((40: 49-41: 31 im Transkript ausgelassen)) WW reagiert gereizt auf die insistierende Nachfrage von BP und beschwert sich, dass schon die Prämisse der Frage nicht stimmt, da ihm auf unlautere Weise Worte in den Mund gelegt werden (Zeile 003 „es ist nicht ÜBerall möglich wAsserzutritte vollständig auszuschließen.“), die er so nie geäußert oder gemeint haben will (im Transkript ausgelassen). Anschließend richtet WW seine Kritik aber nicht mehr allein gegen die Art der Formulierung der Frage, sondern gegen die Kompetenz des Fragestellers, so dass sich der Schlichter HG einschalten muss, um weitere Argumente ad personam zu unterbinden und das Gespräch auf das ursprüngliche Thema zurückzuführen (Zeile 055). ((Fortsetzung Beispiel 5)) 055 HG: also die frage von herrn palmer LAUtete, °h 056 057 so. 058 dass äh war die FRAge.= 059 =hu zu HUNdert prozent (-) [ausschließen.] 060 WW: [ diese FRAge ] (-) ist nicht 061 HG: ich weiß nicht ob_s äh eine solche frAge überhaupt beANTwortet werden kann. 062 WW: diese frage ist nich ZUlässig, =herr [doktor geißler. ] 063 HG: [ah die ist nicht ZUlässig.] 064 BP: [ja GUT, ] 065 ? : ja gut dann äh das 066 BP: dann stell ich meine NÄ: CHste. 067 ? : nein. 068 weil wir 069 WW: nein,=ich möchte das be[GRÜNden.] 070 HG: [er muss ] er muss doch 071 warum sie nich ZUlässig ist; 072 WW: ja (-) wollt ich [gerne sagen.] 073 HG: [also BITTe ]schön. 074 jetzt sagen sie das; 075 WW: weil wir in der tEchnik mit dem RIsikobegriff (.) operieren? 076 und der risikobegriff ist das produkt aus der eintretenswahrSCHEINlichkeit, 077 und der dem SCHA: den der entsteht. 078 ? : ja. 079 WW: monetär oder BAUzeitlich. <?page no="107"?> 4.4 „Sequentiality“ (Harvey Sacks) 97 080 DAS ist der begriff (.) des risikos. 081 nicht hundertproZENT. 082 und (-) wenn ich DAS berücksichtige,= 083 =ist das RIsiko eines schadens äußerst gering. ((42: 27-43: 06 im Transkript ausgelassen)) Es wird nun immer offensichtlicher, dass Walter Wittke seiner Verpflichtung, eine Antwort auf die Frage geben zu müssen, nicht nachkommen kann oder will. In seiner Not wendet er sich an den Schlichter Heiner Geisler (Zeile 062): „diese frage ist nich ZUlässig, herr doktor geißler.“ Obwohl die Sequenz damit eigentlich abgeschlossen wäre, weil einige Prämissen der Frage nicht erfüllt sind, zeigt sich nun, was es bedeutet, dass ein fehlender zweiter Paarteil „officially absent“ (Schegloff 1968: 1083) ist. Statt zur nächsten Frage überzugehen, wie von BP vorgeschlagen wird (Zeile 66), möchte WW noch eine Rechtfertigung für die fehlende Antwort abliefern („nein,= ich möchte das beGRÜNden. warum sie nich ZUlässig ist; “ Zeile 69-71) und wird in seiner Absicht vom Schlichter auch unterstützt. Nachdem WW also die Frage nach „hunderprozentiger Sicherheit“ im Zusammenhang mit dem Bau von Tunneln als sinnlos zurückgewiesen hat, möchte er sich trotzdem dafür rechtfertigen, warum er die Frage - so wie sie gestellt war - nicht beantworten kann/ will, sondern die Ja-Nein-Alternative durch den in der „Ingenieurswissenschaft üblichen“ Begriff des Risikos ersetzten möchte (teilweise im Transkript ausgelassen). ((Fortsetzung Beispiel 5)) 093 WW: das risiko is verNACHlässigbar ge[rIng, ] 094 BP: [das war] AUCH nich meine frage. 095 WW: es wird SICHergestellt, 096 nein NEIN. 097 man kann manche fragen nich beANTworten. 098 das is so. 099 und °h 100 das wissen sie AUCH; ((43: 16-45: 23 im Transkript ausgelassen)) Statt nach einer Ja-Nein-Frage den Inhalt der Frage wahlweise zu bestätigen oder zu verwerfen versucht WW, der Ja-Nein-Polarität auszuweichen, indem er einen skalaren Risikobegriff einführt. Auf diese Weise gelänge es ihm, die Frage durch die Antwort rückwirkend zu modifizieren - ein Schachzug, den BP nicht akzeptieren kann. WW zieht sich daraufhin auf die Position zurück, dass „man […] manche fragen nich beANTworten“ kann (Zeile 097), was ihn moralisch entlasten würde, da er auf diese Weise nicht an der konditionellen Relevanz einer angemessenen Antwort gescheitert ist, sondern sich das Antworten erübrigt, weil es sich hier eben um eine der Fragen aus der Teilmenge von Fragen handelt, auf die es prinzipiell keine Antwort geben kann. Statt dieser Logik zu folgen, nutzt PB das Schuldigbleiben einer Antwort, um daraus seine eigenen Schlüsse zu ziehen. <?page no="108"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 98 ((Fortsetzung Beispiel 5)) 110 BP: jetz sin wer uns doch EINig, 111 es kann nich VOLLständig ausgeschlossen werden, 112 DAS es zu diesen problEmen mit quellungen kommt. 113 HG: ja GUT. 114 des 115 BP: ja,=sIE sagen des isch triVIA: L, 116 aber er hat lange drumRUMgeredet. 117 es kAnn NICHT AUsgeschlossen werden. 118 HG: ja,=das ist RICHtig. 119 BP: so. 120 ? : [herr GEIsler zwe ] 121 BP: [und des is aber für un] 122 des is für UNsere argumentation [jetz] 123 WW: [das ] nennen sie drum heRUMreden,= 124 BP: =äh ja: ,= 125 WW: =das is eine ! UN! verschämt[heit. ] 126 HG: [ha: : lt-] 128 WW: ((schlägt mit der Hand auf das Pult)) 127 entSCHULdigen sie wenn ich das so sagen muss. In Zeile 110 beginnt Boris Palmer den Verlauf der Diskussion zusammenzufassen („jetz sin wer uns doch EINig,“) und beantwortet seine ursprüngliche Frage selbst: Walter Wittke hat die Frage nicht zugelassen, also kann er die Möglichkeit des Wassereintritts in den Tunnel nicht ausschließen, hat „aber […] lange drumRUMgeredet“ (Zeile 57). Die Phasen des „Drumrumredens“ sind im Transkript an vier Stellen ausgelassen (39: 38-40: 33, 40: 49- 41: 31, 42: 27-43: 06 und 43: 16-45: 23), weil es hier nur darauf ankommt, ob und wie die Gesprächspartner bzw. der Schlichter die jeweiligen Beiträge als angemessene Reaktionen auf ihre initiativen Äußerungen behandeln. BP stellt eine Ja-Nein-Frage und akzeptiert auch nur eine Ja-oder-Nein-Antwort. Boris Palmer interpretiert Wittkes Ausweichstrategie dagegen als ein „nein“ (und wird im Anschluss vom Schlichter dafür gemaßregelt). Bemerkenswert an diesem Beispiel ist, dass der zweite Paarteil zwar nicht genau festgelegt ist, aber aus einer spezifischen Klasse von Handlungen bzw. Äußerungen kommen muss. Diese zweiten Paarteile sind nicht gleich, sondern stehen in einer Präferenzhierarchie. Sacks (1987) hat gezeigt, dass das statistische Vorwiegen von „ja“ im Gegensatz zu „nein“ in Gesprächen kein Zufall ist. „Nein“ als Antwort trägt Zeichen der Markiertheit oder - wie es in der konversationsanalytischen Literatur heißt - der Dispräferenz. In Beispiel 5 wird die Reaktion auf die Frage aber nicht als dispräferiert behandelt, sondern als Nicht-Erfüllung. Walter Wittke möchte gar nicht auf die Frage eingehen, sondern sie „zurückweisen“. Doch an dieser Stelle zeigt sich die Macht der sequenziellen Verbindung, denn „[d]a in einem Paarsequenzschema das erkennbare Vorliegen des ersten Handlungstyps die folgende konversationelle Position sequenziell vorstrukturiert, wird, was auch <?page no="109"?> 4.4 „Sequentiality“ (Harvey Sacks) 99 immer in dieser Position geäußert wird, als Kandidat für den zweiten Handlungstyp verstanden.“ (Auer 2013b: 147) Die Gesprächsteilnehmer sind also nicht deshalb daran gebunden, als reaktiven zweiten Paarteil eine der Optionen zu wählen, die sich aus den konditionellen Erwartung ergeben, weil es andernfalls sozusagen zu einem sequenziellsyntaktischen „Fehler“ im Diskurs käme, sondern weil sie sich, auch wenn sie das Bedürfnis haben, aus der Unterhaltung auszusteigen, nicht davor verwahren können, dass die sich ergebende Inkohärenz durch ihr unkooperatives Verhalten von den GesprächspartnerInnen nicht in ihrem Sinne interpretiert wird: „Somit werden Gesprächsteilnehmer gar nicht so sehr durch Regeln oder Sanktionen eingeschränkt - sie sind vielmehr in einem Netz von Schlußfolgerungen gefangen.“ (Levinson 2000: 349; FN) 4.4.4 Fazit Mit der Sequenzorganisation von Gesprächen ist eine Strukturebene offengelegt worden, ohne die die Analyse von Sprache-in-Interaktion heute gar nicht mehr denkbar wäre. Obwohl das Erkenntnisinteresse des Soziologen Harvey Sacks ursprünglich auf Handlungszusammenhägen lag und er keine genuin linguistischen Interessen verfolgte, ergeben sich an mehreren Stellen Einblicke in die Funktionsweise der Grammatik der gesprochenen Sprache. Schließlich ist die Grundeinheit des Gesprächs, die Turn-Konstruktionseinheit oder TCU, untrennbar mit dem lokal operierenden Managementsystem des Sprecherwechsels verbunden. Das bedeutet, dass das Design von Gesprächsbeiträgen, anders als das schriftsprachlicher Sätze, Eigenschaften enthält, die im Dienste des Sprecherwechselsystems stehen. Insbesondere müssen diese Einheiten ein vorhersehbares Ende besitzen, von dessen erfolgreicher Projektion ein reibungsloser Sprecherübergang abhängt. Über diese formale, oberflächenstrukturelle Beschreibung von Gesprächsbeiträgen hinaus, besteht das eigentliche sequenzielle Verhältnis jedoch aus einer inhaltlichen Verknüpfung zwischen zwei Beiträgen. In ihrem gemeinsamen Aufsatz zu Gesprächsbeendigungen definieren Schegloff & Sacks (1973: 195f.) diese Nachbarschaftspaare folgendermaßen: i. Sie bestehen aus zwei Äußerungen, ii. die „nebeneinander“ (d. h. einer nach dem anderen) angeordnet sind iii. und von verschiedenen SprecherInnen ausgeführt werden iv. und für die gilt, dass zwischen den beiden Äußerungen ein Bezug besteht, so dass die beiden Äußerungen ein „Paar“ bilden, dessen erster Teil von einem zweiten Teil gefolgt wird, v. wobei die beiden Paarteile Teil einer gemeinsamen Klasse sein müssen, <?page no="110"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 100 vi. und nach der Äußerung eines ersten Paarteils der Gesprächspartner einen zweiten Paarteil des gleichen Typs produzieren muss; diese Reihenfolge ist unumstößlich. Das Beispiel 5 entstammt zwar dem Kontext institutioneller Kommunikation, ist aber ein guter Beleg dafür, wie ein „Nachbarschaftspaar“ aus einer Frage und einer Antwort ein Gespräch über die Länge von 5: 35 Minuten strukturieren und organisieren kann. Dass die Funktion des jeweiligen Beitrags sich erst durch die Platzierung ergibt, lässt sich gut an der sprachlichen Handlung „Antworten“ zeigen, die sich weder aus syntaktischen oder phonologischen Eigenschaften ableiten lässt, noch im Rahmen einer kontextfreien Semantik evident wird, sondern nur durch die Eigenschaft, der zweite Paarteil auf eine vorausgehende Frage zu sein: […] there do not seem to be criteria other than placement (i. e., sequential) ones that will sufficiently discriminate the status of an utterance as a statement, assertion, declarative, proposition, etc., from its status as an answer. Finding an utterance to be an answer, to be accomplishing answering, cannot be achieved by reference to phonological, syntactic, semantic, or logical features of the utterance itself, but only by consulting its sequential placement, e. g., its placement after a question. (Schegloff & Sacks 1973: 299) Die Reihenfolge und zeitliche Platzierung werden also zu wesentlichen Aspekten der Äußerungsbedeutung. Während die Prinzipien, die für den Aufbau von Turn-Konstruktionseinheiten (TCUs) gelten, auch für längere Gesprächsbeiträge (turns) gültig bleiben, da diese intern aus mehreren solcher minimalen Einheiten bestehen können, gilt das für die sequentielle Dimension nicht. Ein längerer Gesprächsbeitrag eines Sprechers kann nicht intern aus mehreren Paarteilen bestehen, da der zweite Paarteil per definitionem immer von einem anderen Sprecher geäußert werden muss und einen Sprecherwechsel voraussetzt. Die thematische Progression innerhalb eines längeren Beitrags (multiunit turns) folgt also anderen Prinzipien als die sequentielle Organisation zwischen Dialogpartnern. Eine einheitliche Beschreibung der beiden Aspekte in einer Theorie steht zurzeit noch aus. Allerdings müsste sie wie eine vereinheitlichte Theorie der Quantengravitation in der Physik völlig unterschiedliche Probleme lösen: zum einen die dialogisch-interaktionale Dimension der Sequenzorganisation, zum anderen die monologische aber kooperative Dimension der „big packages“ (Sacks 1995: Volume II 354) oder „multiunit turns“ und der Kohäsion ihrer Aufbaustücke. Der Zusammenhang zwischen den beiden Teilen einer Paarsequenz ist nämlich nicht nur intuitiv einleuchtend, sondern es lässt sich ziemlich leicht empirische Evidenz für die enge Verknüpfung zweier separat ausgeführter Handlungen verschiedener Personen finden. Was einen längeren Beitrag einer Person zusammenhält, welche Typen von längeren Sequenzen es gibt (Anekdoten, Witze, Lamentos) und ob überhaupt in allen Fällen eine kohärente Verbindung zwischen zwei aufeinanderfolgenden Äußerungen desselben Sprechers besteht, ist dagegen empirisch wesentlich schwerer nachzuweisen. Die <?page no="111"?> 4.5 „Chrónos“ und „Kairós“ (Frederick Erickson) 101 Themenorganisation innerhalb einer Äußerung stellt daher eine viel größere Herausforderung für die wissenschaftliche Rekonstruktion authentischer Gesprächsdaten dar, als die sequenzielle Organisation zwischen Äußerungen. Nichtsdestotrotz hat erst die Analyse sprachlicher Handlungen mit der Sequenzorganisation ein ganz wesentliches Strukturmerkmal gesprochener Sprache offengelegt, dass nicht nur Folgen für die Semantik von Äußerungen hat, sondern ihnen auch formal seinen Stempel aufdrückt. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit empirisch erhobenen Daten natürlicher Alltagskommunikation, die die zeitliche Platzierung sprachlicher Handlungen und die sequentielle Organisation zwischen Äußerungen nicht berücksichtigt, wird nie zu einer gegenstandsangemessenen Beschreibung führen. „Investigations which fail to attend to such considerations are bound to be misled.“ (Schegloff & Sacks 1973: 313) 4.5 „Chrónos“ und „Kairós“ (Frederick Erickson) Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde, geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist hat seine Zeit; […] 68 - Martin Luther (1984: Prediger Salomo/ Kohelet 3: 1-2) Frederick Erickson ist ein amerikanischer Anthropologe, der sich im Rahmen seiner Grundlagenforschung zur Natur sozialer Interaktion besonders auf die gemeinschaftliche Koordination sprachlicher und nicht-sprachlicher Handlungen in Form von Rhythmus und Timing konzentriert. Die Originalität von Ericksons Arbeiten besteht darin, dass lokale Prozesse, ethnographische Methoden und Mikrostudien von face-to-face-Interaktion mit makroskopischen, globalen sozialtheoretischen Thesen und Fragestellungen verknüpft werden. Dabei werden nicht nur Aspekte der Konversationsanalyse, der anthropologischen Linguistik, der interaktionalen Soziolinguistik und der Diskursanalyse, sondern auch Ergebnisse aus der Musiktheorie auf Phänomene der sozialen Interaktion übertragen. Am Anfang steht auch bei Erickson die Erkenntnis, dass Sprechen immer „on-line“ in der Echtzeit geschieht, was es von anderen Formen der Kommunikation, insbesondere dem Schreiben und Lesen von Texten unterscheidet. Einem Leser steht es frei, laut oder leise zu lesen, beim Lesen die Lippen zu bewegen oder nicht, Zeilen oder Abschnitte zu überspringen, um dann später darauf zurückzukommen, oder ein Buch buchstäblich von 68 In der Bibel im Buch der Prediger (hebräisch „Kohelet“) ist das Wort „Zeit“ an dieser Stelle der Übersetzungsversuch Luthers für das hebräische „et“ bzw. das griechische „kairós“, das in diesem kurzen Abschnitt gleich 29-mal vorkommt. Es lässt sich nicht vollständig ins Deutsche übertragen, da es im Griechischen mehrere Bezeichnungen und Konzeptualisierungen von Zeit gibt. <?page no="112"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 102 hinten nach vorn zu lesen. Während es sich bei der Konstruktion und Rezeption gesprochener Sprache um einen linearen Prozess handelt, geschieht das Lesen zwar auch in der Zeit, allerdings besteht ein Unterschied: „as readers we can engage a written text in nonlinear ways.“ (Erickson 2004: 3) Demgegenüber ist die gesprochene Sprache durch die Aneinanderreihung von Informationshäppchen in einem ewigen „Jetzt“ geprägt: Through our hearing, and also through seeing, chunks of information are presented to us one moment at a time in a succession of adjacent moments that are centered in a continually experienced, forward-moving ‚now‘. The current ‚now‘ moment has an immediate antecedent in the moment just past and it has an immediate consequent in the moment that is about to come. (Erickson 2004: 3) Aus Sicht der Informationsverarbeitung gliedert sich das Geschehen also in ein „gerade vorbei“, „in diesem Augenblick“ und „gleich darauf “, wobei uns unser Wissen über Muster und Schemata sozialer Interaktionen dabei hilft, die Orientierung zu behalten und Vorhersagen über den weiteren Verlauf der Interaktion zu machen. Abgesehen von ritualisierten Abläufen in formalen Situationen sind diese Vorhersagen jedoch immer vage, veränderlich und Gegenstand interaktionaler Aushandlung. Auch wenn Erickson (2004: 4) feststellt, „[t]hus ‚now‘ and ‚next‘ […] provide a set of fundamental building blocks for the construction of interaction“, handelt es sich dabei nicht um eine einseitig sprecherbezogene Perspektive. So wie jeder „jetzt“-Moment immer auch die konversationelle Vergangenheit für den nächsten „jetzt“-Moment ist, jeder Äußerungsmoment also vom Kontext bestimmt ist, aber auch selbst wieder Kontexte schafft (vgl. Auer 2013b: 172 Erläuterung zu Gumperz' Konzept der Kontextualisierungshinweise), ist auch das Verhältnis zwischen Sprecher und Hörer ein reflexives: In dem Moment, wo jemand anfängt zu sprechen, fängt zur selben Zeit jemand anderes an zuzuhören. Nach Erickson tritt also zu den zentralen Begriffen des „now“ und „next“ noch das „while“, womit zum Ausdruck gebracht werden soll, dass sich jeder Gesprächszeitpunkt durch die koordinierte und kollektive Anstrengung beider Gesprächspartner auszeichnet, ohne die soziale Sinngebung nicht möglich wäre und die daher notfalls auch eingefordert oder repariert wird - und zwar nicht nur, wenn der Sprecher seinen aktuellen Verpflichtungen nicht nachkommt, sondern auch wenn der Hörer nicht die in ihn gesteckten Erwartungen erfüllt: „It is this […] mutual adaptation that constitutes the ‚inter‘ of interaction in conversation […]“ (Erickson 2004: 5). Die Korrekturmöglichkeiten sind aber noch aus einem anderen Grund essentiell, denn auch die beste Kooperation schützt nicht vor einem Abriss des Gesprächsfadens aufgrund von zufälligen Ablenkungen in der Situation, Aussetzern, unerwarteten Unterbrechungen und dergleichen. Im Zusammenhang mit seiner Analyse von Handlunsgsynchronisierungen zwischen Gesprächspartnern führt Erickson ein Begriffspaar ein, dass zwar über die klassischphilologische Tradition und antike Poetik bekannt ist, aber auf diese Weise noch nie auf interaktional-dialogische Prozesse angewandt wurde. Es handelt sich um die Unterschei- <?page no="113"?> 4.5 „Chrónos“ und „Kairós“ (Frederick Erickson) 103 dung zweier Zeitbegriffe, Chrónos und Kairós, die sich auch in interaktionalen Studien (Erickson 1992, Erickson & Shultz 1982, Schegloff et al. 1996: 20) als produktiv erwiesen haben und deren linguistische Äquivalente (bloßer) Linearität und (echter) Sequenzialität von großer Bedeutung für das Modell einer inkrementellen Syntax sind. The change within interaction as we are doing it is occurring as a flow in time, and two different aspects of time are relevant to our understanding of the combination of fluidity and stability that is inherent in the conduct of interaction. The Greeks had two words for time. One, kronos, refers to the quantitative aspect of time; to time as continuous and thus as measurable. […] The other word for time, kairos, refers to time’s discontinuous qualitative aspect; to time as differing in kind from one moment to the next. […] Kairos is the time of tactical appropriateness, of shifting priorities and objects of attention from one qualitatively differing moment to the next. […] It is a brief strip of right time, marked at its beginning and end by turning points. It is not simply a particular duration in clock time. Yet every kairos strip of time has a location in kronos time. (Erickson 2004: 6f.) Indem aus einer sprachwissenschaftlichen Perspektive nach dem Wesen der Zeit gefragt wird, nehmen diese Untersuchungen eine Zwischenstellung zwischen erkenntnistheoretischen Grundsatzfragen und angewandter Sprachwissenschaft ein. Selbstverständlich hat Erickson diese Dichotomie nicht erfunden, ihm kommt aber das Verdienst zu, sie erstmals auf Gesprächsverlaufsstrukturen angewandt zu haben. Bevor näher darauf eingegangen werden kann, muss jedoch kurz der mythologische und semantische Unterschied zwischen der Zeit als Dauer und der Zeit als Gelegenheit beleuchtet werden. 4.5.1 Mythologischer Hintergrund Die zwei Zeitauffassungen besitzen keine Entsprechungen in der deutschen Sprache und müssen umschrieben werden. Χρόνος ist das altgriechische Wort für „Zeit“ und bezieht sich auf die linear verlaufende Zeit. Καιρός bezeichnet den „rechten Augenblick“, der vorbeigeht, wenn man ihn nicht nutzt. Im Gegensatz zu Chrónos ist er nicht messbar und hat keine Ausdehnung. K[airos] läßt sich definieren als der richtige oder günstige Zeitpunkt, etwas zu tun, oder auch als das richtige Maß. Oft trifft beides zusammen. So wäre etwa der heilige Zorn, der in einer Kriegssituation angebracht ist, für einen Familienstreit unangemessen; es wäre dafür nicht der rechte K[airos]. […] K[airos] als der spezifisch richtige Zeitpunkt wurde oft von χρόνος, chrónos, der normalen Zeit, abgesetzt, wobei der Gegensatz allerdings im klassischen, im hellenistischen und im neutestamentlichen Griechisch nicht mehr durchgängig ist. (Kinneavy & Eskin 1998: 837) <?page no="114"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 104 Wie viele andere abstrakte Konzepte wurde Kairós in hellenistischer Zeit deifiziert. Die Apotheose dieser neuen Gottheit lässt sich seit dem 5. Jh. v. Chr. in Form von allegorischen Darstellungen nachweisen (vgl. Kinneavy & Eskin 1998: 841). 69 Die berühmteste Darstellung stammt vom Hofbildhauer Alexander des Großen, Lysippos, der Kairós als jungen Mann mit Flügeln und Balkenwaage dargestellt hat. Die Flügel versinnbildlichen die Flüchtigkeit des Augenblicks während die Balkenwaage für das Abwägen des ‚richtigen‘ Augenblicks steht. Der Hinterkopf ist kahl, die Figur hat aber vorne am Kopf eine lange Haarsträhne. Man bekommt Kairós also nicht mehr zu fassen, wenn er vorbei gegangen ist. Hier liegt der Ursprung der Redewendung „eine Gelegenheit beim Schopfe packen“. Abbildung 4: Kairós: Basrelief, römische Nachbildung vom Original des Lysippos aus Sikyon (4. Jhd. v. Chr.), hier: Gipsabguss aus der Abguss-Sammlung Antiker Plastik der Freien Universität Berlin (Institut für klassische Archäologie) 70 69 Chrónos und Kronos sind nicht nur verschiedene Schreibvarianten, sondern entstammen nach heutiger Überzeugung unterschiedlichen Überlieferungen, sind jedoch später ineinander übergegangen. Chrónos und Kairós sind jedoch auch im modernen Griechisch noch unterschieden (ngr. kairós ist das Wort für „Wetter“). Während der „Vater der Zeit“ (Chrónos) eine wichtige Rolle im Stammbaum der griechischen Mythologie spielt und auch kultisch verehrt wurde, lässt sich das für den „Gott des günstigen Augenblicks“ (Kairos) erst ab der Zeit Alexander des Großen nachweisen. Es gibt zwar keine einheitliche Ikonographie, die nicht erhaltene Bronzeplastik von Lysippos (vgl. Abbildung 4) ist jedoch in der Folge oft kopiert worden (vgl. Graf 1997, Serbeti 1992). 70 Bildnachweis: Eigene Fotografie und Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Abguss- Sammlung des Instituts für Archäologie der Freien Universität Berlin; Standort der röm. Nachbil- <?page no="115"?> 4.5 „Chrónos“ und „Kairós“ (Frederick Erickson) 105 Die Idee, das Richtige zum richtigen Zeitpunkt zu tun, hat in der griechischen Überlieferung vielfache Bedeutung: für die Medizin (Behandlungen über die Zeit und zum richtigen Zeitpunkt), in der moralischen Erziehung (den richtigen vom falschen Zeitpunkt unterscheiden können), in der Rhetorik (das Richtige zur richtigen Zeit sagen). Chrónos dagegen symbolisiert nicht den Augenblick, sondern die Zeitspanne. Der Altphilologe Fränkel geht auf die verschiedenen Zeitauffassungen in der klassischen griechischen Literatur ein: Das Wort χρόνος hat bei Homer einen genau begrenzten Sinn und Gebrauch. Es bezeichnet immer eine Dauer, nie einen Punkt; es gibt also kein zu dieser Zeit oder ähnliches. Zweitens erscheint χρόνος fast nie in geringer Menge; wenn Homer von Zeit oder Dauer spricht, so meint er viel Zeit. (Fränkel 1931: 98) Chrónos bezieht sich auf die Raum-Zeit als kategoriale Grundlage unserer sinnlichen Wahrnehmung, wie wir sie in Form der mechanisch messbaren Uhrzeit oder als Echtzeit („real time“) konzeptualisieren. Während Kairós die Gelegenheit bezeichnet, die der Mensch ergreifen muss, den Augenblick, in dem er aktiv gestaltend tätig wird, ist Chrónos der Fluss der Zeit, der unabhängig vom handelnden Menschen vorbeigeht. 4.5.2 Konzeptuelle Umdeutung und Anwendung auf Gesprächsstrukturen Bei Erickson & Shultz (1982: 72-77) handelt es sich um eine mikroethnographische Studie spezifischer face-to-face-Interaktionen in einem institutionellen Rahmen. Es geht um „institutional gatekeeping“ im Zuge von Beratungsgesprächen an einer amerikanischen Mittelschule. Dabei stellt sich unter anderem die Frage, wie soziale Identität kommunikativ hergestellt wird und welche kommunikativen Mittel, Interaktionssituationen sozial zu organisieren, den TeilnehmerInnen dabei zur Verfügung stehen. Fest steht, dass Kommunikation, insbesondere face-to-face-Kommunikation, immer schon sozial ist, insoweit als unsere Handlungen in Anbetracht und mit Rücksicht auf ein Gegenüber vollzogen werden. Sollten wir damit nicht erfolgreich sein oder uns dabei nicht situationsangemessen verhalten, wird unser Verhalten zwar nicht asozial, aber sozial inadäquat (vgl. Erickson & Shultz 1982: 69f.). Es ist jedoch nicht ausgeschlossen (vielmehr durchaus wahrscheinlich), dass eine solche Situation eintritt. Vergleichbar mit einem Tanzpaar, das sich beim Tanzen auf die Füße tritt, ergreifen wir in solchen Fällen automatisch Reparaturmaßnamen, um wieder ‚im Takt‘ zu sein. Bei den zugrunde liegenden gesprächsorganisatorischen Prinzipien, individuellen Kenntnissen und Fertigkeiten, um einen reibungslosen Gesprächsverlauf zu etablieren, aufrechtzuerhalten und wiederherzustellen, handelt es sich höchstwahrscheinlich um anthropologische Universalien, die sich sogar zum Teil bei Tieren nachwiedung von Lysippos Original: Torino, Museo di Antichità (vgl. Fondation pour le Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae 1990: 597). <?page no="116"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 106 sen lassen. Eine der wichtigsten Maßnahmen, um ein Gespräch erfolgreich am Laufen zu halten besteht „in telling one another what is happening as it is happening“ (Erickson & Shultz 1982: 71). Da die gegenseitige Rahmung sprachlicher Handlungen mittels sprachlicher oder nicht-sprachlicher Mittel in Form von „Kontextualisierungshinweisen“ 71 Erickson & Shultz 1982: 71 kontinuierlich erfolgen muss, ist sie für den zeitlich-linearen und den sequenziellen Verlauf der Interaktion von großer Wichtigkeit. Das Erfordernis, ununterbrochen den Kontext herzustellen, in dem kommunikative Handlungen stattfinden („telling the context“ ( )), führt zu einer doppelten gegenseitigen Abhängigkeit der Gesprächspartner in Form von „Reziprozität“ und „Komplementarität“. Reziprozität bezieht sich auf die Tatsache, dass jede Aktion eine Reaktion auf die Vorgänge in der unmittelbaren Vergangenheit darstellt, die selbst wiederum eine Aktion in der unmittelbaren Zukunft abgibt, Komplementarität bezeichnet das Prinzip, demzufolge sich die Gesprächspartner simultan ständig gegenseitig vermitteln müssen, dass sie gemeinsam ihre kommunikativen Ziele verfolgen. Das kann sich durch die Koordination der Körper (z. B. synchrones Kreuzen der Beine), durch den Blickkontakt, wohlplatzierte Rückmeldesignale (hm_hm) oder auch durch Lachpartikeln passend zur Pointe eines Witzes äußern. Wie schon bei Sacks (vgl. Kapitel 4.4 „sequentiality“) ist dabei die relative Position und das ‚timing‘ von Aktion und Reaktion von entscheidender Bedeutung: Communicative action occurs in particular moments of actual time, in particular relationships of simultaneity and sequence. These relationships in time, taken together, constitute a regular rhythmic pattern. This regularity in time and timing seems to play an essential, constitutive role in the social organization of interaction. […] Such appropriate moments and predictable next moments are defined in terms of the overall temporal context, the pattern of timing to which all conversational partners are contributing by the reciprocal and complementary pacing of their behavior in speaking and listening. Whereas there is no metronome playing while people talk, their talking itself serves as a metronome. (Erickson & Shultz 1982: 72) Es spielen zwei unterschiedliche Begriffe von Zeit bei der sozialen Organisation von Sprache-in-Interaktion eine Rolle, die sich auch in den zwei alternativen Zeitbegriffen Kairós und Chrónos aus dem Althebräischen bzw. Griechischen wiederfinden. Kairós bezeichnet den rechten Zeitpunkt. Ob etwas zur ‚rechten Zeit‘ eintritt, ist jedoch unabhängig von einer messbaren Zeit. Während der tatsächliche, objektive Zeitverlauf kommunikativer 71 Zu Kontextualisierungshinweisen zählen insbesondere prosodische, proxemische, mimische und gestische Hinweise; vgl. Gumperz (1992). Vgl. hierzu auch das ethnomethodologische Konzept des ‚making accountable‘, insbesondere Garfinkels (1967b) Konzept der Reflexivität sprachlicher Handlungen (siehe Kapitel 2.2). <?page no="117"?> 4.5 „Chrónos“ und „Kairós“ (Frederick Erickson) 107 Handlungen in den Sozial- und Sprachwissenschaften marginalisiert wird, spielt der Ereignisbzw. Handlungsablauf synchronisierter Interaktion eine große Rolle. Der Kairós als angemessener Augenblick einer Handlung findet sich zum Beispiel in dem konversationsanalytischen Terminus des „slots“. Von „slot“ wird in der Konversationsanalyse immer dann gesprochen, wenn die vorausgehende Interaktion eine spezifische Folgehandlung erwartbar gemacht hat („konditionelle Relevanz“, vgl. Kapitel 2.2 und 4.4). So wie man den Kairós am Schopf packen kann, aber nicht muss, handelt es sich bei der Ausübung einer spezifischen Handlung an einer bestimmten sequenziellen Position jedoch nicht um einen Verhaltensdeterminismus, sondern eine Vorgängerhandlung macht zum Beispiel im Rahmen eines Nachbarschaftspaares einen bestimmten Typ von Erwiderung erwartbar. Auf eine Frage folgt eine Antwort - und sollte das nicht der Fall sein, wird sie als „officially absent“ (Schegloff 1968: 1083) wahrgenommen. Für die Kairós-Organisation spielt nur die Qualität, also welche Art sprachlicher Handlung auf den ersten Teil der Paarsequenz folgt, eine Rolle. Die Quantität, nämlich wie viel gesagt wird und wie lang der zweite Teil der Paarsequenz ist, ist nicht von Belang. Ob eine Antwort umfangreich, weitschweifig oder nur knapp erfolgt, spielt für die Gesprächsorganisation (jedenfalls bis zu einem gewissen Grad) keine Rolle. In ihrer Analyse von Beratungsgesprächen konnten Erickson & Shultz (1982: 73) „kairos organization“ nicht nur auf sequenzieller Ebene feststellen, sondern sie fanden auch Regeln des „richtigen Augenblicks“ auf der Ebene der Themenorganisation. So erfordert der Wechsel zwischen offiziellen und inoffiziellen Gesprächsphasen in diesem institutionellen Rahmen z. B. viel Feingefühl: Phasen von small talk dürfen nicht zu früh erfolgen, nicht zu lang werden und nicht zu früh abgebrochen werden. Auf der anderen Seite dürfen sie auch nicht das Gespräch völlig übernehmen, sondern irgendwann muss zur offiziellen Agenda des Beratungsgesprächs zurückgekehrt werden. In sum, the kairos organization of discourse defines relationships of appropriateness in sequencing at various hierarchical levels, from pairs of adjacent utterances to pairs of adjacent discourse topics. The major and minor ‚slots‘, ‚chunks‘, or ‚seams‘ of the event are qualitatively different contexts for action depending on their location in the kairos dimension of time: now, not quite yet, too late. These are strategic aspects of timing in the conduct of talk. Conversationalists need behavioral ways of telling one another what time it is in kairos time. (Erickson & Shultz 1982: 74) Letztendlich wäre damit jedoch nicht viel mehr gewonnen, als eine neue, etwas unübliche Bezeichnung für Phänomene einzuführen, die ansonsten unter dem Stichwort Sequenzialität subsumiert werden. Interessant wird der Ansatz jedoch dadurch, dass empirisch nachgezeichnet wird, wie in Gesprächen sowohl die Folge von Entscheidungsmomenten (Kairós) als auch die tatsächlich verlaufende Zeit (Chrónos) für eine erfolgreiche dialogische Kommunikation von entscheidender Bedeutung ist. Die Autoren weisen darauf hin, <?page no="118"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 108 dass viel zu wenig zur Erforschung der „organization of behavior in real time, unreduced by analytic synopsis“ (Erickson & Shultz 1982: 73 FN) unternommen wird, und schlagen vor, Transkripte in Forschungsergebnissen immer laut zu lesen, um eine sinnliche Vorstellung von der zeitlichen Erstreckung zu erhalten. Denn auch der Chrónos-Verlauf ist für Interagierende eine strategische Ressource, die von ihnen als „Mikrokontextualisierungshinweis“ (vgl. Erickson 1992: 396) funktional ausgenutzt wird. Dabei geht es um den messbaren (und intuitiv wahrnehmbaren) zeitlichen Verlauf in der Echtzeit in Gestalt von Periodisierung und Rhythmusgruppen auf sprachlicher und nicht-sprachlicher Ebene. So kann die Kairós-Organisation zum Beispiel erforderlich machen, auf eine Frage zu antworten. Chrónos-Regeln erfordern, dass die Antwort erst nach der vollständigen Äußerung der Frage erfolgen sollte, und auch die messbare Pause zwischen Frage und Antwort - ihr ‚timing‘ - ist ein Aspekt der Chrónos-Organisation. Ein anderes wichtiges Chrónos-Muster (im Englischen) ist der Rhythmus, der durch den Wechsel von betonten und unbetonten Silben entsteht. Dadurch erhält ein Gespräch einen ‚Takt‘, der typischerweise gleichmäßig verläuft, bis es möglicherweise ‚aus dem Takt‘ kommt. Diesem Aspekt wurde insbesondere in Erickson (1992) Aufmerksamkeit geschenkt: Eine italienisch-amerikanische Familie aus der Mittelklasse wurde während eines gemeinsamen Abendessens gefilmt. Die Herausforderung für die Teilnehmer bestand darin, gleichzeitig ihre Gesprächsbeiträge zu koordinieren und die mit dem Abendessen verbundenen Tätigkeiten aufeinander abzustimmen (Vorschneiden der großen Stücke für die Kinder, Anreichen der Speisen, zum Mund Führen). […] since in a family dinner table, it should come as no surprise that we can find eating behavior to be rhythmically organized in concert with talking behavior. […] we have seen how in the performance of conversation a salad bowl, forks, arms, and hands live and move together with prosody, grammar, and turn-taking in a shared temporal ecology of social action. (Erickson 1992: 396) Erickson geht sogar so weit, die rhythmische Koordination der Aktivitäten der TeilnehmerInnen in einer buchstäblichen „Partitur-Schreibweise“ zu repräsentieren: Die kinetischen Bewegungsakzente der nichtsprachlichen Handlungen und die Nuklei der betonten Silben werden in Musiknoten übertragen, deren rhythmisches Muster den Takt ergibt. 4.5.3 Multimodale Transkription als quasi-musikalische Partitur: Diskussion an einem Beispiel In seinem Aufsatz „The neglected listener“ lobt Erickson (2010) die großen Fortschritte der letzten 40 Jahre, die bei der Analyse von sozialer Interaktion gemacht worden sind. Dabei führe jedoch die einseitige Konzentration auf sprachliche Aspekte von Interaktion zu einer Überbetonung der Gesprächsbeiträge und der Sprecherrolle. Das spiegelt sich ins- <?page no="119"?> 4.5 „Chrónos“ und „Kairós“ (Frederick Erickson) 109 besondere im „Logozentrismus“ des Transkriptionssystems der Konversationsanalyse, wie es von Gail Jefferson entwickelt wurde. Zwar ermöglicht ihr Transkriptionssystem bis dahin vernachlässigte Aspekte menschlichen Verhaltens festzuhalten, wie Pausen, Einatmen, Überlappungen und Akzente, aber das grundsätzliche Abbildverfahren basiert auf der Verschriftung nach Art eines „playscript“. Neue Sprecher werden durch eine neue Zeile und Sprechersiglen am linken Rand gekennzeichnet wie bei einem Drehbuch oder einer dramatischen Textgrundlage, so dass die Sukzession der Zeilen die Sukzession der Äußerungen wiederspiegelt. Diese Art der Repräsentation von sozialer Interaktion führt zu „an overemphasis on speech by which the larger ‚whole‘ of social interaction - its collective temporal/ spatial/ bodily organization - gets short shrift analytically.“ (Erickson 2010: 246f.) Ganz besonders führt dieses selektive Festhalten von verbalem auf Kosten des nonverbalen Verhaltens laut Erickson dazu, dass Sprecheraktivitäten gegenüber Höreraktivitäten privilegiert repräsentiert werden. Gestützt wird diese Sichtweise dadurch, dass Transkribieren häufig als theorieneutraler, mechanischer Prozess verstanden wird, der keinerlei vortheoretische Konzeptualisierung beinhaltet. Gerade die Notation von Dialogen in Form von „playscripts“ nimmt aber bereits eine Gewichtung vor, denn sie hält verbale Aspekte von Interaktion mit großer Genauigkeit fest während nonverbale wesentlich detailärmer festgehalten werden. Außerdem vermittelt diese Art der Transkription den Eindruck, als bestünde die Hauptbeschäftigung der TeilnehmerInnen darin, zu sprechen, und sie unterstellt, „that it is talk that moves social interaction along and that everything else that is happening is in some way a consequence of the actions of talk, as if what in the overall scene is not talk were a tail being wagged somehow by the talking.“ (Erickson 2010: 248) Erickson (1992, 2004, 2010) hat eine quasi-musikalische Notation als Korrektiv für den inhärenten Logozentrismus der Playscript-Transkriptionsweise entwickelt, die die simultan ausgeführten Handlungen von Hörern und Sprechern und ihre Verortung in Zeit und Raum besser wiedergibt. Dabei wird die „Echtzeit“ in Sekunden oder Millisekunden auf der horizontalen Leiste abgetragen und die anwesenden Interaktanden bekommen in Form einer Partitur eigene Zeilen für ihr verbales und non-verbales Verhalten (sowohl sprachliche Beiträge als auch Änderungen der Körperhaltung, Änderungen der Blickrichtung, Führen von Nahrung mit der Gabel zum Mund, etc.). 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 A: xxxx yy xxx zzzzz zzzz yyy xxxx bbb B: zzzzz xxxx aa xxxxx zz xxxxxxx C: xx y xxxx zzzzz c Abbildung 5: Partitur-Schreibweise verbalen und non-verbalen Verhaltens auf einer horizontalen Zeitachse <?page no="120"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 110 Ericksons Notation geht jedoch noch darüber hinaus: statt in der Horizontalen einfach die Zeit abzutragen, werden die Spalten wie in der Musik in „Takte“ von einheitlicher Länge unterteilt, die auf dem Zwei-Viertel-Takt basieren und intern mit halben, Viertel- oder Achtelnoten (oder Pausen) gefüllt werden können. Beispiel 6 und Abbildung 6 geben den Beginn des bereits erwähnten Dinners in den verschiedenen Transkriptionskonventionen wieder. Es handelt sich um ein Familienabendessen in einer siebenköpfigen amerikanischen Mittelklassefamilie und einem Gast, das mithilfe von Videoaufnahmen transkribiert wurde. In dem Ausschnitt staunt der jüngste der vier Söhne (B-4) über die finanzielle Kompensation seines Vater, der an einer Weiterbildungsmaßnahme mit Übernachtung teilnimmt, für die er 75 $ finanzielle Rekompensation erhält. Der Betrag wird von dem drittältesten Sohn (B-3) mit einem früheren Gesprächsthema in Relation gesetzt, dem kostspieligen neuen Fahrrad des jüngsten Sohns. 72 Das Gespräch würde in den GAT-2-Konventionen etwa folgendermaßen aussehen (leicht veränderte Transliteration des Originals aus Erickson (1992: 369; 2004: 29), da er nach anderen Konventionen transkribiert hat und z. B. Informationen zum Intonationsverlauf fehlen): Beispiel 6: Seventy-five dollars goes in a day 01 B4: <<ff> sEventy FIve dOllars> 02 B3: he hast to work 03 B1: [WO: : : : : WW amAzing ] it is 04 B3: [he has to work THREE days to get you a bike] 05 [...] Erickson (1992; 2004: 22-52; 2010) stellt diesem ‚klassischen‘ Transkript von Sprache-in- Interaktion ein Transkriptionssystem entgegen, das sich an der Notation mehrstimmiger Musikstücke orientiert, wodurch alle „Strata“ aus verbalen und non-verbalen Handlungen und ihre zeitliche Platzierung in Relation zueinander festgehalten werden können: In the transcription […] vocally stressed syllables and kinesicaly stressed motions of arms and hand of the speakers have been presented with musical notion to show the rhythm patterns and approximate timing intervals of stressed syllables, the onsets of turns, and other phenomena that appear to be rhythmically timed in conversation. (Erickson 1992: 376) 72 Der Ausschnitt ist für Erickson deshalb interessant, weil in der Folge die Familienmitglieder und der Gast kolaborativ den Satz des jeweils anderen vervollständigen bzw. gemeinsam an einer Liste arbeiten. An dieser Stelle dient es jedoch nur der Veranschaulichung der verschiedenen Transkriptionsweisen und Detailstufen. <?page no="121"?> 4.5 „Chrónos“ und „Kairós“ (Frederick Erickson) 111 Wie in einer Orchesterpartitur werden auf jeder Seite auch die „Instrumente“ aufgeführt, die gerade Pause haben. Das Transkript zeigt, wie die Tätigkeit des Essens mit der des Zuhörens und Sprechens koordiniert wird. Am Tisch befinden sich der Vater (Fa), die Mutter (Mo), ein Gast (G), und die vier Söhne (B 1-4). Auch Tätigkeiten, die im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme stehen, werden mit Bereichsangaben festgehalten (HP „hand to plate“, FP „fork to plate“, FM „fork to mouth" vgl. den Gast (G) in Takt 5). Abbildung 6: Auszug einer quasi-musikalischen Notation (Erickson 1992: 377, Erickson 2004: 39) Ganz offensichtlich enthält Ericksons „quasi-musikalische Notation“ wesentlich mehr Informationen über den zeitlichen Verlauf der Interaktion als ein normales Transkript in der Tradition der amerikanischen Konversationsanalyse (nimmt aber auch wesentlich mehr Platz ein). <?page no="122"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 112 This kind of temporal articulation and accommodation of two different kinds […] of orderings of interaction at the dinner table […] cannot be shown in playscript transcription nearly so clearly as it can by some sort of ‚horizontal‘ multimodal transcription that displays selected aspects of both speaking behavior and eating behavior. (Erickson 2010: 253) Erickson weist darauf hin, dass Transkriptionskonventionen Theorien über die linguistischen und interaktionalen Sachverhalte enthalten, obwohl sie vorgeben, sie nur darstellen zu wollen. Das von Jefferson (2004) entwickelte Transkriptionssystem vernachlässigt seiner Meinung nach den Hörer und ist logozentristisch. Transkripte, die die Grundlage für echte Untersuchungen von Sprache-in-Interaktion darstellen, dürfen nicht nur sequenzielle, sondern müssen auch interaktionale, räumliche und zeitliche Verankerung und Verzahnung der wechselseitigen Aktivitäten einbeziehen. Nur auf diese Weise lässt sich untersuchen, wie das sichtbare Verhalten der Gesprächspartner, was wir sagen und wie wir es sagen, während wir es sagen beeinflusst. 4.5.4 Fazit Mit der Chrónos- und Kairós-Organisation von Gesprächen ist eine interessante Analyseebene eröffnet worden, die für Gesprächsstrukturen in authentischen Daten von großer Bedeutung ist. Allerdings konkurriert das Konzept der Kairós-Organisation mit dem konversationsanalytischen Konzept der Sequenz, wobei letzteres terminologisch und inhaltlich wesentlich weiter entwickelt ist. Es scheint daher fragwürdig, die Idee der Sequenz- Organisation von Gesprächen zugunsten von Kairós-Momenten aufzugeben. Festzuhalten bleibt aber, dass der Einflussfaktor der tatsächlich verstrichenen Zeit (Chrónos) in Gesprächen bisher noch viel zu wenig systematisch untersucht wurde. Das bezieht sich sowohl auf quantitative Beitragslängen und deren Relevanz und Einfluss auf den Gesprächsverlauf als auch auf Adaptionen der Sprechgeschwindigkeit und ähnlicher Phänomene und Prozesse mit Bezug zu metrifizierbaren Aspekten des zeitlichen Verlaufs. Die Idee, multimodale Transkriptionen nach dem Vorbild der musikalischen Notation zu erstellen, hat aus meiner Sicht einige Tücken. Sicherlich bietet die Zuweisung einer eigenen Transkriptionszeile für jede anwesende Person unabhängig von ihrer sprachlichen Aktivität die Möglichkeit, Hörerverhalten und körperlich-visueller Informationen besser als in der „Drehbuch“-Transkription festzuhalten. Allerdings muss man eingestehen, dass dadurch wesentlich mehr Raum eingenommen wird und wesentlich mehr Informationen in die Analysen mit einbezogen werden müssen. Es wird also anderen und/ oder kleineren Phänomenen bei der wissenschaftlichen Untersuchung der Vorzug gegeben werden müs- <?page no="123"?> 4.5 „Chrónos“ und „Kairós“ (Frederick Erickson) 113 sen. 73 Während das Prinzip der Partitur-Schreibweise für die Transkription von Gesprächen nicht neu ist (vgl. z. B. die halb-interpretative Arbeits-Transkription „HIAT“ der Funktionalen Pragmatik, vgl. Trotz dieses erheblichen Mehraufwands ist auch Ericksons Analyse des Familienabendessens nicht wirklich multimodal, sondern basiert auf einem selektiven Relevantsetzen von Essensaktivitäten und deren Koordinierung mit Hörer- und Sprecheraktivitäten. Auf diese Weise konnte er zwar zeigen, dass bei Gesprächen ‚bei Tisch‘ systematisch Nahrung vom aktuellen Sprecher während des Redens portioniert und mit der Gabel aufgespießt wird und erst in dem Moment, an dem eine redeübergaberelevante Stelle erreicht wird, in einer mit der sprachlich-sequentiellen Ebene synchronisierten Bewegung in den Mund gesteckt wird. Trotzdem besteht das Untersuchungsergebnis aus dem empirisch feststellbaren Zusammenhang der Bewegungen der Hände bzw. Gabeln und dem Gesprächsverhalten - ohne dabei Blickverhalten oder Körperhaltungen usw. einzubeziehen. Ehlich & Rehbein (1976, 1979)), ist seine „quasi-musikalische Notation“ mit Notenwerten tatsächlich originell. Dabei lässt sich bei genauerer Betrachtung jedoch eine ganze Reihe von Problemen erkennen, sei es schon allein aus dem Grund, weil das System ursprünglich für die Notation von Musik und nicht von sozialer Interaktion entwickelt wurde. Erickson behauptet, statt wie früher bei der multimodalen Transkription von Filmaufnahmen die räumlichen Verhältnisse in „frames“ in regelmäßigen Abschnitten festzuhalten, lassen sich diese gleichlangen zeitlichen Intervalle auch als „Takte“ abbilden. In der Musik haben Takte jedoch nicht nur die Aufgabe, gleichlange Intervalle abzubilden, sondern sie repräsentieren ein bestimmtes Verhältnis von betonten und unbetonten Zählzeiten. 74 Abbildung 6 Die Bezeichnung „Takt“ ist also weit mehr als bloß ein anderes Wort für ein äquidistantes Zeitintervall und es gibt auch keinen Grund anzunehmen, Gespräche würden sich im 2/ 2-Takt fortbewegen (und nicht im 3/ 4-Takt wie beim Walzer oder im 12/ 8-Takt wie beim Flamenco). Auch die Notation der „vernachlässigten“ Höreraktivitäten, die ja der eigentliche Grund für die Einführung des Systems war, ist durch das Vokabular der musikalischen Notation nicht bestärkt worden. Das Pausenzeichen in der Musik gibt an, dass man gerade nicht spielt, in der Transkription von Gesprächen bedeutet es analog, dass man gerade nicht spricht. Pause vom Sprechen zu haben ist aber etwas anderes, als eine aktive Hörerrolle auszufüllen. Zu guter Letzt gibt es auch noch eine technische Hürde, die sich schon in der Handzeichnung von abzeichnet: Schließlich ist das Notensystem historisch entstanden, um Musik festzuhalten. Auch die modernen Softwarelösungen (Encore, Finale, Sibelius) zum professionellen Edieren von Partituren in Druckqualität 73 Es ist daher auch kein Zufall, dass ein weiteres großes Thema für Erickson die bessere Vermittlung zwischen „micro“ und „macro“ ist; vgl. Erickson (2004). 74 Letzten Endes unterscheiden sich die „Takte“ des 4/ 4-Taktes und des 2/ 2-Taktes nicht durch ihre Länge, sondern durch ihre metrische Struktur. Im alla breve Takt wird die halbe Note statt der Viertelnote zur Zählzeit. <?page no="124"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 114 sind nicht ohne weiteres geeignet, Dialoge wiederzugeben. Neben dieser technischen Schwierigkeit gibt es jedoch auch eine ganz prinzipielle: Beim Versuch, eigene Daten nach diesem System zu verschriftlichen, drängte sich mir der Verdacht auf, dass sich das System verselbstständigt hat und die semantische Aufladung durch die Einführung musikalischer Kategorien überhandgenommen hat. Jedenfalls habe ich davon Abstand genommen, an dieser Stelle meine eigenen Daten nach diesem System zu transkribieren, da die zugrundeliegenden Prinzipien doch in hohem Maß auf persönlicher Intuition zu basieren scheinen und nicht objektivierbar sind. Gleichzeit fällt das eigentlich Musikalische von Sprache - ihre Intonation - völlig unter den Tisch. Ob sich eine Transkription von Rhythmus, Intonationskontur, kinesischen und räumlich-visuellen Prozessen, Blickverhalten und Äußerungen an der Notation von Musik orientieren kann, ist aus meiner Sicht fraglich. 4.6 „Idea units“ (Wallace Chafe) There is a clear and definite limit to the accuracy with which we can identify absolutely the magnitude of a unidimensional stimulus variable. - George A. Miller (1956: 90 [The magical number seven]) Im Falle von Wallace Chafe spielt das zeitliche Nacheinander, oder - um seine eigene Metaphorik zu verwenden - der Fluss der Zeit, deshalb eine so überragende Rolle für sein sprachtheoretisches Konzept, weil er sich über lange Jahre intensiv mit dem Zusammenspiel von Sprache, Bewusstsein und Gedanken („ideas“) beschäftigt hat. Für Chafe stehen diese Begriffe in einem natürlichen Zusammenhang: „[W]e can never really understand language without understanding the human mind, and vice versa.“ (Chafe 1994: ix) Die Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang zwischen Sprache und Bewusstsein trifft bei Chafe (1994, 1996b, 1998) auf eine fruchtbare Auseinandersetzung mit dem Einfluss der medialen Realisierung von Sprache als Schrift oder als Gesprochenem. Ausgangspunkt von Chafes Überlegungen ist die Frage, (a) wie Vorstellungsinhalte im menschlichen Geist kommen und gehen und (b) wie diese Vorstellungsinhalte beim Menschen - im Unterschied zu Tieren (soweit wir das wissen) - nicht nur die unmittelbare Umgebung betreffen, sondern auch Vergangenes, Zukünftiges und Imaginiertes beinhalten können. Schließlich ist (c) das Problem adressiert, „to capture and communicate those thoughts“ (Chafe 1994: 4) mittels Sprache, um auf diese Weise mittelbar an Bewusstseinsinhalten anderer teilzuhaben und diese am eigenen Bewusstsein teilnehmen zu lassen. Dabei lassen sich erhebliche Unterschiede in der sprachlichen Umsetzung dieser Gedanken und Ideen aufzeigen, abhängig davon, ob es sich um schriftliche oder mündliche Kommunikation handelt. Mit der Aufdeckung dieser Zusammenhänge möchte Chafe einen wichtigen wissenschaftlichen <?page no="125"?> 4.6 „Idea units“ (Wallace Chafe) 115 Beitrag dazu leisten, zu verstehen, „ […] how both the flow and the displacement of conscious experience affect the shape of language, and conversely how language can help us better understand these basic aspects of our mental lives.“ Chafe (1994: 4) Während es zwischen den Begriffen ‚Bewusstsein‘ und ‚Sprache‘ eine natürliche Abhängigkeit gibt, da „the book’s major thesis is that consciousness shapes language in important ways“ (Chafe 1994: 37), spielt ‚Zeit‘ bei den Analysen gleich in doppelter Hinsicht eine Rolle: einmal bei der real verstreichenden Zeit, die wir brauchen, um etwas zu sagen, zum anderen zur Markierung von zeitlichen Abläufen dessen, worüber wir reden (‚displaced time and space‘). Diese Unterscheidung findet sich auch wieder in Kategorien von Erzählzeit und erzählter Zeit oder Zeit und Tempus (vgl. Kapitel 3.4). Die Art, wie diese beiden ‚Zeiten‘ - „the flow of consciousness through time and the displacement of consciousness in time and space“ (Chafe 1994: 4) - mit Sprache interagieren, ist hochgradig abhängig von der Verwendungssituation und der medialen Realisierung. Im Wissen um die Variation innerhalb von Subgenres und Varietäten berücksichtigt Chafe als Basis für seine Untersuchungen in erster Linie Gesprächsdaten und ausgewählte literarische und nicht-literarische Texte. Er wird nicht müde darauf hinzuweisen, wie wichtig es seiner Meinung nach ist, dass theoretische Erkenntnisse immer auf handfesten Daten fußen, und kritisiert die methodische Richtung, die Teile der LinguistInnen in den letzten Jahrzehnten vermehrt eingeschlagen haben. 4.6.1 Chafes Diskussion von Empirie und Introspektion Die verschiedenen aktuellen sprachwissenschaftlichen bzw. geisteswissenschaftlichen Strömungen unterscheiden sich laut Chafe in erster Linie dadurch, welchen Stellenwert sie empirischen Daten und Korpora im Rahmen ihrer Theoriebildung einräumen. Er selbst versucht zwischen radikal formalistischen Positionen und radikal funktionalistischen Positionen zu vermitteln, indem er darauf hinweist, dass jede Theorie immer nur so gut ist, wie die Daten, aus denen sie abgeleitet wurde. Da er sich an der Schnittstelle von Psychologie und Linguistik verortet, äußert er methodologische und wissenschaftstheoretische Kritik nach beiden Seiten: Während sich die kognitive Psychologie weitgehend darauf beschränkt, Verhaltensforschung in kontrollierten Versuchsumgebungen zu betreiben, arbeiten große Teile der Sprachwissenschaft mit ausgedachten Beispielen, die auf der Grundlage von Introspektion bewertet werden. It is a very peculiar thing that so much of contemporary linguistic research has been based on unnatural language. It is as if one tried to study birds by building airplanes that were rather like birds in certain ways, and then studied the airplanes, just because they were easier to control than the birds themselves. (Chafe 1994: 17) <?page no="126"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 116 Seine Kritik geht jedoch nicht so weit, konstruierte Beispielsätze prinzipiell zu verurteilen, sondern er appelliert daran, moderaten Gebrauch von ihnen zu machen. Trotz dieser mahnenden Worte haben manipulierte Daten und konstruierte Beispiele im Wissenschaftsbetrieb der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedoch eine bisher nie dagewesene Vormachtstellung erlangt, die es durch den Aufbau von Korpora aus natürlicher mündlicher und schriftlicher Kommunikation zu korrigieren gilt. Als natürlich gelten Daten dann, wenn sie nicht für einen bestimmten (linguistischen) Untersuchungszweck erzeugt wurden, sondern in anderen, unabhängig davon liegenden Handlungszusammenhängen entstanden sind. Die spielerische Erzeugung von Daten ist eine Manipulation. Die Analyse der Daten kann entweder nur mir zugänglich sein, also subjektiv bzw. introspektiv, oder es handelt sich um intersubjektiv zugängliche Daten, die öffentlich sind. Jede dieser Vorgehensweisen, wissenschaftliche Erkenntnisse zu generieren, hat ihre Berechtigung, aber jede von ihnen hat auch ihre Nachteile. Wenn man empirische Forschung geordnet nach der Art und der Quelle auf eine Matrix einträgt, ergeben sich vier ebenbürtige Felder. Tabelle 3: Eigenschaften empirischer Daten (vgl. Chafe 1994: 11-21) öffentlich introspektiv manipuliert Experiment Elizitation semantische Bewertung Wohlgeformtheitsurteile natürlich Ethnographie Korpuslinguistik Tagträume Literatur Chafes eigene Analysen basieren auf Alltagsgesprächen, literarischen Texten und Sachtexten, Sprachproben einer Sprache der amerikanischen Ureinwohner (Seneca), der Musik von Mozart und der Musik der Seneca. Bei seinen Untersuchungen kommt er immer wieder zu überraschenden Ergebnissen, wenn er die Zusammenhänge von Sprache, Bewusstsein und Zeit aufdeckt. Der Vergleich einer klassischen, österreichischen Klaviersonate mit einem kultischen Liederzyklus der amerikanischen Ureinwohner deckt z. B. eine starke Analogie zwischen der Informationsportionierung durch Intonationseinheiten in der gesprochenen Sprache und der Einheitenbildung durch musikalische Phrasierungen in den beiden Musikstücken auf. <?page no="127"?> 4.6 „Idea units“ (Wallace Chafe) 117 4.6.2 Bewusstseinsinhalte Der Tenor in Chafes Untersuchungen zu „Discourse, Consciousness, and Time“ ist, dass es möglich sei, „to identify various properties of consciousness that significantly affect the shape of language“ (Chafe 1996b: 38). Dabei lassen sich Eigenschaften von Bewusstseinserfahrungen unterscheiden, die invariant sind, und Eigenschaften, die nur in bestimmten Situationen auftreten. Jede dieser Eigenschaften interagiert auf ganz spezifische Weise mit Formen des Denkens und Sprechens. Zu den ständig vorhandenen Eigenschaften des Bewusstseins zählt er folgende (vgl. Chafe 1994: Kap. 3, 26ff., Chafe 1996b: 38f.): Das Bewusstsein hat immer einen Fokus und einen Hintergrund, wobei es sich ununterbrochen zwischen Fokus und Hintergrund hin- und her bewegt. Es gibt also immer sowohl einen Kern, der gerade im Zentrum des Interesses steht, als auch eine Peripherie, wie z. B. Informationen über Raum, Zeit, Gesellschaft, laufende Aktivität usw., in der sich das erlebende Individuum gerade befindet. Kern und Peripherie bieten Orientierungspunkte, ohne die das Bewusstsein nicht funktionieren würde. 75 Zu den variablen Eigenschaften des Bewusstseins zählt Chafe wenigstens die folgenden fünf: Erstens lassen sich Bewusstseinserfahrungen danach unterscheiden, aus welcher Quelle sie stammen: zur Wahl stehen die drei Untergruppen Wahrnehmung, Handlung sowie Bewertungen und Empfindungen und ergänzend auch Erfahrung, die aus Introspektionen als eine Art „meta-awarenesses of what consciousness is doing“ (Chafe 1994: 31) gewonnen wurden. Diese Quellen schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern können sich überlagern. Der zweite variable Faktor von Bewusstseinserfahrung ist die Unterscheidung danach, ob die Bewusstseinsinhalte aus dem unmittelbaren Wahrnehmungsraum herrühren oder das Produkt einer Erinnerungs- oder Vorstellungsleistung sind. Drittens lassen sich Bewusstseinsinhalte danach unterschieden, ob ihnen vom Individuum jeweils Faktizität oder Fiktionalität zugesprochen wird. Auch wenn die Bewusstseinsinhalte nur 75 Fokus und Hintergrund von Bewusstseinserfahrungen sind Kategorien, die sich aus der metaphorischen Konzeption der ‚Introspektion‘ ergeben. Dass wir nicht in gleicher Weise nach innen blicken („Consciousness is like vision.“ (Chafe 1994: 53)), wie wir die Außenwelt wahrnehmen, ist in der Erkenntnistheorie heute ein Gemeinplatz (vgl. z. B. Prauss 1999: 153f.). Chafes Ausführungen über die am eigenen Körper (bzw. Geist) gewonnen Erfahrungen scheinen vor diesem Hintergrund streckenweise naiv. Das Gleiche gilt für die verschiedenen Aktivierungsgrade von Bewusstseinsinhalten, insbesondere den semiaktiven Zustand. Chafe ist überzeugt, dass sich viele Zwischenstufen zwischen mentalen Prozessen annehmen lassen, von „mental processes […] that are conscious or potentially conscious and those that are blindly physiological.“ (Chafe 1994: 39) Damit wird eine terminologische Lücke zwischen den Begriffen mental und bewusst aufgerissen, die in ihrer Aufweichung sogar physiologische Prozesse abdecken soll. Dadurch handelt man sich die gleichen Probleme ein wie schon bei Freuds ‚Entdeckung‘ des Unbewussten als etwas quasi- Mentalem, das jedoch nicht im Bewusstsein ist (also somatisch? ). <?page no="128"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 118 subjektiv für wahrhaftig gehalten werden und es sich nicht um objektiv-intersubjektiv nachweisliche Wahrheit bzw. Faktizität handelt, weisen Personen ihren Bewusstseinsinhalten doch immer Grade von Faktizität zu. Viertens können Bewusstseinsinhalte mehr oder weniger interessant sein, also zwischen Eigenschaften wie langweilig, aufregend oder beruhigend changieren und fünftens und letztens variieren Bewusstseinsinhalte danach, inwieweit Verbalisierung im Spiel ist, ob es sich also um „inner language“ oder Bilder oder Gefühle handelt - „[o]ften there is a mixture of language and nonlanguage.“ (Chafe 1996b: 39) Darüber hinaus kann man laut Chafe davon ausgehen, dass auch unbewusste Prozesse eine wichtige Rolle für die bewussten Bewusstseinsinhalte und sogar für das beobachtbare Handeln spielen. 4.6.3 Intonationseinheiten Für Chafe besteht Evidenz für die ständig wechselnden Aufmerksamkeitsfoki des Bewusstseins in der Beobachtung, dass sie in der Regel enden „in a series of brief spurts, typically between one and two seconds long, for which I have been using the term intonation units.“ (Chafe 1996b: 40) Diese ‚Intonationseinheiten‘ lassen sich anhand eines Bündels von Merkmalen isolieren: 76 sie sind in der Regel durch Pausen getrennt, manchmal sind sie auch nur durch Änderungen des ‚timings‘, also durch verlangsamtes Sprechen am Einheitenende bzw. beschleunigtes Sprechen zu Beginn, voneinander getrennt, durch Änderung der Grundfrequenz, durch eine markante finale Tonhöhenbewegung, durch die Änderung der Stimmqualität. Die auf diese Weise identifizierbaren Intonationseinheiten sind Gegenstand der beiden weitreichendsten Thesen Chafes: der ‚light subject hypothesis‘ und der ‚one new idea hypothesis‘. Sie waren ursprünglich bloß heuristische Annahmen auf der Grundlage von „‚quick and dirty‘ observations“ (Chafe 1994: 22), haben sich dann aber als sehr robuste Strukturmerkmale herausgestellt. It is intuitively satisfying, and it turns out to have productive consequences, if intonation units are viewed as the linguistic expressions of information that is, at first, in the focal, active consciousness of the speaker and then, through the utterance of the 76 Vgl. auch die „Five Cues for Intonation Units“ nach Du Bois et al. (1992: 100ff.): „coherent contour“, „reset“, „pause“, „anacrusis“ und „lengthening“. <?page no="129"?> 4.6 „Idea units“ (Wallace Chafe) 119 intonation unit, becomes active in some adapted form in the consciousness of an attentive listener. Not all intonation units express substantive ideas […], but those that do show in English conversation a modal length of four words, a fact that suggests an important cognitive constraint on how much information can be fully active in the mind at one time. (Chafe 1996b: 41) Die übliche syntaktische Form einer Intonationseinheit besteht in einem Einfachsatz (clause), sie kann aber nicht nur länger bzw. komplexer, sondern vor allem auch wesentlich kürzer sein. Ganz im Sinne von Chafes Grundannahme lässt sich ein hoher Grad an Übereinstimmung zwischen den Eigenschaften von Bewusstseinsinhalten und den sprachlichen Strukturen, die sie zum Ausdruck bringen, finden. Gerade der „Satz“ scheint besonders geeignet, Ideen zum Ausdruck zu bringen: „The function of a clause is to verbalize the idea of an event […] or a state […]. Most event and state ideas incorporate one or more referents - ideas of people, objects, or abstractions - that function as participants in them.“ (Chafe 1996b: 41) Intonationseinheiten, deren Gegenstand Ereignisse, Zustände oder Referenten sind, enthalten eine ‚substantielle‘ Idee. Daneben gibt es aber auch solche, die eine bloß regulatorische Funktion im Kommunikationsverlauf haben, 77 Chafe 1994: 65 und zu guter Letzt gibt es auch abgebrochene Einheiten, die fragmentarisch bleiben. Chafe kommt bei der Auswertung seiner Daten auf eine durchschnittliche Länge von 4,84 Wörtern für ‚substantielle‘ Intonationseinheiten. Nimmt man die one-new-idea-Hypothese ernst, braucht die Artikulation eines Gedankens im Englischen im Schnitt also vier Wörter ( ). Auch wenn die genaue Zahl natürlich nur für das Englische gilt, handelt es sich nach Chafe (1994: 69) dabei um „a fact that suggests a cognitive constraint on how much information can be fully active in the mind at one time.“ Für die regulatorische Funktion reichen in der Regel Einwortäußerungen von im Schnitt 1,36 Wörtern Länge (durchschnittliche Längenangaben für fragmentarische Äußerungen machen offenkundig keinen Sinn). Abbildung 7 stellt die Subkategorisierung nach semantischen und funktionalen Kriterien der Intonationseinheiten dar. 77 Diese regulatorischen Intonationseinheiten entsprechen weitgehend dem, was anderswo auch unter „Diskursmarker“ gefasst wird (wobei Diskursmarker nicht notwendigerweise in einer eigenen Intonationseinheit produziert werden müssen), vgl. Gohl & Günthner (1999), Günthner (1999a), Schiffrin (1987) und Kapitel 6.1.2). <?page no="130"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 120 Abbildung 7: Arten von Intonationseinheiten nach Chafe (1994, Kapitel 5) Ideen wiederholen sich im Laufe eines Textes oder Diskurses nur selten - eine Tatsache, die für Chafe das ikonische Gegenstück für den ständigen ‚Bewusstseinsstrom‘ 78 darstellt. Referenzobjekte von Ideen können dagegen durchaus über mehrere Intonationseinheiten hinweg bestehen und können auch nach einem vorrübergehenden Abrutschen in einen „semiactive state“ im weiteren Verlauf des Gesprächs wieder reaktiviert werden. Parallel zu der Unterscheidung zwischen ‚neuer‘ und ‚alter‘ Information - und ganz im Sinne der Informationsstrukturierung oder Thema-Rhema-Progression 79 78 Zur Metapher des ‚flow‘ siehe auch - muss man aus einer auf das Chafe (1994: 30): „I characterize this process with the metaphor of flow, which is intended to capture the dynamic quality of the movement of information into and out of both focal (active) and peripheral (semiactive) consciousness.“ 79 Trotz der langen Tradition, die die Beschäftigung mit Informationsstrukturierung aufweisen kann, sind die Forschungsergebnisse schwer zu überschauen, da sie unter einer ganzen Reihe empirischer wie theoretischer Probleme leiden. Zuerst einmal ist es gar nicht immer so einfach/ eindeutig, den Neuigkeitswert einer Information zu bestimmen, da zahlreiche kommunikative und kontextuelle Faktoren dabei eine Rolle spielen. Außerdem sind die Begrifflichkeiten teilweise sehr verschieden, bzw. haben sich im Laufe der Zeit geändert (ein kurzer Überblick findet sich z. B. in Birkner (2008: 284-295)). Zu guter Letzt sind die sprachlichen Mittel, den Informationswert auszudrücken, so heterogen und zahlreich, dass auch sie sich nicht ohne Probleme systematisieren lassen. Die Grundidee der Informationsstrukturierung von Sätzen in alte und neue <?page no="131"?> 4.6 „Idea units“ (Wallace Chafe) 121 Hörerverständnis zielenden Perspektive einen gewissen Aufwand betreiben, um aus neuer Information aktiven Bewusstseinsinhalt zu machen. Bei Informationseinheiten, die aus neuer Information bestehen, wird also aus einer bisher noch nicht bewussten Idee ein aktiver Bewusstseinsinhalt gemacht. Da dieser Inhalt, sobald er einmal aktiv bewusst war, immer wieder reaktiviert werden kann, kommt zu der Unterscheidung zwischen neuer und alter Information noch die ‚zugängliche Information‘ hinzu, die zwar gerade nicht aktiv, aber doch schon erwähnt ist. Gerade diese ‚semiaktiven‘ Informationen sind es, die größere zusammenhängende Abschnitte bilden und „discourse topics“ 80 Chafe 1996b: 45 genannt werden: „[A] coherent chunk of information that organizes thought and language.“ ( ) Bekannte Information wird nach Chafe typischerweise schwach akzentuiert, kann in manchen Fällen aber auch durch eine Kontrastakzentuierung überlagert werden. Neue Information trägt typischerweise den Hauptakzent und wird als vollständige Phrase geäußert, das Gleiche gilt für die Re-Aktivierung im Falle von ‚accessible information‘. Der Grundgedanke Chafes, dass jede Intonationseinheit immer nur eine neue Idee enthält, geht Information („le connu“ versus „l’inconnu“) und wie sich dieser Gegensatz auf die (freie? ) Wortstellung niederschlägt, findet sich schon in Weil (1844) und bei Georg von der Gabelentz. Letzterer bereicherte die Diskussion auch noch um die Begriffe des „psychologische[n] Subject[s]“ als Gegenstand eines Gedankens und des „psychologische[n] Prädicat[s]“ als Aussage über diesen Gedankengegenstand (vgl. Von der Gabelentz 1868: 378) - eine Unterscheidung, die Aussagen- und Informationsstruktur unabhängig von der grammatischen Unterscheidung von Subjekt und Prädikat macht, welche nicht immer deckungsgleich sein müssen. Hermann Paul hat dieses Konzept in seine einflussreiche „Deutsche Grammatik“ und in den „Prinzipien der Sprachgeschichte“ übernommen (Paul 1880, 1919), wobei das psychologische Prädikat bei Paul nicht mehr durch die Nachstellung (Syntax) bestimmt ist, sondern dadurch, „dass es den stärksten Ton im Satze trägt“ (Paul 1919: 12) (Prosodie). Von Beginn an existierten also zwei unterschiedliche Konzepte von Informationsstruktur, nämlich alte und neue Information bzw. worüber geredet wird und was der Hörer darüber denken soll, und zwei unterschiedliche Ausdrucksmittel, nämlich Wortstellung bzw. Prosodie. Die Unterscheidung zwischen dem, worüber gesprochen wird, und dem, was darüber ausgesagt wird, ist von Ammann (1928) später wieder aufgegriffen worden, diesmal jedoch aus der Perspektive des Sprechers gedacht und mit neuer Terminologie: Worüber der Sprecher redet ist das „Thema“, was er darüber aussagt das „Rhema“. Später kamen noch weitere Begriffe für Thema wie „Topik“, „Hintergrund“, „Präsupposition“ und für Rhema wie „Kommentar“, „Fokus“ und „Prädikation“ hinzu, die den Überblick über den Forschungsbereich weiter erschwerten (zur Begriffsgeschichte vgl. Beneš (1973), Kapitel 13 in Chafe (1994), Weigand (1979)). Für einen kurzen historischen Überblick der weiteren Entwicklung vgl. Musan (2002), deren Darstellung der Informationsstrukturierung nach eigenen Angaben zwar keineswegs erschöpfend ist, aber doch ausführlich genug, um deutlich zu machen, „dass die Saat, die Weil, von der Gabelentz und Paul seinerzeit ausgesät haben, sich vor allem in den letzten drei Jahrzehnten zu einem üppigen Dickicht entwickelt hat.“ (Musan 2002: 207) 80 Vgl. die beiden Fallbeispiele in Kapitel 10 in Chafe (1994: 120-136). <?page no="132"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 122 nach eigenen Angaben auf eine These von Talmy Givón (1975: 202; Hervorhebung im Original) zurück: „[T]here exists a strategy of information processing in language such that the amount of new information per a certain unit of message-transaction is restricted in a fashion - say ‚one unit per proposition‘.“ Diese weitreichende Behauptung steht und fällt natürlich mit der Konzeptualisierung von ‚eine‘ ‚neue‘ und ‚Idee‘ pro ‚Intonationseinheit‘. Während sich Intonationseinheiten durch die beschriebenen Faktoren auszeichnen und „[i]n spite of problematic cases […] emerge from the stream of speech with a high degree of satisfying consistency“ (Chafe 1994: 62) und sich die Frage, ob eine Information neu oder alt, gegeben oder unbekannt ist, durch die Berücksichtigung des Kontextes und Kotextes beantworten lässt, ist die Definition von „einer Idee“ eine semantische Festlegung: Ob am Ende nur Sätze oder auch Wortgruppen Einheiten, die Ideen enthalten, bilden können, ist für Chafe (1996b: 43) eine Frage der Lexikalisierung: „the historical process by which an institutionalized combination of words comes to be established as a way of verbalizing an institutionalized idea.“ Ideen definieren sich für Chafe in erster Linie durch ihre Aktivierungskosten, die davon abhängen, ob es sich um Bekanntes, Vorerwähntes oder Neues handelt. Dadurch unterscheiden sich Ideen auch von Funktionswörtern, die an dieser Kategorisierung nicht teilhaben. Ideen werden in der Regel vermittelt von den sogenannten Inhaltswörtern oder Pronomen, um „mental representations of perceived, remembered, or imagined events, states and referents“ (Chafe 1996b: 43) auszudrücken. Chafes one-new-idea-Hypothese ist in ihrer Allgemeingültigkeit relativ einfach zu widerlegen, indem ein Beispiel mit zwei neuen Ideen in Gestalt einer Intonationseinheit gefunden wird. Das liegt nach Chafe dann jedoch daran, dass z. B. der Sprecher eine Information irrtümlich als semiaktiv oder aktiv im Bewusstsein betrachtet, die für den Hörer jedoch neu ist. Trotzdem kann es durchaus Einheiten geben, die mehr als nur eine Idee ausdrücken und größer sind als eine Intonationseinheit. Hier vermutet Chafe die wichtige Funktion von komplexen Sätzen (sentences) in Gesprächen, die er bei der Einheitenbildung ansonsten zurückgestellt hat. Although sentences have often been treated unquestioningly as the most basic of linguistic units, they do not always emerge from ordinary speaking with compelling clarity. […] Syntax and prosody are often at odds, and intonation units do not always combine to form structures with the properties syntacticians have traditionally assigned to data that has been either invented or, at best, copied from some piece of writing. (Chafe 1996b: 45f.) Während ‚intonation units‘ und ‚discourse topics‘ relativ stabile Struktureinheiten von Gesprächen sind, lässt sich das von Sätzen nicht sagen. Satzgrenzen, seien sie nun syntaktischer oder prosodischer Natur, sind das Ergebnis von „on-line, fleeting decisions with regard to levels of coherence that stand somewhere between foci of consciousness and discourse topics.“ (Chafe 1996b: 46) <?page no="133"?> 4.6 „Idea units“ (Wallace Chafe) 123 Im Gegensatz zur ‚one new idea constraint‘, die die maximale Informationsmenge pro Einheit beschränkt, bezieht sich die ‚light subject constraint‘ auf die Informationsverteilung innerhalb einer ‚idea unit‘. Korrekterweise müsste sie eigentlich ‚light starting point constraint‘ heißen, da es bei der Regel nicht um die syntaktische Funktion des Subjekts geht, sondern um die funktionale Rolle, Ausgangspunkt für weitere Ausführungen zu sein. 81 We have dealt now with three dimensions on which referents may contextually vary. The dimension of cost (given, accessible, new) reflects the expenditure of mental energy as ideas are activated. The dimension of referential importance (primary, secondary, trivial) reflects the degree of participation of a referent within a stretch of discourse. The dimension of weight (light, heavy) is a product of both cost and importance. In conversational language subjects are usually but not always given, but they are always light. That fact accords well with their role as the expression of starting points. ( Letzten Endes besagt das ‚light subject constraint‘, dass das Subjekt bzw. der Ausgangspunkt einer Äußerung entweder keine neue Information darstellen darf, oder falls doch, dann zwar neue, aber triviale Information. Die Eigenschaft einer Information, leicht bzw. schwer zu sein, soll bereits terminologisch klarmachen, dass es sich nicht um die Polarität neu-alt, neu-gegeben handelt, sondern um eine mehrdimensionale Informationsgewichtung in Abhängigkeit von den Aktivierungskosten und der Relevanz für die gerade durchgeführte Interaktion. Chafe 1994: 91f.) Da die meisten ausgedachten Beispielsätze der formalen Linguisten der ‚light subject constraint‘ widersprechen, erklärt sich daraus nicht nur, warum ihre Grammatikalität in Anbetracht ihrer Kontextlosigkeit so schwer zu beurteilen ist, sondern auch, warum sie so unnatürlich wirken. Chafe (1994: 8 und 84) formuliert es in seiner Einleitung allerdings etwas polemischer, wenn er sagt, dass es viele Dinge auf dem Gebiet der Sprache gibt, die sich nie erschließen, indem man Sätze bildet, die mit ‚John‘ anfangen und mit einem Punkt enden, und sich dann fragt, ob das korrekte Sätze des Englischen seien. Über die beiden genannten Hypothesen hinaus bleiben seine weiteren Überlegungen zu einem „displaced“ und „immediate consciousness“ (Chafe 1994: Teil 3; 195ff.) bzw. „represented“ vs. „representing consciousness“ jedoch - wenn man zum Beispiel an Bühlers (1934/ 1999: § 8) Deixis am Phantasma denkt - recht naiv. Hier rächt sich dann das unlautere Nebeneinander der Begriffe Idee, Gedanke, Bewusstsein, Sprache und Zeit. Die 81 Die funktionale Rolle, einen Ausgangspunkt darzustellen, und die syntaktische Form des Subjekts zu haben fallen im Englischen in aller Regel zusammen. Der Psychologe G. F. Stout hat es so ausgedrückt (n. v., ap. Chafe (1994: 83): „The subject […] is that product of previous thinking which forms the immediate basis and starting-point of further development.“ <?page no="134"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 124 Funktionsweise von Tempusmarkierungen lässt sich ohne Rückgriff auf das denkende Ich einfacher und wohl auch besser erklären. 4.6.4 Fragmentarische, substantielle und regulatorische Intonationseinheiten: Diskussion an zwei Beispielen Auf den ersten Blick ist das Spektrum, das Chafe bei seinen Überlegungen abdeckt, beeindruckend. Auf den zweiten Blick drängt sich allerdings der Verdacht auf, dass diese vielseitigen Untersuchungsgegenstände möglicherweise nur sehr wenig miteinander zu tun haben. So ist im Rahmen dieser Arbeit zu Zeitlichkeit als Ordnungsprinzip der gesprochenen Sprache ganz bewusst darauf verzichtet worden, auch die grammatische Kodierung von Zeitverhältnissen in Form von verbalen Tempora oder temporalen Adverbialen in die Untersuchung einzubeziehen, da sie zwar ebenfalls zeitlichen Aspekte behandeln, diese allerdings auf einer völlig anderen Ebene liegen (siehe Kapitel 3.4). Es entsteht daher meiner Meinung nach kein Mehrwert, wenn man echtzeitliches Verstreichen von Äußerungen und die Markierung von Tempusverhältnissen unter einer Fragestellung behandelt. Was das Verstreichen in der Echtzeit betrifft, ist der Gedanke, dass Einheitenbildung beim Sprechen in Intonationseinheiten erfolgt, die jeweils eine Idee ausdrücken, eine ziemlich weitreichende These. Sie ist inspiriert von psychologischen Untersuchungsergebnissen, die darauf hindeuten, dass der Mensch sich nicht mehr als sieben Dinge zur gleichen Zeit merken kann (Miller 1956) und dass das Kurzzeitgedächtnis etwa alle zwei Sekunden überschrieben wird (Chafe 1998: 100). Chafe folgert (bzw. seine Untersuchungen legen nahe), dass die unter einem Aufmerksamkeitsfokus gleichzeitig im Bewusstsein stehenden kognitiven Grundeinheiten, mit denen Menschen operieren und kommunizieren, aus weniger als sieben Einheiten bestehen und kürzer als zwei Sekunden dauern. Für die Definition dieser Grundeinheiten greift er auf verschiedene Ebenen sprachlicher Organisation zurück und mischt kognitive, syntaktische und prosodische Kriterien, ohne jedoch das prinzipielle Problem der Segmentierung gesprochener Sprache in kommunikative Minimaleinheiten dadurch lösen zu können. 82 Zwei kurze Beispiele mögen das illustrieren: In Beispiel 7 handelt es sich um ein Nachbarschaftspaar aus Frage und Antwort. Beide werden jeweils in einer eigenen Intonationsphrase von verschiedenen Sprecherinnen geäußert. Beispiel 7: Total gut geschlafen (BB1_80) 01 Ele: gut geSCHLAfen? (substantiell? ) 02 Vero: ja toTA: L. (regulatorisch? ) 82 Vgl. zu dieser Einheitenkonzeption auch die Kritik von Auer (2010b: 10) und die Auseinandersetzung mit dem „Segmentierungsproblem“ in der gesprochenen Sprache in Kapitel 5.4.5. <?page no="135"?> 4.6 „Idea units“ (Wallace Chafe) 125 Sicherlich ist es für die Analyse von gesprochener Sprache schon ein Fortschritt, wenn nicht mehr davon ausgegangen wird, dass Dialoge aus vollständigen Sätzen bestehen, sondern wenn auch (syntaktisch) reduzierten Formen zugebilligt wird, eine eigenständige „idea unit“ bilden zu können. Aber ist es wirklich sinnvoll zu sagen, bei den beiden Gesprächsbeiträgen in Beispiel 7 handele es sich um selbstständige „idea units“? Besteht der Gehalt einer Antwort auf eine Entscheidungsfrage nicht vielmehr in der Assertierung bzw. Negation des semantischen Gehalts der Frage und ist diese Antwort ohne diesen sequenziellen Kontext nicht bedeutungsleer? Die Strategie, Responsive wie „ja toTA: L“ in Zeile 02 zu ‚Funktionswörtern‘ zu degradieren, die keine ‚substantielle‘ Eigenbedeutung haben, wird solchen komplexen dialogischen Strukturen nicht gerecht. 83 Außer der Verteilung von ‚einer Idee‘ auf mehrere Äußerungseinheiten und Sprecher im Falle von Fragen und Antworten, gibt es auch den durchaus häufigen Fall, dass ein und dieselbe Idee über Intonationsphrasengrenzen hinaus elaboriert wird wie in Beispiel 8: Elena (Ele) zieht einen Vergleich zwischen ihrem aktuellen WG-Mitbewohner, Torben (Tor), und einer ihrer früheren Mitbewohnerinnen, dem „Model“, da sie durch Torbens Art, andere Personen der Wohngemeinschaft herumzukommandieren, an sie erinnert wird. Beispiel 8: Das Model (BB1_78) 01 Ele: wie (-) wie meine MITbewohnerin; (fragmentarisch? ) 02 die ich früher HATte; (substantiell) 03 Tor: [ja? ] (regulatorisch) 04 Ele: [das] MOdel; (substantiell? ) 05 ja_ja. (regulatorisch) 06 die (-) die wusste ALles immer=ne, (substantiell) 07 aber die hat immer MICH machen lassen. (substantiell) 08 Tor: hm_hm, (regulatorisch) 09 Ele: und die stand dann immer so- (substantiell) 10 ja_ja mach mal (fragmentarisch) 11 ma =elena? (substantiell) 12 ja_ja gut. (1) (regulatorisch) 13 wenn sie_s (-) (fragmentarisch) 14 alLEIne konnt die das hervOrragend=ne, (substantiell) 15 nur halt (fragmentarisch) 83 Dieser Mangel an Verständnis für sequenzielle Zusammenhänge zeigt sich auch daran, dass Chafe dem Schweigen (wie z. B. Zeile 20 in Beispiel 8) keine echte Bedeutung beimisst. Pausen und Schweigephasen im Gespräch werden zu Grenzmarkierungen für „intonation units“ degradiert, da sie in Chafes Ideen-Konzeption wohl nicht dafür geeignet scheinen, dass sich durch sie ein Bewusstsein einem anderen Bewusstsein mitteilt. <?page no="136"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 126 16 Tor: JA_ja. (-) (regulatorisch) 17 [SO bin ich auch.] (substantiell) 18 Ele: [MACH (-) mach ] (fragmentarisch) 19 Tor: ja. (regulatorisch) 20 (3) ? Ist es wirklich berechtigt, hier von atomaren Ideen zu sprechen, die zwar durch die untereinander bestehende Referenzidentität zwischen „die“ (Zeile 02, 06 und 07), „das MOdel; “ (Zeile 04) und „meine MITbewohnerin; “ (Zeile 01) thematische Kohärenz und textuelle Kohäsion herstellen, aber nicht ohne dass dabei jede Intonationseinheit eine (neue? ) Idee enthält? Chafes Klassifikation würde dazu führen, dass sowohl die komplexe syntaktische Struktur am „Satzrand“ (Selting 1994) in Zeile 01 bis 06 als auch die abgebrochenen Formulierungen in den Zeilen 10 und 15 als interaktive Ressource für das Gespräch unter den Tisch fallen. In Beispiel 8 ginge die Herausstellungsstruktur völlig verloren, wenn die selbstständigen Intonationsphrasen nicht in Relation zu dem Syntagma in Zeile 6 gestellt würden. Schließlich wird die initiale Adverbialphrase (Zeile 01) durch einen attributiven Relativsatz (Zeile 02) expandiert, 84 6.1.1 wobei die Struktur, die in der linken Peripherie des Syntagmas aus Zeile 06 steht, vorher noch rechtsperipher ausgebaut wird, indem zwischen Linksherausstellung (Zeile 01), Relativsatz (Zeile 02) und Wiederaufnahme durch das anaphorische Demonstrativum (Zeile 06) noch eine Apposition eingefügt wird („das MOdel; “ Zeile 04). Nach welchen Kriterien lässt sich beurteilen, ob die „Idee“ in Zeile 01 bereits vollständig geäußert wurde oder ob Zeile 01 und 02 eine Einheit bilden? Gibt es operationalisierbare Verfahren, Gespräche in „idea units“ zu zerlegen, oder muss man sich auf die scheinbar eindeutige Gliederung in „intonation units“ verlassen? Auch wenn es detaillierte Überlegungen zu den semantischen Verknüpfungen zwischen verschiedenen ‚Ideen‘ bei ihm gibt, werden solche syntaktisch komplexen Satzränder im Gegensatz zu den textdeiktischen Verfahren ignoriert. Da es sich hier ‚nur‘ um den linken Rand handelt, kann davon ausgegangen werden, dass die Probleme bei Rechtserweiterungen aufgrund der Rechts-Links-Asymmetrie in der gesprochenen Sprache noch viel größer und auf jeden Fall zahlreicher werden (siehe Kapitel ). Bedauerlicherweise ist auch die Zerlegung in Intonationseinheiten weniger unproblematisch, als es auf den ersten Blick scheint. Nachlaufelemente wie „=ne,“ oder „=elena? “ werden inzwischen als subsidiäre prosodische Einheiten betrachtet, die sich an die vorausgehenden Intonationsphrasen „anlehnen“ (vgl. Selting et al. 2009: 368). Dadurch verschwimmt Chafes Grenze zwischen ‚interaktionalen‘ Einheiten und ‚substantiellen‘ Ideen (siehe Abbildung 7). Die theoretisch schlüssigen Kategorien in Chafes Systematik führen in der praktischen Anwendung auf Gespräche jedenfalls zu so vielen Unsicherheiten, dass 84 Es lässt sich aufgrund der fehlenden Hintergrundinformationen nicht sagen, ob es sich in Beispiel 8 Zeile 02 um einen restriktiven oder appositiven Relativsatz handelt. <?page no="137"?> 4.6 „Idea units“ (Wallace Chafe) 127 Zweifel angebracht sind, ob sie nicht sauberer hätten definiert werden müssen und ob die kognitiven Kategorien nicht wesentlich stärker an „harte“ Formfaktoren hätten gebunden werden müssen, um dem Verdacht zu entgehen, mit solchen Analysen im wahrsten Sinne schlechte Metaphysik zu betreiben, für die es keine materielle Evidenz gibt. Die These der Prototypizität von „clause“, „intonation unit“ und „idea unit“ auf den Ebenen von Syntax, Prosodie und Semantik in der gesprochenen Sprache ist auch noch aus anderen Gründen problematisch. Es lässt sich an dieser Stelle weder die Frage beantworten, ob der Satz das idealtypische linguistische Strukturformat darstellt, an dem sich alles andere messen lassen muss, noch inwieweit die syntaktische Struktur des Satzes besonders geeignet ist, die logische Struktur einer Idee wiederzugeben. Allerdings lässt sich der Rechenweg in Chafes Gleichung, dass Sätze bzw. Ideen im Englischen im Schnitt aus vier Wörtern bestehen, kritisieren. Der statistischen Auswertung geht nämlich eine Unterscheidung in ‚substantielle‘ Sätze, organisatorische Einheiten und Diskursfragmente voraus. Eine solche Klassifikation setzt sich schnell dem Verdacht eines latenten ‚Skriptizismus‘ (siehe Kapitel 4.8) aus und macht es zumindest nicht einfacher, systematische Zusammenhänge zwischen Fragmenten, diskursorganisierenden Einheiten und Sätzen herzustellen. Fragmentarisch sind Äußerungen schließlich nur in Bezug auf vollständige Strukturen, im Vergleich zu denen sie unvollständig erscheinen, und von anderer Seite aus diesem Grund schon lange im Verdacht stehen, der kommunikative Müll chaotischer mündlicher Interaktion zu sein, und daher als „Performanzphänomene“ keiner weiteren wissenschaftlichen Betrachtung würdig zu sein. Möglicherweise ist also die durchschnittliche Anzahl der in einer Intonationseinheit enthaltenen Wörter relativ belanglos im Vergleich zu den komplexen Strukturprinzipien innerhalb und zwischen Intonationseinheiten - fragmentarischen und substanziellen. Ebenfalls verwirrend ist das Nebeneinander von Kausalität, Korrelation und Koinzidenz bei Chafes Kardinalthese, die Menge der gleichzeitig im Bewusstsein verarbeiteten Einheiten sei zahlenmäßig auf wenige beschränkt, diese bildeten in 60% der Fälle einen Satz und in 100% der Fälle eine Intonationsphrase (Chafe 1994: 63). Wie bereits erwähnt ist es meiner Meinung nach fahrlässig, einen solchen Zusammenhang zu postulieren, ohne wenigstens zu versuchen, ihn dann in der Folge auch mit angemessenen Methoden zu belegen. Für den Nachweis, dass „each intonation unit can be viewed as the expression of what may be called a single ‚focus of consciousness‘“ (Chafe 1998: 100), kommt man aber um experimentelle psycholinguistische Verfahren nicht herum. Chafe überspringt diesen Schritt und während seine Hypothesen zu Bewusstseinszuständen und Sprachverarbeitung noch darauf warten, im Laborversuch bestätig zu werden, macht er sich schon an die Klassifikation und Analyse seiner „idea units“. Dass es sich bei den „idea units“ bzw. „intonation units“ um die „doppelte Artikulation“ (Martinet 1949) von Sprache handelt, deren Ebenen möglicherweise korrelieren, aber denen nicht ohne Weiteres ein kausaler Zusammenhang unterstellt werden kann, wird von Chafe nicht diskutiert. Auch ob die <?page no="138"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 128 Tatsache, dass die aktiven Bewusstseinsgegenstände Teil der gleichen Intonationsphrase sind, eine hinreichende oder eine notwendige Bedingung für „idea units“ ist, bleibt offen. Verwunderlich - insbesondere in Anbetracht seiner profunden phonetischen Kenntnisse - ist, dass Chafe eine andere anthropologische Konstante als Erklärung für die Länge und Struktur von Intonationsphrasen völlig außer Acht lässt: den möglichen Zusammenhang zwischen Sprechen und Atmung. Hier schlummert eine alternative Erklärung dafür, warum Intonationseinheiten eine bestimmte Länge nicht überschreiten, deren Einfluss auf Gesprächsstrukturen noch viel zu wenig empirisch untersucht wurde. 85 Bei der eher philosophisch geprägten Unterscheidung von Bewusstseinszuständen kommt Chafe trotzdem zu einem tieferen Verständnis von linguistischen Themenfeldern, wie der Funktion von Anaphern, Zeitformen, Satzstrukturen, Intonationsphrasen und vielem mehr. Die Stärken seiner Arbeit liegen sicherlich in seinen Analysen von authentischen Beispielen und in seinem immerwährenden Versuch, eine konsequente Terminologie für den Bereich zu entwickeln. Dabei nimmt er allerdings nicht immer ausreichend Rücksicht auf die philosophische und psychologische Tradition und auf neueste Ergebnisse der (empirischen) Kognitionswissenschaft. So sind seine Ergebnisse in ihrer generalisierenden Allgemeingültigkeit oft sehr mutig formuliert und als heuristische Annahmen für weitere (empirische) Untersuchungen wohl auch sehr hilfreich; inwieweit es jedoch methodologisch heute noch legitim ist, kognitive Aussagen ohne objektiv kognitive Untersuchungen zu machen, ist fraglich. Die Verknüpfung der Erkenntnisse aus „introspection with observations of language to identify properties of consciousness“ (Chafe 1996a: 194) müsste meiner Meinung nach von weiteren psycholinguistischen Methoden flankiert werden (siehe z. B. Ferreira & Engelhardt 2006, Griffin & Ferreira 2006). Andernfalls hätten Psychologie und Kognitionswissenschaften wenig Fortschritte gemacht, seit der Mensch zum ersten Mal angefangen hat, sich nicht nur mit der Natur, sondern auch mit seinem eigenen Bewusstsein auseinanderzusetzten. Letztendlich wirft uns diese Art der Reflexion über Sprache auf den Stand von Sokrates zurück, dem als ‚Entdecker‘ der Subjektivität die gleichen primitiven Mittel zur Verfügung standen, spekulative Aussagen darüber zu machen, welche und wie viele Gegenstände womöglich gleichzeitig unter einem bewussten Aufmerksamkeitsfokus stehen könnten. 4.6.5 Fazit Der wichtigste Beitrag Chafes für die Beschreibung der Grammatik der gesprochenen Sprache ist aus meiner Sicht sein Insistieren auf einem reflektierteren Umgang mit Daten und Methoden in den Geisteswissenschaften. Welche Fragestellung welches methodische 85 In nicht-linguistischen Wissenschaftsdisziplinen ist der Forschungsstand etwas besser, auch wenn die Ergebnisse nur bedingt übertragbar sind, vgl. z. B. Winkworth et al. (1995). <?page no="139"?> 4.6 „Idea units“ (Wallace Chafe) 129 Vorgehen erzwingt, und aus welchen Daten ich überhaupt welcher Art Erkenntnisse gewinnen kann, sind wissenstheoretische Probleme, über die intra- und interdisziplinär viel zu wenig diskutiert wird. Es erscheint angebracht, die Gütekriterien quantitativer Untersuchungen, d. h. reliabel, valide, objektiv und repräsentativ zu sein, mit den Vorteilen der qualitativen Herangehensweise, d. h. explanativ, intuitionskonform und komplex zu sein, zu vereinen oder doch zumindest zu versöhnen. 86 Chafe (1996a: 196 Dass diese Forderung zu einem guten Stück bis heute mehr Desiderat denn gängige Praxis ist, stellt auch ) fest: What I would like to see in the coming years are studies, firmly based on observations of natural language, that will either confirm or disconfirm hypothesized constraints such as the one-new-idea constraint, exploring the mitigating factors I have discussed, and that will in the process enrich our understandings of language, consciousness, and thought. […] Everyone has a prejudice about the best way to do research, some people being most strongly convinced by experiments, some by computer models, and some - I hope a growing number - by observations of language as it actually occurs. My own sympathies, of course, lie with the third group, whose contributions to an understanding of the mind can be more substantial than many have realized. 86 Chafe selbst rechtfertigt durchaus selbstbewusst sein methodologisches Vorgehen und will auch der Introspektion und Intuition ihren gebührenden Platz eingeräumt wissen: „It is interesting […] to observe how differently this narrowly conceived scientism has played itself out in psychology and in various schools of linguistics. The so-called cognitive revolution has not changed things very much. Psychology continues to place most of its bets on marvelously intricate experimental techniques applied to marvelously artificial observations to answer questions that are often marvelously trivial. Linguistics builds intricate houses of cards to explain - what? Apparently why certain little words in fabricated data refer or don’t refer to one and the same fabricated individual.“ (Chafe 1996b: 36) <?page no="140"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 130 4.7 „Emergent Grammar“ (Paul J. Hopper) Grammatik ist geronnener Diskurs. - Martin Haspelmath (2002: 270) Auch in der von Paul J. Hopper (1987, 1988, 1998, 2011) entworfenen „Emergent Grammar“ hat mit dem Begriff der Emergenz eine zeitliche Komponente in die grammatische Beschreibung Einzug erhalten. Das zeitliche „Emergieren“ sprachlicher Strukturen ist für Hopper insofern von Interesse, als es den Status und die Existenzform von sprachlichen Regeln betrifft. Die „Emergent Grammar“ stellt einen Gegenentwurf zum Angeborenheitspostulat und dem Mentalismus der „Universal Grammar“ dar, der besagt, dass grammatische Regeln und syntaktische Strukturen in der Echtzeit der Sprachverwendung „emergieren“. Das unterscheidet sie grundsätzlich von einer „a priori Grammatik“, bei der sprachliche Regeln unabhängig und außerhalb von Sprachverwendung ein autonomes Eigenleben führen. 87 Clifford (1986: 19 Der Regelbegriff der „Emergent Grammar“ wehrt sich also gegen das Postulat einer angeborenen Grammatik, so dass „emergent“ auch nicht nur auf die echtzeitliche Entfaltung sprachlicher Strukturen anspielt, sondern vielmehr auf den Status von Regeln generell, die als nicht-angeboren und nur im Vollzug existent und erworben verstanden werden müssen. Der Begriff „emergent“ ist von Hopper dabei analog zu der Konzeption von Kultur als „temporal, emergent, and disputed“, wie sie von ) entwickelt worden ist, gebildet. The same can be said to be true of grammar, which like speech itself must be viewed as a real-time, social phenomenon, and therefore is temporal; its structure is always deferred, always in a process but never arriving, and therefore emergent; and because I can only choose a tiny fraction of data to describe, any decision I make about limiting my field of inquiry […] is […] disputed. (Hopper 1998: 156) Strukturelle Regularitäten in der Sprache sind demnach nicht die Ursache für, sondern das Ergebnis von Interaktion; „Grammatik“ ist nur eine andere Bezeichnung für sich wieder- 87 Die Position der Autonomie abstrakter Regeln bzw. der grammatischen Kompetenz (bzw. „i- Grammatik“) überhaupt wird besonders von Vertretern der Generativen Grammatik in der Tradition Chomskys vertreten, vgl. z. B. Bierwisch (1993, 2002), Chomsky (1981, 1986), Fanselow (2002), Grewendorf (1993, 2007). Es gibt aber auch Vertreter der Generativen Grammatik, die die Dichotomie zwischen Kompetenz und Performanz eher im Sinne einer heuristischen Arbeitshypothese betrachten, z. B. Culicover & Jackendoff (2005), wobei diese Durchlässigkeit zwischen den Bereichen aber nicht so weit konzeptionalisiert wird wie in usage-based-Ansätzen, die von einer gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Kompetenz und Performanz ausgehen (Bybee 1998, Bybee 2006, Bybee & Hopper 2001, Kemmer & Barlow 2000, Langacker 1988, Tomasello 2003). <?page no="141"?> 4.7 „Emergent Grammar“ (Paul J. Hopper) 131 holende Muster in sprachlicher face-to-face-Kommunikation. Sie stellt nicht die Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation dar, vielmehr wird die natürliche Emergenz von Grammatik als ein „by-product of usage and frequency“ verstanden (Hopper 1998: 160). Die Idee, dass Sprache nicht die Quelle von Kommunikation, sondern nur ein Epiphänomen davon ist, hat auch eine semiotische Dimension: Auch das Zeichen, im Sinne eines statischen Form-Funktions-Paars, die Gesamtheit des Zeicheninventars einer Einzelsprache und deren kombinatorische Verknüpfungsregeln existieren nicht außerhalb und unabhängig („a priori“) von ihrer Verwendung. This means that a sign’s form […] is provisional, and is dependent, not on an essential inner core of constant meaning, but on previous uses and contexts in which the current speaker has used or heard it. Grammar has the same provisional and contextdependent property as the sign. (Hopper 1998: 157) Jeder Versuch, kategorielle oder strukturelle Fixierungen zu entdecken, entpuppt sich als Illusion, da partielle Übereinstimmungen immer nur das Ergebnis einer (vorübergehenden) Sedimentierung aufgrund von häufigem Gebrauch darstellen. Die „Regeln“ der „Emergent Grammar“ unterscheiden sich also von den Regeln der Generativen Grammatik durch ihren ontologischen Status und ihren reflexiven Charakter. In diesem „sediment of usage that is called grammar“ (Hopper 1998: 159) lassen sich auch keine abstrakten Module oder linguistischen Beschreibungsebenen mehr identifizieren, sondern statt eines geschlossenen Sprachsystems gibt es eine unendliche Kollektion von Formen im Gebrauch, die je nach Routinisierungsgrad (vgl. zu sprachlichen Routinen auch Brône & Zima 2014, Haiman 1991) mehr oder weniger stabil sind. Wie sich schon in der Qualifizierung von Grammatik als „temporal, emergent and disputed“ andeutet, sind in Hoppers „Emergent Grammar“ gleich zwei Zeitauffassungen im Spiel. Neben die diachrone Perspektive der Überlieferung von musterhaften Äußerungen tritt die echtzeitliche Perspektive der Verknüpfung dieser Sprachmuster zu aktualisierten Äußerungen: „Informal dialogue from an on-line perspective consists not of sentences generated by rules, but of the linear on-line assembly of familiar fragments.“ (Hopper 2011: 26) Dabei spielt die Tatsache, dass Grammatik das Produkt von Sprechereignissen in der Echtzeit ist, für die Konzeption der „Emergent Grammar“ jedoch eine geringere Rolle als die diachrone Dimension von Routinisierung und Sedimentierung, die schließlich in die Emergenz grammatischer Strukturen münden: 88 88 Vgl. Haspelmaths ( „We say things that have been said 2002: 270) Metapher der Grammatik als „geronnene[m] Diskurs“, für den Grammatik ebenfalls „als Nebenprodukt des normalen Sprachgebrauchs entsteht“ (Haspelmath 2002: 283). In umgekehrter diachroner Perspektivierung taucht derselbe Gedanke auch in Kellers (2009: 15) nicht-teleologischer Sprachwandeltheorie auf, für die „[j]eder erfolgreiche kommunikative Akt […] ein neuer Präzedenzfall für die Zukunft [ist].“ <?page no="142"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 132 before. Our speech is a vast collection of hand-me-downs that reaches back in time to the beginnings of language.“ (Hopper 1998: 159) Hoppers Konzeption von Sprache als alleinigem Sprechen hat nicht nur große Ähnlichkeit mit der Sprachkonzeption Humboldts („enérgeia“; vgl. Kapitel 4.2), sondern führt auch zu einer Revision der Saussure’schen Dichotomie von paradigmatischen und syntagmatischen Beziehungen zwischen Wortformen (vgl. Kapitel 4.1). Für Hopper erfordert jedes Sprachdatum einen Äußerungszeitpunkt und Äußerungsort sowie InteraktionspartnerInnen, oder - linguistisch gesprochen - einen Kontext, und ereignet sich innerhalb eines abgeschlossenen Äußerungszeitraums. Darüber hinaus existiert Sprache (quasi als „Érgon“) nicht, erst recht nicht in Form von virtuellen Austauschklassen. In der „Emergent Grammar“ werden logischerweise auch keine paradigmatisch angeordneten Wortformen angenommen, sondern „forms are seen as distributed over time, and as being exchanged between speakers, there is an emphasis on the linear, i. e., syntagmatic arrangements of forms“ (Hopper 1998: 162). Wenn die Grammatik also keine situationsenthobene Abstraktion von Sprechereignissen ist, sondern sich nur im Vollzug manifestiert, scheinen beide - Grammatik und Äußerung - die gleichen temporalen Eigenschaften zu haben. „Like the acts of communication that engender it, Emergent Grammar exists in time.“ (Hopper 1998: 160) Diese Identifikation der beiden Zeitbegriffe verdeckt jedoch einen grundlegenden Unterschied: Während der zeitliche Verlauf einer Äußerung dieser durchaus seinen Stempel aufdrückt, spielt das Vorher und Nachher im Sinne einer emergierenden, sedimentierten Grammatik nur insoweit eine Rolle, als der zeitliche Abstand zwischen der Aktualisierung einer Struktur Auswirkungen auf die Frequenz hat. Während „grammar […] a question of observed repetitions“ (Hopper 1998: 161) ist, es also um die Wiederholung von gleichen oder ähnlichen sprachlichen Strukturen geht, geht es in der echtzeitlichen Realisierung einer Äußerung gerade nicht um Wiederholung. Antworten auf die Gretchenfrage der Interaktionalen Linguistik und anderen „usage-based“ Grammatikansätzen, nämlich wie „grammar is shaped by interaction“ (Thompson & Couper-Kuhlen 2005: 483, vgl. Kapitel 2.3), z. B. wenn „Rechtsverzweigung“ mit der Zeit aufgrund der einfacheren Prozessierung zugunsten von „Linksverzweigungen“ gegen die Zeit in mündlicher Kommunikation präferiert werden, sind keine Frequenzereignisse, sondern tief verwurzelt in der Prozesshaftigkeit von Sprache-in-Interaktion. 4.7.1 „Emerging“ und „emergent“ Zwecks terminologischer Differenzierung werden die beiden Zeitauffassungen von Hopper durch die adjektivischen Begriffe „emergent“ und „emerging“ repräsentiert, bei denen die gleiche Opposition zum Ausdruck kommt wie in Giddens (1976) „structuration“ im Gegensatz zu „structure“: <?page no="143"?> 4.7 „Emergent Grammar“ (Paul J. Hopper) 133 Structuration, like emergence, implies that there is no natural terminus, no complete current set of linguistic facts and no synchronically bounded entity. Rather, structures are constantly being modified and negotiated during use. (Hopper 2011: 29) Während Hopper mit der partizipialen Ableitung ‚emerging‘ den Sprachwandelprozess bezeichnet, bleibt die Ableitung ‚emergent‘ für die Moment-für-Moment-Entwicklung sprachlicher Formen vorbehalten. By ‚emerging‘ we are entitled to understand the development of a form out of its surroundings, its epigenesis. The term ‚emerging‘ is thus appropriate for the view of grammar as a stable system of rules and structures, which may ‚emerge‘ (i. e., come into existence) out of a less uniform mix. (Hopper 2011: 27f.) Dabei hat auch für Hopper eine solche diachrone Perspektive durchaus ihre Verdienste und Berechtigung, sie läuft allerdings ständig Gefahr, die Elemente der Wandelprozesse erneut zu verdinglichen und als quasi-statische Gegenstände misszuverstehen. Trotz ihrer Meriten möchte Hopper selbst daher keine historische Sprachwissenschaft betreiben. Da in einer „Emergent Grammar“ alles in Bewegung ist, gilt ihr Interesse nicht so sehr dem scheinbar stabilen System (dessen Systemcharakter nur ein relativer ist), sondern der Peripherie sprachlicher Regelhaftigkeit (an der sich die Prinzipien der „Emergent Grammar“ besonders gut zeigen lassen): „Emergent Grammar focuses on the boundaries of categories rather than their prototypes, exploring the leading edges and the territory around them as they move“ (Hopper 2011: 28). Emergenz bedeutet, dass grammatische Strukturen immer unvollständig bleiben. Diese Unvollständigkeit zeigt Hopper z. B. an ad-hoc-Formulierungen, die dem kanonischen Sprachgebrauch widersprechen, an formelhafter Sprache, die jedoch noch nicht vollständig fixiert ist, und an ähnlichen sowohl-als-auch-Fällen im Spannungsfeld zwischen Innovation und Sedimentierung. Auer & Pfänder (2011: 5) drücken diese Eigenart der „Emergent Grammar“ in ihrer Einleitung zum gleichnamigen Sammelband so aus: It is this interest in the non-explained and non-explainable bits and pieces, the seemingly ungrammatical, peripheral or ad hoc forms which perhaps most clearly distinguishes emergent grammar from emerging grammar research. Diesen kreativen Prozess des ad-hoc-Arrangements von Wortformen vergleicht Hopper mit der Improvisation in der Jazzmusik. Sowohl im Gespräch als auch im Jazz werden „publicly and jointly“ (Hopper 2011: 32) vertraute Fragmente spontan zu neuen Kombinationen angeordnet und wie im Jazz ist im Gespräch das Ergebnis weder ganz neu noch in genau der Form jemals da gewesen: „speakers weave together previously heard utterances.“ (Hopper 2011: 33) <?page no="144"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 134 4.7.2 Die Emergenz einer grammatischen Konstruktion: Diskussion an einem Beispiel Hopper hat die Idee einer „Emergent Grammar“ nicht nur theoretisch entwickelt und argumentativ begründet (Hopper 1987, 1988, 1992a, 1998, 2011), sondern in zahlreichen korpusbasierten Einzeluntersuchungen (Bybee & Hopper 2001, Günthner & Hopper 2010, Hopper 2001, Hopper 2004, Hopper 2007, Hopper & Thompson 2008) zeigen können, wie viel besser sich der Befund, wie er sich in korpusbasierten Untersuchungen natürlicher Interaktion darstellt, mit dem flexible Strukturverständnis einer ständig im Prozess der Verfestigung befindlichen Grammatik erklären lässt, als es die Vorstellung von kanonischen Beispielsätzen einerseits und deren deformierten Vertretern in Sprache-in- Interaktion andererseits vermag. Diese künstliche Opposition widerspricht der Beobachtung, der Häufigkeit und der Natur dieser Daten, so dass viel eher der vermeintliche Prototyp in Frage gestellt werden sollte: „‚canonical‘ constructions should rather be seen as highly stylized cultural artifacts, amalgamations of fragments put together and grammaticalized through stylistic and normative conventions.“ (Hopper 2001: 125) So zeigen Günthner & Hopper (2010) am Beispiel von Pseudocleft-Sätzen im Englischen und Deutschen, dass in der gesprochenen Sprache oft von dem kanonischen Muster der Referenzgrammatiken (what I would like is a multiracial child) abgewichen und Variationen von Pseudocleft-Konstruktionen stattdessen als flexible Ressource eingesetzt werden, „die auf die lokalen interaktionalen und zeitbezogenen Gegebenheiten hin abgestimmt“ (Günthner & Hopper 2010: 23) werden. 89 Günthner (2008b: 90) hat auch für das Deutsche gezeigt, „dass die in der Literatur beschriebenen kanonischen Formen […] den Realisierungsweisen in der gesprochenen Sprache nur bedingt entsprechen.“ Statt davon auszugehen, dass es sich bei den sogenannten Pseudocleft- oder Sperrsätzen um ein biklausales Satzmuster handelt, deuten die Daten darauf hin, dass sich in der gesprochenen Sprache große Unterschiede zwischen den beiden Teilen der Konstruktion feststellen lassen. Auf den ersten Teil, der starke Verfestigungen aufweist und „eine Projektionsspanne eröffnet und den Folgeteil […] metapragmatisch rahmt“ (Günthner 2008b: 91), folgt in Pseudocleft-Konstruktionen der gesprochenen Sprache als zweiter Teil nicht notwendigerweise ein syntaktisch integrierter Komplementsatz. Im Unterschied zum Spaltsatz (engl. cleft sentence: „Es war Philip, der die Kette fand“), bei dem das Pronomen es mit der Kopula sein und einem Prädikatsnomen mit anschließendem Relativsatz gebraucht wird, wird beim Sperrsatz (engl. pseudocleft sentence: „Was Philip fand, (das) war die Kette.“; vgl. 89 Während Pseudocleft-Sätze als Projektorkonstruktionen (vgl. Kapitel 6.1.2) gesprächsorganisierende Funktion besitzen, zeigt Hopper (2007) z. B. anhand von Pivot-Konstruktion des „apò koinoũ“, wie sich Linearisierungsprobleme im Zuge der schrittweisen Äußerungsproduktion bei geringer Planungszeit in Form von Konstruktionswechseln niederschlagen (der Apokoinu- Konstruktion aus Sicht einer inkrementellen Syntax widmet sich Kapitel 6.1.4). <?page no="145"?> 4.7 „Emergent Grammar“ (Paul J. Hopper) 135 Bußmann (2002: 610)) eine fokussierte Konstituente als Prädikatsnomen in den Kopulasatz gesetzt, während am Anfang ein Fragewort als kataphorisches Pronomen steht. Allerdings zeigen Günthners und Hoppers Ergebnisse, dass der Anschluss des B-Teils an den A-Teil nicht immer diesem Muster entsprechen muss, sondern in vielen Fällen auch nur lose mit dem Folgesyntagma verknüpft sein kann. Diese nicht-kanonischen Versatzstücke von Pseudocleft-Konstruktionen bezeichnet Hopper als „Fragmente“, nicht ohne im selben Atemzug diese Bezeichnung wieder zurückzuziehen, da der Aspekt der Unvollständigkeit in der Bezeichnung „Fragment“ die skriptizistische Tradition der Sprachwissenschaft fortschreibt, wonach „spoken discourse is a degenerate or deviant partner to a grammatically perfect ideal construction.“ (Hopper 2001: 112) Um der Unterstellung von Unvollständigkeit oder Defektivität von sprachlichen Strukturen in der kommunikativen Praxis zu entgehen, wählt Hopper (2001: 112) die Bezeichnung „Teil“: „A pseudocleft piece is minimally a segment of discourse that begins with what and continues with a verb.“ 90 vgl. Quirk et al. 1985: 1387f. Diese syntaktisch nicht gesättigte Struktur wird nach Auffassung der traditionellen Grammatik obligatorisch von einem Komplementsatz gefolgt ( ). Hopper zeigt an konkreten Beispielen, dass zwischen dem Anfangsteil und dem, was darauf folgt, nicht notwendigerweise eine syntaktische Beziehung stehen muss, sondern dass es sich auch um ein rhetorisches Mittel zur Aufmerksamkeitssteuerung handeln kann, das den Diskurs strukturiert, ohne dass die beiden Teile zusammen einen komplexen Satz ergeben. So auch in dem folgenden Beispiel: Verona, ein prominente Unterhaltungskünstlerin, besucht als Übernachtungsgast die TeilnehmerInnen einer Reality-TV-Show und erzählt, wie schon vor ihrem eigentlichen Besuch das Medienereignis seine Schatten vorauswarf. Ein Passant schenkte ihr am Vortag der Sendung spontan einen Gürtel mit Geheimfach, um verbotene Gegenstände in das abgeschlossene Containerdorf der Fernsehsendung zu schmuggeln. Beispiel 9: Was mir heute passiert is (BB1_79) 01 Vero: was MIR heut passIErt is; 02 ich war heut morgen beim friSEUR, 03 in der FEILstraße in , °hh 04 und dann komm ich RAUS, 05 und dann steht da so_n TYP, 90 Das Problem ist durch die Bezeichnung „Teil“ bzw. „piece“ natürlich in keinster Weise gelöst, da auch dieser Begriff nur in Opposition zu einem „Ganzen“ sinnvoll verwendet werden kann und daher dieselben Verhältnisse ausdrückt, denen durch die Vermeidung des Begriffspaars „Fragment“ und „Vollform“ ausgewichen werden sollte. Vielmehr zeigt sich hier die grundsätzliche Problematik einer als emergent konzipierten Grammatik, dass ohne Einbezug von Abstraktionen und Idealisierungen die Netzwerkrelationen zwischen den einzelnen Instanziierungen von Konstruktionen eigentlich nicht beschrieben werden können. <?page no="146"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 136 06 mit so ner (.) langen RO: se, 07 so ne UNechte, 08 HÜBsche, 09 und dann meint er nimm MIT (.) zu big brOther, 10 weil die verWELKT nich; = 11 =DURFT ich aber nich, 12 °hhh [und] 13 Ele: [ach] die WUSSten dass du schon her kommst. 14 Vero: [jaja? ] 15 Chr: [e: cht? ] 16 Ele: ah kumma SCHLAGzeilen, 17 Vero: und denn meinen diese: (-) 18 MEINT er zu mir, 19 und hier is_n GÜRtel, 20 dann hat er mir n GÜRtel geschenkt, 21 aus LEder mit ner sIlbernen schnalle, 22 °hh und ich (-) ja IS ja NETT, 23 und dann meint er aber das BESTE is, 24 und dann hat er dran geDREHT, 25 und da war so n minI geHEI: Mfach. 26 (---) 27 °hh und dann meint er da kannste ja TAbak und BLÄTTchen rein tun. 28 Ele: [wie SÜ: : SS.] 29 Van: [((lacht)) ] VOLL. 30 Tor: [((lacht)) ] 31 Vero: und ich hab mich voll geFREUT und so, 32 aber wie geSAGT, 33 es wurd ja alles streng kontrolLIERT, 34 was ich überHAUPT mitnehm, (-) 35 u: : nd ja da liegt er jetzt natürlich zuHAUse.= 36 =der gute GÜRtel. Auch in Beispiel 9 Zeile 1 handelt es sich um den A-Teil einer Pseudocleft-Konstruktion, der von einem komplexen, syntaktisch nicht integrierten Diskurssegment gefolgt wird. Es ist in diesem Fall unplausibel, die Folgeäußerung als „abhängigen Hauptsatz“ (Auer 1998) zu interpretieren, der die Funktion des ausstehenden Komplementsatz einnimmt, ohne die syntaktische Abhängigkeit durch ein Subordinationselement oder die Verbletztstellung deutscher Nebensätze zu markieren. Das hieße, den Anfang der Erzählung auf folgende Struktur zurückzuführen (nachdem Kopula und Subjunktor ergänzt wurden): „Was mir heute passiert ist, [war], [dass] ich […] heute Morgen beim Friseur [war] …“ Es ist jedoch viel naheliegender, dass die syntaktische Desintegration deshalb zustande kommt, weil sie der Sprecherin ermöglicht, die folgende, mehrere Turn-Konstruktionseinheiten umfassende narrative Rekonstruktion eines Erlebnisses „metapragmatisch“ zu rahmen. Das bedeutet, die gesprächsorganisierende Funktion erstreckt sich nicht nur auf den nächsten Satz als B-Teil einer Pseudocleft-Konstruktion, sondern projiziert als verfestigte Formel die gesamte <?page no="147"?> 4.7 „Emergent Grammar“ (Paul J. Hopper) 137 darauf folgende Erzählung. Die Leistung der Konstruktion in Zeile 1 besteht in diesem Fall darin, die Aufmerksamkeit zu fokussieren, die Art der Aktivität anzukündigen (etwas „Interessantes“ ist passiert und wird rekonstruiert), das Rederecht bis auf weiteres zu beanspruchen und Zeit zu gewinnen, in die eigentliche Erzählung einzusteigen. Günthner (2008b: 98) bezeichnet Pseudocleft-Konstruktionen daher treffend als „multifunktionale Ressource“, die in der Lage ist, „mehrere simultan auftretend[e] Aufgaben“ zu lösen. Die vorgeschaltete Ankündigung erlaubt es den GesprächspartnerInnen, ihr Verhalten danach auszurichten, und die Rahmung als „interessante Begebenheit“ liefert gleich noch eine Interpretationsanweisung, wie Verona die Geschichte verstanden haben will. Das vollständige Fehlen von Zögerungen oder Pausen, die auf Formulierungsschwierigkeiten hindeuten würden, und das Ausbleiben von Reparatureinleitungen zeigt, dass es sich bei Pseudocleft-Konstruktionen ohne Kopula nicht um sprachliche Fehlleistungen handelt, sondern dass sie vielmehr effiziente sprachliche Ressourcen darstellen, „über die SprecherInnen in Alltagsinteraktionen verfügen und die problemlos produziert und rezipiert werden“ (Günthner 2008b: 97). Da die Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Sprache-in-Interaktion für die TeilnehmerInnen mit einem großen Linearisierungsdruck verbunden sind, der sich aus dem Verlauf in der Echtzeit ergibt, sieht Hopper hier einen Grund, warum traditionelle Grammatiken ein anderes und zwar wesentlich eingeschränktes Funktionsspektrum für Pseudocleft-Konstruktionen angeben. In der entzeitlichten monologischen Welt der schriftsprachlichen Beispielsätze bleiben nur noch Aspekte der Informationsstruktur als mögliche Erklärung für die Verwendung von Pseudocleft-Konstruktionen: A further observation is that the discourse motivations for the use of pseudocleft fragments are essentially temporal rather than structural. These motivations reside not in the static distribution of presuppositions across a completed construction, but in the timing and delivery of utterances: anticipating upcoming material, delaying an utterance for assessed rhetorical and cognitive effectiveness, finding strategies for warding off interruption. The presuppositional structure that is such a striking feature of written pseudoclefts is, one would surmise, a by-product of the transfer of the pseudocleft to a monologic atemporal medium and its expansion there as an extended grammatical construction. (Hopper 2001: 124; Hervorhebung im Original) Trotz dieser Einzeluntersuchungen zu durch den zeitlichen Verlauf determinierten Strukturen und der generellen Übereinstimmung, was die Rolle der Zeit für die Syntax bedeutet, bleiben die Aussagen der „Emergent Grammar“ zu konkreten Linearisierungsfragen trotzdem oft recht vage. Auch die Tatsache, dass gerade in den programmatischen Schriften zur „Emergent Grammar“ Linearität und Temporalität als konstitutiv für Sprache angesehen werden, ändert nichts daran, dass die prinzipielle Gerichtetheit von syntagmatisch angeordneten Wortketten im weiteren Verlauf der Theoriebildung fast irrelevant wird. Das gilt <?page no="148"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 138 sowohl für die Frage, welchen konkreten Effekt die Zeitlichkeit auf das ‚syntaktische Arrangement‘ hat, als auch für die Frage, welche Implikaturen die Linearität für die Theoriebildung und den Beschreibungsapparat enthält. Die Ambivalenz der beiden Zeitbegriffe und die Wichtigkeit, die ihnen innerhalb des theoretischen Rahmens zukommt, erschweren es, den tatsächlichen Stellenwert von Zeitlichkeit im Rahmen der „Emergent Grammar“ zu beurteilen. Laut Hopper (1992b: 236) kann er gar nicht überschätzt werden: „[L]anguage owes the way it is to its temporal unfolding through the spoken interaction of historically situated individuals.“ 4.7.3 „A priori Grammar“ vs. „Emergent Grammar“ - eine Neuauflage einer alten Diskussion Hopper führt seinen Feldzug gegen die „a priori Grammatik“, ohne darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei nicht um ein neues Problem, sondern bloß um die Neuauflage einer sehr alten Auseinandersetzung handelt. Der Streit darum, welchen ontologischen Status von Menschen gebildete Abstraktionen wie z. B. Begriffe, sprachliche Regeln, Universalien etc. haben, hat in der Sprachphilosophie eine lange Tradition. Die Unterscheidung zwischen allgemeinen Regeln, Begriffen etc. und Instanziierungen dieser Regeln in Form von Einzelfällen bzw. -dingen ist auf den ersten Blick plausibel und einleuchtend. Welcher Seinszustand und welche Sachhaltigkeit diesen Allgemeinbegriffen zugeschrieben werden kann, führte jedoch zum so genannten Universalienstreit. Seit der klassischen griechischen Philosophie […] ist die Unterscheidung zwischen ‚Allgemeinem‘ […] und Einzelding für die antike, mittelalterliche und zum Teil auch noch neuzeitliche Erkenntnistheorie eine alles ‚theoretische‘ Erkennen kennzeichnende Grundbedingung. Dabei wird von der Vorstellung ausgegangen, daß in jedem theoretischen Erkennen die Mannigfaltigkeit der Phänomene auf eine Einheit zurückgeführt wird, die die Mannigfaltigkeit erst verstehen läßt. Je nach Fragestellung sind in der Geschichte der Erkenntnistheorie ganz unterschiedliche Allgemeinheiten, z. B. Ideen […], Regeln, Naturgesetze, ontologische Prinzipien, Transzendentalien, Kategorien und Werte […], mit dem Terminus ‚U[niversalie]‘ zusammengefaßt worden, weil man in allen diesen Entitäten das gemeinsame Grundproblem von Einheit und Vielheit sah. (Gethmann 1996: 406) Seit dem Mittelalter werden drei verschiedene Positionen unterschieden, was das Verhältnis zwischen Allgemeinbegriffen und Einzeldingen angeht: Idealismus (universale ante rem), Realismus (universale in re) und Nominalismus (universale post rem). Der Konflikt ist mit etwas anderem Vorzeichen in der Auseinandersetzung zwischen rationalistischer und empiristischer Erkenntnistheorie fortgesetzt worden und erst durch Kants Vermittlung durch das Aufzeigen der „Grenzen der Vernunft“ vorläufig beigelegt worden. Aller- <?page no="149"?> 4.7 „Emergent Grammar“ (Paul J. Hopper) 139 dings ist er durch den linguistic turn in der Analytischen Philosophie wieder aufgeflammt (Stegmuller 1978). Hoppers Rückzug auf eine der Extrempositionen innerhalb des Universalienstreits ist also nicht unbedingt neu und seine Leugnung der Existenz von Abstraktionen führt zu den bekannten Aporien der „realistischen“ Universalienauffassung. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive erhebt sich hier insbesondere die Frage, woran sich Sedimentierung und Musterhaftigkeit eigentlich messen lassen soll, wenn man nicht über den Einzelfall hinaus blicken darf. Sicherlich ist eine Grammatik, die „a priori“ - also ohne den Umweg über empirische Sprachbeschreibung - Regeln formuliert, in Frage zu stellen. 91 The APG [a priori Grammar, BS] project by contrast must assume the constant availability of the entire language system as it is held to be known to the speaker without regard to time or situation; and structure, lexicon, and meanings exist outside their contexts, and are selected from the inventory of rules and forms during communication for their appropriateness. ( Das gilt insbesondere, wenn eine Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Verwendung von Sprache-in-Interaktion und den postulierten (eigentlichen? ) Strukturen besteht. Den ‚Regel-Platonismus‘, der durch die Analyse dekontextualisierter Beispielsätze betrieben wird, lehnt Hopper daher radikal ab: Hopper 1998: 161) Aus Hoppers Kritik an „a priori“ Grammatiken lässt sich eine Frage ableiten: wo befindet sich die Sprache, wenn sie nicht gerade gesprochen wird? Im Laufe der Geschichte wurde diese philosophische Diskussion in ganz ähnlicher Weise immer wieder geführt, im Zusammenhang mit der Existenzform von Begriffen, von Maßeinheiten oder von Regeln. 92 91 Selbst die Wohlgeformtheitsurteile innerhalb der Generativen Grammatik kommen nicht umhin, irgendeine Form von ‚Sprachgebrauch‘ als Grundlage zu nehmen. Dieser Sprachgebrauch ‚unter Laborbedingungen‘ versucht die vermeintliche Deformierung, wie sie in der Alltagssprache vorkommt, durch Idealisierung zu vermeiden. Das Ergebnis ist ein artifizielles „Sprachspiel generativer Sprachbeschreibung“ (Stetter 2002: 26), das als „partikuläre Sprachpraktik“ (Krämer 2001: 272) zu Recht in die Kritik gekommen ist. Vgl. auch Hausendorfs (2009: 192) Kritik an der Gegenstandskonstitution in der formalen Linguistik: „Will man den blinden Fleck einer Linguistik unterlaufen, die ihren Gegenstand erst durch Ablösung, also durch ‚Abstraktion‘ von der Materialität des Sprechens gewinnt, muss man das Sprechen als sinnlich wahrnehmbare Erscheinungsform der Interaktion zurückgewinnen, genauer gesagt: als den sprachlichen Anteil dieser Erscheinungsformen analysieren. Ich nenne das hier die Materialität des Sprechens. Wer von dieser Materialität redet, kann also von der Interaktion nicht schweigen.“ 92 Einen ähnlichen Gedankengang findet sich in Giddens’ (1984: 17) Kritik an dem gegenwärtigen soziologischen Strukturbegriff, den er durch die agentivische Bezeichnung „Structuration“ ersetzten möchte: „social systems, as reproduced social practices, do not have ‚structures‘ but rather exhibit ‚structural properties‘ and that structure exists, as time-space presence, only in its instantia- <?page no="150"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 140 Einen der ältesten Versuche, das Wesen von Allgemeinbegriffen und ihrem Verhältnis zu den Einzeldingen zu klären, bietet die Platonische Ideenlehre. Universale Ideen sind in einem Urbild-Abbild-Verhältnis allen Einzeldingen vorgeordnet, die an dem gr. παράδειγμα („Urbild“) nur teilhaben (μέθεξις). Bei dem sich anschließenden Universalienstreit geht es um die Frage, ob Universalien existieren. Das Universale oder Allgemeine an einer Idee ist das, was in allen Gegenständen oder Handlungen dasselbe bleibt, sosehr sie sich auch sonst voneinander unterscheiden. Wenn die „Rundheit“ z. B. als gleiche Eigenschaft in verschiedenen Dingen vorkommt: so etwa in einer Uhr, der Sonne, einem Kreis etc. Auf die Frage, ob und wie solche allgemeinen Eigenschaften existieren, haben Platon und Aristoteles verschiedene Antworten, die mit Hoppers Idee der Sedimentierung und Chomskys Idee einer angeborenen UG große Parallelen haben. Vom Platon’schen Standpunkt aus existieren allgemeine Eigenschaften unabhängig von den Dingen, denen sie zukommen. Das heißt, die Idee der Rundheit existiert unabhängig von Uhr, Sonne oder Kreis in einem Ideenhimmel. Aristoteles hat eine Verdopplung der Ideen als hypostasierte Urbilder und Einzeldinge kritisiert. Abstrakte Ideen entstehen, „wenn sich aus vielen durch Erfahrung gewonnene Gedanken eine allgemeine Auffassung über Ähnlichkeit bildet.“ (Aristoteles Met. I, 1, 981 a 5-5) Aristoteles behauptet also, dass diese allgemeinen Eigenschaften nur in dem Maße existieren, im dem sie auch den Dingen zukommen. Das heißt, die Qualität der Rundheit als Kategorie existiert nur dann, wenn sie einem existierenden Gegenstand, z. B. einer bestimmten Uhr, zukommt. Hier deutet sich auch schon die Antwort auf die Seinsweise von Allgemeinbegriffen an, wie sie spätestens seit Kant auf den Punkt gebracht wurde: Sie werden gebildet in der subjektiv-privaten Innenwelt des Subjekts und sie beziehen sich (oder „sind realisiert“) in der intersubjektivobjektiven Außenwelt. Als Elemente einer subjektiv-privaten Innenwelt haben Allgemeinbegriffe also durchaus eine Existenz außerhalb und jenseits ihrer Verwendung, empirisch zugänglich ist aber nur die intersubjektiv-objektive Realisierung derselben. 93 tions in such practices and as memory traces orienting the conduct of knowledgeable human agents“. Vgl. auch Craibs (1992: 72) Kommentar zu Giddens „structuration theory“: „None of the things I have discussed - structures, systems, and their elements, institutions, the aspects of interaction - exist in and for themselves, but only in and through social action and social practices. All these things are done they are not. The difficulty is that they have to be stopped and sorted out in order to make sense of them. The danger is that in sorting them out they take on aspects of objects that really exist in the world like other objects.“ 93 Diese Ignoranz gegenüber den Einzelfall transzendierenden Konzeptualisierungen findet sich teilweise auch in der Konversationsanalyse. Eine ähnliche Kritik kommt daher aus einer etwas anderen Richtung: In der Kontroverse um das Verhältnis von „Mikro“ und „Makro“-Analyse in der empirischen Sozialforschung zwischen Schegloff (1987a, 2005) und der Kritik an „Mannys“ (= Emanuel Schegloffs) gefährlichem interaktionalen Reduktionsmus durch dem Soziolinguisten Stephen Levinson: „Even if one thinks of social systems and grammar as the outcome of aeons of <?page no="151"?> 4.7 „Emergent Grammar“ (Paul J. Hopper) 141 4.7.4 Fazit Hoppers Argumentation für eine „Emergent Grammar“ richtet sich gegen die gängige Praxis in großen Teilen der formalistischen Sprachwissenschaft, Akzeptabilitätsurteile von dekontextualisierten Beispielsätzen aufgrund der eigenen Intuition zu fällen, die Zweifel aufwirft, ob es sich bei der Grammatikbeschreibung überhaupt um eine empirische Tätigkeit handelt, die auf korpusbasierte Beobachtungen angewiesen ist, oder um eine deduktivanalytischen Ableitungsprozess durch einen „kompetenten“ Wissenschaftler. Daraus zu schließen, der Gegenstand der a priori Grammatik sei eine Fiktion, und die Formulierung einer Regel ein quasi widernatürlicher Verstoß gegen die Natur der Sprache, schießt meiner Meinung nach über das Ziel hinaus. Musterhaftigkeit zwischen Einzelfällen zu finden und sprachliche Regeln zu formulieren sind letzten Endes zwei Seiten der gleichen Medaille. Was wir mit „Muster“, „Sedimentierung“, „Regel“ oder „Routine“ meinen, und in welcher Form es sie „gibt“, ist im Rahmen der Sprachwissenschaft nicht lösbar, sondern ein philosophisches Problem. Was die mentale Repräsentation solcher sprachlichen Muster angeht, erlauben weder korpuslinguistische noch konversationsanalytische Untersuchungsmethoden unmittelbare Rückschlüsse darauf. Neuere Ergebnisse aus der Spracherwerbsforschung und Kognitiven Linguistik weisen aber darauf hin, dass der Zusammenhang von Schemabildung und Frequenz nicht so simpel ist, wie der plakative Begriff „Sedimentierung“ unterstellt (Casenhiser & Goldberg 2005, Croft & Cruse 2004, Tomasello 2003). Wie bei kaum einem anderen der behandelten Autoren lässt sich Hoppers Grammatikkonzeption mit Humboldts Sprache-ist-Sprechen-Credo in Bezug setzten. Inwieweit diese radikale Position dabei hilft, Unterrichtsmaterial für den DaF-Unterricht zu verwenden, Orthografiefehler in der Mittelschule zu korrigieren oder logopädische Hilfestellung bei Sprechstörungen anzubieten, ist zweifelhaft, zeigt aber, dass diese panta-rhei-Auffassung von Grammatik wenig praktikabel für die tatsächlichen Schauplätze der Auseinandersetzung zwischen sprachlicher Norm und sprachlicher Variation ist. Trotz dieser Einschränkung kommt Hopper das große Verdienst zu, in detaillierten Studien auf die Diskrepanz zwischen normativen Sprachregeln in Grammatiken und tatsächlicher situationsgebundener Sprachverwendung hinzuweisen. Im Gegensatz zu der Frage, ob generalisierende Aussagen über Sprachstrukturen überhaupt legitim sind, lässt sich an diesem Missverhältnis jedoch etwas ändern. interactional events, at any one point they have a coercive, constraining influence on what interactants can do and what they can mean.“ (Levinson 2005: 451) Auch in dieser Kontroverse geht es nämlich im Grunde darum, inwieweit sich linguistische Konstruktionen von den lokalen Ereignissen, in denen sie stattfinden, emanzipieren können und anfangen, ein Eigenleben zu haben - welchen ontologischen Status dieses „Leben“ dann auch immer haben mag (vgl. auch Jäger 1993, Ortner & Sitta 2003). <?page no="152"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 142 4.8 „Dialogism“ (Per Linell) [D]ie Schrift maßt sich eine Bedeutung an, auf die sie kein Recht hat. - Ferdinand de Saussure (1916/ 2001: 30) Per Linells Vision einer Dialoggrammatik geht weit über die hier behandelte Fragestellung hinaus. Nichtsdestotrotz ist - unter anderem - der zeitliche Verlauf von sprachlicher Interaktion für sein Konzept besonders wichtig. Anders als andere Autoren, die die Bedeutung von Prozessualität und Temporalität für die Sprachproduktion und -rezeption anmahnen, kommt ihm darüber hinaus das Verdienst zu, auch an einem Formalismus gearbeitet zu haben, mit dessen Hilfe zeitliche Prozesse auch tatsächlich in ihrer Unterschiedlichkeit erfasst werden können und sich typisieren lassen. Gerade diese prozessbezogenen Begrifflichkeiten stehen hier im Zentrum. 4.8.1 Dialog, Monolog und „written language bias“ Glaubt man Linell, so stehen wir an der Schwelle eines „dialogical turn“ 94 Linell 2009: xxvii in den Geisteswissenschaften ( ). Das ist für die Sprachwissenschaft - aber nicht nur für sie - deshalb von Bedeutung, weil sie lange Zeit durch die Fixierung auf schriftliche Sprachprodukte damit beschäftigt war, ein Vokabular und eine Betrachtungsweise zu entwickeln, die sich für dialogische Sprachprozesse als ungeeignet erwiesen haben. Für Linell stellt sich die prinzipielle Frage, „what is language? where can we find it? “ (Linell 2005: 221), und er macht vor allem drei Lebensbereiche aus, in denen „languaging“ stattfindet, (a) in der Alltagswirklichkeit ihrer SprecherInnen in Form von Sprache-in-Interaktion, (b) in Form von geschriebenen Texten und (c) als meta-diskursive Kunstprodukte der Sprachwissenschaft. Leider ist der Forschungsgegenstand Sprache-in-Interaktion aufgrund einer einseitigen Beschäftigung mit Schriftsprache auf Seiten der Sprachwissenschaft lange Zeit vernachlässigt worden, so dass wir bis heute mit den Folgen dieses „written language bias“ (Linell 2005) konfrontiert sind. Linell versucht, diese wissenschaftsgeschichtlichen Fehler der Vergangenheit zu überwinden, und möchte eine systematische Analyse von geschriebener und gesprochener Sprache ermöglichen, die diesen written langauge bias hinter sich lässt: „Saussure […] never developed a linguistics of la parole, and his theory of la langue is too static.“ (Linell 2005: 216) Seine eigene interaktionale Perspektive auf Sprache fasst er 94 Auch in der deutschen Forschungslandschaft zeichnet sich eine dialogische Wende ab, auch wenn sie sich zurzeit noch schwerpunktmäßig auf das Gebiet der interaktionalen Linguistik und der Construction Grammar (CxG) konzentriert (Günthner & Bucker 2009, Günthner & Imo 2006, Günthner et al. 2014, Imo 2007). <?page no="153"?> 4.8 „Dialogism“ (Per Linell) 143 unter dem Begriff „dialogisch“ zusammen. Sein Dialogbegriff fußt in dem generalisierten kultursemiotischen Dialogkonzept von Bachtin (1979a, 1996). Seine dialogisch konzipierte Sprachtheorie geht von drei fundamentalen Prinzipien aus, die allem interaktionalen Sprachgebrauch zugrunde liegen. Das erste Prinzip besagt, dass jede sprachliche Äußerung, sei sie monologisch oder dialogisch, über eine sequenzielle Organisation verfügt: „Each constituent action, contribution or sequence, gets significant parts of its meaning from the position in a sequence (which in real-time interaction is of course temporal in nature).“ (Linell 1998: 85) Das zweite fundamentale Prinzip einer dialogischen Sprachauffassung besteht darin, dass Sprache und Gespräche immer soziale Phänomene sind. Ein Dialog wird immer gemeinschaftlich von (mindestens zwei) Dialogpartnern hergestellt. Das bedeutet ‚der Andere‘ (oder ‚die Andere‘ oder ‚die Anderen‘) ist bei jedem unserer Denk- oder Kommunikationsprozesse anwesend. Die Idee der Anwesenheit des Anderen findet sich schon in Bachtins (1979a: 172) These der „immanenten Dialogizität des Wortes“. 95 Das dritte ‚dialogische‘ Prinzip basiert darauf, dass Äußerungen nicht im kommunikativen Vakuum stattfinden, sondern immer Teil einer Interaktionsgeschichte sind. Sie stehen in einem Teil-Ganzes-Verhältnis zu den Aktivitäten, in denen sie stattfinden: „The property of act-activity interdependence […] is most easily demonstrated in those communicative genres which are task-oriented, and perhaps also institutionally congealed“ ( Jeder kommunikative Akt ist an jemanden gerichtet, sei es eine Einzelperson oder eine Gruppe, sei es vorgestellt oder real, sei es die eigene Person. Die Wahl der sprachlichen Mittel wird entscheidend beeinflusst von der antizipierten möglichen Reaktion der Adressierten. Linell 1998: 87). Die Art, wie sich kommunikative Gattungen, oder - wie Linell später sagen wird - Aktivitäten, und die einzelnen Äußerungsakte, die in ihnen stattfinden, kokonstruieren, lässt sich auch als reflexivisches Verhältnis beschreiben. Reflexivität findet sich ebenso in den anderen beiden dialogischen Prinzipien und kann daher als übergeordnetes Prinzip einer dialogischen Sprachauffassung bezeichnet werden. Jedem kommunikativen Akt geht eine biographische und gesellschaftliche Reihe von typgleichen Vorgängerakten voraus. Diese soziokulturellen Praktiken bilden routinisierte kommunikative Gattungen, über die Kommunikationsteilnehmer verfügen und mit denen die einzelne Praktik im Bachtin’schen Sinn im Dialog steht (s. o.). 95 Bachtin zufolge nehmen Äußerungen (bzw. „Wörter“) einerseits vor dem Hintergrund des bereits Gesagten Gestalt an, werden andererseits aber auch durch eine antizipierte Antwort beeinflusst. In diesem Ansatz, den Bachtin als dialogisches Verhältnis zwischen dem „Horizont“ des Sprechers und dem „Horizont“ des Hörers charakterisiert, sind zentrale Grundlagen eines modernen dialogischen Kommunikations- und Kontextverständnisses angelegt, wie es in Konzepten wie dem Adressatenzuschnitt (Deppermann & Blühdorn 2013, Sacks et al. 1974) und - in jüngerer Zeit - der Verstehensdokumentation (Deppermann & Schmitt 2008, Deppermann & Spranz-Fogasy 2011) entwickelt wurde. <?page no="154"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 144 Laut Linell sind diese Grundprinzipien den linguistischen Theorien diametral entgegengesetzt, die sich in erster Linie auf den Satz stützen und diesen dann auch noch aus seinem Kontext reißen, wie sich symptomatisch in der „monologistischen“ Sprachauffassung z. B. des Informationsverarbeitungsmodells der Kommunikation, der Sprechakttheorie und der generativen Linguistik zeigt. Dem stellt Linell seine ‚doppelten Dialogizität‘ 96 [U]tterances are creatively and dialogically accomplished in situ (situational dialogicality), but situated interactions also belong to sociohistorically constituted continuities of practice in which experiences and knowledge have been dialogically appropriated over time (sociocultural dialogicality). Such a theory of language is therefore a theory of linguistic praxis, in which ‚praxis‘ exhibits double dialogicality of the kind just mentioned: situated interaction (talk-in-interaction or situated text production and reception) and situation-transcending (sociocultural) practices (traditions). ( von Sprache, Handlungen und Kognition entgegen. Linell 2005: 211f.) Die Idee einer dialogischen Grammatik und die These, dass jedes Spracherzeugnis dialogisch ist, soll nicht die Tatsache verstellen, dass wir eine Vorstellung von mehr oder weniger dialogischen Sprechsituationen haben, an deren einem Ende die Kategorie ‚Monolog‘ steht. Linell versucht diesen Widerspruch zu lösen, indem er Kommunikation unterscheidet nach dem Grad der Responsivität, Adressivität, Gattungsverankerung, Perspektivität und Koerzivität, von denen die ersten drei den dialogischen Anteil und die letzten beiden den monologischen Anteil bestimmen. Er übernimmt dieses Taxierungssystem von Morson & Emerson (1990). Die Eigenschaften, responsiv, adressiert und gattungsverankert zu sein, sind für alle kommunikativen Akte gültig und bilden deren dialogische Basis. Dabei stehen die ersten beiden für die interaktionale Komponente, letztere für die intertextuelle Komponente im Sinne einer doppelten Dialogizität. Genau wie Hopper fordert Linell, Abschied zu nehmen von einer sprachwissenschaftlichen Tradition, die auf monologischen geschriebenen Texten basiert. Ganz ähnlich zu der Vorstellung von Grammatik als emerging bzw. emergent behauptet Linell (1998: 58): Dialogism is best construed […] as ‚social (re)constructionist‘ in nature […]; actions, meanings and contexts are situationally constructed, but they are filtered through 96 Linnells „doppelte Dialogizität“ hat nicht nur Bezüge zu Bachtins Sprachauffassung, sondern ist auch anschlussfähig an die Unterscheidung der kontextsensitiven und gleichzeitig kontextunabhängigen Bedeutung von sprachlichen Konstruktionen in der Konversationsanalyse (Sacks et al. 1974: 699, Schegloff 1972: 115f), aber natürlich auch an Hoppers (1998: 156) Vorstellung von Grammatik als „observed repetitions in discourse“. <?page no="155"?> 4.8 „Dialogism“ (Per Linell) 145 socioculturally sedimented meaning potentials and social representations. These are, of course, themselves of a communicative origin. Die dynamische Kontextauffassung, nach der sich Äußerungen und Kontexte in einem reflexiven Verhältnis gegenseitig ko-konstruieren, erfordert, dass für die Interpretation einer einzelnen Äußerung immer auch Wissen über das gerade ablaufende kommunikative Projekt vorhanden sein muss und über die Gattung, in der die Aktivität stattfindet. 4.8.2 Externe Syntax von Konstruktionen Da eine realistische Sprachwissenschaft nicht auf Daten vertrauen kann, die durch Introspektion oder Informantenbefragung in Laborsituationen gewonnen wurden, stellt der Anspruch einer Grammatik, die „usage-based“ sein soll, gerade für die Berücksichtigung des sequenziellen Zusammenhang eine große Herausforderung dar. Um der Tatsache gerecht zu werden, dass jede grammatische Konstruktion auch Informationen über ihren sequenziellen Kontext enthält, geht Linell im Rahmen seiner dialogischen Theorie über die Analyse der inneren Strukturiertheit von Konstruktionen, wie es in der „monologischen Linguistik“ üblich ist, hinaus und fragt nach dem interaktionalen Kontext: der externen Syntax von Konstruktionen.[L]anguage users’ knowledge of grammatical constructions are derivative from their experiences of many usage events. These events involve knowledge about what kinds of co(n)texts constructions, or utterance types, occur in. We can think of this as conditions on local co(n)texts, that is, ‚external syntax‘, and these conditions are also derivative from the experiences of real contexts. (Linell 2009: 313) Diese sequenzielle Analyse muss mindestens drei Aspekte einer ‚externen Syntax‘ in Betracht ziehen: vorausgehende Strukturen, nachfolgende Strukturen und parallel verlaufende Strukturen (vgl. Linell 2009: 319); innerhalb dieser Verweisrichtungen lassen sich wiederum verschiedene Subtypen unterscheiden. (a) responsive und retrokonstruktive Beziehung In den allermeisten Fällen fallen Äußerungen nicht zusammenhanglos, sondern sie stellen eine Verbindung zu einem Aspekt aus der kommunikativen Vergangenheit her. Dabei steht die Äußerung nicht nur in Abhängigkeit zu ihrer Vorgängeräußerung, sondern sie verändert diese Äußerung auch „retrokonstruktiv“, indem sie selektiv Bezüge herstellt und relevant macht. Wenn es z. B. zu einer Reparatureinleitung kommt, wird das davorliegende Reparandum erst dadurch reparaturbedürftig. Es ist nicht schon von sich aus reparaturbedürftig gewesen (da es genauso gut ignoriert werden könnte). Diese dialogische Reanalyse von Folgehandlungen zeigt, wie Antworten (im weitesten Sinne) eine Aktivität der Teil- <?page no="156"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 146 nehmer darstellt, die eine aktive Auswahl von Aspekten des vorausgehenden Ko-Textes beinhalten und diese Aspekte der Vergangenheit im Sinne einer „retroconstruction“ (vgl. Linell 2009: 179-188, Schegloff 1996) relevant macht. A dialogical account would start from interactional and processual observations. It would treat utterances, their presuppositions and the givenness statuses of utterance parts, not as felicity conditions which are simply taken for granted, but as phenomena emerging from situated and sequentially organised talk-in-interaction. (Linell 2004: 11) Vor diesem Hintergrund führt Linell bekannte grammatisch-syntaktische Phänomene wie z. B. den Spaltsätzen (it-cleft) oder nicht-finite Prädikationskonstruktionen (incredulity response construction) einer neuen Analyse zu, die den Prinzipien seiner ‚Dialoggrammatik‘ folgt. Diese syntaktischen Konstruktionen verfügen sozusagen über eine „eingebaute“ äußere Syntax. 97 Linell 1998: 83; Hervorhebung im Original Seine Beispiele zeigen, dass die Äußerungsbedeutung ohne die Einbettung in einen sequenziellen Kontext überhaupt nicht erschlossen werden kann, oder, anders ausgedrückt, dass die sequenzielle Position (und andere Kontextfaktoren) Teil der Äußerungsbedeutung ist. Viele Gesprächsbeiträge sehen isoliert betrachtet aus, als wären sie unvollständig. Diese ‚Ellipsen‘ sind jedoch in ihrem jeweiligen lokalen Kontext in der Regel sehr wohl vollständig und stellen situationsadäquate Kommunikationsformen dar. Jeder Gesprächsbeitrag wird also zumindest teilweise aufgrund der vorausgehenden Beiträge interpretiert. Das impliziert jedoch, dass sie selbst auch wiederum nicht nur von altem Kontext abhängig sind, sondern neuen Kontext schaffen. Jede neue Äußerung erzeugt „a new micro-situation with specific conditions on relevant continuations“ ( ). (b) prospektive und initiative Bezüge Umgekehrt gibt es auch Projektionen nach vorne in der Zeit im Sinne einer möglichen nächsten Konstruktion. Während es sich bei den „responsive constructions“ um konventionalisierte grammatische Konstruktionen handelt, die ein Formmerkmal besitzen, das sich systematisch auf etwas im Gespräch Vorausgehendes bezieht, gibt es auch „projective constructions“, die einen bestimmten Typ von Folgeäußerung als Reaktion projizieren. Beispiele hierfür sind z. B. die unterschiedlich projizierten Antworttypen bei W- Fragen und Entscheidungsfragen. 97 „[S]ome grammatical constructions and conversational practices […] have built in responsive or projective properties (or both). These properties make up what may be called the ‚outer‘ […] syntax of constructions […].“ (Linell 2009: 302) <?page no="157"?> 4.8 „Dialogism“ (Per Linell) 147 Diese Projektionen können die nächste Äußerung mehr oder weniger stark vorstrukturieren, ohne dass es jedoch zu einem deterministischen Zwang kommt, in dem die Interaktanten nur noch die Konsequenzen ihrer Vorgängerhandlungen maschinengleich ausführen können. Es werden eher Typen von Folgehandlungen erwartbar gemacht als konkrete fixe Formulierungen. Auch einen Entscheidungsfrage z. B. impliziert mehrere Antwortmöglichkeiten (ja, nein, vielleicht…). Und besonders gilt für jede projizierte Reaktion, dass diese selbst wiederum retroaktiv den Kontext umwandelt. In beiden Fällen wird durch Selektion neuer Ko(n)text geschaffen: „We can note that both […] involve selection. Through projection (P), the speaker tries to influence the other’s (or self ’s) selection of a response. Retroconstruction is also dynamic and includes the selection of certain aspects of prior context.“ (Linell 2009: 321) 4.8.3 Kommunikative Projekte, Aktivitätstypen und „inter-acts“ Jede Äußerung stellt einen kommunikativen „inter-act“ (Linell 2009: 296) dar. Mit der Bezeichnung soll zum Ausdruck gebracht werden, dass alle kommunikativen Handlungen wie die Glieder einer Kette (‚links in a chain‘) miteinander verbunden sind: Each link has its retrospective or retroactive aspects, making the action somehow responsive to and relevant in relation to prior situations, actions and utterances. Each and every link also has its prospective, projective or proactive aspects, providing for expectations of possible continuation and setting up conditions on next actions. (Linell 2009: 177) Die Idee, dass Äußerungen zu einer endlosen Folge verkettet sind, ist ebenfalls Bachtins (1979b: 341) Dialogkonzept entnommen, wonach es „kein erstes und kein letztes Wort“ gibt, und wonach der dialogische Kontext „in die unbegrenzte Vergangenheit und in die unbegrenzte Zukunft“ hineinreicht. Damit, dass alle Äußerungen in einer endlosen Kette miteinander verbunden sind, ist viel gesagt - und gleichzeitig sehr wenig, wenn es sich bei der Verkettung um ein stumpfes Nacheinander im zeitlichen Verlauf der Gesprächsbeiträge handeln würde. Im konkreten Einzelfall ist es daher viel wichtiger, dass die jeweilige Äußerung Teil eines laufenden „kommunikativen Projekts“ ist. Solche ‚Projekte‘ sind auf das Lösen einer spezifischen Aufgabe durch einen oder mehrere Beteiligte fixiert. When I use the term ‚communicative project‘ […], it serves to refer to a task carried out […] by participants in and through their interaction […]. A project is dynamic through its course-of-action; it progresses through different phases or moments, such as planning, development, performance and retrospective evaluation. A communicative project needs (at least) two contributors. (Linell 2009: 190) <?page no="158"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 148 Der Idee, dass unsere Äußerungen und Handlungen in der Zeit durch eine Reihe sich abwechselnder, erfolgreicher, scheiternder, sich ändernder usw. kommunikativer Projekte unterschiedlicher Reichweite geprägt sind, steht einer Vorstellung von Sätzen entgegen, die als einzelner Sprechakt isoliert und unverbunden, unabhängig von einer Situation und einem Kontext geäußert werden. Solche kommunikativen Projekte sind ihrerseits das Material, aus dem sich größere kommunikative Aktivitätstypen (wie z. B. Psychotherapiegespräche, Polizeiverhöre, Tischgespräche etc.) zusammensetzen. Die Analyse von kommunikativen Projekten verläuft also auf einer Zwischenebene, „bridging the gap between elementary contributions and local sequences, on the one hand, and the gobal, and more abstract notions of activity types and communicative genres.“ (Linell 1998: 233) Dass sich Äußerungen erst verstehen lassen, wenn sie als Teil eines größeren Ganzen erkannt wurden, ist ebenfalls schon von Bachtin formuliert worden. Er schlug vor, analog zu den literarischen ‚text genres‘ den Begriff ‚speech genre‘ für die gattungsmäßig verfestigten Strukturen des interaktionalen Alltags zu verwenden: Speech genres organize our speech in almost the same way as grammatical (syntactical) forms do. We learn to cast our speech in generic forms and, when hearing others’ speech, we guess its genre from the very first words; we predict a certain length […] and a certain compositional structure; we foresee the end; that is, from the very beginning we have a sense of the speech whole, which is only later differentiated during the speech process. (Bachtin 1986: 78f.) Das Konzept wurde in Deutschland aufgegriffen und von Luckmann (1985) und Günthner & Knoblauch (1995) zum Konzept der kommunikativen Gattungen ausgearbeitet. Für Linell ist dieser Begriff (trotz eingestandener großer Ähnlichkeit mit seiner Auffassung) immer noch zu sehr mit der literarischen Tradition verhaftet und betont nicht ausreichend den Handlungscharakter sprachlicher Interaktion. Er bevorzugt daher den Begriff Aktivität, 98 Auf globaler Ebene hilft uns also unser Wissen um die Struktur und Länge kommunikativer Aktivitätstypen, um deren Anfang zu identifizieren und deren Ende vorherzusehen und uns zeitlich vor- und zurückzuorientieren. Auf lokaler Ebene stehen Äußerungen als „inter-acts“ in einer sequenziellen Ordnung, wobei Vergangenheit und Zukunft der Interaktionsgeschichte in jeder einzelnen Äußerung präsent sind. Sie sind daher responsiv, insoweit sich in ihnen das Verständnis der vorausgehenden Äußerung spiegelt, sie sind aber auch initiativ, da sie selbst ein neues kommunikatives Projekt oder eine Sequenz starten bzw. projizieren und sie sind reziprok in dem Sinn, dass ihr responsiver und initiativer Geden er zur Differenzierung von nicht-sprachlichen Handlungen mit dem Beiwort ‚kommunikativ‘ versieht. 98 Vgl. die Begrifflichkeit „situated activity system“ bei Goffman (1974) und „activity type“ bei Gumperz (1982) und Levinson (1979). <?page no="159"?> 4.8 „Dialogism“ (Per Linell) 149 halt sich als reziprokes Verhältnis beschreiben lässt. Hier ergeben sich Parallelen zu der sequenziellen Unterscheidung in ‚first pair part‘ und ‚second pair part‘ und eventuellen ‚pre-expansions‘ und ‚post-expansions‘ oder ‚insert expansions‘, wie sie in der Konversationsanalyse beschrieben werden (vgl. die Nachbarschaftspaare der konversationsanalytischen Sequenzanalyse als Spezialfall dieser Verkettung von Äußerungen in Kapitel 4.4). Linells Konzept geht jedoch darüber hinaus: Den Unterschied zwischen Linells „inter-acts“ und elementaren Redebeiträgen im Sinne der Konversationsanalyse könnte man - wenn man ihn überhaupt machen will - vielleicht so formulieren, dass in der konversationsanalytischen Tradition komplexe Sequenzen aus elementaren Einheiten abgeleitet werden, dass Linells „inter-acts“ dagegen immer als Teil eines kommunikativen Projekts angesehen werden, die auch nach der analytischen Zerlegung noch Spuren dieser Teilhabe tragen. Das heißt, statt der analytischen Zerlegung nach Art einer Stimulus-Response- Handlungssequenz, haben „inter-acts“ immer sowohl responsive als auch initiative Bedeutungsanteile. 99 Außerdem geht Linell - im Gegensatz zu Konversationsanalyse - nicht von der paarweisen Abfolge von Sequenzen, sondern von einem Dreischritt aus, bestehend aus einem initiativen Akt, einem responsiven Akt des Adressaten (B) und einem dritten Schritt in Form einer Ratifizierung durch den ersten Sprecher (A): 100 Linell 2009: 183 „[…] without this third step […] B has not yet received any reaction from A and hence cannot know whether his utterance […] fits with A’s ideas; hence, no mutual and shared knowledge has been established“ ( ). 99 Vgl. auch Schegloff (1996: 97): „Any utterance in conversation may be understood to go through three phases: as (incipient) next, as current, and as prior.“ 100 Die Kritik des letzten Punkts läuft allerdings ziemlich ins Leere, bedenkt man die Wichtigkeit, die die sogenannte „third position“ auch in der Sequenzanalyse konversationsanalytischer Prägung spielt (vgl. Schegloff 1992, Stivers 2013). <?page no="160"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 150 Abbildung 8: Unendliche Verkettung von „inter-acts“ als elementare Bestandteile von Projekten und Aktivitäten Abbildung 8 soll die unendliche Verkettung von „inter-acts“ in ihrem zeitlichen Verlauf und ihre Einbettung in ein Projekt, das wiederum selbst Teil einer übergeordneten Aktivität ist, darstellen. Für Linell birgt dieser theoretische Rahmen das Potential, als empirische Methode für Sprache-in-Interaktion zu dienen und dabei den Fehler vieler linguistischer Methoden zu vermeiden, die nämlich die Teilnehmerkategorien durch vermeintlich bessere wissenschaftliche Kategorien (vgl. FN 6) ersetzten: „The analyst’s second-order constructs should reflect the interlocutors’ first-order constructs as they emerge with the unfolding dynamic discourse.“ (Linell 1998: 266) Mit dem Ziel, sprachliche Einheiten mit Rücksicht auf ihren Kontext zu betrachten, hat Linell gleich zwei Notationssysteme für Sprache-in-Interaktion entwickelt, die unterschiedliche Aspekte bei der Analyse in den Fokus nehmen. Bei der „initiative-response analysis“ (IR) wird auf einer „turn-to-turn“-Ebene gefragt, wie sich die proaktiven und retroaktiven Bestandteile auf die interaktionale, lokal organisierte Verkettung der Einheiten auswirken. <?page no="161"?> 4.8 „Dialogism“ (Per Linell) 151 Die „topical episode analysis“ (TEA) arbeitet ganz analog, konzentriert sich aber auf die nächst höhere inhaltliche Ebene sprachlicher Interaktion: die „Episode“. 101 4.8.4 Dialogizität als Methode: Diskussion an einem Beispiel In dem folgenden Gesprächsausschnitt steht Tom vor der geöffneten Kühlschranktür und überprüft deren Inhalt, während Vanessa und Torben zur gleichen Zeit am Esstisch sitzen, im Nachbarzimmer, aber in Hörweite, raucht Vanessa eine Zigarette. Es folgt eine Vorwurfshandlung (vgl. Günthner 1999b, 2000). Vorwürfe sind kommunikative Aktivitäten, in denen ein Erwartungsbruch hinsichtlich situativ angemessenen Verhaltens thematisiert wird und bestimmte Verhaltensweisen oder Handlungen als unangemessen, inadäquat oder verwerflich evaluiert werden […]. Es handelt sich also bei Vorwürfen um Formen der Moralisierung. (Günthner 1997b: 98) Die Teilnehmer von Vorwurfsaktivitäten bestehen aus einem Vorwurfsproduzenten, der eine Handlung des Gegenübers als „Fehlhandlung“ moniert, einem moralischen Adressaten, von dem der Vorwurfsproduzent annimmt, dass er für die betreffende Fehlhandlung verantwortlich ist, und der - im Unterschied zu ähnlichen moralisierenden Aktivitäten wie dem Klatsch oder der Entrüstung - ebenfalls anwesend sein muss (vgl. Günthner 2000: 207). Außerdem können noch weitere KommunikationsteilnehmerInnen als Nicht- Adressierte den Vorwurf mithören. Die Vorwürfe selbst weisen folgende Charakteristika auf (Günthner 1999b: 211f.): (i) Sie artikulieren eine Regelverletzung durch eine anwesende Person, indem sie eine negative Bewertung einer Handlung zum Ausdruck bringen. (ii) Das Verhalten des moralischen Vorwurfsadressaten wird als „deviant“ konstruiert; d. h. es muss sich um eine willentliche Tat (eventuell fahrlässig, eventuell vorsätzlich, aber eben nicht zwangsläufig) gehandelt haben, zu der es für den Adressaten Handlungsalternativen gab. (iii) Die Regeln bzw. sozialen Normen, die bei der Handlung verletzt wurden, sind für alle Beteiligten gültig. Günthner (1999b: 241) spricht bei Vorwurfshandlungen von „kleinen kommunikativen Gattungen“, was in Linells Terminologie einem kleinen ‚kommunikativen Aktivitätstyp‘ gleichkommen würde. Die folgende Analyse soll zeigen, wie sich die Teilnehmer an ihrem Wissen über den musterhaften Aufbau von Vorwurfsaktivitäten orientieren und wie die übergeordnete kommunikative Aktivität oder Gattung ‚Vorwurf ‘ lokal in kommunikative Projekte und „inter-acts“ zerfällt, die in ihrem Dienst stehen. 101 Korolija & Linell (1996: 800) definieren die Grundeinheiten ihrer Episodenanalyse als „discursive events or action sequences, each delimited from prior and subsequent discourse and internally bound together by a coherent topical trajectory and/ or a common activity.“ <?page no="162"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 152 In Beispiel 10 spielt sich die Vorwurfsaktivität zwischen dem Vorwurfsproduzenten Tom, den anderen Bewohnern der WG als potentielle moralische Adressaten und den anwesenden KommunikationsteilnehmerInnen Christina, Torben und Vanessa ab. Das Corpus Delicti sind vier geöffnete Packungen des gleichen Frischkäses im Kühlschrank. Beispiel 10: Philadelphia 102 (BB1_83) 01 Tom °h hier sind o: ch WÜRKlich- (.) Vorwurf 1# 02 Chr [((kichert))] 03 Tom [von dem- ](0.5) 04 von dem philaDELphia; 05 jedet (.) is (.) ne ECke uff; (.) 06 und E: Nmal wat [ raus]jeholt. ( ) 07 Tor <<zustimmend> [hm_hm; ]> 08 Chr [dAs war aber ] vaNESsa; Abstreiten 1# 09 Tom [ALle vIEr- °h] Vorwurf 1# ( ) 10 Tor jaja; 11 Chr [früsch.] 12 Tom [Alle ] vIEr stück. Vorwurf 1# 13 Chr ja- 14 ((schluckt)) 15 <<all> dAs war aber vaNESsa,> Abstreiten 1# 16 die sich da (.) FRISCH (.) was °hh raus- 17 <<all> und die MAG das dann nich wenn das Angebrochen is,> Begründung Abstreiten 1# 18 Van ((aus dem Wohnzimmer)) das STIMMT überhaupt nich,= Rechtfertigung 1# 19 Chr =ne? 20 Van ich hab gesacht der Eine [der schmeckt mir SCHLECHT], ( ) 21 Tor [((lacht)) ] 22 Van ich mach EIN philadelphia auf. 23 Chr du hast aber NOCH einen aufge[macht,] Vorwurf 2# 24 Van [NEIN ] Abstreiten 2# 25 Chr [ne? ] 26 Van [ich hab] NICH nOch einen aufgemacht. Abstreiten 2# 102 Die Erläuterung der Symbole in der linken Spalte erfolgt in Kapitel 4.8.4.1. IR-Analyse kommunikative Projekte <?page no="163"?> 4.8 „Dialogism“ (Per Linell) 153 27 Chr <<f> wer HAT den denn aufgemacht; > Vorwurf 2# 28 Van <<f> ja Ich war_s NICH; > Abstreiten 2# 29 Chr dann kAnn_s nur eLEna gewesen sein. Vorwurf 3# 30 weil, (--) FRISCH macht also nur, (---) *Begründung Vorwurf 3# 31 DU (-) oder (.) sonst niemand. 32 ((kichert)) <<lachend> so ungefähr.> Dieser kurze Ausschnitt ist gut geeignet, um das dialogische Konzept Linells zu veranschaulichen, da Vorwurfshandlungen den Anforderungen eines ‚communicative activity type‘ entsprechen und ein relativ rigides sequenzielles Format haben. Es wird ein Vorwurf geäußert, der eine Regelverletzung einer anwesenden Person zum Ausdruck bringt. „Die moralische Regel selbst […] wird als Teil des gemeinsamen Wissensbestands vorausgesetzt und bleibt in den meisten Vorwurfssequenzen implizit“ (Günthner 1999b: 211) und so ist es auch in diesem Fall: Aus Gründen der Haltbarkeit hätten die vier identischen Päckchen Frischkäse nacheinander geöffnet werden müssen und nicht zur gleichen Zeit. 103 1982/ 1971 Bei Vorwürfen handelt es sich um Formen eines „korrektiven Austauschs“ im Sinne Goffmans ( ) und die Vorwurfsäußerung macht einen bestimmten Typ von Folgehandlung (z. B. Rechtfertigungen, Entschuldigungen, Gegenvorwürfe) konditionell erwartbar (vgl. Günthner 1999b, 2000). Die Reaktion Christinas, die als eine potentielle moralische Adressatin des Vorwurfs in Frage kommt, verdeutlicht in Form einer Zurückweisung und Beschuldigung die gemeinsame Orientierung an der fraglichen Norm; d. h. ein mögliches Infragestellen der Norm selbst („Seit wann darf man nicht alle Frischkäseverpackungen auf einmal öffnen? “ o. ä.) findet nicht statt. Die Vorwurfshandlung ist mehrfach kontextualisiert: auf prosodischer Ebene handelt es sich um eine „vorwurfsvolle Stimme“ (Günthner 1996a), als rhetorisches Mittel finden wir zum Beispiel Extremformulierungen wie „jedet“ und „ALle“. 104 103 Vier Päckchen derselben Sorte finden sich auch deshalb im Kühlschrank, weil die 12 TeilnehmerInnen der Reality-TV-Sendung nur einmal in der Woche mit Lebensmitteln versorgt wurden, die sie sich selbst einteilen mussten. Ein Spannungselement im Sendungskonzept besteht in der Verknappung der Lebensmittel getreu dem Motto der Sendung „back to basics“ ( Indem Christina in Zeile 08 und 15 ihre Täterschaft abstreitet und eine weitere mögliche moralische Adressatin ins Spiel bringt („dAs war aber vaNESsa“), verdeutlicht sie zugleich ihre Interpretation des vorausgehenden assertiven Aussagesatzes von Tom als Vorwurf. Sie begründet ihre Vermutung mit der Feststellung, dass Vanessa nicht gern aus angebrochenen Packungen isst. Die unmittelbare Adressatin reagiert Schwäbe 2004: 519). 104 Es handelt sich in den Zeilen 05, 09 und 12 zwar um „extreme case formulations“ (Pomerantz 1986), obgleich hier strenggenommen keine hyperbolische Verwendung vorliegt. <?page no="164"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 154 darauf mit einer Rechtfertigung aus dem Nachbarzimmer. 105 1982/ 1971 Ihre Rechtfertigung erfolgt in Form eines Teileingeständnisses der Täterschaft für das Öffnen eines weiteren Frischkäses, es wird jedoch die Berechtigung des Vorwurfs zurückgewiesen, da sie gute Gründe hatte, die bereits geöffnete Packung zu verschmähen (Zeile 20 „ich hab gesacht der Eine der schmeckt mir SCHLECHT,“). Christina formuliert eine elaborierte Version desselben Vorwurfs, dass Vanessa über den eingestandenen und gerechtfertigterweise geöffneten einen Philadelphia zumindest einen weiteren geöffnet haben soll (Zeile 23), was von Vanessa bestritten wird. In Zeile 27 reformuliert Christina den adressierten Vorwurf als wer- Frage, woraufhin Vanessa erneut (Zeile 28) die Täterschaft abstreitet. Daraufhin bringt Christina eine dritte moralische Adressatin ins Gespräch (Elena), insistiert aber auf ihrer Begründung, dass die einzige Person mit einem Motiv, jedes Mal eine neue Packung zu öffnen, Vanessa sei. Die Diskrepanz der Aussage hat einen humoristischen Effekt, verhindert aber auch den erfolgreichen Abschluss des „korrektiven Austauschs“ im Sinne Goffmans ( ). An diesem kurzen Ausschnitt lässt sich das dialogische Prinzip veranschaulichen, dass laut Linell (2009: 296) allen sprachlichen Handlungen zugrunde liegt. Utterances, turns and larger sequences (communicative projects) are linked backwards to situations and prior contributions to the discourse, and they also have links to possible next actions or contributions and thereby to projected changes in situations. Anhand von Beispiel 10 sollen nun zwei Analyseverfahren vorgestellt werden, die Linell im Rahmen seines dialogischen Konzepts entwickelt hat: die „initiative-response“-Analyse und die topische Episodenanalyse. Die Annotation der responsiven und initiativen Züge ist aus Platzgründen schon in der linken Spalte von Beispiel 10 eingetragen und wird nicht wiederholt. 4.8.4.1 „Initiative response analysis“ Die „initiative-response“-Analyse (IR) basiert auf der fundamentalen Einsicht, dass Beiträge in Gesprächen als „inter-acts“ verstanden werden müssen, wobei jeder Beitrag sowohl 105 In der linguistischen Literatur folgen auf Vorwurfsäußerungen Erklärungen, die sich danach unterscheiden lassen, inwieweit die Verantwortung für die Handlung übernommen wird und inwieweit die negative Beurteilung der Handlung geteilt wird (Günthner 2000: 75-84). Rechtfertigungen signalisieren zwar die Übernahme der Verantwortung für die Tat, weisen aber die negative Beurteilung zurück, bei Entschuldigungen wird die negative Bewertung geteilt nicht jedoch die Verantwortung übernommen. Außerdem kann mit einem Schuldeingeständnis auch beides übernommen werden oder die Täterschaft bestritten werden. <?page no="165"?> 4.8 „Dialogism“ (Per Linell) 155 vorausweisende Züge trägt („initatory“) als auch zurückweisende Eigenschaften hat („responsive“). Die IR-Analyse ist jedoch keine Konstituentenanalyse von Verweiseigenschaften, sondern initiative und responsive Bedeutungskomponenten kommen immer dem Turn als Ganzem zu. 106 IR analysis was developed in order to capture and quantify some measures of dominance and coherence in dyadic interactions. The system is concerned with the interrelations within local co-texts, the turn’s relations to prior and projected (possible next) turns or contributions. (Linell 2009: 381) Tabelle 4: Das Initiative-Response-Kategorien System Art der Verkettung Formalismus 107 Proaktive Stärke der Verknüpfung stark (z. B. explizite Fragen oder Aufforderungen) schwach (z. B. Bestätigungen oder Gehorchen) Reaktive Qualität der Reaktion adäquat inadäquat oder teiladäquat Skopus der retroaktiven Verknüpfung lokal (knüpft an das unmittelbar Vorausgehende an) nicht-lokal (knüpft an entfernte Turns an) nicht-lokal (knüpft an weit zurückliegende Turns an) Fokus der retroaktiven und lokalen Verknüpfungen fokussiert (bezieht sich auf den Fokus des vorausgehenden Turns) peripher (bezieht sich auf periphere Aspekte des vorausgehenden Turns) selbst- oder fremdbezügliche Verknüpfung der Reaktion Bezug zu vorausgehenden Turn des Gesprächspartners Bezug zum eigenen vorausgehenden Turn 106 Das unterscheidet die IR-Analyse auch von informationsstrukturellen Analysen (given - new) oder der thematischen Progression (Thema - Rhema), vgl. FN 79. 107 Das ganze System umfasst bis zu 18 Kategorisierungen von Turns sowie drei „non-turn categories“ wie Fehlstarts und nicht-sprachliche Rückmeldungen (Linell et al. 1988). <?page no="166"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 156 Abgesehen von der Art der Kohärenz von Gesprächsbeiträgen soll das Verfahren noch etwas anderes sichtbar machen: „The various turn types […] can be regarded as governing or steering the ensuing dialogue and as being governed or commanded by the preceding dialogue to different degrees“ (Linell et al. 1988: 419). Die verschiedenen Fortsetzungsarten lassen sich auf einer sechswertigen Skala anordnen. Ein hoher Wert steht für einen starken „initiativen“ Anteil und Gesprächsdominanz, ein niedriger Wert steht für Responsivität. Wer eine Unterhaltung dominiert, ist nicht unbedingt derselbe, der in anderer Beziehung die Macht über seine Gesprächspartner hat. Das Verhältnis zwischen Gesprächsdominanz und gesellschaftlicher Macht kann ganz unterschiedlich gestaltet sein. Laut Linell et al. (1988) manifestiert sich Dominanz im Gespräch auf drei verschiedene Weisen: zum einen lässt sich der reine Gesprächsanteil messen, zum anderen lässt sich messen, wer die meisten (neuen) Themen einbringt. Und zu guter Letzt gibt es interaktionale Dominanz, die sich darin bemisst, inwieweit ich meine Gesprächspartner kontrolliere oder sie mich. Indem man die Stärke der Dominanz jedes Turns bestimmt, lässt sich die Symmetrie oder Asymmetrie jedes Gesprächs quantifizieren. Tabelle 5: Turn-Kategorien und interaktionale Kraft 6 5 4 3 2 1 unabhängige Turns, die stark proakativ sind total abhängige Turns, die überhaupt nicht proaktiv sind Da das System in seiner Grundform nur die Beziehung zwischen aufeinanderfolgenden Turns in einer dyadischen Gesprächssituation beschreibt, ist der Ausschnitt in Beispiel 10 schon zu komplex. Um trotzdem zu einer Messung der Dominanz zu kommen, kann man Torbens Beteiligung ignorieren und das Gespräch in zwei Teile zerlegen, von denen sich der erste Teil (Zeile 01-13) zwischen Tom und Christina abspielt und der zweite Teil (Zeile 13-32) zwischen Christina und Vanessa. Indem jedem Typ von Fortsetzung ein Wert zwischen 1 und 6 zugeordnet wird, lässt sich der IR-Wert sehr einfach berechnen. In der Tabelle 5 sind die Kategorien von stark initiativen Turns auf der linken bis zu sehr schwach responsiven auf der rechten Seite geordnet. Mithilfe der zugeordneten Werte in Tabelle 6 lässt sich für jeden Gesprächsteil- <?page no="167"?> 4.8 „Dialogism“ (Per Linell) 157 nehmer sein „IR-Index“ berechnen. Dieser bringt zum Ausdruck, wie sehr jemand das Gespräch dominiert (hoher Wert) oder sich dominieren lässt (niedriger Wert). Tabelle 6: IR-Index von Beispiel 10 > n Tom 1 2 1 4 Chr 4 1 2 2 9 Van 1 1 1 1 2 6 Tor 3 3 In der ersten Hälfte liegt die interaktionale Dominanz bei Tom (mittlerer IR-Wert: 5) über der von Christina (mittlerer IR-Wert: 3), in der zweiten Hälfte dominiert Christina (mittlerer IR-Wert: 3,3) Vanessa (mittlerer IR-Wert: 3,2). Die topische Dominanz liegt bei Tom und Christina, weil sie die Vorwürfe bzw. die Vorwurfsadressaten einführen und das Thema zum Schluss auch wieder beenden (Symbol „<)“). Die IR-Analyse ist in der Lage, die lokale Verkettung von Gesprächsbeiträgen in einer dyadischen Gesprächssituation formal darzustellen. Dadurch, dass sich die Kategorien immer auf den Gesprächsbeitrag als Ganzen beziehen, ist sie aber nicht in der Lage, die responsiven und initiativen Funktionsanteile auch spezifischen Strukturelementen zuzuordnen. Die interne Struktur wird völlig ignoriert. Das erweist sich spätestens dann als Nachteil, wenn es zu ‚monologischen‘ Gesprächsbeiträgen kommt, die über mehrere Turn- Konstruktionseinheiten gehen, z. B. lizensiert als Erzählung oder Witz. Auch bei Redekonstellationen von mehr als zwei Teilnehmern kommt das System an seine Grenzen, da die Bezüge nicht mehr eindeutig wären. Hier würde nur eine Erweiterung mit zusätzlichen Symbolen oder Indizes helfen. Da die Notation quasi eine Übertragung der syntaktischen Kategorien der On-line-Syntax (vgl. Kapitel 5.4) auf die sequenzielle Organisation von Gesprächen darstellt, scheint es naheliegend, die beiden Darstellungssysteme und zeitlichen Verlaufsstrukturen in einem System zu integrieren. 4.8.4.2 „Topical episode analysis“ Die Analyse der „topical episodes“ (TEA) eines Gesprächs konzentriert sich in erster Linie auf die Prozesse, die zwischen zwei Episoden ablaufen, und interessiert sich nicht für die Mechanismen, die für die episodeninterne Kohärenz sorgen (vgl. Korolija & Linell 1996: 802). Bei der topischen Episodenanalyse wird davon ausgegangen, dass neue Themen oder Aktivitäten nur eingeleitet werden können, wenn sie im Kontext verankert werden. 108 108 Das Verhältnis zwischen „episode“ und „activity type“ bleibt etwas verschwommen. Offensichtlich gibt es Aktivitäten (z. B. ein Gerichtsprozess), die aus mehreren Episoden bestehen können. Be- <?page no="168"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 158 sonders wichtig für die Kontextualisierung eines Themenwechsels sind der vorausgehende Diskurs, die Teilnehmerkonstellation und abstraktes Hintergrundwissen (Linell 1995). Laut Linell besteht ein erheblicher Unterschied zwischen dem Aufwand und den Techniken der Themenaufrechterhaltung und der Themeneinleitung. Der Aufwand, ein neues Thema zu etablieren, ist ungleich höher, als ein bereits eingeführtes Thema kohärent fortzusetzen. Daher geht es bei der Episodenanalyse nur um die heikle Stelle des Themenwechsels im Dialog. Das TEA-System beschreibt acht Kategorien, wie neue Themen in Relation zum Kontext eingeleitet werden können: RC: Ein Element der vorausgehenden Episode wird rekontextualisiert AN: Die Episode ist analog zur vorausgehenden Episode RI: Rückkehr oder Erneuerung eines nicht-adjazenten Themas im selben Diskurs SE: Bezugnahme auf ein Ereignis im situativen Umfeld SO: Bezugnahme auf ein Objekt im situativen Umfeld AG: Agenda-bezogene Episode mit Bezug auf einen Aspekt des laufenden Aktivitätstyps BA: Episoden mit Bezug zu lokal aktiviertem Hintergrundwissen UA: Nicht im Kontext verankerte Episoden „out of the blue“ Diese acht Kategorien lassen sich aufgrund gemeinsamer Strukturmerkmale und der Art ihrer Relation zum vorausgehenden Kontext noch einmal in vier Gruppen zusammenfassen: T: lokal im Ko-text verankerte Einführungen (RC, AN) R: Reinitiierung des gleichen Themas (RI) S: Situationsbedingt ausgelöste Einführung (SO, SE) O: Out-of-the-blue-Themen und sonstige Eröffnungen (AG, BA, UA) Möglicherweise gibt es aber auch welche, die genau eine Aktivität lang andauern. Episoden müssen mindestens über drei Beiträge gehen und von zwei unterschiedlichen Sprechern ausgeführt werden, sind also keine einzelnen „inter-acts“. Auch wenn nicht alle Episoden über das behandelte Thema definiert werden können (z. B. Quiz, psychologischer Test), ist doch die „aboutness“ (Korolija & Linell 1996: 800) einer Episode in aller Regel das einheitsstiftende Element. <?page no="169"?> 4.9 Zusammenfassung und Diskussion 159 Da Beispiel 10 eine Vorwurfsaktivität darstellt und als eine Episode betrachtet werden muss, findet der Episodenwechsel außerhalb des Transkriptausschnitts statt. Beispiel 11 zeigt den Diskurs, der der Vorwurfsaktivität unmittelbar vorausgeht. Die Situation und Teilnehmerkonstellation ist die gleiche. Torben steht vor dem geöffneten Kühlschrank und findet dort einen Pudding, der schon eine ganze Weile dort lagert. Im Unterschied zur „vorwurfsvollen Stimme“ in Zeile 07f. wird die Schlussfolgerung „kann man ja auch WEGhauen.“ in einem sehr gelassenen, sachlichen Ton geäußert. Gerade die prosodischen Merkmale der Stimmqualität, der Tempo- und Rhythmuswechsel und die auffälligen Abbrüche kontextualiseren den Aktivitätswechsel und den Beginn einer neuen Episode. Beispiel 11: Pudding und Philadelphia (BB1_83) 01 Tom: hier is noch n PUDding; 02 willste den noch Essen? 03 Tor: <<t> nä den es=isch ni=mehr. (.) 04 der steht da schon VIER tage; = 05 =FÜNF [tage da rum ] 06 Tom: [kann man ja ] auch WEGhauen. SO ************************************************************ 07 °hh (steht wieder)- 08 (.) hier sind o: ch WÜRKlich- (.) 09 Chr: ((kichert)) 10 ((...)) In Beispiel 11 findet also zwischen Zeile 06 und 07 ein Themenwechsel (mit einer Linie von * gekennzeichnet) statt, bei dem die neue Episode durch den direkten Bezug auf ein Objekt in der Situation (vier Packungen Philadelphia-Frischkäse) initiiert wird (SO). Auf der anderen Seite sind die Objekte nur der Auslöser für die sich anschließende Vorwurfsaktivität, bei der die Vorwurfsadressaten im Mittelpunkt stehen, für die der Vorwurf unvermittelt „out-of-the-blue“ kommt. 4.9 Zusammenfassung und Diskussion Die vorausgehenden Unterkapitel haben Autoren und Themen behandelt, die teilweise in weitem zeitlichen Abstand stehen und zwischen denen teilweise eine große disziplinäre Distanz besteht. Allen diesen Arbeiten ist jedoch ein Kriterium gemeinsam: die Überzeugung, dass der zeitliche Verlauf mündlicher Sprachproduktion seine Spuren in den daraus entstehenden sprachlichen Erzeugnissen hinterlässt. Dabei konnte gezeigt werden, dass den Theorien teilweise ein anderes Konzept von Temporalität und Linearität zugrunde liegt, als auf Anhieb zu vermuten war, und sie daher nur wenig zur Beschreibung echtzeitlicher Verlaufsstrukturen beitragen können. Andererseits hat sich herausgestellt, dass zwi- <?page no="170"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 160 schen einigen Arbeiten eine inhaltliche Nähe besteht, von denen man es auf den ersten Blick nicht vermutet hätte, da die unterschiedliche Wissenschaftstradition und Fachterminologie den Blick dafür verstellen. Diese Gemeinsamkeiten sollen bei der abschließenden Bewertung im Mittelpunkt stehen. (a) Saussure & Humboldt Saussures Postulat, dass jedes sprachliche Zeichen einen Verlauf in der Zeit besitzt, ist aufgrund von Vorannahmen, die er an anderer Stelle im Rahmen seiner Sprachtheorie fällt, für sein Sprachbzw. Zeichenmodell später kaum noch relevant, insbesondere was die ‚echtzeitliche‘ Produktion angeht. Nichtsdestotrotz gehören die von ihm geprägten Dichotomien Syntagma und Paradigma, langue und parole, signifié und signifiant, etc. heute zum Grundwortschatz einer jeden Sprachwissenschaftlerin und eines jeden Sprachwissenschaftlers. Ich möchte daher am Beispiel von Jakobsons (1956) und Bühlers (1934/ 1999) Reinterpretation der Saussure’schen Kategorien zeigen, wie fruchtbar die Beschäftigung mit diesem strukturalistischen Erbe sein kann. Im Zusammenhang mit der multimodalen Erweiterung der interaktionalen Linguistik erscheint Jakobsons (1956: 60) Kritik an Saussures Ausführung der sprachlichen Verfahren der Selektion und Kombination auf der syntagmatischen bzw. paradigmatischen Achse in ganz neuem, aktuellem Licht: The fundamental role which these two operations play in language was clearly realized by Ferdinand de Saussure. Yet from the two varieties of combination - concurrence and concatenation - it was only the latter, the temporal sequence, which was recognized by the Geneva linguist. […] the scholar succumbed to the traditional belief in the linear character of language […]. In Jakobsons Entwurf der „poetischen Kommunikation“ werden ebenfalls Elemente eines assoziativen Paradigmas auf die syntagmatische Ebene der Komposition projiziert. So werden z. B. in der Musik Töne einer Tonart (= Paradigma) ausgewählt und auf der syntagmatischen Ebene zu einer Melodie verknüpft. Die Möglichkeit, das Zeichen nicht nur konkateniert, sondern auch konkurrent verwendet werden, wird von Saussure (1916/ 2005: 170) aufgrund der linearen Natur von Sprache, „qui exclut la possibilité de prononcer deux éléments à la fois“ noch ausgeschlossen. In poetischen Texten wird laut Jakobson deutlich, wie wichtig die Ähnlichkeitsbeziehungen innerhalb eines Paradigmas sind, denn ohne sie wären so etwas wie metrischer Parallelismus in Form eines Versmaß und die partielle Übereinstimmung der Lautgestallt beim (phonologischen) Reim nicht denkbar. Jakobsons Kritik, Saussure habe sich einseitig auf das Verfahren der Konkatenation festgelegt, bekommt einen neuen Auftrieb durch den immer wichtiger werdenden Einbezug von multimodalen Signalen bei der Analyse von sprachlicher Interaktion und in Anbetracht der <?page no="171"?> 4.9 Zusammenfassung und Diskussion 161 gleichzeitig ablaufenden verbalen und körperlich-visuellen Signalketten. Im Rahmen von multimodalen Analysen ergibt sich die Schwierigkeit, dass Zeichen nicht mehr nur als lineare Zeichenfolgen auftreten, sondern auch als gleichzeitige Zeichenkombinationen, die miteinander interagieren. Die Berücksichtigung der gleichzeitig-räumlich vorkommenden Zeichen (Gestik, Mimik, Sprache) und deren zeitlich-lineare Verkettung bei der Analyse und Interpretation von sprachlichen Handlungen steht heute erst am Anfang (vgl. Goodwin 2002, Stukenbrock 2009). Was die Verbindung zwischen den hier präsentierten Modellen angeht, dürfte Karl Bühlers Kreuzklassifikation Saussure’scher und Humboldt’scher Kategorien das beste Beispiel dafür sein, wie innovativ die Auseinandersetzung mit den sprachwissenschaftlichen ‚Klassikern‘ sein kann. Bühler wird nicht nur im deutschsprachigen Raum als einer der Begründer der modernen Pragmatik gesehen. Das liegt zum einen daran, dass er der Empirie und deskriptiven Linguistik einen so hohen Stellenwert einräumt, da für ihn der Ruf der Sprachwissenschaft „als wohlbegründete Wissenschaft […] zum guten Teil an der Zuverlässigkeit und Exaktheit ihrer Feststellungsmethoden“ (Bühler 1934/ 1999: 12) hängt. Zum anderen liegt das an dem Zeichenmodell, das die semiotische Grundlage seiner „Sprachtheorie“ ist. Dadurch, dass sprachliche Äußerungen sowohl in der „weitgehend situationsfreien Rede“ als auch in „sympraktischen“ konkreten Handlungssituationen zeichenhaft verwendet werden, stellt sich für Bühler (1934/ 1999: 23; Hervorhebung im Original) die Frage, ob „die alte Grammatik faktisch im Sinne einer entschlossenen Situationstheorie der Sprache reformbedürftig ist“. In seinem Organon-Modell wird neben verwendungsunabhängigen Bedeutungskomponenten die Situation, der Kontext und die aktuelle Verwendung erstmals konstitutiver Bestandteil in einem Modell des sprachlichen Zeichens (symbolisiert durch Dreieck und Kreis in seinem Zentrum, vgl. Bühler 1934/ 1999: 28) 109 . In der Bühlerrezeption wird oft unterschlagen, dass diese Überlegungen im Dienste einer „Prinzipienforschung im Bereich der empirischen Wissenschaften“ (Bühler 1934/ 1999: 22) stehen, die dem strengen Empirismus sprachwissenschaftlicher Erkenntnis theoretische Grundsätze an die Seite stellt, die Bühler in Form von insgesamt vier Axiomen formuliert. 110 109 Kreis und Dreieck sind im Organon-Modell nicht deckungsgleich, weil das Lautereignis (Kreis) mehr ist, als es zum Zeichen braucht (Prinzip der abstraktiven Relevanz) und das Zeichenhafte mehr ist, als das sinnlich Gegebene konkrete Schallphänomen (Prinzip der apperzeptiven Ergänzung). Mit anderen Worten: jede Zeichensemiose transzendiert die konkrete Äußerungssituation. Wie stark dieser Abstraktionsprozess ist, hängt auch vom Fokus der Beobachtung ab. So weist Neben dem Organon-Modell (Axiom A) entwirft er als Axiom C Bühler (1934/ 1999: 23) die vier Quadranten seines Vierfelderschemas je nach spezifischem Interessengebiet „Philologen und Linguisten, Psychologen und Männer[n] der Literaturwissenschaft“ zu. 110 Den Widerspruch zwischen induktivem und deduktivem Vorgehen bzw. zwischen den empirischen Analysen und den theoretischen Grundsätzen löst Bühler (1934/ 1999: 19) mit Berufung auf <?page no="172"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 162 in einer „kühnen Kreuzklassifikation“ (Auer 1999: 27) ein Vierfelderschema bestehend aus den Saussure’schen und Humboldt’schen Dichotomien langue/ parole und érgon/ enérgeia. Tabelle 7: Bühlers (1934/ 1999) „Quadrifolium“ der „vier Momente […] am Gegenstand der Sprachwissenschaft“ Subjektsbezogene Phänomene („enérgeia“) Subjektsentbundene und dafür intersubjektiv fixierte Phänomene („érgon“) Phänomenbeschreibung auf einer niederen Formalisierungsstufe („linguistique de la parole“) Sprechhandlungen Sprachwerke Phänomenbeschreibung auf einer höheren Formalisierungsstufe („linguistique de la langue“) Sprechakte Sprachgebilde Er möchte diese Dichotomien wissenschaftlich fruchtbar machen, da zwar jede/ r SprachwissenschaftlerIn nach Humboldt und Saussure die Zweckmäßigkeit dieser Unterscheidungen anerkannt hat, allerdings muss er konstatieren: [W]eder das alte noch das neue Paar ist richtig produktiv geworden im Reich der sprachwissenschaftlichen Grundbegriffe. Da und dort wird heute noch versucht […] dem einen von beiden Gliedern des Paares energeia und ergon eine Priorität zu vindizieren; die Sprachtheorie muß solche Unternehmungen als (ihr) transzendent erkennen und als empirische Wissenschaft in ihrem eigenen Hause das Quadrifolium als solches hinnehmen, wie sie es vorfindet; (Bühler 1934/ 1999: 48f.) Für Bühler lässt sich der Streit zwischen der Vorrangigkeit von mehr oder weniger starker Abstraktion und mehr oder weniger starkem Subjektbezug sprachwissenschaftlicher Gegenstände also nur durch ein gleichberechtigtes Nebeneinander lösen, weil es sich dabei um die „vier Momente (Seiten), vier Fronten sozusagen, am Gesamtgegenstand der Sprachwissenschaft [handelt], die […] aufgezeigt und erläutert werden müssen.“ (Bühler 1934/ 1999: 48) Die für unsere Zwecke besonders relevante linguistique de la parole unterscheidet auch zwei unterschiedliche sprachliche Handlungen bzw. Werke: In Form von Sprechhandlungen werden praktische Probleme des Augenblicks „redend gelöst“, während Kants Begründung der apriorischen Grundlegung der (sinnlichen) Erkenntnis: „Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung.“ (Kant KdrV B1) <?page no="173"?> 4.9 Zusammenfassung und Diskussion 163 im Sprachwerk ein Stoff sprachlich gefasst wird, dessen Ergebnis auch „entbunden aus dem Standort im individuellen Leben und Erleben seines Erzeugers“ (Bühler 1934/ 1999: 53) noch verstanden können werden muss. Obwohl Bühler (1934/ 1999: 52) der Überzeugung war, „es sei so etwas wie ein Ariadnefaden […] gefunden, wenn man das Sprechen als Handlung […] bestimmt“, lässt der Erfolg seines Quadrifolium, das der wissenschaftlichen Betrachtung der Sprechhandlung in der konkreten Äußerungssituation das gleiche Recht einräumt wie dem komplexen, de-kontextualisierten Sprachgebilde, bis heute auf sich warten (interessanterweise hat das Quadrifolium jedoch nicht nur oberflächlich große Ähnlichkeit mit Chafes Vierfeldermatrix der empirischen Sprachwissenschaft, vgl. Tabelle 3). Ein nicht geringer Grund könnte in dem umständlichen Schreibstil Bühlers liegen, der wohl auch mitverantwortlich dafür ist, dass die Rekonstruktionen seiner Kreuzklassifikation in Auer (2013b: 29), Koerner (1984: 95) und Sebeok (1981: 219) jeweils zu einem anderen Ergebnis führen (und sich meiner Meinung nach nicht mit Bühlers Ausführungen in Einklang bringen lassen, vgl. Tabelle 7). (b) Humboldt & Hopper Hopper stimmt wohl mit Humboldt darin überein, „dass die eigentliche Sprache in dem Acte ihres wirklichen Hervorbringens liegt“ (Humboldt 2002b: 418f.) genauso wie sich Hoppers Kritik an dem Vorgehen der a priori GrammatikerInnen ebenfalls schon in Humboldts (2002b: 418f.) Sprachkonzeption andeutet, nach der „[d]as Zerschlagen in Wörter und Regeln […] nur ein todtes Machwerk wissenschaftlicher Zergliederung“ ist. Humboldts (2002b: 186 und 418) Metaphorik eines „todten Gerippes“ einer Sprache in Form einer Ansammlung von Regeln und Wörtern und der eigentlichen „lebendigen Wesenheit der Sprache“ ist sehr ähnlich zu der Kritik an einer hypothetischen, gebrauchsfernen Definition von Begriffen in der Philosophie. In den „Philosophischen Untersuchungen“ des späten Wittgenstein könnte man Philosoph ganz einfach durch Grammatiker ersetzten und es würde sich ganz nach Humboldt anhören: Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen - ‚Wissen‘, ‚Sein‘, ‚Gegenstand‘, ‚ich‘, ‚Satz‘, ‚Name‘ - und das Wesen des Dings zu erfassen trachten, muß man sich immer fragen: wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, ja tatsächlich so gebraucht? - Wir führen die Wörter von ihrer metaphysischen, wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurück. (Wittgenstein 2001: PU § 116) Allerdings lassen die kategorischen Aussagen Hoppers über die Prinzipien einer „Emergent Grammatik“ in ihrer Radikalität manchmal vermissen, was die Emergenz sprachlicher Strukturen für eine anwendungsorientierte und praktikable Grammatikschreibung letztlich bedeutet. Denn die Herausforderung einer „usage-based“ Grammatik besteht darin, dem konkreten Einzelfall in seinem realen Kontext gerecht zu werden, ohne <?page no="174"?> 4 Akzidentielle Behandlung von Zeitlichkeit in ausgewählten linguistischen Ansätzen 164 dabei zu einer Grammatik der Idiosynkrasien zu verkümmern. Während es für Saussure kein Problem war, davon auszugehen, dass das Sprachsystem „ein Schatz [ist], den die Praxis des Sprechens in den Personen, die der gleichen Sprachgemeinschaft angehören, niedergelegt hat, ein grammatikalisches System, das virtuell in jedem Gehirn existiert“ (Saussure 1916/ 2001: 16) und den die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft miteinander teilen, führt die Idee von Sprache als jedesmaligem Sprechen dazu, dass weder die Gesamtheit einer Sprache irgendwo „abgelegt“ ist, noch besteht die Möglichkeit, dass die Mitglieder der Sprachgemeinschaft dieselbe Sprache gemeinsam haben. So plausibel diese Argumentation ist, ist Humboldts Interesse für das dialektische Verhältnis zwischen Generalisierung und einzelnem Sprechereignis gemäßigter als Hoppers radikale Ablehnung eines Systemgedankens. Statt eines „todten Machwerks“ muss die Sprachbeschreibung im Sinne Humboldts ihrem Gegenstand die „enérgeia“-Qualitäten belassen, ohne deshalb auf Generalisierungen zu verzichten und ein wichtiger Aspekt, der dabei erhalten werden muss, ist die Entfaltung von Äußerungen in der Zeit. Dafür bedarf es eines ausgeglichenen Verhältnisses zwischen systemischer Strukturbeschreibung und der Analyse der Instanziierung dieser auf empirischer Basis identifizierten und klassifizierten Muster. (c) Chafe & Kleist Chafe und Kleist haben beide Aussagen darüber gemacht, was bei Menschen „im Kopf vorgeht“ während sie sprechen. Allerdings ist beiden vorzuwerfen, dass sie diese Erkenntnisse mit ungeeigneten Mitteln gewonnen haben. Kleist kann man das nicht ernsthaft vorwerfen, aber Chafes Überlegung, was und wie viel sich gleichzeitig im Bewusstsein befindet, ist genauso spekulativ wie Kleists fingierte Schilderung der Genese von Gedanken beim Sprechen. Auch wenn die mentalistischen Aspekte von Sprachproduktion und -rezeption nicht uninteressant sind, müssen sie doch von psycholinguistischen und kognitionswissenschaftlichen Studien untermauert werden. Dabei liefert Kleist genaue Beobachtungsgabe und präzise Analyse des Kommunikationsverhaltens seiner Zeitgenossen teilweise solidere quasi-ethnographische Ergebnisse über die prozessuale Entwicklung von Sprache und Gedanken als es Chafes unscharfe Verquickung von sprachlichen, prosodischen und kognitiven Kategorien je vermag. (d) Linell, Sacks & Erickson Ericksons Überlegungen zum zeitlichen Verlauf von Kommunikation beginnen mit der Feststellung, dass der mediale Unterschied zwischen Gesprochenem und Geschriebenem zu völlig anderen Rezeptions- und Produktionsbedingungen führt. Dieser sprachkonstitutive Unterschied ist aus Linells Sicht deshalb problematisch, weil er in der Sprachwissenschaft lange ignoriert wurde und im Laufe der Zeit zu einer verzerrten Wahrnehmung und <?page no="175"?> 4.9 Zusammenfassung und Diskussion 165 Konzeptualisierung von sprachlichen Strukturen geführt hat. Dieser „written language bias“ ist auch ursächlich dafür verantwortlich, dass man in traditionellen Sprachbeschreibungen einen Verweis auf die zeitliche Gerichtetheit von Sätzen und Äußerungen vergeblich sucht. Erst die ethnomethodologische Konversationsanalyse hat dialogische Gespräche als serösen Untersuchungsgegenstand etabliert, auch wenn für sie Sprache nur als (ein) Sinngebungsverfahren für die Erzeugung sozialer Wirklichkeit in den Fokus der Aufmerksamkeit geriet. Die sich in den Handlungen der Interaktionspartner verbergende Ordnung in Form einer Sequenzorganisation ist im Gegensatz zur Sprechakttheorie in der Lage, pragmatische Äußerungsbedeutungen in Dialogsituationen zu erfassen. Mit Sequenzialität hat sich Sacks über einen langen Zeitraum beschäftigt (Sacks 1987, Sacks & Jefferson 1992a, 1992b, Schegloff & Sacks 1973). Sequenzialität bezieht sich im Unterschied zu Serialität auf den Umstand, dass bestimmte Handlungen offensichtlich paarweise organisiert sind. Grob gesagt bedeutet „sequenziell“, „that the parts which are occurring one after the other, or are in some before and after relationship, have some organisation as between them.“ (Sacks 1987: 54) Die Sequenzanalyse verfolgt das Ziel der Rekonstruktion, „wie die GesprächsteilnehmerInnen gemeinsam ihre Interaktion als schrittweise aufeinander bezogenen Prozess der Sinnbildung und Herstellung von Interaktionsstrukturen organisieren.“ (Deppermann 2014: 22) Die Erfassung des sequenziellen Kontextes ist unhintergehbar für zeitgemäße Analysen gesprochener Sprache und die Beschreibungskategorien werden bis heute immer weiter ausgebildet, wie sich auch in Linells IR-Analyse (vgl. Kapitel 4.8.4.1) zeigt. Levinson (2000: 399) weist auf die oberflächliche Ähnlichkeit zwischen den Ergebnissen der Konversationsanalyse und den strukturalistischen Linguistiktheorien der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts hin. Die sequenziellen Positionen in der Konversationsanalyse haben Parallelen zu den syntagmatischen Leerstellen bei Saussure. Beiden Theorien ist gemein, dass sie die Selektionsbedingungen, die zur Beschränkung der Auswahl der möglichen Einheiten dienen, die diesen „slot“ besetzten können, beschreiben wollen, und ebenso die paradigmatischen Gemeinsamkeiten der möglichen Beitragskandidaten. Dabei darf man nicht vergessen, dass ein großer Unterschied zwischen der Syntax von Konstituenten und der Sequenz von sprachlichen Handlungen besteht. Schließlich sind syntaktische Regeln in erster Linie regulativ, sequenzielle Muster aber in einem reflexiven Verhältnis konstitutiv. Darüber hinaus hat Erickson (vgl. Kapitel 4.5) deutlich gemacht, dass in der gesprochenen Sprache nicht nur qualitative, sondern auch quantitative Zeitaspekte berücksichtigt werden müssen. Die Untersuchung letzterer steckt aber noch in den Kinderschuhen. <?page no="177"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien It may be that the next great advance in the study of language will require the forging of new intellectual tools that permit us to bring into consideration a variety of questions that have been cast into the waste-bin of „pragmatics“, so that we could proceed to study questions that we know how to formulate in an intelligible fashion. - Noam Chomsky, Language and Mind (1968: 112) 5.1 „Grammar of Speech“ (David Brazil) Als erstes der vier im Rahmen dieser Arbeit ausgewählten Syntaxbzw. Grammatikmodelle, die Temporalität und Linearität als Strukturprinzip der (gesprochenen) Sprache anerkennen und bei der Sprachbeschreibung systematisch versuchen zu berücksichtigen, soll im Folgenden die „Grammar of Speech“ von David Brazil auf den Prüfstand kommen. Nach einer kurzen Würdigung und Präsentation der Brazil’schen Position wird versucht, das Verfahren auf einen deutschen Gesprächsausschnitt zu übertragen, um im Anschluss die dabei gemachten Erfahrungen kritisch zu diskutieren. 5.1.1 Ausgangspunkt Brazils „Grammar of Speech“ versteht sich als Forschungsgrammatik (exploratory grammar), die in experimenteller Manier Hypothesen testet und untersucht, wie weit ihre Annahmen mit den beobachtbaren Fakten in Übereinstimmung zu bringen sind. Sie versteht sich nicht als Referenzgrammatik (definitive grammar) und kann also weder verbindliche Antworten auf Fragen der Korrektheit oder Norm geben, noch beteiligt sie sich an dem Versuch, einen solchen Normkanon aufzustellen bzw. geht sie überhaupt davon aus, dass es einen solchen Kanon von Erklärungen gibt. Am Anfang von Brazils (1995) Überlegungen steht die Frage, ob gängige Grammatiken in ihrer linguistischen Beschreibung eigentlich dem gerecht werden, was SprecherInnen in der kommunikativen Praxis tatsächlich vollziehen und ob eine „grammar of communication“ (Brazil 1995: 2) nicht einen ganz anderen Ausgangspunkt wählen müsste. Zeitgenössische Grammatiken vermitteln seiner Meinung nach den Eindruck, dass wenn ein Sprecher Wörter zu größeren Einheiten formt, er dabei das Ziel verfolgt, Sätze zu bilden. Es scheint jedoch viel sinnvoller zu sein, davon auszugehen, dass SprecherInnen beim Sprechen in erster Linie ein bestimmtes (kommunikatives) Ziel zu erreichen suchen und alles, <?page no="178"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 168 was sie tun, sich der Erreichung dieses Ziels unterordnet. Brazil stellt daher der klassischen „sentence-oriented grammar“ eine „purpose-driven grammar“ gegenüber (vgl. Brazil 1995: 4). 111 Brazil (1995: 55 Diese unterschiedlichen Sichtweisen illustriert ) am Beispiel des Satzes „My friend told“. Dieser würde von den meisten Grammatiken als grammatisch nicht wohlgeformt bzw. unvollständig charakterisiert werden, da er gegen bekannte Strukturbedingungen des Englischen verstößt. Die „Grammar of Speech“ macht dagegen keine Angaben darüber, ob dieser Satz so geäußert werden könnte oder darf - es ist nur sehr unwahrscheinlich, dass er jemals geäußert wird. Und zwar nicht aufgrund von abstrakten normativen Regeln wie dem Verstoß gegen die Bitransitivität des Verbs o. Ä., sondern einfach und allein, weil „[t]here are probably few situations where […] My friend told would satisfy a conversational need“ (Brazil 1995: 55). Die Entfremdung der Sprachbeschreibung von den tatsächlichen Äußerungsbedingungen realer Sprachverwendung auf dem Gebiet der Grammatikschreibung hat zu vielen Vorannahmen und Hypothesen über die vermeintlich dort ablaufenden sprachlichen Prozesse geführt, kritisiert Brazil - Vorannahmen, die im Nachhinein nur schwer hinterfragt oder gar zurückgenommen werden können. Ziel der „Grammar of Speech“ ist es, die offenkundig vorliegenden Rahmenbedingungen im Falle von „used speech“, so wie sie sich aus der Teilnehmerperspektive darstellen, von Beginn an bei der Analyse in Rechnung zu stellen. Am augenfälligsten ist dabei die Tatsache, dass SprecherInnen ihre Äußerungen „piecemeal and in real time“ (Brazil 1995: 21) zusammensetzen müssen. Der eingeschränkte Blickwinkel der ‚Satz-Grammatiken‘ 112 Brazil 1995: 39 zwingt sie, ausschließlich auf Konstituentenhierarchien zu schauen. Von dem Moment an, wo man Sprachverwendung als „purpose driven activity“ begreift, ist auch eine lineare Sichtweise auf deren Entfaltung in der Zeit möglich: „Our aim […] is to discover, not how language is organized into sentences, but how it is organized in pursuit of communicative purposes.“ ( ) 111 Eine ähnliche Argumentation findet sich auch bei Linells (2009) Konzept der Dialogizität (siehe auch Kapitel 4.8.3), wonach die Beiträge von Gesprächsteilnehmern „inter-acts“ darstellen, bei denen es sich nicht einfach um eine Kette von Einzelsätzen handelt. Vielmehr verfolgen die TeilnehmerInnen immer ein bestimmtes (wenn auch emergent und dynamisches) „kommunikatives Projekt“: „Communicative projects are other-oriented and jointly accomplished communicative actions, typically but not necessarily carried out in external interpersonal interaction and over several contributions to discourse (utterances, turns at talk).“ (Linell 2009: 178) 112 Wie viele der anderen Autoren auch (vgl. etwa Linells „Monologische Sprachwissenschaft“ oder Hoppers „a priori Grammatik“) entwirft Brazil für seine Argumentation ein Feindbild, gegen das sich seine Kritik richtet. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass tatsächlich jemand die von Brazil entworfene Gegenposition einnimmt. Namentlich werden nur Chomsky (1957/ 2002, 1965, 1968) und Thomson & Martinet (1969) angeführt, sie (und alle anderen) werden unter dem Schlagwort ‚Satz- Grammatik‘ über den gleichen Kamm geschoren. <?page no="179"?> 5.1 „Grammar of Speech“ (David Brazil) 169 Sprechen vollzieht sich in der Zeit. Sprecher reihen dabei ein Wort an das nächste. Diese lineare „increment-by-increment“ Produktion von Sprache ist laut Brazil (1995: 4) aber nur schwer mit der hierarchischen „constituent-within-constituent“ Erklärung, wie Sprache funktioniert, in Einklang zu bringen, die in der Forschung und im Schulunterricht vorherrscht. Wenn bei der Untersuchung die Ereignishaftigkeit von Sprachzeugnissen verleugnet wird, lassen sich viele Aspekte von verbaler Kommunikation nämlich gar nicht erst untersuchen. Es scheint offensichtlich, dass eine lineare Grammatik von Natur aus besser geeignet ist, ein lineares Ereignis wie Sprache/ Sprechen zu beschreiben und zu erklären. Brazils Grammatik versucht also ein Forschungsdesiderat einzulösen: „Its reason for existing is that, given the present state of linguistic knowledge, a serious attempt to take into account the fact that speech proceeds linearly is patently desirable.“ (Brazil 1995: 4, Hervorhebung im Original) Indem Brazil (1995: 1-39) in seinen einleitenden, programmatischen Kapiteln dargelegt hat, wie der zu beschreibende Gegenstand (used speech) verfasst ist, eröffnet sich die Möglichkeit, zu einer alternativen Grammatikbeschreibung zu kommen, die auch der natürlichen Wahrnehmung ihrer Benutzer wesentlich näher wäre. Als wichtigster Schritt für diesen Perspektivwechsel gilt die Erkenntnis, dass wir es immer mit sprachlichen Prozessen und nicht mit Produkten zu tun haben. Die Differenzierung zwischen Sprache als Produkt und Sprache als Prozess scheint mit der zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit zusammenzufallen (vgl. auch Halliday (1985: xxiii): „writing exists whereas speech happens“), was durch den Titel des Brazil’schen Buches noch zusätzlich insinuiert wird. Diese medialitätsbedingten Unterschiede verschwinden jedoch bei näherem Hinsehen, denn es lassen sich durchaus prozessähnliche Aspekte bei der Produktion schriftlicher Texte identifizieren, genauso wie Produktaspekte in der (geplanten) Mündlichkeit. Nichts spricht für Brazil dagegen, die Ergebnisse und Methoden seiner „Grammar of Speech“ auf schriftliche Texte zu übertragen. Die Wahl fiel für ihn aus drei Gründen auf gesprochensprachliche Daten. Erstens scheint der Bedarf für eine „real-time grammar“ hier besonders dringend zu sein, zweitens ermöglicht die Untersuchung gesprochener Sprache die ansonsten unterschlagene Intonation mit einzubeziehen und drittens: „Speech has been chosen for examination principally because its general nature as an activity happening in time makes it a more transparently suitable object for a ‚process‘ approach.“ (Brazil 1995: 12) Trotz der Kritik an der ‚Satz-Grammatik‘ und der fundamentalen Unterschiede zu seiner eigenen Konzeption möchte Brazil die Verdienste der traditionellen Grammatikforschung nicht in Frage stellen. Er möchte seine „purpose-driven grammar“ vielmehr als gleichberechtigte Alternative präsentieren und beweisen, dass eine solche prozessorientierte Beschreibung aus der Perspektive der Sprachbenutzer überhaupt möglich und sinnvoll ist, da sie bisher unbekannte und wertvolle Einsichten in den Mechanismus der Sprache <?page no="180"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 170 liefern wird. 113 Traditionally, grammar has always been a grammar of written language: and it has always been a product grammar. A process/ product distinction is a relevant one for linguists because it corresponds to that between our experience of speech and our experience of writing: writing exists whereas speech happens. ( Bei der Unterscheidung von Produkt und Prozess beruft er sich auf Halliday: Halliday 1985: xxiii) Welch schädlichen Einfluss dieser „written language bias“ (Linell 1982, Linell 2005: , siehe auch Kapitel 4.8) auf die Tradition, die Methodologie und den Formalismus der Sprachbeschreibung hatte, ist auch von anderer Seite immer wieder kritisiert worden (vgl. Ágel 2003, Ágel & Hennig 2007, Bybee 2007, Ehlich 2006, Fiehler et al. 2004, Günthner 2007, 2011a, Harris 1980, Linell 1982, 1998, 2005, 2009). Diesem „written language bias“ eine „Grammar of Speech“ gegenüberzustellen, scheint den Eindruck zu vermitteln, als würde das Pendel jetzt einfach in die andere Richtung ausschlagen. Natürlich ist der Unterschied zwischen Produkthaftigkeit und Prozesshaftigkeit, zwischen geschriebener Sprache und gesprochener Sprache nicht so dichotomisch wie es auf den ersten Blick scheint. Auch gesprochene Sprache hat Züge von Produktcharakter und Geschriebenes hat Aspekte von zeitlichem Vollzug. Brazils Versuch einer Grammatikschreibung, die sich an der echtzeitlichen Produktion von Sprache orientiert, beschränkt sich nicht nur auf Gesprochenes. Trotz des Potentials, Sprache in allen ihren (medialen) Erscheinungsformen zu beschreiben, konzentriert sich Brazil aber erst einmal auf Gesprochenes: Zum einen, weil die gesprochene Sprache bisher noch über keine angemessene, echtzeitliche Grammatikbeschreibung verfügt, zum anderen, weil wir auf diese Weise ein Charakteristikum von gesprochener Sprache berücksichtigen können, was uns sonst verloren ginge: die Intonation. 114 113 Brazils Kritik an der gebrauchsfernen Satzgrammatik ist zwar vehement, trotzdem gibt er sich damit zufrieden, mit seiner „Grammar of Speech“ wenn schon nicht die einzig richtige, so doch zumindest eine alternative Erklärung für die sprachlichen Strukturen authentischer Interaktion zu geben, die wenigstens genauso plausibel ist wie die Thesen der Generativen Grammatik (Brazil 1995: 228). Besonders das Angeborenheitspostulat und der daraus resultierende Kompetenzbegriff aus den Anfängen der Generativen Grammatik (vgl. etwa Chomskys Position in der Debatte mit Piaget in Piatelli-Palmarini (1980)) stehen jedoch in krassem Gegensatz zur „Grammar of Speech“, die eine ganz andere Zielsetzung verfolgt: „[D]escribing the mechanisms that facilitate the purposeful use of speech rather than those which might be necessary for the generation of unused sentences.“ (Brazil 1995: 229) 114 Linell (2009: 278) hat wohl diesbezüglich am hartnäckigsten den Finger auf die Wunde der modernen Sprachwissenschaft gelegt: „[S]poken language is regarded as the primary form of language, yet it is studied by the use of theories and methods that are heavily biased towards written language.“ <?page no="181"?> 5.1 „Grammar of Speech“ (David Brazil) 171 Brazil betont, dass es zur Charakterisierung von Handlungen als Prozess nicht ausreicht, dass sie einen zeitlichen Verlauf haben. Ein Gewitter, Schluckauf oder Blähungen - also nicht-intentionale Ereignisse oder nicht-intentionales Verhalten - als Prozess zu beschreiben entspricht nicht dem eigentlichen Wortsinn. Um aus einer Ereigniskette (wie z. B. dem Sprechen) einen Prozess zu machen, gehört ein intendiertes Ziel: „We can say that it is the proposed outcome that defines the activity as a process“ (Brazil 1995: 38). Das Kleist’sche Motiv der l’idée venant en parlant (vgl. Kapitel 4.3) ist damit ausgeschlossen, da es sich dabei quasi um das Gegenteil intentionalen Handelns handelt. Es wird stattdessen betont, dass die Tatsache, dass beim Sprechen einfach „nur Zeit vergeht“ (vgl. Couper- Kuhlen 2007: 71), für die Klassifikation als Prozess nicht genügt. Einen weiteren Kritikpunkt an der traditionellen ‚Satz-Grammatik‘ sieht Brazil (1995: 4-7) darin, dass die Erkenntnisse der Diskursanalyse bzw. Konversationsanalyse der letzten Jahrzehnte gezeigt haben, dass sich Analysen „above the sentence“ nicht ohne weiteres mit den Konstituentenstrukturen auf Satzebene vereinbaren lassen. In der Praxis führt das häufig dazu, dass die Diskursforscher den Satz und die Satzgrammatiker den Diskurs in ihren Erklärungsmodellen vernachlässigen. Um die Barriere, die zwischen den beiden Gegenstandsbereichen liegt, aus der Welt zu schaffen, scheint es ihm essentiell, die vermeintliche Diskontinuität der beiden Teildisziplinen wieder aufzuheben. Entweder die Kategorien und Funktionen innerhalb von Sätzen lassen sich auch in Texten/ Gesprächen/ Diskursen wiederfinden, oder die Mechanismen der Gesprächsorganisation lassen sich in ähnlicher Form auch auf Äußerungsbzw. Satzebene wiederfinden. 115 Although some kinds of discourse can undoubtedly be analysed in accordance with a constituent-within-constituent model, it is less clear that such a model is necessary, in the way that one is considered to be necessary to deal with sentence structure. The constituent parts of events of many kinds can, of course, be perceived to partake in this kind of relationship; but at least some of those events might be equally amenable to description along increment-by-increment lines. (Brazil 1995: 6) Wenn man sich nun aber die Ergebnisse der Konversationsanalyse anschaut, so scheinen sie in eine andere Richtung zu weisen (vgl. auch Kapitel 2.2 und 4.4): Die Beschreibung der 115 Die Suche nach ähnlichen Strukturen in Texten, wie man sie aus Sätzen kennt, findet gewisse Parallelen in der historischen Entwicklung der Sprachakttheorie. Allerdings hat der Versuch, den stark äußerungsbasierten Sprechakt auf Dialoge zu transponieren, aus gesprächslinguistischer Sicht nur recht unbefriedigende Ergebnisse zeugen können (Fritz & Hundsnurscher 1994a, 1994b, Hindelang 1994a, 1994b, Hundsnurscher 1991, Weigand 1989, 1994, 2003). Vgl. auch die Versuche, Konstruktionsmuster und -netzwerke im Sinne der Konstruktionsgrammatik nicht nur auf Laut-, Wort- und Satzebene zu finden, sondern auf größere interaktionale Diskursabschnitte zu übertragen (Bücker 2014b, Imo 2014a, Östman 2005, Wide 2014) bzw. die Übertragung des Konstruktionskonzepts auf kommunikative Gattungen (Günthner 2006c, 2010). <?page no="182"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 172 Adjazenzpaare (Frage-Antwort, Gruß-Gegengruß, Einladung-Annahme/ Ablehnung) und der Sequenzorganisation von Gesprächen basieren schließlich nicht auf Hierarchien, sondern auf der zeitlichen Abfolge von Beiträgen und der Frage, „what can properly happen at successive moments in the temporal development of the conversation.“ (Brazil 1995: 6) Die Diskrepanz, die zwischen der Beschreibung von Sätzen auf der einen Seite und Gesprächen auf der anderen Seite zur Zeit besteht, unterstellt, dass Sprecher wortartige Objekte zu funktionslosen satzartigen Objekten zusammenbasteln, und sie dann einer Verwendung zuführen und ihre kommunikativen Ziele verwirklichen, deren Verkettung letztendlich zu Diskursen führt. Dieser Tatbestand führt laut Brazil (1995: 7) zu folgender Frage: If discourse can be described in terms of a purely linear apparatus, can grammar - not the grammar of the sentence, but the grammar of the functional increments of which discourse is composed - be described in a similar way? Sicherlich kann Brazils „Grammar of Speech“ für all die, die sich mit der Analyse von gesprochener Sprache beschäftigen, von großem Nutzen sein, besonders wenn sie nicht nur an Strukturen unterhalb der Satzebene interessiert sind, sondern auch jenseits davon. Darüber hinaus kann die Grammatik aber laut Brazil auch einen Widerspruch des zeitgenössischen Sprachunterrichts lösen, wesgegen viele Schüler trotz flüssiger Sprachbeherrschung ihrer Muttersprache Probleme mit den Kategorien und Regeln unserer deklarativen Schulgrammatiken haben. The possibility, as this book suggests, that the rule system purposeful speakers habitually work with are of a quite different kind from those that they find in sentence grammars, might be one which is at least worth entertaining. One might reasonably ask whether difficulties arise because learners of both kinds are being asked to regard as a product something which, from their perspective as users, most obviously partakes of the nature of a real-time process. (Brazil 1995: 13, Hervorhebung im Original) Gerade in der Tradition der Generativen Grammatik spielt die Frage, wie es mit der psychologischen Realität der Grammatik bestellt ist, eine überragende Rolle. Auch wenn Brazil nicht mit dem Anspruch auftritt, eine kognitive Realität zu beschreiben, versucht er doch, die Sprachproduktion und -rezeption so nah wie möglich aus einer Nutzerperspektive nachzuzeichnen. Dass es sich im Fall von „used speech“ aus der Sicht der Gesprächsteilnehmer nicht um Sprachprodukte handelt, sondern um Prozesse die in der Zeit verlaufen, ist für Brazil (1995: 11) eine selbstevidente Wahrheit, die keiner weiteren empirischen Fundierung bedarf: „Our ‚experience of speaking‘ […] is of something that begins, continues, and ends in time: it happens.“ Diesen Versuch in allen Ehren muss hier doch eingeräumt werden, dass - obwohl Brazil versucht, theoretisch und terminologisch so gut wie möglich die Sprachbenutzerperspektive abzubilden - die Frage, ob sich die psychologi- <?page no="183"?> 5.1 „Grammar of Speech“ (David Brazil) 173 schen und kognitiven Prozesse genau so abspielen, letztendlich nur von der Psycholinguistik beantwortet werden kann. Wie eine solche Echtzeit-Grammatik repräsentiert werden könnte und welche Kontextfaktoren und Rahmenbedingungen unausgesprochen bei jeder sinnvollen Unterhaltung mit-verstanden werden, sind Fragen, deren Antworten sowohl die Linguistik als auch die Mensch-Maschine-Forschung vorantreiben würden - jedenfalls sieht Brazil (1995: 12-14) hier neben einem Grammatikunterricht in der Schule, der näher an der Lebenswirklichkeit ist, und einer besseren Erfassung der zeitlich-linearen Struktur gesprochener Sprache in der Mensch-Maschine-Interaktion eine der möglichen Anwendungsformen. 5.1.2 „Immediate Constituent Grammars“ Wie hat man sich so eine „purpose driven grammar“ im Unterschied zu einer „sentence based grammar“ vorzustellen? Was war die Ursache dafür, dass sich Grammatikschreibung und Sprachverwendung einander entfremdet haben und wieso haben diese Gründe jetzt keine Gültigkeit mehr? Der Grund dafür, Kontext, Partnerorientierung und Handlungsziele bei der Beschreibung linguistischer Strukturen zu ignorieren, lag in der Überzeugung, dass diese extra-grammatischen Faktoren ansonsten die Grammatik überfrachten würden. Das Argument Brazils besteht nun darin, dass die verhängnisvolle Arbeitsteilung zwischen Grammatik und Diskursanalyse das genaue Gegenteil bewirkt hat. Die Analyse erfundener Beispielsätze sei nämlich wesentlich schwieriger als die Analyse echter Sprechereignisse: „[…] the practice of abstracting away from context and use leads the grammarian into describing a hypothetical system which is far more complex than is necessary if our interest is in how language works in real life.“ (Brazil 1995: 16) Als Konsequenz gilt es nicht nur, wegzukommen von den „unused and uncontextualized sentences“ (Brazil 1995: 16), sondern darüber hinaus auch diskursive und pragmatische Verfahren in die Analyse mit einzubeziehen, die ehemals als extra-grammatisch betrachtet wurden. Viele Probleme bei der Analyse kontextfreier, grammatischer Beispielsätze seien nämlich hausgemacht. Sie entstehen erst gar nicht, wenn man das kommunikative Ziel, den Kontext, die Kooperationsbereitschaft der Handlungspartner usw. bei der Analyse mit in Rechnung stellt. Die rätselhafte Mehrdeutigkeit nie geäußerter Beispielsätze verschwindet dann in den meisten Fällen und an ihre Stelle tritt die wichtigste Einsicht überhaupt: die Linearität und Temporalität als Kompositionsprinzip sprachlicher Äußerungen. Um diesem zeitlichen Verlauf angemessen zu begegnen, muss laut Brazil erst ein historischer Irrweg korrigiert werden: das Ignorieren des linearen Verlaufs zugunsten der Repräsentation hierarchischer Relationen. Jeder, der sich mit Sprache beschäftigt, stößt dabei ziemlich bald auf einen scheinbaren Widerspruch. Auf der einen Seite wird Sprache „produced and perceived one increment at a time“ (Brazil 1995: 17) - und dabei unterscheidet sich das Gesprochene viel weniger als <?page no="184"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 174 man gewöhnlich meint vom Geschriebenen, nur dass die inkrementelle Ausdehnung dort räumlicher Natur ist - auf der anderen Seite scheint die Suche danach, wie die Sprache als System funktioniert, etwas zu erfordern, das unter dem Stichwort „Konstituentenstruktur“ in die Geschichte einging. Die Basis für die unmittelbare Konstituentenanalyse ist schon von Bloomfield in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts gelegt worden. Any English-speaking person who concerns himself with this matter, is sure to tell us that the immediate constituents of Poor John ran away are the two forms Poor John and ran away; and that each of these is, in turn, a complex form; that the immediate constituents of ran away are ran and away; that the constituents of poor John are poor and John. (Bloomfield 1933: 161) Es haben sich verschiedene Darstellungsweisen etabliert, um diese Schichten, die die jeweiligen unmittelbaren Konstituenten bilden, darzustellen. Dazu gehören Baumdiagramme oder Stemma: Der arme John rannte weg oder auch Klammerstrukturen: [(Der (arme John))(rannte weg)] Diese Art von Strukturanalysen hat sich in den letzten Jahren immer weiter entwickelt, und natürlich gibt es Differenzen, wie diese Strukturen konzeptionell gedacht werden, was wiederum zu unterschiedlichen Darstellungsweisen führt. Eine der Folgen ist, dass sich zwischen dem obersten Knoten „Satz“ und dem untersten Knoten „Wort“ noch eine ganze Reihe Zwischenebenen identifizieren lassen. Die Entwicklung der Kategorien Phrase, Wortgruppe oder auch Teilsatz (clause) ist eine der größten Errungenschaften der modernen Sprachwissenschaft, 116 116 Die Idee der „Phrase“ wurde erstmals in der philosophischen Grammatik von Port-Royal (um 1660) entwickelt. Phrasen wurden als linguistisches Gegenstück zum Gedanken angesehen. Sie setzten sich zum einen aus Wörtern zusammen, waren aber andererseits selbst Bausteine für komplexe Sätze. Die Beschäftigung mit Wortgruppen, die (noch) keine Sätze sind, war eine entscheidende Innovation im Vergleich zu der vorherrschenden Beschränkung grammatischer Beschreibungen auf Wortarten-, Laut- und Formenlehre. Allerdings geriet diese Innovation erst einmal wieder in Vergessenheit, um dann seit Mitte des letzten Jahrhunderts eine Renaissance zu erleben ( mit der sie eine echte Innovation in die jahrtausendealte Bevgl. Chomsky 1968: 14ff.). <?page no="185"?> 5.1 „Grammar of Speech“ (David Brazil) 175 schäftigung mit Sprache brachte und sich von den sonst omnipräsenten Kategorien der griechisch-lateinischen Grammatik emanzipierte. Die Faszination an diesen Strukturhierarchien hatte jedoch noch eine weitere Konsequenz: „that there has been a tendency for the linear or real-time presentation of speech to be thought of as having only secondary interest for the grammarian.“ (Brazil 1995: 19) Jede Art der unmittelbaren Konstituentenanalyse basiert auf Kategorisierungen der untersten Elemente und der Bestimmung der Relationen (bzw. deren Funktionen) zwischen diesen Elementen. Zu sagen arme in der arme John sei ein Adjektiv, heißt eigentlich nur zu sagen arme steht in einer ganz bestimmen Position und einer ganz bestimmen Relation zu den anderen Konstituenten gleicher Stufe. Sobald es um die Frage geht, wie es um die Relation von Konstituenten der zweiten oder höherer Ordnung bestellt ist (der arme John ist das Subjekt von …) zeigt sich jedoch schnell, dass Chomsky (1968) recht hat, wenn er sagt, dass Aussagen dieser Art nicht möglich sind, ohne Berufung auf den Formalismus aus dem sie hervorgegangen sind. Grammatische Relationen festzustellen zwingt uns also, abstrakte Relationen anzuerkennen, deren Existenz wiederum davon abhängt, dass wir mit dem System, aus dem sie hervorgegangen sind, vertraut sind. Brazil betont zum wiederholten Mal, dass es sich dabei möglicherweise um eine Fehlerkette handelt, die nur noch an ihren eigenen Symptomen herumdoktert: [L]et us suppose that the abstraction we find in so many discussions of how language works is simply a consequence of starting the enquiry in a particular way. We can then go on to ask whether an alternative approach can provide an account of relationships which more nearly reflects a language user’s commonsense apprehension of what is happening when we speak. (Brazil 1995: 20) Nun existiert eine solche Grammatik, die der „increment-by-increment“ Produktion von Sprache gerecht wird und der linearen, echtzeitlichen Produktion „from left to right“ folgt, eigentlich schon und zwar in Form der sogenannten „finite state grammar“ 117 1928 . Sie geht auf Hartleys ( ) neuartigen Ansatz zurück, den Informationsgehalt einer Nachricht nicht mehr semantisch zu interpretieren, sondern quantitativ messbar zu machen, indem die Menge der übertragenen Information als abhängig von der Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens betrachtet wird, 118 117 Die verbreitete Bezeichnung „finite state grammar“ ist irreführend und müsste eigentlich „regular grammar“ heißen, da eine Grammatik keine Zustände hat, sondern nur Automaten (vgl. finite state automata). und dem daraus entwickelten Kommunikationsmodel von 118 Die Mitteilung „Es schneit! “ ist, wenn sie im August gemacht wird, also informationshaltiger, als wenn sie im Januar gemacht wird, da die Wahrscheinlichkeit dieser Wetterlage im Sommer geringer ist. Dieser Informationsbegriff deckt sich so weit mit unserer Alltagsvorstellung von Information, allerdings ergibt sich die Informationsmenge ohne jeglichen Bezug auf die inhaltliche Bedeutung der Mitteilung, sondern allein aus ihrer statistischen Auftretenswahrscheinlichkeit. Bei der <?page no="186"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 176 Shannon & Weaver (1949), das sich auf der Schwelle zum „Informationszeitalter“ stark an der Nachrichtenverarbeitung orientierte bzw. an der mathematisch fundierten Kommunikationstheorie. Als Grundbedingung einer jeden Grammatik gilt gemeinhin, dass sie endlich (engl. finite) sein muss. Es ist also nicht denkbar, dass eine grammatische Beschreibung einer natürlichen Sprache in Form einer Liste erfolgt, die alle denkbaren Kombinationen von Wörtern bzw. Morphemen zu wohlgeformten Ketten aufführt. Die Liste hätte kein Ende. Es ließe sich aber eine Maschine vorstellen, die eine endliche Zahl von Zuständen kennt, und die beim Wechsel von einem Zustand in den nächsten ein bestimmtes Symbol produziert (eine Zahl, ein Phonem, ein Morphem - oder ein Wort). Bei diesem gerichteten Prozess ließe sich ein Initialzustand von einem Finalzustand unterscheiden. Zwischen diesen beiden Zuständen können vorübergehende Zustände liegen, in denen ebenfalls Wörter produziert werden. Die so produzierten Wortketten lassen sich als Sätze (oder - in Brazils Fall - als Inkremente) bezeichnen. Die Menge der Sätze wäre eine Sprache („finite state language“), die Maschine die sie produziert ihre Grammatik („finite state grammar“). Eine solche Grammatik enthält die Regeln, mit denen man einen finiten Automaten füttern müsste, damit er (alle) wohlgeformten Ketten (z. B. einer natürlichen Sprache) produziert. Ein solch primitiver Zustands-Automat, kennt Zustände, die durch Übergänge miteinander verbunden sind. Einige Zustände sind initial andere final. Wenn die entstandene Kette des Finalzustands nicht nur akzeptiert wird, sondern jedem Übergang noch ein Wahrscheinlichkeitswert zugewiesen wird, spricht man auch von einem Markoff-Prozess. Die Wahrscheinlichkeit, dass in einem sprachlichen Text ein bestimmter Buchstabe an einer bestimmten Stelle steht, hängt sowohl von dessen eigener Auftrittshäufigkeit, als auch von den zuvor verwendeten Buchstaben ab. Entwirft man einen Text auf dieser statistischen Grundlage, so entsteht eine Markoff-Kette, die sich um so mehr formal einem normalen Sprachtext annähert, je weitreichender statistische Zusammenhänge berücksichtigt werden. (Ott 2004: 66) Der russische Mathematiker Andrej Markoff hat 1913 versucht, mit einem solchen endlichen Automaten, dessen Übergänge nach Wahrscheinlichkeit gewichtet sind, die Häufigkeitsverteilungen im Auftreten russischer Vokale und Konsonanten in Puschkins Novelle „Eugen Onegin“ zu berechnen (vgl. Ott 2004: 61-79). Es handelt sich also um statistische Voraussagen von künftigen Zuständen. Werden diese Übergangswahrscheinlichkeiten Übernahme dieses Informationsbegriffs in den 50er und 60er Jahren durch die wissenschaftlichen Nachbardisziplinen (vgl. z. B. Hick 1952, und den Überblick bei Hörmann 1970: 107ff., Hyman 1953) wurde es - zumindest anfänglich - als großer Vorteil des Modells angesehen, „dass sich die Theorie Shannons nur auf den statistischen bzw. syntaktischen Aspekt der Information bezieht und von allen semantischen und pragmatischen Aspekten absieht.“ (Ott 2004: 77) <?page no="187"?> 5.1 „Grammar of Speech“ (David Brazil) 177 noch durch Output-Wahrscheinlichkeiten angereichert, erhält man ein „Hidden Markov Modell“, das die Grundlage mehr oder weniger aller Spracherkennungssysteme ist. 119 Buchstabenketten 0. Ordnung (alle Buchstaben gleich häufig) ITVWDGAKNAJTSQOSRMOIAQVFWTKHXD 1. Ordnung (Häufigkeit der Buchstaben berücksichtigt) EME GKNEET ERS TITBL BTZENFNDGBD EAI E LASZ BETEATR IASMIRCH EGEOM 2. Ordnung (Häufigkeit von Zweiergruppen berücksichtigt) AUSZ KEINU WONDINGLIN DUFRN ISAR STEISBERER ITEHM ANORER 3. Ordnung (Häufigkeit von Dreiergruppen berücksichtigt) PLANZEUDGES PHIN INE UNDEN ÜBBEICHT GES AUF ES SO UNG GAN DICH WANDERSO 4. Ordnung (Häufigkeit von Vierergruppen berücksichtigt) ICH FOLGEMÄSZIG BIS STEHEN DISPONIN SEELE NAMEN Abbildung 9: Gewichtete und ungewichtete Markoff-Ketten auf der Grundlage der deutschen Orthografie (vgl. Ott 2004: 68 und 108) Selbstverständlich entsteht durch die automatische Generierung (vgl. Abbildung 9) kein semantisch sinnvoller Text. Umso mehr Kombinationen bei der Errechnung des nächsten Buchstaben berücksichtigt werden, umso größer wird die Ähnlichkeit mit einem Text in deutscher Sprache. Das sieht jedoch bei der Anwendung auf Wörter schon ganz anders aus (vgl. Abbildung 10), da schon nach kurzer Zeit Texte von geradezu poetischer Qualität 119 Benutzern eines Handys mit der Eingabesoftware T9 dürfte die probabilistische Berechnung von Zielformen vertraut sein. Die Häufigkeitsverteilung und Kollokation der Buchstabenzeichen hat sich auch im Morsealphabet von 1832 niedergeschlagen, in dem aus informationsökonomi- Buchstaben lange Zeichenfolgen haben („x“ = „— —“). Dasselbe Prinzip fließt auch in die unterschiedlichen Tastaturbelegungen von Schreibmaschinen bzw. Computertastaturen je nach Landessprache ein (siehe ISO/ IEC 9995 bzw. DIN-Norm DIN 2137): für Tastaturen mit lateinischem Alphabet werden z. B. je nach Anordnung der Buchstaben Q, A, Z, M und Y drei sprachoptimierte Layouts unterschieden: QWERTY (englisch, spanisch, sonstige), QWERTZ (deutsch) und AZERTY (französisch). <?page no="188"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 178 entstehen (ohne dass jedoch eine Sprechhandlungsintention geschweige denn ein Sprecher/ Schreiber dahintersteht). Wortketten 0. Ordnung (alle Wörter gleich wahrscheinlich) aus wurde Kino von über wir Thema noch Korn Grund ... 1. Ordnung (unmittelbare Kollokationen berücksichtigt) Arbeit gedeiht im Januar schneit es oft lieber geschwätzig als Putzfrau fegen ... ... 6. Ordnung (erweiterte Kollokationen berücksichtigt) Mainz fand vorige Woche der Kongress statt und endete mit Applaus aller ... Abbildung 10: Markoff-Ketten auf der Grundlage der Wahrscheinlichkeitsverteilung der Wörter im Deutschen (Beispiele aus der Untersuchung von Herrmann 1962: 398f.) Auch die Computerlinguistik bedient sich der Theorie der endlichen Automaten („finite automata“) bei der Abbildung morphologischer und phonologischer Prozesse. Nichtsdestotrotz ist die Möglichkeit einer „finite state grammar“ zur Beschreibung natürlicher Sprachen durch Chomskys Einwände für lange Zeit in Frage gestellt worden. In § 3 der „Syntactic Structures“ (Chomsky 1957/ 2002) zieht er eine „finite state grammar“ als eine mögliche linguistische Theorie in Betracht, um sie dann gleich wieder zu verwerfen. Seine Gegenargumentation enthält zwei Teile (vgl. auch die Rekonstruktion bei Fanselow 1993: 473-474): der erste Teil besteht in der mathematischen Demonstration, dass eine ‚Sprache‘, deren Grammatik nur spiegelbildliche Ketten von Symbolen produziert, nicht von einer „finite state grammar“ generiert werden kann. Teil zwei der Beweisführung besagt, dass Englisch eine Sprache ist, die genau solche Strukturen enthält. Als Beispiel für solche „embedded structures“ nennt er eingeschobene Relativsätze und Schachtelsätze 120 120 Das schönste Beispiel für einen Schachtelsatz, bei dem sich jedes Satzglied immer auf ein Wort im vorhergegangenen Satzglied bezieht, findet sich meiner Meinung nach in David Carkeets Roman „Die ganze Katastrophe“, wo in einer fingierten Anekdote eine Lehrerin einem faulen Schüler folgende Standpauke hält: „Wenn ein Schüler schon in der Schule, die ihn ja auf das Leben, das mit vielfältigen Aufgaben, welche nicht immer leicht, sondern oftmals von einer Komplexität, die selbst von einem Menschen, der eine Spezialausbildung, die nur solchen, welche sich die entsprechenden Grundkenntnisse angeeignet haben, zugänglich ist, gehabt hat, das Äußerste fordert, sind, , die bewei- <?page no="189"?> 5.1 „Grammar of Speech“ (David Brazil) 179 sen, dass auch zwischen nicht unmittelbar aufeinanderfolgenden Elementen syntaktische Abhängigkeiten bestehen können. Chomskys Beispiele für ‚innere Einbettungen‘ sind Sätze wie: (1) If S 1 , then S 2 . (2) Either S 3 , or S 4 . (3) The rat that S 5 ate the malt. Wobei nach Chomsky die Symbole S 1 bis S 5 wiederum selbst für beliebige englische Sätze stehen können, z. B. auch für Sätze, die ebenfalls aus eingeschobenen Relativsätzen oder Schachtelsätzen bestehen. Durch die rekursive Anwendung der Regel, wären also Sätze mit Relativsätzen zweifacher Einbettungstiefe möglich wie „The rat that the cat that the dog worried killed ate the malt“ (Reich 1969: 831) und nach Chomsky auch grammatisch wohlgeformt. Für Chomsky fällt eine „finite state grammar“ daher als Kandidat für eine mögliche erklärungsadäquate Sprachtheorie durch, denn „[…] there are processes of sentences formation that finite state grammars are intrinsically not equipped to handle.“ (Chomsky 1957/ 2002: 23) Laut Brazil ist es aber durchaus möglich, im Rahmen einer solchen Theorie kommunikative Prozesse angemessen zu beschreiben. Statt fertige Sätze mit fertigen Konstituentenstrukturen zu produzieren, äußern SprecherInnen beim Verfolgen ihrer Handlungsziele „increments“. We are trying to think of discourse as something that is now-happening, bit by bit, in time, with the language being assembled as the speaker goes along. This means that we can no longer use the essentially static concept of ‚constituent structure‘, because the function of one structure within the organization of larger structures can be explored only if everything is present simultaneously. In its place we shall use the dynamic notion of a sequence of States. In this view, each successive State is to be thought of as being replaced by a new State, as item succeeds item along the time dimension. (Brazil 1995: 37f.) Im Rahmen einer Erzählhandlung finden sich also z. B. „telling increments“, an denen sich jeweils drei verschiedene Zustände unterscheiden lassen: Ein Initial-Zustand (initial state), in denen die Gesprächspartner ihre Rollen (Erzähler, Zuhörer) einnehmen und ihre Verpflichtungen (weiterzuerzählen) eingehen, ein Ziel-Zustand (target state), in dem der Prozess der Inkrementierung lokal abgeschlossen ist, und ein Zwischen-Zustand (intermediate state), in dem der Sprecher seine ausstehenden Verpflichtungen einzulösen hat, bis ein gewünschter Ziel-Zustand erreicht worden ist. In dem Ausschnitt aus einer Erzählung durchläuft auf diese Weise das „telling increment“ She’d been shopping (Brazil 1995: 47) alle drei auf ihn wartet, vorbereiten soll, nicht aufpaßt, wird er es später ausgesprochen schwer haben.“ (Carkeet 1992: 193) <?page no="190"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 180 Phasen: Der Ziel-Zustand ist mit der Vollendung des Inkrements als Ganzem erreicht, der Zwischen-Zustand tritt nach She ein, dessen initiale Äußerung den Erzähler zum Weiterreden verpflichtet. Wie genau eine solche „linear“ (Brazil 1995: 4, 14, 87), „purpose-driven“ (Brazil 1995: 11, 37, 226), „incremental“ (Brazil 1995: 26), „real-time“ (Brazil 1995: xiv, 14, 17, 87) „grammar“ aussehen könnte, soll im Folgenden kurz skizziert werden. 121 5.1.3 „Finite State Grammar“ Im Gegensatz zu ‚Satz-Grammatiken‘, die versuchen hierarchische Konstituentenstrukturen zu rekonstruieren, müsste eine „Grammar of Speech“ vor allem in der Lage sein, die zeitliche Entfaltung von Sprache im Gebrauch angemessen wiederzugeben. Brazil sieht ein solches Modell verwirklicht im sogenannten finite state process, auch bekannt als Markov chain. Anders als in der Automatentheorie geht es Brazil jedoch nicht darum, Übergangswahrscheinlichkeiten auf statistischer Grundlage zu errechnen, sondern ein Sprecher bzw. eine Sprecherin hat aufgrund ihrer Handlungsintention einen Ziel-Zustand im Kopf (target state), der das Ende einer Kette aus sprachlichen Elementen bildet. Zwei oder mehr ‚Elemente‘ werden dabei nach den Serialisierungsvorschriften einer Sprache zu Sequenzen arrangiert. Die Elemente gehören unterschiedlichen Kategorien an. Die Elemente, die den jeweiligen Kategorien zugeordnet werden, können aus einzelnen Wörtern oder auch Wortgruppen bestehen, was jedoch bloß am noch unzureichenden Entwicklungszustand der „Grammar of Speech“ liegt, die in dieser Phase nicht umhin kommt, „treating comparatively large stretches as single elements“ (Brazil 1995: 248). Das soll aber nicht bedeuten, dass nicht eines Tages jedes Wort auch als eigenes Element klassifiziert werden kann und soll. Das Gleiche gilt auch für das System der Kategorisierung der Elemente, das nur vorläufigen Status hat und sich aus reinem Pragmatismus an der üblichen, in englischsprachigen Grammatiken vorherrschenden part-of-speech-Unterscheidung (vgl. z. B. McCawley 1995) orientiert. Auf der Grundlage der Abfolgeregularitäten des Englischen ergeben sich 121 Für die Epitheta ornantia der Brazil’schen Grammatik gibt es zahlreiche Belegstellen, z. B.: „[…] one fact about speech that […] is an important consideration in the analysis of spoken discourse: the inescapable fact of the real-time, step-by-step assembly of a spoken utterance.“ (Brazil 1995: 17); „It will be noticed that this view of the matter is fully in accordance with our expectations of a linear, real-time, presentation of events; the establishment of the event time of each verbal element after the first depends upon the establishment of that of an earlier one in the chain. That is to say, it depends upon the effect the earlier verbal element has had upon the progressively changing State.“ (Brazil 1995: 87); „[…] our primary interest is in providing a way of describing such samples, rather than in discussing examples invented for the purpose […] a stretch of language which results from piecemeal, or incremental, composition“ (Brazil 1995: 26). <?page no="191"?> 5.1 „Grammar of Speech“ (David Brazil) 181 sieben Basisketten (simple chains, vgl. Abbildung 11), die jedoch durch ‚Extensionen‘ und ‚Suspensionen‘ an zusätzlicher Komplexität gewinnen können. Abbildung 11: Exemplarische Darstellungen von Abfolgeregeln in den ‚einfachen Ketten‘ des Englischen (vgl. Brazil 1995: Kap. IV, 47ff.) Die sich ergebenden Sequenzen stellen trotz der oberflächlichen Übereinstimmung keine Sätze dar, sondern Inkremente, die sich aus den zugrundeliegenden Handlungszielen ergeben. So ist der Zielzustand eines „asking increment“ z. B. erst dann erreicht, wenn der Gesprächspartner auf eine Frage mit einer Antwort reagiert hat. Da für den kommunikativen Zweck des Erzählens Hörerreaktionen weniger relevant sind, besteht Brazils (1995: 48) Korpus der Einfachheit halber aus neun Nacherzählungen ein und derselben Geschichte in Form von „telling increments“. Auch wenn sich herausstellen sollte, dass die „telling increments“ in vielen Fällen deckungsgleich sind mit dem, was ‚Satz-Grammatiken‘ einen ‚Satz‘ nennen, basieren sie auf einem anderen Konzept: „Our aim […] is to discover, not how language is organized into sentences, but how it is organized in pursuit of communicative purposes.“ (Brazil 1995: 39) <?page no="192"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 182 So ein Organisationsmechanismus müsste beschreiben, welche Optionen nach jedem Element offenstehen - so kann nach einem Adjektiv in einer Nominalgruppe im Deutschen z. B. entweder eine weiteres Adjektiv oder das Bezugsnominal folgen. Mit der Äußerung des Bezugsnominals ist ein neuer Status erreicht und die Möglichkeiten der Weiterführung sind neu gemischt. Writing such a grammar would involve us in arranging all the words of the language in classes such as verbs, nouns and pronouns, and discovering rules which would determine what might come after what in the increment-by-increment presentation of a sentence. (Brazil 1995: 20f.) Selbst wenn man nur einfachste Sätze nehmen würde, wäre eine solche Grammatik offensichtlich sehr umfangreich. Die Angemessenheit einer solchen grammatischen Beschreibung würde sofort in Frage gestellt, wenn man das Lernbarkeits-Postulat in Betracht zieht. Brazil argumentiert, dass dieser Einwand nur den Aufbau einer ‚Satz-Grammatik‘ betrifft. Since our concern is with purpose-driven language, and since we are supposing that this operates on an essentially increment-by-increment basis, we shall have to show that in the circumstances we visualize for the production of used language, a finite state grammar is a possibility. (Brazil 1995: 21) Wie eine solche „finite state grammar“ funktioniert, wird exemplarisch am Beispiel von monologischen Erzählungen vorgeführt, in der Hoffnung, dass sich das Beschreibungsverfahren „fairly easily“ (Brazil 1995: 190) auf dialogische Gespräche übertragen lässt, die auf andere kommunikative Zwecke ausgerichtet sind. Hier lässt sich aufgrund des fehlenden Sprecherwechsels relativ einfach zeigen, was mit dem inkrementellen Aufbau einer Erzählung gemeint ist: „The sequence of elements […] required to reach the Target State in a telling exchange is a ‚telling increment‘“ (Brazil 1995: 250). Im Gegensatz zu diesen haben z. B. ‚asking increments‘ einen mehrteiligen Aufbau. Das Zielstadium eines ‚asking increments‘ ist erst erreicht, wenn aufgrund des kooperativen Verhaltens des Gesprächspartners eine angemessene Antwort erfolgt ist. Diese Anwort „might be acknowledged by the production of a receipt token“ (Brazil 1995: 197), wie z. B. I see und really. Ein erfolgreicher Abschluss eines ‚asking increments‘ kann also mehrschrittige Sequenzen erfordern. In späteren Kapiteln des Buches (vor allem Kapitel 15, 16 und 17) kommen zu den „telling increments“ noch andere „increments“ hinzu, z. B. „preliminary increments“ wie let me explain…, die die folgende Aktivität (ganz im Sinne von Diskursmarkern, vgl. Kapitel 6.1.2) vorstrukturieren, oder Konstruktionswechsel (vgl. Apokoinu-Konstruktionen, Kapitel 6.1.4) und Reparaturen (vgl. Kapitel 6.1.6), die immer dann stattfinden, wenn ein Sprecher das Erreichen seines kommunikativen Ziels (target state) in Gefahr sieht und unter dem Druck von „on-line amendments“ (Brazil 1995: 211f.) von Sprache in der kommunikativen Praxis Gegenmaßnamen einleitet. Brazils Beispielanalyse einer längeren Erzählung <?page no="193"?> 5.1 „Grammar of Speech“ (David Brazil) 183 (Brazil 1995: 215-218) zeigt, was eine solche Prozessanalyse zu leisten in der Lage ist. Besonders in den Zwischenstadien - also während z. B. ein gefordertes Objektkomplement noch aussteht - kann die Kette ‚suspendiert‘ oder ‚extendiert‘ werden. Hier zeigen sich nicht nur terminologisch große Parallelen zur Funktionsweise der „On-line-Syntax“ (vgl. Kapitel 5.4). Aus gesprächsanalytischer Sicht muss jedoch kritisch angemerkt werden, dass die authentischen gesprochenen Daten dem grammatischen Apparat nur in aufbereiteter (d. h. bereinigter) Form zugeführt werden (können? ), auch wenn die syntaktische Kategorisierung durch zusätzliche Statusinformationen und intonatorische Informationen angereichert werden. Außerdem kommt auch dieser radikale Neuansatz nicht umhin, vorläufig auf viele traditionelle grammatische Kategorien zurückzugreifen (vgl. das Kategorieninventar in Tabelle 8), die sich im Einzelfall nur bedingt mit der Idee einer rein linearen Syntax vereinbaren lassen. Obwohl seine Analysebeispiele sehr anschaulich die Möglichkeiten einer „Grammar of Speech“ vermitteln, sind sie durch die freiwillige Beschränkung auf eine bestimmte Textsorte teilweise unbefriedigend. Ob sich die „Grammar of Speech“ auch jenseits von englischsprachigen monologischen Erzählungen beweisen kann (siehe auch Brazil 1995: 214), soll im folgenden Kapitel 5.1.4 nachgegangen werden. 5.1.4 Brazils lineare, echtzeitliche, inkrementelle und handlungsgesteuerte Grammatik des Sprechens: Diskussion an einem Beispiel Die folgende Szene spielt sich in der dritten Woche einer Reality-TV-Sendung ab, in der TeilnehmerInnen abgeschottet von der Außenwelt von Kameras überwacht werden und durch das Gewinnen von Spielen ihre Lebensmittelversorgung ‚erarbeiten‘ müssen. Der einzige vermeintlich schwule Teilnehmer der Gruppe hat einem der Mitspieler offenbart, dass er sich in eine der anderen Teilnehmerinnen verliebt hat. In ihren täglichen Videokommentaren verarbeiten Alma (w, 23) und Mathilda (w, 23) diese Information. Der Sprecherwechsel ist das Ergebnis des Zusammenschnitts der Regie. Generell handelt es sich jedoch um einen Ausschnitt, der der von Brazil gewählten Form eines monologischen aber mündlichen „telling increments“ sehr nahe kommt. Um eine Vergleichsbasis zu haben, ist das Gespräch zuerst einmal auf gewohnte Weise in den Konventionen des Gesprächsanalytischen Transkriptionssystems (GAT 2) wiedergegeben. Beispiel 12: Zwischenmenschliche Beziehungen (BB2_19) 001 Alm: ich find_s mittlerweile richtig SPANnend hier zu sein, 002 °hh nich dass ich_s die lEtzten zwei wochen NICHT so empfunden hab,= 003 =aber ähm °hhh (1.0) ähm (.) ähm ähm 004 der UNterschied ist einfach nur, 005 dass ich ähm (-) ja (--) <<: -)> so einiges> <?page no="194"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 184 006 dass sich so EIniges hier entWICkelt? 007 und ähm (-) ja man macht verMUtungen halt ebent- 008 wie das wohl (1.0) sich WEIterentwickeln wird- 009 so ZWISCHenmenschliche beziehungen halt ebent- 010 Mat: ja: is halt wirklich WA: HNsinnig interessant; = 011 =was hier so pasSIERT, 012 und (-) wie das so VORwärts geht; 013 aber (-) mit der sache jetz hier mit STEFfi? = 014 =und (.) oder überhaupt mit ? 015 woa hätt ich ! NIE! für möglich gehalten; 016 NIE. 017 im LEben. 018 käm mir gAr nich in_nen SINN, 019 Alm: ich hab den total GERN? 020 der is für mich aber °hh halt eben ehrlich gesacht mehr ! HOMO! sexuell als °h (.) BIsexuell oder HEtero; 021 ((räuspert sich)) 022 desWEgen <<all> wär ich nich davon ausgegangen dass er sich wirklich; > 023 °hh in eine FRAU verlieben könnte hie: r- 024 und ts (.) schon gar nich in STEffi ehrlich gesagt; 025 WEISS ich nich- 026 ich will die damit nicht ABwerten, 027 aber (-) PASST halt nich- 028 keine AHnung. Um die Prinzipien von Brazils „Grammar of Speech“ auf unser Beispiel anwenden zu können, müsste man vor allem zwei wichtige Fragen klären: Ist das Kategorieninventar, das Brazil für seine englischen Beispiele verwendet, geeignet und ausreichend, um deutsche Gesprächsausschnitte angemessen zu analysieren? Und gibt es im Deutschen vergleichbare starre Satzbaupläne analog zu den simple chains im Englischen (siehe Abbildung 11)? Falls nicht, ergeben sich erhebliche Probleme bei der Übertragung des Modells auf andere Sprachen, bzw. wird die Aussagefähigkeit des Ganzen erheblich in Frage gestellt. Statt in einem fertigen Satz der hierarchischen Organisation seiner Konstituenten nachzugehen, durchläuft die lineare Analyse der „Grammar of Speech“ verschiedene Zustände, die sich aus der Verkettung von Elementen ergeben, die verschiedenen Kategorien angehören. Brazil (1995: 44) ist sich der Gefahr bewusst, dass es keine Garantien dafür gibt, „that the categories deriving from so widely diverging theories as a sentence-based one and a purpose-based one will be compatible.“ Das heuristische Klassifikationssystem wird bei Brazil von Kapitel zu Kapitel immer weiter verfeinert und muss wohl in jeder Hinsicht als ‚ausbaufähig‘ verstanden werden. Es basiert im Kern auf sechs Wortartenkategorien. Allerdings wird im Falle von Präpositionalphrasen relativ willkürlich die Wortebene verlassen und das Element „P/ N“ eingeführt (vgl. die Diskussion bei Brazil 1995: 141f.). <?page no="195"?> 5.1 „Grammar of Speech“ (David Brazil) 185 Außerdem wird aufgrund der ansonsten drohenden Verstöße gegen die Sequenzierungsregeln (vgl. Abbildung 11) für die infiniten Verbformen (‚-ing forms‘, ‚to forms‘ und ‚past participle forms‘) die Element-Kategorie „V'“ eingeführt. „Open Selectors“ scheren ebenfalls etwas aus der Logik der Klassifikation aus, da sie außerhalb des Systems aus Sequenzierungsregeln stehen und ihre Funktion stattdessen darin besteht, „[to] set up an expectation of more to come“ (Brazil 1995: 140). In ‚satz-grammatischen‘ Begriffen würden sie gewöhnlich als Konjunktion, Relativ- oder Fragepronomen klassifiziert werden (z. B. who, when, because). „Open Selectors“ liegen auch deshalb quer zu dem Element-Kategorien- System, da sie durch ‚Elemente‘ aus ganz unterschiedlichen Kategorien substituiert werden könnten (vgl. Sie kommt wann? - am nächsten Tag/ gleich/ gar nicht), und indem sie „by indicating the present need for a selection and stopping short of actually making one“ (Brazil 1995: 140) auf diese Weise Platzhalterfunktionen einnehmen für Positionen, die aufgrund der Sequenzierungsregeln nicht unbesetzt bleiben dürfen. Dem ‚Konnektor‘ und wird nicht einmal eine Platzhalterfunktion zugestanden und er hat auch keine Selektionseigenschaften, da der „communicative value“ der beiden Ketten, die durch und verbunden sind, sich nicht ändert, ob das und-Element nun vorhanden ist oder nicht (siehe Brazil 1995: 218 und 219f.). 122 Daher bekommt und das Sonderzeichen „&“. Für den Fall, dass zwei Elemente der gleichen Kategorie in der Kette unmittelbar aufeinander folgen, wird noch das Zeichen „+“ für Reduplikation eingeführt. Dabei geht es in der Regel um Appositionen, mehrfache Attribute oder um eins der zahlreichen compound nouns des Englischen wie z. B. car park (N+ N). Im Prinzip handelt es sich bei Reduplikationen nur um eine Sonderform einer Extension bzw. Suspension in der Normalabfolge der „simple chains“ durch die Verdopplung von Elementen der gleichen Kategorie. 122 Die semantische Gleichstellung syndetischer und asyndetischer Verknüpfung dahingestellt, wird hier auch aus einer linearen on-line-Perspektive natürlich unterschlagen, dass und durchaus etwas selegiert: nämlich eine projizierte Fortsetzung, deren Ausgestaltung jedoch nicht weiter spezifiziert ist. Dass eine Verknüpfung durch und genauso gut ausbleiben kann, ist daher eine Sichtweise, die genau genommen typisch für ex post Analysen ist. <?page no="196"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 186 Die Basisketten (vgl. Abbildung 11) sehen nur die Sequenzen NV, NVA, NVE, NVEA, NVN, NVNA und NVNEA vor. Allerdings können diese Ketten durch „subchains“ erweitert werden. Erweiterungen über den Ziel-Zustand eines Inkrements („#“) hinaus werden als Extensionen behandelt, Erweiterungen von Inkrementen im Zwischen-Zustand sind Suspensionen. Diese unselbstständigen Unterketten werden durch Minuskeln oder Klammern symbolisiert (Brazil 1995: Kapitel 5 und 11). Simple chain: This woman asked her N V N This person had a shopping bag N V N Suspension: This woman finally asked her N a V N This person sitting in her car had a shopping bag N ( v' a ) V N Simple chain: She drove off N V A Extension: She drove off leaving the man on the pavement N V A ( V' N A ) <?page no="197"?> 5.1 „Grammar of Speech“ (David Brazil) 187 Das vollständige Symbolinventar für die Annotierung stellt sich also folgendermaßen dar (Tabelle 8). Tabelle 8: Transkriptionskonventionen in Brazils (1995) „Grammar of Speech“ A „Adverbisches“ Element E Adjektivisches Element N Nominales Element P Präposition V Verbales Element P/ N Präposition/ nominales Element V' nicht-finites verbales Element W open selector a Suspensives „adverbisches“ Element d Artikel 123 d° Nullartikel e Suspensives adjektivisches Element n Suspensives nominales Element p Suspensive Präposition v Suspensives verbales Element v' Suspensives nicht-finites verbales Element w Suspensiver „open selector“ + Reduplikation Ø „Nullelement“ # Ende eins Inkrements & and oder so / / / / Intonationsphrasengrenze / / P/ / fallende Intonation (proclaiming tone) / / R/ / steigende Intonation (referring tone) / / 0/ / gleichbleibende Intonation (level tone) / / r/ / referring tone (non-dominant) / / p/ / proclaiming tone (non-dominant) / / r+/ / referring tone (dominant) / / p+/ / proclaiming tone (dominant) 123 Artikelwörter sind immer suspensiv, verzögern in der linearen Kette sozusagen bloß das Eintreffen des nominalen Elements (Brazil 1995: 151-155). <?page no="198"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 188 Eine annotierte Version des ersten Gesprächsausschnitts von Alma (Zeile 01-09) aus Beispiel 12 im Geiste der „Grammar of Speech“ würde auf dieser Grundlage zu folgendem Ergebnis führen. Beispiel 12a: Zwischenmenschliche Beziehungen 1 (BB2_19) in der Notation der „Grammar of Speech“ 001 / / R ich find’s mittlerweile richtig SPANnend hier zu sein / / R nich dass ich’s die N V N a ? E A V' # ? w N+ N d 002 lEtzten zwei wochen NICHT so empfunden hab / / (Fragment? ) aber ähm … ähm … e ? N ? ? V' V # w 003 ähm ähm / / R der UNterschied ist einfach nur / / (Fragment? ) dass ich ähm … ja … so d N V ? ? W N ? ? 004 einiges / / R dass sich so EIniges hier entWICkelt / / 0 und ähm … ja man macht N W N ? N A V (#? ) & ? N V 005 verMUtungen halt ebent / / 0 wie das wohl … sich WEIterentwickeln wird / / N ? ? W N ? N V' V (#? ) 006 0 so ZWISCHenmenschliche beziehungen halt ebent / / ? e N ? ? (#? ) Die grau markierten Elemente sollen darauf hinweisen, an welchen Stellen die Klassifizierung besonders fragwürdig wird bzw. mit dem minimalen Inventar eigentlich gar nicht geleistet werden kann. Besonders Intensiv- (richtig Zeile 001), Grad- (nur Zeile 003) oder Abtönungspartikeln (einfach Zeile 003, halt Zeile 005 und 006, eben(t) Zeile 005 und 006, wohl Zeile 005), sowie Zahl- (zwei Zeile 002) und Negationswörter (nich(t) Zeile 001 und 002) bleiben in diesem System außen vor bzw. unterspezifiziert. Auch das syntaktisch nicht integrierte ja (Zeile 003 und 004) in der Funktion eines Diskursmarkers oder einer ‚gefüllten Pause‘ stellt sowohl auf der Kategorienebene als auch auf der Sequenzierungsebene eine Herausforderung für die „Grammar of Speech“ dar. Das gilt zwar auch für so in „so einiges“ (Zeile 003f.) und in „so ZWISCHenmenschliche beziehungen“ (Zeile 006), allerdings birgt die Randbereichsunschärfenlesart dieses dekategorisierten Adverbs auch für die großen Referenzgrammatiken nicht geringe Klassifikationsprobleme („Rahmen- Adverb“ bei Weinrich & Thurmair (2005: 583-586), vgl. auch Ehlich (1987), Sandig (1987), Thurmair (2001: 27ff.)). Große Schwierigkeiten ergaben sich auch bei der Entscheidung, an welchen Stellen überhaupt ein ‚telling increment‘ als abgeschlossen gelten kann („#“). Diese Ungewissheit setzt sich in Mathildas Beitrag (Zeile 10-18 in Beispiel 12) fort: <?page no="199"?> 5.1 „Grammar of Speech“ (David Brazil) 189 Beispiel 12b: Zwischenmenschliche Beziehungen 2 (BB2_19) in der Notation der „Grammar of Speech“ 007 / / P ja is halt wirklich WAHNsinnig interessant / / R was hier so pasSIERT / / P und … A V ? A+ A E W A ? V & 008 wie das so VORwärts geht / / R aber … mit der sache jetz hier mit STEFfi / / R und … W N ? A V # w p/ n a+ a p/ n & 009 oder überhaupt mit BJÖRN / / P woa hätt ich NIE für möglich gehalten / / P NIE / / P im & a p/ n V N A P E V' A P/ N 010 Leben / / R käm mir gAr nich innen SINN / / # V N ? ? P/ N # Allerdings zeigt sich hier darüber hinaus auch ganz deutlich, dass die Idee einer kleinen Anzahl von relativ stabilen Basisketten im Deutschen durch die relativ freie Wortstellung konterkariert wird. Schon die drei verschiedenen Stellungstypen des Deutschen führen dazu, dass die Grundregel der „Grammar of Speech“, nämlich dass die kleinste Form eines Inkrements mindestens aus der Folge „NV“ bestehen muss (Brazil 1995: 42-46), nicht aufrechterhalten werden kann. Außerdem kann im Deutschen auch in V2-Sätzen jedes erststellenfähige Satzglied die Position vor dem finiten Verb einnehmen, so dass von der strengen Sequenzierungsregel „NV…“ nur ein vages „XV…“ übrigbleibt. Umso mehr das Konzept der Basisketten ins Wanken gerät, umso schwieriger lässt sich aber das Konzept der Extensionen und Suspensionen anwenden. So lassen sich zwar auch fürs Deutsche in Teilbereichen feste Abfolgeregeln formulieren (z. B. im Fall der fixen linearen Folge des Verbalkomplexes innerhalb des rechten Klammerausdrucks von Verbletztsätzen, vgl. Zifonun et al. (1997: Bd. II, 1285-1287) ) oder Angaben zur unmarkierten Abfolge von Satzgliedern im Deutschen machen (vgl. Zifonun et al. (1997: Bd. II, 1504f.)), diese Regularitäten werden jedoch von der allgegenwärtigen Möglichkeit einer alternativen „Bedarfsstellung“ (Behaghel 1932: Buch VII, 8) im Deutschen systematisch unterlaufen und aufgeweicht. Das führt die Idee von Basisketten ad absurdum. Für den letzten Abschnitt von Alma (Zeile 18-20) soll neben der Frage der Klassifizierung und Sequenzierung besonderes Augenmerk auf eine weitere Besonderheit der „Grammar of Speech“ gelegt werden: ihren vielgelobten Versuch, „to integrate phonological patterns, particularly suprasegmental ones like those of stress and intonation, into the grammar.“ (Sinclair & Mauranen 2006: 27) <?page no="200"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 190 Tabelle 9: Kommunikative Funktionen unterschiedlicher Intonationskonturen nach Brazil (1985, 1995) berichtend (referring) verkündend (proclaiming) hörerbezogen (direct) dominant (sichert das Rederecht im Falle von längeren kommunikativen Projekten) r+ (steigend) p+ (steigend-fallend) nicht-dominant (offen für Hörerreaktionen und Sprecherwechsel) r (fallend-steigend) p (fallend) sprecherzentriert (oblique) nur in ritueller Sprache oder in Formulierungsfragmenten 0 (gleichbleibend) oder p Das Notationssystem der „Grammar of Speech“ (vgl. Tabelle 8 und Tabelle 9) bietet die Möglichkeit, Fokusakzente, Intonationsphrasen und finale Tonhöhenkonturen darzustellen. Fokusakzente werden durch Majuskelschreibung symbolisiert, für Intonationsphrasengrenzen steht das Zeichen „/ / “ und in einer fünfstufigen Skala werden finale Intonationskonturen unterschieden, ganz ähnlich wie im Basistranskript nach GAT 2 (vgl. Kapitel 2.4.2 und Selting et al. (2009: 392)). Allerdings hofft Brazil im Rahmen seines Klassifikationssystems die Vielfalt der prosodischen Realisierungsweisen auf einige wenige Prototypen reduzieren zu können, die quasi distinktive binäre Eigenschaften und Funktionen besitzen (siehe Tabelle 9). Brazils (1985: 10) Ziel besteht darin zu zeigen, „that a small set of either/ or choices can be identified and related to a set of meaning oppositions that together constitute a distinctive sub-component of the meaning-potential of English.“ Um daran zu erinnern, dass die finale Tonhöhenbewegung den ‚kommunikativen Wert‘ (Brazil 1995: 242) der Intonationsphrase als ganzer ändert, steht das Zeichen für den Konturverlauf („R“, „P“, „0“) am Beginn jeder Phrase. <?page no="201"?> 5.1 „Grammar of Speech“ (David Brazil) 191 Beispiel 12c: Zwischenmenschliche Beziehungen 3 (BB2_19) in der Notation der „Grammar of Speech“ 011 / / R ich hab den total GERN / / P der is für mich aber halt eben ehrlich gesacht mehr N V N ? V' # N V P/ N ? ? ? E V'? ? 012 HOMOsexuell als … BIsexuell oder Hetero / / P desWEgen wär ich nich davon E ? E E # A V N ? A 013 ausgegangen dass er sich wirklich / / 0 in eine FRAU verlieben könnte hier / / P und ts V' w N+ N A P/ N V' V A # & 014 … schon gar nich in STEffi ehrlich gesagt / / 0 WEISS ich nich / / R ich will die damit A ? ? P/ N E V' ( #? ) V N ? (#? ) N V N A 015 nicht Abwerten / / 0 aber … PASST halt nich / / P keine Ahnung / / ? V' (#? ) w V ? ? # d N Obwohl sein Transkriptionsverfahren auch vorsieht, Intonationskonturen zu berücksichtigen (Brazil 1985, Brazil 1995: 240-246), ist sein Bezeichnungssystem aus Sicht der Gesprächslinguistik als rudimentär zu bezeichnen (keine Kennzeichnung von Dehnung, Pausenlänge (abgesehen von „…“), Stimmqualität oder Sprechgeschwindigkeit). Das größere Problem besteht jedoch in der naiven eins-zu-eins-Relation, die zwischen finalen Intonationsbewegungen und der Informationsstruktur der betroffenen „increments“ aufgestellt wird. Schon die Bezeichnungen „proclaiming tone“ (für fallende oder steigend-fallende Konturen) und „referring tone“ (für steigende oder fallend-steigende Konturen) sind interpretativ und nicht rein formbezogen. Laut Brazil erhalten thematische Mitteilungen immer steigende Intonationskonturen, rhematische Mitteilungen immer fallende. Der semantische Gehalt von Intonationsphrasen mit steigender Intonation wird Brazil zufolge immer präsentiert „as part of the background understanding that participants already share“ (Brazil 1995: 254). Gleichbleibende Intonation ist ausschließlich den fragmentarischen Mitteilungen vorbehalten. Gleichbleibenden Passagen kommen laut Brazil eigentlich nur in ritueller Sprache vor, in Alltagsgesprächen wie in Beispiel 12c haben sie keine interaktive Funktion, sondern sind Ausdruck von Formulierungsarbeit durch den Sprecher und treten immer dann auf, „when the way ahead is not clear, resulting, perhaps, in hesitation and also a temporary disengagement from the kind of person-to-person relationship that the discourse in general maintains.“ (Brazil 1995: 244) Ob diese eindeutige Funktionalität der verschiedenen Konturverläufe fürs Englische angenommen werden kann ist fraglich, ob sie sich auf andere Sprachen übertragen lässt, mehr als zweifelhaft. Auch ob bestimmte („dominante“) Intonationskonturen dafür verantwortlich gemacht werden können, dass Gesprächspartner erkennen, dass es sich bei dem Inkrement um den Teil eines größeren kommunikativen Projekts handelt, das sie nicht unterbrechen dürfen, ist erst mal bloß eine <?page no="202"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 192 interessante These. Bei nur 5 angesetzten Intonationskonturen zwei dafür anzusetzen, sich das Rederecht zu sichern („r+“ und „p+“), ist ein ziemlicher Luxus. 5.1.5 Leistungen und Grenzen Der Ausgangspunkt der „Grammar of Speech“ besteht in der banalen Beobachtung, dass Sprachbenutzer beim Sprechen versuchen, so gut wie möglich ihre kommunikativen Ziele zu erreichen, sei es eine Anekdote zu erzählen, eine Frage zu stellen, eine Entschuldigung zu liefern usw. Und es ist vordringlich dieses Handlungsziel und dessen angestrebtes Ergebnis, das ihnen im Bewusstsein ist bzw. bleibt. We can think of anyone who is engaged in, for instance, reporting a sequence of events, or making an enquiry of another party, as being concerned primarily with such matters as what needs to be told or asked at the point in time when the report or enquiry occurs, and with how best to manipulate the available linguistic resources to tell or ask it. We can, moreover, think of the rules that govern that manipulation as being rules for telling or asking things. In other words, we do not necessarily have to assume that the consideration of such abstract notions as ‚sentences‘ enters into the user’s scheme of things at all. (Brazil 1995: 15) Das soll nicht heißen, dass es nicht möglich wäre, bei der Verfolgung dieser Handlungsziele gleichzeitig so etwas wie „Sätze“ zu identifizieren. Es ist jedoch eine Fertigkeit, die zum sprachlichen Handeln und Kommunizieren an sich nicht erforderlich ist und die zu dieser Fertigkeit hinzukommt bzw. darüber hinausgeht. Eine Grammatik, die in der Lage ist, solche realen sprachlichen Interaktionen zu beschreiben und zu erklären, ist eine Grammatik des Sprachgebrauchs (grammar of used speech). Sie hat zu erklären, was Sprecher linguistisch tun müssen, um in den mannigfaltigen Kommunikationssituationen des realen Lebens als Interaktanten erfolgreich zu sein. Sprachliche Kompetenz besteht also nicht darin, Sätze zu bilden und sie dann einer Verwendung zuzuführen, sondern für den „kompetenten Sprecher“ gilt, „their competence comprises simply their ability to do what is needful to be done communicatively.“ (Brazil 1995: 16) Falls sich im Nachhinein im Ergebnis dieser Kommunikation „Sätze“ finden lassen, ist das nur eine Zugabe. Schließlich entstehen solche Klassifizierungen nur auf der Grundlage der „after-the-event examination of a sample of language“, welche zu diesem Zeitpunkt nicht weiter einem „here-and-now purpose in any communicative activity“ dient (Brazil 1995: 16). Beide Kompetenzen sind voneinander unabhängig und bedingen einander nicht, und nicht nur das: „Neither is it necessary to assume that the ‚knowledge of the language system‘ which such analysis claims to make explicit is actually implicit in what users do.“ (Brazil 1995: 16) In Anbetracht der gängigen Tradition der Linguistik im 20. Jhd. erscheint es ausgesprochen radikal, komplett auf den Begriff des Satzes in einer Grammatikkonzeption zu ver- <?page no="203"?> 5.1 „Grammar of Speech“ (David Brazil) 193 zichten. Für Brazil gibt es dafür jedoch zumindest zwei gute Gründe. So bringt die Idee der Satzhaftigkeit es mit sich, dass es sich dabei um ein abgeschlossenes Objekt handelt. Wir scheinen genau sagen zu können, wo der Satz anfängt und wo er endet. Diese scheinbare Abgeschlossenheit gibt einem das Gefühl, man könnte ihn aus dem Zusammenhang der Redebeiträge herausnehmen, die ihm vorausgehen und folgen, und aus dem Zusammenhang der konkreten Handlungssituation zwischen einem Sprecher und einem Hörer, in die jeder reale Satz eingebettet ist. Um nicht der gleichen Versuchung zu erliegen wie traditionelle Satzgrammatiken, und mit dem Satz als „potentially free-standing and unused object“ (Brazil 1995: 3) eine Idee zu hypostasieren, die es in der Realität der Sprachverwendung gar nicht gibt, wird auf das Konzept ‚Satz‘ lieber ganz verzichtet. Der zweite Grund, nicht den Satz ins Zentrum der Untersuchung zu stellen, besteht darin, dass sobald im Rahmen von traditionellen Grammatiktheorien der Satz als freistehendes abgeschossenes Objekt erst einmal isoliert ist, damit begonnen wird, ihn in seine Bestandteile zu zerlegen. Wie bei einer Matrjoschka-Puppe werden Konstituenten-innerhalb-von-Konstituenten angenommen, und verschiedene theoretische Formalismen versuchen auf unterschiedliche Weise, diese Strukturen offenzulegen. Brazil formuliert die These, dass die Obsession mit der strukturellen Beschreibung von Sätzen möglicherweise irregeleitet ist und einzig und allein darin begründet liegt, dass man überhaupt potentiell freistehende, abgeschlossene, unbenutzte Objekte als Ausgangspunkt genommen hat. Ganz anders stellt sich dieses ‚Problem‘ aus der Sich der tatsächlichen Sprachbenutzer dar: Seen from the user’s point of view, the notion of an unused and context-free object makes little sense. We may reasonably ask whether the form that the solution takes, that is to say the whole nature of the resulting grammatical description, is simply an inevitable consequence of the peculiar nature of the problem we set out to solve. Let us therefore further suppose, then, that by taking into account the conditions and circumstances that are accessible to the user, we shall be able to manage without invoking the ‚constituent-within-constituent‘ view of grammar. (Brazil 1995: 3f.) Diese Annahmen bringen im Wesentlichen zum Ausdruck, worum es Brazil bei seiner „Grammar of Speech“ geht: Wie könnte eine Grammatik, die auf Handlungszielen fußt, anstatt sich mit der Zergliederung von Sätzen zu befassen, theoretisch aussehen? Und lässt sich eine solche Grammatik verwirklichen, die gänzlich auf Hierarchien und Konstituentenstrukturen verzichtet? Brazil (1995) „Grammar of Speech“ lässt sich besser verstehen (und es liest sich über weite Strecken auch wie ein Pamphlet gegen selbige), wenn man es als Gegenentwurf zur Konzeption der Generativen Grammatik, insbesondere aus deren Frühphase versteht (also die Theorie der „Syntactic Structures“ (Chomsky 1957/ 2002) und der „Standardtheorie“ (Chomsky 1965)). Dieser Sachverhalt wird insbesondere dadurch verschärft, dass Brazils Grammatikentwurf sich auf eine Konzeption bezieht, die von Chomsky explizit als inadä- <?page no="204"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 194 quat verworfen wurde. Brazil widerspricht der bis heute geltenden Überzeugung der Vertreter der Generativen Grammatik, eine finite-state-Grammatik sei „in logisch beweisbarer Weise prinzipiell kein adäquates Beschreibungsinstrument für natürlichsprachliche Syntaxen“ (Fanselow 1993: 474) und er wird nicht müde zu betonen, dass es sich bei seiner „Grammar of Speech“ um eine denkbare Alternative zu gängigen Grammatiken handelt. Brazils Konzept einer „Grammar of Speech“ scheint auf den ersten Blick genau den Geist zu atmen, den auch Hopper für Grammatiken fordert (vgl. Kapitel 4.6.4) und damit gut geeignet, „to illustrate a common feature of the grammar of conversational discourse: speakers do not create utterances by matching them in advance of the utterance to an a priori schema, but rather improvise at each point as the discourse unfolds. This process of unfolding frequently takes place through a process of adding increments to an already realized utterance part“ (Hopper 2011: 31). Das Beharren darauf, dass Analysen von Gesprächen, die nur das Endergebnis und nicht auch die Genese von syntaktischen Strukturen als Ausgangmaterial haben, zu kurz greifen, verbindet Brazil und Hopper. Diese Grundannahme erfordert stattdessen „a perspective in which utterances unfold in time and are subject to renegotiation at any point.“ (Hopper 2011: 31) Nichtsdestotrotz haben sich bei der konkreten Umsetzung und Übertragung auf deutsche Gesprächsdaten deutliche Unzulänglichkeiten und methodologische Ungereimtheiten gezeigt, die Zweifel an der Eignung aufwerfen, ob aus der „Grammar of Speech“ irgendwann auch eine „Grammatik des Gesprächs“ werden wird, die an dieser Stelle resümiert werden sollen: Brazil setzt die Latte, was den Mehrwert seiner Grammatik angeht, so niedrig an, dass die Erwartung an sie fast unmöglich unterschritten werden kann. Schon in der Einleitung schreibt er, die Güte einer Grammatik kann immer nur daran gemessen werden, inwieweit es ihr besser als anderen gelingt, Probleme zu lösen. Welche Probleme durch seine Grammatik gelöst werden, wird jedoch sehr unscharf formuliert, denn es geht ihm nicht um „ […] specific applications, either to the solution of theoretical problems or to those practical matters in which language teachers and others might be interested“ (Brazil 1995: 4). Dadurch bleibt als einziger Anspruch eigentlich nur die These, dass eine lineare Beschreibung gesprochener Sprache möglich (und hoffentlich irgendwie hilfreich) ist. Insgesamt sind Brazils Thesen jeweils so schwach formuliert (die Grammatik ist „exploratorisch“, es wird nicht behauptet, dass es sich bei den Strukturen um kognitive Repräsentationen handelt, andere Grammatiktheorien sind nicht falsch, sondern „ebenbürtig“ (Brazil 1995: 11), das Modell ist „vorläufig“ und bedarf weiterer Forschungsarbeit), dass er eigentlich nicht dafür haftbar gemacht werden kann, dass seine Grammatik in den meisten Fällen nur wenig zur inkrementellen Sprachbeschreibung von Sprache in Interaktion beiträgt. <?page no="205"?> 5.1 „Grammar of Speech“ (David Brazil) 195 Bei den wenigen Anmerkungen, worin der Sinn seines Unterfangens liegt, kommt Brazil (1995: 12-14, 234-239) immer wieder auf den Sprachunterricht zurück. Ihm scheint die Diskrepanz zwischen der kompetenten Sprachverwendung durch Muttersprachler und deren Schwierigkeiten bzw. Versagen im Grammatikunterricht unlogisch und er zieht daraus den Schluss, dass die (generative) Grammatikbeschreibung unnötig kompliziert ist. Dass es ein weiter Weg von impliziter Grammatikkompetenz zu explizitem Grammatikwissen ist, und welche didaktischen Schwierigkeiten darin liegen, implizites Sprachwissen für die SprecherInnen bewusst zu machen und umgekehrt explizites Sprachwissen anzuwenden, ist für die Sprachlehrforschung jedoch keine besonders originelle Erkenntnis (siehe z. B. Bittner 2011, Hufeisen & Riemer 2010, Königs 2010, Krashen 1985, 1994, Pienemann 1989). Hier wäre eigentlich auch ein Verweis auf die wissenstheoretische Unterscheidung zwischen „Können“ (knowing how) und „Wissen“ (knowing that) angebracht, wie sie von Ryle (1949: Kapitel II) in die Diskussion gebracht wurde und die von Baumgartner (1993), der die Unterscheidung zwischen deklarativem Faktenwissen und prozeduralem Anwendungswissen noch um die Kategorie des Handlungswissen (know-how) ergänzt, auf insgesamt drei Wissensbereiche erweitert wurde. Wie an vielen anderen Stellen verzichtet Brazil jedoch darauf, seine eigenen Thesen und Ergebnisse im Wissenschaftsdiskurs zu verankern. Eine Prozessperspektive auf sprachliche Interaktion einzunehmen, statt einer Produktperspektive, entspricht dem Credo dieser Arbeit. Auch stellt Brazil fest, „that the realtime presentation of speech […] is an observable and incontrovertible fact, not a theory.“ (Brazil 1995: 229) Warum ein lineares Modell zwangsläufig ausschließt, dass zwischen den „Elementen“ einer Kette syntaktische Relationen und mithin Hierarchien herrschen, wird an keiner Stelle der Arbeit klar. Seine lineare Grammatik erhebt den Anspruch eines „tentative view of how a purposedriven-grammar - as opposed to a sentence-oriented one - might be constructed; and, crucially, it does so without having recourse to any notion of constituency of the hierarchically organized kind.“ (Brazil 1995: 4) Stimmt das? Und ist das überhaupt erstrebenswert? Die Labels basieren auf Wortarten, die sich wiederum als Distribuenz/ Distribuentenklassen rekonstruieren lassen. Das impliziert automatische Konstituenz als auch syntaktische Hierarchien. Wie will Brazil ein „d“ von einem „N“ unterscheiden? Es handelt sich daher nicht wie angekündigt um eine „increment-by-increment presentation of speech“ anstelle einer „constituent-within-consituent account“ (Brazil 1995: 4). Warum lässt sich eine Inkrementfür-Inkrement-Produktion partout nicht mit Konstituentenhierarchien vereinbaren? Der „neue“ Blick auf Sprache und der Vorsatz, die Fehler der „traditionellen“ Grammatik nicht zu wiederholen, führen dazu, dass die Beschreibung über weite Teile hinter dem zurückbleibt, was wir bereits über sprachliche Strukturen wissen. Es ist mitunter aber etwas anderes, ob man die wissenschaftliche Tradition in Frage stellt, oder sie <?page no="206"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 196 komplett ignoriert. Jedenfalls ist eine lineare, echtzeitliche und handlungsorientierte Grammatik in vielen Bereichen wesentlich anschlussfähiger, als es Brazil vorgibt. Der Bruch mit der Tradition hat außerdem zur Folge, dass (a) Brazil eine eigenartige, idiosynkratrische Terminologie entwickelt, deren Begriffe jedoch häufig nur schlecht definiert werden, so dass es ständig zu Verwechslungen mit ‚satz-grammatischen‘ Kategorien kommt, von denen sie nur vage abgegrenzt werden, und dass (b) weniger wohlmeinende Leser zwangsläufig das Gefühl haben, dass hier alte Hüte als vermeintlich kongeniale Entdeckungen verkauft werden. Dieser Eindruck wird besonders dadurch verstärkt, dass die Arbeit durch ein ausgesprochen kurzes Literaturverzeichnis kaum Aufschluss über die Trennung zwischen eigenen Erkenntnissen und Vorarbeiten von anderen gibt (vgl. etwa die zwei Seiten kurze Erklärung zum 'scholarly background' bei Brazil 1995: 36f.). Für Brazil besteht ein Vorteil seiner Grammatik darin, dass sie näher an der Sprecherperspektive ist, weniger abstrakt und daher einfacher zu lernen bzw. zu verstehen. Da das Einsatzgebiet seiner Grammatik jedoch nicht näher ausgeführt wird, stellt sich die Frage, warum überhaupt jemand versuchen sollte, sein Grammatikmodell zu lehren oder zu lernen. Die Behauptung, andere Grammatiken seien unnötig komplex, beinhaltet, dass seine Grammatik mit weniger Aufwand, das Gleiche leistet. Ihre Beschreibung bleibt jedoch in vielen Bereichen auf bedenkliche Art unterkomplex und das Argument, „indeterminacy“ und „ambiguity“ seien prinzipielle Eigenschaften von Sprache in Interaktion, basiert auf der Vorstellung, dass diese Eigenschaften für die Sprachbenutzer in konkreten Interaktionssituationen in aller Regel keine Probleme verursachen, da sie aus dem Kontext eindeutig interpretierbar werden. Das ändert jedoch nichts daran, dass sie für die wissenschaftliche Sprachbeschreibung ein Problem darstellen, und zumindest der Versuch unternommen werden sollte, diese Kontextfaktoren auch formal in die Beschreibung einzubeziehen. Anders gesagt: genau an dieser Stelle wäre es von Bedeutung, implizites Wissen explizit zu machen. Die Beschränkung auf „telling increments“ ist plausibel, da sie die „Grammar of Speech“ an authentischem Material zu testen erlaubt, ohne auf Sprecherwechsel und Hörerreaktionen eingehen zu müssen. Der „target state“ im Falle von „asking increments“ kann jedoch nur erreicht werden, wenn eine wie auch immer geartete Hörerreaktion folgt. Der sequentielle Zusammenhang zwischen den Paaren Frage, Antwort und Reaktion auf die Antwort bleibt im Vergleich zu dem, was in Kapitel 4.4.2, 4.4.3 und 4.8.3 besprochen wurde, weit hinter den Erkenntnissen der ethnomethodologischen Konversationsanalyse zurück. Trotzdem geht Brazil über die simplistische Vorstellung, dass sich Fragen aus einer bestimmten Konstituentenkonstellation ergeben, hinaus: Schließlich kommt sein „purpose driven“ Ansatz dem „doing“-Konzept der Konversationsanalyse (Günthner 2006a, Sacks 1984a) sehr nahe (Brazil 1995: <?page no="207"?> 5.1 „Grammar of Speech“ (David Brazil) 197 Kapitel 17). Genau an dieser Stelle müsste eine inkrementelle Grammatik eigentlich ihre Überlegenheit ausspielen können, da sie anders als die ‚Satz‘-Grammatik weniger Probleme haben sollte, von der Satzauf die Diskursebene zu gelangen. Ob die Verkettung von ‚Elementen‘ und die Verkettung von ‚Inkrementen‘ tatsächlich sinnvoll und erschöpfend in einem monostratalen Modell beschrieben werden können, lässt sich aufgrund der oberflächlichen Behandlung von Inkrement-Sequenzen nicht abschließend beurteilen. Inwieweit sich Übergangswahrscheinlichkeiten im Sinne einer dialogischen Markoff-Kette in dem Konzept der Präferenzhierarchie von zweiten und dritten Turns widerspiegeln (Pomerantz & Heritage 2013), bleibt jedoch eine interessante Frage, die aber von Brazil weder erwähnt noch beantwortet wird. Allein die Einführung der Notation „V'“ bzw. „( )“ für abhängige Verbalphrasen im Unterschied zu selbstständigen (vgl. Brazil 1995: Kapitel 5), deutet an, dass ein totaler Verzicht auf syntaktische Hierarchien auch ihm nicht gelingt. Brazil sieht das Problem der besonderen Markierung nur im Falle von infiniten Verbalphrasen, die für sich genommen nicht alleine stehen können (anders gesagt: keine selbstständigen „telling increments“ bilden können) und daher immer Ergänzungen zu einer übergeordneten NV-Folge sind. Als Extension: We want to search your car N V ( V' N ) Als Suspension: (and) she found sitting in her car this little old lady N V ( v' a ) N Mit dem Begriff „subchain“ wird jedoch eine Kategorie eingeführt, die quer zur theoretischen Fundierung der „Grammar of Speech“ liegt. Brazils Versuch, bei der syntaktischen Anreihung nur Elemente zu akzeptieren, die eine situationsabhängig sinnvolle Wahlalternative („existentially relevant choice“ (Brazil 1995: 93)) zum Ausdruck bringen, gestattet zwar, Sätze wie Farblose grüne Ideen schlafen zornig von vornherein aus der linguistischen Analyse auszuschließen, ist aber in der Praxis kaum operationalisierbar. Statt mit Begriffen wie „Wohlgeformtheit“, „Grammatikalität“ und „Akzeptabilität“ zu hantieren, werden die wahrscheinlichen Möglichkeiten, wie eine angefangene Kette fortgesetzt wird, für Brazil maßgeblich von der Situation, in der sie geäußert wird, eingeschränkt: „The set of possibilities from which selection is made is not, in fact, determined by one’s knowledge of what the language will allow. It depends on one’s awareness of what the likely alternatives are in the present state of speaker-hearer understanding.“ (Brazil 1995: 93) Die Anzahl der Elemente innerhalb dieser Austauschklassen, die Brazil (1995: 93) ‚existenzielle Paradigmen‘ nennt, reduziert sich auf diese Weise ganz erheblich. Ähnliche Bestrebungen, das <?page no="208"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 198 Vorwissen der Interaktionsteilnehmer in Anschlag zu bringen, finden sich in den experimentellen Versuchen zur Informationsverarbeitung in der Psychologie. Letztendlich führt die Verquickung von reiner Auftretenswahrscheinlichkeit mit Informationen über die subjektive Erwartungshaltung jedoch sowohl bei den psychologischen Ratespielen als auch bei der linearen increment-by-increment-Produktion von Äußerungen in ein Dilemma, „da die Subjektivierung mit einem unüberschaubaren Anstieg der veränderlichen Variablen einhergeht“ (Ott 2004: 115), die methodisch nicht handhabbar bleiben. Brazils Rückzug auf Plausibilitätsurteile und ‚den gesunden Menschenverstand‘ in diesem Zusammenhang ist unbefriedigend, weil sie (a) sehr subjektiv sind, (b) sie nicht erklären, wie eine ungewöhnliche Verkettung zustande kommt, und (c) sie vernachlässigen, dass die Vorhersage, wie die Kette fortgesetzt wird, sich für Sprecher und Hörer ganz unterschiedlich darstellt: der Sprecher steuert einen „target state“ an - trifft also in dem Sinne gar keine Wahlentscheidungen. Für den Hörer ergibt sich aus der Sicht der Informationsverarbeitung das Problem, dass eine vorhersagbare Kette leicht zu dekodieren ist, aber auch wenig zusätzliche Information liefert. Schließlich besteht dir Grundidee der ‚mathematischen Theorie der Kommunikation‘ (vgl. Shannon & Weaver 1949) im Sinne einer Markoff-Kette darin, „die Menge der übertragenen Information als abhängig von der Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens zu betrachten.“ (Ott 2004: 65) Obwohl sich Brazil in seiner programmatischen Einleitung dezidiert dazu geäußert hat, dass seine Grammatik kein ‚Regelbuch‘ sein will, unternimmt er später den Versuch (Brazil 1995: Kapitel 18), trotzdem ein paar Regeln bzw. „constraints“ zu formulieren. Dabei steht er wie alle usage-based-Ansätze vor dem methodologischen Problem, mangels negativer Evidenz eigentlich nicht in der Lage zu sein, Vorhersagen über ungrammatische oder nicht-akzeptable Formen zu machen. 124 Brazil 1995: 207 Akzeptabilität wird bei Brazil jedoch einfach nur verwandelt in die-Möglichkeit-kommunikativ-erfolgreich-zusein. Schon in der Vergangenheit, war jedoch die Versuchung groß, „to invent circumstances in which the most unlikely sentence would be acceptable.“ ( ) Brazils relativ arbiträre Setzungen diesbezüglich entsprechen weder dem gebrauchsbasierten Vorgehen, noch werden sie reflektiert oder begründet. Seine Behauptung, „sequences which do not satisfy the requirement for an initial NV will not achieve Target State whatever the communicative need may be.“ (Brazil 1995: 205) ist für handlungsorientierte, gebrauchsbasierte Grammatikschreibung nicht haltbar, und geht auch an der wissenschaftlichen Diskussion um die Grundeinheiten sprachlicher Interaktion (Satz, Äußerung, kommunikative Minimaleinheit) völlig vorbei. 124 Stefanowitsch (2008) sieht allerdings auch im Rahmen von usage-based-Ansätzen (Korpuslinguistik, Konstruktionsgrammatik) die Möglichkeit, über Frequenz- und Strukturverhältnisse „negative entrenchment“ - wie er es nennt - zu extrapolieren. <?page no="209"?> 5.1 „Grammar of Speech“ (David Brazil) 199 Brazils Klassifikation der ‚Elemente‘ versucht, vollständig auf der Ebene von Serialisierungsregeln zu bleiben und klassische Konstituentenanalysen, die syntaktische Relationen zum Ausdruck bringen, zu umgehen. Das führt in seiner Beispielanalyse (Kapitel 19) jedoch in zahlreiche Konflikte, die sich am deutlichsten an folgenden Stellen zeigen: So werden einige Wörter, besonders wenn sie „syntactically ‚detached‘ “ (Brazil 1995: 219) sind wie z. B. engl. well und dear, bei der Klassifizierung nicht berücksichtigt, da sie für Brazil nicht auf derselben Ebene operieren wie die Verkettungen von N-, V-, A- und E-Elementen. Das System ist also nicht gemeinsam exhaustiv. Gerade bei den „adverbischen“ Elementen „A“ vermischen sich kategoriale und funktionale Aspekte bei der Klassifikation, so dass z. B. to a driveway und on the left erst sehr spät aus der Klasse der A-Elemente ausgegliedert werden, indem die zusätzliche Klasse P/ N eingeführt wird (vgl. Brazil 1995: 123). Das System ist also nicht mutuell exklusiv. Die Kategorien „Zero realization“ (Ø) und „Subchain“ (V') haben in einer oberflächennahen, hierarchielosen finite-state-Grammatik eigentlich überhaupt nichts verloren. Da dieses Problem struktureller Natur ist, lässt es sich - entgegen Brazils Hoffnung - vermutlich auch nicht durch eine zukünftige Optimierung des Kategorien-Repertoirs aus der Welt schaffen. Klammerstrukturen sind in einer finite-state-Grammatik nicht vorgesehen und können nicht dargestellt werden (Brazil 1995: 224). Für die Beschreibung des Englischen mag man diesen Makel ja noch in Kauf nehmen, für eine von Klammerstrukturen durchsetzte Sprache wie dem Deutschen (Lenerz 1995, Pescheck i.V. , Weinrich & Thurmair 2005: 29-60) ist das jedoch inakzeptabel. Während die „Grammar of Speech“ sich die Möglichkeit, ihr Konzept später auch auf schriftliche Texte anzuwenden, prinzipiell offenhält, stellt sich für die nächste hier behandelte Grammatik, die „Linear Unit Grammar“ von Sinclair & Mauranen (2006), das Problem des Medialitätsunterschieds drastischer dar. Sinclair & Mauranen brechen mit der Tradition, die medialitätsspezifischen Eigenheiten der verschiedenen Realisationsformen von Sprache in disparaten Grammatikmodellen gerecht werden zu wollen. Stattdessen werden mündliche und schriftliche Sprachproben durch einem mehrstufigen Aufbereitungsprozess in einen Zustand gebracht, der es erlaubt, sie ein und demselben Analyseapparat zuzuführen. Dabei ist schon der Aufbereitungsprozess selbst instruktiv, da er für die jeweiligen Ausgangstexte durchaus unterschiedlich ausfällt, was wiederum Rückschlüsse auf die sprachlichen Eigenheiten der jeweiligen Textsorte erlaubt. <?page no="210"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 200 5.2 „Linear Unit Grammar“ (John McH. Sinclair & Anna Mauranen) To view the canonical constructions as prototypes and as the source of „deviant“ fragmentary instantiations in discourse is to put the cart before the horse. - Paul J. Hopper (2001: 126) 5.2.1 Ausgangspunkt Die „Linear Unit Grammar“ (LUG) von Sinclair & Mauranen (2006) versteht sich als Versuch, den „written language bias“ (Linell 2005) der bisherigen Grammatiken zu beheben und eine modalitätsunabhängige, varietätenunabhängige und textsortenunabhängige Grammatik zu entwerfen. Eine solche Grammatik steht im Moment trotz vielerlei Anstrengungen in jüngster Zeit noch nicht zur Verfügung. True, there have been occasional nods in the direction of spoken language grammar, particularly in recent years […]. But the bulk of all grammars is focused on the written variety, the spoken form is seen as written language with added problems, and the detailed studies of spoken discourse in the last several decades in the development of Discourse Analysis and Conversation Analysis have not been integrated into the mainstream grammars. (Sinclair & Mauranen 2006: 4) Die Idee einer Einheitsgrammatik geht von der Annahme aus, „that all varieties of a language in use can be described using the same descriptive apparatus“ (Sinclair & Mauranen 2006: XV). Diese integrale Grammatik wäre noch dazu erklärungsadäquater, da die Vereinzelung der bestehenden spezialisierten Grammatikbeschreibungen der Sprachwirklichkeit der Sprachbenutzer nicht entspricht. Von denen kann nämlich ganz analog angenommen werden, „that a person applies essentially the same creative/ interpretive apparatus to any language text, rather than that we have to postulate the existence of more than one such apparatus“ (Sinclair & Mauranen 2006: XV). Ein weiterer Unterschied, der sich auch schon im Namen spiegelt, besteht in dem hohen Stellenwert, der der Linearität beigemessen wird. Selbstverständlich hat die gesprochene Sprache einen linearen Verlauf in der Zeit, aber auch der Prozess des Schreibens und Lesens ist viel stärker durch eindimensionale Linearität geprägt, als die scheinbar zweidimensionale, räumliche Anordnung vermuten lässt. Das liegt in der Natur der (Alphabet-)Schrift im Gegensatz zu nicht-linearen Zeichensystemen wie z. B. dem Bild. 125 125 Sinclair & Mauranen (2006: 5) weisen darauf hin, dass dieser Unterschied durch multimodale Kommunikationsformen zunehmend aufgeweicht wird, denn die Möglichkeiten, lineare mit nicht- <?page no="211"?> 5.2 „Linear Unit Grammar“ (John McH. Sinclair & Anna Mauranen) 201 Entgegen vielen anderen Grammatiken, die statt linearer Ordnung paradigmatische und hierarchische Beziehungen zu finden suchen, nimmt die LUG die „natürliche“ Teilnehmerperspektive ein. Letzten Endes behaupten die Autoren, dass ein Leser oder ein Hörer genau das tut, was Sprachwissenschaftler schon immer getan haben: er segmentiert und klassifiziert. An diesem intuitiven Verhalten versucht die LUG sich ein Beispiel zu nehmen. In der linearen Abfolge von sprachlichen Zeichen setzen Sprachbenutzer (provisorische) Grenzen, um die Elemente zu bedeutungsvollen Einheiten zu gruppieren. Je nach Funktion lassen sich diese Segmente unterschiedlichen Kategorien zuordnen. Die Kategorien der LUG haben nichts mit Wortarten gemein: „[A] small set of descriptive categories is proposed, with clear working definitions for each, and with rules for their occurrence and combination“ (Sinclair & Mauranen 2006: 8). Auf einer einfachen Analyseebene besteht jeder Text - ähnlich wie die Abfolge aus Nullen und Einsen in einem binären Code - aus alternierenden Elementen, die entweder dazu beitragen, den Diskurs zu organisieren, oder das Thema des Textes inhaltlich voranzutreiben. Diese Teilstücke nennen die Autoren „chunks“. Die Wahrnehmung von Beginn und Ende eines „chunks“ ergibt sich aus sich überlagernden Signalen einer ‚Grenze‘. Diese Grenzen ließen sich zwar mit klassischen linguistischen Gliederungseinheiten assoziieren, 126 Sinclair & Mauranen (2006: 130 allerdings wird von ) ganz bewusst darauf verzichtet: […] we treat chunk as a pre-theoretical term and therefore we do not try to define it. Everyone, we conclude from the extensive literature on the topic, acquires the ability to see a complex, multi-layered sentence as a string of short chunks. „Chunkability“ manifests itself in several aspects of language structure because of the abundance of perceptible boundaries. Obwohl die Kategorie des chunk eine prominente Rolle in der Theorie und Methodik einnimmt, lehnen die Autoren es ab, eine explizite Definition zu liefern. Stattdessen gehen sie davon aus, dass jeder Leser in der Lage ist, sie intuitiv zu erfassen: „The whole edifice that we build in this book rest on a single supposition - that chunking is a natural and unavoidable way of perceiving language text as it is encountered.“ (Sinclair & Mauranen 2006: 6) Verschiedene Personen, Experten wie Laien, würden mehr oder weniger zu den gleilinearen Darstellungsweisen zu verknüpfen, haben im Computer- und Internetzeitalter massiv zugenommen. Die daraus hervorgehenden tatsächlich mehrdimensionalen ‚Texte‘ stellen eine große Herausforderung für die wissenschaftliche Beschreibung und Analyse in der Zukunft dar. 126 Auf phonologischer Ebene kann die Wahrnehmung einer Grenze z. B. durch Akzent- und Tonmuster oder Pausen entstehen, auf syntaktischer Ebene decken sich vor allem Teilsatz- (clause) und Phrasengrenzen mit chunk-Grenzen, in der Schriftsprache kommen noch Satzzeichen als Markierungen dazu. Auch die Lexik spielt eine Rolle, da idiomatische Wendungen und feste Kollokationen dazu beitragen, dass Wortverbindungen als ein chunk wahrgenommen werden (vgl. Sinclair & Mauranen 2006: 10ff., 130ff.). <?page no="212"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 202 chen Ergebnissen kommen, wenn sie vor die Aufgabe gestellt wären, einen Text in chunks zu zerlegen, und zwar ohne die intuitive Heuristik explizit machen zu müssen/ können (vgl. Sinclair & Mauranen (2006: 134) „chunk identification is an approximate, not an exact, science“). Für viele traditionelle Syntaxforscher klingt das wie Blasphemie - es entspricht aber Sinclairs und Mauranens Auffassung von einer theoriearmen bottom-up Sprachbeschreibung. Die eigentliche Analyse von Texten innerhalb der „Linear Unit Grammar“ besteht aus einem Prozess, in dem nacheinander verschiedene Phasen durchlaufen werden. Da in jeder dieser Phasen binäre Wahlentscheidungen gefällt werden, wird das Verfahren insgesamt als flexibel, simpel und robust angesehen (vgl. Sinclair & Mauranen 2006: 8; 154- 156). Jeder Text wird als lineare Abfolge von aufeinanderfolgenden Einheiten verstanden. Am Anfang des Aufbereitungsprozesses steht die Identifikation der Einheitengrenzen. Dazu werden „aus dem Bauch heraus“ vorläufige Einheitengrenzen gesetzt, sogenannte Provisional Unit Boundaries (PUBs). Die sich daraus ergebenden Elemente werden am Ende des Prozesses zu größeren sinnvollen Einheiten kombiniert, die funktional und formal selbstständige Bedeutungseinheiten bzw. Linear Units of Meaning (LUM) darstellen. Diese LUMs werden Teil des geteilten Wissens- und Erfahrungsschatzes der Kommunikationsteilnehmer und bleiben es auch. Für die Elemente, die sich ausschließlich dem Management des Diskurses verschrieben haben, gilt das nicht: Sie verlieren über die Situationszeit hinaus ihre Funktion und werden daher im Output der LUG nicht erhalten. Als Bezeichnung für den ‚Zuwachs‘ des geteilten Wissens greifen Sinclair & Mauranen (2006: 144; vgl. auch XXI) Brazils Begriff des Inkrements wieder auf (siehe Kapitel 5.1). Linear Unit Grammar seeks to explain how this incrementation [of shared experience; BS] is achieved, using a series of steps that gradually align the used language with the more abstract blueprints that other grammars deal with. Jede aufeinanderfolgende Einheit der linearen Kette wird also daraufhin hinterfragt, „whether or not it focuses on the subject matter that is being talked about leading to the incrementation of shared experience“ (Sinclair & Mauranen 2006: 51), oder ob es sich um eines der ephemeren, diskursorganisierenden Elemente handelt, „which were exclusively concerned with the interaction“ (Sinclair & Mauranen 2006: 54), die im Laufe des Verfahrens eliminiert werden. Während auf die Risiken dieses Verfahrens ausführlich in Kapitel 5.2.3 eingegangen wird, soll zuvor noch einmal auf das Potential der „Linear Unit Grammar“ hingewiesen werden: Die bestehenden Sprachmodelle und der grammatische Beschreibungsapparat stützen sich in der Regel auf eine bestimmte Varietät. Während Diskursanalyse und Konversationsanalyse in erster Linie informelle oder halbformelle gesprochene Sprache ins Visier nehmen, basieren Grammatiken traditionell auf schriftsprachlichen oder literatursprachlichen Texten. Hier liegen die Chancen der LUG: Als Input dient ihr mehr oder weniger jeder beliebige, geschriebene oder gesprochene Text, als <?page no="213"?> 5.2 „Linear Unit Grammar“ (John McH. Sinclair & Anna Mauranen) 203 Output liefert sie eine Textfassung, die problemlos geeignet ist, nach existierenden standardgrammatischen Regeln analysiert zu werden. Inwieweit die „Linear Unit Grammar“ in der Lage ist, die Lücke zwischen gesprochener und geschriebener Sprachbeschreibung tatsächlich zu schließen, soll im Folgenden an einem Beispiel erprobt und diskutiert werden. 5.2.2 „Chunking“: Diskussion an einem Beispiel Als Input für die Analyse nach Maßgabe der LUG soll ein authentischer mündlicher Text dienen, der zu Zwecken der Vergleichbarkeit in den gesprächsanalytischen Transkriptionskonventionen präsentiert wird (Beispiel 13), bevor es in die Aufbereitung geht. Es handelt sich dabei um den Ausschnitt einer Rede, die der damalige Ministerpräsident von Bayern, Edmund Stoiber, zum Neujahrs-Empfang der CSU in München am 21. Januar 2002 gehalten hat. Stoiber hat sich engagiert dafür ausgesprochen, den Münchner Hauptbahnhof mit dem Flughafen Franz-Josef-Strauß bei Erding durch die von Siemens und Thyssen-Krupp entwickelten Magnetschwebebahn zu verbinden. Beispiel 13: Edmund Stoibers Rede zum Transrapid (Neujahrs-Empfang der CSU in München, 21.01.2002) 01 ED: wenn sie (-) ah vom HAUPTbahnhof in münchen. (1.0) 02 mit --) 03 müssen; (1.0) 04 dann STARten sie,= 05 =im GRUnde genommen; 06 ! AM! flughafen- (1.0) 07 am am HAUPTbahnhof in münchen; = 08 =STARten sie ihren flug. (-) 09 ZEHN minuten; 10 SCHAUN sie sich mal die grO: ssen flu: ghäfen an. 11 wenn sie in °h 12 in LONdon, 13 oder (.) SONSTwo, 14 meine se - 15 sche CHARles de 16 (.) äh in FRANKreich.= 17 =oder in äh in in (.) äh (.) in äh 18 wenn sie sich mal die: entFERnungen ansehen; 19 wenn sie ! FRANK! furt sich ansehen; 20 dann werden sie fEststellen dass ZEHN minuten. (1.5) 21 sie JE: derzeit lOcker- 22 in FRANKfurt brauchen um ihr gAte zu finden. (1.0) 23 wenn sie von starten; (-) <?page no="214"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 204 24 sie stEIgen IN den hauptbahnhof ein; (-) 25 sie FAHRen mit dem transrapid in zEhn minuten an den flughafen in- 26 an den FLUGhafen franz josef strauß. (--) 27 dann starten sie ! PRAKT! isch hIEr am hAUptbahnhof in münchen. (--) 28 das beDEUtet natÜrlich dass der hauptbahnhof- (-) 29 im grunde genommen ! NÄHER! an bAYern (.) 30 <<all> an die bayerischen städte> (.) heRANwächst. 31 weil das ja 32 weil auf dem HAUPTbahnhof viele (.) lInien aus bayern zusammenlaufen. 33 [...] 5.2.2.1 Analyseschritt 1: „Provisional Unit Boundaries“ Die „Linear Unit Grammar“ tritt an mit dem Versprechen, Sprachproben jedweder Provenienz verarbeiten zu können. Das Transkript des Redeausschnitts in Beispiel 13 enthält allerdings zahlreiche Informationen, die über den bloßen Wortlaut hinausgehen, wie z. B. Informationen zu Intonation, Pausen, Stimmqualität, Regionalismen, umgangssprachliche Verschleifungen etc. Da aber die schriftlichen Ausgangstexte der LUG keine solche Informationen enthalten, den mündlichen Texten wiederum Merkmale fehlen, die in der Schriftlichkeit notiert werden (Groß- und Kleinschreibung, Interpunktion), besteht der Input für die LUG aus einer normalisierten Version der Texte, die keine Informationen zur Intonation enthält, in der Groß- und Kleinschreibung neutralisiert sind, Interpunktionszeichen weggelassen werden und alle Wortformen an die deutsche Orthografie angepasst werden. Obwohl (in unserem Fall) viele Informationen in der normalisierten Textfassung im Vergleich zum GAT 2 Transkript verloren gehen, kommen auch neue Informationen dazu. Die normalisierten Textfassungen des geschriebenen bzw. gesprochenen Ausgangsmaterials, die sich als bloße Abfolge von durch Spatien getrennten Wortformen darstellen, bildet das Ausgangsmaterial für das nun folgende „chunking“. Der Begriff „chunk“ als Einheitenmaßstab ist erstmalig von Miller (1956) im Zusammenhang mit Information verwendet worden. 127 127 Vgl. Bei seinen psychologischen Versuchen zum menschlichen Kurzzeitgedächtnis Miller (1956: 92f.) zur Terminologie des „chunk“ im Zusammenhang mit den Grenzen der Verarbeitungskapazität von Informationen: „I have fallen into the custom of distinguishing between bits of information and chunks of information. Then I can say that the number of bits of information is constant for absolute judgment and the number of chunks of information is constant for immediate memory.“ Auch in der Spracherwerbsforschung und kognitiven Linguistik (z. B. Beckner & Bybee 2009, Ellis 1996, Newell 1990) wird gerne auf den Begriff „chunk“ zurückgegriffen, um auf die Gestalthaftigkeit von festen Wortverbindungen zu verweisen. <?page no="215"?> 5.2 „Linear Unit Grammar“ (John McH. Sinclair & Anna Mauranen) 205 kam er auf die „magical number seven, plus or minus two“, deren niedrigster Wert für die menschliche Erinnerungsleistung sich nicht rein zufällig mit der Obergrenze für durchschnittliche LUG-chunks deckt. 128 Die Analyse im LUG-Modell erfolgt in fünf Schritten. Schritt 1 besteht darin, Provisional Unit Boundaries (PUBs) aufzustellen. Daraus ergeben sich die chunks, die auf jeder Seite von PUBs begrenzt werden. Dabei wird auf detaillierte Vorgaben oder feste Regeln verzichtet, um das chunking so intuitiv wie möglich vonstattengehen zu lassen. Der Ausschnitt aus Beispiel 13 würde in normalisierter Form und mit PUBs folgendermaßen aussehen. 129 Beispiel 14: Edmund Stoibers Rede zum Transrapid mit Provisional Unit Boundaries wenn | sie | ah | vom hauptbahnhof | in münchen | mit zehn minuten | ohne dass | sie | am flughafen | noch einchecken müssen | dann | starten sie im grunde genommen | am flughafen | am | am hauptbahnhof | in münchen | starten sie Ihren flug | zehn minuten | schauen sie sich mal die großen flughäfen an | wenn | sie | in heathrow | in london | oder | sonstwo | meine se | chä | charles de gaulle | äh | in frankreich | oder | in | äh | in | in | äh | in | äh | rom | wenn | sie sich mal die entfernungen ansehen | wenn | sie frankfurt sich ansehen | dann | werden sie feststellen | dass | zehn minuten sie jederzeit locker | in frankfurt | brauchen | um ihr gate zu finden | wenn | sie | von flug | vom fl | vom hauptbahnhof starten | sie steigen in den hauptbahnhof ein | sie fahren mit dem transrapid | in zehn minuten | an den flughafen | in | an den flughafen franz josef strauß | dann | starten sie praktisch hier am hauptbahnhof | in münchen | das bedeutet natürlich | dass | der hauptbahnhof | im grunde genommen | näher an bayern | an die bayerischen städte | heranwächst | weil | das ja klar ist | weil | auf dem hauptbahnhof | viele linien | aus bayern | zusammenlaufen 128 „Chunks“ im Sinne von Miller (1956) bilden aus den gleichen Gründen auch die Grundlage der „idea units“ bei Chafe (1994), siehe Kapitel 4.6. Faktisch gibt es in der LUG keine Obergrenze für chunks; die Wahrscheinlichkeit, dass Versuchspersonen eine PUB setzen, wächst jedoch mit jedem weiteren Wort an (Sinclair & Mauranen 2006: 6); daher gibt es beim chunking auch bloß eine Regel: eher eine Grenze zu viel zu setzen, als zu wenig - „in cases of doubt it is preferable to introduce a boundary.“ (Sinclair & Mauranen 2006: 51) 129 Ich danke den Mitgliedern des DFG-Projektes zu „Grammatik und Dialogizität: Retraktive und projektive Konstruktionen im interaktionalen Gebrauch“ (GU 366/ 5-1) für die Bereitschaft, sich in einer unserer Projektsitzungen am chunking dieses Textes beteiligt zu haben. Das intuitive Verfahren ist also durch gleiche oder ähnliche Ergebnisse von Seiten von Susanne Günthner, Jörg Bücker, Marcel Fladrich, Wolfgang Imo, Yvonne Mende und Lars Wegner abgesichert. <?page no="216"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 206 5.2.2.2 Analyseschritte 2-4: „Types of chunks“, „Types of organizational elements“, „Types of increments to shared experience“ Schritt 2 besteht darin, die chunks einer der beiden Kategorien zuzuordnen: inhaltlich (kurz „M“ für message-incremental) oder gesprächssteuernd (kurz „O“ für organisational). Ab dieser Stelle, an der die strukturelle Funktion der chunks im Kommunkationsprozess identifiziert worden ist, werden sie auch als „Elemente“ dieser Struktur bezeichnet. 130 Writing characteristically does not take place in real time, nor in the presence of the readers, hence many of the organisation units that focus on interaction are not required, or required only occasionally. However, in writing greater prominence is given to the kind of text-oriented organisational units that handle the relations between increments, because the demand for text to be coherent is very strong. ( In Schritt 3 werden die O-Elemente subklassifiziert, je nachdem ob sie ihre Arbeit eher auf der Ebene des interpersonalen Interaktionsmanagements leisten (OI) oder intertextuelle Kohärenz herstellen (OT). In geschriebenen Texten fällt der erste Aspekt (textsortenabhängig) fast vollständig weg, wird aber teilweise durch verstärkte Textorganisation wieder kompensiert. Sinclair & Mauranen 2006: 133) Schritt 4 besteht in dem weit wichtigeren Schritt der Subklassifizierung der (message)-incremental chunks (M). Hier steigen viele traditionelle Grammatiken aus dem linearen Verlauf in der Echtzeit aus oder verlieren sich laut Sinclair & Mauranen (2006: 53) in der minutiösen Kategorisierung der Teilstücke. Die Anzahl der Kategorien in der LUG wird stattdessen so gering wie möglich gehalten. Im Kern basiert die Unterscheidung der M-Typen darauf, inwieweit ein Element selbstständig ist und - falls nicht - in welcher Beziehung es zu anderen Elementen steht, die es komplementieren. Zeitlich-lineare Organisationstrukturen und Organisationszusammenhänge zwischen Teilstücken bleiben bei der „Linear Unit Grammar“ - ähnlich wie bei dem Konzept der Projektionen und Retraktionen in der On-line-Syntax (vgl. Kapitel 5.4) - erhalten. 130 Vgl. zu Fragen der Terminologie in der LUG Sinclair & Mauranen (2006: XIX-XXI); die dortigen Ausführungen und Definitionen ändern allerdings wenig daran, dass die Begriffe „chunk“, „unit“, „element“ und „increment“ für verwirrend ähnliche, konkurrierende Konzepte in der LUG gebraucht werden. <?page no="217"?> 5.2 „Linear Unit Grammar“ (John McH. Sinclair & Anna Mauranen) 207 Tabelle 10: Analysekategorien im Rahmen der LUG O organisational element OI interactive organisational element OT text-oriented organisational element M message-oriented element MF message fragment Mincomplete message unit +M completion of message unit +Mpartial completion of message unit MS supplement to message unit MA adjustment to message unit MR revision to message unit Auf Beispiel 13 angewendet, stellt sich das Ergebnis des Aufbereitungsprozesses nach Durchlaufen der Stufen 1-4 folgendermaßen dar: Beispiel 15: Edmund Stoibers Rede zum Transrapid mit typisierten chunks 1. wenn OT 2. sie M- 3. ah OI 4. vom hauptbahnhof +M- 5. in münchen MS 6. mit zehn minuten +M- 7. ohne dass OT 8. sie M- 9. am flughafen MS 10. noch einchecken müssen +M 11. dann OT 12. starten sie im grunde genommen M- 13. am flughafen +M 14. am MF 15. am hauptbahnhof MR 16. in münchen MS 17. starten sie ihren flug +M 18. zehn minuten MF 20. schauen sie sich mal die großen flughäfen an M 21. wenn OT 22. sie M+ 23. in heathrow +M- 24. in london MS <?page no="218"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 208 25. oder OT 26. sonstwo +M- 27. meine se MF 28. chä MF 29. charles de gaulle +M- 30. äh OI 31. in frankreich MS 32. oder OT 33. in M- 34. äh OI 35. in MF 36. in MF 37. äh OI 38. in MF 39. äh OI 40. rom +M 41. wenn OT 42. sie sich mal die entfernungen ansehen M 43. wenn OT 44. sie frankfurt sich ansehen M 45. dann OT 46. werden sie feststellen M- 47. dass OT 48. zehn minuten sie jederzeit locker +M- 49. in frankfurt MS 50. brauchen +M 51. um ihr gate zu finden MS 52. wenn OT 53. sie M- 54. von flug MF 55. vom fl MF 56. vom hauptbahnhof starten +M 57. sie steigen in den hauptbahnhof ein M 58. sie fahren mit dem transrapid M 59. in zehn minuten MS 60. an den flughafen MS 61. in MF 62. an den flughafen franz josef strauß MR 63. dann OT 64. starten sie praktisch hier am hauptbahnhof M 65. in münchen MS 66. das bedeutet natürlich M- 67. dass OT 68. der hauptbahnhof M- 69. im grunde genommen MS 70. näher an bayern +M- <?page no="219"?> 5.2 „Linear Unit Grammar“ (John McH. Sinclair & Anna Mauranen) 209 71. an die bayerischen städte MR 72. heranwächst +M 73. weil OT 74. das ja klar ist M 75. weil OT 76. auf dem hauptbahnhof M- 77. viele linien +M- 78. aus bayern MS 79. zusammenlaufen +M 5.2.2.3 Analyseschritt 5: „Synthesis“ Schritt 5 besteht aus mehreren Teilschritten, die alle dem Ziel dienen, aus einem beliebigen Ausgangstext einen schriftsprachlich korrekten Text zu machen. Dabei handelt es sich um „various omissions, concatenations and adjustments“, von denen „[e]ach one distorts the original text“ (Sinclair & Mauranen 2006: 96). Falls diese Eingriffe die Bedeutung des Textes beschneiden, besteht immer die Möglichkeit, in einem Kommentarbereich die jeweiligen Eingriffe zu dokumentieren und zu rechtfertigen. Die Teilschritte auf dem Weg zu diesem Ziel sehen aus wie folgt: 1) Entferne alle interaktiven Elemente (OI). 2) Entferne alle Fragmente (MF). 3) Vereinige die defekten Mitteilungsteile (MA) mit ihren entsprechenden Ergänzungen (+M). 4) Vereinige die unvollständigen Mitteilungsteile (M-) mit ihren entsprechenden Ergänzungen (+M). 5) Verbinde die Expansionen (MS) mit den vorausgehenden Mitteilungen (M). 6) Vereinige Wiederholungen, Reformulierungen und Reparaturen (MR) zu einem einzigen M-Element. 7) Halte, wenn nötig, die Veränderungen in einem Kommentar fest. 8) Mache alle weiteren notwendigen Anpassungen, um den Text an die schriftsprachliche Norm anzupassen. Eine Zwischenstufe auf dem Weg zur Text-„Synthese“ würde etwa wie Beispiel 16 aussehen (die Pfeile dienen hier nur dazu, den Vereinigungsprozess der Teilschritte 3-5 zu symbolisieren, und sind nicht Teil des LUG-Inventars): <?page no="220"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 210 Beispiel 16: Edmund Stoibers Rede zum Transrapid kurz vor der Synthese 1. wenn OT 2. sie M- 3. ah OI 4. vom hauptbahnhof +M- 5. in münchen MS 6. mit zehn minuten +M- 7. ohne dass OT 8. sie M- 9. am flughafen MS 10. noch einchecken müssen +M 11. dann OT 12. starten sie im grunde genommen M- 13. am flughafen +M 14. am MF 15. am hauptbahnhof MR 16. in münchen MS 17. starten sie ihren flug +M 18. zehn minuten MF 20. schauen sie sich mal die großen flughäfen an M 21. wenn OT 22. sie M- 23. in heathrow +M- 24. in london MS 25. oder OT 26. sonstwo +M- 27. meine se MF 28. chä MF 29. charles de gaulle +M- 30. äh OI 31. in frankreich MS 32. oder OT 33. in M- 34. äh OI 35. in MF 36. in MF 37. äh OI 38. in MF 39. äh OI 40. rom +M 41. wenn OT 42. sie sich mal die entfernungen ansehen M 43. wenn OT 44. sie frankfurt sich ansehen M 45. dann OT <?page no="221"?> 5.2 „Linear Unit Grammar“ (John McH. Sinclair & Anna Mauranen) 211 46. werden sie feststellen M- 47. dass OT 48. zehn minuten sie jederzeit locker +M- 49. in frankfurt MS 50. brauchen +M 51. um ihr gate zu finden MS 52. wenn OT 53. sie M- 54. von flug MF 55. vom fl MF 56. vom hauptbahnhof starten +M 57. sie steigen in den hauptbahnhof ein M 58. sie fahren mit dem transrapid M 59. in zehn minuten MS 60. an den flughafen MS 61. in MF 62. an den flughafen franz josef strauß MR 63. dann OT 64. starten sie praktisch hier am hauptbahnhof M 65. in münchen MS 66. das bedeutet natürlich M- 67. dass OT 68. der hauptbahnhof M- 69. im grunde genommen MS 70. näher an bayern +M- 71. an die bayerischen städte MR 72. heranwächst +M 73. weil OT 74. das ja klar ist M 75. weil OT 76. auf dem hauptbahnhof M- 77. viele linien +M- 78. aus bayern MS 79. zusammenlaufen +M Die Rohdaten des Beispieltextes werden also verschiedenen Operationen unterworfen, die dazu dienen, die Elemente, die nicht zum Verständnis des Textes beitragen, auszusondern. Dieser Analyseprozess erfolgt schrittweise: Als erstes werden alle gesprächssteuernden Elemente (OI) eliminiert (3, 30, 34, 37, 39). Daraufhin werden die fragmentarischen Inhaltselemente (MF) ausgesondert (14, 18, 27, 28, 35, 36, 38, 54, 55, 61). Anschließend werden unvollständige Anfänge von Inhaltselementen (MA und M-) den entsprechenden Elementen zugeordnet, die deren Inhalt komplettieren (+M). Als nächstes werden Expansionen bzw. die „supplements to message units“ (MS) den ihnen am nächsten liegenden Ms zugeordnet, so dass die Einheitengrenze zwischen M und <?page no="222"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 212 abhängigen MS in der Regel verschwinden kann (5, 9, 16, 24, 31, 49, 51, 59, 60, 65, 69, 78). Außerdem werden alle Reformulierungen (MR) eingearbeitet bzw. überschrieben (15, 62, 71). Durch die Konkatenation der abhängigen Inkremente (MA, MS, MR, +M, M-, +M-) wird aus unselbstständigen message elements ein selbstständiges message unit (LUM) (siehe auch den Kommentar zur Terminologie in FN 130). A message unit is a coherent stretch of text whose meaning is interpreted according to the structural conventions of the language. Its purpose is to update the virtual world of shared experience of the participants in the spoken or written interaction by means of topic incrementation. (Sinclair & Mauranen 2006: XXI) Da MF (message fragments) und OI (interaction organisers) nicht zur Erneuerung der virtuellen Welt geteilter Erfahrungen beitragen, sind sie auch nie Teil eines topic increment oder LUM (Linear Unit of Meaning), sondern werden vor der Ausgabe des endgültigen Textes eliminiert, auch wenn ihre interaktive Funktion oder ihr eventueller Beitrag zum Inhalt in einem Kommentarbereich festgehalten werden kann. Die bisher vorgenommenen Auslassungen, Verknüpfungen und Anpassungen haben den Originaltext stark verändert. In den Fällen, in denen diese Eingriffe zu einer Bedeutungsveränderung führen, müssen Kommentare und Erläuterungen notiert werden, die die bis dahin genannten Veränderungen legitimeren. Der letzte Schritt besteht darin, Orthografie und Interpunktion den Konventionen der Schriftsprache anzupassen. Das Endergebnis nach Durchführung aller 8 Operationen aus Stufe 5 sieht folgendermaßen aus: Beispiel 17: Edmund Stoibers Rede zum Transrapid nach der Synthese Wenn sie vom Hauptbahnhof in München innerhalb von zehn Minuten zum Flughafen kommen, ohne dass sie am Flughafen noch einchecken müssen, dann starten sie im Grunde genommen am Hauptbahnhof in München ihren Flug. Schauen sie sich mal die großen Flughäfen an! Wenn sie sich in Heathrow in London oder Charles de Gaulle in Frankreich oder in Rom oder in Frankfurt mal die Entfernungen ansehen, dann werden sie feststellen, dass sie jederzeit locker zehn Minuten in Frankfurt brauchen, um ihr Gate zu finden. Wenn sie vom Hauptbahnhof starten, steigen sie am Hauptbahnhof ein und sie fahren mit dem Transrapid in zehn Minuten an den Flughafen Franz-Josef-Strauß. Dann starten sie praktisch hier am Hauptbahnhof in München. Das bedeutet natürlich, dass der Hauptbahnhof im Grunde genommen näher an die bayerischen Städte heranwächst, weil auf dem Hauptbahnhof viele Linien aus Bayern zusammenlaufen. Das Ergebnis dieses mehrschrittigen Vorgangs sind „Linear Units of Meaning“ (LUMs), d. h. ein linearer Text, dessen Abschnitte durch Annotierung nach ihrer Funktion (O oder M) gekennzeichnet sind und die darüber hinaus noch eine Kommentarzeile mit Informationen darüber enthalten, wie es zu dieser (Sub)Kategorisierung kam. <?page no="223"?> 5.2 „Linear Unit Grammar“ (John McH. Sinclair & Anna Mauranen) 213 5.2.3 Leistungen und Grenzen Die „Linear Unit Grammar“ ist angetreten, „to bridge the gap between text and grammar by introducing a new point of departure for grammatical analysis.“ (Sinclair & Mauranen 2006: 103) Bisherige Versuche, die Ergebnisse aus der Konversations- und Diskursanalyse in die traditionellen Modelle der Grammatik zu integrieren bzw. gesprochene und geschriebene Sprache unter einem Dach zu behandeln, wurden von Sinclair & Mauranen (2006: 9) in ihrer Einleitung selbstbewusst diskreditiert: „At present the principal technique for yoking both together is to see spoken text as a degenerate version of writing, and this book is, we hope, a strong testament against that position.“ Die breite Korpusgrundlage ist als vorbildlich anzusehen, da sie ganz bewusst den Mythos der Homogenität von Sprache zerstört, sowohl bezogen auf die verschiedenen Textsorten in der Schriftlichkeit, als auch auf die (kommunikativen) Gattungen in der Mündlichkeit. Schließlich gibt es weder eine einheitliche gesprochene noch eine einheitliche geschriebene Sprache, sondern es gibt sie „immer nur in Form von Exemplaren je konkreter Praktiken.“ (Fiehler 2000a: 100) Am Ende stellt sich jedoch auch für die LUG die Frage, ob sie ihr selbstgestecktes Ziel erreicht hat und ob es sich wirklich um eine geeignete Form einer einheitlichen, varietätenunabhängigen Sprachbeschreibung handelt. Alle Arten von Texten sollen der LUG als Input dienen - egal ob Small Talk, Beipackzettel, Kochrezept, Gesetzesvorlage oder Gedicht. Das ist tatsächlich ein großer Vorteil gegenüber Standardgrammatiken. Ihr Output unterscheidet sich jedoch verdächtig wenig von den schriftsprachlichen Beispielsätzen, die die Geschichte der Grammatikforschung bis heute dominieren (vgl. Kapitel 4.8.1). Am Ende der Transformation sind die charakteristischen Eigenheiten besonders der mündlichen Daten verschwunden und die metaphorische Verwendung des Wortes „aufräumen“ („tidying up“ Sinclair & Mauranen (2006: 96) ist nur ein weiteres Indiz dafür, dass das gesprochensprachliche Originalmaterial als verunreinigt oder zumindest ungeordnet angesehen wird. Die Autoren wehren sich jedoch gegen jede Kritik, es handle sich bei den „Prozeduren“ der LUG um eine illegitime Form der Datenaufbereitung oder -bereinigung: A Linear Unit Grammar is not a preprocessor, but it overlaps in function while working on entirely different principles. LUG takes fairly raw data and knocks it into shape for input to a conventional grammar, developing it from problematic material to something close to well-formedness. In contrast, preprocessing is essentially a kind of complex proof-reading which aims at naturalizing the text to arbitrary conventions of the analytic process. It is not principled and it is essentially manual although sometimes machine-assisted. In contrast LUG is systematic and replicable; it does not occupy an uneasy position between the data and the grammar because it provides the basis on which the grammar will be built. (Sinclair & Mauranen 2006: 50) <?page no="224"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 214 Eigentlich könnte die Kritik am Aufbereitungsvorgang schon viel früher ansetzen. Schließlich rühmt sich die LUG jede „alphanumerische Zeichenkette“ als Ausgangbasis ihrer Analyse zu akzeptieren. Dahinter verbirgt sich eine teilweise naive Vorstellung vom Vorgang der „Ver-schriftung“ von Gesprächen. Der gesamte Bereich der Prosodie geht an dieser Stelle schon verloren - und das, obwohl die LUG Atemeinheiten als mögliche Quellen des chunking in Erwägung zieht. Regionale, umgangssprachliche und dialektale Variation fällt der Vereinheitlichung nach orthografischen Regeln zum Opfer. Dialogische Aspekte und Aspekte der Rederechtsverteilung gehen ebenfalls nach den ersten Analyseschritten unter bzw. werden auf eine fragwürdige (diskursanalytische) Rollenunterscheidung reduziert: From a purely textual perspective there are always and only just two participants in a discourse. They are called I and you, and they are the only definite points where a text relates to the world outside. […] individuals are not, formally speaking, discourse participants; they can equally be seen as transient attributes of the I or you roles. (Sinclair & Mauranen 2006: 141) Sinclair und Mauranen sehen den Detail- und Informationsverlust bezüglich der Gesprächsstrukturen im Zuge der Aufbereitung gelassen, da sich der Inhalt eines Gesprächs auch ohne das Wissen um die Beitragenden und den genauen Interaktionsverlauf wiedergeben und untersuchen lässt. Die LUG korrigiert den einseitigen Fokus gesprächslinguistischer Forschung auf Fragen des Sprecherwechsels und Rederechts (vgl. auch Sinclair & Mauranen 2006: 103) und konzentriert sich auf die vernachlässigte ganzheitliche Betrachtung des inhaltlich-thematischen Zusammenhangs geschriebener und gesprochener Texte: Features of the delivery, of contextual conditions, even of who said what, are not given the same prominence that they have in the familiar descriptions of verbal interaction; this analysis highlights the achievement of a coherent sharing of verbal experience. (Sinclair & Mauranen 2006: 22) Trotz dieser offensichtlichen Informationsverluste im Laufe der Verarbeitung in der LUG darf nicht übersehen werden, dass es auch zu einer Informationsanreicherung kommt. Der innovative Gedanke, dass sich jeder Text als Alternation von zwei unterschiedlichen Typen von Elementen beschreiben lässt, unterscheidet sie von anderen Modellen. Die Hauptfunktion der LUG, nämlich „to show step by step how a latent hierarchy can be discerned in the linear string of word forms“ (Sinclair & Mauranen 2006: XV), ähnelt wiederum den Konzepten der On-line-Syntax (Kapitel 5.4). Andere sich ergebende Parallelen sind die Projektionen - oder wie Sinclair und Mauranen es nennen - „Prospektionen“ (Projektion und Prospektion sind offensichtlich eng verwandte Begriffe: während Projektion eine eher syntaktische Sicht beschreibt, betont Prospektion den aktiven Part der Teilnehmer): „Structure […] helps in the identification of components, and it allows the reader or listener to prospect ahead and make informed guesses about what is likely to come“ (Sinclair & Mauranen 2006: 135, Hervorhebung im Original). <?page no="225"?> 5.2 „Linear Unit Grammar“ (John McH. Sinclair & Anna Mauranen) 215 Die „vortheoretische“ Natur von chunks macht die ansonsten sehr sinnvolle Idee zunichte, Kommunikate in Bezug auf den Grad ihrer Vollständigkeit zu beurteilen. Dieser Aspekt der linearen Anreihung und prinzipiellen Ausbaufähigkeit von chunks darf in der Grammatik der gesprochenen Sprache nicht zu kurz kommen. Unlike the notion of ‚well-formedness‘, conformity to received grammatical norms is a relatively minor criterion compared with whether the participant, at any point during an emerging utterance, is in a state of expectation of more information in order to complete the interpretation of the utterance up to that point. (Sinclair & Mauranen 2006: 137; Hervorhebung im Original) Auch wenn die natürliche, intuitive Kompetenz zum „chunking“ laut vgl. Sinclair & Mauranen (2006: XX, 6, 51 FN 1, 130) durch analytische Zergliederung zerstört werden würde, bleibt die Forderung nach einer transparenten Offenlegung der zugrundeliegenden Prinzipien unabdingbar für eine weitere wissenschaftliche Nutzung. Ohne objektivierbare Kriterien erhält man auch keine operationalisierbaren Kategorien. Was die Konkurrenz mit anderen Grammatiken anbetrifft, sind die Ansprüche, die die LUG an sich selbst stellt, recht bescheiden: Linear Unit Grammar is thus not a competitor with established grammars, but a complement to them; at the end of a LUG description the text should be available for input into an established grammar. (Sinclair & Mauranen 2006: 142) Die Programmatik der LUG, so wie sie in der Einleitung skizziert wurde, hat relativ große Hoffnungen geweckt und auch die einleitenden theoretischen Kapitel ließen einen radikal neuen Ansatz gegenüber traditionellen grammatischen Formalismen für die Beschreibung von Satz-Strukturen erwarten. Stattdessen besteht der Output der LUG ganz einfach aus einer „bereinigten“ Version der Ausgangsdaten, die dazu geeignet ist, „to be handled in a normal grammar“ (Sinclair & Mauranen 2006: 103). Am Ende besteht der einzige Zweck der LUG (so wie sie im Moment entwickelt ist) darin, eine Aufbereitungsmethode für Sprachdaten zu sein, um sie einer konventionellen syntaktisch-funktionalen Analyse zuzuführen. Alles, was durch die Analyse gewonnen wird, sind ein paar Erkenntnisse über die Organisation von Äußerungen, aber das ist lediglich ein Nebenprodukt, degradiert zu „notes and comments on aspects of the interaction which contribute to the incremental meaning“ (Sinclair & Mauranen 2006: 91). Es stellt sich die Frage, inwieweit die LUG darüber hinausgeht, ein bloßer Filter zu sein, der „chaotische“ gesprochene Dialoge in grammatisch wohlgeformte Sätze umwandelt. Linear Unit Grammar is a descriptive apparatus and method which aims at integrating all or most of the superficially different varieties of English; it does not attempt to replicate the kind of analysis that received grammars perform, but organises the text <?page no="226"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 216 into tractable units for further analysis, whether conventional or any more innovative analysis. Its main function is to show step by step how a latent hierarchy can be discerned in the linear string of word forms.(Sinclair & Mauranen 2006: XV) Auch wenn aus der Sicht der Korpuslinguistik oder Computerlinguistik eine solche Daten- „Aufbereitung“ akzeptabel ist, lassen sich aus gesprächsanalytischer Sicht gerade an dieser Stelle bezogen auf die vermeintlich verlustfreie Transformation von Rohdaten zu analysierbaren Texten, so wie sie in Schritt 5 (vgl. Kapitel 5.2.2.3) vorgesehen ist, erhebliche Einwände vorbringen: Step Five offers a procedure for reducing the original text into a reasonably coherent, reasonably „well-formed“ string, which has removed those features of the original text which were exclusively concerned with the interaction, and recombined the fragmented incremental elements into units which might well be acceptable input into conventional grammars. (Sinclair & Mauranen 2006: 53f.) Dahinter verbirgt sich eine Vorstellung davon, worin der eigentliche Zweck sprachlicher Interaktion besteht. Sprachbenutzer erinnern sich an den Inhalt von Gesprächen, nicht an die Mittel, die nötig waren, um ein Gespräch in Gang zu bringen oder aufrechtzuerhalten. Daher kann im Modell der „Linear Unit Grammar“ ein Gespräch für die Konservierung seines Inhalts von allen sprachlichen Formen, die allein dem Interaktions-Management dienen, bereinigt werden, sowie um gescheiterte Formulierungsversuche und Wiederholungen. Diese Zweckoptimierung wird von Sinclair und Mauranen nicht stringent angewendet. Bei den literarischen Texten von James Joyce zögern Sinclair & Mauranen (2006: 120-123), indem sie dem „Gestammel“ doch einen Zweck zuschreiben: Es hat eine literarisch-ästhetische Funktion. Warum diese Funktion im Sinne einer „Gesprächsrhetorik“ (Kallmeyer 1996) den Verfassern von Alltagsgesprächen vorenthalten wird, scheint aus gesprächslinguistischer Perspektive rein akademischer Dünkel zu sein. Eine andere, nicht unerhebliche Gefahr geht von dem einseitigen Zuschnitt auf die englische Sprache aus. Wenn schon nicht für die englische Sprache, dann stellt sich doch für die deutsche Sprache und viele anderen Sprachen die Frage, ob sich Gesprächsorganisation und Gesprächsinhalt immer trennscharf unterscheiden lassen. Zum Beispiel sind Konnektoren (Sinclair & Mauranen 2006: 14) und Satzadverbiale (Sinclair & Mauranen 2006: 158) prinzipiell nicht Teil der message-increments (M). Dafür lassen sich in der englischen Sprache aufgrund der Interpunktionsregeln bzw. prosodischer Realisierungsformen (Pause, Tonhöhensprung) Argumente finden. In der deutschen Sprache hinterlässt die kategorische Aussortierung aller Konnektoren im Falle von untergeordneten Nebensätzen ein M-Element, das durch die Verbletztstellung auch ohne Subjunktor noch Spuren seiner textuellen Verknüpfung trägt. Auch in Beispiel 15 erscheint die schablonenhafte Isolierung der OT-Elemente kontraintuitiv und ist nicht zuletzt aufgrund der starken prosodischen Integration, besonders im Fall von wenn (Beispiel 13, Zeile 01, 11, 18, 19, 23) und weil <?page no="227"?> 5.2 „Linear Unit Grammar“ (John McH. Sinclair & Anna Mauranen) 217 (Zeile 31, 32), völlig unmotiviert. Hier stellt sich die Frage, ob das Problem nicht über einzelsprachliche Besonderheiten hinaus geht und tiefere Ursachen hat: Da bei der Kategorisierung und Analyse im Rahmen der LUG semantische und syntaktische Aspekte eigentlich immer nur nebeneinander herlaufen, statt tatsächlich zusammengeführt zu werden, stellt sich die prinzipielle Frage, mit welchem Recht man von der LUG überhaupt als einer Grammatik im eigentlichen Sinn sprechen kann. Trotzdem ist der Versuch, vom traditionellen hierarchisch-grammatischen Paradigma Abschied zu nehmen, ein mutiger Schritt und da die LUG noch ganz am Anfang steht, gibt es hier noch viel Potential. Angesichts dessen kann man nicht erwarten, dass alle Aspekte einer linearen Grammatik abgedeckt werden. Das Hauptaugenmerk der Autoren liegt nicht auf der Entwicklung eines vollständig ausgearbeiteten Systems zur Beschreibung syntaktischer Strukturen von Äußerungen. Stattdessen wird anschaulich vorgeführt, dass die große Mehrheit authentischer Äußerungen (nach Meinung der Autoren) ungeeignet ist, um mithilfe traditioneller Grammatik beschrieben zu werden. Linearität als Organisationsprinzip zu begreifen und als Ausgangspunkt für jede weitere Analyse zu verstehen und außerdem unterschiedliche Texte unterschiedlicher Herkunft mit einzubeziehen, sind die wohl innovativsten Aspekte der LUG. Die Idee, natürlichsprachliche Äußerungen in eine bereinigte Form zu bringen, ähnelt dem Programm des Logischen Positivismus in der Sprachphilosophie (z. B. Rudolf Carnap (1928) oder Ludwig Wittgenstein (1922) zu Zeiten des Tractatus) und ist auch in der formalen Semantik zu finden (Montague & Thomason 1974, Reichenbach 1947). Dabei galten die Reinigungsversuche jedoch vor allem den deiktischen Ausdrücken einer Sprache (ich, jetzt, hier etc.). Indexikalität ist aber - um es mit Garfinkel zu sagen - unheilbar. Das „Bereinigen“ des Ausgangsmaterials hat seine Tücken und ist nicht grundlos von der Konversationsanalyse als „methodologischer Sündenfall“ verdammt worden: If, whenever housewives were let into a room, each one, on her own, went to some same spot and started to clean it, one might conclude that the spot surely needed cleaning. On the other hand, one might conclude that there is something about the spot and about the housewives that makes the encounter of one by the other an occasion for cleaning, in which case the fact of the cleaning, instead of being evidence of dirt, would be itself a phenomenon. Indexical expressions have been ‚studied‘ and have been dealt with in identical fashion times without end, not only in naivety, but more interestingly, in apparently required disregard of previous achievements. (Garfinkel & Sacks 1970: 347) Früher oder später folgt eine solche Aufbereitung dem ‚gesunden Menschenverstand‘ oder anders gesagt der Intuition des Wissenschaftlers oder der Wissenschaftlerin. Wenn Sprache-in-Interaktion erst paraphrasiert werden muss, um zu begreifen, was ein Gesprächsteilnehmer mit seiner Äußerung eigentlich hatte sagen wollen, dann wird die Paraphrase, <?page no="228"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 218 mithin ein imaginiertes Artefakt, zum Gegenstand linguistischer Analyse. Dadurch ist die Paraphrase nicht nur Ergebnis, sondern zugleich Ausgangspunkt einer Analyse. Auf diese Weise wird die Möglichkeit verschenkt, sich mit dem originalen nicht-imaginierten Untersuchungsgegenstand auseinanderzusetzen. Wenn zum Beispiel Ellipsen und Aposiopesen gemäß einer intuitiven Fortsetzungserwartung komplettiert werden, und diese Vollform als Grundlage für eine Untersuchung herhält, verschwindet die Möglichkeit, das Unvollständiglassen einer Äußerung als gesprächsrhetorische Technik zu überprüfen, die einer systematischen Ordnung folgt und zu interaktiven Zwecken eingesetzt wird. Auch Auer (2010b) kritisiert, das Segmentierungsproblem in Grundeinheiten der gesprochenen Sprache dadurch zu lösen, dass das Ausgangsmaterial „segmentierbar“ gemacht wird, indem wesentliche Strukturmerkmale der gesprochenen Sprache von vornherein ausgefiltert werden. Die methodologischen Forderungen des (taxonomischen) Strukturalismus nach Exhaustivität und Atomizität der gewonnenen Einheiten sind auf triviale Weise erfüllt, lässt man Abbrüche, Wiederholungen und Reparaturen von vornherein weg. Dieses Filtern oder Ausbessern kommt letztendlich einer schriftsprachlich voreingenommenen Brille gleich, durch die Gesprochene Sprache betrachtet wird: All das, was sie am meisten von der Geschriebenen unterscheidet, wird ausgeblendet. Eine solche Methodologie kann die Gesprochene Sprache nur als defizientes Derivat der Geschriebenen erfassen und ist heute zu recht nicht mehr diskutabel. (Auer 2010b: 3) Weil der Mehrwert der LUG vor allem in einer vereinheitlichten Beschreibung von geschriebener und gesprochener Sprache liegt und sie bei der nachfolgenden syntaktischen Analyse auf ein „klassisches“ oberflächennahes Grammatikverständnis setzt, muss nach den Defiziten ihres Transformationsprozesses auf die Limitationen ihrer grammatischen Analysekategorien an dieser Stelle nicht eingegangen werden, da sie den Anspruch, den sie sich setzt, von vornherein nicht erfüllt. Letzten Endes generiert die LUG ein Artefakt, das sich von der Realität von Sprache in der kommunikativen Praxis erheblich unterscheidet. Alle weiteren Untersuchungsergebnisse stehen und fallen mit der Berechtigung, die jedem einzelnen Transformationsschritt zukommt. Die Diskrepanz zwischen der Ausgangs- und Endversion unseres Beispieltextes macht deutlich, dass erhebliche Zweifel an der Legitimation und Sinnhaftigkeit dieser Manipulationen angebracht sind. Wie schon im Falle von anderen Idealisierungen - des idealen Sprechers und Hörers innerhalb einer vollständig homogenen Sprachgemeinschaft bei Chomsky (1965: 3) oder des Prinzips des maximalen Informationsaustauschs bei Grice (1975: 45) - führt die dogmatische Vorstellung von Wesen und Zweck sprachlicher Kommunikation immer zu einer einseitigen Bewertung und Gewichtung sprachlicher Mittel. Dadurch bleibt die LUG von einer echten Integration spezifisch mündlicher Phänomene in die Grammatikschreibung im Vergleich zu den ebenfalls empirisch fundierten Ansätzen in den modernen Grammatiken des Englischen (z. B. Biber & Quirk 2007) oder Deutschen <?page no="229"?> 5.3 „Pattern Grammar“ (Susan Hunston & Gill Francis) 219 (vgl. Fiehler 2006, Weinrich & Thurmair 2005, Zifonun et al. 1997) weit entfernt. Da die Anpassung je nach Textsorte sehr unterschiedlich ausfällt, das Endergebnis dagegen ausgesprochen homogen ist, unterscheidet sich die LUG letzten Endes nur geringfügig von ihren Vorläufern, und am Ende bleibt dann doch der Eindruck, den es eigentlich zu widerlegen galt: „the spoken form is seen as written language with added problems“ (Sinclair & Mauranen 2006: 4). 5.3 „Pattern Grammar“ (Susan Hunston & Gill Francis) You shall know a word by the company it keeps. - John Rupert Firth (1957: 11) Auf den ersten Blick scheint das Konzept einer „Pattern Grammar“ (Hunston & Francis 2000) nicht besonders viel mit dem zeitlichem Verlauf und der Prozesshaftigkeit von Äußerungen gemein zu haben und daher in dieser Liste fehl am Platz zu sein. Schließlich lässt sich über die Musterhaftigkeit (vgl. Terrell et al. (1991) s. v. engl. pattern „Muster, Schnittmuster, Vorbild, Schema, Struktur“) sprachlicher Äußerungen auf den ersten Blick erst dann urteilen, wenn sie zur Gänze produziert worden sind. Solche ex post Analysen sind jedoch immer verbunden mit einer Produktkonzeptualisierung von sprachlichen Phänomenen, die eigentlich Prozesscharakter haben. Warum das im Fall der „Pattern Grammar“ nicht gilt und sie trotzdem hier aufgenommen wurde, liegt an ihrer Idee, „patterns“ nicht nur als Konstituentenhierarchien zu verstehen, sondern auch als lineare Abfolge komplexer syntaktischer Konstruktionen in der Zeit ganz im Sinne von Brazils „Grammar of Speech“ (Kapitel 5.1), der „Linear Unit Grammar“ von Sinclair und Mauranen (Kapitel 5.2) oder Auers „On-line-Syntax“ (Kapitel 5.4). 5.3.1 Ausgangspunkt: Muster, Phraseme, Konstruktionen Die „Pattern Grammar“ ist der letzte Spross der „Collins COBUILD grammar patterns series“ und versucht als solche, die Erfahrungen aus den vorangegangenen Bänden zusammenzufassen, theoretisch zu fundieren und mögliche zukünftige Anwendungsperspektiven aufzuzeigen. In den beiden Grammatikbänden der Reihe zu Verben (Francis et al. 1996) bzw. Substantiven und Adjektiven (Francis et al. 1998) wurde versucht, „to show all the patterns of all the lexical items in the Collins COBUILD English Dictionary, and within each to show all the lexical items that have that pattern.“ (Hunston & Francis 2000: 35) Die daraus entwickelte „Pattern Grammar“ sieht sich zwar in direkter Abstammungslinie einer langen phraseologischen Tradition, der jedoch durch die modernen computerba- <?page no="230"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 220 sierten Möglichkeiten, große Sprachdatenbanken korpuslinguistisch auszuwerten, ganz neue Perspektiven eröffnet wurden, die sowohl sprachtheoretische als auch anwendungsbezogene Implikaturen haben. Wie die anderen theoretischen Ansätze, die auf „patterns“ basieren, stellt die „Pattern Grammar“ die strikte Trennung zwischen Lexikon und Grammatik in Frage, wie sie spätestens seit dem Strukturalismus und besonders seit dem Aufkommen von Chomskys Arbeit vorherrscht. Dass irgendwo im Zwielicht zwischen Wörtern und ihren Verknüpfungsregeln ein Bereich besteht, in dem feste Wortverbindungen Eigenschaften beider Module in sich tragen, wird zwar kaum von irgendjemandem geleugnet, ist je nach theoretischer Ausrichtung jedoch wahlweise als Problem oder als Segen formuliert worden bzw. als Ausnahme oder Regel. Die Benennungen für solche Wortverbände unterscheiden sich und spiegeln dabei bis zu einem gewissen Grad ihren theorieimmanenten Status wieder: „lexical phrases“ (Nattinger & DeCarrico 1992), „composites“ (Cowie 1988, 1992), „gambits“ (Keller & Warner 2003), „Routineformeln“ (Coulmas 1981), „phrasemes“ (Melčuk 1995), „prefabricated routines and patterns“ (Krashen 1982), „sentence stems“ (Pawley & Syder 1983), „formulae“ (Peters 1983), „formulaic language“ (Weinert 1995, Wray 1999), „constructions“ 131 Croft 2001 ( , Fillmore 1988, Fillmore et al. 1988, Goldberg 2006, Kay 2002, Lakoff 1987, Langacker 1987). Diese festen Ausdrücke sind besonders auf folgenden linguistischen Arbeitsfeldern ins Rampenlicht gerückt: Aus lexikographischer Perspektive handelt es sich bei ihnen um Anomalien. Zum einen können sie im Gegensatz zu normalen Wortverbindungen oft nur eingeschränkt oder gar nicht verändert werden. Zum anderen lässt sich ihre Bedeutung nicht rein kompositionell erschließen, was sie letztendlich zu Kandidaten für Lexikoneinträge macht (sie sind „lexikalisiert“). Die Spracherwerbsforschung misst den sprachlichen Mustern große Bedeutung bei (und zwar sowohl für den Erstals auch Zweitspracherwerb), da zu einer idiomatischen Sprachbeherrschung das Wissen um einzelne Wörter ohne deren dazugehörigen Kollokationsregeln nicht ausreicht. Zuletzt spielen „patterns“ in der Psycholinguistik eine zunehmend große Rolle, weil sich immer mehr die Überzeugung durchsetzt, dass die strikte Trennung zwischen Lexikon und Grammatik nicht haltbar ist. Es ist damit zu rechnen, dass Wörter mehrfach abgelegt sind - einzeln und als Teil größerer Wendungen - und dass die daraus folgende Redundanz weit größer ist als bisher angenommen (vgl. z. B. Tomasello 2003, Tomasello & Brooks 1999). 131 Obwohl das Gebiet der Konstruktionsgrammatik(en) ständiger dynamischer Veränderung unterworfen ist, unter denen auch der Versuch eines stärker interaktional ausgerichteten Ansatzes ist (Deppermann 2006, Fischer & Stefanowitsch 2007, Günthner et al. 2014), wurde bei der Auswahl von Grammatikmodellen im Zusammenhang mit der Zielsetzung dieser Arbeit der „Pattern Grammar“ der Vorzug gegeben, da sie ganz explizit die zeitliche Emergenz syntaktischer Muster als Ausgangspunkt ihrer Modellierung nimmt. In den meisten bisherigen Studien der Konstruktionsgrammatik wird dagegen der „prozessuale Charakter von Konstruktionen in ihrer zeitlichen Entfaltung […] ebenso ausgeklammert wie ihre dialogische Orientierung.“ (Günthner 2009b: 405) <?page no="231"?> 5.3 „Pattern Grammar“ (Susan Hunston & Gill Francis) 221 5.3.2 Korpusgesteuerte Linguistik: von „grammatical patterns“ zur „Pattern Grammar“ Hunston & Francis (2000: 37) eigene Definition 132 The patterns of a word can be defined as all the words and structures which are regularly associated with the word and which contribute to its meaning. A pattern can be identified if a combination of words occurs relatively frequently, if it is dependent on a particular word choice, and if there is a clear meaning associated with it. von „pattern“ lautet folgendermaßen: Nach Überzeugung der Autoren können keine Angaben zu einzelnen Wortbedeutungen gemacht werden, ohne gleichzeitig Angaben zu deren Distributionsregeln in bestimmten „patterns“ zu machen, da die meisten „patterns“ mit einer festen Gruppe von Wörtern verknüpft sind und viele „patterns“ sogar so spezifisch sind, dass ihre konventionelle Bedeutung gelernt werden muss. 133 This approach is what has come to be known as corpus linguistics: a way of investigating language by observing large amounts of naturally-occurring, electronicallystored discourse, using software which selects, sorts, matches, counts and calculates. ( Sprachliche Intuition ist dabei kein verlässliches Werkzeug: Hunston & Francis 2000: 15) An die Stelle der sprachlichen Intuition eines einzelnen Forschers riesige Mengen von authentischen Sprachdaten zu stellen, macht es möglich, überkommene Vorurteile über sprachliche Sachverhalte empirisch zu überprüfen und falls nötig zu revidieren. Außerdem erlaubt diese Methode, Frequenzaussagen zu machen, die sich vor allem in zwei überraschenden Erkenntnissen spiegeln: 132 Kapitel 3 in Hunston & Francis (2000: 67-81) widmet sich der Frage, was denn eigentlich kein „pattern“ sei, und ist aus mehreren Gründen aufschlussreich. Zum einen wird deutlich, dass es nicht allein die statistische Kookkurrenz von Wörtern ist, die über den Status als Pattern entscheidet, zum anderen wird deutlich, dass die „korpusgesteuerten“ Kategorien doch nicht bloß induktiv aus den Daten allein abgeleitet sind, sondern „dass die Interpretation der Daten durch den Forscher bei diesen vorgeblich rein datengesteuerten Analysen eine unverzichtbare Rolle spielt, wenngleich diese häufig implizit bleibt.“ (Stefanowitsch 2007: 156) 133 Die Bedeutungsvarianten „Angst haben vor etw.“ und „sich entschuldigen für etw.“ bei Konstruktionen mit dem prädikativen Adjektiv afraid lassen sich z. B. korrelieren mit den Konstruktionsmustern V of n/ -ing und V that / to-inf, wobei letztere Bedeutung nur mit der Ergänzung durch einen Komplement- oder Infinitivsatz vorkommt, während erstere in allen Konstruktionsmustern realisiert werden kann (vgl. die Konkordanzliste in Hunston & Francis 2000: 40ff.). Oder um es mit Sinclair (1991: 65) zu sagen: „It seems that there is a strong tendency for sense and syntax to be associated.“ <?page no="232"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 222 [F]irstly that some sequences of words co-occur surprisingly often, given that every utterance or written sentence spontaneously produced is unique; secondly, and in contrast, that even so-called fixed expressions demonstrate surprising amounts of variability [...]. (Hunston & Francis 2000: 16f.) Diesem Erkenntnisgewinn durch Analysen, die „usage-based“ bzw. „corpus-based“ sind, steht das generelle Unvermögen dieses methodischen Ansatzes gegenüber, Aussagen über sprachliche Akzeptabilität und Norm zu treffen (siehe auch FN 124). Die „Pattern Grammar“ bezeichnet ihr eigenes Vorgehen als „corpus-driven“. Statt also Hypothesen zu überprüfen und Fragen von außerhalb an das Korpus heranzutragen, werden alle Ergebnisse so theoriearm und vorurteilsfrei wie möglich aus den Daten generiert. Aus methodischen Gründen kommt sie jedoch nicht umhin, davon auszugehen, dass es so etwas wie „Wörter“ in Texten gibt. Andere Kategorien, wie sie in annotierten Korpora zum Einsatz kommen, 134 Hunston & Francis (2000: 18 werden nicht benutzt. Die Ergebnisse aus solchen annotierten Korpora werden als „corpus-based“ bezeichnet. Solche „corpus-based“ Untersuchungen haben laut ) einen technischen und einen methodologischen Haken: Das technische Dilemma besteht darin, dass automatische Annotationen bei großen Korpora die einzige, aber fehlerhafte Möglichkeit sind, so große Datenmengen überhaupt zu verarbeiten. Manuelle Annotation ist vergleichsweise akkurat, wird jedoch durch die zur Verfügung stehenden (menschlichen) Ressourcen stark limitiert. Das methodologische Risiko annotierter Korpora besteht darin, dass die Wahl der Analysekategorien in hohem Maße die gefundenen Ergebnisse festlegt, denn „with a detailed annotation system, the likelihood of discovering facts about the language that have not been previously hypothesized is severely curtailed.“ (Hunston & Francis 2000: 19) Beide Fehlerquellen sollen durch das korpusgesteuerte Vorgehen innerhalb der „Pattern Grammar“ vermieden werden. Ein annotiertes Korpus hat im Unterschied zu einem nicht-annotierten den Vorteil, dass es erlaubt, nicht nur nach einzelnen Wörtern zu suchen, sondern auch nach syntaktischen Mustern. Da das Projekt im Zusammenhang mit der Entwicklung des „Collins COBUILD English Dictionary“ (Sinclair 1995) und der zweibändigen „Collins COBUILD Grammar Patterns“ (Francis et al. 1996, 1998) entstand, bestand im Grunde gar keine Wahl, welchen der beiden Wege man einschlägt. Das Lernerwörterbuch mit 75 000 Einträgen schloss die interessante Alternative, nach Konstruktionstypen zu suchen und dann nach ihren lexikalischen Füllungen zu fragen, aus und legte die lexikographische Variante nahe, nach Wörtern zu suchen und deren Vorhandensein in Konstruktionen zu konstatieren: 134 Vgl. zum Beispiel die funktionale „SVOCA“-Klassifizierung, die sich an der englischen Schulgrammatik orientiert, oder formale part-of-speech-Kategorisierungen, die einer klassischen 8- (bzw. 9- oder 10-) Wortartenlehre folgen. <?page no="233"?> 5.3 „Pattern Grammar“ (Susan Hunston & Gill Francis) 223 […] the methodology was in most cases to move from the item (the lexical item being investigated for the dictionary entry) to the environment (the pattern), and where necessary to supplement this with movement from the environment to the item. The aim was to produce lists of items that have each pattern, each list being as complete as the sample of English consulted (the 300 million word Bank of English corpus) would allow. (Hunston & Francis 2000: 32) Wie hat man sich die Arbeit mit so einem Kollokations- und Konkordanz-Korpus vorzustellen? Als Ergebnis der automatisierten Suche nach einem bestimmten Wort erhält man einen Datensatz von Treffern, in denen das Wort vorkommt. Nach vorher festgelegten Regeln bekommt man eine bestimmte Menge des vorausgehenden und nachfolgenden Ko- Textes. So sähe ein kurzer Ausschnitt der 54300 Treffer im „Bank of English Corpus“ für das Verb explain aus (vgl. Hunston & Francis 2000: 38): 1 rs, and mash for tea,’ he explained. A few years later it’s 2 cam said then went on to explain about the barman at the sta 3 notherapist Paul McKenna explains: ‘After discussing what you 4 attempt to categorize or explain all the different types. I (…) Um von dieser Liste zu sinnvollen Angaben zu typischen Konstruktionsmustern des Verbs explain zu kommen, müssen diese ausgewertet werden. Wie schon erwähnt, handelt es sich um kein annotiertes Korpus. Statt funktionale Kategorien wie „transitiv“, „Verb + Objekt + Adjunkt“ usw. einzuführen, wie es viele Wörterbücher tun, wurde versucht, aus der Trefferliste generalisierte Muster abzuleiten und dabei so wenig abstrakte Kategorien wie möglich einzuführen. Die sich daraus ergebenden korpusgesteuerten Kategorien, die im „Collins COBUILD English Dictionary“ und der Grammatik Verwendung finden, bestehen im Wesentlichen aus folgender Liste (Hunston & Francis 2000: 45): v: verb group n: noun group adj: adjective group adv: adverb group that: clause introduced by that (realized or not) -ing: clause introduced by an ‘-ing’ form to-inf: clause introduced by a to-infinitive form wh: clause introduced by a wh-word (including how) with quote: used with direct speech Mit ihrer Hilfe lassen sich Typen von Mustern identifizieren und nach Häufigkeit staffeln. Die Darstellung ist im Vergleich zu anderen Grammatiken wesentlich „oberflächennäher“ (Hunston & Francis 2000: 45f.). Statt der üblichen linguistischen Kategorisierungen wie „transitives Verb“ oder „Verb + Objekt“ wird in den Konventionen des „Collins COBUILD <?page no="234"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 224 English Dictionary“ dafür nur die Zeichenfolge V n verwendet („Verb gefolgt von einer Nominalgruppe“). Funktionale Kategorisierungen wie z. B. die Unterscheidung zwischen der prädikativen und attributiven Verwendung von Adjektiven würden mit diesem Kategorieninventar als Abfolge ADJ n bzw. v-link ADJ kodiert. 135 vgl. Hunston & Francis 2000: 33 Diese Notation hat den Vorteil, flexibel, transparent und konsistent zu sein ( ): Flexibel, weil durch die Auszeichnung von Phrasen- und Satztypen in Kombination mit spezifischen Wörtern wie z. B. Präpositionen 136 alle Arten von Phrasen beschrieben werden können; transparent, weil sie ikonisch Satzmuster abbildet, ohne auf syntaktische Abstraktionen zurückzugreifen; konsistent, weil sie kategoriale und relationale Begriffe nicht vermischt. Beispiele für pattern-Typen mit dem Wort fantasize wären z. B.: V about n/ -ing I fantasized about writing music. V that Her husband died in 1967, although she fantasised that he was still alive. Diese lexikographische Perspektive könnte den Anschein erwecken, als wären solche „patterns“ jeweils Eigenschaften von Einzelwörtern. In einem beliebigen Satz bzw. einer beliebigen Äußerung kann jedoch jedes lexikalische Element als Ausgangspunkt für eine „pattern“-Analyse genommen werden. Daraus ergibt sich für jeden Satz ein Geflecht aus ineinander übergehenden „patterns“, die entweder untereinander verknüpft sein können oder einfach aufeinander folgen. 5.3.3 „Pattern flow“ und „pattern strings“ Inwieweit soll eine korpuslinguistische, lexikographische Arbeit zur englischen Sprache nun hilfreich sein bei der Beantwortung der Frage, wie Zeitlichkeit und Prozessualität bei der Modellierung einer Grammatik stärker berücksichtigen werden kann? Hunston und Francis vergleichen ihre Ergebnisse mit Brazils „Grammar of Speech“ und kommen zu dem Schluss, dass ihre „patterns“ zwei unterschiedliche Lesarten erlauben: eine hierarchische und eine lineare. Statt in den Teil-Ganzes-Kategorien einer Konstituentenanalyse zu denken, könnte man auch in „Schon-da“- und „Noch-ausstehend“-Begriffen denken. Letztere basieren auf dem schon bekannten Konzept der „Prospektion“ (vgl. Kapitel 5.1.5): 135 Das im Fokus stehende Element steht in Majuskeln, das sonst übliche „+“ Zeichen zwischen den Elementen wird als redundanter Informationsträger betrachtet, dessen Bedeutung in der schlichten Abfolge der Elemente aufgeht. 136 Spezifische Wörter werden durch Kursivsatz markiert: z. B. with, for, the. <?page no="235"?> 5.3 „Pattern Grammar“ (Susan Hunston & Gill Francis) 225 The reason that the notion of prospection is a useful addition to the metalanguage of patterns is that it enables us to talk about a prospection being fulfilled, and this in turn allows us to deconstruct groups and clauses and to deal with patterns linearly. For example, if we take the pattern V n n and talk about it in terms of what it ‚consists of ‘, the only way of describing the constituents is as a verb group and two noun groups. It would not be accurate to say that V n n ‚consists of ‘ a verb and two nouns. On the other hand it is perfectly reasonable to talk about the verb prospecting two nouns. Even if the first noun is not followed immediately by the second noun, this does not present a problem for a linear description provided that the metalanguage of prospection is used. (Hunston & Francis 2000: 242) Der Blick auf „patterns“ erlaubt es nun, beide Sichtweisen einzunehmen: die hierarchische und die lineare. Der Beispielsatz Christopher Leslie is wrong to say that he is the youngest MP since Bernadette Devlin würde in einer hierarchischen Darstellung folgendermaßen aussehen: V adj v-link ADJ to-inf V that V n the ADJ-SUPERL n since n Chris… Leslie is wrong to say that he is the youngest MP since Bern… Devlin. Abbildung 12: Hierarchische Konstituentenansicht (vgl. Hunston & Francis 2000: 210) Eine lineare Darstellung (vgl. Abbildung 13) hätte dagegen den zeitlichen Verlauf in Anschlag zu bringen. Das Wissen, dass Wörter nicht isoliert auftreten, sondern in der Regel mit spezifischen syntaktischen Mustern assoziiert sind, erlaubt es, den hypothetischen Vorhersagen über den weiteren Verlauf einer Äußerung eine theoretische Grundlage zu geben. A constituent analysis preserves the integrity of the clauses and groups that comprise the sentence. However it fails to represent how the sentence is written, or how the utterance is spoken. The speaking or writing process does not follow the analysis line by line, progressively ‚filling in‘ each constituent with more detail. If we consider utterances (written or spoken) as a process, that is, something occurring word by word, we need a different analysis. This would have to draw, as Brazil does, upon the notion of ‚prospection‘ […], and interpret a pattern as something prospected by the selection of a particular lexical item. Each word that has a pattern might be said to pros- <?page no="236"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 226 pect the elements of that pattern. A speaker or writer fulfills that prospection and in doing so may use another patterned word which sets up new prospections to be filled, and so on. (Hunston & Francis 2000: 208) Die „Pattern Grammar“ schlägt also eine zweite Repräsentationsweise vor, die die zeitliche Emergenz sprachlicher Konstruktionen angemessener widerspiegelt (Abbildung 13). Diese lineare Darstellung sieht zwar ähnlich aus wie die hierarchische, ist aber ganz anders zu lesen. V n heißt jetzt nämlich nicht mehr, „es liegt ein Verb vor gefolgt von einer Nominalgruppe“, sondern „es gibt ein Verb, das darauf wartet, (irgendwann) von einem Nomen oder einer Nominalgruppe komplettiert zu werden“. Das Ergebnis dieser linearen Progression bezeichnen die Autoren als „pattern flow“ bzw. „pattern strings“ (vgl. Hunston & Francis 2000: 211ff.): Christopher Leslie is wrong V..adj wrong to say ADJ…to-inf say that he is V…that is the youngest MP V……………..n the youngest MP since Bernadette Devlin the ADJ-SUPERL..n..since...n Abbildung 13: Lineare Darstellung der zeitlichen Emergenz von „patterns“ Eine Verschachtelung von „patterns“ tritt immer dann auf, „whenever a word that occurs as part of the pattern of another word has a pattern of its own.“ (Hunston & Francis 2000: 211f.) Statt sich zu überlappen (symbolisiert durch das Übereinanderschreiben in einer zweiten Zeile) können „patterns“ jedoch auch wie an einer Kette aufeinander folgen (symbolisiert durch einen vertikalen Strich innerhalb derselben Zeile). In diesen Fällen sprechen sie von „pattern strings“ und vieles deutet darauf hin, dass sich die beiden Typen systematisch unterschiedlichen kommunikativen Zwecken bzw. kommunikativen Gattungen zuordnen lassen (vgl. Hunston & Francis 2000: 215-224). In narrativen Zusammenhängen finden sich häufig „pattern strings“, während in argumentativen Kontexten „pattern flow“ vorherrscht. Es ist daher kein Zufall, dass der Anfang der mündlichen Erzählung, an der Brazil (1995: 24; siehe auch Kapitel 5.1) seine „Grammar of Speech“ entwickelt hat, (bis auf das Ende) aus einer unverbundenen Aneinanderreihung von „patterns“ besteht (siehe Abbildung 14, vgl. Hunston & Francis (2000: 219)): <?page no="237"?> 5.3 „Pattern Grammar“ (Susan Hunston & Gill Francis) 227 A friend of mine told me this amazing story the other day. N… .of…n | V….n………………n | She’d been shopping and she came back to this multi-story car park that she’s been in V……-ing | V……adv…prep………………….n| n… V….. prep# | and it was kind of deserted. V…………adj | And as she was walking towards her car she saw this figure sitting in the passenger seat. V………prep……….n | V………n……-ing V……prep…………n | Abbildung 14: „Pattern strings“ Die Möglichkeiten der Schrift (und auch des Bildes oder der Grafik), Emergenz angemessen zu repräsentieren, sind begrenzt. Natürlich sind Abbildung 13, Abbildung 14 und Abbildung 15 „immer schon da“ genau wie Abbildung 12. Man muss sich als LeserIn dazu zwingen, statt einer entzeitlichten Draufsicht eine On-line-Perspektive einzunehmen und den Satz von links nach rechts wie auf einem Nachrichten-Ticker zu lesen (ohne zu wissen, wann und wie die Nachricht endet). [This] representation is an attempt to show how each lexical item sets up its own prospections, so that the patterns flow from one lexical item to the next. It is important to recognize, however, that representing the analysis in a linear manner implies a more radical reinterpretation than at first glance appears to be the case. […] the prospection of the pattern ends (is fulfilled) as soon as the minimum requirement of the pattern has been met, that is, as soon as an adjective, a to-infinitive verb, a noun, or a new clause has occurred. (Hunston & Francis 2000: 210f.) Auch wenn „pattern flow“ als lineare Darstellung der Füllung ausstehender Leerstellen gelten kann, ist diese Art der Darstellung (vgl. Abbildung 15) im direkten Vergleich zu Brazils Darstellungskonventionen (vgl. Abbildung 16) doch recht grob. In dem Beispielsatz I told an old friend of mine the story of Rumpelstiltskin bleiben viele Elemente des Satzes unanalysiert. Die Wörter an, old und the lösen einfach nur die Prospektion des Verbs told ein und komplettieren dessen Muster V n n. I told an old friend of mine the story of Rumpelstiltskin V……………n…………………….n N…of….n Abbildung 15: „Pattern flow“ Brazil verlangt von einer vollständig linearen Grammatik aber, dass sie an jeder Stelle im Satz die bestehenden Prospektionen bestimmen muss. So macht ein Artikel oder ein attri- <?page no="238"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 228 butives Adjektiv ein Nomen erwartbar, eine Präposition eine Nominalphrase, eine äußerungsinitiale Nominalphrase ein finites Verb usw. Im Kontrast dazu ist Brazils Darstellung also einerseits vollständig linear, andererseits enthält sie mehr Informationen über den Status von Prospektionen (sie enthält allerdings auch mehr Beschreibungskategorien als die „Pattern Grammar“). Zur Erinnerung: Kleinbuchstaben symbolisieren, dass das Element keine ausstehende Prospektion in der Kette einlöst, das „+“ deutet an, dass ein Element dupliziert wird (vgl. zur Notation Kapitel 5.1.3 und zur Beispielanalyse Kapitel 19 in Brazils (1995: 214-221) „Grammar of Speech“). I told an old friend of mine the story of Rumpelstiltskin N V d e N+ p n d N p n Abbildung 16: Der gleiche Satz in Brazils „Grammar of Speech“ Um denselben Informationsgehalt zu erhalten, müssten in der Pattern-flow-Darstellung weit mehr Zeilen eingefügt werden. Dabei könnte der Eindruck entstehen, wir hätten es mit hierarchischen Einbettungen zu tun. Auch diese (verfeinerte) Darstellung ist jedoch linear zu verstehen. I told an old friend of mine the story of Rumpelstiltskin N.V V…………..…n…….………...…….…n DET….…n DET…n ADJ..n N…of….n N……of…n Abbildung 17: „Pattern flow“ (detailliert) Während Brazils finite-state-Grammatik mit Übergangswahrscheinlichkeiten entlang einer Kette im Sinne eines Markoff-Prozesses operiert und dadurch sehr kleinräumig bleibt, kann ein linearer pattern flow weitergehende Vorhersagen über eine mögliche Fortführung machen. Man könnte sagen, Brazils „Grammar of Speech“ widmet sich der lokalen Frage, „was kommt als nächstes? “, während die „Pattern Grammar“ fragt, „was steht noch aus? “. 5.3.4 Leistungen und Grenzen Wir können aus dem Projekt der „Pattern Grammar“ eine Reihe von Dingen lernen: Wie die Hypothesenbildung über den weiteren Verlauf einer Äußerung bei Sprachbenutzern vonstattengeht, darüber lässt sich trefflich spekulieren. Statistische Auswertungen riesiger Korpora authentischer Sprachdaten ermöglichen es aber erstmals, verlässliche Frequenz- <?page no="239"?> 5.3 „Pattern Grammar“ (Susan Hunston & Gill Francis) 229 aussagen zu einzelnen Kollokationen und Wortmustern zu machen. Diese empirisch feststellbaren Häufigkeitsverteilungen schränken die Wahlmöglichkeiten an einer beliebigen Stelle in der Äußerungsproduktion erheblich ein und sind für die Vorhersage der „guten Fortsetzung“ (Ehrenfels 1890) von entscheidender Bedeutung. Das bedeutet, dass sprachliche Muster an der Entstehung von Projektionen bzw. Prospektionen entscheidend beteiligt sind. Obwohl sich diese Muster auch durch Intuition rekonstruieren lassen, kommt man auf diese Weise oft nicht zu den gleichen Ergebnissen. Außerdem lassen sich so höchstens Vermutungen anstellen, was deren Häufigkeit und Dominanz angeht. Aussagen wie „dieses X macht ein Y erwartbar“, wie sie häufig in linearen Syntaxmodellen anzutreffen sind, erfahren durch die Gewissheit der Frequenz sprachlicher Muster nun endlich eine fundierte Begründung und Legitimation. Für Hunston & Francis (2000: 255) ist es daher an der Zeit, den empirischen Erkenntnissen durch die neuen korpuslinguistischen Möglichkeiten auch einen angemessenen theoretischen Rahmen zu bieten: „[A] change in the method of observing something must lead ultimately to a change in theory.“ Daneben ist die Frage, wie diese Muster an der Bedeutungskonstitution von Äußerungen beteiligt sind, von großem Interesse. Die Frage, inwieweit eine Mitteilungsabsicht eine bestimmte Wortwahl auslöst und dieses Wort wiederum ein syntaktisches Muster festlegt oder andersherum, wie bestimmte Muster auf spezifische Wörter festgelegt sind, hat die festgefahrene Trennung von Syntax und Lexikon bereits jetzt schon gründlich aufgewirbelt. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Suche nach „patterns“ (oder „Mustern“ oder „Konstruktionen“) auch in Zukunft unsere Einsicht in real ablaufende Sprachprozesse verändern wird (vgl. Auer 2006a, Deppermann 2006, Deppermann et al. 2006a, Günthner 2011c, Günthner & Bucker 2009, Günthner & Imo 2006, Imo 2007, Jacobs 2008). Kritisch anzumerken ist das rein lexikographische Interesse an sprachlichen Mustern. Sicherlich hat die Phraseologieforschung dazu beigetragen „den Unterschied zwischen Grammatik und Lexikon zu verwischen“ (vgl. Hunston & Francis 2000: 7). Damit ist aber nichts gewonnen, denn schließlich war es schon für Saussure (vgl. Kapitel 4.1.3) Aufgabe einer (strukturalistischen) Sprachbeschreibung, unmotivierte Wortverbindungen in die syntaktische Analyse mit einzubeziehen. Wenn uns Syntagmen aber immer nur dann interessieren, wenn sie offensichtlich an der Bedeutungskonstituierung auf der Ebene der „langue“ beteiligt sind, übersehen wir womöglich den Umstand, dass sie eigentlich immer daran beteiligt sein könnten (und womöglich auch immer mit bestimmten Mustern assoziiert sind). Weiterhin muss einschränkend angemerkt werden, dass Grammatiken, die auf Konstruktionstypen und Mustern basieren, stets hervorragend für die englische Sprache passen, da syntaktische Relation und temporale Emergenz weitgehend synchron verlaufen: „With relatively few exceptions, surface grammatical relations in English match surface syntactic configurations“ (McCawley 1995: 1324). Sprachen mit einer reicheren Morphosyntax und einer freieren Wortstellung haben es da wesentlich schwerer. <?page no="240"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 230 Jenseits dieser sprachtypologischen Bedenken lassen sich jedoch auch ganz grundsätzliche Einwände dagegen finden, eine radikal „konstruktionistische“ (Jacobs 2008, 2009) Grammatik anzustreben, wie es die „Pattern Grammar“ tut. Statt Regeln und Konstruktionen als Bildungsprinzipien bzw. Analysewerkzeuge gegeneinander auszuspielen, scheint viel für eine gewisse Arbeitsteilung zwischen den divergenten Erklärungsansätzen und gegen die einseitige Verabsolutierung des einen oder anderen Ansatzes zu sprechen: Im Hinblick auf ihre Aufgaben innerhalb der Grammatik gibt es gravierende Unterschiede zwischen Konstruktionen und Gesetzen: Die ersteren erlauben bestimmte Bildungsweisen für sprachliche Zeichen, die letzeren verbieten bestimmte Form- oder Inhaltskonstellationen, unabhängig davon, ob eine bestimmte Bildungsweise vorliegt. (Jacobs 2008: 9; Hervorhebung im Original) Diese Einschränkung muss aber noch lange nicht bedeuten, dass konstruktionsgrammatische Erklärungen weiterhin immer nur an der Peripherie von Sprachtheorien akzeptiert werden, nur weil „we are accustomed to using phraseological accounts only when all else fails“ (Hunston & Francis 2000: 254). Während die „Pattern Grammar“ viel Wert auf die prinzipielle Erweiterbarkeit syntaktischer Konstruktionen im zeitlich-inkrementellen Verlauf ihrer Erzeugung legt, spielen andere Aspekte authentischer, mündlicher Sprachdaten wie Dialogizität und Sequenzialität keine Rolle. Und das, obwohl die Darstellung des „pattern flow“ große Ähnlichkeiten mit den „diagraphs“ aus Du Bois’ (2014) „Dialogic Syntax“ 137 Du Bois 2014: 376 hat. Auch für Du Bois handelt es sich bei den „diagraphs“ nicht um eine alternative Darstellung syntaktischer Verhältnisse durch den beobachtenden Wissenschaftler, sondern die graphische Darstellung entsteht „from the mapping […] of actual words and structures produced in real time by dialogic co-participants.“ ( ) „Diagraphs“ sind satzübergreifende syntaktische Strukturen, die auf Ähnlichkeitsverhältnissen („resonance“) zwischen Äußerungen eines oder verschiedener Sprecher basieren (Du Bois 2014: 395). Anders als in den „patterns“ der „Pattern Grammar“ ist es im Rahmen der „Dialogic Syntax“ durchaus legitim, die traditionelle Konstituentenanalyse als Ausgangspunkt für die Identifikation sprachlicher „Resonanz“ zu wählen. Der Grundgedanke des „diagraph“, nämlich das „cross-mapping“ von sprachlichen Strukturen aufgrund von Ähnlichkeiten, ist ganz ähnlich der natürlichen Verzahnung von „patterns“ im Fall des „pattern flow“ - allerdings gilt das Interesse der „Dialogic Syntax“ vor allem den Beziehungen zwischen Sätzen und Äußerungen, während die „Pattern Grammar“ aufgrund ihrer lexikographischen Herkunft satzübergreifende 137 Wie schon in Linells dialogism-Konzept (vgl. Kapitel 4.8) geht der Dialogbegriff Du Bois’ zurück auf Bachtins (1979a, 1996) universale kultursemiotische Ausweitung von Dialogizität als Verfasstheit von Sprache schlechthin, nach der die Sprache „nur aus dem dialogischen Umgang jener [lebt], die sie sprechen.“ (Bachtin 1996: 103) <?page no="241"?> 5.3 „Pattern Grammar“ (Susan Hunston & Gill Francis) 231 Strukturen völlig vernachlässigt. Außerdem beschränken sich die Ähnlichkeitsbeziehungen bei Du Bois nicht allein auf die Übereinstimmung syntaktischer Muster: The alignment of utterances yields a pairing of patterns at varying levels of abstraction, ranging from identity of words and affixes, to parallelism of syntactic structures, to equivalence of grammatical categories and abstract features of form, meaning, and function. This mapping generates dialogic resonance, defined as the catalytic activation of affinities across utterances. (Du Bois 2014: 360) Am deutlichsten offenbart sich die Funktionsweise des satzübergreifenden Prinzips der dialogischen Resonanz, wenn ein Dialogpartner oder eine Dialogpartnerin Wörter, Strukturen oder andere linguistische Parameter aus der unmittelbar vorausgehenden Äußerung imitiert bzw. wiederholt. Diese Annäherung auf der Formseite muss nicht immer mit einer inhaltlichen Übereinstimmung einhergehen, sondern kann auch Teilübereinstimmung oder Widerspruch zum Ausdruck bringen. Die Übereinstimmung von Strukturmerkmalen wird von Du Bois (2014) als „mapping“ bezeichnet und ist ein wesentliches analytisches Werkzeug (auf Seiten der WissenschaftlerInnen) und rhetorisches Werkzeug (auf Seiten der TeilnehmerInnen), um durch die Paarung von Strukturmerkmalen dialogische Resonanz zu erzeugen. Die sich ergebende textuelle Struktur wird von Du Bois (2014: 376ff.) als „diagraph“ bezeichnet. Anders als beim „pattern flow“, der mit der Einlösung aller Komplemente des letzten „pattern“ irgendwann ein Ende findet, beginnt die diagraphische Übereinstimmung im Rahmen der dialogischen Syntax erst mit der Satzbzw. Äußerungsgrenze. Darin liegt auch der Grund, warum sie in grammatischen Beschreibungen, die sich einzig und allein dem isolierten Einzelsatz widmen, bisher unberücksichtigt blieb. Anders als die „Pattern Grammar“, die außer an besagten Abschlusspunkten an jeder Stelle einer emergenten syntaktischen Struktur mögliche musterhafte Wortkonstellationen aktiviert, ist die dialogische Resonanz zwischen Äußerungen jedoch optional: „[I]t represents a common but not constant feature of language use.“ (Du Bois 2014: 370) In dem folgenden Gesprächsausschnitt aus Du Bois (2014: 388) bereitet das Paar Marilyn und Roy das Abendessen mit ihrem Freund Pete zu. Zeile 07-08 enthält eine Replik von Marilyn, die starke Anzeichen von dialogischer Resonanz aufweist (das ursprüngliche Beispiel wurde den eigenen Transkriptionskonventionen angeglichen; vgl. Kapitel 2.4.2). <?page no="242"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 232 Beispiel 18: Abendessen 01 Marilyn: <<lachend> god> DAMN it. 02 WHAT’d you do. 03 (0.4) 04 yOU <<lachend> son of a [BITCH.]> 05 Pete: [hahaha][hahaha] 06 Marilyn: [hahaha]ha 07 Roy: I threw a [green PEPper down your blouse.] 08 Marilyn: [You threw a green PEPper down ] my shirt. Die dialogische Syntax basiert auf den etablierten syntaktischen Relationen der Konstituenz, Dependenz und Hierarchie, geht jedoch beim „structure-mapping“ (Du Bois 2014: 400) darüber hinaus. Diese äußerungsübergreifende Übereinstimmung findet ihren Ausdruck im „diagraph“: „The diagraph is a higher-order, supra-sentential syntactic structure that emerges from the coupling of two or more utterances via the mapping of a structured array of resonance relations between them.“ (Du Bois 2014: 400) Um die Verhältnisse besser zum Ausdruck zu bringen, stellt Du Bois die Strukturen wie in einem Spiegel gegenüber („mirror diagraph“; vgl. Abbildung 18). S NP VP VBD NP PP IN NP PRP DT JJ NN DTP NN 06 R I threw a green PEPper down your blouse | | | | | | | | 07 M You threw a green PEPper down my shirt PRP VBD DT JJ NN IN DTP NN NP NP NP PP VP S Abbildung 18: „Mirror diagraph“ Wie man sieht, lassen sich Übereinstimmungen zwischen Äußerungen durchaus darstellen, indem auf traditionelle Kategorien und Strukturbegriffe zurückgegriffen wird. Für Hunston & Francis (2000: 152) sind solche klassischen Konstituentenanalysen - dialogisch oder nicht - reine Zeitverschwendung, da alles Wichtige, was es über die syntaktische Struktur einer Äußerung zu sagen gibt, „could be said in terms of its pattern […] irrespec- <?page no="243"?> 233 tive of the structural interpretation.“ Natürlich könnte man statt der oberflächennahen, induktiv gewonnenen grammatischen Kategorien der „Pattern Grammar“ auf andere, klassische Kategorien zurückgreifen, diese wären dann aber nicht nur informationsreicher, sondern auch zahlreicher, wodurch ihr praktischer Nutzen laut Hunston & Francis (2000: 197; Übersetzung BS) zunichte gemacht wird, da auf diese Weise „die Karte, die man von der Gegend zeichnen will, genauso groß wird wie die Gegend selbst.“ Weil der bottom-up-Ansatz bei der Gewinnung korpusgesteuerter Kategorien ein wesentlicher Bestandteil der „Pattern Grammar“ ist und weil die exakte Reproduktion dieser Methode mit deutschen Sprachkorpora die Möglichkeiten dieser Arbeit sprengt, muss ausnahmsweise darauf verzichtet werden, die Prinzipien der „Pattern Grammar“ mit eigenen Daten auf die Probe zu stellen. Leider hat die simple Übertragung der fürs Englische entwickelten Beschreibungskategorien zu keinen befriedigenden Ergebnissen geführt. Außerdem bräuchte es auch ein vollständiges Inventar der „patterns“ für den deutschen Kernwortschatz. Hierfür kämen möglicherweise Valenzwörterbücher des Deutschen (z. B. das "E-VALBU" des IDS 2010) als Ausgangspunkt in Frage. Weil sie aber weder mit den gleichen Kategorien operieren, noch auf gleiche Weise erzeugt worden sind, ließen sich die so gewonnenen Erkenntnisse in methodischer Hinsicht vielfach kritisieren. Da sich der Grundgedanke der „Pattern Grammar“, dass nämlich syntaktische Muster eine wichtige Rolle bei der syntaktischen Emergenz von Äußerungen spielen, in ähnlicher Form auch in der On-line-Syntax findet, wird stattdessen versucht, dieses Prinzip dort zu implementieren. 5.4 On-line- Syntax (Peter Auer) We should identify surface forms of what we might call sentence-scope, as these unfold in realtime discourse. - Michael Silverstein (1984: 182) Ein Ansatz, der sich explizit mit der Zeitlichkeit von Sprache auseinandersetzt, ist die von Auer (2000a, 2007a, 2009a) entwickelte On-line-Syntax. Wie der Name schon vermuten lässt, handelt es sich dabei nicht im eigentlichen Sinne um eine Grammatiktheorie. Allerdings wird das Postulat einer inkrementellen und prozessorientierten Syntaxtheorie in fast allen Design-Vorschlägen zu einer (noch zu schreibenden) Grammatik der gesprochenen Sprache hervorgehoben (vgl. Auer 2007a, Günthner 2007, 2011a, Hennig 2006, Hopper 2011). Da das Konzept der On-line-Syntax darüber hinaus über einen ausgearbeiteten Apparat von Beschreibungskategorien verfügt, die Theorie im Vergleich zu vielen anderen Syntaxmodellen für das gesprochene Deutsch maßgeschneidert ist und inzwischen auch 5.4 On-line-Syntax (Peter Auer) <?page no="244"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 234 viele empirische Arbeiten die Nützlichkeit der Konzeption aufgezeigt haben, nimmt sie für eine zukünftige Grammatik, so wie sie hier verstanden wird, einen hohen Stellenwert ein. Zum Konzept der On-line-Syntax gibt es viele Vorstufen, die sich mit Fragen einer inkrementellen Syntax von Turn-Konstruktionseinheiten beschäftigen (vgl. Auer 1991, 1992, 1996a, 2000a, 2000b, 2002, 2005a, 2005b, 2006b, 2007a, 2007b, 2009a, 2009b, 2010a, 2010b). Während sich Auer vor allem mit inkrementellen Erweiterungen im Bereich des Nachfelds beschäftigt hat (zur Debatte um „increments“ siehe Kapitel 6.1.7 und Couper- Kuhlen & Ono (2007), Ford et al. (2002a), Schegloff (1996), Vorreiter (2003)), hat sich Günthner vor allem den äußerungsinitialen, projizierenden Einheiten gewidmet (siehe auch Kapitel 6.1.2). Dazu zählt die Pionierarbeit, die für das Deutsche auf dem Gebiet der Diskursmarker geleistet wurde (Auer & Günthner 2003, Gohl & Günthner 1999, Günthner 1999a, 2001, Günthner & Imo 2004, Günthner & Mutz 2004). Das Gleiche gilt für die Arbeiten aus jüngster Zeit zu Projektorkonstruktionen, die Überlegungen Hoppers zu zweiteiligen Gestaltstrukturen modifizieren und auf die Gegebenheiten im Deutschen übertragen — beispielhaft illustriert an Pseudocleft-Sätzen, Extrapositionen mit es, die-sache-ist- Konstruktionen oder vorangestellten wenn-Sätzen (Günthner 1999c, 2008a, 2008b, 2009a, 2011b, 2011d, Günthner & Hopper 2010, Wegner 2010). Die theoretische Grundlage der empirischen Arbeiten wurde mit der Zeit dabei immer weiter angepasst und verbessert. Die Theorie selbst ist also ständig weiterentwickelt und ergänzt worden. Im Kern ist sie jedoch gleich geblieben und dieser Kern soll hier kurz dargestellt werden. 5.4.1 Ausgangspunkt: Flüchtigkeit, Irreversibilität und Synchronisierung Zeitlichkeit affiziert Sprache und Kommunikation nicht bloß auf interaktiver, sondern auch auf kognitiver Ebene. Zeitlichkeit manifestiert sich in mündlicher Kommunikation vor allem in Form von drei Erscheinungsformen: Flüchtigkeit, Irreversibilität und Synchronisierung. Die interaktive Konsequenz von Flüchtigkeit besteht darin, dass Rückgriffe auf vergangene Episoden von der Gedächtnisleistung von Sprecher bzw. Hörer abhängen: „‚Erinnern‘ als interaktiver Prozess ist aufwendig und überdies fehler- und dissensträchtig.“ (Auer 2000a: 44) Evidenz für die kognitiven Konsequenzen der beschränkten, menschlichen Speicherkapazität liefern Produktionsprobleme im Sinne von Abbrüchen, Konstruktionswechsel u. ä. sowie Rezeptionsprobleme auf Hörerseite besonders in Fällen von komplexeren Konstruktionen. Kompensiert wird das dadurch, dass die Grundeinheiten mündlicher Kommunikation kleiner sind (als die der schriftlichen) und indem Konstruktionstypen, die mit der Zeit prozessiert werden können, favorisiert werden. Mit Flüchtigkeit allein ist es aber nicht getan: Zeit beschreibt die Abfolge von Ereignissen, hat also im Gegensatz zu anderen physikalischen Größen eine eindeutige, unumkehrbare Richtung (vgl. Kapitel 3.1). Anders gesagt, mündliche Sprache ist geprägt durch Irreversibilität. Praktisch bedeutet das, dass einmal Gesagtes nicht im wörtlichen Sinne wieder „zurückge- <?page no="245"?> 5.4 On-line-Syntax (Peter Auer) 235 nommen“ werden kann. Hier ergibt sich ein wesentlicher Unterschied zur schriftlichen Sprachproduktion und ihrer Möglichkeit der Revidierung (ohne dass der Adressat oder die Adressatin etwas von diesem Edierungsprozess mitbekommt). Da diese Möglichkeit im Gespräch nicht besteht, ist jede Revision Gegenstand einer interaktiven Aushandlung, und weil der Hörer bzw. die Hörerin jede ‚Rücknahme‘, ‚Änderung‘ und ‚Überschreibung‘ von einmal Gesagtem ratifizieren muss, kann dieser Prozess im ungünstigsten Fall auch scheitern. Eine „syntax-for-conversation“ 138 Schegloff 1979 ( ) geht daher davon aus, dass die Lösungen für die ständige, eventuelle Reparaturbedürftigkeit in der Sprache immer schon angelegt sind. Typische Phänomene der gesprochenen Sprache bekommen im Licht einer Reparatursyntax einen anderen Stellenwert, wie z. B. Fehlplatzierungen von Äußerungsteilen, bei denen gegen kanonische Serialisierungsvorschriften 139 6.1.6 verstoßen wird, und die zu den bekannten Ausklammerungen, Nachträgen usw. führen. Auch hier handelt es sich um ein effizientes Mittel, ökonomisch mit der durch die Zeitlichkeit bedingten Irreversibilität umzugehen und ‚Fehler‘ oder Planungsschwierigkeiten nachträglich ‚auszubügeln‘ (vgl. auch Kapitel ). Ein letzter Punkt betrifft nicht so sehr den Aspekt der Zeit, sondern den der Gleichzeitigkeit. Unter dem Stichwort Synchronisierung werden all die Prozesse verstanden, die durch die Gleichtaktung der Bewusstseinsströme der Interaktionsteilnehmer ausgelöst werden. Die Auswirkungen der Synchronisierung auf die Syntax „manifestiert sich in zahlreichen mehr oder weniger mikroskopischen Formen des dialogischen Abgleichens zwischen Sprecher- und Rezipientenaktivitäten, die letztendlich gerade diese Opposition (Sprecher vs. Hörer) relativieren.“ (Auer 2000a: 46) 138 Vgl. Schegloff (1979: 277): „We have arrived at a view of talk in a turn in conversation in which some sort of syntax organizes the smooth production of sentential turn-constructional units, and, when trouble arises, an organization of repair operates with orderly components (e. g., initiators to address it, with syntactic organization quickly reasserting itself.“ 139 In Greenbergs (2010) Typologie der sprachlichen Grund-Stellungstypen ist Deutsch eine Typ- II-Sprache (=SVO) mit vorangestellten Präpositionen, in der Genitivattribute und Adjektive vor Substantiven stehen. Schon allein hier (oder gerade hier) sieht man allerdings die Schwierigkeiten des Konzepts „Grundstellung“ einer Einzelsprache. <?page no="246"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 236 Tabelle 11: Zusammenfassung der Ursachen und Folgen zeitlich bedingter Phänomene von Sprache-in-Interaktion Merkmal mündlicher Sprache Evidenz/ Kompensierung Flüchtigkeit interaktiv: Rückgriffe auf Gesagtes nur bedingt möglich kognitiv: kleine Grundeinheiten Prozessierung mit der Zeit Vermeidung diskontinuierlicher Konstituenten ikonische Linearisierungsverfahren Irreversibilität interaktiv: inhaltliche (und formale) Fehler können nur kooperativ ausgeräumt werden kognitiv: Nachträge, Ausklammerungen, Fehlplatzierungen Synchronisierung interaktiv: Bewusstseinsströme der Interaktanten werden synchronisiert kognitiv: kollaborative Satzkonstruktionen interaktive Herstellung von Sätzen 5.4.2 Grundoperationen der On-line- Syntax: Projektion, Expansion und Retraktion Es dürfte deutlich geworden sein, dass der zeitliche Verlauf für Sprecher wie Hörer in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung darstellt. Im Rahmen des Konzeptes der Online-Syntax werden nun drei Grundoperationen identifiziert, die besonders für die mündliche (aber auch für die schriftliche) Syntax von besonderer Bedeutung sind: Projektion, Expansion und Retraktion. Durch syntaktische Projektionen werden - in der Zeit vorausgreifend - im Rezipienten durch den Sprecher Erwartungen über die weitere Entwicklung syntaktischer Muster hergestellt; es wird eine syntaktische ‚Gestalt‘ eröffnet, die erst durch die Produktion einer mehr oder weniger präzise vorhersagbaren Struktur geschlossen wird. (Auer 2000a: 47) Syntaktische Projektionen ermöglichen im Verbund mit prosodischen und semantischpragmatischen Projektionen dem Hörer vor allem die Vorhersage von möglichen Redezug- Abschlusspunkten und leisten damit einen essentiellen Beitrag für einen reibungslosen Sprecherwechsel. Als Beispiele für typische syntaktische Projektionen im Deutschen gelten z. B. die Verbalrektion oder diskontinuierliche Konstituenten wie die Verbalklammer (oder andere Klammertypen). Der Synchronisierungsthese zufolge kann davon ausgegangen <?page no="247"?> 5.4 On-line-Syntax (Peter Auer) 237 werden, dass Hörer schon während der laufenden Produktion einer Äußerung mit der Verarbeitung beginnen bzw. Verarbeitungshypothesen aufstellen. Am Anfang einer Äußerung sind dies nur sehr vage Vorhersagen über den weiteren Verlauf, „[s]obald jedoch ein syntaktisches Muster mit verlässlicher Gewissheit identifiziert ist, ist der Rezipient kognitiv bis zum Ende der syntaktischen Strukturprojektion entlastet“ (Auer 2000a: 48). Ähnlich wie in Brazils finite-state-Grammatik (Kapitel 5.1) sinkt mit dem Näherkommen eines Abschlusspunktes die Entropie einer Äußerung, ähnlich wie bei den „chunks“ der „Linear Unit Grammar“ (Kapitel 5.2) von Sinclair und Mauranen handelt es sich immer nur um vorläufige Abschlusspunkte, deren Status jederzeit revidiert werden kann, und ähnlich wie in der „Pattern Grammar“ (Kapitel 5.3) von Hunston und Francis basieren die Fortsetzungserwartungen auf der Erfahrung und dem Wissen um den prototypischen Verlauf sprachlicher Konstruktionen. Die holistische Qualität der emergenten Sprachstrukturen lässt sich gut in gestaltpsychologischen Kategorien (vgl. auch Auer et al. 1999, Ehrenfels 1890) zum Ausdruck bringen: During the emergence of a syntactic gestalt, the chances for predicting (correctly) the not-yet-produced remaining part (and therefore, its termination) continually increase. Thus, the production of a gestalt in time starts with a phase of minimal projectability, implying a high load of perceptual-cognitive work on the part of the recipient and of productive-cognitive work on the part of the speaker, and ends with a phase of maximal projectability in which the speaker profits from the quasiautomatic terminability of already activated patterns and the recipient from the low informational load of the remaining utterance. (Auer 1996a: 59) Dieses Antizipieren von Fortsetzungsmöglichkeiten ist jedoch nicht identisch mit den (statistischen) Übergangswahrscheinlichkeiten, wie wir sie von der automatischen Sprachverarbeitung her kennen, und schon gar kein Determinismus: Projections can be weaker or stronger, and the predictability of next items accordingly high or low. However, projection never equals determination - that is, even a strongly projected next item may not be delivered, either because the speaker has abandoned the project entirely (in which case a fragment will remain) or because she or he chooses to engage on an unlikely project that is not easily projectable. (Auer 2009b: 181) Neben projektionsein- oder -auslösenden Strukturelementen gibt es auch projektionsneutrale Expansionen, die zwar intern durchaus strukturiert sein können, aber zumindest extern an keiner Projektion beteiligt sind. Je nachdem, ob sie innerhalb einer ‚fremden‘ Projektion stehen, lassen sich interne von externen Expansionen unterscheiden. Letztere erweitern Syntagmen über syntaktische Gestaltschlüsse hinaus. Zuletzt sind die nichtprojektionsrelevanten Syntaxoperationen in Form der Retraktionen zu nennen, „[w]äh- <?page no="248"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 238 rend Projektionen der Sprechzeit vorausgreifen und die kommenden syntaktischen Positionen vorstrukturieren, greifen Retraktionen auf eine schon bestehende syntaktische Struktur zurück“ (Auer 2000a: 49). Da es sich bei Retraktionen per definitionem um paradigmatische Ersetzungen handelt, finden sie vor allen Dingen im Zusammenhang mit Selbstreparaturen statt. Jedes syntaktische Strukturelement kann zu jedem Zeitpunkt der Produktion also nach folgendem Schema befragt (und klassifiziert) werden (Auer 2000a: 50): Bearbeitet es eine schon existierende Konstruktion? Retraktion Ist es selbst projektionsaus- oder einlösend? Projektion Ist es projektionsneutral, aber befindet sich innerhalb syntaktischer Konstruktionen? interne Expansion Ist es projektionsneutral und geht über Abschlusspunkte hinweg? externe Expansion Als Darstellung der jeweiligen Projektionsverhältnisse haben sich Vorwärtspfeile für Projektionen, Doppelpfeile für Projektionseinlösungen und Rückwärtspfeile für Konstruktionswechsel bewährt. Das paradigmatische Substitutionsverhältnis im Falle von retraktiven Konstruktionen wird durch die horizontale Anordnung symbolisiert. Die vertikale Achse bildet von links nach rechts dagegen den zeitlichen Verlauf ab. Diese Darstellungsweise zeigt viele Gemeinsamkeiten mit den Kategorien und Konventionen der LUG (vgl. 5.2), allerdings fehlt die dort gemachte fundamentale Unterscheidung zwischen organisatorischen und inhaltlichen Fragmenten („chunks“). Gerade im Falle der Konstruktionswechsel, wie wir sie in Form von Apo-koinu-Konstruktionen oder auch Garden-path-Sätzen vorfinden (Imo 2011), zeigt sich, wie sehr sich ein strukturalistischer Satzbegriff (wenn er die genannten Fälle überhaupt erklären kann! ) und eine On-line-Syntax, die die Zeitlichkeit in ihre Analyse integriert, unterscheiden. „Denn die strukturalistische Segmentierung eines Textes in Sätze erfolgt ja nicht aus der Perspektive echtzeitlicher Emergenz, sondern aus der Vogelperspektive des Textbearbeiters, also des fertigen Produkts.“ (Auer 2000a: 55) 5.4.3 Grille -Darstellung eines Beispiels Auer greift bei seiner Modellierung von projektiven und retraktiven Prozessen auf ein Darstellungssystem zurück, das von der Groupe aixois de recherches en syntaxe (GARS) entwickelt worden ist. Dabei handelt es sich um einen Zusammenschluss französischer LinguistInnen, die sich mit der Syntax der gesprochenen Sprache beschäftigt haben (Blanche-Benveniste 1990, 1997, Blanche-Benveniste et al. 1990) und die ihre Ergebnisse in der Zeitschrift Recherches Sur le Français Parlé ab 1977 veröffentlichten. Die zweite Auflage widmete sich u. a. dem Notationsproblem bei der Erforschung und Analyse von gesprochener Sprache, zu dessen Lösung Blanche-Benveniste et al. (1979) ein System zur <?page no="249"?> 5.4 On-line-Syntax (Peter Auer) 239 Visualisierung der grammatischen Strukturen in Form eines grille (frz. „Gitter“) entwickelten: Une fois les enregistrements de français parlé transcrits, linéairement et sans ponctuation, une présentation reste à trouver pour les rendre lisibles. Les grilles sont un procédé de présentation visuelle qui tient compte des spécialités du texte oral. (Blanche-Benveniste et al. 1979: 163) Die Grille-Darstellung beruht auf der Grundidee, dass beim linearen Verlauf mündlicher Sprache in der Zeit die aufeinanderfolgenden Elemente auf mindestens zwei Arten mit ihrer Umgebung in Verbindung stehen. Auf der einen Seite können sie syntagmatische Einheiten bilden, die auf Dependenzrelationen beruhen, bei denen ein regierendes Element (z. B. ein Verb oder eine Präposition) Leerstellen in seiner Umgebung eröffnet. Auf der anderen Seite können Elemente paradigmatisch organisiert sein, d. h. die syntagmatische Abfolge von Elementen wird angehalten und mehr als ein Kandidat derselben Kategorie für denselben „slot“ im Satzbauplan wird produziert. Wenn mehrere Kandidaten in einer Rektionsposition stehen, bilden sie eine paradigmatische Liste. Typischerweise passiert das im Falle von regressiven Expansionen. Regressive expansions add linguistic material to the sentence produced in time, but semantically and syntactically, they establish a loop backwards. Frequently, they recycle some structure […] of the previous utterance and develop paradigmatic alternatives. (Auer 1992: 50) In der Grille-Darstellung werden paradigmatische Beziehungen auf der vertikalen Achse angeordnet und syntagmatische auf der horizontalen Achse. Durch die Konvention, von links nach rechts und von oben nach unten zu schreiben und zu lesen, bleibt auf diese Weise die zeitliche Verlaufsstruktur im Transkript erhalten, bekommt aber eine zusätzliche Tiefe, da die Anordnung auf einer vertikalen Achse sie mit Informationen über grammatische Relationen anreichert. 140 Beispiel 19 Die Visualisierung in Form einer Grille-Darstellung birgt jedoch auch Probleme und Defizite, wie sich im folgenden zeigen wird. Zumindest die Defizite sind in der erweiterten Form der Darstellung nach Auer (2000a) teilweise behoben. 140 „Nous utilisons les analyses ‚en grille‘ pour faire ressortir les structurations syntaxiques et lexicales des morceaux de textes que nous étudions. […] Nous tentons par la de visualiser les résultats de nos analyses, en utilisant l’axe syntagmatique, l’axe paradigmatique et al relation de proportionnalité, sans y introduire de nouveaux critères; ce n’est donc pas conçu comme une ‚analyse de discours‘ […]. C’est la représentation graphique d’une analyse grammaticale, qui intègre les phénomènes d’élaboration des textes (bribes, anticipations, hésitations, etc.).“ (Blanche-Benveniste et al. 1990: 214) <?page no="250"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 240 Tabelle 12: Erweiterung der Notation der Grille-Darstellung durch Auer (2000a) Projektionen Expansionen Projektionseinlösungen weder projizierend noch projektionseinlösend Bereiche ohne Kennzeichnung der Projektionsverhältnisse [ ] paradigmatische Substitutionsbeziehung abgeschlossene Konstruktionen 141 - - - - - - oder ]S In dem folgenden Beispiel lernen die Bewohner der Reality-TV-Show „Big Brother“ zum Bestehen ihrer Wochenaufgabe Texte von William Shakespeare auswendig, als Dragan gesteht, dass er Shakespeare zwar vom Namen her kennt, aber eigentlich nicht weiß, wer das ist. 142 141 Die Notation hat sich geringfügig geändert: In Dragan, Gudrun, Vanessa und Basti sitzen gemeinsam im Wohnzimmer. Vanessa sitzt aufrecht auf einem Hocker und liest in einem Buch, Gudrun liegt in eine Decke gehüllt auf einem der Sofas und raucht eine Zigarette, Basti liegt auf einem anderen Sofa und zupft unzusammenhängend auf der Gitarre, Dragan sitzt aufrecht, aber entspannt im dritten Sofa. Zur besseren Lesbarkeit und Übersichtlichkeit, um die Leistungen und Unter- Auer (1992: 44) werden „points of syntactic completion where a full grammatical sentence has been produced“ durch eine tiefgestellte eckige Klammer und ein „S“ markiert, in Auer (2000a: 53) „markieren gestrichelte Linien abgeschlossene Konstruktionen.“ 142 Der Ausschnitt hat in den Medien zu großer Entrüstung geführt (Spiegel, Nr. 21, 2000, S. 274; Stern, Nr. 16, 2000, S. 50), die sich besonders gegen die „Verfeldbuschung der Welt […] und den Spaß am schlichten Gemüt“ (Spiegel Nr. 16, 2000, S. 258) richtete. Andere vermuten hinter Dragans Selbstdarstellung eine raffinierte Form des Impression-Managements: „Die Selbstdarstellungstechnik ‚Playing dumb‘, sich dümmer zu geben als man tatsächlich ist, wird hier als eine assertive Strategie genutzt, um Sympathien zu gewinnen, scheinbar harmlos zu wirken und andere für sich einzunehmen […].“ (Spielhagen et al. 2000: 279) Dragan war einer der Publikumslieblinge der ersten Big-Brother-Staffel und laut Schwäbe (2004) war die von ihm zur Schau gestellte Ignoranz Teil seines Erfolgsgeheimnisses, da sie den Zuschauern erlaubte, sich mit ihm zu identifizieren oder sich von ihm abzugrenzen, wodurch zur „Stabilisierung der subjektiven Lebensauffassung“ beigetragen wurde: „Durch sein Verhalten verkörperte er quasi den ‚Anti-Typ‘ des Hochkulturschemas, ein Lebensmuster, auf das sich eine große Anzahl von Menschen bezieht.“ (Schwäbe 2004: 339f.) <?page no="251"?> 5.4 On-line-Syntax (Peter Auer) 241 schiede der Grille-Schreibweise zu erfassen, steht der Ausschnitt in Beispiel 19 in den normalen GAT-2-Konventionen und in Abbildung 19 im Gitter-Format. Beispiel 19: Wer war William Shakespeare? 1 (BB1_9) 001 Dra: samma EHRlich.= 002 =MUSS ma den kennen. (-) 003 Gud: vom ] 004 Bas: <<h> [SHAkespeare; ]>= 005 Gud: =SHAkespeare? 006 Bas: de[n musste aber KENnen]; =du; 007 Dra: [william SHAkespeare.] 008 Bas: ((Gitarrensaite wird angeschlagen)) 009 Dra: ja äh DOCH, 010 den kenn ich SCHON aber; (---) 011 wenn du mich jetz FRÄGSCH was der alles gemAcht hat und- 012 (-) keine AHnung; (--) 013 <<f> ob der [ roMAne ge]schrieben hat; > 014 Gud: [also SHAkes-] 015 Dra: ob der (-) FIlme schon mitgemacht hat; 016 so (.) dokumentaTIO: nen oder weisst(_e nich was); 017 Gud: [((lacht)) ] 018 Dra: [KEI: ne Ahnung; ] 019 Gud: [((lacht)) ] 020 Tan: [((lacht)) ] 021 Bas: <<lachend> DOkumentationen.> ((lacht)) 022 det is der brUder vom: (.) he JACques rousseau, 023 Deb: [((kichert)) ] 024 Tor: [((kichert)) ] 025 Gud: [((lacht))] 026 Dra: (von da) 027 warum LACHT [ihr denn; ] 028 Deb: [((lacht)) ] 029 Gud: [((lacht)) ] 030 Dra: [du,=wer ist jacques rousSEAU? ] <?page no="252"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 242 Abbildung 19: Beispiel 19 in der Grille-Darstellung Es bestehen erhebliche Unterschiede in der Darstellungsweise, wobei die Grille- Darstellung sowohl informationsreicher als auch informationsärmer als das GAT-2- Transkript bzw. das Originalgespräch ist. Einige der Probleme lassen sich relativ einfach durch eine Erweiterung des Notationssystems beheben, andere sind hartnäckiger. <?page no="253"?> 5.4 On-line-Syntax (Peter Auer) 243 5.4.4 Leistungen und Grenzen der Grille -Darstellung In der GAT-2-Konvention ist die Notation auf einer vertikalen Achse schon für Überlappungen bei mehreren Sprechern reserviert. Es kommt also zu dem Problem, dass man nur entweder die interaktionale Struktur der Überlappungen oder die grammatische Struktur der syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen abbilden kann. Generell wird in den originalen, französischen Beispielen gerne auf monologische Beispiele ausgewichen, oder zumindest auf Gesprächsausschnitte, in denen kein Sprecherwechsel stattfindet. Auch die reguläre Schriftrichtung führt dazu, dass Elemente zufälligerweise untereinanderstehen, ohne dass sie in einer paradigmatischen Beziehung stehen. Dieses Problem ist im Notationssystem dadurch gelöst worden, dass zur Verdeutlichung Boxen als graphische Unterstützung zur Kenntlichmachung der paradigmatischen Substitutionsbeziehung dienen. Ungelöst oder zumindest unschön ist dieses Verfahren, wenn die Kandidaten für denselben „slot“ in großer Distanz stehen oder wenn zwischendurch ein Sprecherwechsel, z. B. mit Rückmeldesignalen, erfolgt. Auch das paradigmatische Verhältnis zwischen W-Wort und Antwort bei Ergänzungsfragen auszudrücken, scheint mir so vom System nicht vorgesehen zu sein, da es prinzipiell nicht um sequenzanalytische Kategorisierung geht. Beide Fälle ließen sich natürlich durch das Einführen von Indices o. ä. lösen. Allerdings birgt auch die „rein“ grammatische Analyse in Paradigma und Syntagma ein Problem: Reparaturen, Elaborierungen, koordinierte Elemente und Listenelemente stehen alle in einer paradigmatischen Beziehung, besitzen aber ganz unterschiedliche Funktionen. Reparaturen können ein Element „überschreiben“, Elaborierungen sind Teil einer Formulierungsarbeit, die nicht notwendigerweise die Gültigkeit der anderen Formulierungskandidaten einschränkt, und Listen bilden grammatisch ein Paradigma, funktional aber eben eine „Liste“ (König & Stoltenburg 2013, Selting 2004). Die Notation von Pausen ist schwierig, da sie zwar interaktional bedeutsam sind, aber nicht in der Matrix syntagmatisch-paradigmatisch eingefangen werden können. Was für den möglichen Sprecherwechsel gilt, gilt auch für Pausen, die nicht in der Retrospektive als Fakten behandelt werden dürfen, wie schon Goodwin (1981: 19) festgestellt hat: „[N]o single classification of […] silence is available to the analyst, who, instead, must deal with it as an event emerging through time and thus capable of ongoing transformation.“ Die Pfeile symbolisieren die syntaktischen Operationen der Projektion und Retraktion. Teilweise finden jedoch auch Projektionen auf Handlungsebene statt, die sich nicht ohne weiteres von syntaktischen Projektionen abgrenzen lassen. Ein Gesprächsbeginn mit „samma EHRlich“ (Zeile 001) ist in vielerlei Hinsicht ungesättigt, es findet jedoch (ab- <?page no="254"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 244 gesehen von eventuellen zusätzlichen Kontextfaktoren) keine Selektion hinsichtlich des Inhalts oder der grammatischen Form statt. Allerhöchstens wird das Folgende als potentiell gesichtsbedrohend und heikel präsentiert (zum Funktionsspektrum von Konstruktionen mit "ehrlich gesagt" siehe Stoltenburg 2009). Syntaktisch Projiziertes und sequenziell Projiziertes (im Sinne der initiativ-responsiven Beziehung zwischen „inter-acts“, vgl. Kapitel 4.8.3) lassen sich nicht in einem System (oder nicht mit einem Satz „Pfeile“) darstellen. Textdeixis ist auch eine Art von Paradigma, ist aber nur schwer abzubilden. Wenn die syntaktischen Projektionen nicht eingelöst werden und es zu einer fragmentarischen Äußerung kommt, wird die Konstruktion nicht abgeschlossen und es dürfte eigentlich kein geregelter Sprecherwechsel stattfinden. Das ist im Fall von Anakoluth und Aposiopese jedoch problematisch. In unserem Beispiel wird die begonnene Konditionalkonstruktion aus Zeile 11 nie durch die ausstehende und projizierte Apodosis abgeschlossen. Das „KEI: ne Ahnung“ (Zeile 18) und die anderen Disfluenzmerkmale signalisieren aber den Abbruch der Formulierungsarbeit und bilden sequenziell gesehen durchaus eine Stelle für einen geordneten Sprecherwechsel. Sprechersiglen sind im französischen System nicht vorgesehen. Sie ließen sich natürlich sehr leicht in gewohnter Weise am Zeilenbeginn ergänzen. Eine zukünftige Form der Visualisierung müsste die grammatische Information der paradigmatischen/ syntagmatischen Beziehungen abbilden und die zeitlich-synchronen Überlappungen bei mehreren Sprechern festhalten. Es trifft sich daher gut, dass das zweite System der Visualisierung des zeitlich-linearen Verlaufs von Gesprächen, das in Auers Texten zum Einsatz kommt, das System des Sprecherwechsels zum Dreh- und Angelpunkt der Notation macht. 5.4.5 Zäsurieren eines Beispiels Wie schon mehrfach gesagt, handelt es sich bei den Grundeinheiten der gesprochenen Sprache um „gestalthafte Einheiten, die durch das Zusammenspiel prosodischer, syntaktischer, semantischer und pragmatischer Merkmale gebildet werden und mit deren Abschluss signalisiert wird, ob ein Sprecherwechsel erfolgen soll“ (Deppermann 2014). Diese Rückbindung der Einheiten an das lokale Management des Sprecherwechsels und die Frage des Gestaltschlusses rückt bei der Auseinandersetzung mit der Frage, in welche Teile Gespräche zerfallen, deren On-line-Charakter in den Vordergrund. Für Auer (2010b: 10) steht das Bedürfnis, Gespräche restlos in Sätze segmentieren zu wollen, in der Tradition des taxonomischen Strukturalismus, und er zeigt an authentischen Beispielen, „dass die Idee der Segmentierbarkeit dem On-line-Charakter […] der gesprochenen Sprache grund- <?page no="255"?> 5.4 On-line-Syntax (Peter Auer) 245 sätzlich widerspricht.“ Er weist darauf hin, dass das Verfahren des Segmentierens, wie es sich exemplarisch bei Harris (1979) findet, auf vier methodischen Prinzipien beruht, die nicht verletzt werden dürfen. Die Zerlegung muss exhaustiv sein, es dürfen also keine Teile übrigbleiben. Die gefundenen Elemente müssen atomistisch sein, dürfen sich also nicht weiter segmentieren lassen. Die Zerlegung muss diskret an eindeutigen Segmentgrenzen entlang erfolgen. Die Kriterien der Zerlegung müssen auf einer konstanten linguistischen Ebene liegen. Diese Anforderungen widersprechen jedoch dem zeitlichen Nacheinander der Äußerungsproduktion in der gesprochenen Sprache und tragen alle Züge des „written language bias“ (vgl. Kapitel 4.8.1): Es drängt sich […] die Frage auf, ob das Segmentieren wirklich eine sinnvolle wissenschaftliche Aktivität ist, d. h. eine, die die interaktiv und kognitiv realen Vorgänge bei der Produktion und Interpretation von Sprache in mündlicher, direkter Kommunikation erfasst. Hier sind Zweifel erlaubt. Segmentieren bedeutet, einen Text (und sei er ein Transkript), also ein zweidimensionales Objekt, in kleine Teile zu zerschneiden. Die Schnitte müssen eindeutig sein, und es darf nichts übrig bleiben. Die Teile lassen sich dann gegebenenfalls wechselseitig ersetzen, verschieben, gruppieren, nach Umgebungen ordnen etc. Diese wissenschaftlichen Operationen reflektieren den Gestus des allmächtigen Linguisten am Schreibtisch, der das fertige Produkt sprachlichen Handelns bearbeitet. Es gibt beim Segmentieren kein Früher und Später, sondern nur ein Oben und Unten, Rechts und Links im geschriebenen/ verschrifteten Text. Die Zeitlichkeit der mündlichen Sprache ist aufgehoben; dieser ist zu einem Objekt geworden, bei dem immer schon klar ist, ‚wie es weiter geht‘: der Text liegt ja fertig vor. (Auer 2010b: 11) Statt mündliche Sprache auf diese Weise „zu einem zweidimensionalen, papierenen Gebilde“ (Auer 2010b: 1) zu reduzieren, schlägt er vor, „anstelle des Segmentierens […] [die] Operation […] des Zäsurierens“ (Auer 2010b: 2, Hervorhebung im Original) treten zu lassen. Zäsurieren stellt sozusagen die natürliche Perspektive der TeilnehmerInnen nach, die damit konfrontiert sind, ihre Redebeiträge zu synchronisieren. Die tatsächliche Länge eines Redebeitrags ist dabei von geringem Interesse, da sich theoretisch jeder Redebeitrag unendlich erweitern ließe. Statt der „Einheit turn“ stehen die „Verfahren Auer 2010b: 11; Hervorhebung im Original , die die Teilnehmer anwenden, um turn-taking möglich zu machen oder zu verhindern“ ( ) im Mittelpunkt. Die (syntaktischen, prosodischen und semantisch-pragmatischen) „Einheiten“ der gesprochenen Sprache sind immer inkrementell erweiterbar, da die Redebeiträge, die sie bilden, über eine prinzipielle Erweiterbarkeit in der Zeit verfügen. Eine fertige Einheit zu erkennen, ist für die Gesprächsteilnehmer daher weit weniger relevant, als einen vorläufigen Abschlusspunkt zu identifizieren, da sie mit der Verarbeitung der emergenten Struktur nicht warten können, bis sie vollständig ist: <?page no="256"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 246 Interaktionsteilnehmer bilden also bei der on-line-Prozessierung der Gesprochenen Sprache keine Einheiten, sie müssen aber ständig mögliche Abschlusspunkte erkennen. Diese Abschlusspunkte können mehr oder weniger gut konturiert sein. Optimale (d. h. prägnante) Gestaltschlüsse Auer 2010b: 11f.; Hervorhebung im Original sind dann erreicht, wenn an einem Punkt sämtliche syntaktische, prosodische und semantisch-pragmatische Projektionen abgearbeitet sind. […] Das turn taking erfordert also eine on-line-Analyse der laufenden Sprachproduktion des Sprechers in formaler und inhaltlicher Hinsicht, denn gut erkennbare Gestaltschlüsse können turnübergaberelevant sein […]. ( ) Dieses Verfahren lässt sich laut Auer auch auf die wissenschaftliche Analyse und die Transkription von Gesprächen anwenden. Um die Abschlusspunkte auf den drei linguistischen Ebenen Syntax, Prosodie und Pragmatik zu markieren, führt Auer drei neue Symbole in die GAT-2-Konventionen ein: Tabelle 13: Zäsurzeichen Zäsuren auf der Ebene der Syntax | Zäsuren auf der Ebene der Prosodie ‡ Zäsuren auf der Ebene der Semantik/ Pragmatik Da in den GAT-2-Transkripten die Notation dem zeitlichen Verlauf folgt, lassen sich die neuen Symbole ohne großen Aufwand in die Transkripte einfügen. Trivialerweise steht an jedem Zeilenende eine prosodischer Abschlusspunkt „ ‡ “, da sich die Segmente aus den Intonationsphrasen ergeben, es sei denn, es handelt sich um ein Fragment einer Intonationsphrase. „Nur Fragmente, d. h. unabgeschlossene Phrasen, stehen ohne ein Zeichen für die letzte Tonhöhenbewegung“ (Selting et al. 2009: 373) nach den GAT-2-Konventionen und nur solchen Segmenten fehlt am Zeilenende eine prosodische Zäsur. 5.4.5.1 Prosodische Zäsuren Intonationsphrasen sind nicht notwendigerweise durch Pausen voneinander abgegrenzt, lassen sich aber durch ein Bündel von Merkmalen identifizieren (vgl. auch Selting 1995b). An ihrem Anfang findet sich häufig eine erhöhte, an ihrem Ende eine verlangsamte Sprechgeschwindigkeit, nach der letzten Akzentsilbe folgt eine finale Intonationsbewegung, die abfallende Deklination wird zu Beginn einer neuen Intonationsphrase auf das normale Tonhöhenregister zurückgesetzt. Abbildung 20 zeigt die instrumentalphonetische (oben) und stilisierte (unten) Darstellung des Lautstärke- und Tonhöhenverlaufs des Gesprächsausschnitts aus Beispiel 21. <?page no="257"?> 5.4 On-line-Syntax (Peter Auer) 247 Abbildung 20: Deklination bzw. Downstepping Durch die prosodische Phrasierung können Äußerungen in zwei oder mehr Abschnitte gegliedert werden, die jeweils eigene Intonationskonturen haben und durch Sprech- oder Atempausen voneinander getrennt sein können. An den Phrasengrenzen treten häufig Dehnungen der unmittelbar vorausgehenden Silbe auf (final lengthening). Besteht die Äu- <?page no="258"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 248 ßerung aus mehreren Phrasen, lässt sich manchmal der allmähliche Fall der Grundfrequenz zum Ende hin beobachten, der auch als Deklination bezeichnet wird. Manche sprechen auch von Downstepping, da es sich um keinen kontinuierlichen Verfall handelt (vgl. Möbius 1993). Das Zurücksetzen einer Intonationskontur an der Phrasengrenze auf die ursprüngliche Tonhöhe wird auch als Resetting bezeichnet. Die Rolle der Prosodie als Ordnungsprinzip der gesprochenen Sprache kann gar nicht unterschätzt werden: „[C]ompared to written language, the importance of syntax is greatly reduced by the availability of prosodic means (rhythm and intonation) in spoken language.“ (Auer 1992: 46f.) Für sich genommen ist die prosodische Einheitenbildung kein Beweis dafür, dass syntaktische Einheiten oder Handlungseinheiten in der gesprochenen Sprache durch die Prosodie überdeckt oder irrelevant werden. Es ist gerade das Zusammenspiel der verschiedenen linguistischen Ebenen, das den GesprächspartnerInnen Orientierung ermöglicht. Ob sie dafür jedoch auf die Kategorie „Satz“ Bezug nehmen oder auf das, was in der Mündlichkeit an seine Stelle treten könnte, ist eine andere Frage. 5.4.5.2 Syntaktische Zäsuren Syntaktische Zäsuren stimmen nicht automatisch mit syntaktischen Segmentgrenzen überein, da die On-line-Verarbeitungsperspektive Gestaltschlüsse erkennt, obwohl an dieser Stelle trotzdem noch syntaktischer Ausbau erfolgen kann. Tatsächlich werden die eigentlichen Segmentgrenzen in aller Regel erst durch zusätzliche prosodische Markierung kontextualisiert. Anders steht es um die Zäsuren, die in der On-line-Emergenz der Äußerung entstehen. In Zeile 06 von Beispiel 19 besitzt Dragans Reaktion auf Bastis vorwurfsvolle Bemerkung „den musste aber KENnen; “ das Format einer „show concession“ (Antaki & Wetherell 1999) und enthält mehr Abschlusspunkte als Segmente. Die Relevanz des syntaktischen Abschlusspunktes nach „den kenn ich“ (Zeile 10 in Beispiel 19; der Übersichtlichkeit halber hier noch einmal wiederholt) wird jedoch durch die Prosodie außer Kraft gesetzt. Die fehlende Apodosis der anschließenden Konditionalkonstruktion verhindert einen syntaktischen Abschluss, das „keine AHnung; “ (Zeile 12) vollzieht auf pragmatischer Ebene jedoch den Gesprächsschritt. <?page no="259"?> 5.4 On-line-Syntax (Peter Auer) 249 Beispiel 20: Wer war William Shakespeare? (BB1_9) mit Zäsurzeichen 09 Dra: ja | äh DOCH, |‡ 10 den kenn ich | SCHON | aber; (---)‡ 11 wenn du mich jetz FRÄGSCH was der alles gemAcht hat und-‡ 12 (-) keine AHnung; (--)‡ In dem Beitrag von Gudrun in Beispiel 21 (siehe auch Abbildung 20) ist bereits in Zeile 46 ein guter Gestaltschluss erreicht. Dennoch wird ihr Turn weitergeführt. In einem segmentbasierten Ansatz würde die Einordnung von „zum BEIspiel.“ (Zeile 47) Schwierigkeiten bereiten, da man sich entscheiden müsste, inwieweit es sich um einen selbstständigen Beitrag (Ellipse? Satz? ) handelt. Im Sinne des Zäsurierens sind sowohl in Zeile 46 als auch in Zeile 47 syntaktische, prosodische und pragmatische Abschlusspunkte erreicht, unabhängig vom syntaktischen Status des expandierenden Elements in Zeile 47. Beispiel 21: Wer war William Shakespeare? (BB1_9) mit Zäsurzeichen 45 Gud: und es sind auch VIEle wörter drin | die: - °h‡ 46 äh auch ICH nich kenne.|‡ 47 zum BEIspiel.|‡ 5.4.5.3 Semantisch-pragmatische Zäsuren Zu guter Letzt lassen sich im Gespräch „klare semanto-pragmatische Abschlusspunkte“ identifizieren, immer wenn „eine sprachliche Handlung erkennbar abgeschlossen ist.“ (Auer 2010b: 15) Der Ausschnitt in Beispiel 21 (s. o.) macht ebenfalls deutlich, dass, wenn man Transkripte als zweidimensionale, geschriebene Texte betrachtet, man in der Rückschau zu dem Ergebnis kommt, dass Gudruns Satz von Zeile 45 bis 47 geht, auch wenn Dragan schon nach Zeile 46 ins Gespräch hätte einsteigen können. Diese „allwissende“ Betrachtung, da man ja weiß, was passieren wird, entspricht jedoch nicht der Perspektive der TeilnehmerInnen und widerspricht ebenso dem Geist der On-line-Syntax-Perspektive. Die TeilnehmerInnen in der Interaktion können nur fortlaufend Vermutungen darüber anstellen, was (am nächsten möglichen rederechtsübergaberelevanten Punkt) passieren könnte. Erweiterungsstrukturen von - vorläufig - abgeschlossenen „Sätzen“ lassen sich also nicht vorhersehen. Wenn wir als analysierende WissenschaftlerInnen in diesem Sinne „try to reconstruct the interaction, on the basis of the transcript, as the one-dimensional, linear, i. e. oral event it actually was, it becomes clear that the extension of a turn is negotiated by speaker and listener and is, in this sense, not predictable.“ (Auer 1992: 48) Bei Beispiel 22 handelt es sich um die vollständige Fassung des Gesprächs zwischen Dragan, Gudrun, Vanessa und Basti um die Frage nach der Notwendigkeit, die Person William <?page no="260"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 250 Shakespeare kennen zu müssen. Es wurde nach eigenem Ermessen mit den jeweiligen Zäsuren versehen. Beispiel 22: Wer war William Shakespeare? 2 (BB1_9) mit Zäsurzeichen 001 Dra: samma EHRlich.= ‡ 002 =MUSS ma den kennen. (-)|‡ 003 Gud: vom ] |‡ 004 Bas: <<h> [SHAkespeare; ]>= |‡ 005 Gud: =SHAkespeare? |‡ 006 Bas: de[n musste aber KENnen]; |‡ =du; |‡ 007 Dra: [william SHAkespeare.] |‡ 008 Bas: ((Gitarrensaite wird angeschlagen)) 009 Dra: ja | äh DOCH, |‡ 010 den kenn ich | SCHON | aber; (---)‡ 011 wenn du mich jetz FRÄGSCH was der alles gemAcht hat und-‡ 012 (-) keine AHnung; (--)‡ 013 <<f> ob der [ roMAne ge]schrieben hat; > ‡ 014 Gud: [also SHAkes] 015 Dra: ob der (-) FIlme schon mitgemacht hat; ‡ 016 so (.) dokumentaTIO: Nen oder weisst(_e nich was); ‡ 017 Gud: [((lacht)) ] 018 Dra: [KEI: ne Ahnung; ] ‡ 019 Gud: [((lacht)) ] 020 Tan: [((lacht)) ] 021 Bas: <<lachend> DOkumentationen.> ((lacht)) |‡ 022 det is der brUder | vom: (.) he JACques | rousseau,|‡ 023 Deb: [((kichert)) ] 024 Tor: [((kichert)) ] 025 Gud: [((lacht))] 026 Dra: (von da) 027 warum | LACHT [ihr denn; ] |‡ 028 Deb: [((lacht)) ] 029 Gud: [((lacht)) ] 030 Dra: [du,= wer ist jacques rousSEAU? ] |‡ 031 Bas: <<lachend> dEn [kennst_e | AUCH | nich; >]|‡ 032 Gud: [<<lachend> weil_s so ] LU: Stig is; >|‡ 033 Bas: [((lacht))] 034 Gud: [((lacht))] weil es is LUStig; |‡ 035 <<lachend> das is LUstig; |‡ 036 das musst du jetzt AUCH aushalten.|‡ 037 das is so | wie bei debora | grad; >|‡ 038 Bas: [((lacht)) ] 039 Dra: [ja nee,= ich versteh ich verSTEH_s | grad bloss <?page no="261"?> 5.4 On-line-Syntax (Peter Auer) 251 nich; ] |‡ 040 Van: ((hustet)) 041 Gud: nein SHAKESpeare is (.) ähm °h 042 Dra: ach so shakespeare ( ) 043 Gud: es is von der (.) SPRAche her schon hnungsbedürf[tig.]|‡ 044 Bas: [ hm_]hm, |‡ 045 Gud: und es sind auch VIEle wörter drin | die: - °h‡ 046 äh auch ICH nich kenne.|‡ 047 zum BEIspiel.|‡ 048 Dra: nein! . (1.0) |‡ 049 des kann nich SEIN,|‡ 050 te.|‡ 051 Gud: ja,= |‡ is halt so; = |‡ 052 =d ds sind ganz alte SACHen drin; |‡ 053 und dann Aber: °h 054 Dra: <<akzentuiert, rhythmisch> und DU kennst diese wörter | nicht; >|‡ 055 Gud: <<p, all> ja,= |‡ ich kennn VIEle wörter | nich; >|‡ 056 Dra: ja und jetzt erKLÄR mal | zur person.|‡ 057 <<rhythmisch> WER war william | shakespeare.>|‡ 058 Gud: °h 059 Dra: ANgenommen des wär jetzt so ne frage | und da hätt ich gesagt, (.) 060 KEInen blas[sen sch]immer.|‡ 061 Gud: [ SHAke ] 062 shAkespeare is_n DICHter? | 063 Van: [((räuspert sich))] 064 Gud: [also n_LYriker, ] | 065 ähm= 066 Dra: =DICH[ter]. |‡ 067 Gud: [der] 068 ja: -= |‡ 069 =der geleb also n (-) n 070 ja wie NENNT man das; |‡ 071 SCHON n_dichter | im Endeffekt; °h|‡ 072 zum beispiel romeo und julia is halt so (.) das (.) beKANNteste.|‡ 073 Dra: is des AUCH von ihm; |‡ 074 Gud: AUCH von ihm; |‡ 075 hm_hm,|‡ 076 Dra: ach so,|‡ 077 Gud: also dann: ähm (-)‡ 078 ach gott | dann (.)‡ 079 was so alles verFILMT worden ist; ‡ 080 ist HAMlet, | 081 romeo und JUlia, | 082 was [ihr WOLLT,] | 083 Dra: [ ach ham]let isch AUCH von Ihm; |‡ <?page no="262"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 252 084 Gud: bei diesen ganzen (.) richard der BLA BLA- ‡ 085 da weiß ich gar 086 <<p> die KENN ich alle | nich; >|‡ 087 Van: mh_mh,|‡ 088 Dra: kuck mal,= |‡ s_zeigt nur WIRKlich dass ich noch nie n_bUch gelesen hab; |‡ 089 Bas: nö,= |‡ das hat DAmit nix zu tun [( )] |‡ 090 Van: [(mh nö)] 091 Bas: °h al[so] 092 Dra: [ja] aber dass ich mich überHAUPT, 093 wenn einer °h gerne bücher LIEST, 094 auch wenn er bloss zwEI DREI gelesen hat; ‡ 095 der kennt sich wenigstens BISschen aus; °h|‡ 096 was W[AS ist] | der 097 Bas: [ nö; ] |‡ 098 Dra: doch.|‡ 099 Gud: ((räuspert sich)) du hast ja n_VIdeorecorder | sicher, |‡ =ne? |‡ 100 Dra: m (.) ehm nee-|‡ 101 Gud: sag mal EHRlich; |‡ 102 Dra: na LOgo; ((lacht)) |‡ 103 Gud: °h GEH mal in die videothE: k, | 104 und hol dir auf dEU: tsch, (--) 105 ähm den (.) ähm HOLlywoodfilm | (.) romeo und julia. (-)|‡ 106 mit leon[ar]do di CAPrio | [und ] 107 Dra: [hm] [ah DEN] hab ich schon gesEhn; |‡ 108 de DEN hab ich ja zuhAUse; |‡ 109 Gud: den hast_e geSEHN; |‡ 110 Dra: ha_ja, |‡ 111 Gud: ja,= |‡ das is auch (.) das is das is mit SEIner sprache | Alles; |‡ 112 Dra: °h stimmt.= |‡ 113 =des s_ja des DEPpengeschwätz | wo ich nach zehn minuten [wEggeschalten hab.] |‡ 114 Van: [((lacht)) ] 115 Gud: [((lacht)) ] 116 Dra: ja wo ich nach zehn minuten kein BOCK mehr hasch | was die für_n schEIss da labern.|‡ 117 und wiederHOlen sich | vierzig mal. (-) °h|‡ 118 eh da hau AB, (.)|‡ 119 komm,|‡ 120 Gud: ((lacht)) 121 Dra: nei: n. °h|‡ 122 und da hab ich zu meiner FRAU hin gesagt,=| 123 =sag ich SCHAU dU weiter; =|‡ 124 =und ich geh SCHLAfen; |‡ <?page no="263"?> 5.4 On-line-Syntax (Peter Auer) 253 Insgesamt kongruieren in dem Abschnitt 74 Abschlüsse auf allen drei Ebenen, d. h. es wird ein optimaler Gestaltschluss erreicht. Zu einem tatsächlichen Wechsel des Rederechts kommt es an diesen Stellen nur in 36 Fällen. 13 Abschlusspunkte sind nur prosodisch, 16 nur syntaktisch markiert. In 2 Fällen (Zeile 12 und 18) kommt es zu einem prosodischen Abschluss, mit dem auch eine Handlung abgeschlossen wird, ohne dass ein syntaktischer Abschluss vorliegt. Dieser Fall ist von Auer kategorisch ausgeschlossen worden, obwohl er im Fall von Aposiopesen meiner Meinung nach durchaus seine Berechtigung hat. In 16 Fällen wird der Abschluss der sprachlichen Handlung lediglich von einem syntaktischen, jedoch nicht von einem prosodischen Gestaltschluss begleitet, wobei es in 2 Fällen auch zum Sprecherwechsel kommt. In weiteren 2 Fällen wird mit einem syntaktisch-prosodisch markierten Abschluss keine sprachliche Handlung abgeschlossen. Anders als in Auers Analyse gibt es in meinem Gesprächsausschnitt jedoch auch 10 Äußerungsfragmente. Solche abgebrochenen Formulierungsfragmente erhalten, wenn sie nicht mit einem Glottalverschluss enden, kein Zeichen für eine Tonhöhenbewegung am Einheitenende. Oft sind die Abbrüche eine Folge von kompetitiven Überlappungen (Zeile 106-107, 96-98), so dass es in der Hälfte dieser Fälle auch zu einem Sprecherwechsel kommt. 143 In 84% der Fälle findet der Sprecherwechsel an Stellen statt, die auf sämtlichen Ebenen als mögliche Abschlusspunkte markiert werden. Diese Ergebnisse decken sich auch mit der hohen Übereinstimmung von prosodischen und syntaktischen Grenzen, die Der Fall einer pragmatischen Zäsur in Abwesenheit der anderen beiden Zäsurmerkmale kommt definitionsgemäß nicht vor. Croft (1995) fürs Englische ermittelt hat. 143 Zur Unterscheidung zwischen „competitive overlap“ und „collaborative overlap“ und zur wichtigen Funktion von Tonhöhe- und Lautstärkevariation der „incomings“ siehe French & Local (1983). <?page no="264"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 254 Tabelle 14: Korrelation zwischen Sprecherwechsel und Zäsuren in Beispiel 22 Komplexität der Abschlusspunkte Zäsuren turn taking | ‡ 74 36 | ‡ 2 | 16 2 ‡ 2 | 16 ‡ 13 0 Ø 144 10 5 5.4.6 Leistungen und Grenzen des Zäsurierens Beim Setzen der Zäsuren ergaben sich eine ganze Reihe Probleme oder Unklarheiten: Auer spricht von schwacher, mittlerer und starker syntaktischer Kohäsivität und damit wird deutlich, dass die binäre Unterscheidung in syntaktische Abgeschlossenheit oder Unabgeschlossenheit eine Idealisierung ist. Das folgende Beispiel verfügt laut Auer (2010b: 13) über zwei syntaktische und pragmatische Abschlusspunkte und einen prosodischen Abschlusspunkt: 24 C [WAS | (.)] stimmt nicht? |‡ Er analysiert sein eigenes Beispiel als Äußerung mit zwei syntaktischen Abschlusspunkten, weil „zwischen was und stimmt nicht syntaktisch gesehen eine relativ schwache (Phrasen-) Grenze (NP/ VP)“ (Auer 2010b: 13) liegt. Wenn aber auch schwache oder mittlere Kohäsivität auf der syntaktischen Ebene nicht ausreicht, um Gestaltschlüsse zu verhindern, wird potentiell jedes Wort (zumindest jede NP) zu einem Gestaltschluss. Schließlich kann ich nicht nur mit was eine selbstständige Äußerung durchführen. 145 144 Da fragmentarische Segmente beim Zäsurieren ausgeschlossen sind, handelt es sich hier im eigentlichen Sinn nicht um einen Abschlusspunkt. 145 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Bloomfields (1933: 170) klassische Satzdefinition, die gerade deshalb bemerkenswert ist, weil er die Frage nach der ‚Satzwertigkeit‘ nicht kategorisch regelt, sondern explizit vom Kontext abhängig macht. In einem Fall kann eine elliptische Äußerung als selbstständiger Beitrag stehen, in einem anderen Kontext kann derselbe Beitrag Teil einer grö- <?page no="265"?> 5.4 On-line-Syntax (Peter Auer) 255 Das Gleiche gilt für die syntaktische Grenze bei Äußerungen mit Satznegation durch „nicht“ - hier ist zwar die syntaktische Struktur schon vor der Negation gesättigt, es ist jedoch intuitiv nicht einleuchtend, hier eine Grenze zu setzen, wenn der Kontext eine positive Variante extrem unwahrscheinlich macht (vgl. die Negation in Zeile 31, 39, 54, 55 und 86 in Beispiel 22). Auf der anderen Seite würden Missverständnisse oder Überlappungen an dieser Stelle Evidenz dafür liefern, wie realitätsnah und angemessen das Zäsurieren auf mehreren Ebenen ist. Eigentlich müssten Intonationsphrasen mit progredienter Intonation - also einem schwachen Grundfrequenzanstieg an Phrasengrenzen im Inneren einer Äußerung - von solchen mit deutlich fallenden oder deutlich steigenden finalen Tonhöhenbewegungen unterschieden werden, da die einen weiterweisende Konturen bilden, die andern turnbeendende. Da das aber nicht passiert, muss die Annullierung des prosodischen Abschlusses durch die sogenannte „Komma-Intonation“ erst aus dem Komma in der GAT-2-Transkription und dem prosodischen Abschlusszeichen „ ‡ “ rekonstruiert werden. Fraglich ist, inwieweit eine „weiterweisende Kontur“ (Auer 2010b: 14) überhaupt einen prosodischen Abschlusspunkt darstellen kann oder ob umgekehrt eine halbsteigende finale Tonhöhenkontur kategorial als prosodischer Abschlusspunkt ausgeschlossen werden muss. Ich habe bei der Analyse in den Fällen mit halbsteigender finaler Tonhöhenkontur keine prosodische Zäsur „ ‡ “ gesetzt, wenn es sich um die metapragmatische Ankündigung einer Redewiedergabe (Günthner 1997a, 2002) durch ein verbum dicendi (Zeile 122/ 123 und 59) handelt oder wenn die Intonationsphrasen offenkundig Teil einer Liste (König & Stoltenburg 2013, Selting 2004) sind (Zeile 80-82 und 103-106). Akzeptiert habe ich die Kombination aus prosodischer Zäsur und halbsteigender Intonation bei Rückmeldesignalen (Zeile 44, 75 und 87„hm_hm, ‡ “) und Responsiven (Zeile 110 „ha_ja, ‡ “). Die Wahl der Symbole „ | ‡ “ist möglicherweise zu exotisch. Dadurch wird nicht nur gegen das Robustheitsgebot des GAT-2-Transkriptionssystems verstoßen, sondern es kommt auch zur Überschneidung mit dem Alternativzeichen für Segmentgrenzen im Zusammenhang mit soziologischen Fragestellungen „|“ (Zeichen U+007C) bei Verschriftlichung ohne Zeilensprung (vgl. Selting et al. 2009: 359). Das ist auch deshalb problematisch, weil die Symbole in Auers Fall für syntaktische Zäsuren und im Transkriptionssystem für prosodische Grenzen stehen. Auch die Ähnlichkeit mit dem Sheffer stroke „|“, der in der Aussagenlogik und der booleschen Algebra für die Negation der Konjunktion („nicht beide“) steht, ist ungünstig (obwohl natürlich nicht jeder senkßeren Konstruktion und daher unselbstständig und nicht satzwertig sein. Der Satz ist also die größte morphologisch gebundene Einheit, die in der Lage ist, in einem geeigneten Kontext selbstständig als Redebeitrag eingesetzt zu werden (vgl. Auer 2010b: 7). <?page no="266"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 256 rechte Strich, der jemals terminologisiert wurde, ins Feld geführt werden sollte, um die Wahl der Auer’schen Zeichen in Frage zu stellen). Prinzipiell wäre es wünschenswert, Symbole zu wählen, die dem GAT-2-Verschriftungsprinzip der Ikonizität und Robustheit (vgl. Kapitel 2.4.2) eher gerecht werden. Beim Zäsurieren in sprachliche Handlungen war die Versuchung groß, sobald ein Punkt syntaktischer Abgeschlossenheit erreicht wurde, auch vom Vollzug einer sprachlichen Handlung auszugehen. Diese Vermischung der Grenzen wird nahegelegt, da „Handlungsgrenzen syntaktische Abschlüsse voraussetzen“ (Auer 2010b: 15), auch wenn der umgekehrte Fall nicht gilt. Handlungen, die über mehrere syntaktische Abschlusspunkte hinweggehen, werden in der Regel durch initiale Vorlaufhandlungen eingeleitet, in denen der Mechanismus des Sprecherwechsels außer Kraft gesetzt wird bzw. die Erlaubnis für den kommenden „multi-unit turn“ (vgl. Schegloff 1996: 61f.) von den Gesprächspartnern eingeholt wird. Im Rahmen dieser größeren kommunikativen Projekte wäre aber zu fragen, ob sich auf einer hierarchisch niedrigeren Ebene nicht subsidiäre Teilakte befinden und wie diese zu bewerten sind. Auf semantischpragmatisch höherer Ebene hätten wir es dann mit weit längeren Projekten, Episoden, Aktivitäten oder Gattungen zu tun (vgl. dazu auch Kapitel 4.8.3). Letztendlich widmet sich schließlich der gesamte Ausschnitt von Beispiel 22 der Auflösung der einen Frage, „wer war Wilhelm Shakespeare? “ und „samma EHRlich.=MUSS ma den kennen.“ Dass sich die Suche nach den Einheiten der gesprochenen Sprache wirklich „am besten durch den Begriff der mehr oder weniger prägnanten Gestaltschlüsse“ (Auer 2010b: 17) ersetzen lässt, halte ich für problematisch. Zwar orientiert sich das Zäsurieren strikt am zeitlichen Verlauf der Äußerungsproduktion und es lässt sich sehr gut an das System des Sprecherwechsels anbinden. Es hat aber auf kategorialer Ebene auch Defizite. Angenommen, zwei „Segmente“ sind durch eine syntaktische Grenze voneinander getrennt, ohne dass - prosodisch oder pragmatisch gesehen - auch eine Zäsur erreicht wurde, dann ließe sich im Rahmen der Notation nicht erkennen, ob es sich um einen Nachtrag oder um eine Vor-Vorfeld-Besetzung etc. handelt, da die Relationen zwischen den sich aus der Zäsurierung ergebenden Teilen nicht ausgedrückt werden. Im unwahrscheinlichen Fall, dass es tatsächlich mal zu einem „neverending sentence“ (Auer 1992) kommt, weil zwei GesprächspartnerInnen in Koproduktion ein und dieselbe syntaktische Konstruktion immer weiter ausbauen, ließe sich dieser Endlossatz aufgrund der in ihm vorgenommenen Kategorisierungen (oder Zäsurierungen) nicht von unserem Gespräch in Beispiel 22 unterscheiden. In dem echten Gespräch werden aber nicht nur regelmäßig komplexe Abschlusspunkte erreicht, sondern nach diesen Abschlusspunkten wird häufig auch etwas Neues begonnen. Diese Information, wie auch alle anderen sequenziell-relationalen Informationen, geht beim Zäsurieren verloren. <?page no="267"?> 5.4 On-line-Syntax (Peter Auer) 257 Levinson (2009: 302) hat sich dagegen ausgesprochen, jenseits der oberflächenstrukturellen Merkmale andere Mächte am Werk zu sehen (wie z. B. Sprechakte oder gestische Signale), die für die Einheitenbildung bzw. den Sprecherwechsel verantwortlich sind: „Turn-taking is firmly anchored around the surface-structural definition of turn-units, over which rules […] operate to organize a systematic distribution of turns to participants.“ Diese Kritik gilt es ernst zu nehmen: Sie richtet sich gegen eine Over-and-out- Vorstellung des Sprecherwechsels, bei dem sich die Gesprächspartner durch Signale darüber verständigen, wer als nächstes spricht, anstelle eines Systems von Regeln, das die Gelegenheit zur Redeübergabe lokal organisiert. Dieselben Argumente lassen sich auch gegen die Vorstellung anführen, Sprecherwechselorganisation orientiere sich an Handlungsschritten im Sinne von speech acts. Beide Vorstellungen machen falsche Vorhersagen darüber, an welchen Stellen es zu Überlappungen kommt bzw. würden Überlappungen vorhersagen, die so gut wie nie eintreten. Daher muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Bündelung der Zäsuren nicht als eine Art der Signalverstärkung zu verstehen ist, so dass der ‚gute Gestaltschluss‘ für die Interaktanten der Startschuss ist, jetzt das Rederecht zu ergreifen. Vielmehr gelingt der reibungslose (aber nicht überlappungsfreie! ) Sprecherwechsel deswegen, weil die TeilnehmerInnen ständig Abschlusspunkte antizipieren: At a TRP [transition relevance place, BS] the rules that govern the transition of speakers then come into play, which does not mean that speakers will change at that point but simply that they may do so, as we shall see. The exact characterization of such units still requires a considerable amount of linguistic work […], but whatever its final shape the characterization must allow for the projectability or predictability of each unit’s end - for it is this alone that can account for the recurrent marvels of split-second speaker transition. (Levinson 2009: 297; Hervorhebung im Original) 5.5 Zusammenfassung und Diskussion Ein zentrales Erkenntnisinteresse dieser Arbeit besteht darin, ein Syntaxmodell für die gesprochene Sprache zu entwickeln, das in der Lage ist, den zeitlichen Strukturaufbau von Sprache-in-Interaktion realistisch darzustellen, damit ein für die GesprächsteilnehmerInnen wesentlicher Teil der Interaktion - ihre Prozessualität - auch ein wesentlicher Teil der wissenschaftlichen Rekonstruktion und Analyse wird. Auf der Suche nach einer angemessenen Beschreibungssprache und einer geeigneten Modellierung von zeitlichen Verhältnissen und zeitlich geprägten sprachlichen Verfahren in mündlicher Kommunikation ist eine Transformation des kommunikativen Ereignisses in die Schriftform zu Analysezwecken unverzichtbar. Im Verlauf dieses Prozesses des Trans-Skribierens gehen viele Informationen des ursprünglichen kommunikativen Ereignisses verloren, je nach <?page no="268"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 258 Verfahren kommen aber auch „neue“ Informationen hinzu. Die vier vorgestellten Modelle unterscheiden sich sowohl hinsichtlich des Verlustgrades an Informationen als auch hinsichtlich der Anreicherung mit linguistischen Kategorien. Eins haben sie jedoch alle gemeinsam: Sie versuchen, den zeitlich-linearen Verlauf gesprochener Sprache auch nach der Überführung in die Schriftform aufrechtzuerhalten. Um zu einer realistischen Sprachbeschreibung zu kommen, die sich der Sprachwirklichkeit der InteraktionsteilnehmerInnen annähert, ist es jedoch nicht damit getan, die zeitliche Emergenz syntaktischer Konstruktionen im Blick zu behalten. Auch dialogische, handlungsbezogene und interaktionale Aspekte von Sprache-in-Interaktion gilt es zu berücksichtigen. Einen Anfang hat Brazil mit seiner handlungsgesteuerten („purposedriven“) Grammatik gemacht, die nicht mehr davon ausgeht, der Zweck sprachlicher Interaktion bestünde für die Gesprächspartner darin, korrekte Sätze zu bilden, sondern darin, kommunikativ erfolgreiche Handlungen auszuführen. Um das Explikationspotential seiner „Grammar of Speech“ aufzuzeigen, fiel seine Wahl auf die kommunikative Handlung des Erzählens, weil die „telling increments“ in Erzählungen weniger komplexe interaktionale Eigenschaften haben als z. B. „asking increments“ und weil auf diese Weise die grammatische Beschreibung nicht von vornherein durch komplexe Teilnehmerkonstellationen und Interaktionsmodi erschwert wird. Leider bleibt die Dynamik, die zwischen SprecherInnen in anderen kommunikativen Zusammenhängen herrscht, durch die Beschränkung auf Erzählhandlungen etwas unterbelichtet, und es wäre erst noch zu zeigen, ob die entsprechenden Handlungsschritte bzw. „target states“ („#“) ebenso leicht in argumentativen Streitgesprächen, Klatsch, Komplimenten, Presseerklärungen usw. zu finden sind. Diese Befürchtungen sind im Fall des „natürlichen“ Verfahrens des „chunking“ der „Linear Unit Grammar“ nicht nötig, die ja von vornherein das Ziel verfolgt, quer durch alle kommunikativen Gattungen und Textsorten „chunks“ intuitiv identifizieren zu können. In gewisser Weise bildet die „Linear Unit Grammar“ einen linearen Zugang zu Sprachrezeption ab, während die „Grammar of Speech“ einen linearen Zugang zu Sprachproduktion liefert: „[C]hunking is a natural and unavoidable way of perceiving language text as it is encountered.“ (Sinclair & Mauranen 2006: 6) Auch wenn die Harmonisierung sprachlicher Produkte verschiedensten Ursprungs zu einer schriftnahen, normgerechten Einheit ein ziemlich sinnloses Unterfangen zu sein scheint, bringt die Textaufbereitung, die vor der eigentlichen Transformation der ULG liegt, interessante Aspekte ins Spiel. Zum einen wäre da die Klassifikation von sprachlichen Formen nach dem Kriterium, ob sie an der Diskursorganisation oder am Inhalt einer Mitteilung beteiligt sind. Zum anderen scheint die Einheitensuche in Bezug auf Gespräche immer wieder auf Formen der gleichen Größe hinauszulaufen (vgl. auch Chafes „idea units“ in Kapitel 4.6). Allerdings mit dem wichtigen Zusatz, dass es sich bei den Einheitengrenzen der „Linear Unit Grammar“ immer nur um provisorische Grenzen handelt („Provisional Unit Boundaries“), die im Verlauf der Interaktion jederzeit - „retroaktiv“ wie Linell sagen würde (vgl. Kapitel 4.8.2) - <?page no="269"?> 5.5 Zusammenfassung und Diskussion 259 revidiert werden können bzw. müssen. Ließen sich die Kriterien für das „chunking“ transparent und objektiv gestalten, dann ließe sich dem „written language bias“ der „Satz- Grammatiken“ ein weiteres Mal Einhalt gebieten. Da die Technik des „chunking“ weitgehend auf Intuition basiert und bestimmte Segmentierungsoptionen aus dem einfachen Grund abgelehnt werden, dass sie „not felt to be a natural grouping“ (Sinclair & Mauranen 2006: 17), scheint es fraglich, ob in Bezug auf die Präzision der chunk-Grenzen jemals über das statistische Mittel von chunking-Ergebnissen von mehreren unabhängigen Versuchspersonen hinausgegangen werden wird. Immerhin erwecken die AutorInnen den Eindruck, dass schon der Versuch, die eigene Intuition zu explizieren, verpönt ist. Im Gegensatz zur On-Line-Syntax (vgl. 5.4) oder den complex transition relevance places CTRP (vgl. 6.1.7) wird die Intuition, an welchen Stellen vorläufige Einheitengrenzen („Provisional Unit Boundaries“) angenommen werden, auch nicht gestützt durch prosodische Information und Einheitenbildung. Während alle vier Modelle als „usage-based“ zu bezeichnen sind, zeigt sich im Falle der „Pattern Grammar“, welches Potential im text mining moderner korpuslinguistischer Methoden liegt: „It is considerably easier to see what has been said than to introspect what can be said.“ (Hunston & Francis 2000: 143; Hervorhebung im Original) Wenn an die Stelle der Intuition datenbasierte Frequenzaussagen zu Kollokationen treten, wird das Verhältnis zwischen subjektiver Fortsetzungserwartung und prototypischen sprachlichen Mustern im „kommunikativen Haushalt“ (Luckmann 1988) einer Sprachgemeinschaft in ein ganz neues Licht gestellt. Den Möglichkeiten bei der Arbeit mit großen Korpora stehen jedoch auch Gefahren gegenüber, z. B. sich zu sehr auf Zahlenverhältnisse und statistische Korrelationen zu fokussieren und dabei den Einzelfall und seinen lokalen Kontext aus den Augen zu verlieren, so dass das Verhältnis zwischen „mikro“ und „makro“ auch in Zukunft immer wieder rekalibriert werden muss. Fillmore hat diesen Konflikt zwischen der Ohrensesselfraktion und den beinharten Statistikern innerhalb der Sprachwissenschaft zugespitzt formuliert, als er in einem fingierten Dialog die methodologischen Fallstricke der Korpus- und der Armchair-Linguistik aufs Korn nahm: die „Ohrensessel“-Linguisten (und in gewissen Grenzen auch qualitativ arbeitende Interaktionslinguisten) müssen sich immer wieder die Frage gefallen lassen „Why should I think that what you tell me is true? “, während Korpuslinguisten dagegen schnell in Gefahr schweben, auf die Frage „Why should I think that what you tell me is interesting? “ keine Antwort mehr finden zu können (vgl. Fillmore 1992: 35). Die Aspekte der Temporalität und Linearität gesprochener Sprache, die die Ecksteine dieser Arbeit bilden, fließen bei Auer in einem Wort zusammen: „on-line“. Mit der Bezeichnung „on-line“ hat Auer hervorgehoben, dass natürliche Gespräche in der Zeit verlaufen, dass ihre Beitragselemente wie Perlen auf einer Kette aneinandergereiht werden und dass ein statischer Blick auf fertige Produkte, die in Form von Baumdiagrammen seziert werden können, an der Perspektive der Produzenten und Rezipienten vorbeigeht. <?page no="270"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 260 Viele der bisher genannten Kritikpunkte lassen sich auch an das Modell der On-line- Syntax herantragen und sowohl ihre Darstellung von Gesprächen in „grilles“ als auch ihre Darstellung mit Zäsuren hat Schwächen. Nichtsdestotrotz ist sie den anderen Modellen überlegen, sowohl was den Verlust als auch was die Anreicherung von Informationen bei der wissenschaftlichen Rekonstruktion von Gesprächen angeht. Dass viele Aspekte mündlicher Sprache im On-line-Syntax-Modell erhalten bleiben, ist jedoch nicht ihr eigenes Verdienst, sondern liegt vor allem an dem gesprächsanalytischen Transkriptionssystems (GAT 2), das die Basis der Verschriftung bildet. Alle anderen Modelle haben weder die Möglichkeit noch sehen sie die Notwendigkeit, die Abbildungstreue bei der Verschriftung je nach Analysezweck zwischen einem Basis- und Feintranskript auf die eigenen Bedürfnisse hoch- oder herunterzustellen. Statt wie bei der „literarischen Umschrift“ (siehe Kapitel 2.4.2) auf genaue Wiedergabe und Lesbarkeit zu achten, gehen viele Aspekte gesprochener Sprache durch die geringe Detailtreue orthografischer Wortformen bei den anderen Modellen schon verloren, bevor überhaupt weitere analytische Schritte erfolgen können. Auch was prosodische Informationen angeht, sind die GAT-2-Transkripte den anderen Grammatik-Modellen überlegen, da sie je nach Bedarf über das volle Arsenal prosodischer Beschreibungskategorien verfügen können (vgl. Selting et al. 2009: 370-388), wogegen die „Pattern Grammar“ und die „Linear Unit Grammar“ gar keine und die „Grammar of Speech“ fragwürdige Möglichkeiten bereitstellen, Informationen zu Pausen, Sprechgeschwindigkeit, Lautstärke und Grundfrequenz zu kodieren und festzuhalten. Was die kategorialen und strukturellen syntaktischen Informationen angeht, scheinen zumindest die „Pattern Grammar“ und die „Grammar of Speech“ der On-line-Syntax überlegen zu sein. Immerhin halten sie systematisch vor, welche Wortarten und syntaktischen Relationen bestehen, wohingegen in der Grille-Darstellung von Auer nur ein unspezifischer „Pfeil“ vorgesehen ist. Bei genauerer Betrachtung stellen sich die Bestimmungen der „Grammar of Speech“ jedoch als vereinfachte Part-of-speech-Kategorien dar, die nicht weiter expliziert oder problematisiert werden, die der „Pattern Grammar“ entpuppen sich als schwer zu reproduzierende, idiosynkratrische Wort- und Phrasenkategorien (siehe Kapitel 5.3.2), nachdem Hunston & Francis (2000: 152) in ihrer eigenen Untersuchung zu dem Schluss gekommen waren, „that structural analysis is a pointless exercise“, woraus sich die logische Konsequenz dieser Erkenntnis ergeben hat, „to replace a structural analysis with a pattern analysis, that is, to allow the pattern analysis to stand by itself, without attempting to relate the elements of the pattern to other, more abstract, categories.“ (Hunston & Francis 2000: 177) Worauf die syntaktischen Relationen basieren, die in der „Pattern Grammar“ ein „pattern“ von einem nicht-„pattern“ unterscheiden, oder was die „prospections“ in der „Grammar of Speech“ auslösen, muss erst aus den Beispielen rekonstruiert werden. Auf den zweiten Blick wird klar, dass es sich in beiden Fällen um Valenzverhältnisse handelt. Die eigentliche Grundlage der Einheitenklassifizierung wird in beiden Grammatiken nicht expliziert. Auer widmet sich dagegen ausführlich der theoretischen <?page no="271"?> 5.5 Zusammenfassung und Diskussion 261 Fundierung seiner „Pfeile“ bzw. den Verhältnissen der Projektion, Retraktion und Expansion: „Just like syntax itself, projections are always based on hierarchical structures in language. One of the most central projective procedures of syntax is therefore government.“ (Auer 2009a: 4) Anders als für Brazil sind Linearität und Konstituenz für Auer also kein Widerspruch. Im Gegensatz zur „Grammar of Speech“, die außer linearer Anreihungsbeziehung keine andere syntaktische Relation akzeptiert, sind auch für die „Linear Unit Grammar“ Relationen zwischen den chunks existent, die über die bloße Adjazenz hinausgehen, weil allen Sprachen die zentrale Eigenschaft gemein ist, „that their physical form is linear but their abstract structure is held to be hierarchical.“ (Sinclair & Mauranen 2006: 3) Über den Bereich der Rektion hinaus spielen für syntaktische Projektionen innerhalb emergenter syntaktischer Gestalten in der On-line-Syntax auch noch Konstituenz, Adjazenz und Serialisierung eine wichtige Rolle: Syntax structures speech formally by regulating government (dependency), constituency, adjacency, and serialization. Constituency restricts the possibilities of concatenating simple into complex constructions […]. Government (dependency) relates syntactic nuclei (heads) to their satellites, specifying both their number and kind […]. Serialization imposes restrictions on the order of constituents within a domain […]. Finally, adjacency regulates the distance between the elements in a constituent, particularly between head and satellites […]. (Auer 2005b: 14) Neben der syntaktischen gibt es noch weitere Möglichkeiten der Projektion (semantischpragmatische, prosodische und non-verbale; vgl. Auer (2005b), Auer (2007a: 97)), die je nach Sprachtypus einen wichtigen Stellenwert für die Produktion und Rezeption emergenter Strukturen übernehmen können. Da das Deutsche über sehr starke syntaktische Projektionen verfügt, spielen andere Arten der Projektion im Rahmen dieser Arbeit aber nur eine untergeordnete Rolle. Das liegt unter anderem daran, dass im Deutschen nicht nur Adjazenzprojektionen von einer syntaktischen Position zur nächsten vorkommen, sondern besonders in Gestalt der diskontinuierlichen Konstituenten nichtadjazente syntaktische Strukturen projiziert werden können. Um eine solche Distanzprojektion handelt es sich z. B. bei der deutschen Satzklammer, zumindest wenn keine der Klammerpositionen leer bleibt und das linke Klammerelement das rechte erwartbar macht. Brazils finite-state-Grammatik, die allein auf Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen adjazenten Elementen basiert, funktioniert aufgrund der rigiden Serialisierungsvorschriften des Englischen dort vergleichsweise gut, ist aus typologischen Gründen aber für die Beschreibung der Fortsetzungserwartung in deutschen Sätzen inadäquat: [I]n discussing the communicative values of increments, we cannot postulate any relationship among them other than those that can be related to the way they occur in temporal sequence. Thus the fact that one element occurs at some point after the production of another can be said to have relevance to the way the two are meaning- <?page no="272"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 262 fully related, but a hypothesis that they participate in some kind organization that goes beyond what can be described in one-after-the-other terms cannot. The use of ‚bracketing‘ conventions, for instance, is not available to us. (Brazil 1995: 224) Dieses Unvermögen, Distanzprojektionen in das grammatische Modell zu implementieren, ist besonders deshalb von großer Tragweite, weil es sich im Fall der deutschen Satzklammer nicht bloß um eine Distanzsondern um eine Endprojektion handelt; d. h. das projizierte Element ist zugleich das Abschlusselement einer selbstständigen syntaktischen Einheit (vgl. Auer 2007a: 100). Die erfolgreiche Identifikation von syntaktischen Gestalten ist nicht zuletzt für einen reibungslosen Sprecherwechsel durch vorhersagbare Abschlusspunkte essentiell. Bei einer Sprache wie der deutschen mit einem großen syntaktischen Projektionspotential und zahlreichen Klammerstrukturen (siehe auch Weinrich & Thurmair 2005) sind inkrementelle Verfahren der Projektionseinlösung, des Ausbaus und des Aussetzens während der echtzeitlichen Emergenz syntaktischer ‚Gestalten‘ (siehe Kapitel 6) ein wichtiges Ordnungs- und Orientierungsmittel für die TeilnehmerInnen von Sprache-in-Interaktion und also auch für die Grammatik der gesprochenen Sprache. Die genauen Projektionsverhältnisse sowohl auf Handlungsebene als auch auf syntaktischer und prosodischer Ebene sind jedoch immer abhängig vom lokalen Kontext. Der grenzenlosen Kombinatorik syntaktischer Wörter ein eingeschränktes Paradigma gegenüberzustellen, das sich aus den „existential choices“ (Brazil 1995: 34-36; vgl. auch Kapitel 5.1.5) ergibt, die in einer konkreten Sprechsituation herrschen, deckt sich mit Initiativen von anderen „usage-based“-Ansätzen, dieser Beliebigkeit eine selektiv fixierte syntagmatische Kombinatorik gegenüberzustellen, die immer auch eine Kontextualisierungsfunktion besitzt. Dem gleichen Prinzip folgt z. B. Feilkes (1996, 1998) Theorie der idiomatischen Prägung: Spezifische Kontexte sind ansprechbar durch den - gegenüber dem Wort und freien Kombinationen - gesteigerten Distinktionswert von Syntagmen, Kollokationen und Formeln, die pars pro toto […] diesen Hintergrund semantisch indizieren können. (Feilke 2004: 52) Ihre Idiomatizität macht andere sprachsystemisch mögliche Optionen unwahrscheinlich. Anders als bei Brazil, der an dieser Stelle nur die Wahlmöglichkeiten auf der Grundlage des gesunden Menschenverstandes sinnvoll eingeschränkt sehen möchte, gehen die Selektionseigenschaften im Rahmen einer Kontextualisierungstheorie jedoch in beide Richtungen: Aus einer konstruktionsgrammatischen Perspektive gewinnen „syntaktische Formen durch die Typik ihres Gebrauchs eine konnotative Bedeutung und damit eine Kontextualisierungsfunktion“ (Deppermann 2006: 55f.). Gerade lexikalisch fixierte Konstruktionen sind in der Lage, Kontexte zu schaffen, umgekehrt lösen Kontexte die Verwendung spezifischer idiomatische Kollokationen aus. Das geht in der Bottom-up-Ideologie der „radikalen“ <?page no="273"?> 5.5 Zusammenfassung und Diskussion 263 Konstruktionsgrammatik so weit, abstrakte syntaktische Verknüpfungsregeln vollständig abzulehnen und grammatische Konstruktionen als einzige Ebene der Repräsentation syntaktischen Wissens anzunehmen: „Constructions, not categories and relations, are the basic, primitive units of syntactic representation.“ (Croft 2001: 46) Ob man deswegen Grammatik ausschließlich auf Konstruktionen beschränken muss, scheint mir zwar ein zu „radikaler“ Schritt zu sein, der Zusammenhang zwischen lokalem Kontext, Bedeutung und syntaktischen Strukturen ist jedoch so offenkundig, dass er nicht nur für die gesprochene Sprache wesentlich mehr Aufmerksamkeit verdient hat, oder, wie Roman Jakobson (1990: 332) einst so treffend stichelte: „Grammar without meaning is meaningless.“ Auch in den vier hier diskutierten Grammatikmodellen hat die (Handlungs-)Bedeutung syntaktischer Konstruktionen einen durchaus unterschiedlichen Stellenwert. Die pragmatische Dimension, Gespräche in Handlungsschritte einzuteilen, findet sich nur in der „Grammar of Speech“ („#“) und der zäsurierten Variante der On-line-Syntax („ “) und spielt für die „Pattern Grammar“ und die „Linear Unit Grammar“ nur unterschwellig eine Rolle. Sowohl die Typisierung als auch die Grenzziehung sprachlicher Handlungen erscheint jedoch besonders problematisch und pragmatische Erwägungen im Zusammenhang mit der Grammatik der gesprochenen Sprache hätten es verdient, wesentlich stärker beachtet zu werden. Besonders die konkrete Zuschreibung einer spezifischen Handlungsabsicht zum Zeitpunkt X ist problematisch, da jede Art von Intention per definitionem die (On-line-)Gegenwart transzendiert und sich auf zukünftige Zustände richtet. Hier lassen sich Parallelen zum Dilemma der Sprachwandelforschung ziehen, bei der das Ergebnis des Sprachwandelprozesses immer schon bekannt ist, so dass sprachliche Variationen, die nicht als Vorstadien des synchronen kanonischen Standards betrachtet werden können, vernachlässigt werden. Was wie ein wohlgeordneter, nachgerade logischer Prozess struktureller Emergenz in der Zeit ausschaut, ist ein vom Wissenschaftler gebildetes Konstrukt, schließlich wurden alternative Entwicklungen, Widersprüche und Sackgassen ausgeblendet. Diese „inverted teleology“ (Oesterreicher 2001) drängt sich dem analysierenden Wissenschaftler auch im Falle der finite-state-Analyse von syntaktischen Konstruktionen auf. Viele der genannten Defizite werden von den Autoren selbst als Vorzüge ihrer Ansätze gepriesen und die Logik dieser Argumentation folgt dabei immer dem gleichen Muster. An dieser Stelle daher ein paar kurze Worte zum Ideal der Einfachheit als Selbstzweck. Zahlreiche AutorInnen rühmen sich damit, dass ihr Modell einfacher und nicht so komplex/ kompliziert sei, wie alternative grammatische Beschreibungen. 146 146 Vgl. Im selben Atemzug Sinclair & Mauranen (2006: 163): „This linear model of grammar makes spoken language manageable […].“ Brazil (1995: 235) rühmt sich, dass gegenüber den überfrachteten Darstellungen traditioneller Syntaxhandbücher mit Hilfe seiner „Grammar of speech“ endlich ‚der Wald statt der Bäume‘ gesehen wird. Hunston & Francis (2000: 160) räumen zwar die Kenntnis von dem Kriterium unterschiedlicher Anwendungszwecke ein, wonach „structures may be unnecessary for a ped- <?page no="274"?> 5 Temporalität und Linearität als konzeptionelle Basis ausgewählter Grammatiktheorien 264 wird in der Regel darauf verwiesen, dass es dadurch auch lernbarer würde und gerade für didaktische Zwecke weniger Komplexität für besseres Verständnis sorgen würde. Es bedarf keiner weiteren Worte, dass Verständlichkeit und Lernbarkeit wichtige Eigenschaften des fremd- und muttersprachlichen Grammatikunterrichts sein müssen, in dem sich der Verzicht auf „unnötige“ Komplexität der Kategorien und Modelle auszahlt. Unnötig ist jedoch etwas nur in Bezug auf einen bestimmten Zweck. Der Zweck der Grammatik ist aber nicht notwendigerweise ihre Didaktisierung. Diese Zweckbestimmung gehört mitunter ans Ende einer logischen Kette, da die Genauigkeit der Phänomenbeschreibung nachträglich nicht mehr korrigiert werden kann. Statt Einfachheit als Tugend an sich zu sehen und Unterrichtsszenarien als Beleg anzuführen, wird die Tatsache verschleiert, dass praktische Anwendung und theoretische Modellbildung unterschiedlichen Anforderungen genügen müssen. Die Abkürzung in Form der Arbeitsschritte „Phänomen (Sprache-in-Interaktion) vereinfachte Beschreibung Zweck (z. B. Didaktik)“ zu gehen, schadet der Sprachdidaktik mehr als es ihr nützt. Die sachgerechte Reihenfolge wäre „Phänomen Beschreibung didaktischer Zweck Vereinfachung“. Ein komplexer Gegenstand erfordert eine komplexe Beschreibung - unabhängig von der Notwendigkeit einer späteren Vereinfachung aus welchen Gründen auch immer. agogic grammar but that they are necessary for an academic one“, nicht ohne es im nächsten Schritt durch zwei Beispiele, „where the allocation of structural categories is not only of little value but also of little genuine validity“, widerlegen zu wollen. <?page no="275"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax Der gegenwärtige Zustand der syntaktischen Literatur kann ohne Übertreibung als ein Durcheinander von widerstreitenden Systemen und systemloser Eklektik bezeichnet werden. - John Ries, Was ist Syntax? (1894: 9) 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt Im Folgenden geht es darum, anhand einer kleinen Auswahl prominenter grammatischer Konstruktionsmuster zu zeigen, wie der zeitliche Verlauf von Sprache-in-Interaktion in den Gesprächen seine Spuren hinterlässt und welche Strategien und Praktiken die TeilnehmerInnen einsetzen, um die Herausforderungen, die die Flüchtigkeit und Prozesshaftigkeit von Sprache-in-Interaktion mit sich bringen, zu meistern. In Anbetracht des eindimensionalen zeitlichen Verlaufs syntaktischer Phänomene bietet es sich an, die Phänomene der Reihe nach zu behandeln, je nachdem, ob sie am Anfang, in der Mitte oder am Ende auftreten. Dabei wird offensichtlich, wie sehr sich die interaktionalen Aufgaben abhängig von der Position innerhalb der syntaktisch emergenten Gestalt unterscheiden und wie effizient sich die kommunikativen Strategien positionsabhängig anpassen. Während geschriebene Texte „primär ein räumliches, kein zeitliches Gebilde“ darstellen, deren „Einheiten in der schriftlichen Mitteilung gleichzeitig präsent sind“ (Fiehler 2009: 1172) ist „[m]ündliche Verständigung […] ein kooperativer Prozess, der in der Zeit abläuft und für den […] Prozessualität und Zeitlichkeit konstitutiv ist.“ (Fiehler 2009: 1169f.) Die Relevanz von Linearität und Zeitlichkeit für gesprochene Sprachprodukte führte zu einer Reanalyse dieser ‚Produkte‘ als Prozesse. Da die ‚Produkte‘ mündlicher Kommunikation höchstens für flüchtige Momente im Kurzzeitgedächtnis gegenständlich und buchstäblich unüberschaubar sind, liegt der Anteil an diskurs- und äußerungsstrukturierenden Elementen in Gesprächen signifikant höher. Der bloßen zeitlichen Sukzession stehen also Orientierungshilfen in Form von voraus bzw. rückwärts gerichteten Signalen gegenüber, wobei sich der „Satzrand“ (Selting 1994) als besonders geeignet für solche Signale erwiesen hat. 6.1.1 „Pre’s“ und „action projection“ Die sequenzielle Organisation von Gesprächen impliziert, dass Gesprächsbeiträge nicht einfach nur in einem zeitlichen Nacheinander geäußert werden, sondern dass sie wechsel- <?page no="276"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 266 seitig aufeinander bezogen sind. In ihrer einfachsten Form besteht diese Beziehung zwischen einem Paar von Gesprächsschritten, in dem der erste Paarteil der Sequenz einen bestimmten Typ von zweitem Paarteil konditionell relevant macht. Diese Paarsequenzen können sowohl Vorlaufsequenzen erhalten („pre-expansions“), Nachlaufsequenzen („postexpansions“) oder Einschubsequenzen („insertion sequences“) (siehe auch Kapitel 4.4 und 4.8). Obwohl der Mechanismus des Sprecherwechsels in den meisten Redekonstellationen dafür sorgt, dass zum Ende einer Turn-Konstruktionseinheit zumindest die Möglichkeit eines Sprecherwechsels besteht, gilt für viele Sprecherbeiträge, dass sie aus mehr als einer Turn-Konstruktionseinheit bestehen. Um diesem permanenten strukturellen Druck zum Sprecherwechsel wenigstens zeitweilig zu entgehen und im Voraus das Rederecht für einen „multi-unit turn“ zu erstreiten, müssen Anstrengungen unternommen werden, die ihrerseits eine Turn-Konstruktionseinheit bilden können. Am Beispiel der „story preface“ (Sacks 1974) und der „pre-pre’s“ (Schegloff 1980) wurden solche kommunikativen Verfahren beschrieben, bei denen „[t]he beginnings regularly project aspects of what it will take for the TCU’s endings to be achieved.“ (Schegloff 1996: 96) Dabei wird der eigentlichen, beispielsweise lustigen, seltsamen oder blöden Geschichte eine Ankündigung vorgeschaltet, die die „transition-relevance“ nach den möglichen Abschlusspunkten der Turn-Konstruktionseinheiten innerhalb der Geschichte außer Kraft setzt - bis die Äußerung von etwas Lustigem, Seltsamen oder Blödem den Mechanismus des Sprecherwechsels wieder etabliert. Zu Beginn von Beispiel 9 aus Kapitel 4.7.2, welches zur besseren Übersicht in gekürzter Fassung an dieser Stelle wiederholt wird, haben wir es mit einer typischen solchen Ankündigung zu tun. Die Sprecherin Verona muss sich ihre Rolle als Erzählerin sichern, indem sie etwas erkennbar Erzählenswertes ankündigt, das ihr „passIErt is; “ (Zeile 1). Die Adressaten dieser Anekdote schalten sich erwartungsgemäß erst wieder in das Gespräch ein, nachdem die Pointe der Geschichte (das Geschenk eines Gürtels mit Geheimfach zu Schmuggelzwecken) geäußert wurde, um die Pointe zu ratifizieren. Da sie allerdings in Zeile 26 die Gelegenheit zur Hörerrückmeldung haben verstreichen lassen, baut Verona in Zeile 27 ihre Pointe aus und stellt eine zweite Abschlussstelle her, die die Adressaten nutzen und an der sie den springenden Punkt der Geschichte angemessen quittieren („wie SÜ: SS.“ und „VOLL.“ in Zeile 28f.). <?page no="277"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 267 Beispiel 9b: Was mir heute passiert is (BB1_79) 01 Vero: was MIR heut passIErt is; 02 ich war heut morgen beim friSEUR, 03 04 und dann komm ich RAUS, 05 und dann steht da so_n TYP, 06 mit so ner (.) langen RO: se, 07 so ne UNechte, 08 HÜBsche, ... ((...)) 20 dann hat er mir n GÜRtel geschenkt, ... ((...)) 25 und da war so n minI geHEI: Mfach. 26 (---) 27 °hh und dann meint er da kannste ja TAbak und BLÄTTchen rein tun. 28 Ele: [wie SÜ: : SS.] 29 Van: [((lacht)) ] VOLL. 30 Tor: [((lacht)) ] An diesem Gesprächsausschnitt wird exemplarisch deutlich, dass über die Projektion von prosodischen und syntaktischen Abschlusspunkten hinaus Handlungseinheiten unterschiedlicher Größenordnung angekündigt und abgeschlossen werden, die dialogisch organisiert sind. Solche interaktionalen Phänomene überschreiten den Gegenstandsbereich der Syntax nur dann, wenn Syntax künstlich auf die monologische Domäne des Satzes beschränkt wird. 6.1.2 Diskursmarker und Projektorkonstruktionen Da die „Konstruktionen an den Satzrändern“ prädestiniert dafür sind, „als systematische Ressource der Gesprächsorganisation“ (Selting 1994: 316) zu dienen, dürfen in diesem Zusammenhang die häufig als „Diskursmarker“ 147 bezeichneten Konstruktionen nicht übergangen werden. Diskursmarker waren ursprünglich einmal vollwertige Phrasen oder Lexeme, die sich auf dem „slippery slope“ der Grammatikalisierung befinden. 148 147 Zur Diskussion über Diskursmarker im Englischen vgl. Fraser (1990, 1999), Lenk (1998), Schiffrin (1987), zur Existenz von Diskursmarkern im Deutschen vgl. Auer & Günthner (2005), Gohl & Günthner (1999), Günthner (1999a), Günthner & Mutz (2004), Imo (2012) und zur Pragmatikalisierung von Konstruktionen zu Diskursmarkern vgl. Günthner & Imo (2004), Imo (2007), Mroczynski (2012). 148 Allerdings haben sie diesbezüglich einen Sonderstatus, da sie zwar viele, aber nicht alle Eigenschaften bzw. Phasen der Grammatikalisierung teilen. So hat der Urvater der Grammatikalisierungstheorie Antoine Meillet in seinem Aufsatz über „L’évolution des formes grammaticales“ den <?page no="278"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 268 Diskursmarker sind das Ergebnis von „mehrere[n] miteinander verbundene[n] Wandelprozesse[n]“ (Günthner 1999a: 431), die dazu führen, dass ursprünglich volle lexikalische Wörter oder Phrasen zu Gliederungssignalen grammatikalisiert werden. Da jedoch nicht alle Vorhersagen der Grammatikalisierungserscheinungen zutreffen, spricht man stattdessen auch gerne von „Pragmatikalisierung“. Ein solcher Fall von Pragmatikalisierung liegt z. B. im Fall des syntaktischen bzw. sequentiellen Musters der „Projektorkonstruktion“ vor, die sich von Diskursmarkern nur dadurch unterscheidet, dass sie „Einheiten (beinah) beliebiger Größe“ (Imo 2012: 61) einschließt, die weniger stark verfestigt sind als die prototypischen Diskursmarker weil, obwohl, also oder ich mein. Das Konzept der „Projektorkonstruktion“ wurde von Günthner (2008a, 2008b, 2011d) und Günthner & Hopper (2010) entwickelt und vereint die zeitlich-lineare Perspektive der On-line-Syntax mit Überlegungen der Konstruktionsgrammatik. Die zeitlich-lineare Komponente der Projektorkonstruktionen besteht darin, dass es sich um grammatische Muster handelt, die aus einem vorderen A-Teil und einem (wesentlich unspezifischeren) B-Teil bestehen. Die konstruktionsgrammatische Komponente besteht darin, dass es sich um musterhafte Verfestigungen aufgrund von Gesprächsroutinen handelt, „die auf die pragmatische Projektion von Äußerungen, Sequenzen und Handlungen spezialisiert sind.“ (Imo 2014b: 67) Als Beispiel eignet sich die Projektorkonstruktion des unverbundenen wenn-Satzes, 149 Beispiel 23 der nachfolgende komplexe Diskursabschnitte ankündigt. Normale wenn-Satz- Konstruktionen werden auch als biklausale Konstruktionen bezeichnet, da sie aus einer Protasis und einer Apodosis bestehen. In berichtet Verona, wie sie jedes Mal, wenn sie im Kaufhaus einen Teddy sieht, den Zwang verspürt, diesen zu kaufen, und da bei ihr zu Hause kein Platz für die vielen Teddys ist, nimmt sie sie ins Auto und jedes Mal, wenn sie auf der Straße Kinder sieht, verschenkt sie die Teddys an sie. Unabhängig von den Selbstpositionierungsaktivitäten liefert Verona auf syntaktischer Ebene gleich mehrere wenn-Sätze (Zeile 01, 04, 15), an die sich ein mehr oder weniger kanonischer dann-Teil anschließt (Zeile 08, *18) teilweise sogar kollaborativ produziert (Zeile 17), die zusammen eine ‚klassische‘ Konzessivkonstruktion bilden. Prozess beschrieben als „l’attribution du caractère grammatical à un mot jadis autonome“ (Meillet 1912: 4). Während andere Sprachwandelprozesse wie der der Analogie zu kleinen Erneuerungen führen können, wobei das Gesamtsystem in der Regel aber intakt bleibt, kommt es durch Grammatikalisierung zu echten Innovationen: „[…] la « grammaticalisation » de certains mots crée des formes neuves, introduit des catégories qui n’avaient pas d’expression linguistique, transforme l’ensemble du système.“ (Meillet 1912: 6) Obwohl es bei den Diskursmarkern zu parallelen Entwicklungen (Desemantisierung, Fixierung der Stellungsfreiheit) kommt, sind einige nur fakultativ (phonologische Erosion), andere treten nicht ein (Paradigmatisierung, Obligatorisierung, Kondensierung des Skopus, Koaleszenz). 149 Zum Funktionsspektrum vorangestellter wenn-Sätze vgl. auch Auer (2000b), Günthner (1999c), Wegner (2010). <?page no="279"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 269 Beispiel 23: Wenn ich nen Teddy seh (BB1_79) 01 Vero: wenn ich durch_n LAden geh. 02 und ich hab WE: nig zEIT im kaufhaus. 03 und ich will strUmpfhosen (.) 04 wenn ich n TEDDY seh. (.) 05 Ele: <<p> ja.> 06 Vero: also der mUss mir geFALlen, 07 ich KANN nich anders; =ne? 08 und dann geh ich daHIN, 09 und eGA: L wie, 10 ich muss den KAUfen. 11 Ele: ja: . 12 Vero: und zuHAUse ärger ich mich so, 13 weil ich hab kein PLATZ mehr; °h 14 und immer (.) ab und zu pAck ich dann immer so DREI ins auto, 15 und wenn ich dann irgendwo KINder seh, 16 die irgendwo SPIE: len, 17 Ele: dann [verSCHENKste die. ] 18 Vero: [mach ich einfach die] schEIbe runter und 19 GUCken dann erst n bisschen kOmisch, 20 und dann fahr ich halt WEIter,= 21 =oder oder SO. In Beispiel 24 diskutieren die TeilnehmerInnen Vanessa, Christina, Elena und Torben einer Reality-TV-Sendung über das Thema Aberglaube. Der Szene voraus geht eine Frotzelei zwischen Torben und Vanessa, nachdem Vanessa erzählt hatte, dass sie immer einen Stein bei sich trägt, der ihr Glück bringt. Statt einer Alignierung der Position, formuliert Christina in einer konzessiven auch…aber-Konstruktion eine Gegenposition, in der sie zwar einen emotionalen Bezug zu persönlichen Dingen einräumt, ohne aber ihr Schicksal von ihnen abhängig zu machen wie Vanessa. Im Unterschied zu den kanonischen wenn…dann- Konstruktionen in Beispiel 23 wird die Apodosis in Beispiel 24 nicht realisiert. Stattdessen hat die Protasis in Zeile 22 („nee also,= wenn ich jetzt GANZ ehrlich bin; “) diskursorganisierende Funktion und kündigt eine länger (dissente) Positionierungsaktivität an. Wenn ich ehrlich bin ist eine verfestigte Formel der Alltagssprache, die viele Zeichen einer Pragmatikalisierung ähnlich der Diskursmarker trägt. Sie dient der abschwächenden Vermittlung potentiell gesichtsbedrohender Äußerungen, indem sie auf zwei konkurrierende Gesprächsmaximen verweist. 150 Imo 2014b: 68 Dem Dissenz wird daher der „exkulpierend[e] Metakommentar“ ( ) „wenn ich jetzt GANZ ehrlich bin; “ (Zeile 1) vorausgeschickt. 150 Zu Distanzierungsverfahren mit Hilfe von Konstruktionen mit ehrlich gesagt vgl. Stoltenburg (2009). <?page no="280"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 270 Beispiel 24: Wenn ich ganz ehrlich bin (BB1_78) 01 Chr: nee also,=wenn ich jetzt GANZ ehrlich bin; 02 also ich HÄNge an vielen dingen und denke AUCH, °hh 03 ich fühl mich gut wenn die daBEI sind,= 04 =aber es is nich so dass ich jetzt DENke,= 05 oh: (-) wEnn ich das jetzt nich [daBEI hab,]= 06 Ele: [((lacht)) ] 07 dann SCHAFF ich das nich. 08 (-) 09 weil die kraft steckt in MIR sElber. 10 Ele: ja (-) ja KLAR. Günthner (1999c) zeigt am Beispiel von wenn-Sätzen im Vor-Vorfeld, 151 Günthner 1999c: 214ff. dass sich bei ihnen im Gegensatz zu den meisten kanonischen wenn-Sätzen keine Bedingungs- oder Folgebeziehungen zwischen deren Protasis und Apodosis mehr feststellen lassen. Die von ihr beschriebenen alternativen Funktionen dieser speziellen wenn-Konstruktionen ( ) gliedern sich in drei Bereiche: „Relevanzkonditional-Konstruktionen“ nach dem Typ „wenn du luscht hasch und=zeit, (0.5) wir machen morgen en kindergottesdienst (.) in der lutherkirche.“ die nicht wie andere Konditionalkonstruktionen „einen Beitrag zu den Wahrheitsbedingungen“ leisten, sondern Angaben darüber machen, unter welchen Bedingungen das Folgende für das Gegenüber relevant sein könnte. Die Durchführung der im Beispielsatz genannten Veranstaltung („en kindergottesdienst“), ist also nicht abhängig von der Tatsache, ob die Angesprochene „luscht […] und=zeit“ hat. Den zweiten Bereich nennt sie „metakommunikative Konditionalkonstruktionen“. Hierbei wird in dem vorangestellten wenn-Teil ein Kommentar zu dem Folgesyntagma abgegeben; häufig in modalisierender Funktion: „wenn ich ehrlich bin; (.) (also) (-) des reizt mich also ga: r. net.“ (Günthner 1999c: 217). Der „hypothetische Charakter“ der meisten dieser Formulierungen, die dem Gesprächspartner scheinbar 152 151 Die folgende Differenzierung gilt ausschließlich für die von Günthner als nicht-umstellbare wenn-Sätze im Vor-Vorfeld bezeichneten Fälle. Daneben gibt es Konditionalkonstruktionen, bei denen der wenn-Teil (Protasis) ohne Bedeutungsunterschied ins Vorfeld verschoben werden kann ( eine „Vorgabe von Optionen“ liefern, prädestiniert sie als kommunikative Strategie, um Höflichkeit auszudrücken („wwenn ich dich mal kurz hi unterbrechen darf,“, „wenn ich kurz noch was einwerfen darf; “). Der dritte Günthner 1999c: 224). Die markierte Hauptsatzstellung der Apodosis kontextualisiert in diesen Fällen Emphase und verleiht dem syntaktisch nicht-integrierten wenn-Teil ein „stärkeres pragmatisches Gewicht“ (Günthner 1999c: 228) als es in der Normalstellung der Fall wäre. 152 Scheinbar ist die Option deshalb, weil die vorgeblich eingeholte Erlaubnis dieser stark verfestigten Floskeln nur selten tatsächlich eingeholt wird. Hier bestätigt sich Auers Behauptung „,the prefront field of German […] is a preferred locus for processes of grammaticalization“ (Auer 1996b: 297). <?page no="281"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 271 Bereich unverbundener wenn-Sätze betrifft die „diskursstrukturierende[n] Konditionalkonstruktionen“ (Günthner 1999c: 219), die der „thematischen Orientierung und Kohärenzbildung“ im Gespräch dienen. Wie in dem Beispiel „wenn wir grad über ttIBET sprechen; (-) also (-) das ist auch so=n beispiel, (.) für die mach-die schinesische MACHTPolitik.ne“ führen sie entweder neue Themen ein oder reaktivieren Themen im Verlauf eines längeren Gesprächs. Den drei Subtypen unverbundener wenn-Sätze ist gemeinsam, dass zwischen den Äußerungsteilen keine implikative Beziehung auf propositionaler Ebene besteht, sondern die Relation der Äußerungsteile diskurspragmatischer Art ist: Wenn-Sätze im Vor-Vorfeld geben „metapragmatische Anweisungen zur Interpretation der folgenden Sprechhandlung“, wobei ein ikonisches Verhältnis zwischen der lockeren syntaktischen Verbindung der Syntagmen und der „inhaltlich[…] lockere[n] Beziehung zwischen Protasis und Apodosis“ besteht, ebenfalls manifestiert durch die „prosodische Diskontinuität“ in Form einer kurzen Pause zwischen den Teiläußerungen, die dementsprechend jeweils eigene Intonationsphrasen bilden (vgl. Günthner 1999c: 221-224). 6.1.3 Vor-Vorfeldbesetzungen Im Unterschied zum Diskursmarker ist das Vor-Vorfeld keine funktionale Kategorie, sondern erst einmal eine strukturelle Position im deutschen Satzbauplan - auch wenn diese Position „nicht zum Standardinventar der deutschen Satztopologie“ (Auer 1997: 56) gehört. 153 Vorvorfeld-Ausdrücke sind explizit metakommunikativ. Wenn es für einen Ausdruck mehrere Stellungsmöglichkeiten im Satz gibt, so ist das Auftreten im Vorvorfeld selbst als sprachliches Mittel der expliziten Metakommunikation zu werten. ( In gewissen Grenzen hat diese Position allein schon (metakommunikative) Bedeutung: Thim- Mabrey 1988: 53) Die Annahme eines Vor-Vorfeldes bezieht sich auf die Feldpositionen deutscher Sätze, die sich aus der fixen Position des finiten Verbteils ergeben. Demnach soll vor der linken Satzklammer nur eine Konstituente stehen dürfen - alles andere, was sich nicht als Abbruch oder selbstständiger Beitrag erweist, ist lose mit der Folgestruktur verknüpft und steht in deren Vor-Vorfeld. Die syntaktische Einbettung dieser Elemente ist „vergleichsweise schwach“ (Auer 1997: 55). Da es sich bei den Vor-Vorfeldbesetzungen nicht um selbstständige Äußerungen handelt, sind sie formal ergänzungsbedürftig. Mit anderen Worten eröffnen sie syntaktische Projektionen, die jedoch so unspezifisch und vage sein können, 153 Einige terminologische Verwirrung entsteht, da teilweise die alternativen Begriffe „Linksversetzung“, „doppelte Vorfeldbesetzung“, „mehrfache Vorfeldbesetzung“, „vor-erste Stellung“ usw. kursieren; für eine Begriffsklärung siehe Günthner (1999c). <?page no="282"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 272 dass sie teilweise nur aus der minimalistischsten aller Folgerelationen bestehen: „they project something more to come“ (Auer 1996b: 301). Dadurch leistet die Vor-Vorfeld-Position eine „metakommunikative […] oder semantische […] Rahmung der Nachfolgeäußerung“ während sie sich formal definiert „als erste topologische Position im deutschen Satz, in der Konstituenten stehen, die selbst (im gegebenen Kontext) keine abgeschlossenen Redebeiträge sind, die aber anderseits dem Sprecher keine Verpflichtungen über die zu wählende syntaktische Nachfolgestruktur auferlegen“ (Auer 1997: 67). Als wichtigste Typen von Vor-Vorfeldbesetzungen nennt Auer einfache Adverbialien, Adverbialsätze, Konjunktionen und „Freie Themen“ (Selting 1994), die „zusammen mit dem folgenden Syntagma […] ein größeres syntaktisches Strukturmuster“ (Auer 1997: 55) bilden, wobei sie „per definitionem keine abgeschlossenen syntaktischen Strukturen“ (Auer 1997: 84) sind und daher für sich genommen auch keine „turn-constructional units“ bilden können. In diesen scheinbar widersprüchlichen Leistungen sieht Auer (1996b: 320) in seinem Fazit gerade den interaktionalen Vorzug dieser Konstruktion: „although it is clear that something more is to come, the newly begun gestalt is so underdetermined (open) that no precise predictions can be made about what kind of syntactic structure is going to emerge.“ Die prosodische Realisierung der Vor-Vorfeldbesetzung kann entweder selbstständig mit einer eigenen Intonationskontur erfolgen oder sie ist in die Folgestruktur integriert, wobei letzteres der eigentlichen Vor-Vorfeldbesetzung kommunikatives Gewicht nimmt. Die Funktion der Vor-Vorfeldbesetzungen besteht immer in einer interpretationsleitenden Rahmung der Folgeäußerung: The general function of the pre-front field is to frame the subsequent utterance, i. e. to provide some information which is important for its understanding. This framing function includes metalinguistic comments, but also many other functions. (Auer 1996b: 310) Ein gutes Beispiel für so eine metapragmatische Rahmung ist der Beginn des Ausschnitts aus Beispiel 25b, wo Melanie die Schlichtungsphase eines Streits einleitet, indem sie ihren Standpunkt noch einmal wiederholt (siehe auch die Analyse der gleichen Situation im nächsten Kapitel 6.1.4). Die Vor-Vorfeldbesetzung „°h und WIE gesagt; “ in Zeile 1 erfüllt die beiden typischen Funktionen dieser verfestigten Formel, nämlich der „Markierung von […] Wiederaufnahmen mit der Funktion, Kritik an der Wiederholung zu vermeiden oder thematische Kohärenz herzustellen“ (Imo 2007: 118). <?page no="283"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 273 Beispiel 25b: Ich kann nur für mich sprechen (BB2_5) 01 Mel: °h und WIE gesagt; 02 =ja na! TÜR! lich sprech ich immer nur für mich; = 03 =ich KANN nich für EUch sprechen; 04 das GEHT gar nich; 6.1.4 Apokoinu-Konstruktionen Gr. ἀπὸ κοινοῦ „vom Gemeinsamen“ ist ursprünglich die Bezeichnung einer Redefigur der Worteinsparung aus der antiken Rhetorik, die ähnlich wie die Ellipse oder das Zeugma im Dienste des Ideals der Kürze im Ausdruck (lat. brevitas) steht. Die Kürze entsteht durch die „einmalig[e] Setzung eines Teil-Gliedes, das mehreren einander koordinierten Gliedern in gleicher Weise zugeordnet ist und eigentlich zu jedem Glied besonders zu setzen wäre“ (Lausberg 1990: 348), wobei je nach syntaktischer und/ oder semantischer Passung zwischen „komplikationslosen“ oder „komplizierten“ Figuren unterschieden wird, die für sich genommen entweder wohlgeformte oder ungrammatische Strukturen ergeben würden. Aus interaktionaler Sicht (vgl. Betz 2008, Scheutz 1992, 2005) handelt es sich bei solchen Konstruktionen jedoch nicht um „Redeschmuck“ noch dient die Wortfigur der „Kürze“, es handelt sich vielmehr um ein effektives Mittel zum lokalen Management des Rederechts und der Verständnissicherung. Als „Apokoinu“ oder „pivot constructions“ werden in der Gesprächslinguistik prosodisch zusammenhängende und syntaktisch (zumindest teilweise) zusammenhängende Konstruktionen bezeichnet, in denen es den Anschein hat, als würde der Sprecher auf halbem Weg seine syntaktische Strategie ändern. Die erste Hälfte stellt eine syntaktisch und pragmatisch vollständige Äußerung dar, wobei der Sprecher jedoch den letzten Teil dieser Äußerung als Ausgangspunkt für eine zweite Konstruktion nimmt. Durch das Anfügen des neuen Teils C wird der letzte Teil der ersten Äußerung B re-konstruiert als Teil einer neuen Äußerung, „wobei sowohl A-B wie auch B-C, nicht aber A-B-C eine syntaktisch wohlgeformte Kette bilden.“ (Scheutz 1992: 248) Der Teil, in dem sich die beiden Äußerungen überlappen, wird als gr. koinon („Zapfen“, engl. pivot) bezeichnet. In Beispiel 25 bildet Willy in Zeile 19 eine solche Apokoinu-Konstruktion, und die Vorteile dieses Formulierungsverfahrens werden sofort deutlich. Der Szene geht ein Streit voraus, in dem Melanie Julian vorwirft, seine Frage an Dirk (nämlich ‚wie viele Frauen er schon hatte‘ im Sinne von Sexualpartnern im Unterschied zu Beziehungspartnern) sei indiskret. Daraufhin wirft Julian Melanie eine „intolerante Art“ vor, woraufhin sie sein Kommunikationsverhalten generell bemängelt. Willy versucht, zwischen den beiden Streitparteien zu vermitteln. <?page no="284"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 274 Beispiel 25: Ich kann nur für mich sprechen (BB2_5) 01 Mel: °h und WIE gesagt; 02 =ja na! TÜR! lich sprech ich immer nur für mich; = 03 =ich KANN nich für EUch sprechen; 04 das GEHT gar nich; 05 Dir: (-) doch geht SCHON; 06 07 Mel: [ja WILL ich aber gar nich; ] 08 (--) [bin ] doch nich euer KLAssensprecher; 09 Dir: [wenn du es-] 10 NEIN das hat [doch keiner von dir] verLANGT; 11 Mal: [<<f> o: a: h; > ] 12 Mel: nee- 13 Dir: ne? 14 Mal: [((lachend) oah; )] 15 Mel: [NEIN aber ] deswegen KANN ich nur für mich sprechen; 16 Hag: SO und ich hab gedacht; 17 =du hast jetzt gesagt ich WAR ja immer klassensprecher; 18 Mel: [NE: IN (.) QUATSCH; ] 19 Wil: [du schlägst aber geNAUso so so] so=n bisschen RUppig schlägst du 20 SCHON immer um dich wenn was nich GANZ so klappt wie du möchtest; 21 =und DAS ju- JUlian macht das halt ruppig auf seine ART in die 22 [eh in die extreme in die EIne, ] 23 Hag: [((scherzend) aber das is doch SÜ: ß; ] 24 WENN se ruppig is; ) 25 Mel: [tja SIEHS=e, (-) ne kleine ZIcke, ] 26 Wil: [und und DU gehst (da in die andere richtung Über); ] 27 Hag: aber TROTZdem, 28 29 Wil: geNAU; 30 [aber das is auch in ORDnung <<p> oder was>; ] 31 Hag: [aber (.) WIR ( ) ] wir sind dir gestern 32 NACHgekommen; 33 =du bist dir KEIne? 34 (1) 35 Mel: ich BIN (--) KEIne zicke des ZIckens willen; 36 =sondern ich bin ne NEtte zicke; ((lacht)) 37 Wil: [ne NEtte zicke; ] 38 Hag: [((lacht)) ] <?page no="285"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 275 In Betz’ (2008) Terminologie lässt sich ein „pre-pivot“ (linke Peripherie) von einem „postpivot“ (rechte Peripherie) unterscheiden, die sich ein „pivot“ (oder Koinon) teilen. Dabei kann wie in unserem Beispiel der erste Teil (A-B) syntaktisch unvollständig sein, während der zweite Teil (B-C) in der Regel syntaktisch vollständig ist. Beispiel 25b: Ich kann nur für mich sprechen (schematisch) du schlägst aber geNAUso so so so=n bisschen RUppig schlägst du SCHON immer um dich wenn was nich GANZ so klappt wie du möchtest; pre-pivot A pivot B post-pivot C Da zwischen dem „pre-“ und „post-pivot“-Teilen keine vollständige Symmetrie besteht, spricht man in diesen Fällen auch von modifizierten Spiegelbildkonstruktionen („modified mirror-image constructions“; vgl. Betz (2008: 33)). Sie stellen den häufigsten Realisierungstyp von Apokoinu-Konstruktionen dar. Während diese Konstruktion häufig eingesetzt wird, um Reparaturen zu kaschieren oder das Rederecht über redeübergaberelevante Stellen hinaus zu sichern, wird in unserem Fall wohl eher das Parallelsprechen und der drohende Informationsverlust bearbeitet. Auf diesen statistisch gesehen recht seltenen Fall geht vor allem Betz (2008: 24f.) ein: [I]n post-overlap environment, pivots constitute a structural alternative to recycled turn beginnings, that is, instead of breaking off the construction in progress, speakers can, via a pivot, launch smoothly into a new construction once their talk is in the clear. Andere Methoden, Simultansprechen zu beenden - wie die Erhöhung der Lautstärke (Schegloff 2000) oder die Wiederholung des Redebeitrags (Schegloff 1987b) -, sind weniger elegant und erlauben nicht die der Apokoinu-Konstruktion inhärente Kontinuität der unmarkierten Turn-Erweiterungen „in a prosodically seamless and syntactically progressive way“ (Betz 2008: 167). Im Unterschied zu ähnlichen syntaktischen Phänomenen der gesprochenen Sprache wie z. B. der aus der Phraseologie bzw. Versprecherforschung bekannten „syntaktischen Kontamination“ (Schwitalla 2012: 130) oder den Holzwegsätzen der experimentellen Psycholinguistik (Ferreira et al. 2001) werden Apokoinu-Konstruktionen von den Sprechern nicht als problematisch oder ungrammatisch behandelt. Auch die nahtlose Produktion in einer Intonationsphrase deutet daraufhin, dass es sich um eine systematisch genutzte Ressource handelt, die dazu dient, der Irreversibilität und Flüchtigkeit der gesprochenen Sprache ein Schnippchen zu schlagen. Sie sind ein Paradebeispiel für die <?page no="286"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 276 syntagmatisch-inkrementelle Entfaltung von Gesprächsbeiträgen in der ‚Echtzeit‘ und fallen als eine Form von Turn-Erweiterungsstruktur in den Gegenstandsbereich einer inkrementellen Syntaxtheorie: „[A]pokoinou utterances provide important examples of conversational practices reflecting basic conditions of the other-orientedness and temporally distributed nature of social interaction.“ (Linell 2009: 309f.) 6.1.5 Parenthesen Auch der Begriff der Parenthese 154 Auer 2005a ist der antiken Rhetorik entlehnt und auf die Verhältnisse von Sprache-in-Interaktion übertragen worden. Parenthesen werden in der Regel in Relation zu dem sie umgebenden Satz definiert und beschrieben ( , Dehé & Wichmann 2010, Hoffmann 1998, Schönherr 1993). Obwohl keine Parenthesedefinition darauf verzichtet, Parenthesen als in „einen Satz eingefügte[n] selbstständige[n] Ausdruck […], der strukturell unabhängig ist“ (Bußmann 2002: sub voce „Parenthese“), zu definieren, zeigt deren Vorliebe für Konstituenten-, Phrasen- und Feldergrenzen innerhalb der Rahmenkonstruktion, dass sie mit ihrem Trägersatz interagieren. 155 vgl. auch Stein 2010 Der „Satz“ als linguistische Grundeinheit erweist sich im Zusammenhang mit authentischen Gesprächsdaten jedoch häufig als schwierig und es gibt zahlreiche Hinweise dafür, dass in der gesprochenen Sprache Beginn und Ende ihrer Grundeinheiten nicht nur syntaktisch erzeugt werden, sondern durch das Zusammenspiel von finalen Tonhöhenbewegungen, abgeschlossenen Handlungseinheiten und syntaktischen Abschlusspunkten kontextualisiert werden ( ). An jedem möglichen Abschlusspunkt steht der Sprecher bzw. die Sprecherin vor der Alternative, eine neue Turn-Konstruktionseinheit zu beginnen oder den laufenden Äußerungsbeitrag durch syntaktisch unselbstständiges Material inkrementell zu erweitern. Die Parameter, die zur Beschreibung von Inkrementtypen (vgl. Kapitel 6.1.7) herangezogen werden, lassen sich auch auf die Analyse von Parenthesen anwenden, da sich beide in Bezug auf Abschlusspunkte von Turn-Konstruktionseinheiten beschreiben lassen. Parenthetische Unterbrechungen erfolgen, bevor ein solcher Punkt erreicht ist, inkrementelle Erweiterungen erfolgen, nachdem ein solcher Punkt erreicht ist. Das folgende Beispiel entstammt einem Interview zum Thema Spracheinstellungen, in dem die interviewte AL behauptet „paroDIErn kann ich, (.) ((…)) ein bisschen SÄCH- 154 Zu diesem Abschnitt gab es einige Vorarbeiten, die sich über einen langen Zeitraum verteilen, da mich die Frage der Form und Funktion von syntaktischen Unterbrechungen seit Jahren beschäftigt. Einige Ideen finden sich daher schon in Stoltenburg (2003, 2007, 2012a) und auch die Teilnahme an der internationalen Tagung in Clermont-Ferrand des Laboratoire de Recherche sur le Langage zu diesem Thema im März 2014 hat dazu beigetragen, die Thematik zu durchdringen und weiter Ergebnisse zu diesem Thema zu publizieren (Stoltenburg i.V.). 155 Zur Existenz von „Parenthesennischen“, also syntaktischen Sollbruchstellen für Unterbrechungen innerhalb der Trägersätze, vgl. Stoltenburg (2003, 2007). <?page no="287"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 277 sisch,“ und ihre Äußerung mit der parenthetischen Seitenbemerkung „sagt man mir zumindest NA: CH,“ unterbricht. In Zeile 04 ist noch kein Abschlusspunkt erreicht, an dem ein geordneter Sprecherwechsel möglich wäre. Beispiel 26: Platt sprechen oder parodieren 01 BS: würden sie sagen dass sie da platt SPREchen können? 02 od[er paroDIEren? ] 03 AL: [nein,=SPREchen] kann ich_s nicht. 04 paroDIErn kann ich, (.) 05 sagt man mir zumindest NA: CH, 06 ein bisschen SÄCHsisch, 07 aber ähm platt SPREchen kann ich nicht; Die Äußerung „paroDIErn kann ich, (.)“ ist inhaltlich unvollständig, da sie durch die Nennung einer Person oder eines Verhaltens spezifiziert werden muss, syntaktisch wird ein noch ausstehendes Verbkomplement projiziert (und später auch geliefert), prosodisch wird die Unterbrechung durch die finale Tonhöhenbewegung und die Mikropause kontextualisiert. Würden wir die Reihenfolge der Segmente umstellen, ergäbe sich eine ganz andere Struktur: Beispiel 26b: Platt sprechen oder parodieren (manipuliert) 01* AL: paroDIErn kann ich, (.) 02* ein bisschen SÄCHsisch, 03* sagt man mir zumindest NA: CH, In Beispiel 26b wird in Zeile 02* ein Gestaltschluss erreicht und das für sich genommene unselbstständige Material, das folgt, stellt eine Expansion oder inkrementelle Erweiterung der bereits abgeschlossenen vorausgehenden Turn-Konstruktionseinheit dar. 156 156 Dass es sich bei der ungesättigten Struktur in Zeile 03 um einen Matrixsatz zu dem (in der Rückschau „abhängigen“) Hauptsatz in Zeile 01-02 handelt, ist eine Retrokonstruktion, die die zeitliche Emergenz der Äußerung ignoriert. Aus der Perspektive der TeilnehmerInnen ist nur relevant, dass in Zeile 02 eine Struktur abgeschlossen wurde und das Folgende für sich genommen unselbstständig ist. Der Unterschied zwischen dem echten und dem fingierten Beispiel eröffnet sich nur, wenn Gespräche nicht als fertige Produkte angesehen werden, deren Konstituenten es zu ermitteln gilt, gleichgültig, ob diese zum Gesprächszeitpunkt X schon geäußert wurden oder nicht, sondern wenn aus einer on-line-syntaktischen Perspektive deren Prozesscharakter beschrieben wird, so wie ihn die TeilnehmerInnen in der Interaktion erleben. Erst aus dieser Perspekti- <?page no="288"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 278 ve lassen sich Parenthesen als eine flexible Ressource für die Interaktanten erkennen, um den zeitlich linear verlaufenden Strukturaufbau ihrer Beiträge in Orientierung an den Aktivitäten weiterer Gesprächsbeteiligter zu bewältigen. Betrachtet man Parenthesen aus einer zeitlichen On-line-Perspektive, ist der Abbruch einer emergenten syntaktischen Struktur ein notwendiges, aber nicht hinreichendes Merkmal jeder Parenthese. In unmittelbarer Folge dieser Unterbrechungen ist nämlich noch unklar, ob die abgebrochene Struktur zu einem späteren Zeitpunkt (nach der Parenthese) noch einmal vervollständigt oder weiterbearbeitet wird. Wenn stattdessen nach dem Abbruch eine Reparatur oder eine reparaturähnliche Sequenz folgt (wie z. B. eine Apokoinu-Konstruktion; vgl. Kapitel 6.1.4), ist klar, dass die begonnene, aber abgebrochene Struktur verworfen und „überschrieben“ wird. Gleiches gilt für einen Neustart. Um von einer Unterbrechung sprechen zu können, müssen mehrere Kriterien erfüllt sein (siehe Abbildung 21). So darf die emergente syntaktische Gestalt keine gesättigte Struktur sein, d. h. es muss noch ausstehende valenzgebundene Argumente oder klammerschließende Elemente geben, die für eine syntaktische Abgeschlossenheit notwendig wären. In semantisch-pragmatischer Hinsicht muss es sich um ein nicht abgeschlossenes kommunikatives Projekt handeln, um auszuschließen, dass syntaktisch eigentlich unvollständiges Material vorliegt, welches pragmatisch aber durchaus wohlgeformte Äußerungshandlungen darstellen kann, wie im Fall der Ellipsen. Prosodisch kann sich ein Abbruch sowohl segmentalphonetisch (Glottalverschluss) als auch suprasegmental materialisieren, beispielsweise durch den Nicht-Abschluss der Intonationsphrase, den fehlenden Fokusakzent, durch Pausen etc. Allerdings können solche prosodischen „cut-off cues“ (Auer 2005a: 81) auch völlig ausbleiben - genauso wie umgekehrt nicht jede prosodische Unterbrechung automatisch in einer Nicht-Weiterführung enden muss (vgl. Abbildung 22). Gerade Reparatureinleitungen werden häufig auch lexikalisch markiert (z. B. durch Partikeln), es kann aber auch ohne solche Abbruchhinweise weitergehen. Die Unterbrechung allein reicht jedoch noch nicht, um zu einer Parenthese zu führen, denn die abgebrochene Struktur muss wieder aufgenommen werden und diese Wiederaufnahme darf nicht in Form einer nachträglichen Reparatur erfolgen, bei der das Fragment überschrieben würde. <?page no="289"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 279 Abbildung 21: Conditiones sine quibus non für das Entstehen von Parenthesen Fragmentarische Äußerungen kommen in der gesprochenen Sprache recht häufig vor und lassen sich nach der Art der Fortführung im Wesentlichen in folgende Gruppen gliedern (vgl. auch Auer 2005a: 84): Die Struktur wird nach dem Abbruch aufgegeben (Ausstieg). Im unmittelbaren Anschluss erfolgt ein Recycling und das gesamte Fragment oder Teile davon werden repariert (Retraktion). Die Struktur wird nach dem Abbruch fortgesetzt (Weiterführung/ Umstieg). 157 Es kann aber auch eine verspätete Reparatur erfolgen bzw. eine verspätete Weiterführung: Nach einer selbstständigen Äußerungseinheit erfolgt eine verspätete Retraktion und das gesamte Fragment oder Teile davon werden repariert und damit „überschrieben“ (nachträgliches Recycling). 157 Die hier eingenommene On-line-Perspektive versucht, dem syntaktischen Strukturaufbau in der Echtzeit gerecht zu werden, daher gibt es auch „Unterbrechungen“, die sich retrospektiv als harmlos herausstellen und ohne Konstruktionswechsel oder Aufgabe der begonnenen Struktur einfach weitergeführt werden. Ohne die prosodische Qualität und aus einer schriftsprachlichen ex post Perspektive wäre es in solchen Fällen sinnlos, von einer Unterbrechung zu sprechen. Umgekehrt gilt genauso, dass nicht jede syntaktische Inkohärenz prosodisch angezeigt werden muss. In diesen Fällen muss die Bruchstelle erst retrospektiv vom Hörer/ von der Hörerin rekonstruiert werden. Wie bei dem Interpretieren der Äußerungsbedeutung bestätigt sich die Richtigkeit der Interpretation ihrer Äußerungssyntax für den Adressaten/ die Adressatin dabei erst retrospektiv. Das gilt insbesondere für die Parenthese, bei der es sich schließlich um eine syntaktische Relation handelt, die mit ihrer Trägerstruktur interagiert. Dabei sieht der unmarkierte Fall so aus, dass Unterbrechungsanzeichen in aller Regel zu einem Ausstieg oder einer Reparatur der Konstruktion führen, fehlende Unterbrechungsanzeichen sind Indiz für eine Weiterführung. Es kann aber auch anders herum sein. <?page no="290"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 280 Nach einer Parenthese wird die Struktur nahtlos fortgesetzt (nachträgliche Weiterführung). Abbildung 22: Mögliche Fortsetzungen nach einer Unterbrechung Aus der Rezipientenperspektive stellen solche Unterbrechungen eine große Herausforderung dar, da sich - einmal identifiziert - die Frage stellt, ob das entstandene Fragment zur weiteren Prozessierung im Gedächtnis zur Verfügung gehalten werden muss oder ob der abgebrochene Äußerungsteil für den weiteren Verlauf der Interaktion keine Rolle mehr spielt und „gelöscht“ werden kann. 158 Bei dem folgenden Beispiel handelt es sich um ein Gespräch zwischen der Studentin L und ihrer Freundin J, die gemeinsam mit der Studentin Tamina ein Referat halten müssen. J berichtet ihrer Freundin L, dass sie von einem Kommilitonen den Tipp bekommen hat, die Textgrundlage ihres Referats kostengünstig aus der digitalen Bibliothek „Google Books“ zu entnehmen. Auch wenn sich viele Texte aufgrund des „Digital Rights Manage- 158 Der qualitative Unterschied zwischen den verschiedenen Fortsetzungen nach einer Unterbrechung wird in Abbildung 22 durch das „X“ verdeutlicht, auch wenn mit dieser plakativen Kennzeichnung nicht unterstellt werden soll, dass in Gesprächen nachträglich etwas ungesagt gemacht werden kann. <?page no="291"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 281 ment“ zur Wahrung der Urheberrechte nicht ohne weiteres „RUNterladen“ (Zeile 437) lassen, verfügt die Bibliothek über eine große Anzahl von Büchern, die auch als Volltexte zum Download bereitstehen (books.google.com). Beispiel 27: Googlebuchsuche 420 L: JA ja; 421 wir fangen damit GLEICH an; 422 wenn TAmina hier hinkommt, 423 dann dann nehmen wir meinen hier meinen LAPtop, 424 und DANN: äh; 425 J: ja das ding is auf jeden fall bei der äh googleBUCHsuch; 426 (--) 427 ja. 428 bei der googleBUCHsuche? 429 äh: m der hat mir das (.) in ner Email geschrieben irgendwie, 430 weil Er mir den LINK nicht zuschicken konnte, 431 dass man IRgendwie; 432 (--) <<t> was weiß ICH; > 433 wie der typ HEIßT, 434 worüber wir HALten,= 435 =das EINgeben muss,= 436 =dann KOMMT das, 437 und das kann man sich nämlich umsonst RUNterladen; 438 °h und_äh: dann ist das überhaupt kein proBLEM. In Zeile 425 kündigt J mit einer typischen Prä-Sequenz („ja das ding is auf jeden fall“) eine längere Erklärung an. Die interaktive Funktion der Konstruktion ist analog zu der von Günthner (2008a) für das Syntagma „die Sache ist“ ermittelten Funktion zu sehen, welches sie als Projektorkonstruktion analysiert. Dabei handelt es sich um strukturell zweiteilige Konstruktionen, deren erster Teil „eine Folgeeinheit unterschiedlicher Ausprägung (als eigentlichen Kern der Äußerung) antizipiert“ (Günthner 2008a: 44), wodurch die Sprecherin sich sowohl bis zum Abschluss der Sequenz das Rederecht sichert als auch die Aufmerksamkeit der Rezipientinnen steuert (siehe auch Kapitel 6.1.2). Und tatsächlich dient die Formulierung auch in Beispiel 27 dafür, einen komplexen Sachverhalt einzuleiten, dessen Schilderung sich über mehrere Turn-Konstruktionseinheiten erstreckt. Auf die „Projektorkonstruktion“ schließt sich ein disloziertes Präpositionalattribut zu „ding“ an, dessen Formulierung jedoch in zwei Anläufen erfolgt. Danach folgt ein Verbzweitsatz, der die anderen beiden Ausdrücke ins Vor-Vorfeld versetzt, gefolgt von einem weil-Satz. Der sich anschließende Komplementsatz besetzt dieselbe syntaktische Position wie das phorische „das“ in Zeile 429 und expandiert diese weiter. Innerhalb des Kom- <?page no="292"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 282 plementsatzes kommt es zu einer Wortsuche nach dem Namen des Verfassers des Textes, der Gegenstand des Referats werden soll (Zeile 432-434), und in schnellem Anschluss der Gestaltschluss in Form der finiten Verbform und damit der rechten Satzklammer in Zeile 435. Vereinfacht ergibt sich also folgende Struktur: Das Ding is bei der Googlebuchsuche | Er hat mir das in ner E-Mail geschrieben […] | dass man irgendwie | [Parenthese] | das eingeben muss. Die Parenthese „was weiß ICH; wie der typ HEIßT, worüber wir HALten,“ erstreckt sich über drei Intonationsphrasen, ist an der vorderen Grenze durch eine 0.6s lange Pause sowie einen Tonhöhensprung nach unten deutlich markiert, während die hintere Grenze prosodisch kaum wahrzunehmen ist und ohne Pause („latching“) und Tonhöhenbewegung vollzogen wird (vgl. Abbildung 23). Abbildung 23: Prosodische Kontextualisierung der parenthetischen Unterbrechung Syntaktisch handelt es sich um einen selbstständigen, intern strukturierten Fragesatz, dessen unbesetzte Position des direkten Objekts des Funktionsverbgefüges „ein Referat halten“ im Kontext ohne Probleme als Ellipse aufgelöst werden kann. Semantisch richtet sich die eingeschobene Wortsuche nach vorn und bearbeitet das „das“ in Zeile 435 ganz ähnlich, wie es bei nichtdurchgeführten, aber eingeleiteten Selbstreparaturen in Form von „Präparaturen“ (Stoltenburg 2012b) der Fall ist, die häufig im Zusammenhang mit Wortsuchen auftauchen. Das Ausbleiben einer Rezipientenreaktion <?page no="293"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 283 bei dieser sprecherseitig verursachten Parenthese deckt sich mit den vorläufigen Beobachtungen von Mazeland (2007: 1837): „[…] inserts that deal primarily with speaker-oriented, productional or editorial features of the TCU in progress do not invite an independent response per se.“ Beispiel 27 macht deutlich, wie viele Faktoren die Wahrnehmung, Interpretation und Art der parenthetischen Unterbrechung beeinflussen. Abbildung 24 zeigt die neuralgischen Stellen, die für die Beschreibung und Klassifikation parenthetischer Unterbrechungen eine Rolle spielen (siehe auch Bergmann 2012: 114): Das abgebrochene Fragment des Trägersatzes (A), die Parenthese (B) und die Wiederaufnahme der Trägersatzstruktur (C), sowie die Nahtstellen der Unterbrechung (A1, B1, B2, C1) und die Zwischenräume zwischen Parenthese und Trägersatz (D, E). Abbildung 24: Schaltstellen zur Klassifikation von parenthetischen Unterbrechungen Diese können in prosodischer, semantisch-pragmatischer und syntaktischer Hinsicht ganz unterschiedliche Qualität annehmen, die in Tabelle 15 exemplarisch aufgeführt sind. <?page no="294"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 284 Tabelle 15: Multifaktorielle Matrix für Parenthesen prosodisch syntaktisch semantisch-pragmatisch A Lautstärke Sprechgeschwindigkeit Artikulationsweise Stimmqualität Tonlage Tonhöhenbewegung Hauptsatz vorangestellter Nebensatz Modus, Aktionsart des Trägersatzes A2 Abbruch mittels Glottalverschluss oder Glottalisierung finale Dehnung Knarrstimme („creaky voice“) Grenztöne Lokalisation der Abbruchstelle B wie A Hauptsatz „eingeschobener“ Nebensatz syntaktische Phrase Idiomatizität und Floskelhaftigkeit subsidiäre Handlung Nebeninformation prospektiv oder retrospektiv ausgerichtet dialogisch-sequenzielle Organisation bei Sprecherwechsel Anlass der Unterbrechung ist hörer-, sprecher- oder kontextseitig B1 Tonhöhensprünge Knarrstimme („creaky voice“) Vorschlagsilben (Anakrusis) „rush-throughs“ B2 wie A2 C wie A Einlösung der ausstehenden Projektionen wie A <?page no="295"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 285 prosodisch syntaktisch semantisch-pragmatisch C1 wie B1 reibungsloser Anschluss („smooth transition“) Teilwiederholungen Retraktion Apokoinu („pivot constructions“) D Pausen Atmen Zögerungen E wie D Während die Frage, ob der Inhalt einer Parenthese eher vorwärtsgerichtet („prospektiv“) oder rückwärtsgerichtet („retrospektiv“) ist, vom textuellen Kontext und Fragen der thematischen Progression bzw. Informationsstruktur abhängt, ist die Frage nach der Ursache für eine Parenthese vom situativen Kontext abhängig. In aller Regel kann der Auslöser der parenthetischen Unterbrechung relativ eindeutig auf der Seite des Adressaten/ der Adressatin, auf der des Sprechers/ der Sprecherin oder auf der des Kontextes verortet werden. In diesem Sinne wäre die Parenthese in Beispiel 27 „Googlebuchsuche“ eine prospektive (weil kein in der Vergangenheit geäußertes Element bearbeitet wird) und sprecherseitig verursachte Parenthese (da die Wortsuche durch eine Wissenslücke der Sprecherin ausgelöst wird). Auch Parenthesen, die durch Ereignisse im situativen Umfeld ausgelöst werden, sind relativ häufig und ähneln gewissermaßen „side sequences“ (Jefferson 1972) oder „insertion sequences“ (Schegloff 1972), die zwar auch einen Aktivitätswechsel und eine Refokussierung darstellen, allerdings sequenziell organisiert und mit einem Sprecherwechsel verbunden sind, während situativ bedingte Parenthesen Turn-intern auftreten. 159 Beispiel Häufig und typisch sind sie für Sportberichterstattungen, weil durch die monologische Sprechsituation das Rederecht nicht bedroht ist, es einen Zwang zur Verbalisierung gibt und gleichzeitig Ereignisse im Spielverlauf immer wieder einen Strich durch die langfristige Planung des Kommentators machen können. Genau das passiert in dem kurzen Ausschnitt des 159 Nach Schegloff (2007: 137-244) und Mazeland (2007) können Parenthesen auch sequenzbildend sein. Allerdings würden nur die „parenthetical sequences“ des Typs (i) „parenthetical sequences that are inserted within an ongoing TCU“ (Mazeland 2007: 1819) der hier eingenommenen Parenthesedefinition genügen. Gerade rezipientenorientierte Parenthesen können „designed to get a response“ (Schegloff 2007: 242) sein, machen also eine Rezipientenreaktion erforderlich, bevor in den Trägersatz zurückgekehrt werden kann. <?page no="296"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 286 28, in dem Gerd Gottlob, der Kommentator des WM-Testspiels Deutschland gegen Chile am 5. März 2014, immer wieder auf Spielzüge reagieren muss, ohne allerdings seinen ursprünglichen Satzbauplan deswegen aufzugeben. Beispiel 28 setzt an einer Stelle in der Mitte des Spiels ein, an der sich die chilenische Mannschaft gerade in der Vorwärtsbewegung auf das deutsche Tor befindet. In Zeile 04 wechselt Gerd Gottlob von der Beschreibung in einen Kommentar/ Analyse (um den chilenischen Angriff früh zu stören, müssen die deutschen Mittelfeldspieler relativ hoch in der eigenen Spielfeldhälfte stehen, wodurch sich Lücken („Räume“) zwischen den Verteidigern im eigenen Mittelfeld ergeben). Beispiel 28: Räume ergeben sich 01 K: das war jetz mal KLASsisch. 02 auf (.) äh KROOS-(-) 03 und relativ schnell überBRÜCKT,= 04 =das is der ! NA: CH! teil. 05 <<all> SIEHT man jetz so bisschen; > 06 die räume erGEben sich natürlich; 07 08 vidal sAnchez auch isla der RECHTSverteidiger; 09 der trabt JETZ so lAng: sam mit zurück, (--) 10 umso MEHR räume ergeben sich natürlich: (-) vOrne, (1.0) 11 KEIN elfmeter- (-) 12 reklaMIERT auch niemand- Die Äußerung in Zeile 07 ist syntaktisch und semantisch unvollständig, wird prosodisch aber als abgeschlossene Intonationsphase mit deutlicher Grenzpause am Einheitenende produziert. Dann folgt wieder ein Kommentar des Spielgeschehens (Zeile 07-08) und erst danach folgt der zweite Teil der biklausalen je…umso-Konstruktion. Bei diesem mehrteiligen „Proportionalgefüge“ (Zifonun et al. 1997: 2338) sind die beiden Glieder konditional aufeinander bezogen, wobei Antezedens und Konsequenz hier durch den Kommentar voneinander getrennt werden. Gerade die gattungstypische Verschränkung von Spielberichterstattung und Hintergrundkommentar führt zu verschachtelten Strukturen, die in dialogischen face-to-face- Situationen unwahrscheinlich wären, da sie ohne die Unterstützung des Bildes kaum verständlich wären und die große Zeitspanne zwischen projizierter Konstruktion und deren Abschluss das Rederecht aufs Spiel setzen würde. Es gibt aber auch jenseits der Spielberichterstattung parenthetische Unterbrechungen, die Ereignissen in der situativen Umgebung geschuldet sind. Beim nächsten Ausschnitt in Beispiel 29 handelt es sich um das Bewerbungsgespräch eines Lebensversicherungsvertreters für eine Anstellung bei einer Bank (zur Entstehung <?page no="297"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 287 der Aufnahmen siehe Birkner 2001: 45-54). Das Transkript beginnt an einer Stelle, an der das Gespräch kurz vor seinem Ende steht (44: 04h/ 01: 18h). Der Bewerber fasst an dieser Stelle des Gesprächs noch einmal zusammen, warum er glaubt, dass sein alter Beruf des Versicherungsvertreters ihn nicht mehr „ausfüllt“ (Zeile 09), diese Tätigkeit ihn auf der anderen Seite aber auch qualifiziert, ins Bank- und Kreditwesen zu wechseln. Beispiel 29: Qualifikation in die Bank bringen 08 B: es ist nicht die: geSCHICHte,= 09 =die mich auf LANGe sicht AUsfüllt. 10 I: [hm_hm] 11 B: [ und ] ich habe EIgentlich VOR? 12 <<p> und (-) deswegen (.) bin auch (-) nach berlin geKOMmen; > 13 <<p>> und (-) denk ich mal SITzen wir auch hier,> 14 (1) 15 n: ach meinen (-) ja FÜNF jahren; (-) 16 im verSICHerungsbereich, (-) 17 was sehr interesSANT war, (-) 18 für mich auch (-) WICHtig, (-) 19 ich glaub ich hab in der (.) KÜRze der zeit sehr viel, °hh 20 vom sysTEM als sOlchem gelernt, 21 I: hm_hm 22 B: ähm (.) im WIRTschaftlich bereich auch sehr gut dEnken gelernt, 23 weil (.) in der branche LERNT man das; 24 oder aber (.) ich: WÄR gar nicht mehr dabei? 25 I: hm_hm (1) 26 B: ä: h jetzt doch einen zweiten abschnitt zu beGINnen? 27 wo ich DAS was ich bisher: geMACHT habe; 28 durchaus NUTzen kann, 29 (1) 30 oder auch (-) ich sag=s NOCH deutlicher, 31 NUTZbringend (-) für (.) die nächste etappe EInbringen kann, 32 I: hm_hm 33 [in welchen bereichen MEInen sie denn.] 34 B: [ (...) ] 35 I: können sie quAlifikation in die hh° BANK bringen. In dem Ausschnitt erreicht das Bewerbungsgespräch einen kritischen Punkt, wobei die argumentative Klimax, dass der Bewerber den „zweiten abschnitt“ (Zeile 26) bzw. „die nächste etappe“ (Zeile 31) seiner Karriere für gekommen sieht, durch zahlreiche Begründungen und Kommentare elaboriert hinausgezögert wird. Das transitive Verb im Matrix- <?page no="298"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 288 satz „ich habe EIgentlich VOR? “ in Zeile 11 eröffnet die Leerstelle für eine Infinitivkonstruktion, einen Komplementsatz oder eine Nominalphrase im Akkusativ, so dass die folgenden Kausalsätze, da sie diese Projektionen nicht einlösen und auch prosodisch als leise markiert sind, nur als Parenthese interpretiert werden können. Das präpositionale Temporaladverb in Zeile 15-16 ist zwar ebenfalls nicht projiziert, aber durchaus in den Satzbauplan integrierbar, und daher nicht Teil der Parenthese. Nach der kurzzeitigen Rückkehr in den Trägersatz folgt eine erneute parenthetische Unterbrechung (Zeile 17) in Form eines weiterführenden Relativsatzes, der seinerseits expandiert wird. Anders als für attributive Relativsätze gilt für weiterführende Relativsätze, dass sie ein hohes pragmatisches Eigengewicht haben und als relativ eigenständige konversationelle Aktivitäten in Erscheinung treten (vgl. Birkner 2008, Bücker 2014a). Erst in Zeile 26 wird das ausstehende Argument aus Zeile 11 in Form einer Infinitivkonstruktion realisiert und die syntaktische Gestalt geschlossen. Deren progrediente finale Tonhöhenkontur ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Gestaltschlüsse nicht nur syntaktisch gebildet werden, sondern auch prosodische und pragmatische Abgeschlossenheit voraussetzen, um zu echten possible completion points zu werden. In unserem Fall schließt sich ein nicht-adjazenter Attributsatz an (Zeile 27-28). Dieser wird - nach einer einsekündigen Pause und dem Ausbleiben jeglicher Hörerreaktion - durch eine koordinierte Konstruktion expandiert. Diese TCU-Erweiterung fällt damit exakt ins Funktionsspektrum, wie es für TCU-Erweiterungen von Ono & Couper-Kuhlen (2007: 508) angegeben wird: „[…] increments are used to solve recipiency problems, i. e., to elicit uptake by the recipient, by recompleting the just completed syntactic unit and providing a second transition-relevance place.“ Wenn man die parenthetischen Unterbrechungen abzieht, ergibt sich für den Trägersatz folgende Struktur: Beispiel 29b: Qualifikation in die Bank bringen (ohne Parenthesen) ... [...] 11 B: [ und ] ich habe EIgentlich VOR? ... [Parenthese] 15 n: ach meinen (-) ja FÜNF jahren; (-) 16 im verSICHerungsbereich, - ... [Parenthese] 26 ä: h jetzt doch einen zweiten abschnitt zu beGINnen? 27 wo ich DAS was ich bisher: geMACHT habe; 28 durchaus NUTzen kann, ... [Expansion] Beispiel 29 „Qualifikation in die Bank bringen“ zeigt, dass es eine natürliche Verwandtschaft zwischen Unterbrechungen von Turn-Konstruktionseinheiten vor möglichen Ab- <?page no="299"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 289 schlusspunkten gibt, aus denen unterschiedliche Typen von Parenthesen entstehen, und Erweiterungen von Turn-Konstruktionseinheiten nach möglichen Abschlusspunkten, die zu unterschiedlichen Typen von Expansionen führen können. Diese lassen sich im Rahmen einer inkrementellen Syntax, die die zeitliche Erstreckung des syntaktischen Strukturaufbaus berücksichtigt, einheitlich beschreiben und deutlich differenzieren. 6.1.6 Reparaturen Der Begriff „Reparatur“ 160 Abbildung 22 wird in der Konversationsanalyse als Oberbegriff für alle interaktiven Verfahren verwendet, bei denen GesprächsteilnehmerInnen ihre Äußerung oder Teile davon so verändern, dass auf das Vorliegen eines Problems im weitesten Sinne geschlossen werden kann. Es handelt sich um eine Teilnehmerkategorie, sie ist also nicht auf das Vorhandensein eines vermeintlich objektiven Fehlers angewiesen. Prinzipiell kann alles Gegenstand einer Reparatur werden (genauso wie schwere Schnitzer von den Gesprächspartnern geflissentlich ignoriert werden können). Reparaturen sind ein Paradebeispiel dafür, dass die interaktive Sinnproduktion in Gesprächen auch im Extremfall eines ‚Unfalls‘ geordnet und systematisch abläuft bzw. wiederhergestellt wird. Wie schon im vorangegangenen Kapitel angedeutet, handelt es sich bei Reparaturen on-line-syntaktisch betrachtet um Retraktionen, bei denen in der Zeit zurückgegangen wird, um ein Problem in der konversationellen Vergangenheit zu beheben (vgl. die Rückwärtspfeile in in den Fällen, in denen es zum „Recycling“ kommt). Bei der Produktion von Äußerungen in Gesprächen ist die erfolgreiche Herstellung von Intersubjektivität ständig davon bedroht, zu scheitern. Probleme können sowohl im Bereich der Sprachproduktion, der Sprachrezeption als auch der Sprachverarbeitung auftreten: Any of the systems and contingencies implicated in the production and reception of talk - articulatory, memory, sequential, syntactic, auditory, ambient noise, etc. - can fail. Aspects of the production and analysis of talk that are rule-governed can fail to integrate. In short, the exchange of talk is indigenously and exogenously vulnerable to trouble that can arise at any time. (Schegloff 1979: 269) 160 Die Auseinandersetzung mit Reparaturen erfolgte u. a. im Zusammenhang der Mitarbeit im DFG-Projekt „Grammatik und Dialogizität: Retraktive und projektive Konstruktionen im interaktionalen Gebrauch“ (GU 366/ 5-1) unter der Leitung von Susanne Günthner. Vgl. auch die ausführliche Behandlung des Themas mit besonderem Fokus auf den Fall der Präparatur (einer präinitiierten Selbstreparatur ohne Reparaturdurchführung zur Indizierung von Problemstellen) in Stoltenburg (2012b). <?page no="300"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 290 Wenn die Sprache also durch Störanfälligkeit geprägt ist, stellt sich die Frage, ob sie nicht auch eine intrinsische Möglichkeit zur methodischen Lösung dieser Probleme bereitstellt. Ein solcher „self-righting mechanism for the organization of language use in social interaction“ (Schegloff et al. 1977: 381) ist von der Konversationsanalyse beschrieben worden. Zum Vorhandensein dieser Reparatursyntax oder „super-syntax“ (Schegloff 1979: 280) im Deutschen liegen inzwischen eine ganze Reihe empirischer Studien vor (Pfeiffer 2010, Uhmann 1997, 2001, Uhmann 2006), sodass deren Existenz kaum mehr bestritten werden kann: „in effect there is a ‚grammar of repair‘ […], a way to be fluently dysfluent“ (Fox & Jasperson 1995: 79). (a) Reparaturphasen und -typen Schegloff et al. (1977) haben drei grundlegende Phasen in der Reparaturorganisation identifiziert: das Reparandum („repairable“, „trouble source“), die Reparaturinitiierung („repair initiation“) und die Durchführung der Reparatur („repair outcome“). Initiierung und Durchführung der Reparatur können unabhängig voneinander sowohl vom Reparandum-Produzenten als auch dem Gesprächspartner vorgenommen werden. Reparaturen lassen sich danach unterscheiden, ob sie selbst- oder fremdinitiiert sind und ob sie selbst- oder fremddurchgeführt werden. Was von den Teilnehmern als reparaturbedürftig behandelt wird, ist nicht vorhersagbar und entzieht sich einer objektiven Kategorie „Fehler“: „[N]othing is, in principle, excludable from the class ‚repairable‘“ (Schegloff et al. 1977: 363). Von außen lassen sich also keine Kriterien identifizieren, welche Eigenschaften ein Element erfüllen muss, um als Reparandum behandelt zu werden. Vielmehr ist ausschlaggebend, dass die Teilnehmer selbst etwas als Reparandum behandeln. Die Selbstinitiierung und Fremdinitiierung von Reparaturen unterscheiden sich sowohl hinsichtlich ihrer sequentiellen Position als auch hinsichtlich ihrer Realisierung. Für die Initiierung einer Selbstreparatur stehen systematisch drei verschiedene Positionen zur Verfügung: im gleichen Turn („same turn repair“) im Übergangsbereich zwischen fehlerhaftem und nächstem Turn, also nach einem möglichen Abschlusspunkt („turn transition space repair“) im übernächsten Turn nach dem fehlerhaften („third turn repair“) Für die Initiierung einer Fremdreparatur steht ausschließlich der nächste Turn („next turn repair“) nach dem fehlerhaften zur Verfügung. Die Techniken der Fremdinitiierung unterscheiden sich von den Selbstinitiierungen erheblich und lassen sich danach unterteilen, inwieweit sie das ‚Problem‘ lokalisieren. Neben unspezifischen Reparatureinleitungen (hä? , was? ), spielen vor allem Fragepronomen <?page no="301"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 291 in Kombination mit Teilwiederholungen (der wer? , du hast was? ) und Wiederholungen des Reparandums mit markierter Intonation („try marking“; vgl. Sacks & Schegloff (1979)) eine wichtige Rolle. Gerade die Selbstreparaturen im gleichen Redezug kombinieren häufig die Lokalisierung der Problemquelle und die Reparaturdurchführung, sie können aber auch in zwei separaten Operationen erfolgen, wie zum Beispiel durch die wörtliche Wiederholung und anschließende Ersatzform. (b) Reparaturorganisation Zur reibungslosen Abwicklung von Reparaturvorgängen dient ein Präferenzsystem innerhalb der Reparaturmechanismen, das sich auch in Häufigkeitsverteilungen niederschlägt. Selbstreparaturen sind häufiger als Fremdreparaturen. Fremdinitiierte Selbstreparaturen sind häufiger als fremdinitiierte Fremdreparaturen. Selbstinitiierte Selbstreparaturen sind häufiger als fremdinitiierte Selbstreparaturen. Selbstinitiierte Selbstreparaturen werden meistens noch im fehlerhaften Turn ausgeführt („same-turn repair“). Selbstinitiierte Selbstreparaturen im selben Turn werden meistens noch innerhalb des fehlerhaften Satzes ausgeführt („same-sentence repair“). Diese Präferenz für zeitnahe Selbstreparaturen noch im selben Turn lässt sich mit dem strukturellen Druck erklären, den das übergeordnete sequentielle System auf den Handlungsablauf ausübt (vgl. Schegloff 1979: 262 und 267f., Streeck 1983: 86). Daran zeigt sich, dass die Durchführung der Reparatur nachrangig gegenüber der sequentiellen Organisation des Gesprächs als auch der Organisation des Sprecherwechsels behandelt wird. Auf der anderen Seite erfolgen Reparaturen in der Regel zu Lasten der syntaktischen Organisation des Satzes, in dem sie durchgeführt werden. „Transition space“ und „third turn“ Reparaturen (selbstinitiiert) und „next turn“ Reparaturen (fremdinitiiert) erfolgen nach möglichen Abschlusspunkten und bedrohen nicht die syntaktische Gestalt, aber greifen in den sequentiellen Ablauf ein. When next turn is used to initiate repair on something in current turn, the sequential implicativeness of current turn is displaced from its primary home and is lost at least for that turn. Because other-initiated repair in next turn itself engenders a sequence and is itself sequentially implicative, the sequential implicativeness of current turn is yet further displaced and potentially loses its organized locus of realization. (Schegloff 1979: 267) Aus dem sequenziellen Druck, die „next-turn“-Position für die sequentiell implizierte Folgehandlung freizuhalten, erklärt sich die Präferenz zu selbstinitiierten Selbstreparaturen <?page no="302"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 292 noch im selben Turn, in dem das Reparandum auftritt. Diese Art der Reparatur ist die bei weitem häufigste. Da jeder syntaktische Abschlusspunkt auch ein potentieller Ort für Sprecherwechsel ist, ist auch die Reparatur nach vollständiger Äußerung im Bereich des „transition-space“ keine zuverlässige Reparaturmethode: Daher wird die Integrität des Satzes systematisch den sequentiellen Erfordernissen geopfert. (c) Retraktion am Beispiel einer Wortsuche In Beispiel 30 handelt es sich um eine typische selbstinitiierte (Zeile 06) und selbstdurchgeführte (Zeile 06-16) Reparatur im gleichen Turn: „the basic format for same-turn repair is, then, self-initiation with non-lexical initiator followed by candidate repair“ (Schegloff et al. 1977: 376). Die Teilnehmer einer Reality-TV-Sendung halten im Garten Hühner zur Selbstversorgung. Mathilda füttert gerade die Tiere. Alma schaut zu und raucht. Beispiel 30: Warum kräht der Hahn? (BB2_2) 01 Mat: SO ihr lieben. (1.5) 02 dann lasst euch das mal [SCHMECk 03 Alm: [(...) ] 04 Mat: =oh die KLOPpen sich glei; 05 ((der Hahn kräht)) 06 Alm: worum worum KRÄhen h hähner (.) hähnchen, pff 07 Mat: HÄHNchen? 08 Alm: HAHN- 09 <<lachend> worum KRÄHN krrehe=> 10 Mat: =warum [warum] warum SCHREIST du; = 11 Alm: [°hh ] 12 <<ff>=worum KRÄHN die hähner; > (---) 13 ((es kräht wieder der Hahn)) 14 HÜHner; 15 Mat: ja das is_n HAHN; 16 Alm: warum KRÄHT der hahn; (--) Das Beispiel zeigt, dass Korrekturen (ein fehlerhaftes Element wird wahrgenommen und durch ein passenderes ersetzt) nicht immer erfolgreich sind. Die problematische Form wird schon im Anlaut als „repairable“ markiert (Zeile 06, „h hähner“) und nach einer Mikropause durch eine andere ersetzt („hähnchen“). Da die Zielform (Hähne; Nom. Pl. von Hahn) auch nach mehreren, kollektiven Versuchen nicht gefunden werden kann, wird die Ausgangsformulierung wieder aufgenommen - dieser regressive Reparaturtyp ist nach Schegloff (1979: 279) ein Indiz für das Aufgeben nach einer Kette von Mehrfachreparaturen: „When progress is no longer being made, the regressive try may become the one to which syntactic continuations are fitted.“ In diesem Fall wird jedoch ein zweiter Anlauf <?page no="303"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 293 gestartet (Zeile 14, „HÜHner“) und die Konstruktion schließlich so umgebaut, dass eine wohlgeformte Struktur entsteht. Zur besseren Veranschaulichung nicht nur der zeitlich-linearen und sequentiellen Verhältnisse, sondern auch der on-line-syntaktischen Operationen in Form von Retraktion, Projektion und Expansion ist derselbe Ausschnitt in Abbildung 25 noch einmal in grilles dargestellt. In der Grille-Notation von Auer bzw. Blanche-Benveniste (zur Notationsweise siehe Kapitel 5.4.3) werden alle versprachlichten Elemente, die in paradigmatischer Beziehung stehen, auf einer Vertikalen angeordnet, sodass nur die syntagmatischen Beziehungen auf der Horizontalen angeordnet sind. Abbildung 25: Schematische Darstellung einer regressiven Reparatur (Beispiel 30 in grilles) 6.1.7 Inkremente Die nominale Ableitung von lat. in-cresco „wachsen“, „anwachsen“, „zunehmen“ als linguistischen Terminus zu etablieren, geht auf die Überlegungen zu einer „Intersection of grammar and interaction“ von Schegloff (1996) zurück, in denen unter anderem die Mög- <?page no="304"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 294 lichkeiten einer nachträglichen Erweiterbarkeit von Turn-Konstruktionseinheiten diskutiert werden. 161 Klassischerweise wird mit „turn“ ein Redebeitrag bezeichnet, an dessen Ende ein Sprecherwechsel stattfindet. Ein „turn“ kann aus einer oder mehreren „turn-constructional units“ (TCUs) bestehen, an deren Ende ein Sprecherwechsel möglich wäre. Diese TCUs können aus einem ganzen Satz oder auch nur einem einzelnen Wort bestehen - es handelt sich dabei um die kleinstmögliche syntaktisch korrekte Turn-Konstruktion, die in einer Intonationskontur geäußert wird und mindestens einen Hauptakzent trägt (vgl. Das stellt gewissermaßen einen Tabubruch mit der konversationsanalytischen Doktrin dar, dass sich jeder zusammenhängende Gesprächsbeitrag (Turn) restlos in ihm zugrundeliegende Turn-Konstruktionseinheiten (TCUs) zerlegen lässt, an deren Ende sich jeweils Abschlusspunkte befinden, die einen geordneten Sprecherwechsel ermöglichen (TRPs). Selting 1995a, 2000). Laut Schegloff (1996: 59) können Turn-Konstruktionseinheiten auf zwei verschiedene Arten erweitert werden: durch eine neue Turn-Konstruktionseinheit oder durch eine inkrementelle Erweiterung der alten Einheit. Sowohl am Ende einer Turn-Konstruktionseinheit als auch am Ende einer inkrementellen Erweiterung liegt ein möglicher Abschlusspunkt („point of possible turn completion“), an dem ein geordneter Sprecherwechsel stattfinden kann (aber nicht muss). Abbildung 26: Turn-Erweiterungen von TCUs (Inkremente) und durch TCUs (neue TCUs) 161 Diese Terminologisierung des Wortes „increment“ ist unabhängig entstanden und unterscheidet sich von der Verwendung des Wortes bei Brazil (Kapitel 5.1), Sinclair und Mauranen (Kapitel 5.2) und Hunston und Francis (Kapitel 5.3). Während mit „increment“ in der Konversationsanalyse, Interaktionalen Linguistik und On-line-Syntax immer Erweiterungen von Turn-Konstruktionseinheiten gemeint sind, sind „increments“ in den anderen Modellen pragmatisch-semantisch bestimmte Handlungseinheiten, deren Beschaffenheit und Größe ausschließlich von der jeweiligen Handlung abhängt, die mit dem „increment“ vollzogen wird: „[T]he number and nature of elements required depends upon present communicative need“ (Brazil 1995: 250); z. B. ist der „Target State“ bei einem Frage-Inkrement für Brazil erst mit der Antwort erreicht. <?page no="305"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 295 Schegloffs Überlegungen zu Turn-Erweiterungen decken sich mit Überlegungen über das „Ende deutscher Sätze“ aus der Interaktionalen Linguistik, die sich ebenfalls mit syntaktisch unterschiedlichen Typen von Turn-Erweiterungen beschäftigt (Auer 1991, 1992, 1996a, 2006b, 2007b, Couper-Kuhlen & Ono 2007, Imo 2011, Ono & Couper-Kuhlen 2007, Vorreiter 2003). Schegloffs (1996: 59) zwei Bestimmungen von Erweiterungen „as an increment within the same TCU or as a new TCU“ haben sich sowohl in sprachvergleichenden Untersuchungen als auch in einzelsprachlichen Untersuchungen zum Deutschen als zu restriktiv erwiesen, um für eine adäquate linguistische Interaktionsanalyse von Nutzen zu sein. Der aktuelle Stand inkrementeller Erweiterungstypen und die Kriterien zu ihrer Abgrenzung sollen als Abschluss der Behandlung syntaktischer Phänomene mit einer erkennbaren zeitlichen Verlaufsstruktur hergeleitet und an Beispielen erläutert werden. Schließlich handelt es sich bei ihnen um „das Paradebeispiel für die zeitliche Flexibilität grammatisch-syntaktischer Einheiten“, an dem sich zeigen lässt, „dass einfache Sätze ebenso wie komplexere Strukturen nicht als ganze, vorab verpackte Fertigstrukturen produziert und rezipiert werden, sondern linear in der Zeit konstruiert und ko-konstruiert werden“ (Stukenbrock 2013: 250). (a) Inkremente nach Schegloff (1996) Wie so oft in konversationsanalytischen Arbeiten sind die formal-linguistischen Kriterien zur Abgrenzung des Phänomens „Inkrement“ im Text nicht explizit (bzw. nur vage) genannt und können höchstens aus den Beispielen rekonstruiert werden. Laut Schegloff (1996: 90) stellen Inkremente „grammatically structured extensions“ von Turn-Konstruktionseinheiten dar, wobei „some of these […] add a new grammatical unit“. Daraus lässt sich jedoch nicht folgern, es handle sich bei den Inkrementen im Sinne Schegloffs um rein syntaktische Größen. So ist in allen Beispieltranskripten eine prosodische Grenze zwischen Inkrement und Wirtssatz („host“) markiert, deren Fehlen teilweise eine inkrementelle Lesart nicht mehr erlauben würde. Auch der pragmatische Gehalt der Inkremente erschließt sich nur aus den Beispielen und wird nicht explizit gemacht. Aus ihnen ist jedoch ersichtlich, dass die inkrementellen Erweiterungen immer die vorausgehende sprachliche Handlung unterstützen und erweitern, aber selbst nie eigenständige, neue Handlungen sind. Auer (2006b: 282) kommt bei seiner Rekonstruktion des Inkrementbegriffs von Schegloff daher zu folgender Beschreibung: „es handelt sich um lineare syntaktische Erweiterungen einer abgeschlossenen syntaktischen Einheit, die prosodisch selbstständig sind, jedoch keine eigene sprachliche Handlung konstituieren.“ Inkremente in diesem Sinn sind eng mit der Organisation des Sprecherwechsels verbunden, sie sind „elements of talk added to the TCU and the turn which re-occasion possible completion; that is, which constitute extensions to the TCU or the turn (the two are different) and which themselves come to another possible completion of the TCU or turn.“ <?page no="306"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 296 (Schegloff 1996: 90) Von einem traditionellen sprachwissenschaftlichen Standpunkt aus ließe sich einwenden, es werde eine „Linguistik des Sprecherwechsels“ betrieben, die außerhalb von interaktionalen, empirischen Fragestellungen (z. B. für monologische Texte) irrelevant ist. Schegloff weist jedoch darauf hin, dass es um mehr geht als um den bloßen Austausch von Bezeichnungen, wenn er statt vom „Satz“ lieber von „Turn-Konstruktionseinheit“ bzw. „Turn-Konstruktionseinheit + Inkrement“ sprechen will: [T]he issue here is not one of terminologies: the aim is not to replace terms like „sentence“ or „clause“ with „turn constructional unit.“ Talking in turns means talking in real time, subject to real interactional contingencies. Whether articulated fluently or haltingly, what results is produced piece by piece, incrementally, through a series of „turns-so-far.“ These features support the openness of talk-in-progress to considerations of interactional import and reactivity, recipient design, moment-to-moment recalibration, reorganization and recompletion, and to interactional co-construction […]. (Schegloff 1996: 55f.; Hervorhebung im Original) Für ihn sind Grammatik und Interaktion nicht verschiedene Bereiche, die unabhängig voneinander untersucht werden können, sondern Form und Funktion sprachlicher Strukturen lassen sich erst erklären, wenn sie in einer „Grammatik der Turn-Konstruktionseinheiten“ zusammengeführt wurden. But to come to the grammar of the TCU in this fashion is to come to it with the analytic operating field prepared, so to speak - prepared by having laid bare the organizational matrix of the turn and the interactional engines driving the talk. (Schegloff 1996: 73) Zusammenfassend lassen sich Inkremente im Schegloff ’schen Sinne durch folgende Charakteristika auf den Punkt bringen. Sie sind: syntaktisch lineare Erweiterungen der vorausgehenden TCU (anders ließe sich der Ausschluss von angehängten Anredeformen, „tag questions“ und Erkenntnisprozessmarkern nicht erklären), prosodisch selbstständig bzw. nach abgeschlossener Intonationsphrase produziert (das erschließt sich aus den Beispielen, die alle prosodische Grenzsignale vor dem Inkrement haben), pragmatisch subsidiäre Handlungen. Die weitergehenden Untersuchungen zu Erweiterungen von Turn-Konstruktionseinheiten (s. u.) haben gezeigt, dass diese Definition zu eng ist und nur einen bestimmten Typ von Turn-Erweiterungen erfasst, und dass dieser Typ besonders häufig im Englischen vorkommt, die Verhältnisse in anderen Sprachen jedoch differieren. <?page no="307"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 297 (b) Inkremente nach Ford et al. (2002a) Ford, Fox & Thompsons (2002a) Ausgangspunkt bei ihren Überlegungen zur Einheitenbildung in der gesprochenen Sprache ist das Konzept der Konstituente. Als Konstituentenstruktur von Sprache wird die hierarchische Organisation ihrer Teile (z. B. Wörter, Phrasen und Sätze) bezeichnet, wobei die Konstituente sich nach außen abgrenzt, indem sie distributionell in anderen Kontexten auftritt, und sich nach innen abgrenzt, indem sie ihre semantische, syntaktische und prosodische Struktur als kohärente Einheit ausweist. Klassische Konstituenten vereinigen alle drei Eigenschaften in sich und stellen grammatische Formate dar, die eine wichtige strategische Ressource bilden, um interaktionale Aufgaben zu lösen. Ford et al. (2002a: 15) berufen sich darauf, dass es ursprünglich Konversationsanalytiker waren, die vorgeschlagen haben, „that grammatical constituency (though they have not used this linguistic terminology) is central to the projection of points of possible turn completion.“ Syntaktische, prosodische und pragmatische Abschlusspunkte werden von den GesprächsteilnehmerInnen aufmerksam verfolgt; schließlich führt es zu elementaren Bedeutungsverschiebungen, je nachdem ob ein nächster Sprecher seinen Redebeitrag in direktem Anschluss, mit geringer Überlappung oder nach einer kurzen Pause liefert. Falls dieses „uptake“ auf sich warten lässt und eine längere Pause entstehen würde, kann der problematische Sprecherwechsel durch eine inkrementelle Erweiterung überspielt werden, an deren Ende eine erneute Gelegenheit zur Rederechtsvergabe liegt. [T]he way these increments are used by speakers tells us much about the motivations for the sorts of groupings that linguists call (classic) constituents as well as about how speakers exploit grammatical resources in the systematic way they add more talk to what is hearably an already-complete utterance. (Ford et al. 2002a: 16) Damit es zu einer inkrementellen Fortsetzung kommen kann, muss vorher bereits eine übergaberelevante Stelle im Interaktionsverlauf erreicht worden sein, die dann durch eine „nonmain-clause continuation“ (Ford et al. 2002a: 16) durch den selben Sprecher erweitert werden kann. Im Englischen kommen dafür typischerweise Formate wie einfache Nominalphrasen, Präpositionalphrasen oder abhängige Nebensätze in Frage. In Beispiel 31 ist nach „HOUR“ ein prosodischer, syntaktischer und inhaltlicher Abschluss erreicht, der einen Sprecherwechsel möglich machen würde, stattdessen kommt es aber zu einer Turn-Erweiterung durch eine Präpositionalphrase. Diese Art von Inkrement nennen Ford et al. (2002a) in Anlehnung an Schegloff „extension“ (vgl. Abbildung 27), da sie sich als Fortsetzung zu der unmittelbar vorausgehenden Äußerung verstehen lässt, mit der sie syntaktisch und semantisch zusammenhängen: Sie stellen Konstituenten der vorausgehenden Äußerungseinheit dar. <?page no="308"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 298 Beispiel 31: Eighty miles an hour (vgl. Ford et al. 2002a: 16) 01 A Bill said that he was at lEAst going EIghty miles an HOUR. 02 with the TWO of them on it. Ein vergleichbares Beispiel zeigt, dass sich die Definitionskriterien von Extensionen, nämlich nach syntaktischen Abschlusspunkten zu liegen aber retrospektiv syntaktisch kohärent zu sein, schwer auf die deutsche Sprache anwenden lassen. In Beispiel 32 steht das fakultative Lokaladverbial „nach ENGland“ im Nachfeld des Satzes „bin mal geFLO: gen“. Allerdings scheint die Frage der „Nachfeldbesetzung durch nicht-sententiale Konstituenten in der Forschung stark vernachlässigt zu sein.“ (Pittner 1999: 191) Richtungsadverbiale scheinen dann ausklammerbar zu sein, wenn sie nicht-fokussiert sind oder wenn sie so lang sind, dass es zu Mittelfeldentleerungen kommt. Deren Grammatikalitätsbewertung ist jedoch meist von „schwankenden Sprechereinschätzungen“ (Pittner 1999: 194) gekennzeichnet. Beispiel 32: „Go deeper“ (BB1_78) 01 Ele: weißt,=bin mal geFLO: gen,=ne, (-) 02 Sab: mh_mh, 03 Ele: nach ENGland, (-) 04 komm ja dann immer die CLEAner,=weiste? (-) 05 die SÄUberer die Aufräumen.=ne, 06 das waren SCHWARze? =ne? °hh 07 die kommen REI: N und dann sagt der eine 08 o: ah. 09 open your mouth,=ne? 10 und (-) der so, 11 oh you have wonderfull TEE: TH. 12 so much GO: : LD,=ne, 13 der so ((schaufen)) can you Open it,=weißte? 14 ich so hh° (-) voll STOLZ, 15 ich so A: H, ((öffnet den Mund)) 16 <<lachend> der so (-)> and NOW go deeper. 17 ich so <<lachend> du ARSCH.> ((lacht)) 18 NOW go deeper. ((lacht)) 19 Chr: ((lacht)) <?page no="309"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 299 In der narrativen Episode der ehemaligen Stewardess Elena spielt die Tatsache, dass sie geflogen ist, eine Rolle, nicht aber wohin sie geflogen ist. Es gibt also gewisse Parallelen zu Pittners Beispielsätzen, in denen nicht-fokussierte Richtungsadverbiale ausnahmsweise im Nachfeld stehen dürfen, weil das Verb fokussiert ist (vgl. Pittner 1999: 194f.): Sie ist geGANgen nach Hause. aber *Er hat sie geschickt in die Wüste. Er ist nur noch geKROCHen dorthin. *Hans soll sich scheren zum Teufel. Abgesehen von Extensionen gibt es aber auch Turn-Erweiterungen, die keine Konstituente in der vorausgehenden Äußerungseinheit sind und sich auch nicht syntaktisch integrieren lassen. In Beispiel 33 ist „fifteen thousand dollars for an original Co: rd,“ eine unabhängige Nominalphrase (unattached NP), die sich nicht in die vorherige Äußerung integrieren lässt. Beispiel 33: Unattached NP (Ford et al. 2002a: 26) 162 01 Curt: °(Oh Christ)° fifteen thousand dollars wouldn’t thouch a Co: rd, 02 (0.7) 03 Curt: That guy was (dreaming). 04 fifteen thousand dollars [for an original Co: rd, 05 Gary: [Figured he’d impress him, Auch im Deutschen gibt es nicht-satzwertige Erweiterungen nach möglichen Abschlusspunkten, die sich nicht als syntaktische Konstituente des vorausgehenden Turns interpretieren lassen. In Beispiel 34 erzählt Elena Torben und Christina, wie sehr sie sich in ihrer ehemaligen Wohngemeinschaft von ihrer Mitbewohnerin ausgenutzt gefühlt hat. 162 Errett Lobban Cord stellte in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nach ihm benannte, innovative Luxus- und Rennwagen her. Es wurden nur wenige Jahre lang geringe Stückzahlen hergestellt, so dass die Autos heute einen hohen Marktwert haben. <?page no="310"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 300 Beispiel 34: Das Model (BB2_78) 01 Ele: wi: e (-) wie meine MITbewohnerin- 02 die ich früher HATte; 03 Tor: ja? 04 Ele: das MOdel; 05 <<p> ja_ja.> (-) 06 di: e (-) die wUsste ALles immer; =ne? 07 aber die hat immer MICH machen lassen. 08 Tor: hm_hm, „Unattached NPs“ im Sinne von Ford et al. (2002a: 31) dürfen keine möglichen Konstituenten der Vorgängeräußerung sein und müssen entweder „stance or attitude“ zum Ausdruck bringen oder „degree or amount“, um eine gesteuerte Rezipientenreaktion zu elizitieren. Dies dürfte mit Einschränkungen auch auf „das MOdel“ Zeile 04 von Beispiel 34 zutreffen. Insgesamt lassen sich Ford, Fox & Thompsons Typen von Turn- Erweiterungen folgendermaßen systematisieren (Abbildung 27): Abbildung 27: Typen von Turn-Erweiterungen nach Ford et al. (2002a) Die gewählte Nomenklatur ist in mehrerer Hinsicht verbesserungswürdig: „increment“ und „extension“ werden in vielen anderen Arbeiten synonym verwendet und ihre wörtliche Bedeutung gibt auch keine Hinweise, worin sie sich unterscheiden könnten. Die wichtigste (weil häufigste) Gruppe der „free constituents“ sind unverbundene Nominalphrasen („unattached NPs“). Dieses namengebende Kriterium schließt aber nicht aus, dass Nominalphrasen nicht auch als integrierbare syntaktische Extension vorkommen könnten (man vergleiche etwa den fingierten Beispielsatz „He owes me (-) fifteen thousand dollars for an original Co: rd“, bei dem rückwirkend der mögliche Abschluss nach „me“ überschrieben wird, mit der „Unattached NP“ in Beispiel 33). Ford et al. (2002a) beschränken sich jedoch nicht auf die formale Unterscheidung von Turn-Erweiterungen, sondern sie finden Anzeichen dafür, dass es eine systematische Korrelation zwischen den „extension increments“ und „Unattached NPs“ gibt, die auf eine Arbeitsteilung der beiden Formate schließen lässt. Die funktionale Gemeinsamkeit der beiden Inkrementtypen besteht darin, dass sie im Zusammenhang mit Rückmeldeproblemen <?page no="311"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 301 auftreten und an Stellen stehen, an denen eigentlich ein „uptake“ (vgl. Pomerantz 1984) durch den Hörer oder die Hörerin relevant geworden wäre, aber nicht erfolgte: „they are attempted solutions to a lack of displayed recipiency“ (Ford et al. 2002a: 19). Beide Inkrementtypen sind unselbstständig und stellen keine neue Äußerungseinheit dar. Bei Extensionen deckt sich aber die syntaktische Kontinuität mit pragmatischer Kontinuität, insofern sie nämlich die Handlung der Vorgängeräußerung fortführen. Der höhere Grad an Selbstständigkeit der unverbundenen Nominalphrasen spiegelt sich laut ihren Daten auch in einer funktional eigenständigeren Handlung wider, indem sie die Vorgängeräußerung bewerten oder kommentieren. Zusammenfassend lässt sich die Dichotomie also folgendermaßen beschreiben: Extensions Form: syntaktisch und semantisch auf die Vorgängeräußerung bezogen Funktion: vermitteln bei gescheiterter Rederechtsübergabe, führen die Handlung weiter fort Unattached NPs (free constituents) Form: syntaktisch nicht integrierbar (aber auch nicht selbstständig) semantisch bezogen Funktion: vermitteln bei gescheiterter Rederechtsübergabe, Bewertung oder Stellungnahme zu der Vorgängerhandlung In beiden Fällen wird durch das Bereitstellen eines neuen Abschlusspunktes die Gelegenheit für eine ausstehende Rezipientenreaktion geschaffen. Der Unterschied zwischen den beiden Formaten besteht darin, dass durch die bewertenden Aspekte der unverbundenen Nominalphrasen auch gleich die Richtung vorgegeben wird, in die die favorisierte Rezipientenreaktion führen soll. Das Verhältnis zwischen syntaktischer und interaktionaler Erweiterung ist insoweit ikonisch, als „a less syntactically integrated form does a less interactionally integrated action.“ (Ford et al. 2002a: 31) (c) Inkremente nach Vorreiter (2003) Vorreiter (2003) setzt dort an, wo Ford & Thompson (1996) aufgehört haben und entwickelt die Idee der „complex transition relevance places“ weiter. Demnach wird ein rei- <?page no="312"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 302 bungsloser Sprecherwechsel umso wahrscheinlicher, je offensichtlicher es vorher zu einem syntaktischen Gestaltschluss, einem Abschluss einer Intonationsphrase mit eigener finaler Tonhöhenkontur oder einer vollständigen Sprechhandlung gekommen ist. Sollte sich der Sprecher dazu entscheiden, trotz des Erreichens einer solchen ‚komplexen Übergabestelle‘ das Rederecht zu behalten und selbst weiterzureden, kann er dies durch eine neue Äußerungseinheit oder durch die Erweiterung der alten Äußerungseinheit tun. Neue Äußerungseinheiten haben nach Schegloff (1996: 74f.) erkennbare Anfänge („recognisable beginnings“), während inkrementelle Erweiterungen hörbar keine neuen Anfänge haben. Terminologisch lehnt sich Vorreiter (2003) an Auer (1996a) an und wählt als Oberbegriff für solche Erweiterungen die Bezeichnung „turn continuation“. In ihrer Systematik der Subtypen werden auch kollaborativ erzeugte Turn-Erweiterungen akzeptiert, bei denen es dann zu einer Turn-Erweiterung durch einen neuen Sprecher kommt - eine in terminologischer Hinsicht nicht sehr glückliche Wahl. Da ihre Klassifikation nicht nur englische Daten, sondern auch deutsche und japanische berücksichtigt, ergeben sich mehr Kategorien als bisher und es entstehen sprachspezifische Verwerfungen, da sich die einzelsprachlichen Ressourcen, lexikalisch, grammatisch und prosodisch Turns zu erweitern, unterscheiden. Trotz des terminologischen Unterschieds folgt Vorreiters Unterscheidung der ersten Ebene in Turn-Erweiterungen und neuen, selbstständigen Turn-Konstruktionseinheiten (vgl. Abbildung 28) der ursprünglichen Idee zu Inkrementen von Schegloff (1996). Während Schegloff jedoch implizit nur Fälle berücksichtigt, die nach prosodischen Grenzsignalen syntaktische und semantische Erweiterungen darstellen, unterscheidet Vorreiter zwischen Zusätzen mit prosodischer Grenze („add-on“) und solchen ohne prosodische Grenze („non-add-ons“). Schon Auer hat darauf hingewiesen, dass eine prosodische Grenze obligatorisch wird, um den Status einer Erweiterung zu halten, wenn die gesamte Konstruktion syntaktisch wohlgeformt ist: „When syntactic continuations are prosodically integrated into the previous syntactic gestalt, there is no indication of an expansion at all“ (Auer 1996a: 75). Das bedeutet strenggenommen, dass „non-add-ons“ nicht unter die Kategorie „turn continuations“ fallen, da die Abwesenheit der differentia specifica (prosodische Grenze) sich im Widerspruch zum genus proximum (Kontinuierung über Abschlusspunkte hinweg) befindet, denn „non-add-ons“ sind, wie Schegloff sagen würde, „throughproduced“. Erschwerend kommt hinzu, dass „replacements can be delivered in either prosodic shape“ (Vorreiter 2003: 10). Es gibt also auch „non-add-on-replacements“, bei denen innerhalb einer Intonationsphrase nach einem syntaktischen Abschluss eine Pro-Form im ersten Teil durch eine andere Form ersetzt wird. Vorreiter führt dafür englische Beispiele an, die sie von Geluykens (1994: 116) übernimmt: „((butt)) she’s brilliant that girl“. Ich habe in meinen Daten keine eindeutigen Beispiele für eine deutsche Entsprechung gefunden. Demgegenüber kreieren „add-ons“ eine zweigliedrige Struktur mit einem prosodischen Bruch in der Mitte. Der Eindruck eines prosodischen Bruchs kann durch eine Pause, einen Tonhöhensprung oder einen Rhythmuswechsel hervorgerufen werden. <?page no="313"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 303 Innerhalb der „add-ons“ (=Erweiterungen über prosodische und syntaktische Abschlusspunkte hinweg) lassen sich wiederum Erweiterungen unterscheiden, die einen Stellvertreter im ‚Wirtssatz‘ besitzen, und solche, die keinen Stellvertreter haben. Als Stellvertreter kommen vor allem alle Arten von Pro-Formen in Frage, wie sie z. B. in Form von Pseudocleft-Sätzen vorkommen. In Beispiel 35 wird das kataphorische Fragepronomen durch die darauf folgende Konditionalkonstruktion ersetzt (Pseudocleft- oder Sperrsätze weichen in der Mündlichkeit häufig von der kanonischen Struktur: [w-Teilsatz + Kopula + NP/ Komplementsatz/ Infinitivsatz] ab, da dem w-Teilsatz „häufig ein komplexes, syntaktisch nicht-integriertes Diskurssegment“ (Günthner & Hopper 2010: 8) folgt. Beispiel 35: Minimale Leistung (BB1_79) 01 Vero: und und AUSserdem is EIn vorteil im leben auch- 02 was (.)<<all> was ich immer ganz lustig finde is-> 03 04 =und bringst ne MInimale leistung,= 05 =sagen ja schon alle OH. 06 Van: geNAU. Diese Art des „replacement“ zeichnet sich also durch die prosodische Grenze (hier realisiert durch den Tonhöhensprung nach oben in Zeile 03 und den Wechsel der Sprechgeschwindigkeit), das stellvertretende Fragepronomen „was“ in Zeile 03 und die Ersetzung in den Zeilen 03-05 aus. Die fehlende Kopula verwundert nicht, „da Pseudoclefts im interaktionalen Gebrauch häufig ohne Kopula verwendet werden.“ (Günthner & Hopper 2010: 8) Turn-Erweiterungen nach einem prosodischen und syntaktischen Abschlusspunkt („add-ons“), die keine Pro-Form im Wirtssatz ersetzen, nennt Vorreiter „increments“. Da Inkremente mit einer redeübergaberelevanten Stelle enden, aber nicht selbstständige TCU sind, sondern die Vorgänger-TCU syntaktisch erweitern, lassen sie sich retrospektiv in die Syntax des Gesamtsyntagmas (Wirtssatz + Inkrement) integrieren. Um zum Ausdruck zu bringen, dass „the grammatical bond between extensions and their hosts is particularly tight“ nennt Vorreiter (2003: 13) diese Fälle „glue-on“. Bei diesen handelt es sich um den Prototypen der Kategorie „Inkrement“ wie sie Schegloff entwickelte. Manchmal wird ein Turn mit Material erweitert, das zwar zu diesem Satz gehört, aber dort so nicht stehen kann. Diese normative Sicht ist mit Einschränkungen auch für interaktionale Daten angemessen, da selbst unter deren Bedingungen diese Strukturen auffällig wirken. <?page no="314"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 304 Sowohl das Satzadverb „wahrscheinlich“ (Beispiel 36) als auch das Temporaladverbial „schon den ganzen Tag“ (Beispiel 37) stehen nach einem syntaktischen Abschlusspunkt im Nachfeld des Wirtssatzes. Beispiel 36: Zuviel geschnapselt („Insertable“ Beispiel von Auer (1996a: 64)) 01 B: die ham gestern @ zuviel geschNAPselt.- 02 wahrscheinlich. 03 A: ja: , Beispiel 37: Der liegt flach („Insertable“ Beispiel von Auer (1996a: 64)) 01 B: der liegt also @ FLACH 02 schon den ganzen ta: g Die „insertables“ teilen also alle Eigenschaften der „glue-ons“ bis auf den Unterschied, dass die Gesamtkonstruktion keine wohlgeformte Struktur ergibt. Sie ließen sich jedoch insertieren (und zwar an den mit dem @-Zeichen markierten Stellen) und würden so den Ansprüchen der kodifizierten Standardgrammatiken gerecht werden. Da die deutsche Satzklammer in Beispiel 36 in Form einer zusammengesetzten Verbform in Beispiel 37 in Form des Funktionsverbgefüges mit dem Setzen des rechten Klammerelements einen starken syntaktischen Abschlusspunkt produziert, kommen solche „insertables“ im Deutschen im Vergleich zum Englischen relativ häufig vor. Weil die Satzklammer in dieser Form jedoch nur in der deutschen und niederländischen Sprache existiert, kann es in der englischen andererseits kaum dazu kommen, dass eine nicht-obligatorische Konstituente ungrammatisch und fehlplatziert ist. Denn die englische Sprache „is much more hospitable to glue-on increments than, for instance, Japanese - or German, for that matter.“ (Vorreiter 2003: 18) Manchmal müssen die „insertables“ oder der Wirtssatz jedoch auch verändert werden, bevor sie nach einer Verschiebung eine grammatische Struktur bilden würden. In der deutschen Sprache verursacht das häufig die fehlenden Flexionsendungen und die mangelnde Kongruenz, wie folgendes Beispiel zeigt: Beispiel 38: Runde Hülse (nicht integrierbares „Insertable“ Beispiel von Auer (1996a: 67)) 01 M: des auf der EINen seite is also AUSsen sonne Hülse,= 02 F: =j[a, 03 M: [rund, In solchen Fällen ist die grammatische Beziehung zwischen Inkrement und „host“ weniger eng. Es gibt sogar Fälle von Erweiterungen, in denen gar keine grammatische Relation <?page no="315"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 305 mehr besteht, es sich aber trotzdem um eine Art inkrementelle Erweiterung handelt wie bei den „free constituents“ oder „unattached NPs“ (Ford et al. 2002a). Obwohl sie keine syntaktische Verbindung haben, sind diese freien Konstituenten semantisch und pragmatisch eng an die Vorgängerhandlung gebunden, die sie bewerten, zusammenfassen oder spezifizieren. Das bedeutet, die grundlegende Beziehung zwischen allen Arten von Turn- Erweiterungen ist nicht syntaktisch, sondern semantischer Natur: während „glue-ons“ auf dem einen Ende des Kontinuums syntaktisch und semantisch stark integriert sind, sind „free constituents“ syntaktisch völlig unverbunden, können semantisch aber nicht ohne den Bezug auf den vorausgehenden Turn verstanden werden. Gerade der Graubereich der Übergänge zwischen den verschiedenen Inkrementtypen macht den Gegenstand schwer zu fassen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Verhältnisse in der englischen Sprache im Vergleich recht partikulär sind, jedoch oft die Basis für die Kategorienbildung bilden. Abbildung 28: Typen von Turn-Erweiterungen nach Vorreiter (2003) Die Gemeinsamkeit aller Kontinuierungen besteht in der semantischen Verknüpfung. Alle Inkremente sind ohne die Vorgängeräußerung nicht interpretierbar. Die grammatische Verknüpfung verläuft von „sehr eng“ („glue-ons“), da grammatisch und stellungsmäßig wohlgeformt, über „weniger eng“ bis hin zu „nicht vorhanden“. Diese Skalierung erlaubt es auch Mischfälle zu berücksichtigen. Schegloffs Definition von Inkrements („further talk <?page no="316"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 306 […] fashioned not as a new TCU, but as a continuation of the preceding TCU, […] by making it grammatically fitted to, or symbiotic with that prior TCU, in particular, to its end“ (Schegloff (2001: 11), zitiert nach Vorreiter (2003: 22)) schließt „insertables“ und „free constituents“ aus, da sie keine Symbiose mit dem Gastsatz eingehen und auch nicht syntaktisch angepasst sind. (d) Inkremente nach Couper-Kuhlen & Ono (2007) Stärker als die anderen Entwürfe, die versuchen, das Feld der Turn-Erweiterungen zu ordnen und zu systematisieren, positionieren sich Couper-Kuhlen & Ono (2007), Ono & Couper-Kuhlen (2007) auf dem Gebiet der Interaktionalen Linguistik (vgl. Kapitel 2.3). Sie gehen davon aus, dass nur gebrauchsbasierte Untersuchungen Einblicke in das Funktionieren von sprachlichen Strukturen geben, da Sprachstruktur und Interaktion untrennbar miteinander verbunden sind. Aus den gleichen Gründen kann erst eine sprachvergleichende Untersuchung (in ihrem Fall ist es der Vergleich zwischen englischen, deutschen und japanischen Daten) berechtigte Hypothesen über Zusammenhänge zwischen struktureller Variation und gemeinsamen Eigenschaften in den Einzelsprachen aufstellen. Durch die Berücksichtigung von „genetically, areally and typologically diverse languages“ (Ono & Couper-Kuhlen 2007: 506) können valide Aussagen über die Wechselwirkung von Grammatik und Interaktion im Allgemeinen und über die Natur von Inkrementen im Besonderen gemacht werden. Die Problemstellung bei der Turn-Erweiterungstypen-Klassifikation ist dabei die gleiche wie bei den anderen AutorInnen. Immer wenn ein Sprecher/ eine Sprecherin einen möglichen Abschlusspunkt erreicht, muss er/ sie sich entscheiden, ob sie einen Sprecherwechsel zulässt oder selbst weiterspricht. Letzteres stellt ihn/ sie wiederum vor die beiden Alternativen, die gleiche Äußerung durch Anhängen weiteren Materials zu erweitern oder eine neue Turn-Konstruktionseinheit zu produzieren. Die sprachvergleichende Perspektive zeigt, wie schwer die auf den ersten Blick plausiblen Kategorien und Funktionen auf andere Sprachen übertragbar sind. Die funktionale Eingrenzung von Inkrementen bei Ford et al. (2002a: 30) auf das ausschließliche Lösen von Rückmeldeproblemen und das Elizitieren von ausstehenden Hörerreaktionen, indem „renewed points of possible completion“ durch Turn-Erweiterungen bereitgestellt werden, ist zu eng und lässt sich für nicht-verwandte Sprachen offensichtlich nicht halten (vgl. Kim 2007). Genauso ist die wesentliche Frage der Unterscheidung zwischen einer Turn-Erweiterung und einer neuen Turn-Konstruktionseinheit eng mit der Syntax in der jeweiligen Einzelsprache verbunden und kann in nicht-englischen Sprachen zu anderen Ergebnissen und Übergangsbereichen führen (vgl. Field 2007, Luke & Zhang 2007). In Beispiel 39 erzählt Tom über seine Erfahrungen mit Gewalt aus dem rechten Lager in den neuen Bundesländern nach der Wende. Bei einem Gespräch über Toms kurzen Haarschnitt kommt das Thema auf Toms Narbe als Folge einer Kopfverletzung durch ei- <?page no="317"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 307 nen Schlag mit einem Baseballschläger. Nach der Schilderung dieser Prügelattacke kommt es zu folgender Themenfortführung: Beispiel 39: „Skin heads“ (BB1_84) 01 Tom: bei uns im haus: sind die skinheads een mal jeKOMMN; 02 ham_n ÜBerfall jemacht; 03 als wir damals frisch beSETZT hatten. 04 (.) mit WAFfen. 05 (1.0) 06 mit WAFfen. 07 (1.0) 08 [überfall] 09 Tor: [ in das ] beSETZte hAUs [rein ]; 10 Tom: [mh_mh,] Auch wenn die erste inkrementelle Erweiterung „(.) mit Waffen“ (Zeile 04) möglicherweise noch dazu dient, als retardierendes Moment im Rahmen der Erzählung narrative Spannung zu erzeugen, steht die Wiederholung in Zeile 06 nach der ausgebliebenen Hörerreaktion eindeutig im Dienst des lokalen Sprecherwechsel-Managements. Der Ausgangspunkt für die sprachvergleichende Klassifikation von Turn- Erweiterungen von Couper-Kuhlen & Ono (2007) ist das System von Vorreiter (2003). Das bedeutet, an den jeweiligen Polen einer Skala syntaktischer und semantischer Abhängigkeit von der Vorgängeräußerung stehen „TCU continuations“ (maximale Integration) und „New TCUs“ (minimale Integration). Zwischen den beiden Extremen gibt es noch „Free constituents“, die zwar keine syntaktische Abhängigkeit aufweisen, semantischpragmatisch aber eng an die Vorgängeräußerung und -handlung angebunden sind. Nur die „TCU continuations“ erhalten eine weitere Unterteilung, nach der sich vier Subtypen identifizieren lassen: „Non-add-on“: Das sind Kontinuierungen nach syntaktischen Abschlusspunkten, die jedoch mit dem Wirtssatz eine intonatorische Gestalt bilden. 163 163 Kontinuierungen nach einem prosodischen Bruch (sei es durch Tonhöhe, Lautstärke, Tempo, Pause oder einer Kombination derselben) heißen Couper-Kuhlen & Ono (2007: FN 15) differenzierten allerdings nicht, ob es sich um reparaturähnliche Gebilde mit Stellvertreter handelt oder nicht. Ihre „Non-add-ons“ entsprechen Geluykens (1994) Rechtsherausstellungen („right dislocations“) ohne prosodischen Bruch, wenn am Ende des herausgestellten Elements eine übergaberelevante Stelle entsteht. Voraussetzung für die Kategorisierung als „Non-add-on“ ist also das Vorhandensein einer starken syntaktischen Abschlussmarkierung, durch die jedes weitere Material nach dem Abschluss als fehlplatziert empfunden wird (vgl. Couper-Kuhlen & Ono 2007: 517f.). <?page no="318"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 308 „Add-on“. Sie sind gleichzeitig Teil des Vorgängerredezugs, tragen aber deutliche Kennzeichen eines Zusatzes bzw. sind prosodisch abgesetzt. „Replacements“: Das sind „Add-ons“, die wie Reparaturen einen schon besetzten „slot“ im Trägersatz neu besetzen oder ausbauen. „The category of Replacement involves prosodically disjunct added-on material which replaces or repairs one or more elements in the host“ (Couper-Kuhlen & Ono 2007: 519). Gibt es keinen solchen Stellvertreter, handelt es sich um eine Form eines „Increments“, d. h., eines „Add-ons“, das nachträglich kommt, sich aber (teilweise erst nach Adaption) in die Vorgängerstruktur eingliedern ließe. „Glue-ons“: Darunter sind Inkremente zu verstehen, die - wenn auch intonatorisch abgesetzt - grammatisch wohlgeformte Strukturen ergeben. 164 In Ausnahmefällen führt das neue Material des „Glue-ons“ zu einer Restrukturierung der gesamten Konstruktion, was auch zu Bedeutungsänderungen führt. In diesen Fällen sorgt der restrukturierende „Glue-on“ für einen Holzweg-Satz („garden path sentence“). 165 „Insertables“: Gemeint sind fehlplatzierte Inkremente, die in dieser Position aus normativer Sicht als markiert gelten, da ihr Material „does not come off as planned or produced in one gestalt with its host.“ (Couper-Kuhlen & Ono 2007: 524) Wie die „Non-add-ons“ erfordern die „Insertables“ einen eindeutigen vorherigen syntaktischen Abschlusspunkt, darüber hinaus sind sie aber auch prosodisch abgesetzt und nicht ohne Anpassung in eine wohlgeformte Struktur überführbar. 164 Die Kategorie der Glue-ons entspricht dem Prototyp des Inkrements, wie er in englischen Untersuchungen kursiert und ist die Turn-Erweiterung, die Schegloff (1996) vorgeschwebt haben muss. Kontroversen gibt es bei der Frage, ob Glue-ons auch satzwertig sein können: „Of potentially more ambiguous status are cases in which the further talk produced following a possibly complete TCU is a finite clause prefaced by a coordinator such as but, and or. […] should [the] continuation be thought of as a TCU continuation or a new TCU? The answer would appear to hinge on whether the clause coordinated with but is syntactically and semantically related to the prior unit and whether it carries out a separate action.“ (Couper-Kuhlen & Ono 2007: 523) 165 „On rare occasions, the Glue-on is not an optional element in the preceding structure but one of its core elements. When this happens, the original, possibly complete syntactic gestalt is restructured into a new one built around the glued-on constituent.“ (Couper-Kuhlen & Ono 2007: 523) Diese Holzwegsätze sind in der gesprochenen deutschen Alltagssprache extrem selten und kommen höchstens in humoristischen Kontexten vor. Die ihnen unterstellte Ambiguität führt im Alltag jedoch so gut wie nie zu Verständnisproblemen (vgl. dazu Imo 2011). <?page no="319"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 309 Abbildung 29: Typen von Turn-Erweiterungen nach Couper-Kuhlen & Ono (2007) Neue Konstruktionseinheiten („New TCUs“) sind syntaktisch und semantisch unverbunden zu der vorausgehenden Äußerung und vollziehen eine eigene neue Handlung. „Free constituents“ sind syntaktisch unabhängig von der Vorgängeräußerung (bzw. nicht integrierbar, da sie keine wohlgeformten Strukturen ergeben würden), semantisch jedoch nicht. Da sie „backwards-looking and dependent on the prior unit for their interpretation“ (Couper-Kuhlen & Ono 2007: 525) sind, handelt es sich um eine Form der Handlungskontinuierung ohne Syntaxkontinuierung. (e) Inkremente nach Auer (1991, 2006b) Auch wenn Auer in seinen späteren Publikationen - besonders den englischsprachigen - das Wort „Inkrement“ benutzt, sind seine ersten Auseinandersetzungen mit dem „unscharfe[n] ‚rechte[n]‘ und ‚linke[n]‘ Rand deutscher Sätze“ 166 Auer 1991: 139 ( ) noch stärker der Tradition der Gesprochene-Sprache-Forschung verpflichtet (vgl. Kapitel 2.1), was sich auch in der Terminologie widerspiegelt. Die Behandlung dieser Erweiterungsstrukturen, die sich in einer traditionellen Konstituentenanalyse nicht ohne Weiteres als integrale Bestandteile des Bezugssatzes beschreiben lassen, aber gleichzeitig auch nicht unselbstständig sind - also weder eigene Handlungen darstellen, noch abgeschlossene Sätze sind -, erfolgte bis dahin unsystematisch und unplausibel. Besonders die Ableitung aus zugrunde liegenden Satzstrukturen zeugt von einer Voreingenommenheit gegenüber mündlicher Sprache (vgl. Kapitel 4.8.1 und den „written language bias“ (Linell 2005) in der Sprachwis- 166 Dem ‚rechten‘ Rand widmet sich insbesondere Auer (1991, 1992, 1996a, 2000a, 2006b, 2007a, 2007b, 2009a, 2010b), der ‚linke‘ Rand ist Gegenstand in Auer (1993b, 1996b, 1997, 2005b, 2009b, 2010a). <?page no="320"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 310 senschaft) zugunsten einer normgerechten, schriftnahen Sprache und führt zu keinem ansatzweise befriedigenden Interaktionsmodell. Der Grund dafür ist zugleich ein wesentliches, wenn nicht das entscheidende Konstituens ihrer Existenz, nämlich die Zeitlichkeit von Sprache: „Herausstellungen nach links“ stehen nicht links vom Bezugssyntagma, „Herausstellungen nach rechts“ nicht rechts davon; vielmehr werden die einen in der Zeit vor dem Bezugssyntagma produziert und rezipiert, die anderen danach. Eine „Herausstellung nach links“ erfolgt oft, ohne daß die Planung des folgenden Bezugssyntagmas schon abgeschlossen, ihre Rezeption, ohne daß das Bezugssyntagma schon projizierbar wäre; umgekehrt ist eine „Herausstellung nach rechts“ in der Regel nicht von Anfang der Äußerung an vorgesehen, genauso wenig wie ihre Rezeption syntaktisch gesehen auf sie angewiesen wäre. Die Bewegungs-Analyse verkennt also nicht nur die grundlegenden Unterschiede zwischen den beiden Typen von „Herausstellungen“ (was durch die parallelisierende Terminologie - Rechts-/ Linksversetzung, etc. - noch ungeschützt wird), sie ist grundsätzlich nicht in der Lage, die Produktion und Rezeption einschlägiger Phänomene unter Berücksichtigung der Zeitlichkeit von Sprache zu erfassen. (Auer 1991: 139f.; Hervorhebung im Original) Nach Auer (1991: 140) muss sich die Analyse solcher Strukturen auf den „interaktive[n] Ablauf des Gesprächs als Sequenz von Redebeiträgen“ stützen. Ein reibungsloser Sprecherwechsel ist nur an solchen Stellen möglich, an denen syntaktische Abgeschlossenheit vorliegt. Das Identifizieren und Signalisieren von Abschlusspunkten ist also eine ganz wesentliche Aufgabe von Gesprächspartnern. Es macht nämlich einen Unterschied, ob ein fertiger Satz in Konstituenten zerlegt wird oder ob eine (vorläufig) abgeschlossene Struktur über den syntaktischen Abschluss hinaus expandiert wird: „Denn wenn ein deutscher ‚Satz‘ aufhört, hört er bekanntlich oft noch lange nicht auf.“ (Auer 1991: 140) Erweiterungen über syntaktische Abschlusspunkte hinaus werden in Auer (1991) „Expansionen“ genannt, bei denen eine „abgeschlossene syntaktische Struktur retrospektiv zum Teil einer größeren“ gemacht wird. Dabei lassen sich je nach Orientierung vor allem vier Expansionstypen unterscheiden: paradigmatisch-regressive, syntagmatisch-regressive, syntagmatisch-progressive und appositional-progressive Expansionen. 167 167 In Auer (2006b: 285f.) ändern sich die Kategorienbezeichnungen geringfügig, vermutlich als Reaktion auf die zwischenzeitlich stattgefundene Erweiterung und „Internationalisierung“, in retrospektiv und prospektiv anstelle von regressiv und progressiv. Offensichtlich werden die alten Begriffe durch die neuen ersetzt - anders als bei Linell (vgl. Kapitel 4.8), der die Unterscheidung im Sinne von linearer Serialisierung im Gegensatz zu temporaler Orientierung aufrechterhält. <?page no="321"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 311 Abbildung 30: Typen von Rechtsexpansionen nach Auer (1991) <?page no="322"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 312 Die Vorgängerstruktur kann entweder weitergeführt werden („progressiv“) oder modifiziert werden („regressiv“). Die Expansion kann sich - virtuell - in die Vorgängerstruktur einfügen lassen („syntagmatisch“) oder einen Äußerungsteil ersetzten („paradigmatisch“) 168 . Der syntaktische Anschluss der Erweiterung kann markiert sein („konjunktional“) oder nicht („parenthetisch“) und die Expansion kann in einer prosodisch selbstständigen Intonationseinheit erfolgen oder die Expansion bildet eine eigene Intonationsphrase mit einer Grenzpause, eigener finaler Tonhöhenbewegung und einem eigenen Hauptakzent. 169 In Beispiel 40 sitzen die Bewohner einer Reality-TV-Sendung gemeinsam am morgendlichen Frühstückstisch und Torben hat Christina heimlich Salz in den Kaffee geschüttet und eine scharfe Peperoni ins Brot gesteckt. Nachdem Christina am Kaffee genippt und in das Brot gebissen hat, kommt es zu folgender Frotzelei (vgl. zu den Techniken von Frotzelaktivitäten Günthner 1996b). Beispiel 40: Ohne Kaffee (BB1_84) 01 Chr: ((lacht)) <<f> du weißt geNAU wie ich das hasse; = 02 =wenn_n morgen schon so ANfängt; 03 ohne 04 und kein BRO: T richtisch; 05 oder IRgendwie so was.> 06 Tor: <<mit vollem Mund> is doch alles DA; > 07 ((alle lachen)) 08 Chr: is ja E: kelhaft; 09 äh UAH- (--) 10 na sO kann man AUCH diät machen. Die nicht-selbstständigen Expansionen „ohne MI: LCH,“ (Zeile 03) und „und kein BRO: T richtisch; “ (Zeile 4) sind beide semantisch gesehen rückwärtsgerichtet auf die phorische Pro-Form „so“ in der Vorgängeräußerung in Zeile 02. Im Fall von „ohne MI: LCH,“ ist eine Substitution des „so“ ohne weiteres möglich, nicht jedoch bei „und kein BRO: T richtisch; “ das zwar semantisch regressiv, syntaktisch aber mangels grammatischer Kon- 168 Bei den paradigmatischen Ersetzungen hat die Ersetzung einer Pro-Form traditionell einen besonderen Status und wird als „Rechtsversetzung“ bezeichnet. In allen anderen Fällen handelt es sich in der Regel um Reparaturen oder Elaborierungen. 169 Das Merkmal der prosodischen Integration bzw. Selbstständigkeit ist im Unterschied zu den morphologisch und syntaktischen Merkmalen skalar. Für die syntagmatisch-regressiven Expansionen, die maximal in die Vorgängerstruktur integriert sind, schlägt Auer (1991) die Bezeichnung „Ausklammerung“ vor, für die syntagmatisch-regressiven Expansionen mit maximaler prosodischer Selbstständigkeit die Bezeichnung „Nachtrag“ (vgl. auch Altmann 1981). <?page no="323"?> 6.1 Zeitliche Emergenz einer syntaktischen Gestalt 313 gruenz nicht paradigmatisch ist, sondern ein Fall einer asyndetischen Apposition (vgl. Abbildung 30). In seinen späteren Arbeiten kritisiert Auer (2006b, 2007b) Schegloffs Bestimmung von „increments“, weil darin nicht explizit gemacht wird, ob die Turn-Erweiterung syntaktisch von der Vorgängeräußerung abhängig sein müssen und wie sich syntaktische Abhängigkeit übereinzelsprachlich letztendlich definieren lässt. In typologisch unterschiedlichen Sprachen sind sowohl die prinzipiellen Möglichkeiten als auch die tatsächlichen Realisierungen von Turn-Erweiterungen sehr verschieden (Couper-Kuhlen & Ono 2007, Field 2007, Kim 2007, Luke & Zhang 2007). Es ist unklar, welchen pragmatischen Status Turnbzw. TCU- Erweiterungen haben, inwieweit sie eigenständige, neue Handlungen oder subsidiärretrospektive Handlungen darstellen. Auch bei der Frage, ob syntaktische Unabhängigkeit systematisch mit semantischer Unabhängigkeit auftritt, ist - zumindest deuten erste Forschungsergebnisse darauf hin - umstritten. 170 Auer (1991 Nicht zuletzt wird die Rolle der Prosodie unterschätzt. Obwohl die auf , 1992, 1996a) aufbauenden Modelle von Vorreiter (2003) und Couper-Kuhlen & Ono (2007) einige dieser Forderungen einholen, wurde bis auf weiteres aus pragmatischen Gründen darauf verzichtet, auch satzwertige Expansionen in die Systematik aufzunehmen. Die Zahl der „increments“ würde sich natürlich drastisch erhöhen, würden auch alle abhängigen Nebensätze berücksichtigt, soweit sie im Nachfeld stehen. 171 Grundsätzlich bleibt jedoch das Problem, dass die Klassifikation der TCU-Expansionen sehr stark auf syntaktischer Einbettung fußt, und dadurch in den Fällen, die sich gerade durch das Ausbleiben von syntaktischen Relationen auszeichnen (z. B. bei den Appositiven und Parenthesen), die Zuordnung fragwürdig wird. Außerdem müssen unter den paradigmatisch-retrospektiven Erweiterungen, die klassischen Reparaturen (vgl. Kapitel 6.1.6) von Konstruktionsellipsen unterschieden werden, die auf „Strukturlatenzen“ der gesprochenen Sprache basieren (Auer 2007a: 9f.): Hier […] von Ellipsen zu sprechen, suggeriert fälschlicherweise, dass solche Äußerung [sic! ] aus ihren vollständigen Pendants sozusagen durch Wegstreichen von Strukturelementen abgeleitet werden. Wesentlich sinnvoller ist eine andere Sichtweise: syntaktische Strukturen bleiben nach ihrer Produktion/ Rezeption für eine gewisse Zeit verfügbar und halten für den nächsten (oder denselben) Sprecher ein ‚Angebot‘ bereit, sie nach bestimmten Regeln für die Nachfolgeäußerung zu nutzen. 170 Vgl. die von Ford et al. (2002b) eingeführte Unterscheidung zwischen „extensions“ und „free constituents“, die sich danach unterscheiden, inwieweit sie syntaktisch und semantisch auf die Vorgängeräußerung bezogen sind. 171 Für Relativsätze im Nachfeld siehe Birkner (2008: 185-227), für nachgestellte wenn-Sätze siehe Auer (2000b). <?page no="324"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 314 Das führt zur Notwendigkeit, in den vor allem strukturell bestimmten Kategorisierungen nachträglich funktionale Subkategorien zu unterscheiden, die oberflächensyntaktisch nicht offensichtlich sind. In dem folgenden Beispiel 41 der Reality-TV-Sendung unterhalten sich Christina, Torben und Vanessa über ihre ehemalige Mitbewohnerin Elena. Während der narrativen Rekonstruktion einer Anekdote durch Christina entsteht das Problem, dass der Gesprächsgegenstand erst etabliert werden muss, bevor es zur Pointe der Geschichte kommen kann. Die Beschreibung der Hose wird dabei immer weiter elaboriert, wobei es zu typischen Expansionen kommt (vgl. die paradigmatisch-regressiven Reparaturen in Zeile 04, 18, 19, 22 und die progressive syntagmatische Expansion in Zeile 20). Beispiel 41: Die grüne Hose (BB2_83) 01 Chr: °hh <<flüsternd> wollt se gestern mit der DREckigen cOrdhose rausgehen; =ne,> 02 (---) 03 WEISte welche cOrdhose ich mein.=ne, 04 (.) die GRÜne.=ne,= 05 Tor: =hat die überhaupt mal EIn stück hier geWAschen? 06 (---) NÄ: ; =ne? 07 ((lacht)) 08 <<lachend> hat eh nix gewaschen.=ne,> 09 Chr: die hat EINmal gewaschen; = 10 =DOCH- 11 ((räuspert sich)) 12 da hat sie doch die (faie) wäscheleine WEISS gehabt. 13 WEISST nich mehr? 14 Tor: <<len> ach JA stImmt- 15 die WEISsen klamotten.> 16 Chr: die HAT einmal gewaschen. 17 (--) und dann HAT die die cordhose,=ne, 18 WEISste die (.) die graugrÜ: ne da äh 19 diese GRÜNliche; 20 in [BEIge.] 21 Tor: <<h>[ jaja ] ich WEISS, 22 die BRAUne; > 23 ja: ; 24 Chr: dann ! HAT! die das gAnze bein so_n fleck gehabt. Dieses Beispiel macht deutlich, wie eng Turn-Erweiterungen über syntaktische Abschlusspunkte hinaus Teil interaktionaler Problemlösung sind. Erst als der primäre Adressat der Anekdote Torben die fragliche Hose identifiziert hat (Zeile 21-22 „jaja ich WEISS, die BRAUne; “), wird die Pointe der Geschichte geliefert (Zeile 24 „dann ! HAT! die das gAnze bein so_n fleck gehabt“). Die Expansionen sind durch die konditionell relevanten, aber <?page no="325"?> 6.2 Zusammenfassung und Diskussion 315 nicht geäußerten Bestätigungssignale Torbens provoziert worden, der damit signalisiert „daß er mit der Äußerung des Sprechers referentiell oder evaluativ Schwierigkeiten hat“. (Auer 1991: 153) 6.2 Zusammenfassung und Diskussion Anhand der Auswahl verschiedener sprachlicher Verfahren, deren Funktion untrennbar mit dem Management des zeitlichen Verlaufs von Äußerungen in natürlichen Gesprächen verbunden ist, konnte gezeigt werden, wie notwendig und aufschlussreich die Reanalyse syntaktischer Phänomene der gesprochenen Sprache unter temporalen Gesichtspunkten ist. Das Bestreben, „bewährte grammatische Kategorien für gesprochen-sprachliche Analysezwecke zu reinterpretieren bzw. zu rekonstruieren“ (Stein 2003: 190), vereint eine ganze Reihe von Untersuchungen aus jüngerer Zeit (vgl. auch Zifonun et al. 1997: Kapitel C „Zur Grammatik von Text und Diskurs“) und leistet einen wichtigen Beitrag dazu, eine einheitliche Begrifflichkeit für grammatische Phänomene in der geschriebenen und gesprochenen Sprache zu finden, ohne die Unterschiede in den Produktions- und Rezeptionsbedingungen dabei zu verwischen. Die kommunikativen Aufgaben, die im Verlauf eines Gesprächsbeitrags erledigt werden müssen, sind nicht gleich verteilt, sondern je nach Position sehr unterschiedlich. Da zu Beginn eines Turns die Aufmerksamkeit des Adressaten sichergestellt werden und retrospektiv an den vorangegangenen Beitrag angeknüpft werden muss, insbesondere, wenn durch semantisch-pragmatische Projektionen bestimmte Folgehandlungen „im Raum stehen“, finden sich hier vor allem kurze, nicht-sentenzielle syntaktische Formate. Daraus zieht Deppermann (2012) sogar den Schluss, dass die Äußerung eines vollständigen Satzes (=mindestens Subjekt, finites Verb, vollständige Komplementrealisierung) selbst eine wichtige Handlungsressource für die TeilnehmerInnen ist, weil mit dem Format „Satz“ Handlungen durchgeführt werden, die mit anderen syntaktischen Konstruktionen nicht durchgeführt werden können: Sätze sind also linguistische Ressourcen, die erst dann angewandt werden bzw. werden müssen, wenn die interaktive Vergangenheit (v. a. der vorangegangene Turn) nicht schon die Ressourcen zur Bearbeitung einer nächsten, lokal projizierten Aufgabe bereitstellt. Sätze sind dann gefragt, wenn der Sprecher selbstinitiativ etwas zum Ausdruck bringen will, was über die retrospektiv vorgezeichneten Möglichkeiten hinausgeht. (Deppermann 2012: 10) Mit der Wahl des syntaktischen Formats „Satz“ emanzipiert sich der Sprecher von dem lokalen Kontext und von vorausgehenden Redebeiträgen, um genuin Neues zum Ausdruck zu bringen. Dabei lässt sich im Satzformat nicht nur das ethnomethodologische Prinzip der Reflexivität wiederfinden - indem nämlich das Satzformat auf den Neuigkeitswert <?page no="326"?> 6 Neubewertung syntaktischer Phänomene im Rahmen einer inkrementellen Syntax 316 verweist und die Neuigkeit den Satz auslöst -, sondern Deppermann (2012: 11) sieht hier auch das konstruktionsgrammatische semiotische Prinzip bestätigt, wonach „Sätze […] als solche eine eigene, an die Satzform gebundene Pragmatik haben.“ Die Erkenntnisse über die Prozesshaftigkeit der gesprochenen Sprache lassen sich nicht nur auf den Anfang, sondern auch auf die Mitte syntaktisch emergenter Strukturen anwenden. Schließlich kann jedes einmal begonnene syntaktische Projekt zu jedem Zeitpunkt abgebrochen, unterbrochen oder weitergeführt werden. Aus der Teilnehmerperspektive hat die Emergenz des Abbruchpunkts die Eigenschaft, ein möglicher Fortsetzungspunkt zu sein. Gemäß der linguistischen bzw. rhetorischen Tradition wird im Fall von Konstruktionsabbrüchen noch nach intentionalen (Aposiopese) und nicht-intentionalen (Anakoluth) unterschieden. Ein anderer wichtiger Typ der Fortsetzung besteht ebenfalls in einer Unterbrechung. In diesem Fall wird jedoch retraktiv ein Teil der geäußerten Linearstruktur bearbeitet, elaboriert oder repariert. Das System der Reparaturorganisation stellt die Möglichkeit bereit, in der Zeit zurückzugehen und Aspekte in der interaktionalen Vergangenheit rückwirkend zu bearbeiten. Es stellt von allen zeitlich dominierten Verfahren dasjenige mit der größten Diskrepanz zur Schriftlichkeit dar, in der die Spuren eventueller Überarbeitungen und nachträglicher Änderungen in aller Regel getilgt sind, wenn das Kommunikat rezipiert wird. Gerade das Beispiel der Unterbrechung einer emergenten syntaktischen Gestalt zeigt, dass die Untersuchung der Syntax gesprochener Sprache nur sinnvoll ist, wenn man eine on-line-syntaktische Perspektive einnimmt, die die Temporalität und Prozessualität der Äußerungsproduktion bei der Analyse und Bewertung berücksichtigt. Mit dem Instrumentarium der Interaktionalen Linguistik und im Rahmen eines inkrementellen Syntaxmodells können die Strukturunterschiede und Zusammenhänge zwischen parenthetischen Unterbrechungen, retraktiven Reparaturen und fragmentarischen Abbrüchen aufgezeigt werden. Im Ergebnis eröffnet das einen Blick auf Parenthesen in der Mündlichkeit als prosodisch selbstständige echtzeitliche Unterbrechungen noch nicht abgeschlossener Einheiten. Die Produktion der emergenten syntaktischen Struktur sistiert und es kommt zu einer Parenthese. Dieser „Einschub“ ist jedoch nur retrospektiv als solcher zu erkennen. Entscheidend für das Vorliegen einer parenthetischen Unterbrechung ist die Tatsache, dass in eine einmal begonnene Struktur zurückgekehrt wird. Gerade im Falle der parenthetischen Unterbrechung wird klar, dass es sich dabei um ein relationales Phänomen handelt. Die verwendeten Kontextualisierungsmerkmale sind allerdings nicht kontextfrei interpretierbar und in der Regel polyfunktional. Trotzdem führt die Häufung kookkurrenter Merkmale zu mehr oder weniger starker bzw. schwacher Kontextualisierung von parenthetischen Unterbrechungen, Neustarts, Reparaturen und Expansionen. Expansionen am Ende einer syntaktischen Struktur und über mögliche Abschlusspunkte hinaus werden in der Regel unter dem Oberbegriff „Inkrement“ behandelt. Die zahlreichen Typen von Einheitenerweiterungen der gesprochenen Sprache sind ein auf- <?page no="327"?> 6.2 Zusammenfassung und Diskussion 317 schlussreiches Forschungsgebiet, um den Zusammenhang zwischen Zeitlichkeit und grammatisch-syntaktischem Strukturaufbau zu analysieren. Hier zeigt sich besonders, wie sprachliche Beiträge linear und interaktiv hergestellt werden und „vom Sprecher flexibel gestaltet, umgestaltet, aufgegeben und vom Rezipienten mitgestaltet werden“ (Stukenbrock 2013: 250). Prinzipiell gilt für alle Erweiterungen, dass syntaktisch abgeschlossene Einheiten über den Punkt der Abgeschlossenheit hinaus erweitert werden, wobei die Erweiterungen selbst grammatisch von der Vorgängerstruktur abhängig sind. Die Typologie der Expansionen unterscheidet sich in den Vorschlägen fürs Englische und Deutsche ganz erheblich, je nachdem, inwieweit prosodische und pragmatische Kriterien zusätzlich zu den syntaktischen für die Klassifikation herangezogen werden. Auch die Vorschläge fürs Deutsche haben bezüglich der Nomenklatur als auch des Ordnungsprinzips (Altmann 1981, Auer 2006b) eine Evolution durchgemacht. Da die jeweiligen Einzelsprachen syntaktische Abgeschlossenheit unterschiedlich (stark) kodieren, ist eine sprachspezifische Terminologie bis zu einem gewissen Grad jedoch durchaus gerechtfertigt. Darüber hinaus ist deutlich geworden, dass funktionale und strukturelle Beschreibungen nur verschiedene Blickwinkel auf ein und dasselbe Phänomen sind. Beispielsweise finden Selbstreparaturen in der Regel im „Nachfeld“ inkrementeller Erweiterungen statt, umgekehrt haben Erweiterungen von Turn-Konstruktionseinheiten häufig die Funktion von Reparaturen, Präzisierungen oder Elaborierungen. Erweiterungen sind weder ein Kuriosum noch grammatische Schönheitsfehler, sondern sie gehören zu den Kerntechniken der mündlichen Kommunikation, die durch die Zeitlichkeit des Gesprochen-Gehörten bedingt sind und eine Ressource dialogischer Rückkoppelungs-, Aushandlungs- und Ko-Konstruktionsprozesse zwischen Sprecher und Adressaten darstellen. (Stukenbrock 2013: 252) Den Sprecherwechsel im Sinne einer „syntax-for-conversation“ (Auer 1992, Schegloff 1979) als wichtigstes strukturbildendes Prinzip anzusehen, hat dazu beigetragen, Zusammenhänge zwischen syntaktischen und interaktionalen Phänomenen herzustellen, die ohne diese Perspektive verdeckt geblieben wären. Der linear-zeitliche Verlauf, die Positionierung in Bezug auf einen möglichen Gestaltschluss und die paradigmatische oder syntagmatische Relation erlauben eine einheitliche Klassifikation von Parenthesen, Expansionen und Reparaturen. <?page no="329"?> 7 Schlussbetrachtungen Pigmei Gigantum humeris impositi plusquam ipsi Gigantes vident. - Didacus Stella in Luc. 10, tom.2 Diese Arbeit hatte drei Ziele: einen Beitrag zur Ausarbeitung eines Syntaxmodells für die gesprochene Sprache zu leisten, den Gegenstandsbereich ‚Syntax des gesprochenen Deutsch‘ abzustecken und Erfahrungen mit ausgewählten Syntaxmodellen zu sammeln, die für die zukünftige Modellierung inkrementeller Prozesse von Sprache-in-Interaktion von Bedeutung sein können. Das theoretische Erkenntnisinteresse ist entstanden, nachdem der Ruf nach einem gegenstandsadäquaten Grammatik- und Syntaxmodell für die gesprochene Sprache immer lauter geworden war. So erkennt z. B. Deppermann (2006) zwar die großen Fortschritte auf dem Gebiet der Gesprochene-Sprache-Forschung der vergangenen vierzig Jahren an, stellt dieser insgesamt aber ein schlechtes Zeugnis aus, denn bis heute steht „[d]er Vielfalt gesicherter Phänomenbefunde […] ein Theoriedefizit gegenüber.“ (Deppermann 2006: 44) Er erklärt sich die Abneigung, auch an einer theoretischen Fundierung der Grammatik der gesprochenen Sprache zu arbeiten, damit, dass traditionelle Grammatiken von Prämissen ausgehen, die sich mit dem Befund in authentischen Gesprächen nicht vereinbaren lassen. Dazu zählt die Satz-Prämisse, die die Vollständigkeit syntaktischer Einheiten fordert, die Formalitätsprämisse, die die Allgemeingültigkeit syntaktischer Regeln fordert, und die Kompositionalitätsprämisse, nach der sich die Satzbedeutung aus der lexikalischen Bedeutung der Wörter und der syntaktischen Struktur ihrer Verknüpfung ergibt. Die Unvereinbarkeit dieser Prämissen mit frequenten (syntaktischen) Phänomenen der gesprochenen Sprache ist dafür verantwortlich, „dass die Untersuchung der gesprochenen Sprache bestenfalls ein prekäres Randdasein für die Entwicklung grammatiktheoretischer Modelle gespielt hat.“ (Deppermann 2006: 57) Weil seit Beginn der systematischen Erforschung der gesprochenen Sprache angemahnt wurde, dass deren theoretische Fundierung den empirischen Erkenntnissen Rechnung tragen muss, hat diese Arbeit es sich zur Aufgabe gemacht, ein wesentliches Merkmal von Sprache-in-Interaktion zu isolieren und in größere Zusammenhänge zu stellen: ihre Zeitlichkeit. Schon die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Zeitbegriffen in Kapitel 3 konnte zeigen, dass das Ringen um die Zeit und Aufmerksamkeit unserer Interaktionspartner nicht nur in kommunikativen Zusammenhängen relevant ist, sondern dass der ökonomische Umgang und die effektive Nutzung der zur Verfügung stehenden „gemeinsamen“ Zeit auch in vielen anderen Lebensbereichen von großer Bedeutung ist. <?page no="330"?> 7 Schlussbetrachtungen 320 In Kapitel 4 wurde bei der Sichtung interaktionslinguistischer Studien, die Zeitlichkeit in Anschlag bringen, deutlich, dass es durchaus bereits zahlreiche nennenswerte Versuche gegeben hat, die zeitliche Strukturiertheit von (sprachlicher) Interaktion auch theoretisch in Sprach- und Kommunikationsmodelle zu implementieren. Gesprochene Sprache - und damit auch ihre Linearität und Prozessualität als eine ihrer konstitutiven Eigenschaften - ist im Verlauf der Geschichte immer wieder in den Mittelpunkt theoretisch-systematischer Überlegungen gerückt, sei es, weil sie als „ursprünglich“ (Humboldt) wahrgenommen wurde, sei es, weil ihre „Spontaneität“ sie als besseres Medium auszeichnet, um die Gedanken des Genies zum Ausdruck zu bringen (Kleist), sei es, weil sie so leicht zugänglich ist, um interaktionalen Fragestellungen nachzugehen (Sacks), sei es, weil die jahrhundertelange Auseinandersetzung mit geschriebener Sprache unsere Wahrnehmung nachhaltig geprägt hat (Linell) und eine ganzheitliche Betrachtung ohne den Einbezug dialogischer Mündlichkeit immer unvollkommen bliebe. Eine solche Möglichkeit der ganzheitlichen Herangehensweise besteht darin, gesprächsanalytische und korpuslinguistische Methoden miteinander zu verknüpfen, um zu einer integrativen Betrachtungsweise zu kommen, die in der Lage ist, interaktionale Prozesse und deren kognitive Grundlage bzw. Repräsentation miteinander zu versöhnen. Der sich daraus ergebenden „interaktionskonstruktivistische[n] Perspektive“ (Günthner 2007, Levinson 2005) auf Grammatik wird von vielen das größte Potential zugesprochen, die Gräben zwischen sprachlicher Praxis und linguistischer Beschreibung zu schließen und endlich eine „umfassende Theorie der Grammatik der gesprochenen Sprache“ zu finden „und mit ihr eine konsistente Beschreibungssprache, die an die spezifische Konstitutionsweise des Gesprochenen angepasst ist.“ (Deppermann 2006: 44) Hier schloss sich das praktische Erkenntnisinteresse dieser Arbeit an, nach bestehenden aktuellen Theorien und Modellen inkrementeller Syntax zu suchen, die dem zeitlichen Aufbau mündlicher Äußerungen gerecht werden, um zu einer gegenstandsadäquaten Repräsentation von Sprache-in-Interaktion zu kommen. Die Leistungsfähigkeit von vier ausgewählten Modellen wurde in Kapitel 5 an Beispielen erprobt und ausführlich diskutiert. Dabei sind drei Problemfelder besonders ins Auge gefallen: Erstens leiden fast alle Grammatikbeschreibungen und -konzepte unter einer vorausgehenden Zweckbestimmung. Das Problem ist nicht neu - schließlich war auch schon zu Zeiten der „Junggrammatiker“ klar, dass Grammatikschreibung immer auch ein Stück Vergangenheitsbewältigung ist. So ist zum einen der übermächtige Einfluss der bis ins Altertum zurückreichenden Überlieferung immer noch spürbar und „die moderne wissenschaftliche Grammatik hat sich für ihre neuen Zwecke ihr Handwerkszeug nicht neu geschaffen, sondern meist nur hergerichtet und notdürftig ergänzt“ (Ries 1894: 6). Zum anderen unterscheiden sich die Ziele einer wissenschaftlichen Grammatik gänzlich von dem praktischen Zweck, dem sie lange Zeit diente: „Es war die antike Grammatik durchaus eine Anweisung zum richtigen Sprechen mit praktischer Tendenz und ist nie reine <?page no="331"?> 7 Schlussbetrachtungen 321 Wissenschaft gewesen, der es nur darauf ankommt, ihren Gegenstand zu begreifen.“ (Steinthal 1863: 709) Ries’ (1894: 8) optimistische Hoffnung, dass „[d]urch die neuere Sprachwissenschaft […] freilich die Grammatik aus ihrer dienenden Stellung erlöst worden [ist]“, hat sich nicht bewahrheitet. Denn auch die meisten Modelle in Kapitel 5 sehen ihr größtes Potential auf dem Gebiet des Sprachunterrichts. Die Einfachheit der Beschreibung und die geringe Anzahl der eingeführten Kategorien erleichtern das Verständnis und die Lernbarkeit, wodurch sie traditionellen wie wissenschaftlichen Grammatiken zumindest in dieser Hinsicht überlegen zu sein scheinen. Diese Ideologie hat zur Folge, dass die Beschreibungen häufig unterkomplex bleiben und unter dem Deckmantel der besseren Verständlichkeit häufig Tatsachen ignorieren oder Fehler verbergen. Zweitens führt dieser gewollte Bruch mit der Tradition zu einer wahren Begriffsexplosion. Dieser Bruch mit einer schriftsprachlich-monologisch basierten Linguistiktradition ist auf der einen Seite begrüßenswert, weil er ein Zeichen dafür ist, wie sich die Wahrnehmung in Bezug auf den eigentlich zu erklärenden Gegenstand der Sprachwissenschaft geschärft hat. Auf der anderen Seite birgt dieser bewusste Bruch mit der Tradition die Gefahr, dass beim „Abschneiden alter Zöpfe“ syntaktisch-grammatische Wahrheiten verleugnet wurden. Ob die kreativen Wortschöpfungen zur Bezeichnung der Phänomene der gesprochenen Sprache immer ihre Berechtigung haben und ob sie die Zeit überdauern werden, muss sich erst noch zeigen. Es erscheint überzogen, ohne Not auf etablierte Bezeichnungen für syntaktische Kategorien- und Relationsverhältnisse zu verzichten, die in der gesprochenen wie in der geschriebenen Form ihre Gültigkeit haben. Außerdem vertieft dieses Nebeneinander an Nomenklaturen das Schisma zwischen gesprochener und geschriebener Sprache immer weiter - und das in einer Zeit, in der die Erforschung der gesprochenen Sprache wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, nachdem sie erst in Nachbardisziplinen ausgegrenzt war und später an der Peripherie als „Bindestrich- Linguistik“ toleriert wurde. Dieses Schisma ist besonders deshalb unzeitgemäß, weil durch die sogenannten „Neuen Medien“ die Kategorien Monolog, Dialog, Schriftlichkeit und Mündlichkeit ineinander verschwimmen. Statt mit jeder neuen Technologie eine „Linguistik des Handys“ oder eine „Sprache der MIMEs“ auszurufen, muss eine gemeinsame Beschreibungssprache und theoretische Modellierung entwickelt werden, die in der Lage ist, mit den ständig wechselnden Möglichkeiten der Kommunikation und deren Erforschung mitzuhalten. Das dritte Problem, das sich im Verlauf der praktischen Anwendung herauskristallisiert hat, ist die Unvereinbarkeit, zeitlich-lineare und syntaktisch-hierarchische Verhältnisse gleichzeitig abzubilden. Daher hat auch das einzige Modell, jenes der On-line-Syntax, das sich nicht in den Dienst der Lernbarkeit gestellt hat, ein Darstellungsproblem. Mit dem gesprächsanalytischen Transkriptionssystem (Kapitel 2) liegt zwar ein Verfahren vor, mit dem es möglich ist, den zeitlich-linearen Verlauf eines Gesprächs in Form eines <?page no="332"?> 7 Schlussbetrachtungen 322 „playscripts“ wiederzugeben. Die Leserichtung von links nach rechts und von oben nach unten spiegelt den zeitlichen Verlauf. Parallelsprechen oder sonstige synchron stattfindende Ereignisse können durch untereinanderstehende Klammern und notfalls durch Indices kenntlich gemacht werden. Genau diese vertikale Anordnung symbolisiert in der grille- Notation die paradigmatischen Relationen, die für die Analyse von Retraktion, Projektion und Expansion syntaktischer Strukturen essentiell sind. Eine zweidimensionale Darstellung sowohl der grammatisch-syntaktischen als auch der interaktional-sequenziellen Relationen ist mit diesen Mittel allein nicht umsetzbar. Das empirische Erkenntnisinteresse dieser Arbeit galt den syntaktischen Strukturen, die besonders charakteristisch für die gesprochene Sprache sind und die ohne die Berücksichtigung ihres zeitlichen Verlaufs nicht angemessen beschrieben werden können. Bemerkenswerterweise dienen die meisten Techniken aus Kapitel 6, die Spuren zeitlicher Organisation tragen, dazu, sich dem zeitlichen Verlauf entgegenzustellen. Dem monotonen Nacheinander der linearen Abfolge sprachlicher Prozesse steht ein Arsenal an Verfahren gegenüber, die Zukünftiges ankündigen oder sich auf Vergangenes zurückbeziehen. Im Rahmen dieser Arbeit wurde ein besonderer Fokus darauf gelegt, auf welche Weise Temporalität und Linearität sich im lokalen Management von Sprecherbeiträgen und Beitragssequenzen niederschlagen. Dieser Schwerpunkt ist in erster Linie der übergeordneten Fragestellung geschuldet, inwieweit Zeitlichkeit in die grammatische Beschreibung und Modellbildung integriert werden kann und muss. Sowohl die zeitliche Erstreckung als auch die Tatsache, dass die Prosodie eine distinguierende Rolle spielt, legen nahe, syntaktische Untersuchungen der gesprochenen Sprache nur anhand authentischer Gesprächsaufzeichnungen natürlicher Daten vorzunehmen. Weder erdachte Beispielsätze noch schriftliche Korpora sind in der Lage, die enge Verzahnung der linguistischen Beschreibungsebenen Prosodie, Syntax und Semantik angemessen abzubilden. Diese Verzahnung hat ebenfalls zur Folge, dass es mitunter nicht ausreicht, nur einen Aspekt isoliert zu betrachten. Multifaktorielle Phänomene erfordern auch eine multifaktorielle Beschreibung. Syntaktische Prozesse der gesprochenen Sprache - wie z. B. Reparaturen, Parenthesen, Abbrüche oder Expansionen - beschreiben zu wollen, ohne auf deren zeitlichen Verlauf einzugehen, ist fahrlässig. Es mag in bestimmten Zusammenhängen weiterhin seine Berechtigung haben, grammatische Zusammenhänge off-line zu betrachten und von der Prozesshaftigkeit von Sprache-in-Interaktion zu abstrahieren. In den meisten Fällen würde dadurch jedoch ein entscheidender Wesenszug verkannt: der inkrementelle Charakter gesprochener Sprache. Trotz allem sind eine ganze Reihe anderer zeitlich geprägter Phänomene, die ebenfalls als „Ordnungsprinzipien“ anzusehen sind, unberücksichtigt geblieben. Dies gilt für die zeitliche Verlaufsstruktur größerer kommunikativer Projekte und für das Verhältnis zwischen einzelnen Instanziierungen solcher Projekte und dem kulturellen Wissen, das wir <?page no="333"?> 7 Schlussbetrachtungen 323 darüber besitzen. Dieses Wissen über spezifische Interaktionsformate, die den „kommunikativen Haushalt“ einer Gesellschaft bilden, ist Gegenstand der (kommunikativen) Gattungsforschung, für die Linearität und Temporalität ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Ein anderes wichtiges Konzept, in dessen Rahmen das Vorher und Nachher von Äußerungsteilen als konstitutiv angesehen wird, ist die Theorie der Informationsstruktur und der thematischen Progression. Hier wurden die methodischen Probleme, über die reine Abfolgebeziehung hinaus noch eine weitere Beziehungsdimension der semantischen Qualität von Information aufzumachen, für so groß erachtet, dass sie zwar unmittelbar relevant erscheinen, aber einer eigenen Untersuchung vorbehalten bleiben müssen. Für den gesamten hier behandelten Phänomenbereich, ganz besonders für Fragen des „turn-taking“ oder der Reparaturen, spielen körperlich-visuelle Ressourcen eine wichtige Rolle. Gestik, Mimik, Blickverhalten, Körperorientierung etc. müssen methodisch (z. B. durch eine Standardisierung von Videotranskription (Stukenbrock 2009)) und theoretisch in die Erforschung von Sprache-in-Interaktion integriert werden. Da die verbalen und non-verbalen Bestandteile eines Gesprächs wechselseitig interagieren, „treten zum geordneten zeitlichen Nacheinander des Gesprochenen weitere Ordnungsebenen, die sich ebenfalls in der Zeit entfalten.“ (Stukenbrock 2013: 253) Eine weitere Herausforderung, die mit der Musterhaftigkeit sprachlicher Routinen verbunden ist, ist der (im Vergleich zur klassischen Konversationsanalyse) gestiegene Stellenwert von Frequenzphänomenen für die Bewertung von sprachlichen Strukturen. Denn anders als die Korpuslinguistik werden ausweichende Fälle („deviant cases“) in der interaktionalen Linguistik nicht einfach statistisch weggekürzt, sondern ihre Andersartigkeit wird genutzt, um die (verletzten) Regularitäten des Normalfalls zu explizieren. Auf der anderen Seite lässt sich die Frage der Sedimentierung in einer als „emergent“ konzipierten Grammatik nur im Rückgriff auf tatsächliche Auftretenshäufigkeit beantworten. Diese scheitert im Moment noch an dem Nicht-Vorhandensein entsprechend großer, annotierter und alignierter Korpora, mit denen interaktionslinguistische, korpusbasierte Ergebnisse erst valide und repräsentativ würden. <?page no="335"?> Literaturverzeichnis Ágel, Vilmos (2003): Prinzipien der Grammatik. In: Anja Lobenstein-Reichmann und Oskar Reichmann (Hrsg.): Neue historische Grammatiken. Zum Stand der Grammatikschreibung historischer Sprachstufen des Deutschen und anderer Sprachen. Tübingen: Max Niemeyer, 1-46. Ágel, Vilmos und Mathilde Hennig (2007): Überlegungen zur Theorie und Praxis des Nähe- und Distanzsprechens. In: Vilmos Ágel und Mathilde Hennig (Hrsg.): Zugänge zur Grammatik der gesprochenen Sprache. Tübingen: Max Niemeyer, 179- 214. Agel, Vilmos und Mathilde Hennig (Hrsg.) (2007): Zugange zur Grammatik der gesprochenen Sprache. Tubingen: Max Niemeyer. 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Der Schwerpunkt liegt auf der Syntax der gesprochenen Sprache, auch wenn ein ausschließlich syntaktischer Blick auf sprachliche Strukturen der interaktionalen Praxis nicht sinnvoll ist und deshalb durch semantisch-pragmatische Überlegungen, sequenzielle Gliederungsmerkmale und prosodische Abschnittsbildung ergänzt wird. Dadurch wird ein wichtiger Beitrag zu einer realistischen, prozessorientierten und interaktionsbezogenen Beschreibung der gesprochenen Sprache geleistet. ISBN 9-783-8233-8056-6