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Sprachenlernen im Tandem

Eine empirische Untersuchung über den Lernprozess im chinesisch-deutschen Tandem

1212
2016
978-3-8233-9057-2
978-3-8233-8057-3
Gunter Narr Verlag 
Lingyan Qian

Diese empirische Untersuchung beschäftigt sich mit Lernprozessen beim Sprachenlernen im Tandem, einer Lehr- und Lernkonstellation, die sich zunehmender Beliebtheit erfreut. Anhand authentischer Daten werden die Organisation der Tandemgespräche sowie die Lehr- und Lernpotenziale der Tandeminteraktion für das Deutschlernen chinesischer Studierender beschrieben. Die plastische Darstellung und Tiefenanalyse der Vielfalt von Tandeminteraktionen, ihrer Schwierigkeiten, Probleme und Potenziale verdeutlicht eine im Alltagsverständnis allzu oft idealisierte Vorstellung von der "Natürlichkeit" des Lernens im Tandem, die sich in dieser Untersuchung nicht bestätigen lässt. Am Ende des Bandes werden konkrete Anforderungen an Tandemlehrende formuliert sowie Empfehlungen für die Verbesserung und Verfeinerung der Methodik ausgesprochen.

<?page no="0"?> www.narr.de www.narr.de TBL Tübinger Beiträge zur Linguistik Diese empirische Untersuchung beschäftigt sich mit Lernprozessen und Interaktionsstrategien beim Sprachenlernen im Tandem, einer Lehr- und Lernkonstellation, die sich zunehmender Beliebtheit erfreut. Anhand authentischer Audioaufnahmen werden die Organisation der Tandemgespräche sowie die Lehr- und Lernpotenziale der Tandeminteraktion für das Deutschlernen chinesischer Studierender beschrieben. Die plastische Darstellung und Tiefenanalyse der Vielfalt von Tandeminteraktionen, ihrer Schwierigkeiten, Probleme und Potenziale verdeutlicht eine im Alltagsverständnis allzu oft idealisierte Vorstellung von der „Natürlichkeit“ des Lernens im Tandem, die sich in dieser Untersuchung nicht bestätigen lässt. Am Ende des Bandes werden konkrete Anforderungen an Tandemlehrende formuliert sowie Empfehlungen für die Verbesserung und Verfeinerung der Methodik ausgesprochen. 558 Qian Sprachenlernen im Tandem Sprachenlernen im Tandem Eine empirische Untersuchung über den Lernprozess im chinesisch-deutschen Tandem Lingyan Qian <?page no="1"?> Sprachenlernen im Tandem <?page no="2"?> Tübinger Beiträge zur Linguistik herausgegeben von Gunter Narr 558 <?page no="3"?> Lingyan Qian Sprachenlernen im Tandem Eine empirische Untersuchung über den Lernprozess im chinesisch-deutschen Tandem <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb. dnb.de abrufbar. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen www.narr.de · info@narr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISBN 978-3-8233-8057-3 <?page no="5"?> 5 Danksagung Ich möchte mich bei all jenen Menschen bedanken, die mich während der Entstehung der vorliegenden Arbeit unterstützt haben. Mein besonderer Dank gilt meiner Doktormutter, Prof. Dr. Helga Kotthoff, die mich mit vielen konstruktiven Gesprächen, produktiven Hinweisen und kritischen Rückmeldungen unterstützte, eigene Gedankengänge zu entwickeln. Für die Übernahme des Zweitgutachtens und die anregenden Diskussionen möchte ich mich herzlich bei Prof. Dr. Katharina Brizić bedanken. Den Probanden, die an dieser Untersuchung teilgenommen haben, möchte ich herzlich danken. Ihr Vertrauen und Einverständnis haben die Datenerhebung ermöglicht. Insbesondere danke ich Ulrike Ackermann, die bei der Aufbereitung der Daten eine Unterstützung geleistet hat. Meine dankbare Anerkennung gilt in besonderer Weise auch Robert Stimpel für die geduldige Korrektur des Manuskripts und die wertvollen Diskussionen. <?page no="7"?> Inhaltsverzeichnis 7 Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1 Lehr- und Lernpotenziale von Interaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.1 Zum Begriff Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.1.1 Interaktion und Zweitspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.1.2 Tandem: eine besondere Interaktionsform für Zweitspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 1.2 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2 Untersuchungsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.1 Konversationsanalytischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.1.1 Grundprinzipien der Konversationsanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.1.2 Konversationsanalyse in der Linguistik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2.1.3 Konversationsanalyse und Kommunikation mit nicht kompetenten Sprechern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.2 Zu den Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2.2.1 Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2.2.2 Zu den Probanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.2.3 Die Aufbereitung der Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3.1 Das Konzept: kommunikative Gattung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3.1.1 Die Struktur kommunikativer Gattungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3.1.2 Forschung kommunikativer Gattungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.2 Alltägliche Gespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.3 Unterrichtsinteraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung. . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.4.1 Der Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz . . . . . 84 3.4.2 Der Wechsel von der Lehr-Lern-Sequenz zum Alltagsgespräch 117 3.5 Lehr-Lern-Sequenzen im Tandem vs. Unterrichtsinteraktionen. . . . . 126 3.6 Tandem als eine besondere kommunikative Gattung. . . . . . . . . . . . . . 132 <?page no="8"?> 8 Inhaltsverzeichnis 3.7 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem . . 139 4.1 Zum Begriff Erzählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 4.1.1 Die Struktur konversationeller Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . 140 4.2 Die Stellung der Erzählfähigkeit im Spracherwerb. . . . . . . . . . . . . . . . 145 4.2.1 Erwerb der Erzählfähigkeit in der Muttersprache . . . . . . . . . . . . 146 4.2.2 Erwerb der Erzählfähigkeit in der Fremdsprache. . . . . . . . . . . . . 149 4.3 Modell zur Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem . . . . 151 4.4 Analyse konversationeller Erzählungen am Beispiel einer Erzählung unter Deutschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem . . . . . . . . . . . . . . 161 4.5.1 Erzählanfänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 4.5.2 Dramatisieren (Redewiedergabe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 4.5.3 Detaillierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 4.5.4 Erzählbeendigungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 4.6 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 5 Scaffolding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 5.1 Das Scaffolding-Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 5.1.1 Bedeutung des Scaffoldings für Lehren und Lernen . . . . . . . . . . 258 5.1.2 Scaffolding in der Erstspracherwerbsforschung. . . . . . . . . . . . . . 260 5.1.3 Scaffolding in der Zweitspracherwerbsforschung . . . . . . . . . . . . 263 5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 5.2.1 Typen von Scaffolding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 5.2.2 Versuchtes Scaffolding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 5.2.3 Kontext für potenzielles Scaffolding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 5.3 Formen der Scaffolding-Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 5.3.1 Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 5.3.2 Imperativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 5.3.3 Explikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 5.3.4 Affektive Mittel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 5.3.5 Übernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 5.3.6 Wiedergabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 5.4 Zu Aktivitäten der chinesischen Lerner bei der konstruktiven Dialoghilfe im Tandem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 5.4.1 Ratifizieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 5.4.2 Schweigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 <?page no="9"?> Inhaltsverzeichnis 9 5.4.3 Missverstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 5.5 Anpassung des Muttersprachlers an den Sprachstand des Lerners . . 338 5.6 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 6 Schlussbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 6.1 Das Sprachenlernen im Tandem: zwischen Fiktionalität und Realität 345 6.2 Ausblick: Supervision für das Sprachenlernen im Tandem . . . . . . . . . 349 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 <?page no="11"?> Einleitung 11 Einleitung Das Tandem-Konzept erlebt seit den 1980er Jahren eine Hochkonjunktur im deutschsprachigen Raum. Beim Lernen im Tandem arbeiten in der Regel zwei Personen mit unterschiedlichen Muttersprachen zusammen, um voneinander zu lernen und gemeinsam fortzuschreiten. Jeder Partner bringt Kenntnisse und Fähigkeiten in seiner Sprache und Kultur ein, die der andere erwerben will. Auf diese Weise profitiert jeder von den Erfahrungen und der Unterstützung des Partners. Im Rahmen des Lehrens und Lernens fremder Sprachen enthält das Lernen im Tandem zwei Ebenen, das Sprachenlernen und das interkulturelle Lernen. Mit der Globalisierung entstehen immer mehr Begegnungssituationen zwischen Menschen aus verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Sprachen. Die Entwicklung der weltweiten Mobilität und der zunehmende internationale Austausch stellen Anforderungen an Menschen, sprachliche Kompetenz und Kommunikationsfähigkeit im interulturellen Kontext zu erwerben. Vor diesem Hintergrund steht die Frage im Mittelpunkt: Wie kann man den Fremdspracherwerb und die Entwicklung der interkulturellen Kompetenz fördern. Neben dem institutionellen Fremdsprachenunterricht stellt das Tandem eine besondere Alternative für den Spracherwerb und die Vermittlung des kulturellen Wissens dar. Das Tandemfieber an deutschen Hochschulen ist seit Jahren deutlich spürbar, von institutionell organisierten Tandemkursen, Einzeltandemvermittlungen bis zu selbstinitiierten Tandeminteraktionen. Das Tandem-Konzept ist weit verbreitet und den meisten Sprachenlernenden bekannt. In der vorliegenden Studie geht es um die sprachliche Ebene im chinesischdeutschen Tandem. Die Arbeit beschreibt die Organisation der Tandemgespräche sowie die Lehr- und Lernpotenziale der Tandeminteraktion für das Deutschlernen der chinesischen Studierenden. In der wissenschaftlichen Literatur zum Fremdsprachenlernen im Tandem ist immer wieder die Rede davon, dass die Interagierenden partnerschaftlich die sprachlichen Defizite des Lerners bearbeiten, indem die muttersprachlichen Tandempartner z. B. die lernerseitigen Äußerungen korrigieren, neue Vokabulare einbringen oder auf grammatische Probleme hinweisen. Außerdem geht die Tandemforschung häufig davon aus, dass die Lerner im nicht-institutionellen Kontext Sprechhemmungen abbauen und dadurch freier sprechen können. In der Interaktion mit den muttersprachlichen Gesprächspartnern erwerben die Lerner nicht nur Kenntnisse auf der Ebene der sprachlichen Form, sondern auch auf der Ebene der Struktur der <?page no="12"?> 12 Einleitung Diskurse und der Kommunikationsfähigkeit im Umgang mit den Fremden. Alle diese positiven Aspekte zeigen, dass das Tandem-Konzept für das Sprachenlernen fördernd sein könnte. Wie sehen aber die Möglichkeiten und die Grenzen des Sprachenlernens im Tandem genau aus? Was geschieht, wenn zwei Tandempartner zum Zweck des Sprachenlernens miteinander kommunizieren? Welche Vorteile bringt diese besondere Lehr-Lern-Form? Welche Schwierigkeiten haben die Interagierenden im realen Gesprächsablauf? Ein Blick in die Tandempraxis zeigt, dass die Zusammenarbeit der Interagierenden häufig nicht problemlos ist. Relevante sprachliche Fehler bleiben unkommentiert. Gesprächsthemen zu finden, fällt den Interagierenden schwer. Die Initiativen der sprachlichen Behandlung zeichnen sich durch Spontaneität und Beliebigkeit aus. Konkrete Lernziele finden sich nicht. Ferner ist auffällig, dass manche Tandempaare oft nach kurzer Zeit abbrechen, entweder aufgrund von Problemen, die auf der menschlichen Ebene entstehen oder auch wegen des Motivationsmangels der Teilnehmer. In der bisherigen relativ jungen Tandemforschung gibt es leider wenige Studien, die einen wirklich detaillierten und aufschlussreichen Einblick in den praktizierten Lernprozess geben. Hier bedarf es empirischer Untersuchungen anhand authentischer Daten. Vor diesem Hintergrund fiel die Entscheidung für die vorliegende Forschung: In einer empirischen Studie wurden drei chinesisch-deutsche Tandempaare in Deutschland ein halbes Jahr wissenschaftlich begleitet. Neben ca. 35-stündigen Audioaufnahmen ihrer authentischen Tandemgespräche wurden Abschlussinterviews mit den chinesischen Probanden durchgeführt. Durch teilnehmende Beobachtung, die in der sozialwissenschaftlichen Feldforschung häufig verwendet wird, konnte ich einen genauen Blick in den Interaktionsverlauf gewinnen. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht jedoch die Frage nach den realen Abläufen und Strukturen der Tandemgespräche zur Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen des Sprachenlernens in der Praxis. Es geht darum, wie sich der Lernprozess im Einzeltandem beobachten, beschreiben und analysieren lässt. Dafür ist es notwendig, eine Unterschungsmethode zu verwenden, mit der man die stattfindenden Gespräche zwischen den Interagierenden rekonstruieren und damit die dynamische Interaktion detailliert analysieren kann. Ein konversationsanalytisches Vorgehen, das anhand authentischer und natürlicher Daten der Analyse der Interaktionsabläufe zugrunde liegt, ist für dieses Untersuchungsziel geeignet. Die Arbeit ist in sechs Kapitel gegliedert. Diese werde ich hier einführend vorstellen. In Kapitel 1 erfolgt ein Überblick über die Lehr- und Lernpotenziale der Interaktion. Hierzu zählen ein historischer Rückblick auf die Entstehung und Entwicklung der interaktionsorientierten Zweitspracherwerbsforschung und <?page no="13"?> Einleitung 13 der damit verbundenen Frage nach der Bedeutung der Interaktion im gesteuerten und ungesteuerten Kontext. Neben wichtigen theoretischen Prinzipien wird auch eine Darstellung der wichtigsten Forschungsarbeiten der letzten 30 Jahren gegeben, um möglichst viele aufschlussreiche Perspektiven in diesem Bereich zu gewinnen. Aufgrund dessen wird Tandem als eine besondere Interaktionsform für den Zweitspracherwerb beschrieben. Anhand einschlägiger Arbeiten der jungen Tandemforschung wird auf relevante Elemente in diesem Konzept eingegangen. Dieses Kapitel dient dazu, eine Vorstellung des allgemeinen Lehr- Lern-Kontextes, in den der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit eingebettet ist, zu vermitteln. Kapitel 2 ist der Beschreibung der Untersuchungsmethode gewidmet. Zuerst erfolgt eine allgemeine Darlegung der Konversationsanalyse. Im Anschluss daran wird das Vorgehen gezielt im Hinblick auf die Untersuchung der Kommunikation mit nicht-kompetenten Sprechern erläutert. Mit ausgewählten Studien wird die Bedeutung der konversationsanalytischen Methode für die Forschung des Sprachenlernens in Interaktion diskutiert und detailliert dargestellt. Dabei geht es vor allem darum, welche Fragen man mit dieser Methode beantworten und inwieweit man dadurch eine aufschlussreiche Einschätzung zu Möglichkeiten und Grenzen des Sprachenlernens in Interaktion ziehen kann. Neben der Erörterung der forschungsrelevanten methodologischen Fragen geht es in diesem Kapitel um eine transparente Darstellung der Daten. Kapitel 3 bis Kapitel 5 enthält die empirische Untersuchung, die den Kern der vorliegenden Arbeit bildet. Die Beschreibung des Tandemgesprächs als eine besondere kommunikative Gattung wird in Kapitel 3 vorgenommen. Der erste Analyseteil untersucht - ausgehend von der sprachwissenschaftlichen Gattungstheorie - den Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz. Im nächsten Schritt erfolgt die Analyse des Wechsels von der Lehr-Lern-Sequenz zum Alltagsgespräch. Das zielt darauf ab, ein allgemeines Bild über die Interaktionsabläufe im Tandem für das Sprachenlernen zu gewinnen. Dabei ist festzustellen, dass das Tandemgespräch sich durch den ständigen Wechsel zwischen dem alltäglichen Gespräch und der Lehr-Lern-Aktivität auszeichnet. In Kapitel 4 wird auf das konversationelle Erzählen fokusiert, um die Interaktionssequenzen im chinesisch-deutschen Tandem in meinem Korpus detailliert zu analysieren. Anhand der einschlägigen Theorien in der bisherigen Erzählforschung und meiner empirischen Daten wird zunächst ein Modell zur Analyse konversationeller Erzählungen der chinesischen Lerner im Tandem entwickelt. Anschließend erfolgt die Sequenzanalyse der relevanten Ebenen bezüglich der Erzählstruktur, nämlich Erzählanfang, Dramatisieren (Redewiedergabe), Detaillierung und Erzählbeendigung. Dabei wird aufgezeigt, wie die chinesischen Lerner ihre Erzählungen aufbauen. Sowohl Kompetenzen als auch <?page no="14"?> 14 Einleitung Defizite bzw. spezifische lernersprachliche Gestaltungen im Tandem werden dadurch ausführlich veranschaulicht. In Kapitel 5 wird der analytische Fokus im Anschluss an die Untersuchung der Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner um eine weitere Ebene erweitert und die Rolle der muttersprachlichen Tandempartner gezielt betrachtet. In Anlehnung an das sogenannte Scaffolding-Konzept werden die Verhaltensweisen der Muttersprachler bei der lernerseitigen Durchführung der Erzählungen untersucht. Es wird einerseits gezeigt, wie sie die chinesischen Lerner unterstützen, mit ihnen zusammen die Erzählungen aufbauen und welche Verfahren sie dabei einsetzen. Andererseits werden auch die in der Untersuchung verdeutlichten Defizite der muttersprachlichen Gesprächspartner erläutert. Neben der zentralen Rolle der Muttersprachler beim Scaffolding sind die lernerseitigen Aktivitäten ebenfalls wichtig. Schlussendlich basiert eine konversationelle Erzählung auf partnerschaftlicher Zusammenarbeit. In Anbetracht der Bedeutung der gegenseitigen Kooperation für das Gelingen der muttersprachlichen Scaffolding-Verfahren werden die Aktivitäten der chinesischen Lerner dabei diskutiert. Daher ergibt die Analyse der Scaffolding-Verfahren wichtige Einblicke in die Möglichkeiten und Grenzen des Sprachenlernens im Tandem. Kapitel 6 beinhaltet abschließend eine Zusammenfassung der erarbeiteten Ergebnisse. Es wird auf die Potenziale und Probleme beim Sprachenlernen im Tandem, wie sie die konversationsanalytische Untersuchung aufweist, eingegangen. Hier wird die Situation der Tandempraxis anhand meiner empirischen Daten sowie der teilnehmenden Beobachtung zusammengefasst und zur Beantwortung der gestellten Forschungsfragen herangezogen. Davon ausgehend erfolgt der Vorschlag von Supervision für das Sprachenlernen im Tandem, die zur Förderung des Lernens im Tandem in Zukunft ausgebaut werden sollte. <?page no="15"?> 1.1 Zum Begriff Interaktion 15 1 Lehr- und Lernpotenziale von Interaktionen 1.1 Zum Begriff Interaktion Interaktion ist laut Fremdwörterbuch (Duden Band 5, 4. Auflage 1982, S. 350 f.) als aufeinander bezogenes Handeln zweier oder mehrerer Personen zu verstehen. Das heißt, dass die daran Beteiligten auf den anderen reagieren und einander beeinflussen. Nach Kotthoff (2012: 1) bezieht sich die Interaktion nicht nur auf Sprechen und Hören, sondern auch auf Lesen und Schreiben, z. B. bei elektronischen Kommunikationsformen wie „e-mail“ oder „chat“. Jedoch stellt das Gespräch die hauptsächliche Erscheinungsform von Interaktion dar. Edmondson und House (2003: 242) unterscheiden „verdeckte“ Interaktion von „offener“ Interaktion. Mit „verdeckter“ Interaktion ist ein kognitiver Verarbeitungsprozess bei sprachlichen Handlungen wie Lesen oder Schreiben gemeint. Beim Lesen ereignet sich zum Beispiel die Interaktion zwischen einem Text und einer Person. Der sich daraus ergebende kognitive Verarbeitungsprozess ist nicht zugänglich. Unter „offener“ Interaktion werden gemeinhin Interaktionen wie zum Beispiel Unterrichtsinteraktionen, die direkt beobachtet werden können, verstanden. In den sprachwissenschaftlichen Untersuchungen wurden in den letzten 30 Jahren hauptsächlich die beobachtbaren Abläufe der offenen Interaktion in die Forschung einbezogen, während die mit Kognition verbundene verdeckte Interaktion aufgrund ihrer schweren Zugänglichkeit weniger berücksichtigt wurde. 1.1.1 Interaktion und Zweitspracherwerb Unter Zweitspracherwerb versteht man den Prozess, bei dem ein Mensch sich neben der ersten Sprache eine zweite oder weitere Sprache aneignet. Dieser Prozess kann in der späten Kindheit, in der Jugend oder im Erwachsenenalter geschehen, wenn die Erstsprache erworben wurde. Je nachdem unter welchen Bedingungen eine neue Sprache erlernt wird, unterscheidet man zwischen den Begriffen Zweitsprache und Fremdsprache. Mit Zweitsprache wird in der Regel die Sprache bezeichnet, die zum alltäglichen Gebrauch lebensnotwendig ist. Die Sprecher leben z. B. in einem Kontext, wo vorwiegend diese Sprache gesprochen wird. Um an den sozialen, akademischen, politischen und wirtschaftlichen Ak- <?page no="16"?> 16 1 Lehr- und Lernpotenziale von Interaktionen tivitäten teilzunehmen, sollten sie diese Sprache beherrschen. Im Gegensatz dazu ist unter Fremdsprache die Sprache zu verstehen, die man normalerweise im Kontext der eigenen Kultur lernt. Das heißt, die Lerner haben oft wenige Gelegenheiten oder Bedürfnisse, sich an den Aktivitäten in der fremdsprachlichen Gesellschaft zu beteiligen. Da der Fokus der vorliegenden Arbeit in der Rolle der Interaktion für das allgemeine Lernen einer neuen Sprache liegt, werden die beiden Begriffe (Zweitsprache und Fremdsprache) hier nicht extra differenziert. Das heißt, das Wort „Zweitsprache“ wird, wie in der Forschung üblich, für jede Sprache gebraucht, die nicht die erste Sprache des Lerners ist. Die Forschung zum Zweitspracherwerb begann in den späten 1960er Jahren und zeichnete sich von Anfang an durch ihre Interdisziplinarität aus. Sie umfasste nämlich Didaktik, Linguistik, Kinderspracherwerb und Psychologie gleichermaßen (Huebner, 1998). Bis Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ist dieses Forschungsgebiet eine eigenständige Disziplin geworden. Einen Überblick über die Zweitspracherwerbsforschung bieten Ortega (2009) und Saville-Troike (2012). Ortega (2009) führt aus, wie universale, individuelle und soziale Faktoren den Erwerb der Zweitsprache von verschiedenen Menschen in unterschiedlichen Lernsituationen beeinflussen. Ebenfalls davon ausgehend, dass man nur aus multi- und interdisziplinären Perspektiven ein umfassendes Bild über die Aneignung der Zweitsprache bekommen kann, stellt Saville-Troike (2012) verschiedene Forschungen zu diesem Thema aus den Bereichen der Sprachwissenschaft, Psychologie und Soziologie vor. Ein weiterer Fokus von Saville-Troike (2012) liegt darin, dass man sich beim Zweitspracherwerb nicht nur die Sprache, sondern auch die Kompetenz in der Zweitsprache aneignen sollte. Diese Kompetenz lässt sich ihrer Meinung nach auch aus mehreren Blickwinkeln definieren, z. B. sprachliche Kompetenz, kommunikative Kompetenz und Kompetenz für die Teihnahme an Aktivitäten wie Sprechen, Hören, Schreiben und Lesen. Dabei richtet sich der Blick in der linguistischen Zweitspracherwerbsforschung seit den 1980er Jahren auf die Wirkungen der Interaktion beim Erlernen der Zweitsprache. Es ist die Gruppe um Long (u. a. Chaudron, Doherty, Pica, Young), die die Input-Hypothese (u. a. Ferguson 1975, Chaudron 1977, Hatch 1974, Larsen-Freemann 1976, Krashen 1982, 1985) zur Interaktions-Hypothese weiterentwickelt hat. Während in der Input-Hypothese der Verständlichkeit der zielsprachlichen Äußerungen eine besondere Bedeutung für den Spracherwerb zugeschrieben wird, weist Long (1983) darauf hin, dass der Input durch Modifikationen der interaktionalen Struktur der Konversation verständlich wird. Die Bedeutung der Interaktion für den Zweitspracherwerb wird dadurch betont. In der Interaktions-Hypothese lautet die allgemeine Auffassung, dass der Spracherwerb durch zweiseitige Interaktion erfolgreicher als durch einseitige <?page no="17"?> 1.1 Zum Begriff Interaktion 17 stattfindet. Nach zahlreichen empirischen Untersuchungen über die Wirkung von Interaktion auf den Zweitspracherwerb ergibt sich die folgende Bilanz: - Interaktion bietet einen Kontext, in dem die Lerner mit dem Input der Zielsprache konfrontiert werden und damit versuchen, sie zu verstehen (Krashen 1982). - Interaktion bietet einen Kontext, in dem die Lerner gezwungen werden, in der zu lernenden Zielsprache zu kommunizieren und ihren Output in der Zielsprache verständlich und angemessen zu gestalten (Gass 2003, Swain 1995, 2005). - Interaktion bietet den Lernern die Möglichkeit zur Bedeutungsaushandlung („negotiation of meaning“) zum Zweck der gegenseitigen Verständigung (Gass 2003). - Das Feedback, das die Lerner in Interaktion bei Formulierungsschwierigkeiten oder Verständnisproblemen von ihren Interaktionspartnern bekommen, spielt eine bedeutende Rolle für den Zweitspracherwerb (Mackey 2006). - Möglichkeiten zum zielsprachlichen Output können die Beherrschung der erworbenen zielsprachlichen Kenntnisse und das flüssige Sprechen in der Zielsprache fördern (de Bot 1996, Swain 1995, 2005). Während einerseits die positiven Wirkungen von Interaktion auf den Zweitspracherwerb entweder theoretisch oder empirisch verdeutlicht werden, gibt es andererseits auch kritische Meinungen dazu. Kommunikative Interaktion in der Zielsprache ist zwar wichtig für den Spracherwerb, aber effizientes Sprachenlernen erfolgt nach Edmondson und House (2003: 244) nicht mittels Interaktion allein. Ellis (2003) wirft der Interaktions-Hypothese vor, ein statisches Bild von Fremdspracherwerb zu zeichnen, bei dem letztendlich Interaktion auf einzelne, quantifizierbare Merkmale reduziert, der reziproke Charakter von Gesprächen aber negiert wird. Hinsichtlich der Wirkung von Interaktion auf den Zweitspracherwerb bilden sich einige Forschungsfelder in den linguistischen Untersuchungen heraus. Im Vordergrund steht in der Regel die Forschung über gesteuerten oder ungesteuerten Spracherwerb in Interaktionen. In den folgenden Darlegungen wird ein Überblick über den Forschungsstand auf dem Gebiet des Zweitspracherwerbs in Interaktionen auf zwei Ebenen (gesteuerter und ungesteuerter Zweitspracherwerb) gegeben. <?page no="18"?> 18 1 Lehr- und Lernpotenziale von Interaktionen 1.1.1.1 Gesteuerter Zweitspracherwerb in Interaktionen Gesteuerter Zweitspracherwerb bezeichnet das Lernen einer Sprache, das unter der Anleitung von Lehrpersonen in Sprachkursen oder Institutionen wie Schule, Hochschule oder Universität durchgeführt wird. Er ist in der Regel ein bewusstes und systematisches Lernen. Die Zweitspracherwerbsforschung versteht es unter gesteuertem Spracherwerb hauptsächlich Unterrichtsinteraktionen. Zweitsprachunterrichtliche Interaktionen sind etwas Besonderes, weil die Fremdsprache gleichzeitig Unterrichtsmedium und Unterrichtsgegenstand ist (House 2000: 111). Im Zweitsprachunterricht steht vor allem die Vermittlung der sprachlichen Form im Mittelpunkt. Gleichwohl werden aber die pragmatisch-kulturellen Angemessenheiten der zielsprachlichen Äußerungen thematisiert. Unterrichtsinteraktionen in einer ganzen Klasse oder einer Gruppe bieten Gelegenheiten für unterschiedliche Lehr- und Lernziele wie Input und Output der Zielsprache, Feedback oder Beteiligungen der Lerner an der zielsprachlichen Kommunikation. Auf dem Gebiet von Unterrichtsinteraktionen richtet sich der Blick der sprachwissenschaftlichen Forschungen sowohl auf Lehrer-Lerner-Interaktionen als auch auf Lerner-Lerner-Interaktionen. 1.1.1.1.1 Lehrer-Lerner-Interaktionen im Fremdsprachenunterricht Die Untersuchung der Sprache von Lehrpersonen in Unterrichtsinteraktionen ist seit Ende der 1980er Jahre zu einem zentralen Forschungsgegenstand des Bereichs des L2 classroom research geworden (Kostrzewa 2009: 29). Krashen (1985) bezeichnet den Begriff als „teacher talk“, der spezifisch von Seiten der Lerner ausgeht. Sprachwissenschaftliche Forscher belegen durch empirische Untersuchungen, dass das Kommunikationsverhalten von Lehrpersonen erstens ein durch „Hyperaktivität“ (Klippert 2000: 11) geprägtes Verhalten ist und die sprachliche Beteiligung der Lerner dadurch reduziert wird (Becker-Mrotzek / Vogt 2001: 86). Zweitens sind nach Hatch (1978) die Fragen der Lehrpersonen in Unterrichtsinteraktionen wenig authentisch. Sie dienen lediglich dazu, die Grammatik der Zielsprache zu vermitteln und / oder zu üben. Dies behindert die angestrebte Entwicklung der kommunikativen Fertigkeiten in der Zielsprache auf Seiten der Lerner. Angesichts dieser Probleme schlagen Chaudron (1988) und Klein (1987) vor, verständlichen, wohl strukturierten Input, verbunden mit einer redundanten Verwendung von Wortmaterial und Strukturen, als Sprache von Lehrpersonen in Unterrichtsinteraktionen einzusetzen. Linguistische Forschungen durch mikroanalytische Verfahren wie Konversationsanalysen oder Interaktionsanalysen finden ferner heraus, dass das verbale Verhalten von Lehrpersonen in Zweitsprachenunterricht Wirkungen auf <?page no="19"?> 1.1 Zum Begriff Interaktion 19 die Beteiligung der Lerner an der zielsprachlichen Interaktion im Unterricht sowie auf den Spracherwerb ausübt. Anhand der Daten von acht Lehrpersonen im Fremdsprachenunterricht weist Walsch (2002) darauf hin, dass die Beteiligung der Lerner an den zielsprachlichen Interaktionen erhöht wird, wenn die Lehrpersonen ihre dominierenden verbalen Verhaltensweisen reduzieren. Als Beispiele nennt er direkte Korrektur, adäquate Verwendungen der authentischen Äußerungen, ausreichende Wartezeit für Reaktion, Reformulierung der Äußerungen der Lerner und Angebot des Feedbacks (Walsch 2002). Antón (1999) zeigt Diskursstrategien, die ein französicher Dozent in einer Hochschule benutzt, um den Lernern beim Durchführen einer Grammatikaufgabe zu helfen. Zu seinen Strategien gehören: durch Fragen den Lernern auf grammatische Formen aufmerksam machen, die Lerner zur Reflexion über Schwierigkeiten sowie zur Suche nach Lösungen motivieren, Feedback sowie Korrektur anbieten, durch verbale und non-verbale Verhalten die Lerner zur Selbstkorrektur ermutigen und beim Wechsel des Sprechers (turn-taking) flexibel sein. Während spracherwerbfördernde Potenziale von Lehrer-Lerner-Interaktionen im Fremdsprachenunterricht in empirischen Untersuchungen aufgezeigt werden, lenkt Hall (1998) den Blick auf negative Effekte vieler Interaktionen zwischen dem Lehrer und den Lernern. Seine empirische Studie verdeutlicht, dass die Lehrperson den Lernern keine gleichberechtigten Gelegenheiten für ihre Beteiligung an der zielsprachlichen Interaktion bietet. In seinen Daten wird einer der Lerner bevorzugt, während die anderen oft nicht berücksichtigt werden. Das gleiche Problem zeigt auch Mori (2004) in seiner Forschung auf. Forschungen über Lehrer-Lerner-Interaktionen sind ferner von dem Konzept „Scaffolding“ geprägt. Unter „Scaffolding“ ist die Unterstützung durch Lehrpersonen zu verstehen. Bruner (1987) ist der erste, der dieses Konzept in seiner Studie zum Spracherwerb von Kindern entwickelt hat. Damit wird die Rolle von Interaktionsprozessen für den Spracherwerb verdeutlicht. Nach Bruner (1987) bietet der Erwachsene dem Kind innerhalb einer Interaktion sprachlich eingebettete Handlungsmodelle an, in denen der sprachliche Zuwachs des Kindes stattfindet. In der Lehrer-Lerner-Interaktion liegt die Aufgabe der Lehrperson, die zielsprachlich kompetent ist, darin, Hilfe anzubieten und ein sprachliches Gerüst für die Lerner aufzubauen, um den Spracherwerb zu fördern. 1.1.1.1.2 Lerner-Lerner-Interaktionen im Fremdsprachenunterricht Fremdsprachenunterricht wird nicht nur von Lehrer-Lerner-Interaktionen geprägt, sondern auch von den Lernern untereinander. Eine wichtige Methode, mit der die Beteiligungsmöglichkeiten der Lerner an der unterrichtlichen Interaktion erhöht werden können, ist daher eine Lerner-Lerner-Interaktion. For- <?page no="20"?> 20 1 Lehr- und Lernpotenziale von Interaktionen schungen darüber zeigen unterschiedliche Ergebnisse in Bezug auf den Spracherwerb. Tognini (2008) zeigt in seiner Studie, dass im schulischen Fremdsprachenunterricht Lerner-Lerner-Interaktionen wie Musterdialoge und Rollenspiele üblich sind. Solche Interaktionen gelten als eine Form von Übungen. Die zielsprachlichen Kenntnisse werden in Form von Chunks auswendig gelernt und dadurch internalisiert (Myles et al. 1998). Neben Verwendungen zielsprachlicher Formen sind in aufgabenbezogenen Lerner-Lerner-Interaktionen im Fremdsprachenunterricht Bedeutungsaushandlungen (negotiation of meaning) zu finden, die durch klärende Nachfragen, Reformulierungen oder Bestätigungen durchgeführt werden (Gass et al. 2005). Foster und Ohta (2005) bezweifeln in ihrer qualitativen Analyse jedoch die Wirkung von Bedeutungsaushandlungen in Lerner-Lerner-Interaktionen auf den Spracherwerb. Nach ihrer Studie gibt es zwar in aufgabenbezogenen Lerner-Lerner-Interaktionen eine Menge von Aushandlungen. Sie dienen aber in erster Linie nicht dazu, einen verständlichen Input zu gestalten und damit Informationen auszutauschen, sondern eher dazu, ein Gespräch aufzubauen und fortzusetzen. Während die Wirkung von Bedeutungsaushandlungen in Lerner-Lerner- Interaktionen in Frage gestellt wird, werden die sich daraus ergebenden Feedbacks von manchen Forschern betont. Adam (2007) diskutiert z. B. in ihrer Studie, ob Feedbacks den Zweitspracherwerb fördern. In ihrer quantitativen Untersuchung hat sie herausgefunden, dass Feedbacks in Lerner-Lerner-Interaktionen und in Lehrer-Lerner-Interaktionen den Zweitspracherwerb gleichermaßen vorantreiben. Einerseits hebt Adam (2007) die Potenziale von Lerner-Lerner-Interaktion für den Zweitspracherwerb hervor. Andererseits bringen einige Forscher aber neue Herausforderungen ans Licht. Zhao und Bitcheners (2007) Forschung verdeutlicht Herausforderungen in Lerner-Lerner-Interaktion im Vergleich zu Lehrer-Lerner-Interaktion. In Lerner-Lerner-Interaktion gibt es Möglichkeiten wie Aufnahme unkorrekter oder fehlender Feedbacks. Außer von sprachlichen Faktoren hängt die spracherwerbfördernde Wirkung von Lerner-Lerner-Interaktionen auch von anderen Faktoren (wie dem Sprachniveau oder dem Alter der Lerner) ab. McDonough’s (2004) Untersuchung über Gruppeninteraktionen in einem Fremdsprachenunterricht, in dem Englisch als Fremdsprache unterrichtet wird, zeigt, dass nur die Lerner, die sich häufig mit Feedbacks beschäftigen und ihren Output modifizieren, von den Gruppeninteraktionen zwischen Lernern profitieren. <?page no="21"?> 1.1 Zum Begriff Interaktion 21 1.1.1.1.3 Gesprochene Sprache im DaF-Unterricht Die Praxis des Fremdsprachen- und DaF-Unterrichts erweist sich seit langem als schriftlich orientiert. Mit der kommunikativen Wende in der Fremdsprachenforschung und -didaktik richtet sich der Schwerpunkt auf die Vermittlung der alltagssprachlichen Kompetenzen bzw. der Mündlichkeit. Denn gesprochene Sprache ist ein „unverzichtbarer Bestandteil der Kompetenz in der Fremdsprache“ (Fiehler 2012: 25). Hinsichtlich der mündlichen, situationsbezogenen Kompetenzen weist Günthner (2011) darauf hin, dass in der spätmodernen Gesellschaft gerade die Fähigkeit, sich auf diverse kommunikative Situationen einzulassen und mit unterschiedlichen Menschen in vielfältigen kommunikativen Zusammenhängen und Gattungen auf unterschiedliche Weise interagieren zu können, eine wesentliche Voraussetzung bildet, um persönlich und sozial erfolgreich zu sein. (Günthner 2011: 28) Zur Didaktik der gesprochenen Sprache im Fremdsprachenunterricht entstanden in den letzten Jahren im wissenschaftlichen Bereich verschiedene Debatten. Während Götze (2003) und Helbig / Buscha (2001) beispielsweise die Meinung vertreten, dass es im DaF-Unterricht um die Vermittlung der Standardsprache auch in der geschriebenen Form geht, plädieren Günthner (2000a, 2011), Thurmair (2002), Kilian (2005), Moraldo / Missaglia (2013) dafür, dass der Erwerb der gesprochenen Sprache durch Unterricht erfolgen sollte. Denn, so Moraldo / Missaglia (2013): Ein natürliches Sprachbewusstsein lässt sich nur entwickeln, wenn im Grammatikunterricht die Rezeption und Produktion von geschriebener und gesprochener Sprache vermittelt und damit die Grundlage für die Wahrnehmung sprachlicher Auffälligkeiten überhaupt erst geschaffen wird. (Moraldo / Missaglia 2013: 10). Die Frage, die im didaktischen Kontext der gesprochenen Sprache erörtert wird, lautet dann: Was und wie soll gelehrt werden? Fiehler (2012: 25) benennt z. B. Rezeptionspartikeln (wie hm, ja ), spezifisch mündliche syntaktische Konstruktionen, Verschleifungen und Signale des Sprecherwechsels als Elemente der Mündlichkeit, die im Fremdsprachenunterricht systematisch unterrichtet werden können. Günthner / Wegner / Weidner (2013) gehen von einer Vernetzung der Gesprochene-Sprache-Forschung mit der Fremdsprachenvermittlung aus. In der Forschung der gesprochenen Sprache entstehen in den letzten zwei Jahrzehnten zahlreiche Ergebnisse zu unterschiedlichen Phänomenen, wie Formen und Funktionen der Vor-Vorfeldbesetzung (Auer 1997), syntaktische Anordnungen im Nachfeld (Köpcke / Noack 2008), wobei (Günthner 2000b, 2002), weil (Gaumann 1983, Wegener 1999), dass (Freywald 2008), obwohl (Günthner 1999, 2002, Moraldo 2012), Phrasemen (Simon 2012). Nach Günthner / Wegner / Weid- <?page no="22"?> 22 1 Lehr- und Lernpotenziale von Interaktionen ner (2013) können die Gesprochene-Sprache-Forschung und die Fremdsprachenvermittlung durch Vernetzung voneinander profitieren. Einerseits könnten die Erkenntnisse der Gesprochene-Sprache-Forschung systematisch im DaF-Unterricht zur Verfügung gestellt werden. Demgegenüber könnte die Fremdsprachenvermittlung auf die wenig erforschten Elemente der Mündlichkeit hindeuten, die in der alltäglichen Praxis der Fremdsprache auffallen. Konkret widmen sich gegenwärtig mehrere wissenschaftliche Untersuchungen der Didaktisierung der gesprochenen Sprache. Bachmann-Stein (2013) befasst sich z. B. mit Lehrwerkdialogen im DaF-Unterricht. Ihres Erachtens haben Dialoge im Lehrwerk „einen besonderen Stellenwert“ (Bachmann-Stein 2013: 40), weil sie für die Lerner als eine Simulation der realen Kommunikation außerhalb des Fremdsprachenunterrichts gelten. Mit solchen authentischen Gesprächen kann die Kompetenz der mündlichen Kommunikation der Lerner gefördert werden. Eine weitere methodisch-didaktische Anregung ist außerdem bei Reeg (2012) zu finden. Die Autorin setzt sich mit dem Nutzen zeitgenössischer Theatertexte im DaF-Unterricht auseinander. Ihr Anliegen ist, die Analyse gesprochensprachlicher Phänomene in den Theatertexten mit einer dramapädagogischen Bearbeitung zu verbinden. Damit bekommen die Lerner nicht nur wertvolle Einsichten der relevanten Merkmale der gesprochenen Sprache, sondern auch Erfahrungen bezüglich der mündlichen Äußerungen in spielerischer Form. Darüber hinaus stellt Patermann (2012) ein Lernkonzept in Form von Talkshows vor, um mündliche Kommunikationskompetenz und soziale Fähigkeiten der Lerner zu fördern. Nach Patermann (2012) lässt sich das für muttersprachliche Lernende konzipierte Modell zur Förderung der fachübergreifenden Gesprächsfähigkeit in den DaF-Unterricht integrieren. Konkret geht es um „Schulstunde als Talkshow“ der Internetplattform „Planet Schule“. Sie versteht sich als eine Lernplattform, die verschiedene Lehr- und Lernmaterialien für nahezu alle Unterrichtsfächer bietet, damit der jeweilige Unterricht kreativ und interaktiv gestaltet werden kann. Mithilfe von Beispielen führt die Autorin vor, dass man anhand der aktuellen mediengestützten Materialien der Plattform den DaF-Unterricht als eine Talkshow durchführen kann. Dabei übernimmt die Lehrperson die Rolle des Moderators, während die Lerner ihre Pro- und Contra-Argumente formulieren. Die mündliche Sprechfähigkeit der DaF-Lerner wird auf diese Weise lernerzentriert und handlungsorientiert gefördert. Neben methodisch-didaktischen Anregungen nimmt das Material einen wichtigen Platz bei der Didaktisierung der gesprochenen Sprache im DaF-Unterricht ein. Während Lehrwerkdialoge (Bachmann-Stein 2013), Theatertexte (Reeg 2012) und deutsche schulische Materialien in Internetplattformen (Patermann 2012) als mögliche Lehr- und Lernmaterialien zur Förderung der Mündlichkeit der DaF-Lerner thematisiert werden, entwickelt das DAAD Projekt „Gespro- <?page no="23"?> 1.1 Zum Begriff Interaktion 23 chenes Deutsch für die Auslandsgermanistik“ (2010 bis 2012) unter der Leitung von Prof. Dr. Susanne Günthner an der Universität Münster eine Datenbank für die Materialien der Didaktisierung der gesprochenen Sprache. Das Ziel des Projekts liegt darin, authentische Kommunikationssituationen deutscher Muttersprachler für den DaF-Unterricht im Ausland bereitzustellen. Die Materialien in der Datenbank bestehen aus Audiodateien und Transkripten. Sie dienen als Basis für die Unterrichtsentwürfe und regen zur kreativen Gestaltung für die Vermittlung der gesprochenen Sprache an. Die genaue Verwendung dieser authentischen Materialien erläutert Imo (2012) in seinem Aufsatz. Seines Erachtens kann man im DaF-Unterricht mit diesen Gesprächsdaten auf drei Ebenen umgehen. Erstens ist es möglich, den Lernern die mündlichen Kommunikationstechniken (wie Sprecherwechsel, Reparaturen, Gesprächsbeendigung) zu vermitteln. Zweitens geht es um die syntaktischen Strukturen. Dabei macht die Lehrperson die Lerner nicht nur auf typische Strukturen der gesprochenen Sprache aufmerksam. Sie erklärt außerdem die typische Syntax der deutschen Sprache besser, wenn solche Strukturen in authentische Gespräche eingebettet sind. Auf der dritten Ebene handelt es sich um lexikalische Phänomene, die man mit situationsbezogenen sowie regionalen Kontexten verknüpfen kann. 1.1.1.2 Ungesteuerter Zweitspracherwerb in Interaktionen Während beim gesteuerten Zweitspracherwerb die zu erlernende Sprache von Lehrpersonen im Unterricht didaktisch aufbereitet vermittelt wird, erwerben die Lerner die Zielsprache beim ungesteuerten Zweitspracherwerb in natürlicher Umgebung. Genauer gesagt ist mit „ungesteuert“ der Erwerb außerhalb des Unterrichts, also vor allem durch die alltägliche Kommunikation mit Sprechern der zu lernenden Sprache gemeint (Klein / Dimroth 2003: 127). Im Vergleich zu sprachwissenschaftlichen Forschungen im Bereich des gesteuerten Zweitspracherwerbs liegen bisher wenige Untersuchungen über den ungesteuerten Zweitspracherwerb vor. Klein / Dimroth (2003: 8) weisen darauf hin, dass die Untersuchung des ungesteuerten Spracherwerbs Erwachsener erhebliche empirische und methodische Probleme aufwirft. Zum einen braucht man einen langen Zeitraum für die Datenerhebung. Für eine wissenschaftliche Untersuchung sollte man das sprachliche Verhalten der Probanden in der Regel lange Zeit vorfolgen und aufzeichnen. Dies führt jedoch zu einem ethischen Problem. Es ist daher kein Wunder, dass es aufgrund der schwierigen Datenlage bisher wenige umfassende wissenschaftliche Aussagen über den ungesteuerten Zweitspracherwerb erwachsener Lerner gibt. <?page no="24"?> 24 1 Lehr- und Lernpotenziale von Interaktionen 1.1.1.2.1 Ungesteuerter Zweitspracherwerb des Kindes In linguistischen Forschungen über den ungesteuerten Zweitspracherwerb des Kindes wird häufig der Zusammenhang zwischen dem Spracherwerb und den sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen betont. Mehrere Untersuchungen zeigen, dass bestimmte gesellschaftliche Rahmenbedingungen den Zweitspracherwerb des Kindes nachhaltig beeinflussen. Auf der Basis einer linguistischen Analyse des Sprachstandes von 47 siebenbis achtjährigen türkischen Migrantenkindern findet Röhr-Sendlmeier (1985) heraus, dass ein häufiger Kontakt zur deutschen Sprache signifikant für den Erwerb der deutschen Sprache ist. Dieser Kontakt geschieht auf zwei Ebenen. Erstens geht es um direkte Begegnungen der Migrantenkinder mit deutschsprachigen Kindern auf dem Spielplatz oder mit anderen Muttersprachlern im Alltag. Zweitens sind indirekte Kontakte durch ihre Eltern gemeint. Die türkischen Eltern, die selber Kontakte zu Deutschen haben, sind in der Lage, den Erwerb der deutschen Sprache ihrer Kinder zu fördern. Zwar wird der Zusammenhang zwischen dem Zweitspracherwerb und den Sozialisationsbedingungen in der Forschung oft thematisiert. Allerdings gibt es noch keine wissenschaftlich umfassende Untersuchung mit mikroanalytischen Verfahren wie Interaktionsanalyse oder Konversationsanalyse. In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass im Bereich des ungesteuerten Erstspracherwerbs des Kindes relativ viele Studien vorliegen. Nach Bruner (1977) beginnt der Spracherwerb direkt nach der Geburt im ersten interaktiven Austausch zwischen Mutter und Kind. Bruner (1987) ist der Auffassung, dass die Eltern für die sprachliche Interaktion mit Kindern ein LASS (Language Acquisition Support System) haben. Die Sprache, die die Eltern in Interaktionen mit Kindern verwenden, ist zum Beispiel ein Aspekt von LASS. Sie zeichnet sich durch kurze und wenig komplexe Sätze, ein langsames Sprechtempo, höhere Tonlagen, einen geringen Abstraktheitsgrad usw. aus. Von Beginn an ist die sprachliche Interaktion auf die Entwicklung der sprachlichen Kompetenz von Kindern zugeschnitten. Das Scaffolding, also die elterliche Unterstützung, die dem lernenden Kind angeboten wird, prägt ebenfalls die Eltern-Kind-Interaktionen beim Erstspracherwerb (Hausendorf / Quasthoff 1996, Becker 2011, Hauser 2005). Aus den oben genannten Forschungsperspektiven lässt sich bereits ableiten, dass zielsprachliche Interaktionen mit Muttersprachlern oder kompetenten Erwachsenen, die die zu erlernende Sprache beherrschen, eine wichtige Rolle für den Zweitspracherwerb des Kindes spielt, obwohl bisher keine wissenschaftlich systematische Untersuchung über den Zweitspracherwerb des Kindes in Interaktion zu finden ist. <?page no="25"?> 1.1 Zum Begriff Interaktion 25 1.1.1.2.2 Ungesteuerter Zweitspracherwerb der erwachsenen Lerner Sprachwissenschaftliche Untersuchungen über ungesteuerte Interaktionen zwischen erwachsenen Lernern und Muttersprachlern der Zielsprache beschäftigen sich in den letzten Jahrzehnten vor allem mit der Sprache, die die Muttersprachler in Interaktion mit Lernern verwenden. Der von Ferguson (1975) geprägte Begriff „foreigner talk“ versteht sich als ein simplifiziertes Register mit einfacher Syntax, langsamer Aussprache, Wiederholungen und Feedback. Roche (1989) gibt in seiner Studie einen detaillierten Einblick in die Struktur und Variation im Deutschen gegenüber Ausländern. Anhand transkribierter Daten untersucht er die Äußerungen von Muttersprachlern im Gespräch mit Nichtmuttersprachlern hinsichtlich ihrer Äußerungsstruktur, personalen Referenz, Temporalität, lokalen Referenz, Skopusstrukturierungen und lexikalisch-semantischen Simplifizierungen systemtisch. Er stellt fest, dass die Abweichung der Xenolekte der Bezugssprache von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst wird. Zu den Hauptfaktoren gehören die sprachlichen Fertigkeiten des Gesprächspartners, die kommunikativen Bedürfnisse, inhaltliche und thematische Relevanz und der ökonomische Kompromiss zwischen den Mitteln zum Erreichen des Ziels und den Mitteln zum Vermeiden kommunikativer Schwierigkeiten (Roche 1989: 177-179). Ähnliche Merkmale von „foreigner talk“ sind auch in Hinnenkamps (1982) Untersuchung von Sprechweisen gegenüber Ausländern am Beispiel des Deutschen und des Türkischen zu finden. Solche Untersuchungen zeigen die sprachlichen Anpassungen, die die Muttersprachler in Interaktion mit Lernern benutzen, um sich verständlich zu machen und sie damit in die Interaktion einzubeziehen. Das zeigt sich nach Kotthoff (2012: 4) schon als eine Art von Zuschnitt auf den Lerner. Die Lerner werden dadurch also von den Muttersprachlern unterstützt. Untersuchungen zu Verfahren und Strategien in Kommunikationen zwischen Muttersprachlern und Nichtmuttersprachlern werden im Bielefelder Forschungsprojekt „Kontaktsituation“ durchgeführt (Dausendschön-Gay 1987). Anhand von 70 aufgezeichneten und kommentierten Gesprächen zwischen Muttersprachlern und Nichtmuttersprachlern mit ihren jeweiligen unterschiedlichen Kompetenzen in der Sprache des anderen finden Forscher mit gesprächsanalytischen oder ethnomethodologischen konversationsanalytischen Verfahren heraus, dass in solchen authentischen Kommunikationssituationen häufig Lehrsequenzen vorkommen wie Erklärungsverfahren (Sader-Jin 1987) oder Wortsuchprozesse (Dausendschön-Gay 1987), die als Nebensequenzen zur Verständigungssicherung in der Kommunikation gelten. Solche Interaktionen dienen zwar nicht explizit dem Zweck des Spracherwerbs, aber Beobachtungen sukzessiv im Gespräch verlaufender Worterwerbsaktivitäten nach Dausendschön-Gay (1987: 77) bieten jedoch die Möglichkeit, die Funktion von Inter- <?page no="26"?> 26 1 Lehr- und Lernpotenziale von Interaktionen ventionen und die Abfolge von Aktivitäten der Interaktanten als wichtige Teile eines systematisch ablaufenden Erwerbsprozesses zu interpretieren. 1.1.2 Tandem: eine besondere Interaktionsform für Zweitspracherwerb Als Tandem bezeichnet man gewöhnlich ein Fahrrad, das mittels zwei hintereinander liegender Sättel und Tretlager gleichzeitig zwei Personen in Bewegung setzen kann. Überträgt man die Grundidee der gegenseitigen Unterstützung beim gemeinsamen Voranschreiten auf das Fremdsprachenlernen, geht es um die Begegnung zweier Menschen verschiedener Sprachen und Kulturen, die sich wechselseitig ihre Sprache beibringen. Dabei ist die Muttersprache des einen die Zielsprache des anderen. Jeder übt seine Fremdsprache und hilft dem Tandempartner beim Erlernen der Sprache, die für ihn Muttersprache ist. Das Lernen im Tandem stellt eine Sonderform des Sprachenlehrens und -lernens dar. Nach Brammerts / Hedderich (1998: 253) zeichnet sich diese Lernform durch zwei Merkmale aus, nämlich das „Gegenseitigkeitsprinzip“ und das „Lernerautonomieprinzip“. Unter dem „Gegenseitigkeitsprinzip“ versteht man, dass die Tandempartner im selben Maße zur gemeinsamen Arbeit beitragen und von der Zusammenarbeit profitieren. Das setzt voraus, dass beide Sprachen benutzt werden müssen und für beide Sprachen gleich viel Zeit bleibt. Die Tandempartner setzen sich im gleichen Maße füreinander ein. Mit dem „Lernerautonomieprinzip“ meint man, dass jeder im Tandem für sein Lernen verantwortlich ist. Jeder der Tandempartner bestimmt in seinem Teil der Tandemarbeit Lernziele und Methoden selbst. 1.1.2.1 Geschichte des Begriffs Die Tandemgeschichte ist auf die deutsch-französischen Jugendbegegnungen in den 1960er Jahren zurückzuführen. Seit 1968 veranstaltete das Deutsch-Französische Jugendwerk ( DFJW ) binationale Sprachprogramme für die Jugendlichen aus den beiden Ländern. Anders als zuvor wurde der Unterricht nun sowohl am Vormittag als auch am Nachmittag zweisprachig durchgeführt. Diese neue Unterrichtsidee war so erfolgreich, dass sie 1970 durch das DFJW immer bekannter wurde. In demselben Jahr beauftragte das DFJW die neu gegründete „Arbeitsgruppe Angewandte Linguistik Französisch“ ( AALF ), ein eigenes Sprachprogramm mit der Tandemidee zu entwickeln. In Kenntnis der zahlreichen deutsch-französischen Ansätze übertrugen Klaus Liebe-Harkort und Nükhet Cimilli das Modell auf die Arbeit mit Immigranten im deutsch-türkischen Bereich. 1973 folgten deutsch-türkische Tandemkurse zwischen türkischen Migranten und deutschen Sozialarbeitern unter der Trä- <?page no="27"?> 1.1 Zum Begriff Interaktion 27 gerschaft der „Volkshochschule München“ und des „anatolischen Solidaritätsvereins“. Ähnliche Kurse wurden auch im „Türkischen Volkshaus“ in Frankfurt a. M. (Faust / Schneider-Gürkan 1984) organisiert. Angeregt durch einen Aufsatz von Liebe-Harkort entwickelte Jürgen Wolff 1979 in Madrid Tandempartnereinzelvermittlungen für das Sprachenpaar Spanisch-Deutsch (vgl. Wolff 1982). 1982 entstand in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut in Madrid ein Tandemkursprogramm, das dann durch „Centro Cultural Hispano-Alemán TANDEM “, Vorläuferin der heutigen „Escuela Internacional TANDEM Madrid“, fortgeführt wurde. Die Einzelvermittlung wurde später zur Grundlage für das TANDEM -Netz. Mitte der 1980er erlebte die Tandem-Idee durch Jürgen Wolff vom Centro Intercultural Tandem in San Sebastian sowie die Gründung kleiner „Alternativsprachschulen“ eine schnelle Verbereitung. Das Tandem-Netz umfasste Mitglieder in zahlreichen Ländern. Ende der 1980er Jahre fanden Tandemkongresse (Fribourg / Schweiz 1989, Berlin 1990, Bozen 1991, Donostia / San Sebastian 1992, Freiburg i. Br. 1994, Madrid 1997) statt, die dem Erfahrungsaustausch, der Entwicklung neuer Projekte sowie der Reflexion der Tandamarbeit dienen sollten. 1993 wurde die Stiftung TANDEM - Fundazioa gegründet, mit dem Ziel Forschungen im Bereich Tandem voranzutreiben, Aus- und Fortbildung für die Organisation der Tandemkurse anzubieten und Tandem-Materialien zu erstellen. Seit dem Jahr 2011 veranstaltet diese Stiftung in Zusammenarbeit mit der Universität Lüneburg und der pädagogischen Hochschule Freiburg Tandem-Tagungen (Lüneburg 2011, Freiburg 2012, Lüneburg 2013, Freiburg 2014, Lüneburg 2016 ). Ebenfalls in den 1980er Jahren fand das Konzept seinen Platz an Hochschulen. In Deutschland gründete Helmut Brammerts das erste Sprachtandem (deutschspanisch) an der Ruhr Universität Bochum (Brammerts et al. 1986). Im deutschfranzösischen Bereich ging die Entwicklung des Konzepts aufgrund einer Reihe didaktisch-methodischer Grundlagenarbeit weiter, z. B. an den Universitäten Mainz-Dijon ( DFJW 1992), Berlin-St. Etienne seit 1987 / 88 (Zamzow 1991) sowie Frankfurt / Oder-Reims (Bahr / Grouet-Duval 1995). Gleichzeitig begannen Hochschulen mit der Tandempartnereinzelvermittlung. In Deutschland war die Universität Bielefeld eine der ersten, die eine Einzeltandemvermittlung einführte und Tandemseminare mit begleitender Forschung veranstaltete (Ehnert 1987). In der Schweiz vermittelte die Universität Fribourg 1982 / 83 Tandempartner und bot später Tandemkurse an (Müller et al. 1990, Gick / Müller 1992). Heute gibt es nahezu an jeder Universität ein Tandemprogramm. <?page no="28"?> 28 1 Lehr- und Lernpotenziale von Interaktionen 1.1.2.2 Formen des Sprachenlernens im Tandem Was das Lernen im Tandem angeht, unterscheidet man in der Regel „Kurstandem“ von „Einzeltandem“. Unter „Kurstandem“ versteht man eine Lernergruppe unterschiedlicher Muttersprache (z. B. spanischlernende Deutsche und deutschlernende Spanier), die gemeinsam einen Kurs für das Fremdsprachenlernen besuchen. Nach Herfurth (1993: 22) wird dieser Lernkontext als „Begegnungssituation“ bezeichnet. Ein solcher Kurs liegt häufig im institutionellen Rahmen (wie Sprachschule, Sprachlehrinstitut, Schüleraustausch, Ferienprogramm) und wird von einem Kursleiter organisiert. Mit didaktischen Planungen werden die Kurse durchgeführt. Tandemkurse können entweder in intensiver (täglich mehrere Stunden an hintereinander liegenden Tagen) oder extensiver Form (ein Mal pro Woche über einen längeren Zeitraum hinweg) ablaufen. Je nach der didaktischen Konzeption können die Kursmodelle sehr unterschiedlich sein. Im Gegensatz zu Kurstandem ist Einzeltandem eine Lehr-Lern-Form, die sich durch eine Vermittlungseinrichtung oder durch Anzeigen (z. B. an schwarzen Bretten, in Tageszeitungen, in Sozialnetzwerken, im Internet) bildet. Zwei Lerner unterschiedlicher Sprachen treffen sich in ihrer Freizeit und helfen sich gegenseitig beim Erlernen der Sprache, die für den einen die Muttersprache ist. Anders als das Kurstandem zeichnet das Einzeltandem sich dadurch aus, dass es nicht im institutionellen Rahmen stattfindet und keiner didaktischen Konzeption von außen unterliegt. Die Tandempartner bestimmen selbst, wo und wann sie sich treffen, was und wie lernen sie. Müller (1988: 28) und Ehnert (1987: 81) nennen diese Lernkontexte „freie Tandems“. Brammerts (1993: 122) und Brammerts / Hedderich (1998: 251) sprechen dabei von „autonomen Tandems“. Die meisten Einrichtungen der Einzeltandemvermittlung sind häufig in Sprachschulen oder Sprachlehrinstituten im universitären Bereich angesiedelt. Zugleich bieten sie Beratungen bzw. Coachings für das Lernen im Tandem an. Außerdem ist das Internet ein Medium, mit dem die Lerner in Form des Einzeltandems kommunizieren. Dabei kann man den Kontakt via E-Mail, Messenger, Skype oder auch soziale „Netzwerke“ organisieren. Im deutschen Hochschulbereich findet man zuweilen Angebote der eTandem-Vermittlung, welche Lerner weltweit zusammen bringen. Im Zentrum für Fremdsprachenausbildung (ZFA) an der Ruhr-Universität Bochum gibt es z. B. den eTandem-Service für alle Sprachen der Welt. Während die Ruhr-Universität Bochum eher Einzeltandems via Internet organisiert, bietet das Sprachenzentrum der Universität Münster eTandem-Kurse an. <?page no="29"?> 1.1 Zum Begriff Interaktion 29 1.1.2.3 Tandemforschung In der wissenschaftlichen Literatur zum Fremdsprachenlernen im Tandem geht die Forschung häufig von zwei Aspekten aus. Einerseits ist immer wieder die Rede davon, dass die Interagierenden die sprachlichen Probleme im Tandem bearbeiten können und damit den Fremdspracherwerb fördern. Andererseits geht man davon aus, dass auch gerade die Vermittlung kultureller Wissensbestände gut möglich sei. Denn die Interagierenden fungieren als Experten ihrer jeweiligen Alltagskultur und Lebenswelt. Im Folgenden gebe ich einen Überblick über die bisherigen sprachwissenschaftlichen Tandemforschungen. 1.1.2.3.1 Das Sprachenlernen im Tandem In der Zweitspracherwerbsforschung wird das Sprachenlernen im Tandem wegen seiner besonderen Eigenschaften oft als eine Interaktionsform betrachtet, die zwischen dem gesteuerten und ungesteuerten Zweitspracherwerb durch Interaktion liegt. Zumal es Charakterzüge des ungesteuerten natürlichen Spracherwerbs zeigt, da die Lerner direkte Kontakte mit Muttersprachlern der Zielsprache haben und daher einen authentischen sprachlichen Input bekommen. Gleichwohl weist es Merkmale des gesteuerten Spracherwerbs auf, weil die Tandem-Interaktion in einem Lehr-Lern-Kontext stattfindet und Lehr-Lern-Aktivitäten darin eingebettet sind. Herfurth (1993) beschreibt dies so: wie aus den bisherigen Ausführungen unschwer ersichtlich, ist eine nach dem Tandemprinzip ausgestaltete Begegnungssituation weder eindeutig eine Form natürlichen Spracherwerbs, noch eindeutig eine Form unterrichtlich organisierten Sprachenlernens, sondern liegt zwischen diesen beiden Polen. (Herfurth 1993: 28) Schmelter (2004) benutzt in seiner Studie zum Tandem den Begriff „selbstgesteuertes Fremdsprachenlernen“. Dabei wird die Selbstverantwortung der Lerner für den gesamten Lernprozess wie z. B. die Lernziele, die Lernhandlungen und die Evaluation unterstrichen. Forschungen über das Sprachenlernen im Tandem behandeln das Thema hauptsächlich unter Aspekten der Didaktik und des Spracherwerbs. Herfurth (1993) beschäftigt sich mit der Form des Kurstandems. Konkret bezeichnet er diesen Lehr-Lern-Kontext als Begegnungssituation. Anhand von Interviews mit Kursleitern und Lernern, Fragebogen und (teilnehmenden) Beobachtungen vergleicht er Kurskonzeptionen von vier unterschiedlichen Tandemintensivkursen in den Universitäten Bochum-Oviedo, CIC Tandem San Sebastian, SIT Tübingen, TU Berlin-Ecole des Mines (Saint-Etienne) und arbeitet die didaktischen Handlungs- und Planungsdimensionen für das Fremdsprachenlernen im Tandem heraus. Herfurth geht anhand seiner Daten einerseits auf die sprachlichen Ebenen wie Sprachenwahl und Sprachenverteilung, <?page no="30"?> 30 1 Lehr- und Lernpotenziale von Interaktionen Bedeutungsklärung und Korrekturen ein. Andererseits werden soziale und interkulturelle Aspekte wie Aufgabenstellungen, Vorgaben an Materialien, die Ausgestaltung der Kursleiterrolle und die Zuweisung von Lehrer-Lerner-Rollen an die Teilnehmer analysiert. Mit seinen Daten stellt er exemplarisch ein Konzept von didaktischen Leitlinien vor. In Herfurths Studie wird ersichtlich, dass die beobachteten Kurstandem-Interaktionen in sehr unterschiedlicher Weise ablaufen. Sowohl spezifische als auch nicht spezifische Faktoren sind dabei zu beobachten. Zu Konstanten derartiger Lehr-Lern-Kontexte gehören „die Orientierung an einem Produkt, an einem Thema oder an Aufgabenstellungen, die Vorgabe bzw. freie Wahl der Sprache, Vorgaben an Materialien, für Formen der Bedeutungsklärung und Korrekturen, die Ausgestaltung der Kursleiterrolle und die Zuweisung von Lehrer-Lerner-Rollen an die Teilnehmer“ (Herfurth 1993: 225). Zugleich belegt er aber auch, dass der Sprachlernprozess nicht nur aufgrund dieser Konstanten der Kurstandemkonzeption umgesetzt wird. Es liegt an den Teilnehmern, wie sie mit ihren Gesprächspartnern gemeinsam die Tandeminteraktion verwirklichen. Dabei spielen mehrere Variablen (wie Intensität, Zeitpunkt, Form von Sprachwahl bzw. Sprachwechsel, Bedeutungsklärungen und Korrekturen) eine bedeutende Rolle. Nach Herfurth (1993: 226) kommt es bei der Gestaltung der Kurstandem-Interaktion einerseits auf die Einstellungen der Interaktanten bezüglich des Kommunikationsrahmens, andererseits auf eine gegenseitige Rollenzuschreibung der Gesprächspartner an. Das offene didaktische Konzept lässt einheitliche Didaktisierung nicht zu. Schließlich macht Herfurth (1993: 228) anhand seiner Untersuchungsergebnisse didaktische Vorschläge auf vier Ebenen, 1. Interaktionsrahmen. Man soll viele unterschiedliche Kontexte für den Spracherwerb schaffen, um den Lernern möglichst vielfältige Interaktionsstrukturen modellhaft zur Verfügung zu stellen. 2. Gesprächsorganisation und didaktische Vereinbarung. Es ist wichtig, den Lernern zu vermitteln, wie sie ihre Gespräche organisieren können. Dabei handelt es sich um eine didaktische Vereinbarung z. B. über Sprachenwechsel, Intensität und Form von Bedeutungsklärungen und Korrekturen. 3. Vermittlung spezifischer kommunikativer Strategien und Verfahren. Um mögliche Verständnisprobleme in der Tandeminteraktion zu lösen und die Kommunikation zu erleichtern, brauchen die Gesprächspartner bestimmte Strategien, wie z. B. Einleitung der Korrekturen bzw. Reparaturen, Gliederungssignale und Auslösung der Missverständnisse. <?page no="31"?> 1.1 Zum Begriff Interaktion 31 4. Sensibilisierung für Prozesse exolingualer Kommunikation. Dafür wird vorgeschlagen, authentische Dokumente exolingualer Kommunikation zu analysieren und bewusst metalinguistische Reflexion zu initiieren. Rost-Roth (1995) untersucht anhand von Aufnahmen von Tandem-Gesprächen und Tagebuchaufzeichnungen deutsch-italienische Einzeltandems. Das Ziel ihrer Untersuchung liegt darin herauszufinden, wie das Lernpotenzial im Tandem aussieht. Ausgehend von Kommunikationsstörungen (Ausdruck- und Verständnisschwierigkeiten), die wegen unterschiedlicher sprachlicher Kompetenzen der Interagierenden im Tandem entstehen, untersucht sie, wie die Spracherwerbspotenziale sich in Tandem-Interaktionen manifestieren und von den Beteiligten benutzt werden. Aus dem Korpus von Rost-Roth ist zu erkennen, dass die Tandempartner unterschiedliche Verfahren bei Behandlungen der kommunikativen Störungen benutzen, wie Erklärungen der Wortbedeutungen, Aushilfen bei Wortsuchen und Korrekturen. Nach Rost-Roth zeigen die Muttersprachler im Tandem eine in jeder Hinsicht große Kooperationsbereitschaft. Nichtmuttersprachler lassen die Muttersprachler entweder explizit oder durch Signale wie Pausen, Zögern, Dehnungen wissen, dass ihnen der muttersprachliche Tandempartner beim Formulieren helfen soll. Für Rost-Roth ist es eine Besonderheit der Tandem-Interaktionen, dass die Korrekturverfahren, die in der Regel als gesichtsbedrohend empfunden werden, im Tandem aber als ein für den Spracherwerb positiver Prozess benutzt werden. Die Lehr-Lern-Situation im Tandem gestattet dem Nichtmuttersprachler, angstfrei fehlerhafte Formulierungen zu produzieren und dem Muttersprachler das Korrigieren, ohne dass er befürchten müsste, unhöflich zu sein. Dabei werden die Behandlungsverfahren für die Kommunikationsstörungen besonders aufgrund des sprachlichen Systems (Lexik, Morphologie, Syntax, Phonetik) analysiert. Die Nebensequenzen, in denen die Tandempartner die sprachlichen Probleme mit verschiedenen Verfahren behandeln, sind jedoch nur lokal. Globale Aktivitäten, wie Hilfen der Muttersprachler beim Aufbau der Diskursstruktur durch z. B. Elizitierungen, Nachfragen, werden nicht einbezogen, schon gar nicht eine Kombination von lokalen und globalen Aktivitätstypen. Während Herfurth (1993) und Rost-Roth (1995) Interaktionen im Kurstandem thematisieren, setzt sich Apfelbaum (1993) anhand von transkribierten Aufnahmen mit drei deutsch-französischen freien Einzeltandems, die an der Universität Aix-en-Provence vermittelt wurden, auseinander. In ihrer empirischen Studie geht es um drei Aspekte, nämlich Typen von Erzählungen im Tandem, Rollen der Muttersprachler beim Zustandbringen des Diskusmusters und Sprachlernaktivitäten innerhalb der Erzählungen der Nichtmuttersprachler. <?page no="32"?> 32 1 Lehr- und Lernpotenziale von Interaktionen Apfelbaum beschreibt in ihrer Studie hauptsächlich produktionsorientierte Verfahren. Sie unterscheidet „Selbsthilfe“ von „Fremdhilfe“. Unter „Selbsthilfe“ sind produktionsunterstützende Verfahren, mit denen die Lerner ihre eigenen Formulierungsschwierigkeiten in der Fremdsprache bearbeiten, zu verstehen. Mit „Fremdhilfe“ meint man produktionsunterstützende Verfahren, mit denen ein Element der Äußerung der Lerner von muttersprachlichen Tandempartnern bearbeitet wird. Eine Besonderheit ihrer Studie liegt darin, dass sie nicht nur lokale Aktivitäten der Verständigungssicherung im Tandem, sondern auch globalstrukturelle Durchführung von Diskurseinheiten untersucht. Dabei thematisiert sie besonders die Rollen der muttersprachlichen Tandempartner. In Anlehnung an Quasthoffs Studie zur Erzählstruktur (1987) untersucht Apfelbaum vor allem drei Ebenen der Erzählstruktur: - Verfahren der muttersprachlichen Elizitierung einzelner Strukturteile - Bearbeitung von Problemmanifestationen bei der Durchführung der Erzählstruktur - Beteiligung der Muttersprachler an der Evaluation. Aus der Untersuchung ergibt sich, dass erstens die muttersprachlichen Tandempartner in ihrem Korpus an der Erledigung aller für die Produktion narrativer Texte konstitutiven konversationellen Strukturteile beteiligt sind. Zweitens gibt es Abweichungen zwischen den Nichtmuttersprachlern und Muttersprachlern. Während die Nichtmuttersprachler bei der Bearbeitung von Problemmanifestationen häufig von sprachlichen Problemen ausgehen, sehen die Muttersprachler sie eher als semisprachliche oder enzyklopädische Probleme. Solche Problemmanifestationen können zwar von dem Muttersprachler in der Sprache des Tandempartners beseitigt werden, aber der Lerneffekt in diesen Nebensequenzen ist fraglich. Drittens wird das Erzählen nach Apfelbaum nicht von den Nebensequenzen über sprachliche Probleme beeinträchtigt, selbst wenn sie lang sind. Viertens ist die Zuhörerbeteiligung bei der Evaluation vom Sprachniveau des nichtmuttersprachlichen Erzählers abhängig. Je höher das Niveau des Erzählers in der Zielsprache, desto später setzen die ausgeprägten Formen von Partizipation des Muttersprachlers an der Evaluation ein. Bei globalen Aktivitäten im Erzählen beschreibt Apfelbaum jedoch nur die produktionsunterstützenden Verfahren, mit denen die Muttersprachler den nichtmuttersprachlichen Erzählern bei Formulierungsschwierigkeiten in Bezug auf den Aufbau der Erzählstruktur helfen. Die muttersprachlichen Zuhörer fungieren allerdings beim Erzählen ihrer Partner als Laienlehrpersonen. Aktivitäten, die die Erzähler nicht unterstützen oder das Lernpotenzial im Tandem nicht fördern können, bleiben jedoch unerforscht. Es lohnt sich aber, die <?page no="33"?> 1.1 Zum Begriff Interaktion 33 unprofessionellen Aktivitäten der Zuhörer als Laienlehrpersonen im Tandem zu untersuchen, wenn man das Lernpotenzial in Tandem-Interaktion fördern möchte. Denn das Verhalten der Zuhörer spielt beim Sprachenlernen des Erzählers eine wichtige Rolle. 1.1.2.3.2 Das interkulturelle Lernen im Tandem Neben der Forschung von Tandem-Interaktionen aus linguistischer Perspektive wird die Dimension des interkulturellen Handelns und Lernens auch häufig debattiert. Die bisher systematischste Untersuchung des interkulturellen Lernens im Tandem liegt von Bechtel (2003) vor. Bechtels Untersuchung basiert auf umfangreichen empirischen Interaktionsdaten von Studierenden in Tandemkursen. In seinem Korpus geht es um einen „extensiven, universitären, deutsch-französischen Tandemkurs“, an dem deutsche Studierende der Romanistik (Französisch) und französische Studierende der Germanistik teilnahmen (Bechtel 2003: 13). Mit diskursanalytischer Methode untersucht er die Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Lernens im Tandem. Anhand von sieben Fallbeispielen werden Prozesse interkulturellen Lernens beim Sprachenlernen im Tandem beschrieben und analysiert. Dabei stützt er sich auf einen möglichst umfassenden Kulturbegriff, den er von Bredella und Christ (1995) übernimmt und der die Gleichwertigkeit der Kulturen unterstreicht (Bechtel 2003: 51). Mit seinem Perspektivenmodell, das er aufgrund des Modells von Kramsch (Bechtel 1993: 208) für die Beschreibung des interkulturellen Lernens im Tandem entwickelt hat, führt Bechtel seine empirische Untersuchung anhand transkribierter Daten aus. Aufgrund seiner empirischen Untersuchung weist Bechtel darauf hin, dass das Lernen der interkulturellen Dimension im Tandem sowohl positive als auch negative Seiten hat. Einerseits ist mit dem interkulturellen Lernen im Tandem damit zu rechnen, dass es erstens vielfältige Möglichkeiten beinhaltet, unterschiedliche Perspektiven in die Lehr-Lern-Situation Tandem einzubringen (Bechtel 2003: 365). Zweitens werden bei Kulturvergleichen nicht nur kulturelle Unterschiede, sondern auch Gemeinsamkeiten in der Interaktion von Angesicht zu Angesicht wahrgenommen (Bechtel 2003: 366). Drittens bietet die Tandemarbeit ein Anwendungs- und Erprobungsfeld für interkulturelles Lernen (Bechtel 2003: 367). Allerdings gibt es nach Bechtel auch Grenzen der Tandemarbeit in Bezug auf das interkulturelle Lernen. Erstens ist die Tandem-Interaktion ein individueller Prozess, der auf einer persönlichen Sympathie fußt. Die Grenze wird erreicht, wenn die Tandempartner nicht bereit sind, etwas von sich preiszugeben (Bechtel 2003: 368). Zweitens stellt sich die Frage, inwieweit die von den Tandempartnern gegebenen Antworten in Bezug auf kulturelle, insbesondere land- <?page no="34"?> 34 1 Lehr- und Lernpotenziale von Interaktionen skundliche Informationen richtig, repräsentativ und vollständig sind (Bechtel 2003: 367). In direkter Interaktion mit dem muttersprachlichen Tandempartner bekommt der Lerner zwar „authentische, aktuelle, lebensnahe Auskünfte über die fremde Kultur“ (Bechtel 2003: 369). Aber diese Informationen über die Zielkultur wird von der Subjektivität des Muttersprachlers geprägt und kann die „Komplexität und Heterogenität der fremden Kultur“ (Bechtel 2003: 369) nicht gut reflektieren. Drittens geht es beim interkulturellen Lernen auch darum, die interkulturelle Handlungskompetenz der Lerner zu fördern. Sie sollten befähigt werden, sich der geistigen Prozesse, die beim interkulturellen Lernen eine Rolle spielen (Wahrnehmung, Kulturvergleich, Perspektivenübernahmen), bewusst zu werden und sie in Zukunft angemessen anzuwenden. Die Tandempartner als Laienlehrpersonen sind aber überfordert, solche Prozesse bewusst zu machen. Anhand von Gesprächsausschnitten analysiert Qian (2013) Kulturreflexion im Sprachlerntandem zwischen deutschen und chinesischen Lernern. Sie zeigt dabei auf, wie die Erwartungen an die Erklärung kultureller Phänomene seitens der deutschen Muttersprachler und der chinesischen Lerner auseinandergehen. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung verdeutlichen, wie die muttersprachlichen Tandempartner die kulturellen Vorstellungen der chinesischen Lerner bagatellisieren und eigene Praktiken entgegenhalten, ohne diese näher zu thematisieren. Mögliche Gründe dafür könnten sein: Die Gründe liegen einerseits vermutlich darin, dass die fremde Kultur für die Ausländer interessant ist (wie z. B. die folkloristischen Elemente), für die Einheimischen hingegen normal. Andererseits verlangt es fachliches Wissen, um spezifische kulturelle Fragen beantworten zu können. Das können nicht alle deutschen Studierenden leisten. (Qian 2013: 71) 1.1.2.3.3 Beratungen und Begleitungen Ein weiteres Gebiet der Tandemforschung, das sich in den letzten Jahren schnell entwickelt hat, behandelt Beratungen und Begleitungen für Tandem-Interaktionen. Darunter sind Anleitungen bei der Reflexion eigenen Handelns im Tandem zu verstehen. Dabei werden Leitfaden und Materialien für das Lernen entwickelt. In der Praxis stehen verschiedene Beratungsangebote an unterschiedlichen Hochschulen zu Verfügung. Holstein / Oomen-Welke (2006) stellten aufgrund der Fachliteratur sowie langjährigen eigenen Erfahrungen mit dem Freiburger Tandem-Büro der Pädagogischen Hochschule, aus der Tandem-Vermittlung der Universität Gießen und bei der Fundazioa Tandem einen ausführlichen und umfangreichen Leitfaden für das Sprachenlernen im Tandem zusammen. Darin werden theoretische Prinzipien und praktische Tipps für den Ablauf der Tandemarbeit vorgestellt. In dem <?page no="35"?> 1.1 Zum Begriff Interaktion 35 von Baguette et al. (2001) herausgegebenen Buch wird ein Leitfaden speziell für die schulischen Tandem-Interaktionen beschrieben. Das Sammelwerk von Brammerts / Little (1996) gibt einen Überblick über das Sprachenlernen im Tandem im Internet. Eine wissenschaftliche Untersuchung, die das Sprachenlernen im Tandem aus der Perspektive von Beratungen und Begleitungen umfassend und systematisch erforscht, liegt in Schmelters (2004) Studie vor. Schmelter untersucht die Tandemarbeit anhand empirischer Daten. Sein Korpus besteht aus Eingangs-und Abschlussinterviews (als Beratungsgesprächen), Beobachtungen der Tandemsitzungen, Kommentierungen der Lerner zu den Sitzungen und Tagebüchern. Während Beratungsangebote im Tandembereich geschätzt werden, weist Schmelter in seiner Studie aber auf verschiedene problematische Aspekte der Beratungen für die Tandemarbeit hin. Eine grundsätzliche Problematik für Beratungsangebote liegt nach Schmelter darin, dass die Lerner den Bedarf nicht erkennen, Beratungsgespräche für Tandem zu nutzen (Schmelter 2004: 343). Oft wissen sie nicht, dass die vorhandenen Situationen mehr Möglichkeiten für das Lernpotenzial bieten können, als ihnen momentan bewusst ist. Zweitens stellt sich dann die Frage, ob der Beratungsbesuch zur Verpflichtung werden sollte (Schmelter 2004: 344). Das würde einerseits gegen das autonome Lernprinzip des Tandems stehen. Andererseits würde die Motivation zum Lernen nicht ausreichend geweckt. Drittens geht es um das Verhalten und die Rolle der Berater. Inwieweit dürfen die Berater in das selbstgesteuerte Lernen im Tandem eingreifen, ohne den eigentlichen Charakter der Tandem-Interaktion aufzuheben (Schmelter 2004: 344) ? Es würde sich lohnen, solche Problematiken zu untersuchen. Das wäre nicht nur für die Verbesserung der Beratungsangebote nützlich, sondern auch für einen besseren Einblick in das subjektive Empfinden der Lerner. Nach Schmelter (2004: 329) fehlen bislang systematisch erhobene empirische Befunde zu der Frage, welcher Lerner aus welchen Gründen und mit welchen Zielen die Beratung in didaktischen Umfeldern zum selbstgesteuerten Lernen aufsucht. Das Problem, dass die Tandempartner das Lernpotenzial in dieser Situation ungenügend kennen, unterstreicht auch Brammerts (2006). Seiner Beobachtung zufolge wissen die Lerner nicht, über ihre eigenen „Lernziele und Lernwege“ (Brammerts 2006: 6) zu entscheiden. Denn, so schreibt er: Sie verstehen den Partner als persönlichen fremdsprachigen Kommunikationspartner, verlassen sich darauf, dass man durch Kommunikation mit einem native speaker immer etwas lernt, und behalten in der Regel auch Recht damit. (Brammerts 2006: 6) Ausgehend davon, die Chancen in diesem besonderen Lehr-Lern-Kontext zu erhöhen, schlägt Brammerts (2006) vor, den Tandemlernern Unterstützungen zu bieten, damit sie die Möglichkeiten zum Erreichen ihrer Ziele optimal nutzen <?page no="36"?> 36 1 Lehr- und Lernpotenziale von Interaktionen können. Brammerts (2006: 6-8) benennt folgende Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen, die als Hilfestellung für das Tandemlernen angeboten werden: - Bereitstellung von Informationen (Erklärungen, Anleitungen, Grundregeln, Tipps) - Anregungen für die Tandemarbeit - Anregungen zur Reflexion für den einzelnen Lerner - Anregungen zur Reflexion innerhalb der Tandempaare - gelenkte Reflexion in Gruppen - Paarberatung - individuelle Beratung. Reinecke (2013) stellt ihre Erfahrungen von und mit Studierenden in der Tandemberatung vor. In ihrem Aufsatz betont sie die grundsätzliche Problematik, dass die Angebote der Tandemberatung nicht von den Lernern genügend genutzt werden. Dazu schreibt sie wie folgt: Während sich dabei einerseits sehr positive Tendenzen abzeichnen - das Tandem wird von den Studierenden gut angenommen und engagiert durchgeführt - weisen die bisher erhaltenen Ergebnisse und Rückmeldungen aber auch auf ein nicht untypisches Problem von Beratungsangeboten hin: Sie werden von Betroffenen theoretisch für sinnvoll erachtet, aber nicht unbedingt genutzt. (Reinecke 2013: 77-78) In Anlehnung an die oben genannten Untersützungsformate von Brammerts (2006: 6-8) weist sie anhand ihrer Erfahrungen darauf hin, dass man bei der Tandemberatung „Lernstrategientraining“ von „Autonomieförderung“ (Reinecke 2013: 81) unterscheiden soll. Denn es ist in der Praxis zu beweisen, dass die Vermittlung des strategischen Wissens (wie Bedeutungserklärungen, Korrekturen, Gliederungssignale) relativ problemlos ist. Aber die Förderung der Autonomie im Tandem soll sich nicht auf die Vermittlung der technischen Aspekte beschränken. Angesichts dieser Tatsache schlägt die Autorin vor, die beiden unterschiedlichen Begleitangebote für das Tandemlernen - „Lernstrategientraining“ und „Autonomieförderung“ - institutionell-personell voneinander zu trennen. Ihrer Meinung nach könnte die Strategienvermittlung die Aufgabe der Lehrenden sein, während die Angebote zur Autonomieförderung durch eine Einrichtung (wie Tandembüro) durchgeführt würde (Reinecke 2013: 101). Das Ziel dieser Umstrukturierung soll darin liegen, das Potenzial des Strategientrainings und der Lernerautonomie im Tandemlernen zu verbessern. <?page no="37"?> 1.2 Zusammenfassung 37 1.2 Zusammenfassung Ein Überblick über den bisherigen Forschungstand im Bereich von Interaktion und Zweitspracherwerb verdeutlicht, dass Interaktionen verschiedene Lehr- und Lernpotenziale für den Zweitspracherwerb bieten. Während die Aktivitäten der Lerner ohne Zweifel im Mittelpunkt stehen, werden aber die Rollen der kompetenten Interaktionspartner sowohl im gesteuerten als auch im ungesteuerten Zweitsprachwerb betont. Im gesteuerten Zweitspracherwerb werden die Ziele der Interaktionen, die Beteiligung der Lerner, der Ablauf der Interaktionen und der Erwerbsprozess von Lehrpersonen bestimmt. Im ungesteuerten Zweitspracherwerb gibt es zwar keine Lehrpersonen im didaktischen Sinne, jedoch stellen die Gesprächsparter (in den meisten Forschungen Muttersprachler) Laienlehrpersonen dar. Ihr sprachliches Verhalten und ihre Strategien üben einen Einfluss auf den stattfindenden Erwerbsprozess für die Lerner in der Interaktion aus. Als eine besondere Interaktionsform für Fremdsprachenlernen erlangt das Tandem-Konzept in den letzten Jahren zunehmend wissenschaftliches Interesse. Die Darstellung der jungen Tandemforschung zeigt, dass diese Lehr- und Lernform aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht wird. Während das Fremdsprachenlernen schon immer einen wichtigen Platz in der Forschung einnimmt, wird das interkulturelle Lernen im Tandem vermehrt thematisiert. Eine Tendenz sehen wir ebenfalls im Forschungsbereich der Beratungen und der Begleitungen des Tandemlernens. Im Hinblick auf die Daten bzw. die Methode der bisherigen Forschung ist zu beobachten, dass sie vorwiegend durch quantitative und qualitative Methoden (Interviews, Umfragen, teilnehmende Beobachtungen, Tagebuchaufzeichnungen), geprägt ist (wie Herfurth 1993, Schmelter 2004, Brammerts 2006, Reinecke 2013). Wenige interaktionsorientierte Untersuchungen basieren auf empirischen Gesprächsdaten (Apfelbaum 1993, Rost-Roth 1995, Bechtel 2003) und folgen sprachwissenschaftlichen Ansätzen. Eine systematische Untersuchung des interkulturellen Lernens im Tandem leistet Bechtels Studie (2003) mit einer diskursanalytischen Methode. In der Forschung über das Fremdsprachenlernen gelten Apfelbaum und Rost-Roth als die ersten, die die Gesprächsabläufe in Tandeminteraktion mit konversationsanalytischer Methode untersuchen. Die beiden sprachwissenschaftlichen Forschungen ermöglichen einen Blick in die konkrete Interaktion im Tandem. Die konversationsanalytische Methode erhellt die Tandeminteraktion genauer und konkreter. Herfurth (1993: 225) weist ebenfalls darauf hin, dass „weitere Aufschlüsse zur Einschätzung des Spracherwerbs in Begegnungssituationen sich durch eine konversationsanalytische Untersuchung von Sequenzen realer <?page no="38"?> 38 1 Lehr- und Lernpotenziale von Interaktionen Gesprächsabläufe der Begegnungen ergeben“ sollten. Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine konversationsanalytische Untersuchung zum Fremdsprachenlernen im Tandem. Im folgenden Kapitel werde ich die Forschungsmethode und die Konversationsanalye vorstellen. <?page no="39"?> 2.1 Konversationsanalytischer Ansatz 39 2 Untersuchungsmethode 2.1 Konversationsanalytischer Ansatz Mit der Konversationsanalyse bezeichnet man einen Forschungsansatz, der sich mit der Analyse natürlicher Gesprächsdaten befasst. Nach Bergmann (2001) setzt sich die Konversationsanalyse mit „der Untersuchung von sozialer Interaktion als einem fortwährenden Prozess der Hervorbringung und Absicherung sinnhafter sozialer Ordnung“ (Bergmann 2001: 919) auseinander. Der Ursprung der Konversationsanalyse ist auf die amerikanische ethnomethodologische Soziologie in den 1960er zurückzuführen. Die von Harold Garfinkel (1967) begründete Ethnomethodologie versteht sich als ein „Forschungsprogramm, das sich mit den Methoden der Konstitution sozialer Wirklichkeit und sozialer Ordnung im Alltagshandeln der Gesellschaftsmitglieder befasst“ (Streeck 1987: 672). Im Hinblick auf die soziale Ordnung sind für die Ethnomethodologie interaktive Hervorbringungen statt vorgegebener Normen entscheidend. Das heißt, die soziale Wirklichkeit wird nicht ex ante festgelegt, sondern durch die Gesellschaftsmitglieder in ihrem Handlungsverlauf hergestellt. Das Hauptinteresse der Ethnomethodologie besteht in der Genese der Wirklichkeitsproduktion und der alltäglichen Sinnerzeugung. Die Entwicklung des ethnomethodologischen Forschungsprogramms zur Konversationsanalyse ist Harvey Sacks zu verdanken. Während Garfinkel soziale Handlungen mittels vielfältiger Beobachtungsverfahren untersucht, führt Sacks als einer der ersten Wissenschaftler die Tonaufzeichnung für systematische Forschungen der sozialen und sprachlichen Ordnung ein. Zusammen mit Emanuel Schegloff und Gail Jefferson leistet er einen wichtigen Beitrag zur Entstehung und Weiterentwicklung der Konversationsanalyse. Ihr Interesse richtet sich vorwiegend auf allgemeine Mechanismen, die Interaktionen in der Gesellschaft erzeugen. Ausgehend von dem Ausspruch „There is order at all points“ (Sacks 1984: 22), weist Sacks darauf hin, dass jedes Detail der Interaktion ein Untersuchungsobjekt sein kann. Anhand solcher Details lassen sich die formalen Methoden und Verfahren entdecken, die die Beteiligten zur Abwicklung alltäglicher kommunikativer Handlungen verwenden. Die Konstitution der sozialen Ordnung durch die Handlungen der Gesellschaftsmitglieder ist dadurch zu erkennen. Wie kommunizieren die Menschen? Wie werden Ge- <?page no="40"?> 40 2 Untersuchungsmethode spräche aufgebaut? Gibt es eine Systematik in Gesprächen? Lässt sich dadurch etwas über das soziale Handeln herausfinden? Solche Fragen stehen am Anfang der Konversationsanalyse im Vordergrund. Das Ziel der Konversationsanalyse liegt also darin, am Gegenstand sprachlicher Interaktion die konstitutiven Mechanismen zu bestimmen, die die sinnhafte Strukturierung und Ordnung der Gesellschaft hervorbringen. 2.1.1 Grundprinzipien der Konversationsanalyse Was das methodische Vorgehen bzw. den theoretischen Hintergrund betrifft, unterliegen Untersuchungen sprachlicher Handlungen mit Konversationsanalyse einer Reihe von Prinzipien, die im Grunde genommen in der Ethnomethodologie verankert sind und in konversationsanalytischen Arbeiten entwickelt werden. Im Folgenden werden die Grundprinzipien im ethnomethodologischen Zusammenhang skizziert. 1. Natürliche Daten als Untersuchungsgegenstand Die Konversationsanalyse besteht darauf, die „Natürlichkeit“ der Daten im höchstmöglichen Maße aufrechtzuerhalten. Das Ziel ist, dass möglichst viel vom realen Ablauf der Interaktion für die Analyse verfügbar ist. Die im konversationsanalytischen Rahmen erhobenen Daten unterscheiden sich deutlich von anderen Daten, mit denen die Sozialwissenschaftler bzw. Sprachwissenschaftler häufig arbeiten, wie experimentell gewonnene Daten, nachträgliche Beschreibungen sowie auch Erzählungen und Rollenspiele. Experimentelle Formen der Daten sind nicht geeignet für die Analyse alltäglicher Interaktionen. Die sich daraus ergebenden Handlungen sind spezifisch für das experimentelle Setting, in dem die Beteiligten hauptsächlich ihre Aufgaben erfüllen. Auf die Untersuchung der dargestellten Handlungen in ihrem eigentlichen sozialen Kontext sind solche Daten nicht zu übertragen. Aus ähnlichen Gründen werden Daten in Form von Rollenspielen oder idealisierten Versionen in der Konversationsanalyse nicht in Betracht gezogen. Nachträgliche Beschreibungen oder Erzählungen von Interaktionen gelten oftmals als eine Untersuchungsmethode in der wissenschaftlichen Forschung. Das Problem dabei liegt aber darin, dass sie sich nicht auf die Interaktion selbst konzentrieren, sondern eine retrospektive Darstellung produzieren. Das heißt, sie verstehen sich als Ressource für die Analyse, aber nicht als Gegenstand der Analyse. Um soziales Handeln in der Ethnomethodologie zu untersuchen stehen die Fragen des „Wie“ und nicht des „Warum“ sozialer Tatbestände im Mittelpunkt. Entsprechend besteht das Interesse der Konversationsanalyse, die sich <?page no="41"?> 2.1 Konversationsanalytischer Ansatz 41 aus der Ethnomethodologie entwickelt, in den Fragen, wie sich die Handlungen in der Interaktion manifestieren. Mit anderen Worten: Es wird ausschließlich die Interaktion an sich analysiert. In dieser Hinsicht ist es nicht unproblematisch, solche Datentypen für die Konversationsanalyse zu benutzen. Es gibt aber auch Ausnahmen, bei denen nachträgliche Beschreibungen oder Erzählungen (z. B. Interviews) an sich als Untersuchungsgegenstand verwendet werden können, das heißt, der Aufbau der Interviews wird erforscht. In diesem Fall können solche Daten in das Interesse der Konversationsanalyse rücken. Begünstigt wird die Erhebung natürlicher Daten von den Möglichkeiten der Ton- und Videoaufzeichnung. Durch den Einsatz der Transkriptionstechnik fixiert man anschließend die natürlichen Daten schriftlich. 2. Detail- und Materialtreue Wie im Vorausgegangenen erwähnt, spielt die Transkription bei der Konversationsanalyse eine zentrale Rolle. In der Transkription wird die ursprüngliche Materialität der Daten schriftlich rekonstruiert. Die Analyse liegt den transkribierten Daten zugrunde. Im Vergleich zu anderen Forschungen zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie nicht nur zur Arbeit an dem eigentlichen Material dient, sondern auch den Lesern die Möglichkeit gibt, die Analyseergebnisse anhand der detailliert dargestellten Daten zu begreifen. Denn in vielen Forschungen werden die Befunde in kodierter Form präsentiert. Die Konversationsanalyse folgt strikt einer materialgestützten Orientierung. Besonders bezeichnend ist ihr Empirieverständnis. Ethnomethodologen lassen keine vorgängigen theoretischen Aussagen über ihren Objektbereich zu. Entsprechend werden Konversationsanalytiker aufgefordert, ihre Hypothesen, Fragestellungen und Konzepte anhand der Daten zu entwickeln. Das Material darf nicht wie in der Sprach- und Sozialpsychologie vorher für Forschungszwecke arrangiert werden. Erst von den konkreten Details des Materials ausgehend arbeiten die Forscher Analysekategorien heraus. Dadurch vermeidet man die Gefahr, die in der wissenschaftlichen Forschung häufig zu beobachten ist, dass die Forscher vorab Analysekategorien formulieren und dann das Material nur für diese benutzen, um ein theoretisches Konzept zu untermauern. Dabei wird die Besonderheit des Materials in seinem eigentlichen Kontext übersehen. In der Konversationsanalyse bilden sich die theoretischen Analysekonzepte dagegen in der Auseinandersetzung mit den empirischen Daten aus. Diese Offenheit bietet die Möglichkeit, zu rekonstruieren, wie die Beteiligten selbst einander verstehen und an welchen Regeln oder Verfahren sie sich dabei orientieren. Dadurch lassen sich die Struktur der Interaktion und die Prinzipien der Organisation entdecken, was dem Ziel der Konversationsanalyse entspricht. <?page no="42"?> 42 2 Untersuchungsmethode 3. Ordnung der Interaktion Aus ethnomethodologischer Sicht ist die Ordnung des sozialen Geschehens ein wichtiger Aspekt für die Untersuchung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Diese Ordnung im ethnomethodologischen Sinne wird nicht vorab bestimmt, sondern als Resultat der praktischen Aktivitäten der Gesellschaftsmitglieder aufgefasst. Entsprechend übernimmt die Konversationsanalyse den Gesichtspunkt der sozialen Ordnung als eine Grundlage für ihre Forschung. Ihre Bedeutung zeigt sich bereits bei Sacks’ Arbeit, indem er auf „order at all points“ (Sacks 1984: 22) hinweist. Jede Interaktion ist eine geordnete Aktivität und unterliegt bestimmten Regeln bzw. Verfahren. Jeder Teil eines Gesprächs hat in der Gesprächsabfolge seine Funktion. Die Ordnung der Interaktion ist an der sprachlichen Oberfläche erkennbar, sowohl für die Analytiker, als auch für die Teilnehmer. Für die zuhörenden Teilnehmer ist es wichtig, dass die Redebeiträge des Sprechers verständlich gemacht werden. Sie interpretieren dann die Äußerungen des Gesprächspartners und reagieren darauf mit verbalen oder nonverbalen Handlungen. Die Analytiker rekonstruieren diese sinnhafte Konstitution anhand ihrer eigenen Materialien. Dabei sind die Organisation des Gesprächsablaufs und spezifische Äußerungen mit sequentieller Implikation von zentraler Bedeutung (Günthner 2000c: 25). In der Konversationsanalyse muss man sich so tief wie möglich auf den Interaktionsprozess einlassen, um die geordnete Konstruktion herauszuarbeiten. 4. Kontext Während das Erfassen der Ordnung im Gespräch im Vordergrund der Konversationsanalyse steht, stellt sich im Hinblick auf die methodischen Praktiken die Frage, ob es dabei einfach nur um das Ablesen und das Hören geht. Vielmehr braucht man Interpretation, um die Organisationsprinzipien der Interaktion zu verstehen. Aus ethnomethodologischer Sicht ergeben sich soziale Handlungen mit jeweiliger aktiver Kontextbezogenheit. Das soziale Geschehen wird nicht isoliert, sondern in seiner kontextuellen Einbettung interpretiert. Entsprechend führt man in der Konversationsanalyse die Diskussion über die Interpretation unter dem Aspekt von Kontexten bzw. Kontextwissen. Für das Verständnis der sprachlichen Interaktion, die ein symbolisches Handeln darstellt, ist das Kontextwissen von zentraler Bedeutung. Ohne relevante Wissensbestände ist es für die Rezipienten - sowohl die Gesprächsteilnehmer als auch die externen Analytiker - schwer, die sprachlichen Handlungen überhaupt adäquat zu interpretieren. In konversationsanalytischen Erörterungen wird der Kontextaspekt vor allem auf zwei Ebenen thematisiert. Zum einen wirkt die Interaktion bereits <?page no="43"?> 2.1 Konversationsanalytischer Ansatz 43 selbst kontexterneuernd. Gemäß Goodwin / Heritage (1990) steht der Kontext im Interpretationsverfahren im engen Zusammenhang zwischen Analyse und Sequenzialität, nämlich der zeitlichen Gesprächsabfolge. Das heißt, der Kontext entsteht im Verlauf eines Gesprächs selbst und wird von den Beteiligten konstituiert. Ein solcher Kontext prägt die Handlungen der Beteiligten und ist gleichzeitig selbst ein Resultat dieses interaktiven Handelns. Beispielsweise finden sich in Eltern-Kind-Interaktionen häufig Anpassungsstrategien des sprachlich kompetenteren Erwachsenen, indem er lexikalisch, syntaktisch oder prosodisch seine Redebeiträge modifiziert, um mit den Kindern zu kommunizieren. Die Beteiligten schaffen den Kontext und manifestieren ihn in der Gesprächssequenz. So beschreibt Schegloff (1972: 115) die erste Ebene treffend: „To say that interaction is context-sensitive is to say that interactants are context-sensitive“. Zum anderen ist die Interaktion durch den Kontext geprägt, in den sie eingebettet ist. Dabei wird in der Konversationsanalyse häufig von der Ethnographie gesprochen. Die Integration der Ethnographie in die sprachwissenschaftliche Konversationsanalyse lässt sich aus zwei Perspektiven begründen. Aus methodologischer Sicht versteht sich die Analyse grundsätzlich als „interpretative Arbeit“ (Deppermann 2000: 118), die stets auf den empirischen Materialien beruht. Bei der Interpretation der Datenmaterialien geht es aber prinzipiell um eine Arbeit des Subjektes. Dies soll in der Untersuchung berücksichtigt werden, indem man ethnographische Konzeptionen zur Verbesserung der Interpretationsarbeit entwickelt. Aus methodenpraktischer Sicht ist das „ethnographische Wissen“ (Deppermann 2000: 118) von besonderer Bedeutung. Kontextwissen lässt sich nicht immer aus den Daten erschließen, und deshalb ist es stets notwendig, zu untersuchen, in welcher Weise ethnographisches Wissen für die Gesprächsauswertung unabdingbar ist. Mit der Anwendung der ethnographischen Methoden entsteht die Konzeption „ethnographische Konversationsanalyse“. Damit ist aber nicht einfach eine Kombination der beiden Methoden gemeint. Vielmehr dient der ethnographische Ansatz als ein Hilfsmittel für die Konversationsanalyse. Das heißt, die Analyse mit dieser Konzeption wird nicht nach den Grundprinzipien der Ethnologie durchgeführt, sondern immer noch entsprechend der konversationsanalytischen Methode. Die Integration der Ethnographie deutet lediglich auf die Anwendung ethnographisches Arbeiten in der Analyse hin. 2.1.2 Konversationsanalyse in der Linguistik Die linguistische Forschungslage mit konversationsanalytischer Methode gestaltet sich heterogen. Es existieren mittlerweile zahlreiche Arbeiten, die sich mit Interaktionen und Gesprächen beschäftigen. Dazu gehören zuerst die gemein- <?page no="44"?> 44 2 Untersuchungsmethode samen Veröffentlichungen von Sacks, Schegloff und Jefferson. Ihre bekannten Untersuchungen zur Sprecherwechselsystematik (Sacks / Schegloff / Jefferson 1974), zu Präferenzstrukturen bei Reparaturen (Schegloff / Jefferson / Sacks 1977) und zur Organisation der Beendigungssequenzen (Schegloff / Sacks 1973) werden als „Klassiker“ der Konversationsanalyse betrachtet. Während die ersten Vertreter dieser Forschungsrichtung vor allem die Alltagsgespräche als Untersuchungsgegenstände heranziehen, rücken in der Weiterentwicklung des konversationsanalytischen Ansatzes auch Daten aus institutionellen Kontexten (z. B. Arzt-Patient-Gespräche, Unterrichtsinteraktionen, Eltern-Lehrer-Gespräche, Bewerbungsgespräche) in das Forschungsinteresse. Mit dieser Entwicklung beschränken sich die Untersuchungen nicht mehr nur auf allgemein gültige Eigenschaften der Gesprächspraktiken (wie Reparaturen, Korrekturen, Sprecherwechsel), sondern richten sich auf kontextspezifische Interaktionsaufgaben. Um einen Überblick über die Rezeption der Konversationsanalyse in der Linguistik zu geben, werde ich im Folgenden ihre Anwendung in der sprachwissenschaftlichen Forschung nachzeichnen. Dabei konzentriere ich mich vor allem auf den deutsch- und englischsprachigen Raum. Konversationsanalytische Untersuchungen in der Linguistik finden sich nach Deppermann (2008) vorwiegend in folgenden Forschungsbereichen: (1) Untersuchung der Gesprächspraktiken Dazu zählen zahlreiche Auseinandersetzungen mit z. B. Sprecherwechsel (Sacks / Schegloff / Jefferson 1974), Korrekturen (Schegloff / Jefferson / Sacks 1977), Prosodie (Couper-Kuhlen / Selting 1996), Eröffnungssequenzen (Schegloff 1972) usw. (2) Erforschung der kommunikativen Gattungen In Anbindung an das ethnographische Kontextwissen befasst man sich hierbei mit viel größeren Kommunikationseinheiten als Gesprächspraktiken. Dabei wird neben der Struktur eine Menge von relevanten Komponenten (wie lexiko-semantisch, stilistisch, prosodisch) untersucht. Zu diesem Bereich gehören z. B. Forschungen über Klatschgespräche (Bergmann 1987), Vorwurfsaktivitäten (Günthner 2000c), Bewerbungsgespräche (Birkner 2001). (3) Untersuchung der Bewältigung von Interaktionsproblemen und -aufgaben Dieser Forschungsbereich zeichnet sich durch seine funktionale Analyse aus. Das heißt, im Gegensatz zu den beiden obengenannten Gebieten geht man hier nicht von den Gesprächssequenzen aus. Vielmehr liegt das Ziel darin, die grundlegenden Interaktionsaufgaben anhand der Daten zu rekonstruieren und anschließend Ressourcen für die Bewältigung der kommunikativen Aufgaben oder <?page no="45"?> 2.1 Konversationsanalytischer Ansatz 45 Probleme zu finden, z. B. Verhandlung von Glaubwürdigkeit in Streitgesprächen (Deppermann 1997). (4) Kommunikationsportraits sozialer Gruppen und Milieus Die Konversationsanalyse kann ein Ausgangspunkt für die Forschung der Handlungstypen bestimmter sozialer Gruppen und Milieus sein. Mit der Rekonstruktion der Kommunikationsstile und -regeln sowie der Gesprächsthemen wird ein Grundstein für eine umfassende und zuweilen langjährige Kulturanalyse eines Handlungsfeldes gelegt. Die Studien von Keim (1995) und Schwitalla (1995) über kommunikative Stilistik jugendlicher Migrantengruppen in Mannheim lassen sich beispielsweise dieser Forschungsrichtung zuordnen. (5) Institutionelle Kommunikation Im Laufe der Jahre hat sich das konversationsanalytische Interesse an Interaktionen im institutionellen Kontext verstärkt. Während in Alltagsgesprächen hauptsächlich generelle Prinzipien der Interaktion (wie Sprecherwechsel, Themenorganisationen, Reparaturen) als Untersuchungsgegenstände im Vordergrund stehen, werden in institutioneller Kommunikation typische Gesprächspraktiken, die für die kontextspezifischen Aufgaben konstitutiv sind, erforscht. In dem von Drew und Heritage (1992) herausgegebenen Sammelwerk zum Thema „Talk at work“ handelt es sich z. B. speziell um die institutionelle Dimension und ihren Zusammenhang mit den Details der Interaktionsorganisation. Weitere Studien von z. B. Drew / Sorjonen (1997), Heritage (1997) zählen gleichwohl zu diesem Forschungsgebiet. 2.1.3 Konversationsanalyse und Kommunikation mit nicht kompetenten Sprechern Die Kommunikation zwischen kompetenten und nicht kompetenten Sprechern zeichnet sich durch eine asymmetrische Verteilung sprachlichen Wissens aus. Anders als Kommunikation unter rein kompetenten Teilnehmern werden Gespräche mit nicht kompetenten Partnern oft von sprachlichen Defiziten beeinträchtigt. Mit der Entwicklung der Konversationsanalyse richtet sich die sprachwissenschaftliche Forschung seit den 1980er Jahren zunehmend auf dieses Gebiet. Erforscht werden hierbei vor allem die Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kindern, die Kommunikation zwischen Muttersprachlern ( MS ) und Nichtmuttersprachlern ( NMS ) sowie die fremdsprachenunterrichtliche Kommunikation. Anhand transkribierter authentischer Daten werden spezifische Merkmale der Konversation mit nicht kompetenten Sprechern in diesen verschiedenen Kontexten verdeutlicht. Dabei ist das sprachlernfördernde Po- <?page no="46"?> 46 2 Untersuchungsmethode tenzial in solchen Situationen ein häufig erörtertes Thema. Im Folgenden werde ich wesentliche Forschungsergebnisse in diesem Bereich skizzieren. 2.1.3.1 Besonderheiten der Erwachsenen-Kind-Kommunikation Konversationsanalytische sprachwissenschaftliche Untersuchungen über Erwachsenen-Kind-Kommunikation sind in der Regel an die Forschung der Sprachentwicklung der Kinder gebunden. Erwachsene spielen eine wesentliche Rolle bei der kindlichen Sprachentwicklung, indem sie beispielsweise die Kinder zum Sprechen motivieren, gesprächsstrukturelle Unterstützungen bieten oder auch mit ihnen in unterschiedlichen Kontexten verschiedene Themen besprechen. Was geschieht, wenn Erwachsene mit Kindern sprechen? Wie wird das Sprachenlernen der Kinder durch ihre Interaktion mit den Erwachsenen gefördert? Welche Unterstützungen bieten die sprachlich kompetenten Erwachsenen ihren kindlichen Gesprächspartnern? Wie werden potenzielle sprachlernfördernde Sequenzen in der Erwachsenen-Kind-Kommunikation organisiert? Dies sind die Themen, die man in der Forschung häufig behandelt. Morek (2012) analysiert z. B. die Eltern-Kind-Interaktion in familiären Tischgesprächen und Hausaufgabensituationen. Ihr Korpus umfasst 41 Aufnahmen aus den Familien von sechs Erstklässlern in fünf Familien mit einer Gesamtlänge von 16 Stunden. In ihrer empirischen Untersuchung analysiert sie das kindseitige Erklären. Aufgrund ihrer Ergebnisse fasst sie bei Tischgesprächen drei Interaktionsmuster ( Fordern und Unterstützen, Übernehmen und Reparieren, Dulden und Tilgen ) zusammen. Das Interaktionsmuster Fordern und Unterstützen zeichnet sich dadurch aus, dass die Eltern den Kindern immer neue Gesprächsräume zu deren entfaltender Darstellung geben, indem sie gesprächsstrukturelle Unterstützungen bieten. Daraus ergeben sich zahlreiche Gelegenheiten für kindliches Erklären. Im Gegensatz dazu erhalten die Kinder im Muster Übernehmen und Reparieren keinen Raum zur weiteren Produktion narrativer und explanativer Beiträge, weil die Eltern immer das Rederecht selbst ergreifen und die Erklärung anstelle der Kinder hervorbringen. Auch das Muster Dulden und Tilgen ist dadurch gekennzeichnet, dass die Kinder keine Gelegenheiten für ihre Erklärungsaktivitäten bekommen. Ihre erklärhaft strukturierten Sequenzen werden zwar von den Eltern als stille Zuhörer geduldet, aber anschließende Rückmeldungen bzw. Würdigungen oder Korrekturen bleiben aus. Bei Hausaufgabeninteraktionen lassen sich in Moreks (2012) Studie ebenfalls drei Interaktionsmuster ( Überlassen und Helfen, Reparieren und Übernehmen, Fordern und Unterstützen ) beobachten. Im Muster Überlassen und Helfen wird zuerst den Kindern überlassen, auf die elternseitigen Fragen wie „was musst du hier machen? “ mit einer Erklärung zu reagieren oder auf alternative Weise zu zeigen, dass sie verstanden haben. In diesem Fall bekommen die Kinder mehr <?page no="47"?> 2.1 Konversationsanalytischer Ansatz 47 Autonomie als in den anderen zwei Fällen zugeteilt. Das Muster Reparieren und Übernehmen ist ähnlich dem der Tischgespräche. Im Muster Fordern und Unterstützen finden sich deutliche Erklärungsaufforderungen seitens der Eltern. Im Verlauf der kindlichen Erkläraktivitäten beteiligt sich ein Elternteil unterstützend mit Strukturierungs- und Formulierungshilfen. Morek (2012) stellt in ihrer Untersuchung fest, dass die Schaffung der Erklärungsmöglichkeiten und die elternseitige Unterstützung dafür in unterschiedlichen Familien ganz verschieden ausfallen. In Anbetracht der Familieninteraktion für die Entwicklung der kindlichen Diskurskompetenz zieht die Forscherin daraus die Schlußfolgerung, dass diese Kinder unter Umständen unterschiedliche Erklärungsfähigkeiten erwerben. Die familiäre Prägung für die sprachliche Entwicklung der Kinder heben Ely et al. (2001) besonders hervor. Anhand empirischer Daten von Tischgesprächen in 22 Mittelschichtfamilien, die jeweils ein Kind zwischen zwei bis fünfeinhalb Jahren haben, stellen die Forscher fest, dass in Eltern-Kind-Konversationen aus der Mittelschicht häufig metasprachliche Diskurseinheiten vorkommen. Im Gesprächsverlauf produzieren die Eltern oft Sequenzen über sprachliche Phänomene. Sie erklären den Kindern, wann und wie man sprechen soll. Sie kommentieren Sprechaktivitäten und thematisieren die Fähigkeiten zum Lesen und Schreiben. Das zentrale Ergebnis dieser Studie lautet, dass amerikanische Mittelschichteltern sich in ihren Gesprächen mit den Kindern oft mit sprachorientierten Themen beschäftigen. Neben familiären Kontexten nehmen schulische Situationen auch einen wichtigen Platz in der konversationsanalytischen Forschung der Erwachsenen-Kind- Kommunikation ein. Mit Daten der Unterrichtsstunden von sechs Erstklässlern, die aus dem Sach- und Sprachunterricht zweier Grundschulen stammen, setzt sich Morek (2012) mit der schülerseitigen Erklärungsinteraktion auseinander. Dabei unterscheidet sie orchestriertes Erklärungsmuster vom solistischen Interaktionsmuster der Erklärungsaktivitäten. Unter orchestriertem Erklären versteht er das gemeinsame Erklären, wobei die lehrerseitige Frage mit einer Erklärungsaufforderung nicht von einem einzigen Schüler beantwortet, sondern ausgedehnt auf verschiedene Schüler verteilt wird. Im Gegensatz dazu zeichnet sich das solistische Erklären dadurch aus, dass ein einzelnes Kind eine Erklärung strukturiert und formuliert. Unter Umständen kann das Kind als zuständig für die Erklärung eines bestimmten Sachverhalts präsentiert werden. Nach Morek (2012) bietet die Unterrichtsinteraktion eine Vielzahl von Möglichkeiten, mit denen die Kinder sprachlich-kommunikative Erklärungserfahrungen sammeln können. Auch für die Kinder, die in ihren familiären Kontexten unzureichende Gelegenheiten zu interaktiven Erklärungsaktivitäten bekommen können, stellt der Unterricht einen neuen Gesprächsraum dar. <?page no="48"?> 48 2 Untersuchungsmethode Kommunikation mit Migrationskindern steht im Vordergrund dieses Forschungsbereichs. Kern / Lingnau / Paul (2015) befassen sich mit der Lehrer- Kind-Interaktion beim schulischen Morgenkreis, bei dem Kinder und Lehrer zusammensitzen und bestimmte Aufgaben (Fragen und Antworten, Erzählen, Berichten) erledigen. Dabei wird die Performanz eines Kindes von den anderen bewertet. Auch die Lehrer nehmen an solchen routinisierten Aktivitäten teil. Der Korpus umfasst Videodaten von drei Morgenkreisen. Die Kinder sind Migrationskinder mit verschiedenen Muttersprachen (wie Kurdisch, Polnisch und Arabisch) und weisen defizitäre deutsche Sprachfähigkeiten auf. Mit transkribierten Daten untersuchen die Forscher, ob und wie die sogennante Bildungssprache in der Lehrer-Kind-Interaktion interaktiv thematisiert wird. Der Befund verdeutlicht, dass im Morgenkreis häufig sprachliche Behandlungen vorkommen, auch wenn sie den Interaktionsverlauf beeinträchtigen. Die Lehrer greifen die von der Bildungssprache abweichenden sprachlichen Defizite auf und helfen den Kindern, ihre problematischen Formulierungen zu bewältigen. Ein wichtiges Ergebnis der Untersuchung lautet, dass die Lehrer nicht nur Unterstützungen bezüglich sprachlicher Form, sondern auch Pragmatik berücksichtigen. Sie signalisieren den Kindern, wie man die Sprache in welchen situativen Kontexten verwenden soll. Dafür bietet der aufgabenorietierte Morgenkreis einen guten Kontext. 2.1.3.2 Besonderheiten der MS-NMS-Kommunikation Was die Kennzeichen der Kommunikation zwischen Muttersprachlern und Nichtmuttersprachlern angeht, beziehen sie sich in der sprachwissenschaftlichen Forschung mit konversationsanalytischer Methode vor allem auf die muttersprachliche angepasste Sprechweise gegenüber nicht kompetenten Ausländern und die spezifischen Sequenzen, die in der MS - NMS -Kommunikation oft zur Beseitigung sprachlicher Probleme oder Missverständnisse eingesetzt werden. Die angepasste Sprechweise zeichnet sich durch simplifizierte Syntax, langsame Aussprache, Wiederholungen und reduzierte Modalität aus. Hinnenkamp (1982) untersucht z. B. dieses besondere Register anhand von 54 Aufnahmen von Konversationen zwischen 51 unterschiedlichen deutschen und elf türkischen Gesprächspartnern. Unter Gesichtspunkten von Lexikon, Morphologie, Syntax, Paralinguistik arbeitet er im interaktionalen Kontext zahlreiche Merkmale von dem sogenannten „foreigner talk“ (Ferguson 1975) heraus. In Fortführung an Hinnenkamp nimmt Roche (1989) mit seinem Datenkorpus eine weitgehende Studie zur muttersprachlichen Sprechweise in Interaktion mit nichtmuttersprachlichen Gesprächspartnern vor. Sein Korpus umfasst insgesamt ca. 720 Minuten Tonbandaufnahmen von 86 Interaktionen zwischen <?page no="49"?> 2.1 Konversationsanalytischer Ansatz 49 insgesamt 66 deutschen und dreizehn ausländischen Gesprächspartnern aus vier verschiedenen Aufnahmesituationen. Konkrekt analysiert er Äußerungsstruktur, personale Referenz, Ausdruck der Temporalität, lokale Referenz, Skopusstrukturierungen und lexikalisch-semantische Simplifizierungen des Gegenstandes. Nach Roche (1989) verfolgen die Muttersprachler in diesem Kontext eine „themenbezogene und adressatengerichtete Veränderungsstrategie“ (Roche 1989: 178). Das heißt, sie modifizieren ihre Sprechweise nach der inhaltlichen Relevanz des Mitteilungsgehalts und dem Sprachniveau der Nichtmuttersprachler. Je höher die inhaltliche Relevanz, desto stärker ist die Modifikation. Bezogen auf den Lerneffekt vom „foreigner talk“ für den Zweitspracherwerb sind sich Hinnenkamp (1982) und Roche (1989) jedoch nicht einig. Während Hinnenkamp (1982) das Schwanken zwischen verschiedenen Grammatiken und mitunter Sprachtypen als „eine nicht zu unterschätzende zusätzliche Erschwernis“ (Hinnenkamp 1982: 188) für das Sprachenlernen betrachtet, liefert Roche (1989) in seiner Studie dagegen Ansatzpunkte, dass durch den „foreigner talk“ der Lerner einer Zweitsprache größere Fortschritte erzielen kann. Kotthoff (1991) analysiert die spezifische Sprechweise der Muttersprachler aus gesprächsstilistischer Perspektive. Ihre Daten basieren auf jeweils acht deutschen und acht anglo-amerikanischen Dialogen und auf 16 interkulturellen deutsch-englischen Gesprächen zwischen Studierenden und Lehrenden an einer deutschen Universität. In den aufgezeichneten Daten geht es darum, dass die Studierenden zu den Dozenten in die Sprechstunde gehen und sie um ihre Unterschrift unter eine fiktive, hochschulpolitische Petition bitten. Konkret beschäftigt sich die Forscherin in ihrer Konversationsanalyse mit Zugeständnissen und Dissens. Mit ihren Daten ist es möglich, die beiden Untersuchungsschwerpunkte jeweils in deutschen, anglo-amerikanischen und MS - NMS -Gesprächen zu erforschen und miteinander zu vergleichen. In ihrer Untersuchung zeigt sich, dass die muttersprachlichen Sprecher gesprächsstilistische Anpassungen an die Lernerpragmatik einsetzen. Diese lassen sich hauptsächlich unter drei Aspekten darstellen. Erstens verwenden sie Paraphrasen, um die Bedeutung des Gesagten den nichtmuttersprachlichen Studierenden zu erklären. Die muttersprachlichen Dozenten verbringen viel Zeit, ihre Positionen gegenüber der Petition darzulegen. In den transkribierten Daten sind häufig mehrere Paraphrasensequenzen zu sehen. Zweitens geht es um die Gesprächsbeendigung. Im Vergleich zu den rein muttersprachlichen Konversationen in dem Korpus, wo in der Gesprächsbeendigungsphase oft Unterstützungen oder Erfolgswünsche produziert werden, sind in der Kommunikation mit nicht kompetenten Sprechern wenige solcher Beziehungsaktivitäten zu beobachten. Das Gespräch wird häufig abrupt abgeschlossen. Besonders auffallend ist, dass die amerikanischen Sprachlerner gegenüber den muttersprachlichen Dozenten <?page no="50"?> 50 2 Untersuchungsmethode kaum ausgedehnte Beziehungsaktivitäten (z. B. mehrmals Danksagungen) produzieren, wie sie in rein amerikanischen Gesprächen häufig vorkommen. Nach Kotthoff (1991) handelt es sich hier um die Anpassung seitens der nichtmuttersprachlichen Lerner. Sie weist darauf hin, dass die Lerner und die Muttersprachler gemeinsam eine „reduzierte Pragmatik“ (Kotthoff 1991: 391) produzieren. Während die Muttersprachler ihre Sprechweise nach dem Stil der Lernenden modifizieren, passen sich die Lernenden wiederum an die Muttersprachler an. Drittens weist Kotthoff (1991) darauf hin, dass sich die muttersprachliche Anpassung stärker im Bereich der Unschärfeindikation als der Schärfeindikation zeigt. Mit Unschärfeindikation sind Redemittel wie z. B. Modalpartikel, die die Vagheit mindern können, gemeint. Unter Schärfeindikation versteht man verstärkende Redemittel wie „überhaupt“, „wirklich“ und „durchaus“. Kotthoff (1991) zufolge geht die muttersprachliche Anpassung eher in Richtung der Unschärfeindikation, während die verstärkenden Redemittel vermutlich wegen ihrer klarheitsfördernden Funktion gegenüber den ausländischen Studierenden kaum reduziert werden. Das von Elisabeth Gülich und Ulrich Dausendschön-Gay geleitete Projekt „Kontaktsituationen“ der Universität Bielefeld in den 1980er Jahren behandelt die spezifischen Sequenzen zur Beseitigung sprachlicher Probleme oder Missverständnisse. Ihre Daten bestehen aus Aufnahmen von natürlichen, authentischen Kommunikationssituationen. Ausgehend davon, dass „Gesprächspartner verschiedener Muttersprachen in natürlichen Interaktionssituationen über bestimmte Verfahren oder Strategien verfügen, mit deren Hilfe sie eine Verständigung auch bei reduzierter Kompetenz eines Partners in der Kommunikationssprache erreichen“, (Dausendschön-Gay 1987: 61) entstehen in diesem Forschungsprojekt mehrere ethnomethodologische konversationsanalytische Untersuchungen über z. B. Reparaturhandlungen, Erklärungsprozesse, Missverständnisse, metadiskursive Handlungen und Redebewertungen. Mit der Konversationsanalyse verdeutlicht man, wie und in welchem Ausmaß solche besonderen Strategien in erschwerten Situationen in MS - NMS -Kommunikation eingesetzt werden. Obwohl Aussagen über den Lerneffekt durch diese Strategien wegen der Struktur des Datenmaterials nicht erwartbar sind, weist Dausendschön-Gay (1987) doch darauf hin, dass der Einsatz solcher Aktivitäten der Gesprächsteilnehmer (wie Wortsuchprozesse) als „wichtige Teile eines systematisch ablaufenden Erwerbsprozesses“ (Dausendschön-Gay 1987: 77) zu interpretieren ist. <?page no="51"?> 2.1 Konversationsanalytischer Ansatz 51 2.1.3.3 Fremdsprachenunterrichtliche Kommunikation Ein weiteres Gebiet der Kommunikation mit nicht kompetenten Sprechern ist die Interaktion mit Sprachlernern im Unterricht, wo der Zweitspracherwerb als das Hauptziel gesetzt wird. Angeregt von Firth und Wagner (1997), die behaupten, dass sich die Zweitspracherwerbsforschung statt mentalistischer und kognitivistischer Ansätze vermehrt sozial und kontextuell orientieren soll, lenkt man für diese Forschungsrichtung seit Ende der 1990er Jahre zunehmend Aufmerksamkeit auf die Konversationsanalyse. Die detaillierte Erforschung mit konversationsanalytischer Methode zielt darauf ab, einen Blick auf den Lernprozess zu ermöglichen und damit die soziokulturelle Grundlage für den Zweitspracherwerb herauszufinden. Mit dem starken Zulauf der Konversationsanalyse in der Zweitspracherwerbsforschung entstehen in den letzten Jahren zahlreiche Untersuchungen von Unterrichtsdiskursen. Dabei werden fremdsprachenunterrichtliche Interaktionen auf einer Mikroebene erforscht. Konkret lassen sich diese Studien auf drei Ebenen (Lehrerverhalten, Lerneraktivitäten, Organisation der Gespräche) zusammenfassen. Im Folgenden werde ich anhand ausgewählter Arbeiten auf diese wichtigen Themenbereiche eingehen, die in der Konversationsanalyse für den Zweitspracherwerb behandelt werden. Konversationsanalytische Studien zur Kommunikation im Fremdsprachenunterricht verdeutlichen das Verhalten der Lehrperson aus einer interaktionalen Perspektive. Schwab (2009) analysiert die Funktion der Lehrperson bei Gesprächsinitiativen im lehrerzentrierten Fremdsprachenunterricht einer deutschen Hauptschule. Seine Daten bestehen aus 13 digitalen Video- und Audioaufnahmen des Englischunterrichts im Abstand von ca. vier Wochen. Aus sequenzieller Perspektive fasst er seine Untersuchungsergebnisse in zwei Kategorien von Sprachhandlungen, die die Lehrperson initiiert, zusammen. Dabei geht es zum einen um den pädagogischen Austausch. Damit meint er das sogennante IRF -Modell (Initiation-Response-Feedback). Das heißt, die Lehrperson stellt zuerst eine Frage, auf die sie meinstens schon die Antwort weiß. Die Lerner reagieren darauf mit einer kurzen Antwort und schließlich bewertet die Lehrperson die Antwort der Lerner. Zum anderen handelt es sich um das sogennante Nachbarschaftspaar (adjacency pair), das als eine der häufigsten Formen von Konversationssequenzen im Alltag erachtet wird (Sacks et al. 1974). Konkret bezeichnet man mit Nachbarschaftspaar die minimale Einheit einer Konversation. Es besteht aus einem initiativen und einem reaktiven Sprechakt. Dazu gehören beispielsweise Begrüßung-Begrüßung, Kompliment-Annahme / Rückweisung Frage-Antwort. Bei den meisten Beispielen in seinem Korpus geht es um Nachbarschaftspaare mit offenen Fragesequenzen. Schwab (2009) ist der Auffassung, dass Nachbarschaftspaare in der Regel offen für die Weiterführung <?page no="52"?> 52 2 Untersuchungsmethode eines Gesprächs sind, während es im pädagogischen Austausch eher um ein in sich geschlossenes Schema handelt. Während Schwab (2009) sich mit dem Lehrerverhalten bei Gesprächsinitiativen im allgemeinen Fremdsprachenunterricht befasst, beschäftigt sich Koshik (2002) mit den spezifischen Sequenzen der Fehlerkorrektur im fremdsprachenunterrichtlichen Kontext. Konkret setzt sie sich mit den sogenannten DIU s (Designedly Incomplete Utterances) auseinander. Unter DIU s versteht man einen besonderen Typ von Äußerungen der Lehrperson, mit denen die Lerner elizitiert werden können. DIU s sind weder syntaktische Fragen noch vollständige Formulierungseinheiten. Sie treten in unvollständiger Form auf. Die Lehrperson formuliert eine unvollständige Äußerung mit den Worten des Lerners und motiviert ihn damit, diese Äußerung zu vervollständigen. Koshiks (2002) Korpus besteht aus Videoaufnahmen von acht Sitzungen für das fremdsprachliche Schreiben (Englisch), in denen die Lehrperson die Lerner zur Selbstkorrektur elizitiert. Mit konversationsanalytischer Methode verdeutlich sie mehrere Typen von DIU s in spezifisch situativen Kontexten. Ferner vergleicht sie diese mit ähnlichen sprachlichen Handlungen in alltäglichen Konversationen und zeigt damit, wie die alltäglichen DIU s modifiziert im institutionellen fremdsprachlichen Unterricht verwendet werden. Mit der soziokontextuellen Wende in der Zweitspracherwerbsforschung wird das Sprachenlernen nicht nur als ein individuell kognitiver Lernprozess, sondern auch als eine situative Praxis betrachtet. Die Bedeutung der lernerseitigen Partizipation am Lernprozess wird besonders hervorgehoben. Dazu schreiben Mondada / Pekarek Doehler (2004) folgendermaßen: language leaning is rooted in learners’ participation in organizing talk-in-interaction, structuring participation frameworks, configuring discourse tasks, interactionally defining identities, and becoming competent members of the community (or communities) in which they participate, whether as students, immigrants, professionals, or indeed any other locally relevant identities. (Mondada / Pekarek Doehler 2004: 504) In dieser Hinsicht geht das Sprachenlernen über den kognitiven Erwerb der sprachlichen Form hinaus und bezieht den situativen Lernprozess als einen relevanten Bestandteil beim Zweitspracherwerb mit ein. Young / Miller (2004) untersuchen beispielsweise die Entwicklung der interaktionalen Kompetenz im fremdsprachlichen Lehr-Lern-Kontext. Als Untersuchungsgegenstand nehmen sie „revision talk“ zwischen einer Lehrperson und einem vietnamesischen Studierenden, der Englisch lernt. Mit „revision talk“ bezeichnet man eine institutionelle Lehr-Lern-Situation, in der die Lehrperson und der Lerner gemeinsam den vom Lerner verfassten englischen Text überarbeiten. Für den Korpus zeichnen sie vier wöchentlich stattfindende „revision talks“ mittels Videotechnik auf. <?page no="53"?> 2.1 Konversationsanalytischer Ansatz 53 Die transkribierten Daten untersuchen sie aus konversationsanalytischer Perspektive. Ihr Befund zeigt eine deutliche Entwicklung der lernerseitigen Partizipation an dem Lernprozess. In der ersten Aufnahme spielt vor allem die Lehrperson eine aktive Rolle, indem sie die Probleme im Text identifiziert, erklärt und Hinweise gibt, wie der Lerner seinen Text korrigieren bzw. verbessern kann. Dagegen beteiligt sich der Studierende nur beschränkt an der Interaktion. Er fasst hautpsächlich seinen Text nach den Vorschlägen der Lehrperson neu. Bemerkenswert ist jedoch, dass der Studierende in den späteren Aufnahmen eine deutlich aktivere Rolle übernimmt, ohne auf die Hinweise der Lehrperson zu warten. Nach Young / Miller (2004) ist diese Entwicklung der interaktionellen Kompetenz des Lerners zum Teil auf das Lehrerverhalten zurückzuführen. Die veränderten Strategien der Lehrperson leisten einen Beitrag zur Förderung der lernerseitigen Beteiligung und somit für seinen Lernprozess. Zur Bedeutung der Lehrperson für die Entwicklung der interaktionalen Kompetenz schreiben Young / Miller (2004): in fact, the effectiveness of the instructor is precisely in how she manages a division of participation that allows for growth on the part of the student. (Young / Miller 2004: 533) Neben der Analyse des Lehrerverhaltens zählt in der konversationsanalytischen Fremdsprachenunterrichtsforschung das Thema der Lerneraktivitäten zu den häufig untersuchten Forschungsfeldern. Eine Übersicht über die Rolle der Lerner im Fremdsprachenunterricht aus der sozio-interaktionalen Perspektive liefern Mondada / Pekarek Doehler (2004). Für ihre konversationsanalytische Untersuchung benutzen sie Daten von Diskursen im Fremdsprachenunterricht (Französisch als Fremdsprache) in zwei schweizerischen Schulen. Die Durchführung der „tasks“ (wie z. B. Grammatikübung) in Lehr-Lern-Situationen wird detailliert analysiert. Ihnen zufolge unterliegen solche Situationen weder deduktiven Definitionen, noch lösen sie individuell vorbestimmte Leistungsfähigkeiten aus. Vielmehr bearbeiten die Lerner variable Ressourcen und verwenden sie dann angepasst an verschiedenen Stellen im Lernprozess. So wird die Durchführung der Zielsetzung eher als ein dynamischer sozialer Interaktionsprozess betrachtet, in dem neue Lernobjekte und potenzielle Lernsequenzen durch die Aktivitäten der Lerner entstehen können. Ebenfalls davon ausgehend, dass sich die Beteiligung der Lerner an der fremdsprachenunterrichtlichen Kommunikation nicht auf ihre Reaktion auf die lehrerseitigen Fragen beschränken, untersucht Schwab (2009) die Lerneraktivitäten bei den Gesprächsinitiativen. Aufgrund seiner empirischen Untersuchung weist der Autor darauf hin, dass die lernerseitigen Beitragsinitiativen spontansprachlich und im Kontext von lehrerinitiierten Rahmenhandlungen als Einschubseqeunzen eingebettet sind. Konkret analysiert er die Lernerini- <?page no="54"?> 54 2 Untersuchungsmethode tiativen unter vier Aspekten, nämlich in ihrer sequenziellen Positionierung, in ihrer semantischen bzw. inhaltlichen Positionierung, in ihrer relationalen Positionierung (im Verhältnis zu den sprachlichen Aktivitäten der Lehrkraft und der Mitschüler) und in ihrer räumlich-interaktionalen Positionierung. Damit ermöglicht Schwab (2009) ein Gesamtbild, mit dem man die lernerinitiierten Gesprächssequenzen als eigenständige Sprachhandlungen innerhalb des lehrerzentrierten Unterrichts betrachten kann. Bezogen auf die Organisation der Gespräche im Fremdsprachenunterricht werden in der Konversationsanalyse vor allem Sprecherwechsel (turn taking) und Reparatur erforscht. Das System des Sprecherwechsels gilt als ein grundsätzliches Element der Konversation. Die Organisation des Sprecherwechsels gehört zu den frühesten Forschungsgebieten der Konversationsanalyse (Sacks et al. 1974). Diese Methode zeigt, dass sich der Fremdsprachenunterricht durch seine spezifischen Systeme des Sprecherwechsels auszeichnet. Eine der bisher umfassendsten Studien dazu stellt Seedhouses (2004) empirische Forschung dar. Er arbeitet heraus, dass es unmöglich ist, von einem einzigen System des Sprecherwechsels in der fremdsprachenunterrichtlichen Kommunikation auszugehen. Die Organisation des Sprecherwechsels im Fremdsprachenunterricht hängt vom pädagogischen Fokus ab. In Kontexten mit unterschiedlichen pädagogischen Zielen sind verschiedene Systeme des Sprecherwechsels zu beobachten. In seiner Studie findet Seedhouse (2004) vier fremdsprachenunterrichtliche Kontexte, die verschiedene pädagogische Fokusse verfolgen: - Form und Exaktheit - Bedeutung und Fluss - aufgabenorientiert - prozedural. Nach seinem Befund variieren die Systeme des Sprecherwechsels deutlich in diesen verschiedenen Kontexten. Während im prozeduralen Unterrichtskontext z. B. die lehrerseitigen Monologe ohne Sprecherwechsel einen großen Anteil ausmachen, sind im Kontext, der sich an Bedeutung und Fluss orientiert, zahlreiche Sequenzen mit Sprecherwechsel zu sehen. Des Weiteren lässt sich in dieser Studie feststellen, dass die Organisation des Sprecherwechsels im Fremdsprachenunterricht nicht ausschließlich der Steuerung der Lehrperson unterliegt. Die Lerner leisten lokal und kreativ auch einen Beitrag zur Gestaltung des Sprecherwechsels. Ein besonderes Thema, das in der Kommunikation mit nicht kompetenten Sprechern häufig behandelt wird, ist die Reparatur. Während die Reparaturhandlungen in nicht-institutionellen MS - NMS -Konversationen eher spontan und interapersonal sind, verdeutlicht die konversationsanalytische Zweit- <?page no="55"?> 2.1 Konversationsanalytischer Ansatz 55 spracherwerbsforschung, wie die Reparatursequenzen im Fremdsprachenunterricht systematisch organisiert werden. Jung (1999) untersucht Reparatursequenzen anhand von Videodaten (60 Minuten) aus einem Fremdsprachenunterricht (Englisch als Fremdsprache) an einer amerikanischen Universität für Erwachsene aus Afrika, Ostasien und Südamerika. Der Fokus des aufgenommenen Unterrichts liegt darin, das Hörverständnis und die Sprechfähigkeit der Lerner zu fördern und damit ihre kommunikative Kompetenz voranzutreiben. Die empirische Untersuchung mit konversationsanalytischer Methode zeigt, dass die „participation frameworks“ ( Jung 1999: 167) eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Reparatursequenzen im Fremdsprachenunterricht spielen. Jung (1999) unterscheidet dabei „learner role-playing activities“ von „teacher-fronted activities“ und beschreibt die Organisation der Reparatursequenzen in dem jeweiligen Kontext. In „learner role-playing activities“, in denen die Lerner Dialoge in Form vom Rollenspiel durchführen, manifestieren sich verschiedene Variationen der Reparatursequenzen, wie selbstinitiiert und selbstdurchgeführt, selbstinitiiert und fremddurchgeführt, fremdinitiiert und fremddurchgeführt. Dagegen zeichnen sich „teacher-fronted activities“, in denen die Lehrperson den Lernern Fragen stellen, durch fremdinitiierte und fremddurchgeführte Reparatursequenzen aus. Angeregt von Jung (1999) und Kasper (1986), die ausführen, dass die Organisation der Reparatursequenzen nicht monolithisch, sondern im Zusammenhang mit dem pädagogischen Fokus steht, führt Seedhouse (2004) eine weitere empirische Studie mit konversationsanalytischer Methode an. Konkret analysiert er die Gestaltung der Reparatursequenzen in drei fremdsprachenunterrichtlichen Kontexten, die jeweils Form und Exaktheit, Bedeutung und Fluss und aufgabenorientierte Interaktion als ihre pädagogischen Ziele setzen. Anhand seiner Daten beschreibt er die Reparatursequenzen im Fremdsprachenunterricht unter den folgenden vier Gesichtspunkten: - typische Beteiligten bei der Reparatur - typische Trajektorien der Reparatur - typische Typen der Reparatur - typischer Fokus der Reparatur (d. h. was ist reparierbar) (Seedhouse 2004: 142). Seine Untersuchung bestätigt, dass es zwischen dem pädagogischen Fokus und der Organisation der Reparaturen eine reflexive Beziehung gibt. Ändert sich der pädagogische Fokus, kommt eine veränderte Reparaturgestaltung vor. Ein Blick auf die Forschungslage zeigt, dass die konversationsanalytische Methodologie ein hilfreiches Instrumentarium bietet, um die Interaktionsorganisation im Fremdsprachenunterricht zu rekonstruieren und die enge Verknüp- <?page no="56"?> 56 2 Untersuchungsmethode fung von sozialer Interaktion und Spracherwerb zu erfassen. Zur Bedeutung der Konversationsanalyse für die Fremdspracherwerbsforschung schreibt Schwab (2009): Die konversationsanalytische Methodologie kann also keine unmittelbaren Antworten auf die in der Psycholinguistik gestellten Fragen nach Lernen / Erwerben als individuellkognitivem Prozess geben. Sie kann aber helfen, fremdsprachliches Lernen / Erwerben zu erklären, indem das Bild von Spracherwerb um eine sozial-interaktive Ebene erweitert wird. (Schwab 2009: 109) 2.2 Zu den Daten Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine empirische Untersuchung der chinesisch-deutschen Tandeminteraktion mit konversationsanalytischer Methode. Im Folgenden werde ich darauf eingehen, wie die Daten erhoben wurden. Außerdem werde ich relevante Angaben zu den Probanden machen. Schließlich wird die Aufbereitung der Daten für meine Forschung erläutert. 2.2.1 Datenerhebung Am Anfang aller Gesprächsaufnahmen im chinesisch-deutschen Tandem fand ich in meinem Freundeskreis in Freiburg vier Tandempaare, die bereit waren, an meinem Forschungsprojekt teilzunehmen. Außerdem vermittelte ich einer chinesischen Studentin, die zum Zeitpunkt der Aufnahmen gerade in Freiburg angekommen war, auf ihren Wunsch hin eine deutsche Tandempartnerin. Mit ihrem Einverständnis wurde sie auch in meine Forschung aufgenommen. Darüber hinaus versuchte ich auch, potenzielle Probanden durch Aushänge in der Universität und Ankündigungen im Sozialnetzwerk (wie Facebook) oder Internetplattform (wie Verband der chinesischen Studierenden in Freiburg) zu finden. Da hat sich aber nichts ergeben. Es gelang mir also, insgesamt fünf Tandempaare zu Zwecken der Untersuchung zu gewinnen. Für die Auswahl der Probanden setzte ich hauptsächlich zwei Kriterien. Erstens sollten die Teilnehmer die Grundvoraussetzung der Tandemidee erfüllen. Der eine spricht Chinesisch als Muttersprache und lernt Deutsch. Der andere soll ein deutscher Muttersprachler sein, der Chinesisch lernt. Sie versuchen, einander beim Sprachenlernen zu helfen. Zweitens war es wichtig, dass sie sich regelmäßig und möglichst länger als vier Monate treffen. Von meiner Seite aus wurden Unterstützungen bezüglich des Sprachenlernens bereitgestellt, sowohl für die Chinesisch lernenden deutschen Probanden <?page no="57"?> 2.2 Zu den Daten 57 als auch für die Deutsch lernenden chinesischen Probanden. Je nach ihrem individuellen Bedarf bot ich z. B. Hilfe bei ihren Übersetzungsaufgaben, Textkorrekturen u. a. an. Bei der Durchführung der Aufnahmen wurde ein kleiner Aufnahmeapparat benutzt. Die Tandempartner trafen sich normalerweise in der Universität, im Café oder zu Hause. Der Apparat wurde auf den Tisch zwischen die beiden Teilnehmern gelegt. Zumeist war ich bei den Aufnahmen der Tandemgespräche anwesend, da ich dadurch einen genauen Blick in den Interaktionsverlauf gewinnen konnte. Diese Methode wird in der sozialwissenschaftlichen Feldforschung als teilnehmende Beobachtung bezeichnet. Sie zielt darauf ab, Erkenntnisse über das Handeln und das Verhalten der Teilnehmer zu gewinnen. Dadurch werden für die Forscher relevante Aspekte des Handelns oder des Verhaltens in der real ablaufenden Situation zugänglich. Es gibt auch Daten, die die Probanden selber mit dem Aufnahmeapparat erhoben haben und mir aushändigten. Diese Daten machen aber im Gesamtkorpus einen relativ kleinen Anteil aus. Im Laufe der Aufnahmen brach ein Tandempaar schon nach ungefähr drei Monaten die Tandemgespräche ab. Bei einem anderen halfen die beiden Teilnehmer einander hauptsächlich bei schriftlichen Hausaufgaben. Mündliche Gespräche zu Alltagsthemen waren in ihrer Tandeminteraktion kaum zu beobachten. Die beiden Gruppen wurden schließlich nicht in die konversationsorientierte Analyse aufgenommen. Die Gesamtdaten der Tandemgespräche für die vorliegende Arbeit lassen sich tabellarisch wie folgt aufzeigen: Probanden Aufnahmen Zeitraum Li & Lukas ca.16 Stunden 08. 2012-02. 2013 Ting & Linda ca.14 Stunden 10. 2012-06. 2013 Le & Max ca. 5 Stunden 01. 2013-07. 2013 Summe ca. 35 Stunden * Aus Gründen der Anonymität sind alle Namen geändert. Am Schluß der Aufnahmen führte ich Interviews mit den chinesischen Lernern durch. Dabei wurde vorwiegend nach ihrem jeweiligen persönlichen Hintergrund bezüglich des Sprachenlernens und ihren eigenen Meinungen zum Tandem gefragt. An verschiedenen Stellen der vorliegenden Arbeit stütze ich mich bei der Darstellung auf Angaben aus den aufgezeichneten Interviews. <?page no="58"?> 58 2 Untersuchungsmethode 2.2.2 Zu den Probanden Am Beispiel von drei Fallbeispielen soll in der vorliegenden Arbeit gezeigt werden, wie die Interaktionen für das Sprachenlernen im chinesisch-deutschen Tandem im Einzelnen ablaufen. Als Hintergrund zur Gesprächsanalyse möchte ich hier einige relevante Informationen über die jeweiligen Probanden zusammenstellen. Tandempaar 1: Li & Lukas (1) Li: Li ist zum Zeitpunkt der Aufnahmen 25 Jahre alt und studiert in Deutschland im zweiten Jahr Wirtschaft in der Sprache Englisch. Gleichzeitig besucht sie einen Deutschkurs im Sprachlehrinstitut der Universität. Nachdem sie ein Bachelorstudium im Fach Anglistik in Peking erfolgreich abgeschlossen hatte, begann sie mit einem Masterstudium im Fach Wirtschaft in Deutschland. Bevor sie nach Deutschland gekommen war, hatte sie die deutsche Sprache zwei Monate lang gelernt. In Freiburg geht sie zweimal pro Woche zum Deutschkurs. Ihren Tandempartner lernte sie über ihren Freund kennen. Sie trafen sich durchschnittlich zweimal pro Woche im Semester, entweder in der Wohnung oder in einem Café. Außerdem wurde Li zweimal von ihrem Tandempartner zur Gruppearbeit mit deutschen Studierenden eingeladen. Sie wohnt in einer WG mit drei deutschen, zwei amerikanischen und einem chinesischen Mitbewohnern. In ihrer Freizeit arbeitet sie in einem Hotel, wo die Arbeitssprache Deutsch ist. (2) Lukas: Lukas ist zum Zeitpunkt der Aufnahmen 25 Jahre alt und studiert Sinologie als Hauptfach im zweiten Jahr in Deutschland. Während des Studiums absolvierte er ein Austauschsemester in China. In den Semesterferien war er mehrmals in China, um seine chinesische Freundin zu besuchen. Allmählich kann er fließend Chinesisch sprechen. Tandempaar 2: Le & Max (1) Le: Le ist zum Zeitpunkt der Aufnahmen 22 Jahre alt und studiert im dritten Semester des Masterstudiums im Fach Germanistik. Nachdem sie ein Bachelorstudium der Germanistik in China erfolgreich abgeschlossen hatte, begann sie mit dem Masterstudium in Deutschland. Während des Bachelorstudiums absolvierte sie zwei Austauschsemester in Deutschland. Sie hat in meinem Korpus ein relativ hohes Sprachniveau auf Deutsch. Ihr Tandempartner Max wurde von <?page no="59"?> 2.2 Zu den Daten 59 ihrer früheren deutschen Tandempartnerin vermittelt, als sie ihr Studium abgebrochen hatte und in eine andere Stadt umgezogen war. Sie traf sich mit ihrem Tandempartner in der Regel einmal pro Woche, entweder in der Universität oder in ihrer WG . Außerdem arbeitet Le während des Studiums in Deutschland in einem Minijob, und zwar durchschnittlich anderthalb Tage pro Woche in einem Restaurant, wo die Arbeitssprache Deutsch ist. (2) Max: Max ist zum Zeitpunkt der Aufnahmen 25 Jahre alt und studiert im zweiten Semester des Bachelorstudiums das Fach Sinologie. Vorher beendete er sein Bachelorstudium im Fach Betriebswirtschaftslehre erfolgreich. Er kommt aus Süddeutschland und spricht mit einem deutlichen Akzent. Tandempaar 3: Ting & Linda (1) Ting: Ting ist zum Zeitpunkt der Aufnahmen 22 Jahre alt und studiert Jura im zweiten Semester des Masterstudiums in Deutschland. Nachdem sie ihr Bachelorstudium im Fach Jura erfolgreich abgeschlossen hatte, machte sie einen dreimonatigen Deutschkurs in China. Danach kam sie nach Deutschland. Da ihr Sprachniveau damals für ein Studium in Deutschland noch nicht ausreichte, besuchte sie ein Jahr lang Sprachkurse in Deutschland. Anschließend fing sie ihr Masterstudium im Fach Jura an einer Universität in Deutschland an. Ihre Tandempartnerin lernte sie durch mich kennen. Schon nach dem ersten Treffen freundeten sie sich an. Durchschnittlich treffen sie sich einmal pro Woche in einem Café in der Universität. Neben Gesprächen helfen sie einander bei Hausaufgaben. Ting bittet Linda häufig, ihre Seminararbeit zu korrigieren oder Texte in ihrem Lehrbuch zu erklären. (2) Linda: Linda ist zum Zeitpunkt der Aufnahmen 25 Jahre alt und studiert Sinologie als Hauptfach im letzten Semester des Magisters. Als ich die Datenerhebung abschloss, begann sie mit ihrer Promotion im Fach Sinologie. Da ihr Nebenfach Jura ist, vermittelte ich sie der chinesischen Jurastudentin Ting. Ting suchte nämlich eine Muttersprachlerin, die ihr bei ihrem Studium helfen könnte, während Linda auf der Suche nach einer chinesischen Tandempartnerin war. Während ihres Sinologiestudiums absolvierte Linda zwei Austauschsemester in China. Chinesisch kann sie schon fließend sprechen. Das erste Treffen mit Ting wurde von ihr als „Liebe auf den ersten Blick“ bezeichnet. Beim Tandemtreffen spricht sie mit Ting über viele verschiedene Themen aus Alltag und Studium. <?page no="60"?> 60 2 Untersuchungsmethode Außerdem bringt sie auch ihre Texte mit. Während sie ihre chinesischen Texte vorliest, korrigiert Ting ihre Aussprache und erklärt auch Textstellen, die Linda nicht versteht. 2.2.3 Die Aufbereitung der Daten Wie in Kapitel 2.1.1 dargelegt, unterscheidet sich die Konversationsanalyse von vielen Forschungsmethoden in der Sprach- und Sozialwissenschaft darin, dass sie nicht von zu überprüfenden Hypothesen ausgeht. Erst aus der Beschäftigung mit den Datenmaterialien für den Untersuchungsgegenstand ergeben sich die Fragestellungen der Forschung. Das heißt, die Untersuchung mit konversationsanalytischer Methode ist ein reflexiver Prozess, der sich im Rahmen des Untersuchungsgegenstandes zwischen Daten und Fragestellungen alternierend bewegt. Der Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung ist die Frage nach dem Interaktionsprozess für das Sprachenlernen im Tandem. Was passiert, wenn sich zwei Tandempartner treffen? Wie interagieren sie miteinander? Wie verläuft der Lernprozess in Tandeminteraktionen? Um die Fragestellungen der Forschung in diesem Rahmen zu entwickeln und zu konkretisieren, versuchte ich zuerst, durch intensives Einhören in alle Aufnahmen zu Kategorien zu kommen, die in der chinesisch-deutschen Tandeminteraktion relevant sind. Mit Protokollen bzw. ersten Transkripten von mehreren interessanten Stellen stellte ich schließlich fest, dass die Gespräche im Tandem sowohl Merkmale der unterrichtlichen als auch der alltäglichen Interaktion enthalten. Einerseits kann die Tandeminteraktion mit dem Ziel - Sprachenlernen mit Unterstützung des muttersprachlichen Gesprächspartners - häufig als Lehr-Lern-Aktivität wie im institutionellen Fremdsprachenunterricht betrachtet werden. Andererseits zeichnet sie sich aber durch deutlich alltägliche kommunikative Eigenschaften aus. Besonders beachtenswert sind außerdem die konversationellen Erzählungen, die die chinesischen Lerner produzieren. Dabei tauchen interessante Phänomene auf, die in der bisherigen Erzählforschung kaum thematisiert werden. Beispielsweise beenden die Probanden in meinen Daten die Erzählungen, indem sie das Gesprächsthema zur landeskundlichen Diskussion oder zur sprachlichen Bearbeitung weiterführen. In konversationellen Erzählungen unter Muttersprachlern ist das nicht zu finden. Aufgrund dieser Beobachtungen entschied ich mich für drei Hauptkategorien meiner empirischen Analyse. Erstens geht es um das Tandemgespräch als eine besondere kommunikative Gattung, die zwischen Unterrichtsinteraktion und Alltagsgespräch liegt. Mit konversationsanalytischer Methode möchte ich <?page no="61"?> 2.2 Zu den Daten 61 den Wechselmechanismus zwischen der Lehr-Lern-Sequenz und dem Alltagsgespräch beleuchten und damit die relevanten Gattungsmerkmale des Tandems herausarbeiten. Zweitens geht es um konversationelle Erzählungen der chinesischen Lerner. Konkret möchte ich anhand meiner Daten die mündliche Erzählfähigkeit der chinesischen Studierenden analysieren. Da die Erzählungen im Tandem interaktiv hervorgebracht werden, spielt die Rolle der muttersprachlichen Gesprächspartner auch eine wichtige Rolle. Deshalb stehen drittens die Beiträge der muttersprachlichen Laienlehrpersonen im Mittelpunkt meiner Analyse. Da in der Regel eigentlich nur ein Teil der Gesprächsdaten für die Untersuchung der vorliegenden Kategorien von Interesse ist, ist die Transkripition der Gespräche von Anfang bis Ende forschungspraktisch unökonomisch. Deshalb wurde eine Auswahl der relevanten Gesprächsteile durchgeführt. Ich hörte dafür die aufgezeichneten Tandemgespräche in meinem Korpus zum Teil mehrmals und fertigte parallel Protokolle an, um angesprochene Themen, den Wechsel zwischen der Lehr-Lern-Sequenz und dem Alltagsgespräch und weitere Auffälligkeiten zu dokumentieren. Danach erfolgte auf Grundlage dieser Orientierungsprotokolle die Auswahl der relevanten Teile. Schließlich transkribierte ich die ausgewählten Gesprächsausschnitte nach dem gesprächsanalytischen Transkriptionssystem 2 ( GAT 2). Bei der Datenaufbereitung in Form der Transkription wurde darauf geachtet, dass sie möglichst alle Merkmale der gesprochenen Sprache (z. B. Dehnungen, Verzörgerungen, Pausen) genau wiedergibt. Die den Transkriptionen zugrunde liegende Transkriptionskonvention sieht im Einzelnen wie folgt aus: ? hoch steigend , mittel steigend - gleichbleibend ; mittel fallend . tief fallend = schneller, unmittelbarer Anschluss neuer Sprecherbeiträge [ ] Überlappungen und Simultansprechen (.) Mikropause, geschätzt, bis ca. 0.2 Sek. Dauer (-) kurze geschätzte Pause von ca. 0.2-0.5 Sek. Dauer (--) mittlere geschätzte Pause v. ca. 0.5-0.8 Sek. Dauer (---) längere geschätzte Pause von ca. 0.8-1.0 Sek. Dauer <?page no="62"?> 62 2 Untersuchungsmethode (0.5) gemessene Pausen : Dehnung, Längung, um ca. 0.2-0.5 Sek. : : Dehnung, Längung, um ca. 0.5-0.8 Sek. : : : Dehnung, Längung, um ca. 0.8-1.0 Sek. °h / h° Einbzw. Ausatmen und_äh Verschleifungen innerhalb von Einheiten äh öh äm Verzögerungssignale, sog. "gefüllte Pausen" hm ja Rezipienzsignale ak ZENT Fokusakzent haha hehe hihi silbisches Lachen ((lacht)) Beschreibung des Lachens <<lachend> > Lachpartikeln in der Rede, mit Reichweite <<erstaunt> > interpretierende Kommentare mit Reichweite ( ) unverständliche Passage ohne weitere Angaben ↑ kleinerer Tonhöhensprung nach oben ↓ kleinerer Tonhöhensprung nach unten Die chinesische Sprache, die in meinen Daten enthalten ist, wurde zuerst ins Chinesische in Form der Schriftzeichen transkribiert. Anschließend gab ich direkt in der Zeile darunter die wörtliche Übersetzung an, die manchmal von korrekten deutschen Formulierung abweicht. In der dritten Zeile geht es um die sinngemäße deutsche Übersetzung. <?page no="63"?> 3.1 Das Konzept: kommunikative Gattung 63 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung 3.1 Das Konzept: kommunikative Gattung Der Begriff „kommunikative Gattung“ wurde von dem Soziologen Thomas Luckmann geprägt. Nach Luckmann (1986: 201) „gibt es wohl in allen Gesellschaften kommunikative Handlungen, in denen sich der Handelnde schon im Entwurf an einem Gesamtmuster orientiert, als dem Mittel, das seinen Zwecken dient.“ Im kommunikativen Handeln bilden sich also Formen aus. Sie werden in der Gesellschaft eingebettet und stehen wiederum den Handelnden zur Verfügung. Als Muster bieten sie einen Orientierungsrahmen, in dem sich die Handelnden solcher verfestigten Formen bedienen. Luckmann (1986: 201) weist weiter darauf hin, dass „solches Gesamtmuster weitgehend die Auswahl der verschiedenen Elemente aus dem kommunikativen ‚Code‘ bestimmt, und der Verlauf der Handlung hinsichtlich jener Elemente, die vom Gesamtmuster bestimmt sind, verhältnismäßig gut voraussagbar ist“. Die formalisierten Muster sind mit der Zeit Teile des gesellschaftlichen Wissensvorrats geworden. Sie stellen Lösungen eines wiederkehrenden Problems bereit (Günthner / Knoblauch1997: 282). Die Entwicklung der Theorie und Methodologie kommunikativer Gattungen ist auf die Soziologie zurückzuführen. In den 1970er Jahren wurde der Sinn- und Handlungsbegriff von Max Weber durch Schütz (Schütz / Luckmann 1975) weiterentwickelt, indem er den Fokus vom subjektiven Sinn auf dessen Abbildung in sozialen Handlungen verschob. Dies gab entscheidende Impulse für die Ethnomethodologie und Konversationsanalyse und weitergehend für die pragmatisch orientierte Sprachwissenschaft (Auer 1999: 115). In diesem Zusammenhang baut Luckmann, ein bedeutender Vertreter der Wissenssoziologie, sein Konzept „kommunikative Gattung“ auf Vološinov (1929 / 1975) und Bachtin (1959 / 1986) auf. Vološinov (1929 / 1975) und Bachtin (1959 / 1986) vertreten die Meinung, dass Sprache eng mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit verknüpft ist und ihren eigentlichen Sitz in sozialen Situationen hat. Sprache realisiert sich in Interaktionen, indem man sich in kommunikativen Situationen der in der Gesellschaft verfestigten Gattungen bedient. <?page no="64"?> 64 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung Sprache, Gesellschaft, Kultur Für Luckmann (1986) ist die Sprache konstitutiv bei der Vermittlung gesellschaftlichen Wissens und dem Aufbau der sozialen Wirklichkeit. Dies beschreibt er folgendermaßen: Intersubjektiv verbindliche Erfahrungsschemata, auf elementaren Typisierungen der Wirklichkeit aufbauend und in verschiedene Handlungsschemata einfügbar, bilden somit eine grundlegende Schicht gesellschaftlich approbierten handlungsorientierenden Wissens. (Luckmann 1986: 199) Das Gesamtinventar kommunikativer Gattungen bezeichnet Luckmann (1986: 206) als den „kommunikativen Haushalt“. Zugleich betont er, dass der Begriff des „kommunikativen Haushalts“ ein rein analytischer Begriff ist, dem kein „reales kulturelles Objekt“ entspricht. Gattungen sind historisch gewachsen und sedimentiert. Mit der diachronischen Veränderung des kommunikativen Haushalts einer gegebenen Gesellschaft verändern sich auch die Gattungen. Luckmann (1986: 202) vergleicht kommunikative Gattungen mit gesellschaftlichen Institutionen. Während gesellschaftliche Institutionen als Orientierungsrahmen für die Lösungen der Probleme im gesellschaftlichen Leben gelten, dienen kommunikative Gattungen dazu, spezifische kommunikative Probleme zu lösen. Im Hinblick auf den wichtigen Stellenwert kommunikativer Gattungen in der Gesellschaft unterstreichen Günthner / Knoblauch (1997) die Verfügbarkeit und Zugänglichkeit dieser verfestigten kommunikativen Vorgänge für die Handelnden, damit sie die sozialen Aufgaben lösen können. Außerdem sind Gattungen kulturelle Produkte. Sie sind offen für kulturelle Differenzen. Günthner / Knoblauch (1995) weisen auf Unterschiede kommunikativer Gattungen in verschiedenen Kulturen hin: If we take communicative genres as socially constructed solutions which organize, routinize, and standardize the dealing with particular communicative problems, it seems quite obvious that different cultures may construct different solutions for specific communicative problems. Moreover, whereas in one culture there may be generic ways of handling particular communicative activities in another culture interactants may use spontaneous forms instead. Thus, the repertoire of communicative genres vary from culture to culture as well as from one epoch to another. (Günthner / Knoblauch 1995: 6) Die kulturellen Unterschiede kommunikativer Gattungen betreffen sowohl den Gebrauch (Argumentationsstrukturen, Kontextualisierungshinweise oder Rezipientenaktivitäten) als auch die kommunikative Funktion. Günthner (1993) thematisiert z. B. die kleine Gattung „Sprichwort“ in ihrer kontrastiven Studie über chinesische und deutsche Diskursstrategien. <?page no="65"?> 3.1 Das Konzept: kommunikative Gattung 65 Kotthoff (1995) betrachtet kommunikative Gattungen aus ethnolinguistischer Perspektive. Ihr Untersuchungsgegenstand besteht aus drei verschiedenen Genres der Argumentation und des Angriffes im ländlichen Georgien, wo solche mündliche Gattungen als gesellige Veranstaltungen gelten. Konkret illustriert sie mit Hilfe der konversationsanalytischen Methode die Struktur der jeweiligen Gattung ( gašaireba, galeskseba, kapioba ) und interpretiert sie im Zusammenhang mit dem kommunikativen und sozialen Kontext, in den sie eingebettet ist. Ihr Befund ergibt, dass alle untersuchten Gattungen eine verfestigte Organisation (vor allem bezüglich ihrer linearen Strukturen und der Reime) aufzeigen. Mittels verschiedener rhetorischer Strategien (wie Kontraste, Wiederholungen, Übertreibungen, Zitate) werden die Gattungen hervorgebracht. Zugleich hat aber jede Gattung ihren eigenen Entfaltungsraum, wo sie sich frei gestalten kann. Die Unterschiede der untersuchten Gattungen lassen sich vorwiegend bei der Improvisation, der Dialogizität und der Musikalität bei der Organisation der Gattungsstruktur beobachten. Das mündlich vorgetragene galeskseba basiert z. B. auf einem schriftlichen Skript und zeichnet sich im Vergleich zu den anderen durch eine eher monologische Form aus. Bezogen auf die Musikalität ist kapioba dasjenige, welches immer mit einer Melodie kombiniert wird und von einer deutlich überdurchschnittlichen Kreativität gekennzeichnet ist. Im Hinblick auf die soziale Bedeutung solcher Gattungen, die Interaktion zwischen den Darstellern und den Zuschauern ermöglichen, dienen sie nach Kotthoff (1995) dazu, die gesellschaftlichen Bindungen und das soziale Gleichgewicht herzustellen. Jedoch erleben solche kulturell geprägten, kommunikativen Gattungen in der heutigen medienorientierten Gesellschaft einen Wandel. Die Bewahrung der untersuchten Gattungen bzw. ihrer sozialen Funktion im ländlichen Georgien ist auf die Abgeschlossenheit der kleinen Gemeinden zurückzuführen. Kommunikative Gattungen und spontane kommunikative Handlungen Ferner weist Luckmann (1986) auf den Unterschied zwischen kommunikativen Gattungen und spontanen kommunikativen Handlungen hin. Während es sich in kommunikativen Gattungen um historisch kulturell eingebettete Gesamtmuster handelt, baut der Handelnde in spontanen kommunikativen Aktionen schrittweise sein Handlungsmuster auf, um sein Ziel zu erreichen. Ausgehend von seiner Absicht wählt er sprachliche kommunikative Mittel aus seinem eigenen Wissensvorrat und bildet damit nach Grammatikregeln (Syntax, Phonologie, Morphologie, Semantik) Sätze für die kommunikative Interaktion in den jeweiligen Situationen. Zuweilen setzt der Handelnde stilistische Mittel und rhetorische Verfahren ein, je nach seiner Fähigkeit, seinem Bildungsniveau und der kommunikativen Situation. Die spontanen kommunikativen Handlungen <?page no="66"?> 66 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung werden nicht nach einem Gesamtmuster durchgeführt, sondern sind aus einer Mischung von bestimmten Routinen und strategischen Entwürfen geprägt. Funktionen kommunikativer Gattungen Die Gundfunktion kommunikativer Gattungen besteht nach Günthner / Knoblauch (1997: 283) darin, dass Orientierungsrahmen gebildet werden, auf die sich Interagierende sowohl bei der Produktion kommunikativer Handlungen als auch bei der Rezeption beziehen. Die Handelnden orientieren sich damit an einem vorgeprägten Muster. Der Interaktionsablauf wird dabei mehr oder minder gesteuert und die Kommunikation dadurch erleichtert. Kommunikative Gattungen haben eine weitere Funktion. Sie spielen eine Rolle für den sozialen Kontext, in dem sie Verwendung finden. Gattungen sind wesentliche kommunikative Verfahren zur interaktiven Konstruktion gesellschaftlicher Kontexte. Mit kommunikativen Gattungen kann man z. B. „eine soziale Beziehung zwischen den Interagierenden konstruieren“, „Wissensgefälle etablieren“, „Gemeinsamkeit von Normen (beispielsweise im Klatsch) bestätigen“ oder einen Bezug zur sozialen Situation herstellen (Günthner / Knoblauch 1997: 284). Andererseits haben kommunikative Gattungen eine reflexive Beziehung zu den sozialen Kontexten. Sie sind nicht einseitig den sozialen Kontexten unterworfen und von ihnen bestimmt. Die Herstellung institutioneller Kontexte stellt auch eine Funktion kommunikativer Gattungen dar (Günthner / Knoblauch 1997: 284). Mit der Verwendung kommunikativer Gattungen wie z. B. Bewerbungsgespräch, Referat oder Verkaufsgespräch stellen die Kommunikationsteilnehmer entsprechende soziale Kontexte her. Diese Kontexte wiederum spielen eine Rolle bei der Interpretation der Interaktion. Kommunikative Gattung und ähnliche sprachwissenschaftliche Begriffe Im Hinblick auf die Untersuchung verfestigter sprachlicher Handlungstypen hat sich im deutschsprachigen Raum der Begriff „sprachliche Handlungsmuster“ (Ehlich / Rehbein 1979) etabliert. Inhaltlich und terminologisch sind „sprachliche Handlungsmuster“ nahe dem Begriff „kommunikative Gattung“ (Luckmann 1986). Nach Ehlich / Rehbein (1979) ist es mit der Gesellschaft verbunden. Darunter versteht man nämlich „gesellschaftlich produzierte und reproduzierte Handlungsformen“ (Ehlich / Rehbein 1979: 250). Somit gelten „sprachliche Handlungsmuster“ als die verfügbare Handlungsvorgabe und regeln die Durchführung eines Handlungstyps. Trotz der begrifflichen Nähe unterscheiden sie sich jedoch von der kommunikativen Gattung. Dazu schreibt Birkner (2001): <?page no="67"?> 3.1 Das Konzept: kommunikative Gattung 67 Im Unterschied zum Gattungskonzept bedienen sich Handelnde festgefügter, auf spezifische Zwecke begründeter Handlungsmuster und wählen Muster nicht, wie es Luckmann betont, als Orientierungen aus, die für die Lösung gesellschaftlicher Probleme geschaffen wurden und einen relativen Handlungsspielraum bieten. Kommunikative Gattungen existieren nicht außerhalb ihrer sprachlichen Realisierung, sie werden in der Interaktion erworben, tradiert und verändert. Handlungsmuster sind darüber hinaus theoretischer bestimmt, in ihren Ablaufstrukturen viel stärker festgelegt und werden in der linguistischen Analyse als vorhersagbar behandelt. (Birkner 2001: 41) In Zusammenhang mit der diskursanalytischen Forschung über sprachliche Handlungstypen ist der von Levinson (1979) geprägte Begriff „activity type“ erwähnenswert. Mit „activity type“ unterstreicht Levinson (1979) die enge Verbindung zwischen der sprachlichen Bedeutung und den menschlichen Handlungen. Er charakterisiert „activity type“ als zielgerichtetes, sozial konstituiertes, abgrenzbares und hinsichtlich u. a. der Beteiligten, des Settings und der erlaubten Beiträge beschränktes kommunikatives Ereignis (Levinson 1979: 368). Das deckt sich mit dem Konzept kommunikativer Gattung. Aber trotzdem gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen „activity type“ und „kommunikativer Gattung“. Nach Birkner (2001: 40-41) ist der Zweck von Gattungen die Lösung gesellschaftlicher Probleme, während das Ziel des „activity type“ in den rationellen Plänen individuell Handelnder angesiedelt ist. 3.1.1 Die Struktur kommunikativer Gattungen In der Gattungsanalyse wird die Struktur der kommunikativen Vorgänge auf der Grundlage natürlicher Interaktionsdaten untersucht. Dabei handelt es sich um verschiedene Ebenen. Zunächst wird eine Differenzierung zwischen „Binnenstruktur“ textueller Elemente und „Außenstruktur“ sozialstruktureller Aspekte vorgenommen (Luckmann 1986: 203). Dazwischen liegt die „strukturelle Zwischenebene“ (Günthner / Knoblauch 1997: 288). Im Folgenden erläutern wir diese Ebenen. Unter Binnenstruktur kommunikativer Gattungen sind textinterne Elemente, verbal und nonverbal, zu verstehen. Sie sind konstitutiv für die betreffenden Gattungen. Dazu zählen phonologische Variationen und prosodische Mittel, wie Intonation, Lautstärke, Sprechgeschwindigkeit, Pausen, Rhythmus, Akzentrierung, Stimmqualität. Die Auswahl einer spezifischen Sprachvarietät (z. B. Hochsprache, Jargon, Dialekt, Soziolekt, Sprachregister) wie auch der Einsatz expressiver Ausdrücke (z. B. mimische, gestische Elemente) gehört ebenfalls dazu. Syntaktische Konstruktionen (z. B. Frageformate, Imperativformen, Pronomen, Passivkonstruktionen, Konjunktionen) sind auf der binnenstrukturellen Ebene angesiedelt. Ferner gehören stilistische und rhetorische Figuren (z. B. Metaphern, <?page no="68"?> 68 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung Ellipsen, Wortspiele, Lautmalereien, hyperbolische Ausdrücke) sowie die bereits verfestigten Klein- und Kleinstformen (z. B. Sprichwörter, formularische Ausdrücke, idiomatische Redewendungen, verbale Stereotype) zum Repertoire der Binnenstruktur kommunikativer Gattungen. Gliederungsmerkmale sind ebenfalls der binnenstrukturellen Ebene zuzuordnen. Inhaltliche Verfestigungen , die Themen oder Motive betreffen, sowie die Rahmung (wie die Formen des Adressatenbezugs, in / direkte Adressierung der Hörer, das „recipient-design“), die die Beziehung zwischen Sprechenden und Rezipienten indiziert, können konstitutive Merkmale kommunikativer Gattungen sein. Darüber hinaus bildet die Interaktionsmodalität (ernst, spaßhaft, lustig, seriös, fiktiv usw.) ein Merkmal der Binnenstruktur kommunikativer Gattungen. In der Analyse der Binnenstruktur müssen auch die Besonderheiten des Mediums (mündlich, face-to-face, medial usw.) berücksichtigt werden. Die strukturelle Zwischenebene kommunikativer Gattungen umfasst die Aspekte der dialogischen Konstruktion. Dabei ist die Konversationsanalyse, die sich mit Gesprächsorganisation (wie Redewechsel, Paarsequenzen, Prä-, Post- und Einschubsequenzen, Präferenzstrukturen) auseinander setzt, für die Analyse dieser Ebene besonders wichtig. Darüber hinaus zählen Rituale - wie Kontaktaufnahme und -beendigung, Begrüßung und Verabschiedung, Einladung, Entschuldigung, Danken und Wünschen - auch zum Repertoire der strukturellen Zwischenebene kommunikativer Gattungen. Die Außenstruktur kommunikativer Gattungen bezeichnet die Beziehungen zwischen Gattungen und sozialen Milieus, kommunikativen Situationen, Geschlechterkonstellationen, Alter und Status der Handelnden, der Institutionen usw. Nach Bergmann / Luckmann (1995) geht es hier um die Strukturebene, die aus dem Zusammenhang zwischen kommunikativen Handlungen und der Sozialstruktur abzuleiten ist. Zur Außenstruktur gehört erstens die Beziehung zwischen Gattungen und kulturellen Gruppen. Kommunikative Gattungen sind häufig kulturellen Gruppen oder sozialen Milieus (z. B. Familien, Studentengruppen, Sportclubs usw.) zugeordnet. Außerdem zeichnen sie sich auch durch typische soziale Veranstaltungen aus. Mit sozialen Veranstaltungen sind strukturierte Handlungen gemeint, die zeitlich und räumlich festgelegt und teilweise institutionalisiert sind. Dazu zählen z. B. Hochschulseminare, Eltern-Lehrer-Gespräche wie auch informelle Tischgespräche in Familien und unter Freunden. Die Verwendung bestimmter Gattungen in solchen sozialen Situationen fördert die Konstruktion der Gruppenzugehörigkeit bzw. der Identifikation. Andererseits tragen kommunikative Gattungen zur Herstellung institutioneller Kontexte bei. Beispielsweise zeichnet sich die religiöse Kommunikation durch spezifische Gattungen wie Gebet, Predigt, Gottesdienst usw. aus, während <?page no="69"?> 3.1 Das Konzept: kommunikative Gattung 69 die Kommunikation im universitär-akademischen Bereich aus Gattungen wie Seminaren, Vorlesungen, Vorträgen, Referaten, Klausuren, Kolloquien usw. besteht. Weiterhin ist die Beziehung zwischen kommunikativen Gattungen und der Sozialstruktur einer Gesellschaft auf der außenstrukturellen Ebene angesiedelt. Viele soziale Beziehungen entstehen durch Kommunikation. Macht, Geld und Wahrheit werden nicht nur durch Wissen zugänglich gemacht. Wichtig ist, dass das Wissen in bestimmten Situationen kommuniziert werden kann (Günthner / Knoblauch 1997: 299). Mit der Zunahme der Bedeutung der Kommunikation sind kommunikative Gattungen, die konstitutiv für soziale Handlungen sind, besonders wichtig. Ihre Distribution in verschiedenen sozialen Milieus und ihre Zugänglichkeit für die Mitglieder der Gesellschaft spielen eine erhebliche Rolle. Der Erwerb kommunikativer Gattungen wird als eine gesellschaftlich kommunikative Kompetenz betrachtet. Das Repertoire einzelner Mitglieder an kommunikativen Gattungen übt wiederum einen Einfluss auf den Zugang zu Milieus, Institutionen, Status, Macht usw. aus. Die oben beschriebenen Ebenen (die Binnenstruktur, die strukturelle Zwischenebene und die Außenstruktur) stellen die grundlegenden Analyseebenen des Gesamtmusters kommunikativer Gattungen dar. Die Gattungsforschung ist zwar relativ jung, jedoch bestehen bereits verschiedene Studien dazu. Im Folgenden wird ein allgemeiner Überblick über diesen Forschungsbereich geboten. 3.1.2 Forschung kommunikativer Gattungen Gattungsforschung rückt seit der Entwicklung der Theorie kommunikativer Gattung von Luckmann (1986) zunehmend in das Interesse sowohl der soziologischen als auch der linguistischen Forschung. In zahlreichen Untersuchungen hat sich die soziologische Gattungsanalyse als fruchtbar erwiesen (Günthner / Knoblauch 1994). Eine der ersten, auf natürlichen Gesprächen basierenden Untersuchungen stellt die Studie Bergmanns (1987) über Klatschgespräche dar. Mit ethnomethodologischer Konversationsanalyse wirft er einen neuen Blick auf diesen Gegenstand. Klatschgespräche als rekonstruktive Gattungen der alltäglichen Kommunikation werden in seiner Forschung als „Sozialform der diskreten Indiskretion“ zusammengefasst. Mit „Sozialform“ ist die Einbettung dieser spezifischen Interaktionsform in die Gesellschaft gemeint. Bergmann (1987) verdeutlicht anhand transkribierter Daten ein Muster der sequenziellen Organisation, in dem sich diese kommunikative Gattung realisiert und reproduziert. Eine Besonderheit dieser kommunikativen Gattung besteht in ihrer Mischung von Diskretion und Indiskretion. <?page no="70"?> 70 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung Ulmer (1988) thematisiert Konversionserzählungen auf der Grundlage von 10 Gesprächen mit Konvertiten, in denen diese eine mündliche Darstellung ihrer eigenen Konversion geben. Ausgehend von der Hypothese, dass Konversionserzählungen eine rekonstruktive Gattung bilden, in der vergangene Ereignisse nach einem in der Gesellschaft formalisierten und verfestigten Muster nachgebildet werden, führt er eine empirische Untersuchung mit Hilfe der konversationsanalytischen Methode durch. In der auf rekonstruierten Beispielen basierenden Darstellung verdeutlicht er, dass die Konversionserzählung in drei zeitliche und thematische Teile gegliedert wird. Erstens bezieht es sich auf die Darstellung der vorkonversionellen Biographie. Im Anschluss daran wird das eigentliche Konversionsereignis produziert. Schließlich endet die Konversionserzählung mit der nachkonversionellen Lebensphase. Ferner weist Ulmer (1988) auch darauf hin, dass diese Dreigliederung der Konversionserzählung einem zentralen kommunikativen Problem in dieser Sozialsituation zugrunde liegt. Nach Ulmer (1988) besteht die Schwierigkeit für die Konvertiten darin, „die persönliche religiöse Erfahrung, die vom Erzähler als Ursache und Anlass der eigenerlebten Konversion geltend machen wird, auf plausible und glaubwürdige Weise darzustellen und intersubjektiv zu vermitteln“ (Ulmer 1988: 31). Die Struktur der Konversionserzählung, die gesellschaftlich sedimentiert und historisch gewachsen ist, gewährleistet die Lösung dieses Problems. Eine umfassende und systematische Studie über informelle kommunikative Gattungen in der Alltagsinteraktion stellt Günthners (2000c) linguistische Arbeit zum Thema Vorwurfsaktivitäten dar. Das Ziel der Untersuchung besteht darin, „diejenigen Verfahren zu rekonstruieren, die von Interagierenden eingesetzt werden, um den Sinngehalt ihrer Äußerungen erkennbar zu machen bzw. zu erkennen“ (Günthner 2000c: 2). Ausgehend davon wird in ihrer empirischen gesprächsanalytischen Untersuchung anhand 58 aufgezeichneter Gespräche in Familien- und Wohngemeinschaften sowie Telefongesprächen unter Bekannten und Freunden hauptsächlich zwei Ebenen nachgegangen. Einerseits analysiert sie die sprachlichen Formen und Funktionen der alltäglichen Vorwürfe. Andererseits widmet sie sich der Untersuchung kontextuell instituierter interaktiver Herstellung von Gattungen. Das heißt, die Analyse sprachlicher Merkmale der Gattung (z. B. syntaktische, lexikosemantische, prosodische, rhetorisch-stilistische Phänomene) wird nicht isoliert und in dekontextualisierter Form, sondern in Zusammenhang mit der Konstruktion der kommunikativen Muster durchgeführt. Konkret untersucht Günthners (2000c) Studie drei Realisierungsformen der Vorwürfe: <?page no="71"?> 3.1 Das Konzept: kommunikative Gattung 71 - Die kommunikative Gattung der in-situ-Vorwürfe. Das sind diejenigen Vorwürfe, die ein Sprecher im momentanen Gesprächsverlauf als Kritik am Verhalten des Gesprächspartners äußert. Bei der Interpretation spielen Intonation, Lautstärke, Stilisierungsverfahren usw. eine bedeutende Rolle. - Die kleine Gattung der Frotzeleien. Damit sind spielerisch-spaßhafte Vorwurfsaktivitäten gemeint. Dabei wird zwar auch Kritik am Verhalten anwesender Personen geübt, aber die Kritik wird mit der Spiel- und Spaßmodalität geäußert. - Die narrative Gattung der Beschwerdegeschichten. Hier handelt es sich um Rekonstruktionen vergangener Vorwurfsinteraktionen in Alltagserzählungen. Konfliktgespräche zwischen dem Erzähler und einer abwesenden Person werden wiedergegeben. Zur Markierung der Erzählereinstellungen und der fremden Reden werden unterschiedliche sprachliche Elemente und Stilisierungsverfahren eingesetzt. Günthner (2000c) verdeutlicht in ihrer empirischen Untersuchung, dass die obengenannten kommunikativen Gattungen der Vorwurfsaktivitäten auf bestimmte Verfestigungen verweisen, sowohl auf der Ebene der sprachlichen Merkmale, als auch im Hinblick auf die interaktive Konstruktion der sprachlichen Handlungen. Diese formalisierten Formen gelten als Gattungen, die den Handelnden für die Lösung kommunikativer Probleme in der Alltagsinteraktion zur Verfügung stehen. Während am Anfang der sprachsoziologisch orientierten Gattungsforschung vor allem sprachliche Handlungen in Alltagsinteraktion den Mittelpunkt bilden, werden später institutionelle kommunikative Vorgänge zunehmend ins Blickfeld genommen. Birkner (2001) widmet sich z. B. der Forschung der Bewerbungsgespräche zwischen Ost- und Westdeutschen. Mit den Methoden der Konversationsanalyse und der wissenssoziologischen Gattungsanalyse untersucht sie, ob sich in dem Bewerbungsgespräch rekurrente Unterschiede im sprachlichen Verhalten von Ost- und Westbewerbern feststellen lassen. Demzufolge führt sie zwei Forschungsstränge zusammen: die Analyse sprachlicher Merkmale bei der Realisierung des Bewerbungsgesprächs als eine institutionelle kommunikative Gattung einerseits und den Vergleich von Ost- und Westbewerbern andererseits. Ihr Korpus besteht aus 41 authentischen Bewerbungsgesprächen sowie Rollenspielen und Interviews mit Personalverantwortlichen. In Anlehnung an Luckmanns (1986: 203) Differenz der drei Strukturen für die Gattungsanalyse (Binnenstruktur, Zwischenstruktur und Außenstruktur) analysiert Birkner (2001) zuerst das Bewerbungsgespräch als Gattung. Merkmale wie spezifische Strukturen, Formalität, kommunikative Ziele usw. werden an- <?page no="72"?> 72 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung hand des vorhandenen Datenmaterials illustriert. Anschließend werden drei Punkte in Bezug auf Ost / Westdifferenzen besonders ins Auge gefasst: - die Aushandlung von Gattungswissen - Antworten auf typische Fragen - der Umgang mit Nichtübereinstimmung im Gespräch. Die Analysen zeigen, dass es im Bewerbungsgespräch zwischen einem Ostdeutschen und einem westdeutschen Interviewpartner häufig eine interaktive Bearbeitung von Gattungswissen gibt. Für die Ostdeutschen, die Neulinge auf dem westdeutsch dominierten Arbeitsmarkt sind, bedeutet das Bewerbungsgespräch in westdeutscher Prägung eine große Menge von neuen kommunikativen Normen und Regeln. Probleme, die durch das Fehlen des Gattungswissens entstehen, werden dann im Bewerbungsgespräch durch die interaktive Aushandlung sowie die Deutung des westdeutschen Interviewpartners bewältigt. Bei den Anworten auf typische Fragen im Bewerbungsgespräch (z. B. Selbstattributierung, Gehalt) verweisen Ost / Westdifferenzen nicht nur auf das Gattungswissen, sondern auch auf die konversationellen Stile. Während Westdeutsche zu einer direkten Anwort tendieren, zeichnen sich Ostdeutsche dagegen durch ihre Indirektheit aus. Im Umgang mit Nichtübereinstimmung bestehen auch auffällige Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen. Die westdeutschen Bewerbenden wählen häufig einen dissensorientierten Gesprächsstil. Im Gegensatz dazu zeigen sich die ostdeutschen Bewerber eher als konsensorientiert. Im deutschsprachigen Raum beschränkt sich die linguistische Gattungsforschung nicht auf Gattungen in der deutschen Kultur. Das Forschungsinteresse richtet sich auch auf kommunikative Vorgänge in anderen Kulturen. Kotthoff (1999) analysiert beispielsweise Trinksprüche im Kontext der sozialen Veranstaltung des geselligen Beisammenseins in Georgien. Mit gesprächsanalytischer Methodik zeigt sie das Ritual dieser spezifischen kommunikativen Gattung auf. Die georgischen Trinksprüche sind von einer Abfolge von Handlungen, die in gleicher oder ähnlicher Weise mündlich aufgeführt werden, geprägt. Diese kommunikativen Handlungen sind kulturspezifisch sedimentiert. Zugleich weist die Autorin in ihrer Studie auch darauf hin, dass die Trinksprüche als eine spezifische kommunikative Gattung innerhalb einer Kultur neben den obligatorischen Elementen auch Variationen erlauben (Kotthoff 1999). Nach ihren empirischen Untersuchungsergebnissen können die Trinksprüche „Gebetsformeln, Narrationen, Scherze, Segnungen, Anrufungen an Gott usw. integrieren und dadurch eine je spezifische Nähe zu anderen Gattungen herstellen“ (Kotthoff 1999: 28). Bezogen auf die Funktion zieht sie aus ihrer Untersuchung die Schlussfolgerung, dass die Trinksprüche eine relevante Gattung der „moralischen Kommunikation“ (Kotthoff 1999: 35) sind. Anhand transkribierter Daten <?page no="73"?> 3.2 Alltägliche Gespräche 73 weist Kotthoff (1999) auf die implizite oder explizite Vermittlung moralischer Werte in den Trinksprüchen hin. In Anbetracht der bisherigen Gattungsforschung ist zu beobachten, dass das Konzept der „kommunikativen Gattung“ sich in der linguistischen Forschung auf uneinheitliche Dimensionen bezieht. Während es bei Bergmanns (1987) Klatschgesprächen, Ulmers (1988) Konversionserzählungen und Birkners (2001) Bewerbungsgesprächen um das ganze Gespräch geht, handelt sich es bei Günthners (2000c) in-situ-Vorwürfen, Frotzeleien und Beschwerdegeschichten um Vorwurfsaktivitäten, die ein Sprecher im momentanen Gesprächsverlauf verwendet. Ob unter dem Konzept der „kommunikativen Gattung“ das ganze Gespräch oder ein Teil des Gesprächsverlaufs zu verstehen ist, hängt von der begrifflichen Definition des sprachwissenschaftlichen Gattungskonzepts ab. In der vorliegenden Arbeit wird eine besondere kommunikative Gattung, „Tandemgespräche“, die zwischen alltäglichen Gesprächen und Unterrichtsinteraktionen stattfindet, untersucht. Dabei stütze ich mich auf ein umfangreiches Datenmaterial. Bevor ich die Tandemgespäche thematisiere, seien im Folgenden die Merkmale der Alltagsgespräche und der Unterrichtsinteraktionen dargestellt. 3.2 Alltägliche Gespräche Alltagsgespräche bilden als Forschungsgegenstand eine grundlegende und umfassende Kategorie in der Konversationsanalyse. Die führenden Vertreter dieses Forschungsansatzes sehen „in Alltagsgesprächen einen besonders geeigneten Gegenstand, um soziales Handeln im Detail zu beobachten und zu beschreiben“ (Gülich / Mondada 2008: 1). Unter diesem Aspekt betritt die Linguistikforschung Neuland, wenn sie sich der Untersuchung der gesprochenen Sprache und der mündlichen Kommunikation widmet. Was die Definition der alltäglichen Gespräche betrifft, ist diese Ausrichtung in der Wissenschaft nicht unumstritten. Ehlich (1980) bezeichnet in seiner Studie zum Erzählen im Alltag den Begriff „Alltag“ als „die Lebenswelt der Mehrheit“ (Ehlich 1980: 16). Dazu schreibt er wie folgt: Erzählen im Alltag zielt auf die Analyse eine Tätigkeit ab, die sich gerade in jener Sphäre des Üblichen, des Gewöhnlichen, des Tagtäglichen abspielt. Alltag ist ein Bereich, der die nicht-literarische, triviale Öffentlichkeit der Massen ausmacht, all jene Monotonie, scheinbare Bedeutungslosigkeit, Unscheinbarkeit, über die sich die Wissenschaften der Kultur lange, der Literaturwissenschaft als Leitwissenschaft folgend, einig waren. (Ehlich 1980: 16) <?page no="74"?> 74 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung Für Ehlich (1980) wird „Alltag“ in das allgemeine soziale Leben integriert. Er ist in der Gesellschaft üblich, gewöhnlich und daher scheinbar bedeutungslos bzw. unauffällig, und er unterscheidet sich beispielsweise von der Literatur, die sich durch ihre Besonderheit aus dem tagtäglichen sozialen Handeln heraushebt. Die Literatur dient nach Ehlich (1980: 15) als eine der sogenannten „Illusionsindustrien“, andere Dimensionen dem Alltag gegenüberzustellen. Im Hinblick auf die Beziehung zwischen dem Alltag und der Arbeit formuliert Ehlich (1980: 15), dass Alltag Werktag und Werktag Arbeit sei. Demzufolge wird also die Arbeitstätigkeit in den allgemeinen täglichen Lebensprozess miteinbezogen. Eine genauere Definition des Alltagsgesprächs formuliert Lindemann (1990) folgendermaßen: Traditionell wird dem Alltagsgespräch im Wesentlichen der gesamte Bereich der nicht-offiziellen Kommunikation, vor allem die private Lebenssphäre zugeordnet. Alltagsgespräche werden als spontane, zufällige, lockere und in einem umgangssprachlichen Ton geführte Gespräche verstanden (…), die zwischen Partnern stattfinden, deren Beziehungen zueinander keinen offiziellen Charakter haben, wodurch die sozialen Rollenunterschiede weitgehend in den Hintergrund rücken. Unter Alltagsgesprächen werden beispielsweise Gespräche mit Freunden und Bekannten, Gespräche in der Familie, Partygespräche oder small talks, wie etwa der Schwatz mit dem Nachbarn, oder zufällige Gespräche im Zugabteil verstanden. Aber auch Wegeauskünfte und in den institutionellen und öffentlichen Bereich hineinreichende Einkaufs-/ Verkaufsgespräche bzw. Dienstleistungsgespräche im Allgemeinen, werden zu dieser Kategorie gezählt. (Lindemann 1990: 201) Neben der konkreten Charakterisierung des Alltagsgesprächs (z. B. Spontaneität, Zufälligkeit, Umgangssprachlichkeit usw.) sind in Lindemanns (1990) Definition zwei Lesarten bezüglich der Arbeitstätigkeit zu beobachten. Man kann einerseits die Arbeitstätigkeit aus dem Alltagsgespräch, dem „die nicht-offizielle Kommunikation, vor allem die private Lebenssphäre zugeordnet wird“ (Lindemann 1990: 201), ausschließen. Andererseits können aber Einkauf-/ Verkaufsgespräche bzw. Dienstleistungsgespräche, die im institutionellen und öffentlichen Bereich stattfinden, zu dem Begriff des Alltagsgesprächs gezählt werden. Es besteht zwar eine Gegenüberstellung zwischen dem alltäglichen Gespräch und der institutionellen Kommunikation, aber eine scharfe Grenze gibt es dabei nicht. Schütte (2000) charakterisiert die alltäglichen Gespräche aus einer anderen Perspektive. Nach seiner Meinung sind Alltagsgespräche diejenigen Gespräche, „denen zusätzliche Kriterien zur Gesprächssortenbestimmung fehlen“ (Schütte 2000: 1488). Mit „Gesprächssorten“ meint Schütte (2000: 1488) vor allem folgende Interaktionstypen: <?page no="75"?> 3.2 Alltägliche Gespräche 75 - Institutionelle Kommunikation. Sie zeichnet sich durch ihre Gesprächsregeln für den Sprecherwechsel, die Rederechtsverteilung, die Rolle des Gesprächspartners, die kontextuelle Situation, die Sprechakte und die Sprechaktsequenzen aus. - Gespräche mit einem Zweck oder einer kommunikativen Funktion. Diese Gesprächssorte dient entweder zu einem bestimmenden Zweck, der im Verlauf der sprachlichen Handlung interaktiv ausgehandelt und ratifiziert wird, oder zur Erfüllung einer kommunikativen Funktion. Dazu zählen z. B. Verkaufsgespräche, Beratungsgespräche. - Medienkommunikation. Dabei handelt es sich hauptsächlich um „inszenierte Gespräche“ (Schütte 2000: 1488). Die Interaktion dabei dient in erster Linie nicht der alltagsweltlichen Kommunikation, sondern der Vorführung. Die Äußerungen sind „mehrfachadressiert“ (Schütte 2000: 1489), nämlich die die Interagierenden in den Mediengesprächen selbst und das Publikum. Anders als diese drei Gesprächssorten zeichnen sich Alltagsgespräche nach Schütte (2000) dadurch aus, dass sie nicht vorgeplant und primär zielorientiert sind. Außerdem lassen sich ihnen keine vorherige Rederechtsverteilung oder inhaltliche Eingrenzungen zuschreiben. Im Gegensatz zu den obengenannten Interaktionstypen bieten sie „einen Raum für freies ad-hoc-Formulieren“ (Schütte 2000: 1486). In den oben genannten Definitionen in der Sprachwissenschaft ist zu beobachten, dass Alltagsgespräche sich nicht erschöpfend definieren lassen. Jedoch kann man auf der Grundlage der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Begriff allgemeine wesentliche Merkmale zusammenfassen, die für die Konstruktion der Alltagsgespräche in der Konversationsanalyse konstitutiv sind. Bei der empirischen Analyse der Tandemgespräche werde ich auf folgende vier Merkmale zurückgreifen: - Alltagsgespräche werden unmittelbar, spontan und interaktiv erzeugt - Die Gesprächspartner in der alltäglichen Interaktion sind häufig gleichberechtigt - Es gibt in der Regel keine Eingrenzung des Gesprächsthemas - Sie finden meistens in nicht-offiziellen kommunikativen Situationen statt. Davon ausgehend wird die kommunikative Gattung der Tandemgespräche, die zwischen den Alltagsgesprächen und der Unterrichtsinteraktion liegt, empirisch anhand der konversationsanalytischen Methode konstruiert und untersucht. Im Folgenden möchte ich die gattungsspezifischen Merkmale der Unterrichtsinteraktion vorstellen. <?page no="76"?> 76 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung 3.3 Unterrichtsinteraktion Anders als alltägliche Gespräche ist die Unterrichtsinteraktion der institutionellen Gattung zuzuordnen. Jedoch wurde Unterrichtsinteraktion lange Zeit von Forschern im Bereich des Spracherwerbs als „excessively complex, heterogenous and a particularly messy source of data“ (Seedhouse 2009: 12) betrachtet. Bevor Long (u. a. Chaudron, Doherty, Pica, Young) in den 80er Jahren die Interaktions-Hypothese in der Zweitspracherwerbsforschung entwickelte, richtete sich die Untersuchung des Sprachenlernens im Unterricht hauptsächlich auf das einseitige sprachliche Verhalten, entweder vonseiten des Lehrers oder des Lerners. Aufgrund der Interaktions-Hypothse führt Henrici (1995) eine Studie über den Spracherwerb durch Interaktion durch. Diskursanalytisch untersucht er die Interaktion zwischen dem Lehrer und dem Lerner beim institutionellen Spracherwerb. Die Fragestellung seiner Untersuchung besteht aber darin, welche Rolle die Interaktion beim Spracherwerb spielt. Die sprachliche Organisation im Unterricht wird nicht systematisch erfasst. Eine der wichtigsten Studien über die systematische Organisation des Fremdsprachenunterrichts stellt die sprachwissenschaftlich orientierte Forschung von Seedhouse (2004) dar. In seiner Forschung wird der Frage nachgegangen, wie die Interaktion im Zweitsprachenunterricht organisiert wird. Anhand transkribierter empirischer Daten im Unterricht untersucht er den Forschungsgegenstand konversationsanalytisch. Da Seedhouse davon ausgeht, dass in der Konversationsanalyse die Organisation der institutionellen Interaktion „rationally“ (Seedhouse 2009: 1) von dem Hauptziel abgeleitet wird, stellt er in seiner Forschung zuerst fest, dass „the teacher will teach the learners the L2“ (Seedhouse 2009: 1) das Kernziel des Fremdsprachenunterrichts darstellt. Aufgrund dieses Ziels weist er zusammenfassend auf drei allgemeine Charakteristika der Interaktion im Fremdsprachenunterricht hin. Erstens gilt die Sprache hier sowohl als das Mittel wie auch als das Objekt des Unterrichts. Darüber hinaus zeichnet sich solche Unterrichtsinteraktion durch eine Interdependenz zwischen Pädagogik und Interaktion aus. Diese Beziehung kann man an den sprachlichen Verhaltensweisen der Interagierenden beobachten. Schließlich sind die sprachlichen Formen und Interaktionen, die die Lerner produzieren, potenziell häufig der Evaluation des Lehrers unterworfen. In diesem Zusammenhang sieht Seedhouse (2004) drei zentrale Elemente bei der Organisation der Interaktion im Fremdsprachenunterricht. Seiner Meinung nach sollte zuerst ein sogenannter „pedagogical focus“ (Seedhouse 2004) vorgestellt werden. In seinen empirischen Daten wird das vorwiegend von der Lehrperson beim Unterrichtseinstieg eingeführt. Die Einleitung des pädagogischen <?page no="77"?> 3.3 Unterrichtsinteraktion 77 Fokus durch Vorschläge der Schüler ist aber nicht auszuschließen. Die daraufhin folgende Interaktion zwischen mindestens zwei Interagierenden orientiert sich dann an diesem pädagogischen Fokus. Schließlich spielt die Beziehung zwischen dem pädagogischen Fokus und der Interaktion bei der Durchführung der Unterrichtspraxis eine bedeutende Rolle. Seedhouse (2004) weist darauf hin, dass die Interagierenden nach der Wahrnehmung des pädagogischen Fokusses ihre sprachlichen Verhaltensweisen so gestalten, dass sie das Ziel des Unterrichts erreichen können. Die anderen Lerner, die im Klassenzimmer sind und nicht an der sprachlichen Interaktion teilnehmen, interpretieren das pädagogische Ziel und produzieren ihre Redebeiträge in Orientierung daran, wenn sie sich an der Interaktion beteiligen. Ausgendend von diesen zentralen Organisationskomponenten der Unterrichtsinteraktion differenziert Seedhouse (2004) anhand seiner transkribierten Daten folgende Kontexte im Fremdsprachenunterricht: Kontext 1: Form und Exaktheit Kontext 2: Bedeutung und Fluss Kontext 3: aufgabenorientiert Kontext 4: prozedural Die Diffenrenzierung der verschiedenen Kontexte im Fremdsprachenunterricht verdeutlicht zugleich, dass es hier um unterschiedliche pädagogische Fokusse geht. In Kontext 1 handelt es sich z. B. um die sprachliche Form, während Kontext 2 sich auf die Bedeutung konzentriert. Der Schwerpunkt des dritten Kontextes besteht darin, dass sich die sprachlichen Handlungen der Interagierenden an den vorgegebenen Aufgaben orientieren. Der letzte Kontext richtet sich auf den prozeduralen Verlauf. Seedhouse (2004) analysiert danach die sprachlichen Verhaltensweisen der Lerner und des Lehrers im Hinblick auf die Organisation der Interaktion in den jeweiligen oben genannten Kontexten. Bezogen auf die Lehr-Lern-Sequenzen in Unterrichtsinteraktionen wird in seinen Befunden hauptsächlich die Beziehung zwischen dem pädagogischen Fokus und der Organisation der Interaktion dargestellt. Aus seiner Untersuchung zieht er die Schlussfolgerung, dass die Organisation der Interaktion im Rahmen des pädagogischen Fokusses realisiert wird. Wenn der pädagogische Fokus verändert wird, wird sich die Interaktionsgestaltung im Unterricht ändern. Im Kontext von Form und Exaktheit ist z. B. strenge Kontrolle des Lehrers zu beobachten. Die Interaktion besteht häufig aus „Paarsequenzen“ (adjacency pairs, Schegloff / Sacks 1973) der Aufforderung des Lehrers und der Produktion <?page no="78"?> 78 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung des Schülers. Im Anschluss daran kommt es zur Evaluation und den darauf folgenden Aktivitäten. Im Gegensatz dazu konzentriert sich die Organisation der Interaktion im zweiten Kontext, in dem die Bedeutung auf dem pädagogischen Fokus liegt, eher auf die Formulierung des Inhalts. Probleme auf der Ebene der sprachlichen Form werden deutlich weniger korrigiert. Das Ziel des Lehrers liegt darin, dass das Thema eines Lerners von allen anderen verstanden wird. Der Fluss des Sprechens wird daher beachtet. Im aufgabenorientierten Kontext steht die Erledigung der Aufgabe im Mittelpunkt. Die Interagierenden setzen dafür unterschiedliche Kommunikationsstrategien ein. Hier spielen die sprachliche Form im Kontext 1 und das Thema im Kontext 2 keine wichtige Rolle. Der Fokus liegt auf der Aufgabe. Im Unterricht ist in der Regel der prozedurale Kontext obligatorisch. Der Lehrer vermittelt prozedurale Informationen in Bezug auf Unterrichtsaktivitäten an die Lerner. Bei Seedhouses (2004) Daten läuft das meistens monologisch. Sprecherwechsel sind dabei kaum zu beobachten. Diese Organisation der Unterrichtsinteraktion steht eben in Zusammenhang mit dem entsprechenden pädagogischen Fokus. Neben der Analyse des Sprecherwechsels in einer Unterrichtsinteraktion mit unterschiedlichen pädagogischen Fokussen untersucht Seedhouse (2004) die Reparatur, eine Problemlösungsaktivität (Schegloff / Jefferson / Sacks 1977), durch die sich die Unterrichtsinteraktion auszeichnet. Seedhouse kommt zu folgenden Ergebnissen: Im Kontext mit dem pädagogischen Fokus von Form und Exaktheit wird eine genaue linguistische Form angestrebt. Sprachliche Äußerungen des Lerners, die der Erwartung des Lehrers nicht entsprechen, können von dem Lehrer als reparaturbedürftig betrachtet werden. Das heißt, auch wenn die Äußerungen des Lerners grammatisch richtig sind, können sie repariert werden. Dagegen werden problematische Formulierungen auf der linguistischen Ebene im Kontext von Bedeutung und Fluss häufig unkommentiert gelassen. Anstelle der sprachlichen Form steht hier die Bedeutungsaushandlung im Mittelpunkt. In der Regel wird eine Reparatur eingesetzt, wenn die Kommunikation gestört wird. Problematische sprachliche Formen stellen nicht unbedingt die Hindernisse beim Sprechen dar. Zuweilen ist in diesem Kontext auch eine Mischung von verschiedenen Reparaturtypen zu beobachten (Seedhouse 2004: 158). Im aufgabenorientierten Kontext werden Stellen, die die Erledigung der vorgegebenen Aufgabe behindern, als reparaturbedürftig definiert. Seedhouse (2004) findet in seinen Daten keinen einzigen Beleg, in dem die Interagieren- <?page no="79"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 79 den die problematische sprachliche Form korrigieren. Ihre Sprechhandlungen orientieren sich an der Erledigung der Aufgaben. Seedhouse (2004) stellt aufgrund der empirischen Untersuchung die Organisation der Interaktion im Fremdsprachenunterricht dar. Dabei zeigt er auf, dass die reflexive Beziehung zwischen dem pädagogischen Fokus und der Unterrichtsinteraktion die Grundlage für die Interaktionsgestaltung ist. 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung Im vorliegenden Datenmaterial meiner Tandemforschung zeichnet sich ein kommunikatives Muster ab, das Verfestigungen auf mehreren Ebenen aufweist. Das Tandemgespräch ist - wie noch gezeigt wird - eine besondere kommunikative Gattung zwischen Alltagsgesprächen und Unterrichtsinteraktionen. Um einen Einblick in diese spezifische Gattung zu geben, möchte ich daher mit der Analyse eines konkreten Beispiels beginnen und so die wichtigsten in der vorliegenden Arbeit behandelten Themen einführen. Betrachten wir hierzu den folgenden Ausschnitt, der einem Gespräch zwischen der chinesischen Studentin Li und ihrem deutschen Tandempartner Lukas entstammt. Gespräch: Sport und Übergewicht ((Tandemgespräch, 27: 02-29: 16 Sek.)) [27: 02] 01 02 03 04 05 06 Li: ich habe VIElemal in unistAdion viele leute: : gesehen; alle sind alles mach SPORT, alles magen SPORT, MÖgen sport, ähm ähm (.)und mein äh und meine mitbeWOHner, ähm- 07 Lukas: meine mitbewohneRIN. 08 Li: und mein mitbeWOHner? 09 Lukas: ah: : okay. 10 11 Li: ähm hat im WINter immer laufen gemacht. immer geLAUFT. 12 13 Lukas: ach ähmmein mein mitbewohner äh äh äh LÄUFT im winter. <?page no="80"?> 80 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung 14 15 Li: LÄUFT im winter. äh läuft HÄUfig im winter. 16 Lukas: mhm. 17 18 Li: DENN (.) ich glaube- DENN [glaube- ] 19 Lukas: [DEShalb.] 20 Li: DEShalb. 21 Lukas: DEShalb glaube ich. 22 Li: DEShalb glaube ich ähm- 23 Lukas: dass, 24 Li: dass in DEUTSCHland (.) viele leute sports machen (.) möchten; 25 Lukas: <<p> hm: > 26 27 Li: und stimmt SO? für DICH stimmt so? 28 29 Lukas: ähm ich mache AUCH ein bisschen sport. aber in der zeit WEniger. 30 Li: und für die ANderen deutschen, 31 32 Lukas: ich DENke: : ähm die meinsten dicken LEUte; 33 Li: hm. 34 Lukas: sitzen alle zu HAUse; 35 Li: hehe[hehe- ] 36 Lukas: [und die-] 37 Li: und KUchen essen und WURST essen ja, 38 Lukas: und essen KUchen und essen WURST. 39 Li: hm. 40 41 42 43 44 Lukas: h° das ist ähm ähm SCHWIErig das zu sagen; es gibt äh vIEle staTIStiken. und auch von von ÄRZten und vom vom STAAT übersichten; wie viele leute etwa (xxx)sind. und welche welche NICHT (xxx) sind. 45 Li: hm. 46 47 48 Lukas: es gibt äh: : es gibt einen TREND. dass äh die KINder immer dicker werden. 49 Li: aha? 50 Lukas: es wird- <?page no="81"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 81 51 Li: und (xxx) oder großer werden, 52 53 Lukas: na GRÖßeralso mehr DIcker als größer. 54 Li: aha okay. 55 56 57 Lukas: es ist nicht so SCHLIMM wie in den u es a; aber (.) auch in euROpa würde es äh zu problem; dass äh viele KINder dick sind. [29: 16] 58 Li: hm, In dem vorangehenden Tandemgespräch sprechen Li und Lukas über Sport und Übergewicht in Deutschland. Li initiiert das Thema, indem sie das Phänomen im Unistadion beschreibt (Zeile 01 bis 04). In ihren Äußerungen finden sich Stellen, in denen die chinesische Deutschlernerin ihre Ausdrücke selbst korrigiert. Wenn sie in Zeile 02 „alle sind alles mach SPORT ,“ formuliert, korrigiert sie das Verb „sind“ auf „mach“. Obwohl diese Korrektur grammatisch immer noch nicht richtig ist, weiß Li, dass hier das Verb „sind“ nicht zu dem folgenden Objekt „Sport“ passen würde. Die sich anschließende Bearbeitung verdeutlicht, dass sie hier die richtige grammatische Form für das Verb „mögen“ sucht. Nachdem sie in Zeile 02 „mach“ als Verb für ihren Satz auswählt, korrigiert sie danach erneut auf „magen“ (Zeile 03), indem sie den ganzen Satz mit dem korrigierten Verb („alles magen SPORT,“) wiederholt. Im Anschluss daran ersetzt sie aber „magen“ durch „mögen“ (Zeile 04). Auffallend ist, dass der Akzent hier auf „mögen“ liegt, statt auf „sport“ wie in ihren vorangegangenen Formulierungen (Zeile 02 und 03). Die Akzentuierung des Verbs „mögen“ signalisiert Lis Bemühungen für die Suche nach dem richtigen Wort. Mit der Formulierung des richtigen Ausdrucks „mögen“ (Zeile 04) endet Lis selbstinitiierte Selbstkorrektur. Nach kurzer Verzögerung mit der Interjektion „ähm ähm“ (Zeile 05) setzt die chinesische Sprecherin ihre Rede fort. In Zeile 05 taucht der sprachliche Fehler „meine mitbe WOH ner“ auf. Lis deutscher Tandempartner Lukas greift hier ein, indem er „meine mitbewohne RIN .“ (Zeile 07) formuliert. Die Akzentuierung der Endung des Wortes „mitbewohne RIN “ verweist auf die Lokalisierung seiner Korrektur. Allerdings wird dies von Li nicht ratifiziert. Ihre Reaktion darauf („und mein mitbe WOH ner? “ in Zeile 08) zeigt, dass die betreffende Person männlich ist. Jedoch sieht man, dass Li sich durch Lukas’ Eingriff der Fehlerursache bewusst wird. Der problematische Ausdruck wird schließlich von ihr berichtigt. Sie führt dann das Gesprächsthema fort, indem sie ihren Satz nach der sprachlichen Aushandlung vervollständigt (Zeile 10). In Zeile 11 ist erneut eine selbstinitiierte Selbstkorrektur zu beobachten. Offenbar sucht Li in diesem Satz eine grammatisch korrekte Form für das Verb <?page no="82"?> 82 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung „laufen“. Beim Misslingen der Selbstkorrektur liefert Lukas nach kurzem Verzögern, was seine Überlegungszeit signalisiert, sein Angebot „mein mein mitbewohner äh äh äh LÄUFT im winter.“ (Zeile 13). Die Akzentuierung des Verbs („ LÄUFT “ in Zeile 13) weist erneut auf die Korrekturstelle hin. Li ratifiziert diesen korrigierten Ausdruck, indem sie den Satzteil mit der richtigen Verbform wiederholt (Zeile 14). Danach fokussiert sie sich wieder auf das Gesprächsthema und versucht weiter zu erzählen (Zeile 17). Während Li in Zeile 17 und 18 bei ihrer sprachlichen Formulierung zögert, greift Lukas wieder ein. In der Lehr-Lern-Sequenz von Zeile 19 bis Zeile 24 unterstützt Lukas als Laienlehrperson die chinesische Lernerin beim sprachlichen Formulieren auf Deutsch. Er ändert zuerst Lis Ausdruck „ DENN “ (Zeile 17 und 18) in „ DES halb“ (Zeile 19). Nachdem Li die Korrektur ratifiziert, liefert er die richtige Satzstruktur „des HALB glaube ich“ mit der Verbzweitstellung, bei der Li zögert (Zeile 17, 18). Wenn Li in Zeile 22 erneut sprachlicher Schwierigkeit für die Weitererzählung begegnet, hilft Lukas mit dem hinweisenden Stichwort „dass“ (Zeile 23) für den Satzbau. Li greift das angebotene Wort auf und setzt damit ihre Rede fort (Zeile 24). Von Zeile 24 bis 36 findet sich eine alltägliche Gesprächssequenz, die von Li und Lukas interaktiv erzeugt wird. Wenn Li in Zeile 37 „und KU chen essen und WURST essen ja,“ ausdrückt, liefert Lukas eine Korrektur (Zeile 38), die allerdings nicht (z. B. durch Akzentuierung) markiert ist. Implizit berichtigt er Lis Satzstruktur, indem er die grammatisch korrekte Form „und essen KU chen und essen WURST.“ (Zeile 38) produziert. Li ratifiziert dies mit dem Rezipientensignal „hm.“ (Zeile 39). Anschließend ergreift Lukas das Rederecht und setzt das Gespräch fort. Die Analyse dieses Ausgangsbeispiels illustriert, wie die alltäglichen Gesprächssequenzen und die Lehr-Lern-Sequenzen in dem Tandemgespräch interaktiv ineinander wechselweise verwoben werden. Die Interagierenden setzen unterschiedliche Verfahren ein, um die sprachlichen Schwierigkeiten im Verlauf des Gesprächs zu bewältigen. Nach der Lösung des Problems führen sie das beendete Gespräch mittels verschiedener Strategien weiter. Apfelbaum (1993) untersucht die Sprachlernaktivitäten im Tandem anhand transkribierter Daten zwischen französischen und deutschen Studierenden. Mit konversationsanalytischer Methode analysiert sie die interaktive Realisierung der sprachlichen Bearbeitung unter den folgenden drei Gesichtspunkten: - die Phase der Problemmanifestation - die Phase der Problembearbeitung - Problemlösung und Ratifizierung. <?page no="83"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 83 Nach den Befunden ihrer empirischen Untersuchung beziehen sich die Sprachlernaktivitäten vorwiegend auf lexikalische, morphologische Probleme wie Präpositionen- oder Artikelgebrauch. Die Lerner oder die Muttersprachler initiieren die Lernsequenzen in Tandeminteraktionen. Die sprachlichen Probleme können entweder durch die Fremdhilfe der muttersprachlichen Gesprächspartner oder durch die Selbsthilfe der Lerner gemeistert werden. Zuweilen gelten die interaktiv initiierten sprachlichen Aushandlungen als Ausgangspunkte für explizit-sprachreflexive Sequenzen, in denen die Interagierenden über Regelhaftigkeiten der Zielsprache nachdenken. Im Bereich der Konstruktion der Sprachlernaktivitäten im Tandem unterscheidet Apfelbaum (1993) die Selbstinitiative der Lerner von der Fremdinitiative der Muttersprachler. Während erstere von „Verzögerungen“, „Dehnungen“, „Wiederholungen“, „Pausen in den Elementen, die dem gesuchten Element vorausgehen“ (Apfelbaum 1993: 162) geprägt sind, realisieren die muttersprachlichen Tandempartner ihre Fremdinitiative entweder auf direkte oder indirekte Weise. Dabei erörtert Apfelbaum (1993) das Thema zu der Imagebedrohung. Einerseits argumentiert sie, dass die Muttersprachler mit indirekten Verfahren die Initiative der Bearbeitung sprachlicher Probleme weniger imagebedrohend machen (Apfelbaum 1993: 176). Andererseits weist sie darauf hin, dass die nichtmuttersprachlichen Interagierenden immer damit zu rechnen scheinen, von ihren muttersprachlichen Tandempartnern bei sprachlichen Problemen Hilfen zu erhalten (Apfelbaum 1993: 195). Allerdings bezweifelt sie die Lerneffekte der fremdinitiierten Hilfe. Dazu schreibt sie folgendenmaßen: Übernimmt der / die NMS das Management des Verfahrens, fühlt er / sie sich weniger bedroht, und es ist zu erwarten, dass Memorisierungseffekte größer sind. Geht die Initiative hingegen vom MS aus, fühlt der / die NMS sich stärker bedroht, und Lerneffekte werden unwahrscheinlicher. (Apfelbaum 1993: 160) Beim Argumentieren der Lerneffekte bezieht sich die Autorin jedoch lediglich auf den „korrekten Wiedergebrauch eines korrigierten Elements“ (Apfelbaum 1993: 195), was kognitionswissenschaftlich nicht überzeugend erscheint. Wir sehen, dass Apfelbaums Studie vor allem von der Bearbeitung der sprachlichen Probleme ausgeht. Sie analysiert die Sprachlernaktivitäten im Tandem mit dem Fokus auf der Problemlösung. Während sie dabei die interaktiven Realisierungen der Initiativen sowie der Beendigungen der Lernsequenzen darstellt, wird der Wechsel-Mechanismus zwischen den Sprachlernaktivitäten und dem alltäglichen Tandemgespräch im Sinne der kommunikativen Gattung nicht miteinbezogen. Darüber hinaus ist zwar in Apfelbaums Untersuchung eine ausführliche Beschreibung der interaktiven Konstruktion der Sprachlernsequenzen zu beobach- <?page no="84"?> 84 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung ten, aber eine systematische Darstellung der Verfahren (verbal oder nonverbal), die die Interagierenden für die Realisierung der sprachlichen Bearbeitung einsetzten, bleibt aus. Mit konversationsanalytischer Methode untersuche ich anhand des vorliegenden Datenmaterials den typischen Wechsel-Mechanismus zwischen Alltagsgesprächen und Lehr-Lern-Sequenzen in der kommunikativen Gattung der Tandeminteraktion. Demzufolge wird vor allem zwei Fragen nachgegangen. Auf einer Seite wird analysiert, wie der Wechsel zwischen Alltagsgesprächen und Lehr-Lern-Sequenzen interaktiv konstruiert wird. Auf anderer Seite wird untersucht, welche sprachlichen (bzw. kommunikativen) Verfahren eingesetzt werden, um den Wechsel zwischen Alltagsgesprächen und Lehr-Lern-Sequenzen zu realisieren. Das heißt, die Zwischenstruktur und die Binnenstruktur der Tandeminteraktion der kommunikativen Gattung werden dabei systematisch behandelt. 3.4.1 Der Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz Bereits bei der Vorstellung des Ausgangsbeispiels „Sport und Übergewicht“ im letzten Kapitel wurde deutlich, wie häufig Li bei der Konstruktion ihrer Rede in der Fremdsprache Deutsch die Hilfe ihres muttersprachlichen Tandempartners in Anspruch nimmt, um das Gesprächsthema mit dessen Unterstützung fortzusetzen. Im vorliegenden Tandemmaterial kommt es gehäuft zu Sequenzen, in denen die Interagierenden sprachliche Probleme bearbeiten. Viele dieser Sequenzen weisen von der Form her ausgeprägte Spuren von Lehr- und Lernaktivitäten auf. In diesem Kapitel möchte ich genauer darauf eingehen, wie der Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz, der in die laufenden Ereignisse eingebettet ist, interaktiv realisiert wird und welche strukturellen und sprachlichen Merkmale diese interaktiven Verfahren auszeichnen. Für die Darstellung der interaktiven Konstruktion orientiere ich mich in der vorliegenden Arbeit an dem Begriff „Reparatur“ in der Gesprächsanalyse. Unter „Reparatur“ ist „der Werkzeugkasten für nicht funktionierende Intersubjektivität, der Probleme zumindest ‚für alle praktischen Zwecke ausreichend‘ beseitigen kann“, (Bauer 2014: 4) zu verstehen. Dieser Begriff ist auf Schegloff / Jefferson / Sacks (1977) zurückzuführen, die sich erstmals mit den Problemlösungsaktivitäten in der Gesprächsanalyse befassen und diese als Reparatur bezeichnen. Die linguistische Reparaturforschung geht davon aus, dass die menschlichen Äußerungen im alltäglichen Gespräch „nicht immer ‚fehlerfrei‘, nicht immer ‚adäquat’“ (Bauer 2014: 2) sind und „auch nicht immer das sagen, was wir eigentlich zum Ausdruck bringen wollten“ (Bauer 2014: 2). Es kann zu Missver- <?page no="85"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 85 ständnissen kommen, der Sprecher kann sich irren oder sich versprechen. Trotz der Kooperationsbereitschaft zwischen den Gesprächspartnern ist ein präzises Verstehen nicht zu garantieren. Unter dem Einfluss verschiedener Faktoren (wie kognitiver, sozialer, kultureller, interaktionaler) kann jeder einzelne Gesprächsbeitrag unterschiedlich interpretiert werden. In der Regel begnügt sich das Alltagsgespräch damit, dass die Interaktion fortgeführt werden kann. Eine gewisse Vagheit, die die Fortsetzung des Gesprächs nicht verhindert, wird toleriert. Im Alltag sind aber nicht alle sprachlichen Probleme auszuhalten, insbesonders wenn sie zu Störungen und Schwierigkeiten führen und daher das Verstehen beeinträchtigen. Die Gründe für das Entstehen solcher Probleme können sehr unterschiedlich sein. Das kann im Sprecher liegen. Er wählt z. B. ein unpassendes Wort oder macht einen artikulatorischen Fehler. Das kann aber auch von der Seite des Zuhörers kommen. Er findet z. B. die Formulierungen des Sprechers nicht verständlich oder nicht angemessen. In Unterrichtsinteraktionen der Fremdsprache mit dem Fokus auf die sprachliche Form wird beispielsweise der Beitrag des Lerners trotz des inhaltlichen Verständnisses häufig vom Lehrer repariert, weil er grammatisch dem pädagogischen Ziel nicht entspricht. Ferner kann es auch sein, dass externe Faktoren (z. B. Lärm in der Umgebung, Unterbrechungen von anderen Personen) den Gesprächsverlauf gefährden. In solchen Situationen können die Gesprächspartner die problematischen Redebeiträge zur Verständnissicherung bearbeiten. Das Gespräch kann damit fortgesetzt werden. Diese Ausführung des Begriffs „Reparatur“ in der Konversationsanalyse verdeutlicht die interaktiven Merkmale der Reparatur und deren Funktion im Gespräch. Für ihre Realisierung bieten sich verschiedene Verfahren an, die in der sprachwissenschaftlichen Konversationsanalyse als „Reparatursystem“ (Bauer 2014: 4) bezeichnet werden. Zu der wichtigen Funktion des Reparatursystems im Gesprächsverlauf sowie der Gesprächsorganisation schreibt Bauer wie folgt: Deshalb ist das Reparatursystem ein notwendiger Bestandteil unserer sprachlich-interaktionalen Kompetenzen und kann als universall einsetzbare Grundausstattung des Werkzeugkastens für die Sicherung der Intersubjektivität betrachtet werden. (Bauer 2014: 4) Wie wir bereits im Ausgangsbeispiel des letzten Kapitels gesehen haben, zeichnen sich Tandemgespräche durch Lehr-Lern-Sequenzen aus, in denen die Redebeiträge der Lerner vervollständigt oder korrigiert werden. Damit wird die Tandeminteraktion fortgeführt. In der vorliegenden Arbeit bezeichne ich solche Lehr-Lern-Sequenzen als Reparatur im Tandem. Während die Reparaturen im Alltagsgespräch von verschiedenen Faktoren (internen oder externen) verursacht werden, werden die Reparatursequenzen in Tandeminteraktion vor <?page no="86"?> 86 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung allem durch die sprachlichen Schwierigkeiten der nichtmuttersprachlichen Lerner verursacht. In der sprachwissenschaftlichen Konversationsanalyse unterscheidet man häufig die folgenden vier Standardformate der Reparatur: - selbstinitiierte Selbstreparatur. Der Sprecher selbst leitet die Reparatur ein und nimmt sie vor. - selbstinitiierte Fremdreparatur. Der Sprecher initiiert die Reparatur und der Hörer übernimmt. - fremdinitiierte Selbstreparatur. Sie bezieht sich auf eine Reparatur, die vom Hörer initiiert und vom Sprecher selbst durchgeführt wird. - fremdinitiierte Fremdreparatur. Der Hörer führt die Reparatur ein und nimmt sie vor. (vgl. Bauer 2014: 25) Im vorliegenden Datenmaterial des chinesisch-deutschen Tandems sind alle vier Reparaturformate enthalten. Aber im Hinblick auf Lehr-Lern-Sequenz, in der die muttersprachliche Laienlehrperson und der Lerner interaktiv sprachliche Probleme bearbeiten, werden hauptsächlich fremdinitiierte Fremdreparatur und selbstinitiierte Fremdreparatur eingesetzt. Bei selbstinitiierter Selbstreparatur handelt es sich um Reparaturen, die in jedem alltäglichen Gespräch passieren können. Außerdem fehlt hier der Eingriff der Lehrperson. Fremdinitiierte Selbstreparaturen, die in meinen Daten auftauchen, sind entweder auf akustische Verständnisprobleme des Zuhörers oder auf Aussprachefehler des Lerners zurückzuführen. Die Probleme werden von den muttersprachlichen Zuhörern mittels Nachfragens signalisiert und von den Lernern selber bewältigt. Eine Lehr-Lern-Sequenz der interaktiven sprachlichen Bearbeitung lässt sich nicht finden. Daher werden in der vorliegenden Arbeit zum Thema des Wechsels vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz zwei Reparaturformate analysiert, nämlich fremdinitiierte Fremdreparatur und selbstinitiierte Fremdreparatur. Im Folgenden möchte ich zuerst die interaktive Konstruktion der Reparaturinitiierung im chinesisch-deutschen Tandem nach den Kategorien der fremdinitiierten Fremdreparatur und der selbstinitiierten Fremdreparatur darstellen. Wir werden sehen, wie das Alltagsgespräch in Tandeminteraktion hin zu Sprachlernsequenzen wechselt. Während ein Teil der Lehr-Lern-Sequenzen im Tandem mit dem Begriff „Reparatur“ dargestellt werden kann, können einige Sequenzen dieser Kategorie nicht zugeordnet werden. In einigen Sequenzen meiner Daten initiieren Muttersprachler selbst Erklärungen von Wörtern und Ausdrücken, um kommunikative Störungen zu vermeiden. Das heißt, die Muttersprachler gehen davon aus, dass die von ihnen ausgedrückten Elemente möglicherweise für die Lerner fremd sind. Sie initiieren deswegen eine Erklärung für die nichtmuttersprachlichen <?page no="87"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 87 Gesprächspartner. Außerdem beobachten wir in den Daten, dass die Lerner zuweilen Sprachreflexion veranlassen, um mit den muttersprachlichen Tandempartnern bestimmte sprachliche Phänomene zu besprechen. Sie realisieren dabei auch den Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz. Diese werde ich unter den Kategorien der fremdinitiierten Worterklärung und der selbstinitiierten Sprachreflexion vorstellen. Darüber hinaus möchte ich aufgrund meiner Analyse auf den Unterschied zwischen Interaktionen im Fremdsprachenunterricht und Lehr-Lern-Sequenzen im Tandem hinweisen. Im Hinblick auf die Interaktionsform zeigen die Lehr- Lern-Sequenzen schon Ähnlichkeiten mit den Unterrichtsinteraktionen. Aber es fehlt im Tandem ein übergreifender pädagogischer Fokus. Während die Interaktion im Fremdsprachenunterricht immer von einem bestimmten übergeordneten pädagogischen Fokus abgeleitet wird, werden die Lehr-Lern-Sequenzen im Tandem häufig durch Verständnisschwierigkeiten des Muttersprachlers oder Formulierungsprobleme des Lerners initiiert. Lehr-Lern-Aktivitäten, die vom pädagogischen Ziel ausgehen, sind in meinem Korpus hauptsächlich in den Daten von Li und Lukas zu beobachten. Allerdings findet man hier nur lokale pädagogische Ziele. Ein übergreifender pädagogischer Fokus bleibt immer noch aus. Schließlich werde ich in diesem Kapitel meine Hypothese bezüglich der kommunikativen Gattung beweisen. Wir werden sehen, dass das Tandemgespräch als kommunikative Gattung kein homogenes statisch-fixiertes Gebilde darstellt. Die Gestaltung der Initiierungen der Lehr-Lern-Aktivitäten variieren bei unterschiedlichen Tandempaaren. Dabei spielt das Sprachniveau des Lerners eine entscheidende Rolle. Von Seiten der Lerner sind je nach ihren Sprachniveaus verschiedene Verfahren festzustellen, die sie zur Initiierung der sprachlichen Bearbeitung einsetzen. Von Seiten der Lehrer finden sich deutliche Merkmale, die die muttersprachlichen Anpassungsstrategien gegenüber den Lernern in verschiedenen Sprachzuständen anzeigen. 3.4.1.1 Fremdinitiierte Fremdreparatur Fremdinitiierte Fremdreparaturen machen in dem vorliegenden Datenmaterial einen erheblichen Teil aus, insbesondere in den Tandemgesprächen zwischen Li und Lukas. Dabei werden vor allem problematische Stellen bezüglich der Phonetik, des Wortschatzes, der Grammatik (wie Zeitform, Artikel, Pluralform und Syntax) bearbeitet. Im Folgenden möchte ich verschiedene interaktive Konstruktionen fremdinitiierter Fremdreparatur darstellen. <?page no="88"?> 88 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung 1. Fremdinitiierte Fremdreparatur in Form von Korrigieren Im vorliegenden Datenmaterial enthält häufig fremdinitiierte Fremdreparaturen, in denen die von den Lernern produzierten Fehler bereinigt werden. In diesem Reparaturformat fällt die Initiierung der Reparatur in der Regel mit der Durchführung zusammen. Bauer (2014) bezeichnet dies als „ein recht ökonomisches Vorgehen“ (Bauer 2014: 40). Betrachten wir dazu einige Beipiele: Im ersten Gesprächsausschnitt aus den Daten von Li und Lukas geht es um die Erzählung einer Geschichte. Das niedrige Sprachniveau der chinesischen Erzählerin sorgt für eine hohe Dichte an Reparaturen, wobei wir hier nur die fremdinitiierten Fremdreparaturen in Bezug auf den Artikel (Zeile 49) und die Phonetik (Zeile 52) betrachten wollen. Gespräch: Ein türkischer Student ist auf etwas Stinkendes getreten. ((Tandemgespräch, 01: 23: 42-01: 23: 55 Sek.)) [01: 23: 42] 47 48 Li: er sagt. ähm (.) das teppen das teppich [STINKT. ] 49 Lukas: [DER teppich.] 50 Li: äh der teppich STINKT. 51 Lukas: stinkt. [01: 23: 55] 52 53 54 Li: stinkt. ähm ich werde ich werde; = = KANN ich ein anderen platz nehmen. Der deutsche Student Lukas stellt einen grammatischen Fehler in dem von Li formulierten Satz (Zeile 48) fest und korrigiert diesen, indem er den falschen Artikel „das“ für das Substantiv „Teppich“ durch die richtige Form „der“ ersetzt (Zeile 49). Die Überlappung in Zeile 48 und 49 zeigt, dass die Initiierung durch Unterbrechung realisiert wird. Li nimmt die Reparatur an und baut das korrigierte Element in ihren Redebeitrag ein (Zeile 50). In Zeile 50 kommt es zu einer phonetischen Abweichung des Verbs „stinkt“. Dabei ist wieder eine fremdinitiierte Fremdreparatur zu beobachten. Lukas initiiert nämlich eine Reparatur und korrigiert den Fehler gleichzeitig, indem er „stinkt“ in angemessener Aussprache ausdrückt (Zeile 51). Li ratifiziert die Reparatur wiederholt (Zeile 52). <?page no="89"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 89 Im folgenden Beispiel sehen wir, wie die Muttersprachlerin Linda ihre Reparatur mittels Stilisierungsverfahrens lokalisiert. Gespräch: ich wurde mal von unserem Hund gebissen. ((Tandemgespräch, 34: 57-35: 25 Sek.)) [34: 57] 50 51 Linda: hm und ansonsten warst du mal irgendwie anSONsten im krankenhaus oder schlimmer verletzt oder so,= =[hast du mal deinen BEIN] oder arm gebrochen oder so, 52 53 54 55 Ting: [ja: : : ] nee nee nee. der ANdere teil sind alles gut. [weil-] 56 Linda: [hehe-] 57 58 Ting: hehe ja. weil das HUND ist von unserem haus; 59 Linda: DER hund. 60 Ting: ja ja der hund; 61 Linda: mhm. 62 Ting: er KENNT nicht. 63 Linda: mhm. 64 65 Ting: er er KENNT nicht so; er er ist NUR in der moment [sehr] ärgert; [35: 25] 66 67 Linda: [hm. ] okay. Auf den Beitrag der chinesischen Lernerin „weil das HUND ist von unserem haus; “ (Zeile 58) initiiert die deutsche Tandempartnerin Linda eine Reparatur (Zeile 59). Sie korrigiert den von Ting verwendeten falschen Artikel „das“ auf „der“ (Zeile 59). Die deutliche Akzentuierung des korrigierten Artikels „der“ weist Ting darauf hin, wo die Korrektur lokalisiert wird. Die unmittelbaren Rezipientensignale „ja ja“ (Zeile 60) der Lernerin zeigen, dass sie die Reparatur ihrer Tandempartnerin versteht und annimmt. Anschließend wiederholt sie das korrigierte Element (Zeile 60). Während die fremdinitiierten Fremdreparaturen in den beiden Beispielen durch Überlappung (Beispiel 1) oder Akzentuierung (Beispiel 2) explizit mar- <?page no="90"?> 90 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung kiert werden, ist die Reparatur im folgenden Beispiel ohne deutliche Merkmale eher implizit. Gespräch: Ich war betrunken wegen Glühwein. ((Tandemgespräch, 00: 10-00: 39 Sek.)) [00: 10] 01 Max: warst warst du schon mal beTRUNken, 02 03 04 Le: ja in in OSnabrück vor zwei jahren; = = ich habe einmal ähm ungefähr eine HÄLFte voneine HÄLFte: mit glas (.) glühwein getrunken; 05 Max: ein HALbes glas. 06 Le: ja und dann bin ich getrun beTRUNken; 07 08 Max: SCHON, ein HALbes glas, 09 Le: ja. [00: 39] 10 11 Max: oh ((lacht)) und was hast du geMACHT, Im vorangehenden Gesprächausschnitt zwischen Le und Max geht es um eine Erzählung der Trunkenheit. In Zeile 03 und 04 fällt auf, dass die chinesische Erzählerin Le beim Formulieren von „eine HÄLF te“ zögert. Daraufhin bietet ihr Tandempartner Max eine Reparatur durch den korrekten Ausdruck „ein HALbes glas“ (Zeile 05) an. Le reagiert darauf einfach mit dem kurzen Rezipientensignal „ja“ und setzt ihre Rede fort (Zeile 06). Eine deutliche Ratifizierung des korrigierten Ausdruckes findet sich nicht. Es kann sehr wohl sein, dass Le die nicht deutlich markierte Reparatur ihres Tandempartners als eine Nachfrage bezüglich des Erzählinhalts interpretiert und dies mit „ja“ bestätigt. Es kann aber genauso gut sein, dass Le die Reparatur einfach mit „ja“ ratifiziert. Das bleibt offen. Während die fremdinitiierten Fremdreparaturen in den oben genannten Beispielen direkt im Anschluss an den Fehler im Beitrag der chinesischen Lerner <?page no="91"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 91 erfolgen, werden im vierten Beispiel solche Reparaturen erst in einem späteren Redeteil ausgeführt, also mit Abstand zu dem betreffenden Fehler. Gespräch: Der Zug ist ausgefallen. ((Tandemgespräch, 25: 21-26: 06 Sek.)) [25: 21] 01 02 03 Ting: wir wir war (.) äh in MEtzingen? fünf uhr zuRÜCKgekommen, und habe ich ZWÖLF uhr ZWÖLFund(.)halb angekommen. 04 05 06 Linda: waRUM, was war LOS? [STAU ]oder, 07 08 Ting: [weil-] ja nee; 09 Linda: auf dem ZUG, 10 11 12 13 14 15 Ting: oh nee nee; auf dem ZUG ja. weil ein einmal ist DURCHgefallen; und sie haben mir NICHT gesagt; wir WARten und WARten, aber es gibt diesen zug NICHT, 16 Linda: ach AUSgefallen [nicht ] durchgefallen. 17 18 Ting: [ja ja.] ach [ja AUSgefallen.] 19 Linda: [okay ja. ] [26: 06] 20 21 22 Ting: ja und wir muss ein ANderer äh zug nehmen? und es: wir brauchen HALbe stunde in der bahnhof warten; In Zeile 16 initiiert Linda ihre Reparatur „ach AUS gefallen [nicht] durchgefallen“, die sich auf den Fehler der chinesischen Studentin in Zeile 12 bezieht. Die Symptominterjektion „ach“ (Zeile 16) signalisiert Lindas Empfindung. Sie versteht erst im Kontext, was Ting mit „ DURCH gefallen“ (Zeile 12) in ihrer Geschichte meint. Das heißt, ihre Reparatur beruht auf ihrem Verständnis des kontextualisierten Inhalts. Das korrigierte Element liegt auch nicht auf der Ebene der Grammatik, sondern auf der Ebene des sprachlichen Sinnes. Ferner sehen wir in diesem Fall eine deutliche Markierung von Lindas Reparatur. Mit „[nicht] durchgefallen“ (Zeile 16), was unmittelbar im Anschluss an das korrigierte Element erzeugt wird, weist sie explizit auf die Lokation <?page no="92"?> 92 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung ihrer Korrektur hin. Schließlich wird diese Reparatur durch eine interaktive Bearbeitung der beiden Tandempartnerinnen beendet. 2. Fremdinitiierte Fremdreparatur mit gesichtsbedrohenden Formulierungen Während die korrigierten Elemente in den vorangegangenen Beispielen durch den Muttersprachler im Gesprächsverlauf unmittelbar geliefert werden und damit möglicherweise weniger imagebedrohend sind, kommt es in Lis Daten zuweilen zu expliziten gesichtsbedrohenden Formulierungen der muttersprachlichen Laienlehrperson. Das folgende Beispiel zeigt, wie Lukas Lis phonetischen Fehler bei dem Wort „Kollegin“ korrigiert. Gespräch: Eine Kollegin aus Senegal hat eine nette deutsche Schwiegermutter. ((Tandemgespräch, 01: 10: 57-01: 11: 40 Sek.)) [01: 10: 57] 01 02 Li: wenn die kolleGEN das gesagt hat, ein anderer kolleGEN aus senegal, 03 Lukas: ALS die kollegin das [gesagt ] hat. 04 05 Li: [ach ja.] als die kolleGEN das gesagt hat, 06 07 Lukas: du hast wieder GEN gesagt; aber kolleGIN. 08 09 Li: kolleGIN <<p> kolleGIN.> ähm- 10 Lukas: hat eine kolleGIN aus senegal? 11 12 13 Li: hm hat eine kolleGIN aus senegal? SEnegal. äh äh GEgenteil gesagt; 14 Lukas: mhm. [01: 11: 40] 15 16 Li: ähm sie kann nur franZÖsisch spreäh sie kann nur franZÖsisch sprechen, Dieser Ausschnitt entstammt dem Gespräch zwischen Li und Lukas, in dem Li die Beziehung zwischen ihrer senegalesischen Kollegin und deren deutscher Schwiegermutter erzählt. In Zeile 01 ist schon zu beobachten, dass Li beim Aussprechen des deutschen Wortes „Kollegin“ ein phonetisches Problem hat. Statt „Kollegin“ spricht sie „Kollegen“. Lukas korrigiert Lis gesamten Beitrag in Zeile 01, indem er „ ALS die kollegin das [gesagt] hat.“ (Zeile 03) formuliert. Seine Akzentuierung der Konjunktion „ ALS “ (Zeile 03) signalisiert den Schwerpunkt in seiner Korrektur. Das wird tatsächlich von der chinesischen Lernerin ratifiziert. <?page no="93"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 93 In Zeile 05 wiederholt sie nämlich den reparierten Beitrag mit der Aufnahme der korrigierten Konjunktion. Das zweite Element „Kollegin“, das Lukas in Zeile 03 eben korrigiert, wird aber übersehen. In diesem Fall ist Lukas’ Redebeitrag „du hast wieder GEN gesagt; “ (Zeile 06) auffällig. Mit dem Adverb „wieder“ drückt er Lis Rückkehr in einen früheren Zustand aus, was für Li gesichtsbedrohend ist. Im Anschluss daran liefert er die richtige Formulierung des Wortes „kolle GIN “ (Zeile 07), die von Li wiederholt ratifiziert wird (Zeile 08). Das Gespräch wird danach interaktiv fortgesetzt. Das oben beschriebene gesichtsbedrohende Phänomen im Tandem wird auch in Apfelbaums (1993) Studie diskutiert. Sie stellt es im Zusammenhang mit den Lerneffekten dar. Ihrer Meinung nach ändern sich die Memorisierungseffekte des Lerners nach dem Grad der Gesichtsbedrohung. Je weniger bedroht sich der Lerner fühlt, desto größer ist der Lerneffekt (Apfelbaum 1993: 160). Eine ausführliche überzeugende Begründung dafür bleibt aber in ihrer Arbeit aus. In Anlehnung an das „face“-Konzept (deutsch: „Image“ und „Gesicht“) von Erving Goffman werde ich die Gesichtsbedrohungen in der vorliegenden Arbeit im Zusammenhang der Tandeminteraktionen analysieren. Ausgehend davon, dass jeder Mensch zwei grundsätzliche Bedürfnisse hat - „to be unimpeded“ und „to be approved“ (Brown / Levinson 1978: 63) - entwickeln Brown / Levinson (1978) das „face“-Konzept weiter und verweisen auf den Zusammenhang zwischen dem Sprachverhalten und den konversationellen Beziehungen. Der Sprachgebrauch in sozialen Handlungen dient dazu, den beiden Grundbedürfnissen in Bezug auf „face“ gerecht zu werden. Das „face“ wird also in der Interaktion mit anderen wechselseitig bestätigt und konstruiert. Natürlich ist das „face“ auch kontextverflochten. Es wird der jeweiligen Situation angepasst. Nach Goffmann (1973: 12) verfügen die Interagierenden über verschiedene Strategien, sich in der Interaktion darzustellen. Kotthoff (1989) sieht „Face-work“ als „den entscheidenden Beziehungsindikator“ (Kotthoff 1989: 42). Dazu schreibt sie folgendermaßen: Wie stark ich in den Aktionsraum einer anderen Person eindringe, wie viel ich für ihr Selbstimage tue und für mein eigenes, vor allem, für welche Aspekte dieses Images, sind Indikatoren für die Beziehung zwischen dieser Person und mir. (Kotthoff 1989: 42) Wir sehen, dass es zwischen dem „Face-work“, dem situativen Kontext und der konversationellen Beziehungsherstellung eine reflexive Beziehung gibt. Die Imagearbeit passt sich einerseits dem Interaktionskontext an und wirkt andererseits aber bei der Kontextherstellung mit, wobei die Interagierenden jeweilige Strategien einsetzen. Die konversationelle Beziehung wird zum einen durch die Imagearbeit veranschaulicht. Zum anderen bestimmt die Beziehung zwischen den Interagierenden teilweise die Imagearbeit in ihrer Interaktion. <?page no="94"?> 94 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung Die Unterhaltung unter Freunden ist z. B. sicher anders als Arzt-Patient-Gespräche. Während man im ersteren aufgrund der engen freundlichen Beziehung sprachliche Verfahren (wie Witz, Ironie) mit möglichen Gesichtsbedrohungen verwenden kann, wird im letzteren weder der Arzt noch der Patient solche imagebedrohende Mittel einsetzen. Das Tandemgespräch findet in einem nicht-offiziellen Kontext statt. Ein deutliches Merkmal der Tandeminteraktion liegt in der entspannten Atmosphäre des Treffens. In der Regel treffen sie sich in einem Café, in der Wohnung, Mensa oder Uni. Es gibt nur zwei Gesprächspartner. Zeitlich haben sie keinen Druck. Sie können entspannt und frei sprechen und haben keinen Grund für Sprechhemmungen. Sie setzen zwar das Sprachenlernen als ein Hauptziel ihres Treffens. Aber wie wir in den Daten sehen, laufen die Lehr-Lern-Sequenzen in ihrer Interaktion auch in einer solchen entspannten Stimmung, die sich von einem institutionellen Unterrichtskontext unterscheidet. Dieser Kontext ermöglicht eventuelle imagebedrohende Verfahren in Interaktionen. Umgekehrt werden die Lehr-Lern-Sequenzen im Tandem durch den Einsatz bestimmter gesichtsbedrohender Mittel markiert. Denn im Alltagsgespräch zwischen einem Muttersprachler und einem Nichtmuttersprachler kommen in der Regel kaum sprachliche Verfahren vor, die das Gesicht des Gegenübers bedrohen (können). In der Lehr-Lern-Situation, wo der eine den anderen für eine Lehrperson hält, werden mögliche Gesichtsbedrohungen erlaubt. Nach Seedhouse (2004) sind im Fremdsprachenunterricht die sprachlichen Formen und Interaktionen, die die Lerner produzieren, potenziell häufig der Evaluation des Lehrers unterworfen. Im Tandem scheinen die nichtmuttersprachlichen Interagierenden - wie das vorangegangene Beispiel zeigt - damit zu rechnen, von seinem muttersprachlichen Gesprächspartner bei sprachlichen Problemen bewertet zu werden. Darüber hinaus indizieren die gesichtsbedrohenden Verfahren im Tandem die gleichberechtigte Beziehung zwischen den Interagierenden. Der folgende Ausschnitt aus den Daten von Le und Max illustriert, wie die chinesische Lernerin umgekehrt gesichtsbedrohende Formulierungen gegenüber ihrer muttersprachlichen Laienlehrperson äußert. <?page no="95"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 95 Gespräch: Wasserstraßekreuz ((Tandemgespräch, 27: 46-28: 35 Sek.)) [27: 46] 33 34 Le: wir NENnen das 水 桥 ; shuiqiao Wasserbrücke WASserbrücke. 35 Max: WASserbrücke? 36 Le: hehehe- 37 38 Max: ja, vielLEICHT, 39 Le: auf chiNEsisch; 40 Max: WASserbrücke magdeburg. 41 ((6.0)) 42 Le: DO: CH. 43 ((3.0)) 44 Le: wa [wa- ] 45 Max: [wasser]straßeKREUZ. 46 Le: <<p> wasserstraßeKREUZ.> 47 ((11.0)) 48 Le: bist du wirklich ein DEUtscher? 49 Max: ähm- 50 51 Le: vielleicht kommst du aus CHIna? he[hehehe-] [28: 35] 52 Max: [hehehe-] Dieses Beispiel entstammt einem Gespräch zwischen Le und Max, in dem Le ihrem Tandempartner eine spezifische Brücke in Magdeburg, unter der große Schiffe durchfahren können, beschreibt. Max weiß zwar, welche Brücke Le meint, kann aber nicht antworten, wie eine solche Brücke auf Deutsch heißt. Darauf liefert Le die chinesische Bezeichnung „ 水桥 (shui qiao)“ (Zeile 33), die sie im Anschluss daran wörtlich ins Deutsche übersetzt (Zeile 34). Max äußert seinen Zweifel an dieser Bezeichnung, indem er „WASserbrücke? “ (Zeile 35) mit einem deutlich steigenden Ton ausdrückt. Der Beitrag in Zeile 38 verdeutlicht seine Unsicherheit gegenüber der aus dem Chinesischen wörtlich ins Deutsche übersetzten Bezeichnung. Le betont, dass dieser Begriff aus der chinesischen Sprache stammt (Zeile 39). Anschließend gibt Max die Stichwörter „ WAS serbrücke magdeburg.“ (Zeile 40) in Google ein. Die Pause in Zeile 41 indiziert die PC -Wartezeit. Le äußert ihre Nachdrücklichkeit (Zeile 42), als sie den Begriff „Wasserbrücke“ in den Suchergebnissen von Google sieht, während Max <?page no="96"?> 96 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung hier schweigt und weiter schaut (Zeile 43). In Zeile 45 liefert Max die offizielle Bezeichnung „[wasser]straße KREUZ .“, die er online findet. Le ratifiziert diesen Begriff wiederholt (Zeile 46). Nach kurzer schriftlicher Bearbeitung dieses Begriffs (Zeile 47) stellt die chinesische Lernerin die Frage „bist du wirklich ein DEUtscher? “ (Zeile 48), die das Gesicht des muttersprachlichen Tandempartners bedroht. Während Max darauf zögert (Zeile 49), fragt Le ihn weiter in einem humorvollen Stil, ob er vielleicht aus China komme (Zeile 50). Dies verstärkt die Gesichtsbedrohung. Auffallend ist aber, dass Le ihre imagebedrohenden Formulierungen danach unmittelbar durch das Lachen (Zeile 51) abschwächt. Max lacht mit (Zeile 52) und mildert dabei seine mögliche Peinlichkeit wegen der Gesichtsbedrohung durch die Lernerin. Dieses Beispiel zeigt, dass in Lehr-Lern-Sequenzen im Tandem nicht nur gesichtsbedrohende Formulierungen gegenüber dem Lerner, sondern auch gegenüber der muttersprachlichen Laienlehrperson zu beobachten sind. Gesichtsbedrohende Phänomene, wie in dem Beispiel „eine Kollegin aus Senegal hat eine nette deutsche Schwiegermutter“, finden sich nicht selten in Interaktion des Fremdsprachenunterrichts. In Unterrichtsinteraktionen jedoch sind imagebedrohende Ausdrücke gegenüber dem Lehrer nicht festzustellen. Dies wird zum großen Teil von der institutionell hierarchischen Beziehung zwischen dem Lerner und dem Lehrer im Unterricht bestimmt. Im Tandem, wo die beiden Interagierenden gleichberechtigt sind, kommt es zur Imagebedrohung gegenüber der Laienlehrperson. Tandem zeichnet sich eben dadurch aus, dass jeder Tandempartner abwechselnd Lerner für die Fremdsprache und Laienlehrperson für die eigene Muttersprache ist. Ferner veranschaulicht dieses Beispiel das Unvermögen der muttersprachlichen Laienlehrperson. Als eine Laienlehrperson ohne Vorbereitung ist Max nicht in der Lage, der chinesischen Lernerin eine offizielle Bezeichnung für das Wasserstraßenkreuz zu liefern. 3. Fremdinitiierte Fremdreparatur in Form von Scaffolding Unter Scaffolding ist im weitesten Sinne unterstützendes Lehrerverhalten im Lernprozess zu verstehen. Durch die Bereitstellung einer Orientierungsgrundlage des Lehrers lösen die Lerner sprachliche Aufgaben, die sie allein nicht bewältigen können. In der deutschen Sprache wird der englische Begriff „Scaffolding“ als Gerüstbau oder unterstützender Dialog bezeichnet. Das folgende Beispiel aus dem Gespräch zwischen Li und Lukas zeigt, wie der Mutter- <?page no="97"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 97 sprachler die chinesische Lernerin interaktiv unterstützt, als sie aufgrund von Formulierungsschwierigkeiten ihren Redebeitrag nicht vervollständigen kann. Gespräch: Vorbereitung auf ein Bewerbungsgespräch ((Tandemgespräch, 01: 00: 25-01: 00: 47 Sek.)) [01: 00: 25] 26 Li: ein beKANNter[bei-] 27 Lukas: [ein ] FREUND von mir; 28 29 Li: ein FREUND von mir hat mir gesagt, hm: 30 Lukas: dass, 31 Li: dass ich (.) bei Ihnen eine stelle suchen (.) können (.) kann. 32 Lukas: ähm: 33 Li: <<p> das ist NICHT? > [01: 00: 47] 34 Lukas: dass ich bei ihnen eine STElle ähm: : : finden kann; Diese Sequenz stammt aus dem Gespräch, in dem Lukas seiner chinesischen Tandempartnerin hilft, sie auf ihr Bewerbungsgespräch vorzubereiten. Auf Lukas’ Vorschlag versucht Li, mündlich einen Text für ihre bevorstehende Bewerbung zu verfassen. In Zeile 26 beginnt sie mit ihrer einführenden Vorstellung. Nach einer kurzen Korrektur des Muttersprachlers (Zeile 27) bringt sie ihren Beitrag „ein FREUND von mir hat mir gesagt,“ (Zeile 28) zum Ausdruck. Danach aber zögert sie (Zeile 29). Der dehnende Verzögerungslaut „hm: “ (Zeile 29) füllt die Pause, während sie über weitere Formulierungsmöglichkeiten nachdenkt. Hier greift Lukas ein, ohne sich an Li zu wenden. Er veranlasst eine Fremdreparatur in Form von „Scaffolding“, indem er die Konjunktion „dass“ (Zeile 30) anbietet. Li ratifiziert diese Fremdreparatur und bildet damit den Nebensatz „dass ich (.) bei IH nen eine stelle suchen (.) können (.) kann.“ (Zeile 31). Lukas ermöglich hier mittels der dialogischen Sprechhilfe die Gesprächsfortführung der Lernerin. „Scaffolding“ ist ein unterstützendes Verfahren, das häufig in Interaktion im Fremdsprachenunterricht verwendet wird. Dazu schreibt Schwab (2009) im Zusammenhang mit der Bedeutung der Schülerbeteiligung an Unterrichtsinteraktionen folgendermaßen: Die Schüler müssen von Anfang an die Möglichkeit zur Beteiligung am Unterrichtsdiskurs haben. Aufgabe der Lehrkraft ist es, Hilfestellungen zu geben, ein sprachliches Gerüst aufzubauen, das bei Bedarf wieder Stück für Stück abgetragen werden kann. (Schwab 2009: 67) <?page no="98"?> 98 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung Während der Gerüstbau eine wichtige Aufgabe für den Lehrer im Fremdsprachenunterricht ist, zeichnet sich die Laienlehrperson im Tandem auch durch ihre persönlichen Scaffolding-Verfahren aus. Eine Vielzahl des Wechsels vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz wird in meinem Korpus durch das „Scaffolding“ des muttersprachlichen Tandempartners realisiert. Bei der Darstellung der Rolle des muttersprachlichen Tandempartners widme ich ein Kapitel dem Scaffolding in Tandeminteraktionen. In Kapitel 5 wird das Thema anhand meiner empirischen Untersuchung ausführlich erörtert. 4. Fremdinitiierte Fremdreparatur in Form von Alternativfragen Das vorliegende Datenmaterial zeigt Sequenzen auf, in denen der Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz im Tandemgespräch durch Alternativfragen der muttersprachlichen Laienlehrperson bewerkstelligt wird. Diese sind in der Regel auf die Verständnisschwierigkeiten des Muttersprachlers zurückzuführen. Im folgenden Beispiel führt Lukas mittels einer Alternativfrage die Bearbeitung des sprachlichen Problems in Lis Formulierungen. Gespräch: Junge Leute sind unhöflich. ((Tandemgespräch, 01: 20: 21-01: 20: 53 Sek.)) [01: 20: 21] 61 62 63 Li: ähm sie hat diesie hat die al_alten leute (.) immer beHINdert. du ALter gesagt. 64 Lukas: sie hat den ALten [leuten,] 65 Li: [leuten,] 66 Lukas: oder sie hat ALten leuten oder ÄLteren leu- 67 Li: ÄLteren leute. 68 Lukas: also ALte leute sind so fünfzig sechzig jahre alt. 69 70 Li: hm ach.= =[aber] 71 Lukas: [aber] ÄLter [ist ] einfach älter als- [01: 20: 53] 72 73 74 Li: [ÄLter? ] ach ÄLter ÄLter leute; du Älter (.) du HINdert; Die chinesische Lernerin thematisiert in diesem Gespräch die Unhöflichkeit heutiger junger Leute. Dazu nimmt sie die sechsjährige Nichte ihres Kollegen <?page no="99"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 99 im Sprachkurs als Beispiel. In Zeile 61 erzählt sie, dass das Mädchen „die al_alten leute (.) immer be HIN dert. du AL ter“ (Zeile 62, 63) sagt. Zur Verständnisversicherung stellt Lukas die Frage, ob das Mädchen „alte Leute“ oder „ältere Leute“ meint (Zeile 64, 66). Darauf reagiert Li mit „ ÄL teren leute.“ (Zeile 67). Die Interpretation dieser Reaktion von Li bleibt hier aber offen. Es kann sein, dass sie damit wirklich Lukas’ Frage beantworten will. Es kann auch genauso gut sein, dass sie einfach den neuen Begriff, den sie gerade von Lukas gehört hat, wiederholt. Offensichtlich ist Lukas nicht sicher, ob Li seine Alternativfrage versteht und mit „ ÄL teren leute.“ (Zeile 67) ernsthaft beantwortet. Er versucht anschließend, eine Erklärung zu liefern (Zeile 68, 71). Während es in den vorangegangen Beispielen von Li und Lukas bezüglich der fremdinitiierten Fremdreparatur (in Form von Korrigieren, Scaffolding und mit gesichtsbedrohenden Formulierungen) um die sprachliche Form (z. B. Phonetik, Syntax, Artikel) geht, bezieht sich das Folgende auf die inhaltliche Ebene. Die fremdinitiierte Fremdreparatur geht hier nicht nur von der Korrektur der sprachlichen Form aus, sondern auch von der Verständnisunsicherheit des Muttersprachlers. Seedhouse (2004) untersucht die Interaktion im Fremdsprachenunterricht in vier differenzierten Kontexten (Kontext 1: Form und Exaktheit, Kontext 2: Bedeutung und Fluss, Kontext 3: aufgabenorientiert, Kontext 4: prozedural). In der Tandeminteraktion sehen wir, dass die Initiierung der Lehr-Lern-Sequenz auch im Zusammenhang mit dem Kontext steht. Allerdings handelt es sich in meinen Tandemdaten hauptsächlich um zwei Kontexte, nämlich den Kontext der Form und der Bedeutung. Darüber hinaus möchte ich erneut auf die Defizite der Laienlehrperson in Lehr-Lern-Sequenzen hinweisen. Einerseits zeigt Lukas seine fehlende Professionalität bei der Erklärung des Begriffs „alte Leute“. Er versteht darunter „alte Leute“ die „so fünfzig sechzig jahre alt“ (Zeile 68) sind. Tatsächlich aber sind damit in der deutschen Kultur nach allgemeiner Übereinkunft über siebzigjährige Menschen gemeint. Andererseits ist auffallend, dass Lukas seine Erklärung nicht beendet. In Zeile 71 fängt er mit der Erklärung des Begriffs „ältere Leute“ an. Diese unterbricht jedoch die chinesische Lernerin, indem sie „ach ÄL ter ÄLter leute; “ (Zeile 73) äußert. Es scheint, dass sie den richtigen Ausdruck findet. Die sprachliche Bearbeitung wird dann beendet, ohne konkrete Erklärung für „ältere Leute“. Eine spätere Bearbeitung für diesen Begriff kommt nicht vor. 5. Fremdinitiierte Fremdreparatur durch metasprachliche Fragen Zuweilen kommt es zur fremdinitiierte Fremdreparatur, die der Muttersprachler durch metasprachliche Fragen ermöglicht. In diesem Fall dient in meinem Korpus die Fremdinitiierung der Bedeutungsaushandlung vor allem der Ver- <?page no="100"?> 100 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung ständnissicherung des muttersprachlichen Tandempartners. Um das zu illustrieren, möchte ich das Gespräch zum Thema „Tanzkurs“ zwischen Le und Max aufgreifen. Gespräch: Tanzkurs ((Tandemgespräch, 11: 03-11: 21 Sek.)) [11: 03] 23 24 Le: <<lacht> ich WILL > samba lernen; aber keine LEHrer. 25 Max: hm? 26 Le: keine LEHrer. 27 Max: hm was heißt keine LEHrer, 28 Le: kein- 29 30 Max: UNterricht.= =ohne ohne UNterricht, 31 Le: ja. 32 Max: ah: okay. 33 34 Le: ähm ich habe diesen lateinamerikanischen TANZ an der unI gelernt. wir haben solchen KURS. [11: 21] 35 Max: ah; Auf die Frage ihres deutschen Tandempartners nach ihrer Tanzerfahrung erzählt die chinesische Lernerin Le ihre Erlebnisse im Tanzkurs. In Zeile 23 kündigt Le ihren Wunsch nach einem Sambakurs an. Sie beschwert sich jedoch, dass sie „aber keine LEHrer.“ (Zeile 24) findet. Max’ Reaktion mit der deutlich steigenden Interjektion „hm? “ (Zeile 25) zeigt sein Unverständnis. Le nimmt das Signal wahr und wiederholt den Ausdruck „keine LEH rer.“ (Zeile 26), den Max vermutlich verpasst oder nicht begreift. Dies kann im alltäglichen Gespräch häufig vorkommen. Darauf hin stellt Max mit der einleitenden Interjektion „hm“ die metasprachliche Frage „was heißt keine LEH rer,“ (Zeile 27). Anschließend wird eine kurze Sequenz der interaktiven sprachlichen Bedeutungsaushandlung eingeleitet (Zeile 28 bis 32). Die Hilfestellung der muttersprachlichen Laienlehrperson bewältigt schließlich das Verständnisproblem. Die metasprachliche Frage „was heißt keine LEH rer,“ (Zeile 27) ermöglicht in dem vorangegangenen Beispiel zwar den Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz. Aber ich möchte darauf hinweisen, dass die Sequenz der sprachlichen Aushandlung hier noch alltagsnah ist. Die Laienlehrperson geht nicht intensiv auf eine spracherwerbsorientierte Bearbeitung ein. Die Lehr- Lern-Sequenz dient hauptsächlich der Verständnissicherung des muttersprach- <?page no="101"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 101 lichen Zuhörers. Ein korrigiertes Angebot für Les problematische Formulierung „keine LEH rer.“ (Zeile 26), die der Muttersprachler nicht verstehen kann und daher die Lernerin nachfragt, ist z. B. nicht zu beobachten. Erwähnenswert ist, dass das Fremdinitiierungsverfahren durch metasprachliche Fragen in meinem Korpus ausschließlich in Les Daten auftaucht. In den Daten von Li und Ting, deren Sprachniveau relativ niedrig ist, lässt sich keine Fremdinitiierung mittels metasprachlicher Fragen finden. Fremdinitiierte Fremdreparaturen in Form von Korrigieren, Scaffolding oder Alternativfragen sind für die Lerner sprachlich entlastend, weil sie vor allem nur ratifizieren oder bei der Alternativfrage eine Wahl treffen sollen. Bei einer metasprachlichen Frage sollen die Lerner aber eine Antwort formulieren, wobei die Schwierigkeit deutlich erhöht wird. Lerner mit geringen Sprachkenntnissen werden in diesem Fall überfordert. Wir sehen, dass das Initiierungsverhalten der muttersprachlichen Laienlehrperson in den Daten variiert. Das heißt, die Muttersprachler verwenden beim Einsatz der Initiierungsverfahren für die sprachliche Bearbeitung Anpassungsstrategien, je nach dem Sprachniveau des Lerners. 3.4.1.2 Selbstinitiierte Fremdreparatur Die Tandemgespräche in meinem Datenmaterial zeichnen sich außerdem durch selbstinitiierte Fremdreparatur aus. Die vom Lerner eingeführten Lehr-Lern- Sequenzen verteilen sich auf alle Tandempaare. Dabei setzen die chinesischen Probanden bei der Initiierung der sprachlichen Bearbeitung verschiedene Verfahren ein, vor allem bei der Behandlung der Grammatik und der Wortsuche. Im Folgenden werde ich interaktive Konstruktionen selbstinitiierter Fremdreparatur in meinen Tandemdaten darstellen. 1. Selbstinitiierte Fremdreparatur durch steigende Intonation Die Mündlichkeit der Sprachverwendung ist immer mit Prosodie verbunden. Nach Selting (2005: 248) gibt es keine gesprochene Sprache ohne suprasegmentale, lautliche Eigenschaften. Als ein Teilbereich der Prosodie bezeichnet Intonation den wahrgenommenen zeitlichen Verlauf der Tonhöhe innerhalb eines Wortes, Satzes oder Sprechakts. Zur Funktion der Intonation geht Kehrein (2002) von der Ebene der Kommunikationsorganisation aus. Konkret weist er in seiner linguistischen Studie zur Prosodie darauf hin, dass lokal steigende Intonation die Funktion der „Reaktionsaufforderung“ (Kehrein 2002: 223) hat. Das heißt, der Sprecher vergibt damit das Rederecht an seinen Gesprächspartner. Dieser nimmt das wahr und setzt die konversationelle Interaktion fort. In dem vorliegenden Datenmaterial finden sich zahlreiche selbstinitiierte Fremdreparaturen, die von den chinesischen Probanden mittels steigender <?page no="102"?> 102 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung Intonation realisiert werden. Als Lerner sind die chinesischen Studierenden im Tandem häufig mit sprachlichen Schwierigkeiten konfrontiert. In solchen Situationen sind sie meistens nicht sicher, ob ihre Formulierungen in der deutschen Sprache korrekt und / oder verständlich sind. Ihre Ungewissheit bezüglich sprachlicher Defizite lässt sich an lokal steigender Intonation in ihren Redebeiträgen beobachten. Die steigende Intonation wirkt in diesem Fall als „Reaktionsaufforderung“ an den muttersprachlichen Tandempartner. Das Alltagsgespräch wechselt dadurch zur Sequenz der sprachlichen Lehr-Lern-Aktivität hinüber. Dazu betrachten wir zuerst den folgenden Gesprächsausschnitt zwischen Li und Lukas. Gespräch: Viele fünfzigjährige „Leute“ fragten meine Freundin nach ihrer Telefonnummer. ((Tandemgespräch, 43: 30-44: 13 Sek.)) [43: 30] 01 02 03 04 05 Li: ein FREUNdin von mir, hat hat mir geSAGT ähmwenn sie: : wenn sie auf jemand an der HALtestelle,= = an der an der HALtestelle gewartet hätt; ähm viele leute viele mi mitten_al mittealten LEUte? 06 Lukas: mhm. 07 Li: viele leute fünfzig ähm viele fünfzig jahre alt LEUte? 08 09 Lukas: mhm. viele fünfzigJÄHrige leute, 10 11 Li: JÄHrige leute hätt sie ähm gefra_gefragt. ähm was ist deine ähm TElefonnummer. [44: 13] 12 Lukas: mhm. Hier erzählt Li eine Belästigungsgeschichte ihrer Freundin, die an der Bushaltestelle in Deutschland von Männern im mittleren Alter nach ihrer Telefonnummer gefragt wurde. In diesem Transkript-Ausschnitt sehen wir Lis große sprachliche Schwierigkeiten. Ihre erste steigende Intonation taucht in Zeile 05 auf, wo sie offensichtlich nicht sicher ist, ob ihre Formulierung „mittealten LEU te? “ stimmt. Die mit der steigenden Intonation einhergehende Reaktionsaufforderung wird von Lukas wahrgenommen, indem er das Rezipientensignal „mhm.“ (Zeile 06) produziert. Li setzt ihre Rede fort und begegnet wieder Schwierigkeiten bei der Formulierung „fünfzig jahre alt LEU te? “ (Zeile 07). Sie möchte offenbar das Attribut „mittealten“ (Zeile 05) umschreiben, fühlt sich aber nicht <?page no="103"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 103 sicher, ob das zusammengesetzte Adjektiv „fünfzig jahre alt“ (Zeile 07) richtig ist. Ihre steigende Intonation am Satzende zeigt erneut ihre Unsicherheit. Die alltägliche konversationelle Erzählung wechselt zur Lehr-Lern-Sequenz. Lukas übernimmt das Rederecht und greift das Problem in Lis Redebeitrag auf, indem er den korrigierten Ausdurck „viele fünfzig JÄH rige leute,“ (Zeile 09) liefert. Mit der Ratifikation der chinesischen Lernerin wird das Gespräch dann fortgeführt. In diesem Beispiel zeigt Li in den betreffenden Redebeiträgen mit steigender Intonation ihr Zögern bei der sprachlichen Formulierung („ähm viele leute viele mi mitten_al“ in Zeile 05 und „viele leute fünfzig ähm“ in Zeile 07). Meine empirische Untersuchung ergibt, dass die steigende Intonation des Lerners meistens mit Zögern verbunden ist. Während Lis Zögern durch ihre Formulierungsversuche ausgedrückt wird, verstärkt sich ihre Unsicherheit im folgenden Beispiel durch gedehnte Interjektion. Gespräch: ein Witz über Deutsche ((Tandemgespräch, 18: 13-18: 40 Sek.)) [18: 13] 09 10 Le: auch der WITZ sagt; ja in einem gebäude leben viele leute aus aus verSCHIEdenen ländern ja. 11 Max: [mhm.] 12 Le: [äh: ] äh eines tages ist das haus ähm: : geFEUert? 13 Max: ach abgeBRANNT. 14 Le: abgeBRANNT. 15 Max: oder steht im FEUer. [18: 40] 16 17 18 19 Le: hm im FEUer stehen. ((4.0)) ähm die JUden nehmen ihre geldbeutel, und dann die LAUfen weg. Der hier präsentierte Transkript-Ausschnitt entstammt einem Tandemgespräch, in dem die chinesische Lernerin ihrem Tandempartner einen Witz erzählt. In Zeile 12 kommt es zu einem sprachlichen Problem. Le weiß nicht genau, ob ihren Ausdruck „ge FEU ert“ korrekt ist. Die steigende Intonation am Satzende zeigt ihre Unsicherheit. Augenfällig verstärkt das vorausgehende Zögern in Form der gedehnten Interjektion „ähm: : “ (Zeile 12) Les Unsicherheit gegenüber ihrer Formulierung „ge FEU ert“. Die alltägliche Witzerzählung wird umgehend zur Lehr-Lern-Aktivität (Zeile 13 bis 17). <?page no="104"?> 104 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung 2. Selbstinitiierte Fremdreparatur durch Alternativfragen und steigende Intonation Überdies kommt es in meinen Daten zum Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz, den der nichtmuttersprachliche Proband mittels leicht steigender Intonation in Kombination mit einer Alternativfrage realisiert. Hier verweise ich noch einmal auf das Gespräch zum Thema „Vorbereitung auf ein Bewerbungsgespräch“ zwischen Li und Lukas, um dieses Initiierungsverfahren des Lerners zu illustrieren. Im folgenden Ausschnitt präsentiere ich die entsprechende Sequenz. Gespräch: Vorbereitung auf ein Bewerbungsgespräch ((Tandemgespräch, 01: 00: 01-01: 00: 31 Sek.)) [01: 00: 01] 20 21 Lukas: ja wir können wir können ein einen TEXT schreiben. also ähm also ähm was was du sagen KANNST. 22 23 24 Li: mhm. hallo äh ich HEIße blabla; und ein ein bekannter: : BEI mir or VON mir, 25 Lukas: hm ein bekannter VON mir oder, 26 Li: ein bekannter[BEI-] 27 Lukas: [ein ] FREUND von mir; [01: 00: 31] 28 29 Li: ein FREUND von mir hat mir gesagt, hm: Li signalisiert explizit ihre mangelnde Gewissheit, indem sie die Alternativfrage „ BEI mir or VON mir,“ (Zeile 24) im leicht steigenden Tonfall stellt. Sie kündigt dabei nicht nur ihre Unsicherheit bei der Formulierung des Ausdrucks an, sondern lokalisiert auch konkret die Stelle, wo sie sprachliche Schwierigkeiten hat. Bei ihrer Überlegung zur Wahl der Präposition („bei“ oder „von“) sehen wir in diesem Fall ihre metasprachliche Reflexion über die Zielsprache. 3. Selbstinitiierte Fremdreparatur durch metasprachliche Fragen Die obengenannten Initiierungsstrategien der chinesischen Lerner, sei es durch steigende Intonation oder durch Kombination der Alternativfragen mit steigender Intonation, sind in meinen Daten bei allen Tandempaaren zu beobachten. Es gibt aber außerdem Initiierungsverfahren, die ausschließlich in einzelnen Daten auftauchen. Selbstinitiierte Fremdreparatur durch metasprachliche Fragen fin- <?page no="105"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 105 det sich z. B. im vorliegenden Datenmaterial fast nur in den Tandemgesprächen zwischen Le und Max. Das erste Beispiel zeigt, wie die Germanistikstudentin mit einem höheren Sprachniveau ihre Probleme metasprachlich beschreibt und somit das Alltagsgespräch zur Sprachlernaktivität macht. Gespräch: Ich habe einmal ein Erdbeben erlebt. ((Tandemgespräch, 04: 28-04: 49 Sek.)) [04: 28] 01 02 Le: mein HEImatstadt; in meiner heimatstadt gab es AUCH einmal; 03 Max: ja (xxx xxx) 04 05 Le: ja und SCHON glaube ich; 06 Max: wie viel wie GROß war es, 07 08 09 10 Le: ich glaube, wie SAGT man, wie STARK ist das erdbeben? zum BEIspiel, 11 12 Max: SKAla. also [ich hä-] [04: 49] 13 Le: [SKAla? ] Gegenstand dieses Gesprächs zwischen Le und Max ist Les Erdbebenerlebnis in ihrer Heimatstadt. In Zeile 01 und 02 kündigt Le die Geschichte an. Beim Beschreiben der Stärke des Erdbebens begegnet sie einem sprachlichen Problem, ihr fehlt das Wort für die Maßeinheit. In diesem Fall setzt sie ein sprachliches Verfahren in Form der metasprachlichen Frage (Zeile 08, 09) ein. Sie leitet ihre Frage zuerst mit „wie SAGT man,“ im leicht steigenden Tonfall (Zeile 08) ein und expliziert danach ihre konkrete Formulierungsschwierigkeit mit „wie STARK ist das erdbeben“ (Zeile 09). Bemerkenswert ist, dass sie im Anschluss daran ihr Problem exemplarisch erklären möchte („zum BEI spiel“ in Zeile 10). Allerdings wird das von ihr geplante Beispiel nicht zum Ausdruck gebracht, weil der muttersprachliche Tandempartner schon ein deutsches Wort für die gesuchte Maßeinheit liefert (Zeile 11). Die konversationelle Alltagserzählung wird dadurch zur Sequenz sprachlicher Bearbeitung umgewandelt. Das erste Beispiel verdeutlicht, wie die chinesische Lernerin bei der Wortsuche mit metasprachlichen Fragen die Lehr-Lern-Sequenz veranlasst, um ihre sprachlichen Probleme interaktiv mit ihrem deutschen Gesprächspartner zu bewältigen. Während Le hier unmittelbar die metasprachliche Frage stellt, gibt es Sequenzen, in denen sie sich zuerst einen möglichen Ausdruck für das gesuchte Wort ausdenkt und dann eine metasprachliche Frage bezüglich dieses sprach- <?page no="106"?> 106 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung lichen Problems stellt. Damit realisiert sie den Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz. Wir betrachten ein zweites Beispiel. Gespräch: Tanzkurs ((Tandemgespräch, 10: 27-10: 55 Sek.)) [10: 27] 01 Max: hast du mal TANZkurs gemacht? 02 Le: TANZkurs? 03 Max: mhm. 04 ((3.0)) 05 06 Le: laTEINtanz, wie wie heißt DAS, 07 Max: lateinaMErika; 08 Le: ja [wie wie- ] 09 Max: [SALsa, ] 10 11 12 Le: ähm ähm auf CHInesisch ist ladingwu; aber ich weiß NICHT; was ist spezialname auf DEUTSCH, 13 14 Max: lateiameriKAnische tänze oder so, (xxx) glaube ich; [10: 55] 15 Le: lateiameriKAnisch; Im vorangehenden Ausschnitt sprechen Le und Max über Tanzkurse. Max initiiert das Thema, indem er die Frage „hast du mal TANZ kurs gemacht? “ (Zeile 01) an Le stellt. Les Rückfrage „TANZkurs? “ (Zeile 02) bestätigt Max mit dem Rezipientensignal „hm“ (Zeile 03). Die daran anschließende Pause (Zeile 04) kann in diesem Kontext sehr wohl als Les Überlegung über den möglichen deutschen Ausdruck für ihre Antwort interpretiert werden. Nach der Pause produziert Le das Wort „la TEIN tanz“ (Zeile 05). Im Anschluss daran stellt sie umgehend die metasprachliche Frage „wie wie heißt DAS ,“ (Zeile 06), um ihre Schwierigkeit bei der Formulierung dieses Wortes zu bewältigen. Max greift ein und bearbeitet das sprachliche Problem mit Le. Das Tandemgespräch geht dabei vom Alltagsgespräch in die Sprachlernsequenz über. Dieses Beispiel zeigt Les Bewusstsein für das Sprachenlernen. Sie sucht zuerst einen möglicherweise passenden Ausdruck. Mit einer anschließenden metasprachlichen Frage expliziert sie dann ihre Unsicherheit bei ihrer Formulierung. Ihr sprachliches Problem wird dann gezielt in der dadurch initiierten Lehr-Lern-Sequenz bearbeitet. Im folgenden Beispiel produziert Le neben einer metasprachlichen Frage eine weitere Selbstreparatur, die ihre Frage nach dem <?page no="107"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 107 sprachlichen Problem konkretisiert und zugleich ihr Bewusstsein für das Sprachenlernen verstärkt veranschaulicht. Gespräch: die ersten Tage in Deutschland ((Tandemgespräch, 00: 44-01: 17 Sek.)) [00: 44] 09 10 Le: wir wir sind durch ähm RHEIN, der fluß RHEIN; 11 Max: mhm. 12 Le: geFAHren; 13 Max: mhm. 14 15 16 17 Le: und und auf den bergen gibt es so viele TRAUbe: : n, trau traubeBÄUme,= = kann man SO sagen, nicht BÄUme. 18 Max: WEINtraube oder, 19 Le: ja wein- [01: 17] 20 Max: REben oder, Diese Sequenz ist Teil des Gesprächs zwischen Le und Max, in dem Le von ihren ersten Tagen in Deutschland erzählt. Das Zögern in Form gedehnter Intonation (Zeile 14) und Wiederholung der Silbe „trau“ (Zeile 15) offenbart Les Formulierungsschwierigkeiten. In Zeile 16 stellt sie die metasprachliche Frage „kann man SO sagen,“ an ihren muttersprachlichen Tandempartner. Bedeutsam ist, dass sie im Anschluss daran umgehend mit „nicht BÄU me“ (Zeile 17) eine Selbstreparatur produziert. Damit expliziert sie ihre Unsicherheit bei der Formulierung dieses Begriffs konkret. Les Selbstreparatur signalisiert zugleich ihre metasprachliche Reflexion und ihr Bewusstsein für das Sprachenlernen. In Max’s Reaktion mit dem muttersprachlichen Ausdruck „ WEIN traube oder,“ (Zeile 18) erkennen wir seine Bereitschaft zur sprachlichen Bearbeitung. Der Wechsel von der alltäglichen Erzählung zur Lehr-Lern-Sequenz wird also dadurch erfolgreich bewältigt. Die oben genannten Beispiele bekunden, dass der Einsatz metasprachlicher Fragen durch die nichtmuttersprachliche Interagierende ihre Reflexion und ihr Bewusstsein für das Sprachenlernen bestimmt. In meiner Untersuchung erscheint selbstinitiierte Fremdreparatur durch metasprachliche Fragen ausschließlich in Les Daten. Bei Li und Ting, die ein niedriges Sprachniveau haben, inszenieren die Lernerinnen in keinem Fall durch metasprachliche Fragen in der Zielsprache eine Lehr-Lern-Sequenz zur Bearbeitung ihrer sprachlichen <?page no="108"?> 108 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung Probleme. Ein Zusammenhang zwischen der Initiierungsstrategie in Form metasprachlicher Fragen und dem Sprachzustand der Lerner ist daher nicht auszuschließen. Als Germanistikstudentin hat Le ein höheres Sprachniveau und ist daher in der Lage, ihre Formulierungsschwierigkeiten im Gesprächsverlauf in der Zielsprache auszudrücken und ihr konkretes Problem deutlich zu indizieren. Einerseits spielt das Sprachniveau der Lerner eine Rolle beim Einsatz der Initiierungsverfahren für die Sprachlernaktivität. Andererseits ist in meiner empirischen Untersuchung zu beobachten, dass die Lerner dabei Anpassungsstrategien verwenden, je nach dem Chinesischniveau des deutschen Muttersprachlers. In Tings Daten finden sich z. B. zahlreiche Sequenzen, in denen sie mittels Codeswitching ins Chinesische den Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz ermöglicht. Im Folgenden werde ich exemplarisch die selbstinitiierte Fremdreparatur durch Codeswitching darlegen. 4. Selbstinitiierte Fremdreparatur durch Codeswitching Der Begriff Codeswitching bezeichnet in der Sprachwissenschaft den „Wechsel zwischen verschiedenen Sprachen oder Varietäten eines Sprachsystems bei bi / multilingualen bzw. bi / multidialektalen Sprechern innerhalb einer Konversation“ (Bußmann 2002: 139). Nach Gumperz (1982) wird zwischen zwei Arten von Codeswitching unterschieden: situational Codeswitching und metaphorical Codeswitching . Unter situational Codeswitching versteht man den durch objektivierbare situative Faktoren (wie Gesprächsthema, Interaktionspartner oder Ort) bedingten Vorgang, bei dem man die eine Sprache in die andere wandelt. Mit metaphorical Codeswitching ist der Sprachwechsel gemeint, den man innerhalb einer Sprechsituation einsetzt, um etwas über die Interaktion oder den Sprechakt auszusagen. Bei der Arbeit switcht man z. B. von der dominanten institutionellen Sprache zur weniger dominanten Sprache, um über ein unterhaltsames alltägliches Thema zu sprechen. Bei der Untersuchung meiner Tandemdaten ist festzustellen, dass die Probanden oft situational Codeswitching in ihrer Interaktion verwenden. Das heißt, ihr Einsatz des Codeswitchings wird durch den situativen Kontext bedingt. Da die Interagierenden wechselseitige Lerner der Muttersprache des Gegenübers sind, befinden sie sich im Gesprächsverlauf immer in einem asymmetrischen Verhältnis. Einerseits greift der sprachlich weniger kompetente Sprecher auf seine Muttersprache zurück, um etwas besser auszudrücken oder zu erklären. Andererseits setzt der sprachlich kompetentere Gesprächspartner Codeswitching (von seiner Muttersprache in die Muttersprache des Zuhörers) als Anpassungsstrategie ein, um seinen Redebeitrag für die nichtmuttersprachlichen Zuhörer verständlich zu machen. Das Codeswitching in meinen Tandemdaten <?page no="109"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 109 ist also dem situational Codeswitching zuzuordnen. Ferner benützen hier die Interagierenden neben Codeswitching zwischen der deutschen und chinesischen Sprache auch die englische Sprache. Englisch ist also auch eine gemeinsame Sprache zwischen den deutschen und chinesischen Probanden. Meine Analyse ergibt, dass Codeswitching für selbstinitiierte Fremdreparatur in meinem Korpus hauptsächlich von Ting betrieben wird. Es ist evident, dass Ting häufig das Chinesische aufgreift, um sprachliche Unterstützung von ihrer muttersprachlichen Tandempartnerin zu bekommen. Dies kann im hohen Chinesischniveau der deutschen Studentin Linda begründet sein. Bei Le und Li, deren Tandempartner nur wenig chinesisch sprechen, findet man kaum Belege für das Codeswitching vom Deutschen zum Chinesischen. Zur Illustration des Initiierungsverfahrens durch Codeswitching präsentiere ich zuerst einen Gesprächsausschnitt zwischen Ting und Linda zum Thema „ich wurde mal von unserem Hund gebissen“. Gespräch: Ich wurde mal von unserem Hund gebissen. ((Tandemgespräch, 32: 54-33: 30 Sek.)) [32: 54] 01 Linda: dann erzähl doch mal n WITZ aus deinem leben, 02 Ting: ja[: : ? ] 03 Linda: [hehehe] 04 05 06 Ting: ah: wenn ich noch ZWEI jahre; habe ich mit äh mit das HUND in mein mein hause? ähm zusammenessen. 07 Linda: mhm. 08 09 Ting: und er hat mein AUgen (.) 咬 . yao gebissen [ 咬 ? ] yao gebissen 10 Linda: [gebissen.] 11 12 13 14 15 Ting: ja. weil hm in CHIna ähm so. bis bis heute ist das BESser; aber in der verGANgenheit so: , unsere haus gibt es nicht so diese diese dieses MITtel, [33: 30] 16 Linda: mhm. <?page no="110"?> 110 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung In diesem Gesprächsausschnitt erzählt Ting auf Lindas Initiative (Zeile 01) eine eigene Geschichte aus ihrer Kindheit. In Zeile 04 kündigt Ting ihre Geschichte an. Bei der Darstellung begegnet sie aber einem sprachlichen Problem (Zeile 08). Offensichtlich fehlt ihr das Verb „beißen“ in Form des deutschen Partizip II . Sie versucht zuerst, den Satz durch die Formulierung „und er hat mein AU gen (.)“ (Zeile 08) aufzubauen. Bemerkenswert ist, dass es hier auf Tings Suche nach der richtigen Verbform zu einer kurzen Pause kommt. Daraufhin verwendet sie umgehend die Codeswitchingstrategie, indem sie das gesuchte Element auf Chinesisch formuliert (Zeile 08). Die Wiederholung des gesuchten Verbs in einem deutlich steigenden Tonfall (Zeile 09) hebt ihr Problem verstärkt hervor. Die alltägliche Erzählung geht dadurch in eine Sequenz der sprachlichen Bearbeitung über. Gespräch: Luxuskonsum ((Tandemgespräch, 16: 46-18: 00 Sek.)) [16: 46] 01 02 03 04 Ting: magst du hm- << engl. Aussprache> luxury luxury? > COMputer? 奢侈品 shechipin Luxus 05 Linda: LUxus. 06 Ting: LUxus ja; 07 Linda: ob ich LUxus mag? 08 Ting: ja, 09 Linda: inwieferne so kann das kannst du das beSCHREIben? 10 11 Ting: ähmtaSCHE oder(.)etwas; 12 13 Linda: ich glaube NICHT; also- 14 15 16 Ting: die ANderen, die ANderen europäer, auch DEUtsche, 17 18 Linda: das ist sehr UNterschiedlich. also ich habe zum beispiel eine FREUNdin; 19 Ting: ja, <?page no="111"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 111 20 21 22 Linda: die sehr sehr viel WERT auf klamotten und taschen und schuhe und alles legt. die hat einen einen KLEIderschrank,= = der ist so breit wie ihr GANzes zimmer; 23 Ting: hm ja, 24 25 26 27 Linda: und überall klamotten so BREIT; so was was mir nicht so WICHtig ist; = = also da gibt es sehr sehr GROße unterschiede; also- 28 29 30 31 32 33 Ting: aber aber die ANderen leute; wie werden die ANderen leute; = = zum BEIspiel, wenn du ein ähm LUxus getragen, werde ich dich MEHRwie sagen (.) 尊 尊敬 . zun zunjin respektieren 34 Linda: ähm respekTIEren, [18: 00] 35 36 37 38 Ting: ja, werde ich mehr res respekTIEren geben, oder GANZ gleich; es ist ganz gleich, Die hier präsentierte Sequenz ist Teil eines Tandemgesprächs zwischen Ting und Linda, in dem sie über Luxus-Konsum diskutieren. In Zeile 01 fragt Ting ihre deutsche Tandempartnerin nach ihrer Meinung zu Luxus. Ting benutzt statt des deutschen Wortes das englische Wort „luxury“ (Zeile 02). Nachdem sie den „Computer“ als ein Beispiel der Luxuskategorie genannt hat, setzt sie das Codeswitchingverfahren ein, indem sie den Begriff „Luxus“ auf Chinesisch ausdrückt (Zeile 04). Sie initiiert damit eine Lehr-Lern-Sequenz, in der sie mit der Unterstützung ihrer muttersprachlichen Gesprächspartnerin ihren Wortschatz bearbeitet. Lindas Angebot des gesuchten deutschen Wortes (Zeile 05) signalisiert, dass sie Tings Initiierung zur sprachlichen Bearbeitung annimmt. Nach der sprachlichen Bearbeitung kommt es dann zu einer alltäglichen Sequenz, in der Ting und Linda über die Einstellungen der Deutschen bzw. Europäer zum Luxuskonsum sprechen (Zeile 07 bis 32). Als Ting die Frage „wenn du ein ähm LU xus getragen, werde ich dich MEHR -“ (Zeile 31, 32) stellen möchte, fehlt ihr ein deutsches Wort. Sie greift in diesem Fall auf ihre Muttersprache zurück und produziert das gesuchte Wort auf Chinesisch (Zeile 33). Bemerkenswert ist, dass Ting hier das Codeswitching im Zusammenhang mit <?page no="112"?> 112 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung der metasprachlichen Frage „wie sagen“ (Zeile 33) einsetzt. Es gibt in Tings Daten wenige Belege, in denen sie durch metasprachliche Fragen die Lehr-Lern- Sequenz initiiert. Hier wird der Wechsel vom Alltagsgespräch zur Sequenz der sprachlichen Bearbeitung durch Tings Initiierung ausgeführt. 5. Selbstinitiierte Fremdreparatur durch Unterstützung des Muttersprachlers Während in den vorangehenden Beispielen die chinesischen Lerner ihre sprachlichen Schwierigkeiten mittels verschiedener Verfahren initiieren und das alltägliche Gespräch zur Lehr-Lern-Sequenz selbständig wechseln, finden sich in meinen Daten auch Sequenzen, in denen der Nichtmuttersprachler seine Schwierigkeiten nicht begründen kann und der Wechsel zur Sprachlernaktivität erst mit der Unterstützung des Muttersprachlers realisiert wird. Dazu das folgende Beispiel. Gespräch: Ein türkischer Student ist auf etwas Stinkendes getreten. ((Tandemgespräch, 01: 22: 07-01: 22: 32 Sek.)) [01: 22: 07] 01 02 Li: hm gib es ein sprichWORT. äh so wie- 03 Lukas: es GIBT [ein sprichwort.] 04 05 06 Li: [es <<f> ja: . > ] es gibt ein sprichWORT. so wie äh du hat auf etwas (.) geTRET? 07 Lukas: du: und das VERB ist, 08 Li: du hast [auf ] etwas ge(.)TRET? 09 Lukas: [<<p> du hast,>] [01: 22: 32] 10 Li: 踩 是 什么 , cai ist was, wie heißt cai, Hier erzählt Li eine Geschichte aus ihrem Sprachkurs. Ein türkischer Kollege wird von einem unangenehmen Geruch im Klassenzimmer gestört. Nachdem er einen anderen Platz einnimmt und der Geruch nicht verschwindet, findet er schließlich heraus, dass er von seinen Schuhen stammt. Er ist nämlich auf etwas Stinkendes getreten. Das hier präsentierte Beispiel ist der Anfang dieser Erzählung. Li kündigt die Geschichte mit einem chinesischen Sprichwort an (Zeile 01). Bei der Darstellung desselben begegnet sie jedoch einem sprachlichen Problem. Die kurze Pause und die deutlich steigende Intonation in ihrem Beitrag „so wie <?page no="113"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 113 äh du hat auf etwas (.) ge TRET ? “ (Zeile 06) signalisieren das Zögern und ihre Unsicherheit bei der Formulierung der Partizipform. Lukas nimmt zwar ihre Initiierung zur sprachlichen Bearbeitung an, aber er kann das genaue Problem der chinesischen Lernerin nicht identifizieren. In diesem Fall stellt er die Frage „das VERB ist,“ (Zeile 07) zur Verständnissicherung. Darauf reagiert Li mit der Wiederholung ihrer Frage (Zeile 08). Der überlappende Beitrag von Lukas in Zeile 09 zeigt seine Spekulation zur Identifizierung des von Li gemeinten Wortes in diesem Kontext. Schließlich wird das Initiierungsverfahren so beendet, dass Li sich an mich als teilnehmende Beobachterin wendet und mich auf Chinesisch nach dem gesuchten deutschen Wort fragt (Zeile 10). 3.4.1.3 Fremdinitiierte Worterklärungen Worterklärungen gehören im Fremdsprachenunterricht zur Basisarbeit. In der Regel umfassen sie die Umschreibung neuer Wörter in der Zielsprache, die Wortverwendung in Beispielsätzen, die muttersprachliche Übersetzung sowie die Erklärung anhand von Gegenständen, Bildern, Handlungen oder Zeichnungen. In dem vorliegenden Datenmaterial finden sich auch fremdinitiierte Worterklärungen durch die Laienlehrperson. Im folgenden Beispiel initiiert der deutsche Interagierende die Worterklärungen in Tandeminteraktion und führt sie durch. Gespräch: aufschwatzen ((Tandemgespräch,41: 05-42: 10 Sek.)) [41: 05] 01 02 03 04 05 Lukas: das ist ECHT blöd. ich finde das SEHR sehr blöd. dass die leute immer in der mensa umLAUfen; = =und irgendwelche sachen einem aufSCHWAtzen wollen; jemandem etwas aufSCHWAtzen. 06 Li: aufSCHWAtze. 07 08 09 10 Lukas: aufschwaTZEN. das beDEUtet äh äh- 就 就 烦 人 . das heißt nerven Menschen. das heißt, es nervt. [ 烦 ] 到 生气 你 一些 东西 . nerven bis ärgern dich manche Sachen. manche Sachen nerven so, dass du dich ärgerst. <?page no="114"?> 114 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung 11 12 13 14 Li: [ah: ] <<p> aufSCHWAtzen.> und das ist eine anZEIge? kreuz anZEIge? 15 Lukas: ja 广告 . guanggao Anzeige 16 Li: okay. 17 18 19 Lukas: ähm: WEIßT du, was eine LEbensversicherung ist. 20 21 Li: <<p> LEbensversicherung.> <<p> für mein LEben mein LEben? > 22 Lukas: mhm. 23 24 Li: was beDEUtet es, wenn mein LEben; 25 26 27 Lukas: ähm lebensversicherung beDEUtet; wenn du irgendwann STIRBST, dann beKOMMT dein kind oder dein mann [oder-] 28 Li: [ach: : ] [42: 10] 29 30 Lukas: deine familie geld. und das ist eine WERbung, In diesem Ausschnitt beschweren sich Li und Lukas über die Verteilung von Werbematerial in der Mensa. In Zeile 01 kündigt Lukas seine Einstellung darüber an. In seinem weiteren Beitrag verwendet er das Verb „aufschwatzen“ (Zeile 04). Ausgehend davon, dass die chinesische Lernerin dieses Wort möglicherweise nicht gelernt hat, initiiert Lukas unmittelbar daran anschließend die Sequenz der sprachlichen Bearbeitung, indem er die Kollokation „jemandem etwas auf SCHWA tzen.“ (Zeile 05) unterstreicht. Das alltägliche Gespräch im Tandem wechselt dadurch zur Lehr-Lern-Sequenz. Mit chinesischer Übersetzung (Zeile 09, 10) führt Lukas dann die Erklärung der Kollokation durch. Li ratifiziert sie durch die Wiederholung des Stichworts „aufschwatzen“ (Zeile 12). Daraufhin zeigt Li ihrem Tandempartner ein Werbeblatt aus der Mensa. Sie fragt Lukas, ob das eine Anzeige sei (Zeile 13). Lukas bestätigt mit „ja“ und produziert im Anschluss daran die chinesische Übersetzung des Wortes (Zeile 15). Nachdem Li den chinesischen Ausdruck mit „okay“ (Zeile 16) ratifiziert hat, initiiert Lukas mittels der Frage nach dem Inhalt der gezeigten Werbung erneut eine Lehr-Lern-Sequenz (Zeile 18, 19). Dabei wird der Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehraktivität vorgenommen. Obwohl Li versucht, den erfragten <?page no="115"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 115 Begriff „Lebensversicherung“ zu erklären (Zeile 20, 21), wendet sie sich wegen ihrer sprachlichen Schwierigkeiten doch an den muttersprachlichen Tandempartner (Zeile 23). Die sprachliche Bearbeitung für das neue Wort „Lebensversicherung“ bewältigt Lukas schließlich mit der Erklärung in der deutschen Sprache (Zeile 25 bis 27). Lis Reaktion mit der gedehnten Interjektion „[ach: : ]“ (Zeile 28) signalisiert ihre Ratifikation. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie die muttersprachliche Laienlehrperson im Tandem die Lehraktivitäten für neue Wörter initiiert und damit den Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz realisiert. Meine empirische Untersuchung ergibt, dass die häufig im Fremdsprachenunterricht vorkommenden Worterklärungen auch in Form von muttersprachlicher Übersetzung, zielsprachlicher Umschreibung, Erklärungen anhand Bildern, Gegenständen oder anderen Mitteln etc. in Tandeminteraktionen erfolgen können. Jedoch möchte ich darauf hinweisen, dass zwischen den Worterklärungen im Tandem und im Fremdsprachenunterricht ein wesentlicher Unterschied besteht. Der Fremdsprachenunterricht ist immer einem pädagogischen Fokus untergeordnet (Seedhouse 2004). Unterrichtsinteraktionen werden von dem übergreifenden pädagogischen Fokus abgeleitet. In dem Unterrichtskontext gehen die Worterkärungen also von dem pädagogischen Ziel aus. Das heißt, der Lehrer erklärt neue Wörter, die er für das Unterrichtsziel vorbereitet. Im Tandem orientieren sich die Worterklärungen aber an keinem übergeordneten pädagogischen Fokus. Der Muttersprachler erklärt Wörter, denen er im Gesprächsverlauf zufällig begegnet. Er liefert dann eine spontane Erklärung. Im folgenden Kapitel werde ich dies ausführlich erörtern. 3.4.1.4 Selbstinitiierte Sprachreflexion Als ein wesentlicher Bestandteil des Fremdsprachenunterrichts spielt Sprachreflexion eine bedeutende Rolle beim Spracherwerb. Unter Sprachreflexion ist im weitesten Sinne die Reflexion über die Grammatik und den Sprachgebrauch der Zielsprache zu verstehen. Im Fremdsprachenunterricht wird die Reflexion über die Sprache entweder von dem Lehrer oder von den Lernern angeregt. Ausgehend von einem bestimmten pädagogischen Fokus vermittelt der Lehrer z. B. die grammatischen Regeln systematisch an die Lerner. Hingegen können die Lerner im Fremdsprachenunterricht auch mit dem Lehrer über z. B. ihre Fragen bezüglich der Grammatik oder der Pragmatik der Zielsprache sprechen. In meinen Daten von Tandemgesprächen sind zwar einige Sequenzen über Sprachreflexion zu beobachten. Sie werden aber ausschließlich von den chinesischen Lernern veranlasst. Thematisiert werden nur diejenigen grammatischen Phänomene, die aus dem Leben der Lerner stammen. Hier verweise ich auf ein Gespräch zwischen Li und Lukas zum Thema „Prüfung“, um die selbstini- <?page no="116"?> 116 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung tiierte Sprachreflexion zu illustrieren. Im Folgenden wird der entsprechende Gesprächsausschnitt präsentiert. Gespräch: Prüfung ((Tandemgespräch, 02: 04-02: 48 Sek.)) [02: 04] 01 02 03 04 05 06 07 Li: gestern schrei_habe ich eine PRÜfen eine prüf geschrIEben; und dann (.) ich habe ein SATZ im kopf; ähm so wie mein FREUND (.) so wie mein freund tom blablabla. denn (.) ich weiß NICHT; = =das ist RICHtig oder, ich weiss NICHT; [ob das RICHtig-] 08 09 Lukas: [ähm: : ] ist. 10 Li: ist. 11 Lukas: äh: SO wie mein freund. 12 13 Li: <<acc> SO wie mein freund.> das bedeutet << engl. Aussprache> JUST like,> 14 Lukas: jaja geNAU. 15 16 Li: denn (.) das ist NEbensatz? oder ist [das NEbensatz? ] [02: 48] 17 18 19 20 21 22 23 Lukas: [ähm: : : ] SO wie mein freund ähmhm: zum BEIspiel ähmähm ich komme aus china SO wie mein freund ähm auch, oder, also das ist SCHON ein nebensatz. GLAUbe ich. Hier spricht Li mit ihrem deutschen Tandempartner über eine Prüfung, die sie am letzten Tag geschrieben hat. In Zeile 01 kündigt sie das Thema an. Daraufhin gibt sie mit der Einleitung in Zeile 02 einen Satz in ihrem Text, den sie in der Prüfung verfasst hat, wieder. Trotz einiger Formulierungsschwierigkeiten artikuliert sie den Satz „ähm so wie mein FREUND (.) so wie mein freund tom blablabla.“ (Zeile 03). Die daran anschließende Äußerung über ihre Unsicherheit (Zeile 04 bis 07) bestätigt ihre Reflexion über diese Formulierung. Auf Lis Frage bezüglich der sprachlichen Struktur ihres Satzes reagiert Lukas zögernd mit <?page no="117"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 117 dem gedehnten „[ähm: : ] “ (Zeile 08). Nach der kurzen Reparatur mit dem Verb „ist“ (Zeile 09) für Lis Frage geht das Gespräch dann in die Lehr-Lern-Sequenz über, in der Lis sprachliches Problem interaktiv behandelt wird. Dieses Beispiel zeigt, wie die Lernerin ihre Sprachreflexion initiiert und damit das alltägliche Gespräch zur Sequenz der sprachlichen Behandlung wechselt. Dabei sehen wir einerseits das Bewusstsein der Lernerin beim Sprachenlernen. Andererseits sind die Defizite des muttersprachlichen Tandempartners als Laienlehrperson auffallend. In den Daten gibt es keinen einzigen Beleg, in dem er die Sprachreflexion initiiert. Als Laienlehrperson spielt der Muttersprachler hier in meinen Tandemdaten eine passive Rolle. Er regt keine Reflexion über die Grammatik oder den Sprachgebrauch der Zielsprache an, was ein Lehrer im Fremdsprachenunterricht häufig macht. Darüber hinaus ist die Unprofessionalität des Muttersprachlers bei der Erklärung des sprachlichen Problems erneut offensichtlich. Das mehrmalige Vorkommen der Verzögerungslaute „ähm“ (Zeile 17 bis 20) zeigt, dass er nicht in der Lage ist, das sprachliche Problem professionell zu bearbeiten. Sein Beitrag „oder,“ im steigenden Tonfall (Zeile 21) und die Modalisierung seiner Meinung durch „ GLAU be ich.“ (Zeile 23) verstärken seine Ungewissheit. 3.4.2 Der Wechsel von der Lehr-Lern-Sequenz zum Alltagsgespräch Im vorliegenden Datenmaterial werden die Lehr-Lern-Sequenzen fast immer erfolgreich durchgeführt. Das heißt, die betreffenden Sprachprobleme werden in der Lehr-Lern-Sequenz interaktiv bewältigt und das alltägliche Tandemgespräch wird danach fortgesetzt. Meistens wird die sprachliche Bearbeitung schnell beendet. Zuweilen geht sie aber erst nach mehreren Anläufen zu Ende. Die Analyse meiner Daten ergibt, dass der Ausgang der Lehr-Lern-Sequenz im Tandem entweder durch den Lerner oder durch den muttersprachlichen Tandempartner initiiert werden kann. Im Folgenden werde ich die Konstruktion des Ausgangs der Sprachlernaktivität im chinesisch-deutschen Tandem darstellen. Wir werden sehen, wie die Lehr-Lern-Sequenz in Alltagsgespräch übergeht. 3.4.2.1 Initiierung des Wechsels durch den Lerner Der Wechsel von der Lehr-Lern-Sequenz zum Alltagsgespräch wird in dem vorliegenden Datenmaterial zum großen Teil durch den Lerner herbeigeführt, unabhängig davon, ob die Sequenz der sprachlichen Bearbeitung vom Lerner oder von der muttersprachlichen Laienlehrperson eingeführt wird. Die Initiierung des Wechsels durch den Lerner verteilt sich in meinem Korpus auf alle Tan- <?page no="118"?> 118 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung dempaare. Dies möchte ich im Folgenden anhand transkribierter Aufnahmen darlegen. 1. Wiederholung des betreffenden Satzes mit der Aufnahme des reparierten Elements Eine Vielzahl des Wechsels von der Lehr-Lern-Sequenz zum Alltagsgespräch wird durch die Wiederholung des betreffenden Satzes durch die Lerner mit der Aufnahme des reparierten Elements initiiert. Das heißt, der Lerner kommt am Ende der sprachlichen Bearbeitung zu der problematischen Stelle zurück, wenn er den ganzen betreffenden Satz erneut verfasst und dabei das von der muttersprachlichen Laienlehrperson reparierte Element integriert. Dafür präsentiere ich im Folgenden ein Beispiel aus meiner Arbeit. Das Tandemgespräch über Luxuskonsum wurde in der vorliegenden Arbeit bereits zitiert. Hier geht es um Tings Initiierung des Ausgangs der Sprachlernaktivität. Gespräch: Luxuskonsum ((Tandemgespräch, 17: 36-18: 00 Sek.)) [17: 36] 29 30 31 32 33 34 Ting: aber aber die ANderen leute; wie werden die ANderen leute; = = zum BEIspiel, wenn du ein ähm LUxus getragen, werde ich dich MEHRwie sagen (.) 尊 尊敬 . zun zunjin respektieren 35 Linda: ähm respekTIEren, [18: 00] 36 37 38 39 Ting: ja, werde ich mehr res respekTIEren geben, oder GANZ gleich; es ist ganz gleich, In Zeile 35 liefert Linda das deutsche Wort „respektieren“, das Ting im Gesprächsverlauf sucht und sich dafür mittels Codeswitching an die Muttersprachlerin wendet. Darauf reagiert Ting mit dem „ja,“ im leicht steigenden Tonfall, was als Gesprächspartikel interpretiert werden kann. Anschließend greift sie den in Zeile 33 wegen ihrer Formulierungsschwierigkeit abgebrochenen Satz mit der Formulierung „werde ich mehr res respek TIE ren gEben,“ (Zeile 37) auf. Wir sehen, dass sie in diesem erneut formulierten Satz das reparierte Element <?page no="119"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 119 „respektieren“ benutzt. Obwohl die Verwendung dieses Wortes grammatisch unkorrekt ist, wird das sprachliche Problem aber nicht weiter bearbeitet. Tings Beitrag daraufhin „oder GANZ gleich; “ (Zeile 38) zeigt, dass die Lehr-Lern- Sequenz hier beendet wird. Die Aufmerksamkeit der Lernerin liegt wieder auf dem Verlauf des Alltagsgesprächs. 2. Wiederholung des reparierten Elements Zuweilen tauchen in meinem Korpus Sequenzen auf, in denen die Lerner die Lehr-Lern-Sequenz durch ihre Aufnahme des reparierten Elements beenden. Während die Lerner im oben genannten Beispiel den betreffenden Satz mit der Aufnahme des reparierten Elements wiederholen, sprechen sie im folgenden Fall nur das entsprechende Element nach. Das Gespräch wird dann fortgesetzt, indem sie das abgebrochene alltägliche Thema erneut in Gang setzen. Dazu hier der folgende Ausschnitt aus dem Gespräch zwischen Le und Max. Gespräch: ein Witz über Deutsche ((Tandemgespräch, 18: 13-18: 40 Sek.)) [18: 13] 09 10 Le: auch der WITZ sagt; ja in einem gebäude leben viele leute aus aus verSCHIEdenen ländern ja. 11 Max: [mhm.] 12 Le: [äh: ]äh eines tages ist das haus ähm: : geFEUert? 13 Max: ach abgeBRANNT. 14 Le: abgeBRANNT. 15 Max: oder steht im FEUer. [18: 40] 16 17 18 19 Le: hm im FEUer stehen. ((4.0)) ähm die JUden nehmen ihre geldbeutel, und dann die LAUfen weg. Max bietet der chinesischen Lernerin, die ihre Schwierigkeit durch die steigende Intonation (Zeile 12) signalisiert, in Zeile 14 zuerst das korrekte Verb bzw. seine Partizipform an. Darauf reagiert Le mit der Wiederholung des reparierten Elements (Zeile 14). Max produziert danach mit der Einleitung „oder“ den alternativen Ausdruck „steht im FEU er.“ (Zeile 15). Nach dem kurzen Rezipientensignal „hm“ nimmt Le dieses Angebot wiederholt auf (Zeile 16). Sie formuliert hier den von dem Muttersprachler angebotenen Ausdruck „steht im FEUer.“ (Zeile 15) mit dem Infinitiv „stehen“ um. Das zeigt, dass sie diesen Ausdruck als Wortschatz <?page no="120"?> 120 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung erwirbt. Die anschließende Pause (Zeile 17) bestätigt ihren Wortschatzerwerb. Sie schreibt nämlich in dieser Pause den Ausdruck „im Feuer stehen“ in ihr Notizbuch. Danach befasst sich Le wieder mit der beendeten Witzerzählung (Zeile 18, 19). Der Wechsel von der Lehr-Lern-Sequenz zum Alltagsgespräch wird dadurch realisiert. 3. Ratifizierung mit „ja“ und Wiederholung des reparierten Elements Während die Lernerin im obengenannten Beispiel einfach das reparierte Element wiederholt, kommt es im vorliegenden Datenmaterial auch zu Sequenzen, in denen der Lerner die Unterstützung der muttersprachlichen Laienlehrperson zuerst mit dem Verstehenssignal „ja“ ratifiziert und dann das entsprechende Element wiederholt. Solche Sequenzen lassen sich besonders in Tings Daten finden. Hierfür verweise ich noch einmal auf den entsprechenden Ausschnitt aus dem Tandemgespräch zum Thema „der Zug ist ausgefallen“. Gespräch: der Zug ist ausgefallen. ((Tandemgespräch, 25: 39-26: 06 Sek.)) [25: 39] 11 12 13 14 15 Ting: auf dem ZUG ja. weil ein einmal ist DURCHgefallen; und sie haben mir NICHT gesagt; wir WARten und WARten, aber es gibt diesen zug NICHT, 16 Linda: ach AUSgefallen [nicht ] durchgefallen. 17 18 Ting: [ja ja.] ach [ja AUSgefallen.] 19 Linda: [okay ja. ] [26: 06] 20 21 22 Ting: ja und wir muss ein ANderer äh zug nehmen? und es: wir brauchen HALbe stunde in der bahnhof warten; In Zeile 16 korrigiert Linda einen Fehler der chinesischen Lernerin. Sie weist explizit darauf hin, dass Ting in ihrer erzählten Geschichte „ausgefallen“ statt „durchgefallen“ sagen soll (Zeile 16). Auf Lindas Korrektur reagiert Ting zuerst mit dem doppelten Verstehenssignal „ja ja“ (Zeile 17). Mit der Einleitung durch die Interjektion „ach“ und das abermals produzierte Verstehenssignal „ja“ wiederholt sie dann das korrigierte Element „ausgefallen“ (Zeile 18). Dazwischen reagiert Linda mit dem Rezipientensignal „[okay ja.]“ (Zeile 19). In Zeile 20 sehen wir, dass Ting wieder „ja“ produziert. Ob das „ja“ hier ein Ver- <?page no="121"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 121 stehenssignal oder ein Gesprächspartikel ist, bleibt offen. Sie wechselt aber im Anschluss daran die sprachliche Bearbeitung umgehend in das Alltagsgespräch, indem sie „und wir muss ein AN derer äh zug nehmen? “ (Zeile 20) äußert. Dabei wird die Lehr-Lern-Sequenz beendet. Die alltägliche konversationelle Erzählung wird fortgesetzt. 4. Ratifizierung mit „ja“ In meinem Korpus finden sich Lehr-Lern-Sequenzen, die von dem Lerner im Gesprächsverlauf einfach mittels des Verstehenssignals „ja“ abgeschlossen werden. Das heißt, auf den Eingriff der muttersprachlichen Laienlehrperson in Bezug auf das sprachliche Problem der nichtmuttersprachlichen Beiträge reagiert der Lerner mit „ja“ zur Ratifizierung. Die Nebensequenz der Sprachlernaktivität wird dann schnell beendet. Der Lerner führt damit die kurz beendete alltägliche Konversation fort. Der Wechsel von der Lehr-Lern-Sequenz zum Alltagsgespräch auf diese Weise ist besonders in den Daten von Ting und Le zu beobachten. Dafür präsentiere ich einige Beispiele. Im ersten Beispiel sehen wir, wie die chinesische Lernerin Le die fremdinitiierte Fremdreparatur mit „ja“ abschließt und damit den Wechsel zum Alltagsgespräch vollzieht. Gespräch: Ich war betrunken wegen Glühwein. ((Tandemgespräch, 00: 10-00: 39 Sek.)) [00: 10] 01 Max: warst warst du schon mal beTRUNken, 02 03 04 Le: ja in in OSnabrück vor zwei jahren; = = ich habe einmal ähm ungefähr eine HÄLFte voneine HÄLFte: mit glas (.) glühwein getrunken; 05 Max: ein HALbes glas. 06 Le: ja und dann bin ich getrun beTRUNken; 07 08 Max: SCHON, ein HALbes glas, 09 Le: ja. [00: 39] 10 11 Max: oh ((lacht)) und was hast du geMACHT, Max liefert in Zeile 05 eine Reparatur für Les fehlerhaften Ausdruck „eine HÄLF te: mit glas“ (Zeile 04). Auf diese fremdinitiierte Fremdreparatur reagiert Le einfach mit „ja“ (Zeile 06), ohne das bearbeitete Element zu wiederholen <?page no="122"?> 122 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung oder in den betreffenden Satz einzubauen. Hier merken wir, dass Le sich in Anschluss an das Verstehenssignal „ja“ umgehend mit der Weitererzählung ihres Erlebnisses befasst (Zeile 06). Der Ausgang der Lehr-Lern-Sequenz durch die Ratifizierung mit „ja“ des Lerners lässt sich nicht nur im Fall der fremdinitiierten Sprachlernaktivität sehen, sondern auch bei der selbsinitiierten Sequenz der sprachlichen Behandlung. Das zweite Beispiel illustriert die Konstruktion des Ausgangs im Fall der selbstinitiierten Fremdreparatur. Gespräch: Ich wurde mal von unserem Hund gebissen. ((Tandemgespräch, 32: 54-33: 26 Sek.)) [32: 54] 04 05 06 Ting: ah: wenn ich noch ZWEI jahre; habe ich mit äh mit das HUND in mein mein hause? ähm zusammenessen. 07 Linda: mhm. 08 09 Ting: und er hat mein AUgen (.) 咬 . yao gebissen [ 咬 ? ] yao gebissen 10 Linda: [gebissen.] [33: 26] 11 12 13 Ting: ja. weil hm in CHIna ähm so. bis bis heute ist das BESser; In Zeile 10 setzt Linda eine Reparatur ein, nachdem Ting sich mittels Codeswitching an sie wendet (Zeile 09). Ting sucht nämlich das deutsche Wort „beißen“ bzw. seine Partizipform für ihre Erzählung. Dafür liefert Linda dann „[gebissen.]“ (Zeile 10). Es folgt Tings Verstehenssignal „ja“ (Zeile 11), ohne dass sie sich mit diesem sprachlichen Element weiter in der Lehr-Lern-Sequenz interaktiv auseinanderzusetzen. Obwohl die sprachliche Bearbeitung von Ting veranlasst wird, endet sie an dieser Stelle. In Zeile 12 wird das Alltagsgespräch auf Initiative der Lernerin fortgeführt. In anderen Beispielen hebt der Lerner die Ratifizierung mit „ja“ durch weitere Angaben hervor und bringt zugleich in seiner Tandeminteraktion die Lehr- Lern-Sequenz zum Alltagsgespräch. Der folgende Ausschnitt aus Tings Daten <?page no="123"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 123 zeigt, wie sie den Wechsel von der Sprachlernaktivität zur alltäglichen Konversation realisiert. Gespräch: eine Gruppereise nach Italien ((Tandemgespräch, 01: 54-02: 15 Sek.)) [01: 54] 01 Ting: in iTAlien haben wir ein ein äh- 02 REIsebüro REIsebüro teilgenommen? 03 Linda: also eine GRUppe[reise oder? ] [02: 15] 04 05 06 07 [jaja geNAU.] und alles sind CHInesen, und die MEISten sind chinesen mit eltern, und sie sie REIsen zusammen; In diesem Fall geht es um eine fremdinitiierte Fremdreparatur. Nachdem Ting den Ausdruck „reisebüro“ zweimal gesprochen hat (Zeile 02), greift Linda durch das Produzieren des korrekten Begriffs „Gruppenreise“ (Zeile 03) ein. Ting reagiert in Zeile 04 auf die muttersprachliche Korrektur mit „[jaja ge NAU .]“. Die zweimal aufeinander folgende Äußerung des Verstehenssignals „ja“ und das dahinter stehende Adverb „genau“ veranschaulichen ihre Erkenntnis in diesem Moment. Diese Erkenntnis wird durch die Überlappung des Redebeitrags in Zeile 04 verstärkt. Anschließend geht die Interaktion unmittelbar in das Alltagsgespräch über, indem Ting mit „und alles sind chinesen“ (Zeile 05) ihre Rede fortsetzt. Eine weitere sprachliche Bearbeitung des betreffenden Ausdrucks in der Zielsprache findet sich in ihrer Interaktion nicht. 3.4.2.2 Initiierung des Wechsels durch den Muttersprachler Ein nicht unerheblicher Teil der Beendigung der Lehr-Lern-Sequenz in meinen Daten wird durch den Muttersprachler veranlasst. Anders als die Initiierung des Wechsels durch den Lerner, die sich durch vielfältige Verfahren auszeichnet, sind hier weniger Initiierungsverfahren festzustellen. Die Muttersprachler schließen die Lehr-Lern-Sequenzen ab, indem sie überwiegend Fragen zur Weiterführung des Gesprächsthemas stellen. Um das zu illustrieren, möchte ich auf die folgenden zwei Beispiele eingehen. <?page no="124"?> 124 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung Das erste Beispiel aus Lis Daten zeigt, wie der Muttersprachler im Fall der fremdinitiierten sprachlichen Bearbeitung die Lehr-Lern-Aktivität beendet und die Aufmerksamkeit der Lernerin wieder auf das Gesprächsthema lenkt. Gespräch: Vorbereitung auf ein Bewerbungsgespräch ((Tandemgespräch, 01: 00: 25-01: 00: 58 Sek.)) [01: 00: 25] 26 Li: ein beKANNter[bei-] 27 Lukas: [ein ] FREUND von mir; 28 29 Li: ein FREUND von mir hat mir gesagt, hm: 30 Lukas: dass, 31 Li: dass ich (.) bei IHnen eine stelle suchen (.) können (.) kann. 32 Lukas: ähm: 33 Li: <<p> das ist NICHT? > 34 Lukas: dass ich bei ihnen eine STElle ähm: : : finden kann; 35 Li: dass ich [kann-] 36 Lukas: [oder: ] SUchen kann geht auch; 37 Li: SUchen kann; [01: 00: 58] 38 39 40 41 Lukas: oder ähm ähwas hat der freund denn geNAU gesagt; hat der freund geSAGT; = = dass dort eine stelle FREI ist? Hier handelt es sich von Zeile 27 bis 37 um eine Nebensequenz, in der Lukas der chinesischen Lernerin sprachliche Unterstützungen anbietet. Einerseits korrigiert er ihre unangemessenen Ausdrücke (Zeile 27, 34). Andererseits setzt er das Scaffolding-Verfahren ein (Zeile 31), damit Li ihren Redebeitrag formulieren kann. Bemerkenswert ist, dass Lukas nach seinem Zögern in Zeile 38 plötzlich die Sprachlernaktivität durch die Frage nach dem Gesprächsinhalt („was hat der freund denn genau gesagt“ in Zeile 39) in das Alltagsgespräch wechselt. Im Zusammenhang des Kontextes sehen wir, dass Lukas über die Wahl des Verbs für Lis Formulierung „dass ich (.) bei IH nen eine stelle suchen (.) können (.) kann.“ (Zeile 31) nachdenkt. Obwohl er Lis Verb „suchen“ zuerst auf „finden“ (Zeile 34) korrigiert, verdeutlicht sein Beitrag „[oder] SU chen kann geht auch“ (Zeile 36) aber seine Unsicherheit bei der Verbwahl. Das Zögern in Zeile 38 zeigt sein Überlegen. Die daran anschließende inhaltliche Frage zielt auf ein genaue- <?page no="125"?> 3.4 Das Tandemgespräch als kommunikative Gattung 125 res Wissen über Lis Geschichte ab. Der Wechsel von der Lehr-Lern-Sequenz zum Alltagsgespräch wird in diesem Fall intuitiv verwirklicht. Während das erste Beispiel den Ausgang der Sprachlernaktivität im Fall der fremdinitiierten Reparatur illustriert, möchte ich mit dem zweiten Beispiel den Wechsel bei der selbstinitiierten Lehr-Lern-Sequenz veranschaulichen. Gespräch: die ersten Tage in Deutschland ((Tandemgespräch, 00: 59-01: 40 Sek.)) [00: 59] 09 10 Le: wir wir sind durch ähm RHEIN, der fluss RHEIN; 11 Max: mhm. 12 Le: geFAHren; 13 Max: mhm. 14 15 16 17 Le: und und auf den bergen gibt es so viele TRAUbe: : n, trau traubeBÄUme,= = kann man SO sagen, nicht BÄUme. 18 Max: WEINtraube oder, 19 Le: ja wein- 20 21 Max: REben oder, REben. 22 Le: was ist REben, 23 24 Max: also so stöcke wo die trauben dran WACHsen. TRAUbenstöcke. 25 26 27 Le: kann man- <<pp> kannst du mal SCHREIben,> jo jo. 28 (4.0) [01: 40] 29 30 31 Max: da hattest du gar keine SPRACHschwierigkeiten am anfang oder; oder als du in osnabrück ANgekommen bist. hast du gleich konTAKte gefunden, Die chinesische Lernerin Le initiiert hier von Zeile 16 bis 23 durch Fragen (Zeile 16, 26) eine Lehr-Lern-Sequenz. Auf Les zweite Initiierung zur sprachlichen Behandlung (Zeile 22) liefert Max die deutsche Begriffserklärung für „Reben“: „das sind so stöcke wo die trauben dran WACH sen“ (Zeile 23). Unmittelbar darauf stellt Max die Frage nach dem Inhalt der nichtmuttersprachlichen Geschichte <?page no="126"?> 126 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung („da hattest du gar keine sprach SCHWIE rigkeiten am anfang oder“ in Zeile 23), ohne die Bearbeitung des Begriffs „Reben“ auszuführen. Die Lehr-Lern-Sequenz wird damit abgeschlossen. Das Gespräch über Les Erlebnisse in ihren ersten Tagen in Deutschland wird fortgesetzt. Eine weitere Bearbeitung des hier vorhandenen sprachlichen Problems ist nicht zu finden. 3.5 Lehr-Lern-Sequenzen im Tandem vs. Unterrichtsinteraktionen Zur Interaktion zwischen dem Lehrer und dem Lerner im Fremdsprachenunterricht nimmt die Studie von Seedhouse (2004) eine besondere Stellung ein, weil er anhand empirischer Daten die Unterrichtsinteraktionen systematisch analysiert. Seine Untersuchungsergebnisse zeigen, dass sich die Organisation der Unterrichtsinteraktion in vier Kontexten ( Form und Exaktheit , Bedeutung und Fluss , aufgabenorientiert , prozedural ) differenzieren lässt. Im vorliegenden Tandemmaterial sind Lehr-Lern-Sequenzen vor allem in zwei Kontexten ( Form und Exaktheit , Bedeutung und Fluss ) vorhanden. Im Hinblick auf die Interaktionsform zeigen die Lehr-Lern-Sequenzen im Tandem schon bestimmte Analogien mit der Unterrichtsinteraktion in diesen beiden Kontexten. Nach Seedhouse (2004) wird im Kontext von Form und Exaktheit eine genaue linguistische Form angestrebt. Formulierungen des Lerners, die der sprachlichen Form nicht genau entsprechen, werden vom Lehrer als reparaturbedürftig betrachtet. Dann wird eine Interaktion zwischen dem Lehrer und dem Lerner zur Behandlung der sprachlichen Form durchgeführt. Sprachlernaktivitäten dieser Art lassen sich in meinem Korpus bei allen Tandempaaren beobachten. Linda korrigiert z. B. in ihrem Tandemgespräch zum Thema „ich wurde mal von unserem Hund gebissen“ den von Ting falsch verwendeten Artikel „das“ bei dem Substantiv „Hund“ auf „der“. Gespräch: Ich wurde mal von unserem Hund gebissen. ((Tandemgespräch, 35: 10-35: 15 Sek.)) [35: 10] 58 Ting: weil das HUND ist von unserem haus; 59 Linda: DER hund. [35: 15] 60 Ting: ja ja der hund; Während Lukas die grammatisch unkorrekte Satzstruktur „hm gib es ein sprich- WORT .“ von Li auf „es GIBT [ein sprichwort.]“ korrigiert, liefert Max das An- <?page no="127"?> 3.5 Lehr-Lern-Sequenzen im Tandem vs. Unterrichtsinteraktionen 127 gebot „ein HAL bes glas.“ für Les problematischen Ausdruck „eine HÄLF te: mit glas“. Gespräch: Ein türkischer Student ist auf etwas Stinkendes getreten. ((Tandemgespräch, 01: 22: 07-01: 22: 16 Sek.)) [01: 22: 07] 01 02 Li: hm gib es ein sprichWORT. äh so wie- 03 Lukas: es GIBT [ein sprichwort.] [01: 22: 16] 04 05 Li: [es <<f> ja: . > ] es gibt ein sprichWORT. Gespräch: Ich war betrunken wegen Glühwein. ((Tandemgespräch, 00: 13-00: 35 Sek.)) [00: 13] 02 03 04 Le: ja in in OSnabrück vor zwei jahren; = = ich habe einmal ähm ungefähr eine HÄLFte voneine HÄLFte: mit glas (.) glühwein getrunken; 05 Max: ein HALbes glas. [00: 35] 06 Le: ja und dann bin ich getrun beTRUNken; Dagegen verweist Seedhouse (2004) in seiner Untersuchung darauf, dass im Kontext von Bedeutung und Fluss die Bedeutungsaushandlung statt der sprachlichen Form im Vordergrund steht. Eingriffe der Lehrperson finden sich vor allem da, wo die sprachlichen Schwierigkeiten die Kommunikation stören. Probleme auf der Ebene sprachlicher Form, die trotz grammatischer Fehler das Gespräch nicht beeinträchtigen, werden in diesem Fall nicht unbedingt thematisiert. In meinem Korpus, vor allem in den Daten von Ting und Le, finden sich häufig Sequenzen sprachlicher Bearbeitung auf diese Weise. Im Gespräch „der Zug ist ausgefallen“ zwischen Ting und Linda wird beispielsweise nur der unpassende Ausdruck „durchgefallen“ der Lernerin von der Muttersprachlerin repariert, indem sie „ausgefallen“ liefert. Die anderen sprachlichen Fehler, die Ting in ihren Beiträgen macht (z. B. bezüglich der Satzstruktur und der Zeitform), bleiben unkommentiert. Das kann darin begründet sein, dass der betreffende Ausdruck „ausgefallen“ das Verständnis gefährden kann. Im Gegensatz dazu <?page no="128"?> 128 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung beeinträchtigen die Fehler auf der Ebene sprachlicher Form das Zuhörerverständnis des Inhalts nicht. Gespräch: der Zug ist ausgefallen. ((Tandemgespräch, 25: 39-25: 55 Sek.)) [25: 39] 11 12 13 14 15 Ting: auf dem ZUG ja. weil ein einmal ist DURCHgefallen; und sie haben mir NICHT gesagt; wir WARten und WARten, aber es gibt diesen zug NICHT, 16 Linda: ach AUSgefallen [nicht] durchgefallen. 17 18 Ting: [jaja.] ach [ja AUSgefallen.] [25: 55] 19 Linda: [okay ja. ] Trotz dieser Analogie zwischen Unterrichtsinteraktionen und Lehr-Lern-Sequenzen im Tandem zeichnet sich dazwischen jedoch ein wesentlicher Unterschied ab. Nach Seedhouse (2004) wird die Organisation der Interaktion im Fremdsprachenunterricht von einem pädagogischen Ziel abgeleitet. In den Sprachlernaktivitäten im Tandem finden sich zwar pädagogische Ziele, vor allem in den Daten von Li und Lukas. Lukas’ selbstinitiierter Eingriff betrifft hauptsächlich die folgenden Punkte der sprachlichen Ebene: - Genus (z. B. „meine mitbewohne RIN “, im Gespräch zum Thema „Sport und Übergewicht“) - Konjunktion (z. B. „dass“, im Gespräch zum Thema „Sport und Übergewicht“) - Artikel (z. B. „ DER teppich“, im Gespräch zum Thema „Ein türkischer Student ist auf etwas stinkendes getreten“) - Phonetik (z. B. „aber kolle GIN “, im Gespräch zum Thema „eine Kollegin aus Senegal hat eine nette deutsche Schwiegermutter“) - Syntax (z. B. „es GIBT [ein sprichwort.]“, im Gespräch zum Thema „Ein türkischer Student ist auf etwas stinkendes getreten“) - Wortschatz (z. B. „jemandem etwas auf SCHWA tzen“, im Gespräch zum Thema „aufschwatzen“) Wir sehen, dass Lukas beim Einsatz seines Lehrverfahrens schon einen Fokus auf die oben genannten sprachlichen Punkte legt. Aber solche pädagogische Fokussierungen bleiben immer lokal. Ein übergreifendes Ziel, das wie im Fremdsprachenunterricht durch die Lehrperson eingeführt wird und die Interaktionsorganisation des Unterrichts leitet, bleibt im Tandem aus. In den Daten von Ting <?page no="129"?> 3.5 Lehr-Lern-Sequenzen im Tandem vs. Unterrichtsinteraktionen 129 und Le lässt sich deutlich weniger lokale pädagogische Zielführung beobachten, ganz zu schweigen vom übergreifenden pädagogischen Fokus. Ein weiteres Merkmal, das die Lehr-Lern-Sequenzen von den Unterrichtsinteraktionen unterscheidet, liegt in dem defizitären Lehrverhalten des Muttersprachlers. In meiner Datenanalyse konnten wir schon in mehreren Beispielen deutlich sehen, dass die muttersprachlichen Laienlehrpersonen nicht immer in der Lage sind, die sprachlichen Bearbeitungen in Interaktion mit überzeugender Erklärung zu bewältigen. Zuweilen wird der Lehrprozess unbehandelt gelassen. Das Lehrverfahren wird also nicht grundsätzlich durchgeführt. Die Defizite des Lehrverhaltens der muttersprachlichen Laienlehrpersonen lassen sich wie folgt darstellen. (1) sprachlich defizitäre Erklärung Die muttersprachlichen Tandempartner können in meinem Korpus zwar korrekte Elemente bezüglich der sprachlichen Form (z. B. Artikel, Syntax, Zeitform) liefern, wenn die Lerner im Gesprächsverlauf Fehler machen oder Schwierigkeiten begegnen. Aber grundsätzliche Erklärungen über sprachliche Phänomene fehlen in meinen Daten immer. Häufig zeigen die deutschen Laienlehrpersonen ihr Unvermögen bzw. ihre Unsicherheit bei der sprachlichen Erklärung. Der folgende Auszug aus dem Gespräch zwischen Li und Lukas illustriert z. B., wie Lukas auf Lis Frage nach dem syntaktischen Status des Ausdrucks „so wie mein Freund“ defizitär antwortet. Gespräch: Prüfung ((Tandemgespräch, 02: 22-02: 48 Sek.)) [02: 22] 11 Lukas: äh: SO wie mein freund. 12 13 Li: <<acc> SO wie mein freund.> das bedeutet <<engl. Aussprache> JUST like,> 14 Lukas: jaja geNAU. 15 16 Li: denn (.) das ist NEbensatz? oder ist [das NEbensatz? ] [02: 48] 17 18 19 20 21 22 23 Lukas: [ähm: : : ] SO wie mein freund ähmhm: zum BEIspiel ähmähm ich komme aus china SO wie mein freund ähm auch, oder, also das ist SCHON ein nebensatz. GLAUbe ich. <?page no="130"?> 130 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung Hier sehen wir von Zeile 17 bis Zeile 23 Lukas’ Antwort auf Lis Frage „oder ist [das NE bensatz? “ (Zeile 16). Die mehrmaligen (gedehnten) Verzögerungssignale „ähm“ „hm“ (Zeile 17, 18, 19) verdeutlichen, dass er in diesem Fall nicht in der Lage ist, eine überzeugende Erklärung auf Lis Aufforderung zu liefern. Die Rückfrage „oder,“ (Zeile 21) und das Modalisierungsmittel „ GLAU be ich.“ (Zeile 23) verstärken seine Unsicherheit bei diesem Lehrverfahren. (2) prozedural defizitäre Erklärung Die Defizite der Laienlehrpersonen zeigen sich nicht nur inhaltlich, sondern auch prozedural. In meinen Daten kommt es häufig zu Lehr-Lern-Sequenzen, die im Gesprächsverlauf nicht gründlich umgesetzt und ohne lernfördernde Verfahren beendet werden. Gespräch: Junge Leute sind unhöflich. ((Tandemgespräch, 01: 20: 21-01: 21: 00 Sek.)) [01: 20: 21] 61 62 63 Li: ähm sie hat diesie hat die al_alten leute (.) immer beHINdert. du ALter gesagt. 64 Lukas: sie hat den ALten [leuten,] 65 Li: [leuten,] 66 Lukas: oder sie hat ALten leuten oder ÄLteren leu- 67 Li: ÄLteren leute. 68 Lukas: also ALte leute sind so fünfzig sechzig jahre alt. 69 70 Li: hm ach.= =[aber] 71 Lukas: [aber] ÄLter [ist ] einfach älter als- 72 73 74 Li: [ÄLter? ] ach ÄLter ÄLter leute; du Älter (.) du HINdert; [01: 21: 00] 75 76 77 78 Lukas: du ALter du beHINderter. aber es_es gibt kein GRUND. waRUM sie das gesagt haben. einfach um sie zu ÄRgern; In Zeile 68 kündigt der Muttersprachler eine Erklärung des Unterschieds zwischen den Begriffen „alte Leute“ und „ältere Leute“ an. Betrachten wir seine weiteren Beiträge in dieser Sequenz sprachlicher Bearbeitung, können wir deutlich <?page no="131"?> 3.5 Lehr-Lern-Sequenzen im Tandem vs. Unterrichtsinteraktionen 131 merken, dass er seinen Lehrprozess über die beiden Begriffe schon in Zeile 71 beendet, und zwar durch die Unterbrechung der chinesischen Lernerin (Zeile 73). In Zeile 75 korrigiert Lukas noch den betreffenden sprachlichen Ausdruck. Aber seine folgenden Beiträge „aber es_es gibt kein GRUND . wa RUM sie das gesagt haben. einfach um sie zu ÄR gern; “ (Zeile 76 bis 78) zeigen, dass er seinen Fokus schon wechselt. Das Gesprächsthema wird dadurch fortgesetzt. Die Lehr- Lern-Sequenz geht zu Ende, ohne eine Erklärung des Begriffs „ältere Leute“ geliefert zu haben. Prozedurale Defizite des Lehrverhaltens lassen sich aber nicht nur lokal, sondern auch global beobachten. Die prozedural defizitären Erklärungen der muttersprachlichen Laienlehrpersonen beschränken sich also nicht nur auf Lehr- Lern-Sequenzen, sondern auch im Sinne der gesamten Tandeminteraktion. Es kommt in meinen Daten zu einigen Sequenzen, in denen sich die chinesischen Probanden am Ende der Lehr-Lern-Sequenzen Notizen machen, die sich auf die momentanen Sprachlernaktivitäten mit ihren muttersprachlichen Tandempartnern beziehen. Diese wenigen Belege tauchen vor allem in den Daten von Le und Li auf. Global findet sich aber keine Nacharbeitung für die behandelten sprachlichen Elemente. Die Tandempartner in meinem Korpus machen weder Vorbereitung noch Nacharbeitung für ihre Interaktion zum Sprachenlernen. Das heißt, die Sprachlernaktivitäten im Tandem werden mit der Prägung der Beliebigkeit realisiert. Die sprachlichen Elemente, die sie in ihrem alltäglichen Tandemgespräch extra durch Nebensequenzen bearbeiten, werden in keiner ihrer weiteren Tandeminteraktionen thematisiert. Im Hinblick auf diese defizitären Lehrverhalten sowie den Mangel des übergreifenden pädagogischen Ziels stelle ich in der vorliegenden Arbeit die Lerneffekte in Tandeminteraktion infrage. Für das Argumentieren der Lerneffekte im Tandem bezieht sich Apfelbaum (1993) auf den „korrekten Wiedergebrauch eines korrigierten Elements“ (Apfelbaum 1993: 195) und die Theorie der Imagebedrohung. Nach ihrer Meinung sind die „Memorisierungseffekte“ (Apfelbaum 1993: 160) bei selbstinitiierter Hilfe größer als bei fremdinitiierter Hilfe, weil sich die Lerner beim letzteren stärker bedroht fühlen. Wissenschaftlich werden diese Argumente jedoch nicht überzeugend bewiesen. Anhand des vorliegenden Datenmaterials kann ich die Lerneffekte bei meinen Probanden zwar nicht wissenschaftlich nachweisen. Aber ich möchte der Frage nach dem Lerneffekt trotzdem Beachtung schenken, und zwar aus der Perspektive der defizitären Lehrverhalten sowie aufgrund des Mangels eines übergreifenden pädagogischen Ziels. <?page no="132"?> 132 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung 3.6 Tandem als eine besondere kommunikative Gattung Die Tandeminteraktion der kommunikativen Gattung zeichnet sich durch den Wechsel zwischen dem Alltagsgespräch und der Lehr-Lern-Sequenz aus. Meine Untersuchung ergibt, dass das Tandemgespräch der kommunikativen Gattung kein homogenes statisch-fixiertes Gebilde ist. In meinen Daten variiert der Wechsel zwischen dem alltäglichen Gespräch und den Sequenzen sprachlicher Bearbeitung bei verschiedenen Tandempaaren. Günthner (2000c) weist in ihrer Studie darauf hin, dass die kommunikativen Handlungen durch das Gattungswissen nicht fest vorbestimmt, sondern im situativen Kontext geschehen und bestimmten Faktoren (wie interaktiven Zielen, individuellen Gestaltungsvorlieben) unterworfen sind. Der Befund meiner Untersuchung verdeutlicht, dass bei der variierten Gestaltung der Tandemgespräche das Sprachniveau des Lerners eine entscheidende Rolle spielt. Die Organisation der Tandeminteraktion wird also von dem Sprachniveau des Lerners abgeleitet. Das lässt sich anhand meiner Daten hauptsächlich beim Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern- Sequenz beobachten. In diesem Kapitel werde ich die Rolle des Sprachniveaus in dieser besonderen kommunikativen Gattung darstellen. Die empirische Analyse des Wechsels vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern- Sequenz zeigt unterschiedliche Ursachen für die Initiierungen der Sprachlernaktivitäten im Tandem. Die Formulierungsschwierigkeit ist eine Ursache dafür, die alle Lerner in meinen Daten betrifft. Zugleich fallen aber deutliche Unterschiede bei verschiedenen Tandempaaren auf, vor allem bei Li und Le. Während bei Li die muttersprachliche Reparatur der sprachlichen Form den Hauptausgangspunkt für die Initiierung der sprachlichen Bearbeitung bildet, dienen die Lehr-Lern-Sequenzen bei Le häufig der Verständnissicherung des Muttersprachlers. Das liegt offensichtlich daran, dass Li und Le auf verschiedenen sprachlichen Niveaus sind. Während Li mit einem niedrigen Sprachniveau oft deutliche Fehler der sprachlichen Form macht, kann Le als eine Germanistikstudentin im Masterstudium das alltägliche Gespräch häufig ohne große sprachliche Probleme führen. Konkret lassen sich die Unterschiede in den verschiedenen Initiierungsverfahren in ihren Tandemgesprächen beobachten. Wie wir in der Analyse der fremdinitiierten Fremdreparatur sehen, verwendet Lis Tandempartner verschiedene Verfahren zur Initiierung der sprachlichen Behandlung (wie Korrigieren, Scaffolding, Alternativfragen). Auffallend ist auch, dass der muttersprachliche Eingriff in Lis Daten deutlich häufiger vorkommt als bei anderen Probanden. Dagegen setzt Max, der deutsche Tandempartner von Le, weniger vielfältige Initiierungsstrategien ein. In der fremdinitiierten Fremdreparatur sind meistens muttersprachliche Reparaturen in Form von Korrigieren und durch metasprach- <?page no="133"?> 3.6 Tandem als eine besondere kommunikative Gattung 133 liche Fragen zu sehen. Insgesamt finden sich aber in Les Daten weniger Reparaturen der Laienlehrpersonen. Neben der Häufigkeit der Sprachlernaktivitäten unterscheidet sich die Gattung bei der Lernerin im höheren sprachlichen Zustand (Le) von der Lernerin mit niedrigem Sprachniveau (Li) wesentlich darin, dass der muttersprachliche Tandempartner gegenüber Le Initiierungsverfahren durch metasprachliche Fragen einsetzt. Bei Li ist diese Strategie der fremdinitiierten Fremdreparatur nicht zu finden. Die Variation des Tandemgesprächs der kommunikativen Gattung zeichnet sich bei den chinesischen Probanden Le und Li dadurch aus. Dieser Unterschied ist zumeist darauf zurückzuführen, dass der Muttersprachler je nach seiner Abschätzung des sprachlichen Niveaus des chinesischen Lerners sein Verhalten intuitiv verändert. Gegenüber Li, die wegen ihrer geringen Kenntnisse der deutschen Sprache häufig Fehler sprachlicher Form macht, greift Lukas öfter ein. Er verwendet dabei Initiierungsverfahren (z. B. Korrigieren, Scaffolding, Alternativfragen), die der sprachlichen Konstruktion der Lernerin helfen können und für sie zugleich kognitiv entlastend sind. Initiierungsverfahren durch metasprachliche Fragen, die wegen ihrer Form und ihres Inhalts die Lernerin kognitiv belasten können, sind dagegen bei der Germanistikstudentin Le zu sehen. In der selbstinitiierten Fremdreparatur zeichnet sich die Gattungsvariation ebenso durch das Initiierungsverfahren mittels metasprachlicher Fragen aus. Die Befunde meiner Untersuchung zeigen, dass Le mit vielfältigen metasprachlichen Fragen den Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz realisiert. Bei Li findet sich dafür kaum ein empirischer Beleg. Li setzt Initiierungsverfahren vor allem durch steigende Intonation, Alternativfragen oder die Kombination von beidem ein, was wir auch bei Le finden. Der Unterschied liegt darin, dass die Initiierungen zur sprachlichen Behandlung bei Li deutlich häufiger auftreten als bei Le, vielleicht auch deshalb, weil Li wegen ihres niedrigen Sprachniveaus nicht in der Lage ist, metasprachliche Fragen auszudrücken, und mehr Unterstützung braucht. Für die Germanistikstudentin Le ist das aber offensichtlich kein Problem. Sie spielt beim Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz eine relativ aktive Rolle, während Li häufig passiv erscheint. Ein weiterer Unterschied zwischen dem Tandemgespräch von Li und Le liegt darin, dass der Muttersprachler gegenüber Li Worterklärungen initiiert und damit den Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz verwirklicht. Lukas vermittelt dadurch neue deutsche Wörter bzw. Ausdrücke und fördert zugleich das Sprachenlernen der chinesischen Studentin. Bei Le ist dafür kein einziger Beleg vorhanden. Ein möglicher Grund ist ebenso das Sprachniveau des Lerners. Lukas geht nach seiner Einschätzung des Sprachniveaus der Chinesin davon aus, dass manche Wörter bzw. Ausdrücke für Li fremd sind. Er über- <?page no="134"?> 134 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung nimmt also intuitiv die Rolle der Lehrperson und stellt die betreffenden sprachlichen Elemente vor, wie im Fremdsprachenunterricht. Aufgrund des höhreren Sprachniveaus von Le sehen wir bei Max diese Initiierungsstrategie nicht. Einerseits sind die verschiedenen Gattungsgestaltungen im Tandem auf das Sprachniveau des Lerners zurückzuführen. Andererseits stehen sie aber auch im Zusammenhang mit dem Sprachstand des Muttersprachlers. Das heißt, es hängt auch davon ab, welches Sprachniveau der deutsche Tandempartner in der chinesischen Sprache hat. Das kann ebenso die Gestaltung der kommunikativen Gattung im Tandem beeinflussen. Hier werde ich die Rolle des Sprachniveaus der muttersprachlichen Laienlehrperson anhand Tings Daten vorstellen. Ting hat eine deutsche Tandempartnerin mit einem höheren Chinesischniveau, sowohl schriftlich als auch mündlich. In ihren Gespächen kommt es oft zur Initiierung der Sprachlernaktivitäten, die durch Tings Codeswitching realisiert wird. Das heißt, Ting wechselt von der deutschen Sprache ins Chinesische, wenn sie sprachlichen Schwierigkeiten begegnet und Hilfe von Linda braucht. Da Linda im Chinesischen ein höheres Niveau hat, kann sie Tings chinesische Ausdrücke verstehen und mit Ting zusammen die betreffenden sprachlichen Elemente bearbeiten. Die Analyse meiner Daten zeigt, dass die Codeswitchingstrategie zur sprachlichen Behandlung ausschließlich bei Ting zu beobachten ist. Bei Li und Le, deren deutsche Tandempartner mit der chinesischen Sprache im Alltag nicht ordentlich kommunizieren können, findet sich kein Codeswitching vom Deutschen ins Chinesische durch die Lernerinnen. 3.7 Zusammenfassung Ziel des Kapitels 3 ist, den Wechsel-Mechanismus zwischen dem Alltagsgespräch und der Lehr-Lern-Sequenz im Tandem zu rekonstruieren und die Merkmale des Tandemgesprächs der kommunikativen Gattung herauszuarbeiten. Die Untersuchung der vorliegenden Arbeit hat ergeben: (1) Die Analyse der Initiierungsverfahren zur Lehr-Lern-Sequenz verdeutlicht, dass die Interagierenden in meinem Korpus die Sprachlernaktivitäten entweder im Kontext von Form und Exaktheit oder von Bedeutung und Fluss initiieren. Interaktionen zwischen Lerner und Lehrperson, die im Fremdsprachenunterricht in aufgabenorientierten oder prozeduralen Kontexten abgeleitet werden (Seedhouse 2004), kommen in meinen Tandemdaten nicht vor. Konkret lassen sich dabei anhand meiner Daten folgende Gesichtspunkte darstellen: <?page no="135"?> 3.7 Zusammenfassung 135 • Bei der fremdinitiierten Lehr-Lern-Sequenz ist festzustellen, dass die muttersprachlichen Laienlehrpersonen vielfältige verbale Verfahren (wie Korrigieren, metasprachliche Fragen, Alternativfragen, Wörtererklärungen, Scaffolding) einsetzen. Die im Korpus aufgetauchten Beispiele erinnern zum Teil an die Lehrverfahren im Fremdsprachenunterricht. Dabei wird in der Analyse deutlich, dass die Muttersprachler zugleich intuitiv Anpassungsstrategien verwenden. Gegenüber Lernern mit unterschiedlichen Sprachniveaus sehen wir verschiedene Initiierungsverfahren der Muttersprachler. Während gegenüber Le im höherem Sprachniveau häufig Initiierungsverfahren mittels metasprachlicher Fragen der Laienlehrperson zu beobachten sind, findet sich dafür bei Li mit niedrigem Sprachniveau kaum ein empirischer Beleg. Dagegen verwendet Lis Tandemparter oft Strategien wie Scaffolding, Wörtererklärungen, Alternativfragen, die sprachlich und kognitiv entlastend sind, um den Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr- Lern-Sequenz zu realisieren. • Im Bereich der selbstinitiierten Lehr-Lern-Sequenz fällt die Rolle des Sprachniveaus der Lerner auf. Während die Germanistikstudentin Le zahlreiche metasprachliche Fragen in verschiedenen Formen ausdrückt und damit die Sequenz zum Sprachenlernen explizit initiiert, kann Li ausschließlich mittels steigender Intonation oder Alternativfragen ihre sprachlichen Schwierigkeiten oder ihre Bedürfnisse an Sprachlehraktivitäten dem Muttersprachler mitteilen. • Darüber hinaus legt meine Analyse dar, dass beim Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz nicht nur das Sprachniveau des Lerners eine Rolle spielt, sondern auch das Chinesischniveau der deutschen Laienlehrperson. Das lässt sich anhand der Tandemgesprächen zwischen Ting und Linda feststellen. Gegenüber Linda, die mit einem höheren Chinesischniveau auf Chinesisch problemlos kommunizieren kann, verwendet Ting oft Codeswitching vom Deutschen ins Chinesische, um eine Sequenz zur sprachlichen Bearbeitung zu initiieren. Das taucht bei Le und Li, deren Tandempartner ein deutlich niedrigeres Chinesischniveau haben, kaum auf. • Ferner ist in der Untersuchung die reflexive Beziehung zwischen den Interagierenden im Tandem deutlich geworden. In dem nicht-offiziellen Kontext kommt es einerseits zu gesichtsbedrohenden Äußerungen durch die Muttersprachler. Anderseits drücken die Lerner gegenüber den muttersprachlichen Laienlehrpersonen Beiträge aus, die deren Gesicht explizit bedrohen (können). Eine Hierarchie zwischen Lehrer und Lerner wie im institutionellen Fremdsprachenunterricht findet sich in meinem Tandemkorpus nicht. <?page no="136"?> 136 3 Tandemgespräch: eine besondere kommunikative Gattung (2) Im Gegensatz zur Initiierung der Lehr-Lern-Sequenz zeigt die Untersuchung der Verfahren von der Sprachlernaktivität zum Alltagsgespräch nur wenige Merkmale. Der Ausgang der Sequenz sprachlicher Bearbeitung wird entweder durch die Lerner oder durch die Muttersprachler initiiert. Verfahren, die sie für den Wechsel zum alltäglichen Gespräch einsetzen, wie z. B. Ratifizierung mit „ja“, Wiederholung des reparierten Elements oder Wiederholung des betreffenden Satzes mit der Aufnahme des reparierten Elements, verteilen sich auf alle Tandempaare. Unterschiede der Distribution sind dabei nicht auffällig. (3) In Anbetracht des Tandemgesprächs als einer kommunikativen Gattung ergibt sich in der vorliegenden Arbeit, dass diese Gattung sich durch den Wechsel zwischen dem Alltagsgespräch und der Lehr-Lern-Sequenz auszeichnet. Als wichtiges Merkmal stellt sich heraus, dass das Tandemgespräch kein homogenes statisch-fixiertes Gebilde ist. In meinen empirischen chinesisch-deutschen Tandemdaten variiert diese Gattung bei verschiedenen Tandempaaren, je nach dem Sprachniveau des Tandempartners. Das heißt, das Sprachniveau des Lerners spielt bei der Gattungsgestaltung im Tandem eine entscheidene Rolle. Konkret lässt sich die Variation der Gattung an den verschiedenen Initiierungsverfahren beim Wechsel vom Alltagsgespräch zur Lehr-Lern-Sequenz beobachten. Lerner mit verschiedenen Sprachniveaus verwenden bei der Initiierung der Sprachlernaktivität unterschiedliche sprachliche Verfahren. Umgekehrt setzen die Muttersprachler entsprechende Initiierungsstrategien nach ihrer Einschätzung des Sprachzustandes ihrer Tandempartner ein. Das prägt die unterschiedlichen Gestaltungen der Gattung. Außerdem ist in meiner Untersuchung festzustellen, dass das Chinesischniveau des Muttersprachlers eine Rolle spielt. Nicht nur die muttersprachlichen Laienlehrpersonen verwenden intuitiv Anpassungsstrategien nach dem Sprachniveau des Lerners, sondern auch die Lerner an das Chinesischniveau des deutschen Studierenden. Die Daten von Ting und Linda, in denen Ting gegenüber der Muttersprachlerin mit höheren Sprachkenntnissen häufig Codeswitching vom Deutschen ins Chinesische einsetzt, beweisen die Rolle der Chinesischkenntnisse des Muttersprachlers bei der Gestaltung der kommunikativen Gattung. (4) Abschließend möchte ich anhand meiner Untersuchungsergebnisse einen Anstoß zum Lerneffekt im Tandem geben. Das Sprachenlernen im Tandem geht davon aus, dass die Interagierenden voneinander die jeweiligen Zielsprachen lernen. Die Analyse meiner Daten verdeutlicht jedoch mehrere Defizite in den Lehr-Lern-Aktivitäten. <?page no="137"?> 3.7 Zusammenfassung 137 Erstens fehlt in der Sequenz sprachlicher Bearbeitung das übergreifende pädagogische Ziel. Die Eingriffe der muttersprachlichen Laienlehrpersonen zeichnen sich zumeist durch ihre Beliebigkeit aus. In den Daten von Li und Lukas ist zwar eine Menge von Lehrverhalten wie Reparaturen und Worterklärungen des Muttersprachlers zu beobachten, die auf bestimmte Punkte sprachlicher Formen abzielen. Das heißt, hier geht es nur um einige lokale pädagogische Fokusse. Ein übergeordnetes pädagogisches Ziel, das nach Seedhouse (2004) die Organisation der Interaktion zwischen Lehrer und Lerner im Fremdsprachenunterricht leitet, bleibt immer aus. Bei anderen Probanden lassen muttersprachliche Unterstützungen mit lokalen pädagogischen Zielen schon selten sehen, ganz zu schweigen vom übergreifenden pädogogischen Ziel. Die Hilfe der Laienlehrpersonen ist bei ihnen entweder auf die Formulierungsschwierigkeiten des Lerners zurückzuführen, oder sie dient hauptsächlich der Verständnissicherung des muttersprachlichen Gesprächspartners. Zweitens lassen sich die Defizite der Laienlehrpersonen unter den Aspekten ihrer sprachlich und prozedural defizitären Erklärungen zusammenfassen. Die in meinen Daten aufgetauchten Beispiele zeigen, dass die Muttersprachler oft nicht in der Lage sind, die betreffenden sprachlichen Elemente mit einer überzeugenden Erklärung zu bewältigen. Zuweilen beenden sie die unterbrochene sprachliche Bearbeitung, ohne die Lehrverfahren prozedural grundsätzlich durchzuführen. <?page no="139"?> 4.1 Zum Begriff Erzählen 139 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 4.1 Zum Begriff Erzählen Erzählen stellt ein Grundbedürfnis der Menschen dar. Das kognitive Bedürfnis von Erfahrungsverarbeitung und das soziale Bedürfnis von Austausch können durch Erzählen erfüllt werden. In der wisschenschaftlichen Erzählforschung werden sowohl die literarisch gestalteten Erzählformen wie z. B. Märchen, Sagen, Mythen und ähnliche in der Kulturgemeinschaft tradierte Stoffe als auch das Erzählen selbst untersucht. In der linguistischen Forschung erlangt zumeist das Erzählen selbst die wissenschaftlichen Interessen. Unter dem Begriff „Erzählen“ gibt es in der linguistischen Forschung verschiedene Definitionen. Ehlich (1980: 129) unterscheidet Erzählen im weiteren Sinne vom Erzählen im engeren Sinne. Mit „Erzählen im weiteren Sinne“ meint er die „Weitergabe von Geschehenem“, die der alltäglichen Verwendung des Erzählens entspricht, wie z. B. Beschreiben, Mitteilen, Berichten, Darstellen und Schildern. Unter „Erzählen im engeren Sinne“ wird die „Herstellung einer gemeinsamen Welt“ verstanden (Ehlich 1980: 138). Dagegen hat Rehbein (1984) die Unterschiede der drei Formen der Sprechakte (Beschreiben, Berichten und Erzählen) herausgestellt. Alle drei Formen beziehen sich laut Rehbein auf Sachverhaltsrekonstruktion in der Wirklichkeit. Beim Beschreiben liegt die Aufgabe des Sprechers darin, Informationen über die Räumlichkeit (Oberfläche, Äußeres) des Sachverhalts zu vermitteln. Beim Berichten steht das Übermitteln des Vorgangs im Vordergrund. Während beim Beschreiben das Wahrnehmungsfeld berührt wird, werden beim Berichten alle Dimensionen des Handlungsraums involviert. Der Zuhörer muss dementsprechend den vermittelten Sachverhalt bewerten und im Anschluss handeln. Beim Erzählen rekonstruiert der Sprecher den „Geschehensablauf mit überraschender Wende“. Er verarbeitet seine Erfahrung und entwirft eine Gegenwelt, in die der Zuhörer auch einbezogen wird. Beim Zuhörer erzeugt sie je nach der Situation Evaluation, Mitarbeit, Freude, Traurigkeit usw. Die Wiedergabe des Geschehens ist also ein wesentlicher Aspekt des Erzählens, den auch Hausendorf / Quasthoff (1996: 11) in ihrer Aussage zum Erzählen berücksichtigen, indem sie den Erzähltext in folgender Weise bestimmen: <?page no="140"?> 140 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem Eine konversationelle Erzählung ist eine Diskurseinheit, die sich inhaltlich auf ein singuläres, für die Beteiligten und / oder den Zuhörer ungewöhnliches Erlebnis in der Vergangenheit bezieht, an dem der Sprecher mindestens als Beobachter beteiligt war, und die formal die Charakteristika eines der narrativen Diskursmuster aufweist. (Hausendorf / Quasthoff 1996: 11) Eine konversationelle Erzählung referiert also zeitlich zurückliegende Ereignisse. Bei dem Tempusgebrauch geht es meist um die Vergangenheit, bis auf das szenische Präsens 1 . Eine Ausnahme stellt jedoch die fiktive Erzählung (oder Phantasienerzählung) dar, wobei es sich nicht um das Geschehen handelt. Norrik (2000: 161) führt aus, dass fiktive Erzählungen eine fiktionale Welt konstruiert und ihre Irrealität mit konditionellen Clausen und Verbphrasen mit den Modalverben „would“ und „could“ bezeichnet. Ein weiteres wichtiges Kriterium konversationeller Erzählungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung ist die sogenannte „Erzählwürdigkeit“ (vgl. auch „reportability“ von Lobov / Waletzky 1967 / 1973). Darunter versteht man das, was Ereignisse überhaupt erzählenswert macht. Rehbein (1984) weist bereits darauf hin, dass es beim Erzählen um einen „Geschehensablauf mit überraschender Wende“ geht. Ähnlich hat sich Quasthoff geäußert, dass das erzählte Erlebnis Bedingungen von Ungewöhnlichkeit erfüllt. Unter Ungewöhnlichkeit wird die Abweichung von den Erwartungen der Figuren in der Geschichte oder der allgemeinen Normen verstanden. Eine Geschichte ist erzählwürdig, weil sie eine Pointe (auch „Planbruch“ von Quasthoff 1980), die die Erwartungen der Beteiligten oder die allgemeinen Normen bricht, enthält. Anhand der obengenannten Kriterien, die zuerst als Ausgangspunkte gelten müssen, soll ein Blick auf die Ergebnisse der Erzählforschung geworfen werden. Auf Basis der Forschungsergebnisse über den Erwerb der Erzählfähigkeit in Kapitel 4.2 wird dann ein Modell für die Analyse der Daten in der vorliegenden Arbeit entwickelt und beschrieben. 4.1.1 Die Struktur konversationeller Erzählungen Während sich andere Ansätze in der linguistischen Erzählforschung meist mit den Äußerungen des Erzählers auseinandersetzen, beschäftigen sich konversationsanalytische Sprachwissenschaftler mit dem Erzählverfahren in interaktiven Situationen. Das heißt, der Erzähltext wird aus der konversationsanalytischen 1 Das szenische Präsens ist der Präsensgebrauch in Erzählungen, die sich definitionsgemäß auf Vergangenes beziehen, aber nicht zeitreferentiell, sondern textstrukturierend eingesetzt wird. (siehe Quasthoff 1980: 224) <?page no="141"?> 4.1 Zum Begriff Erzählen 141 Sicht nicht nur als eine abgeschlossene Einheit behandelt, sondern als eine Diskurseinheit, die von Erzähler und Zuhörer(n) interaktiv produziert wird. Zur Struktur konversationeller Erzählung hat Quasthoff (1980) den Begriff „Relationsstruktur“, welchen sie von der „Informationsstruktur“ unterscheidet, geprägt. Um eine Geschichte zu erzählen und für die Zuhörer nachvollziehbar zu gestalten, muss sie in gewisser Weise strukturiert werden. Die zu erzählenden Ereignisse müssen sich nicht einfach zeitlich hintereinander reihen, sondern in einer Relation zueinander stehen. Wie Quasthoff (1980) ausführt: Die Struktur drückt die inhaltliche Beziehung zwischen Informationen und damit ihre Funktion aus. Sie erfasst die Verhältnisse der Relationen zueinander, expliziert also näherungsweise die hierarchische Form, in der Informationen im menschlichen Gehirn gespeichert sind und nach der sie abgerufen werden. (Quasthoff 1980: 104) Norrick (2000) betont, dass die Produktion narrativen Textes „reconstruction“ statt „recall“ ist. In seiner Studie zur Struktur von Storytelling im Alltag hat er den Sachverhalt wie folgt beschrieben: I tend to see tellers caught up in a dynamic context and in their own performance, teller who tailor a basic story to fit the current thematic needs of the interaction. In telling our personal stories, we create and recreate our past in light of our present needs and concerns, instead of simply recapitulating stored experience. (Norrick 2000: 69) Die Darstellung in diesem Kapitel wird sich um eine gründliche Explikation der Struktur der konversationellen Erzählung bemühen. Die verschiedenen Konzepte in der sprachwissenschaftlichen Erzählforschung unterscheiden sich im Wesentlichen darin, ob der Gegenstand als eine statische Entität oder als ein interaktiver Prozess betrachtet wird. In dem Fall, wo der Erzähltext als ein fertiges Produkt behandelt wird, geht es hauptsächlich um die Strukturanalyse der Erzählung. Unter prozessorientierter Konzeption versteht man das interaktive Verfahren, das Erzählen und Zuhören gemeinsam rekonstruiert. 4.1.1.1 Produktorientierte Erzählanalyse In der neueren linguistischen Literatur zu narrativen Strukturen nimmt die Arbeit von Labov / Waletzky einen wichtigen Platz ein und übt bis heute einen Einfluss auf die Erzählforschung aus. Labov / Waletzky sind „die ersten, die die Erzählungen im Kontext der Konversation betrachteten“ (Becker 2011: 24). Nach Labov / Waletzky (1967 / 1973) wird die Erzählung makrostrukturell in fünf Teile geteilt: - Orientierung - Komplikation <?page no="142"?> 142 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem - Evaluation - Auflösung - Koda. Mit Orientierung kündigt der potenzielle Erzähler die zu erwartende Bedeutung der Erzählung für seinen Gesprächspartner an. Relevante Elemente, wie z. B. Ort, Zeit, Person und Handlungssituation, werden genannt. Durch die Orientierung wird ein Vorstellungsraum etabliert, in den sich der Erzähler und der Zuhörer gemeinsam hineinversetzen können. Die darauf folgende Komplikation stellt den Hauptteil einer Erzählung dar. Die Spannung bzw. der zugrundeliegende Konflikt der Geschichte wird durch verschiedene verbale und nonverbale Mittel (z. B. Mimik, Prosodie usw.) gestaltet. Unter Evaluation wird der Ausdruck der Bewertung des Erzählers verstanden. Eine Erzählung ohne Evaluation hat kein Ziel. Die Evaluation bringt durch die Wortwahl oder die Art des Erzählens (z. B. Imitation von Gesprochenem in direkter Rede) Wertungen zum Ausdruck. Dadurch wird die „Erzählwürdigkeit“ etabiliert. Bei Auflösung geht es um das Resultat der Geschichte. Die Komplikation wird regelmäßig durch ein Resultat abgeschlossen. Die Koda ist ein funktionales Instrument, mit dem der Erzähler die Sprecherperspektive wieder auf den Gegenwartszeitpunkt zurückholt. Dieses Erzählmodell haben Labov / Waletzky (1967 / 1973) anhand von Daten, die sie durch Interviews mit den Erzählern erhoben haben, entwickelt. Obwohl sie die Erzählungen im Kontext der Konversation betrachteten, haben sie die Interaktion zwischen dem Erzähler und dem Zuhörer im Erzählverfahren, die zu der Produktion der Erzähltexte beiträgt, nicht berücksichtigt. 4.1.1.2 Prozessorientierte Erzählanalyse Prozessorientierte Erzählkonzeption wird wesentlich durch die Erzählforschung mit der ethnomethodologischen konversationsanalytischen Methode in Gang gesetzt. Konversationsanalytiker zeigen in verschiedenen Studien, dass sich Erzählen nicht als isolierter Monolog, sondern immer im Diskurs konstituiert. Als ein wichtiger Vertreter der klassischen Erzählanalytiker prägt Sacks (1971) diese Art der Konstitution des Erzählens mit seiner Untersuchung der alltäglichen Erzählungen in interaktionstheoretischer Forschung. Nach Sacks (1971) ist das in Unterhaltungen eingebettete Erzählen im Gegensatz zum Geschichtenerzählen allgemein ein spezifisch interaktionistischer Prozess, der die Teilnahme anderer Gesprächspartner einschließt. In diesem sequenzartigen Vorgang spielt die Organisation des Sprecherwechsels eine bedeutende Rolle. Anders als normale alltägliche Gespräche, in denen die Turns hin und her wechseln, zeichnen sich die konversationellen Erzählungen durch „große Pakete“ aus. Das heißt, die Erzähler bringen ihren langen Redebeitrag in die laufende Interaktion ein, <?page no="143"?> 4.1 Zum Begriff Erzählen 143 indem sie mittels bestimmter Techniken ihre Geschichte ankündigen. Die Zuhörer müssen dann erkennen, dass die Erzähler damit den normalen Hin-und- Her-Wechsel des Turns schwächen wollen, um ein großes konversationelles Projekt durchzuführen. Zum Sprecherwechsel bei Erzählungen in Interaktion untersucht Sacks (1971) besonders die Erzähleinleitungen, die anzeigen, dass längere Äußerungen folgen und die Aufmerksamkeit der Zuhörer wecken sollen. Später nimmt er einzelne Aspekte dieses Themas immer wieder auf, z. B. die Verwendungsregeln und Hörerstrategien zur referentiellen Identifikation in Erzählungen (Sacks 1972). Die Tatsache, dass zum Erzählen mindestens zwei gehören, wird in der interaktiv orientierten Erzählforschung immer mehr beachtet. Hausendorf / Quasthoffs (1996) Studie ist eine der wichtigen Beiträge zur Erzählforschung mit prozessorientierter Herangehensweise. Sie beziehen die interaktive Konstituiertheit sprachlicher Äußerungen in ihre Erzählforschung ein. In ihre Analyse alltäglicher Erzählungen bringen sie bewusst die Rolle des Zuhörers mit ein. Auf der Basis des Erzählmodells von Labov / Waletzky entwickeln sie auf der Grundlage reichhaltigen empirischen Materials ein neues Modell, wobei die Interaktion im Prozess des Erzählens berücksichtigt wird. Nach Hausendorf / Quasthoff (1996) gibt es fünf erzählrelevante strukturelle Aufgaben für das Interaktionsteam: Darstellung von Inhalts- und / oder Formrelevanz, Thematisieren, Elaborieren / Dramatisieren, Abschließen und Überleiten. Jede Aufgabe wird als ein Job bezeichnet. In diesem Modell gibt es insgesamt fünf Jobs, die durch unterschiedliche Formen und Mittel zu erledigen sind. Die drei Beschreibungsebenen des Modells (konversationelle Aufgaben / Jobs, Mittel, Formen) stehen in einem hierarchisch-funktionalen Verhältnis zueinander. Graphisch lässt sich das Modell von Hausendorf / Quasthoff folgendermaßen darstellen: <?page no="144"?> 144 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem <?page no="145"?> 4.2 Die Stellung der Erzählfähigkeit im Spracherwerb 145 In der Darstellung von Inhalts-/ Formrelevanz geht es um die Bezugnahme auf ein lokales, temporales und personales Umfeld. Die zweite Ebene „Thematisieren“ bedeutet Abstract, eine Vorfallbezeichnung. Dem schließt sich die dritte Ebene des „Elaborierens“ an. Dabei handelt es sich um Relationsstruktur und Hintergrundwissen in Bezug auf die Erzählinhalte. Unter „Dramatisieren“ versteht man die szenische Wiedergabe der Geschichte. Ein Höhepunkt wird hier durch verschiedene Mittel gestaltet. Danach wird das Erzählen abgeschlossen und es wird zu einem neuen Thema übergeleitet. Das Modell verbindet Beschreibung der narrativen Struktur der konversationellen Erzählungen mit der Beschreibung interaktiver Verfahren der Gesprächsgestaltung. Es soll ermöglichen, einerseits die interaktiven Leistungen und Aufgaben insgesamt zu beschreiben, andererseits aber auch einzelne Handlungszüge jeweiliger Interaktanten verlässlich isolieren zu können, ohne damit die interaktive Konstituiertheit der einzelnen Züge aufgeben zu müssen. (Hausendorf / Quasthoff 1989: 94) Es bietet einen Einblick darin, wie kompetente Erwachsene in Erwachsene- Kind-Gesprächen sich an das sprachliche Niveau der Kinder anpassen, damit das Gespräch gelingt. Die Rolle der Zuhörer wird in das interaktive Verfahren einbezogen. Dies veranschaulicht die gemeinsame Hervorbringung konversationeller Erzählungen. Entscheidend für die interaktiven Ansätze der sprachwissenschaftlichen Erzählforschung ist die grundlegende Konzeption der Konversationsanalyse, mit der die Prozesshaftigkeit bzw. Sequenzialität, der Sprecherwechsel, der wechselseitige Zuschnitt und die Ko-Konstruktion zwischen Erzählen und Zuhören dargestellt werden. 4.2 Die Stellung der Erzählfähigkeit im Spracherwerb Im Bereich der Spracherwerbstheorie liegen die Forschungstraditionen eher beim Erwerb sprachlicher Formen. Das Forschungsinteresse richtet sich unter anderem auf das Lernen grammatikalischer Fähigkeiten, die Erweiterung des Wortschatzes oder auch auf den Erwerb der Sätze. Sprachwissenschaftliche Forschungen zum Erwerb der Erzählfähigkeit begannen Ende der siebziger Jahre. Man fing an, sprachliche Strukturen auf einer höheren Ebene als der Syntax- und Semantikebenen zu untersuchen. Die Sprachwissenschaftler richten ihren Blick auf den Erwerb des Wissens über kommunikative Praktiken als Handlungsmuster. Sprachenlernen beschränkt sich nicht mehr nur auf das Lernen der Grammatik, sondern weitet sich auf <?page no="146"?> 146 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem den Erwerb der kommunikativen Regularitäten und Konventionen aus. Die Entwicklung der sprachlichen Kommunikationskompetenz erlangt breiteres Interesse der Wissenschaftler. Heute stellen die Forschungen, die sich mit Gesprächsstrukturen auseinandersetzen, einen wichtigen Bestandteil der Spracherwerbsforschung dar. In den letzten vergangenen Jahren wurden viele Forschungsergebnisse veröffentlicht. Als grundlegende Studien zum Erzählerwerb sind im deutschsprachigen Raum vor allem Meng / Kraft / Nitsche (1991), Boueke et al. (1995), Hausendorf / Quasthoff (1996), Becker (2011) zu nennen. Diese Studien stützen sich auf linguistische Arbeiten zur Struktur von Erzählungen. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Erzählerwerbforschung dargestellt. Die oben angeführten Erzählmodelle fließen auch in die folgend aufgezählten Studien zur Entwicklung der Erzählfähigkeit ein. 4.2.1 Erwerb der Erzählfähigkeit in der Muttersprache Meng / Kraft / Nitsche (1991) beschäftigen sich mit der Erzählkompetenz der Vorschulkinder bzw. ihrer Sprachentwicklung. Ihre Studie ist eine der ersten sprachwissenschaftlichen Untersuchugen über die Beziehung zwischen der kindlichen Erzählfähigkeit und Sprachentwicklung. Konkret haben sie drei Jahre (März 1980 bis Juni 1983) drei- und sechsjährige Kinder in einem Berliner Kindergarten beobachtet und Daten erhoben. Ihre Daten bestehen aus über 36-stündigen aufgezeichneten Gesprächen in vier repräsentativen ungesteuerten Kindergartensituationen (Mahlzeiten, Körperpflege, Spiel und Arbeit), wo häufig spotane Kommunikationen zu beobachten sind. Mit transkribierten Daten analysieren sie die konversationellen Erzählungen im Hinblick auf die Erzählkompetenz der Kinder. Bezogen auf die Erzählstruktur wird ihre Untersuchung in drei Teile geteilt, nämlich Einleitungsphase, Durchführungsphase und Abschlußphase. Ihre Untersuchungsergebisse zeigen, dass Kinder am Anfang bzw. Ende des Vorschulalters unter der Bedingung normaler Interaktion über kommunikative Fähigkeiten in allen Phasen der Erzählung verfügen. Unter besonders günstigen sozialen Bedingungen, z. B. Unterstützung oder Steuerung eines kompetenten erwachsenen Gesprächspartners, kann die Erzählkompetenz der Vorschulkinder noch ein höheres Niveau erreichen. Die umfangreiche Untersuchung von Boueke et al. (1995) bezieht sich auf fünf-, sieben- und neunjährige Kinder. Sie sollten zu verschiedenen Bildergeschichten eine Geschichte erzählen. Die auf diese Weise elizitierten mündlichmonologischen Erzählungen der Kinder wurden dann von den Forschern einem der folgenden Strukturtypen zugeordnet: <?page no="147"?> 4.2 Die Stellung der Erzählfähigkeit im Spracherwerb 147 - isoliert: die für die Darstellung relevanten Ereignisse stehen unverbunden nebeneinander. - linear: die Verknüpfung zwischen den Ereignissen ist erkennbar. - strukturiert: die Ereignisse sind untereinander verknüpft und voneinander abgehoben, Etablierung einer Pointe ist erkennbar. - narrativ strukturiert: die Ereignisfolgen werden affektiv markiert. Der Befund zeigt erwartungsgemäß, dass die fünfjährigen Kinder meistens isolierte Strukturtypen produzieren. Jedoch sind bei ihnen auch lineare Strukturen oft zu beobachten. Während bei den siebenjährigen Kindern die linearen und strukturierten Typen einen deutlich gewichtigeren Anteil ausmachen, bringen die neunjährigen vor allem narrative Strukturen hervor. Das von Boueke et al. (1995) entwickelte Modell für Erzählanalyse unterscheidet sich allerdings nicht grundlegend von anderen Ansätzen. Vielmehr werden hier die bestehenden Kategorien und Kriterien integriert und erweitert. Das Ziel des neu herausgearbeiteten Konzepts liegt schließlich darin, möglichst alle relevanten Aspekte der Erzählung (wie emotionale Qualifizierung) zu erfassen. Hausendorf / Quasthoff (1996) untersuchen den Erzählerwerb der Kinder im kontexuellen Zusammenhang. Die empirische Analyse basiert auf insgesamt 240 Gesprächstrankriptionen von Interaktionen zwischen Erwachsenen und Kindern (Altersgruppen: fünf, sieben, zehn und vierzehn). Konkret führen sie die Untersuchung an Gesprächen zwischen jeweils einem Kind und einem Erwachsenen durch, in denen das Kind dem Erwachsenen eine bestimmte Erlebnisgeschichte erzählt. Die fast 80 an der Untersuchung beteiligten Kinder erzählen dieselbe Geschichte an drei aufeinanderfolgenden Tagen den wechselnden Zuhörern, die alle die Geschichte des Kindes nicht miterlebt haben. Bezogen auf die Entwicklung der Erzählstruktur lässt sich ihr Untersuchungsbefund in folgende Punkte zusammenfassen. Anfangs finden sich bei der Darstellung von Inhaltsrelevanz, die die Erzählung einleitet, keine Alterseffekte. Nach Hausendorf / Quasthoff (1996: 201) liegt der Grund darin, dass die Kinder in ihren Daten bei der Abwicklung dieses Erzählanfangs noch keine strukturellen Aktivitäten beizutragen haben. Im Bereich des Elaborierens und des Dramatisierens sind deutliche Alterseffekte zu beobachten. Während die fünf- und siebenjährigen noch nicht über die konstitutive Funktion der Etablierung der Erzählwürdigkeit verfügen, markieren die zehnjähringen dagegen den Planbruch der Geschichte schon deutlich global-semantisch deutlich. Die vierzehnjährigen bringen mit strukturellen Markierungen explizit zum Ausdruck, warum die Geschichte berichtenswert ist. Außerdem zeigt sich diese Altersgruppe einen deutlichen Unterschied im Vergleich zu anderen Altersgruppen, indem sie das szenische Erzählen im Rahmen <?page no="148"?> 148 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem des Dramatisierens mit verschiedenen Mitteln (wie historisches Präsens, Konnektore, direkte Rede) gestalten kann. Beim Abschließen der Erzählung differenzieren sich die zehn- und vierzehnjähringen deutlich gegenüber den fünf- und siebenjährigen. Während die fünf- und siebenjährigen das Gesamtergebnis der Geschichte nicht im Allgemeinen formal ausdrücken können, verwenden die zehn- und vierzehnjährigen schon Standardausdrücke, die die Auflösung der Komplikation leisten. Auffallend ist, dass die vierzehnjährigen neben den Standardausdrücken verschiedene Varianten des return home device verwenden. Eine Besonderheit dieser Erzählforschung aus interaktiver Perspektive liegt darin, dass die Zuhöreraktivitäten in die empirische Untersuchung miteinbezogen werden. Neben der Untersuchung der Erzählfähigkeit der Kinder führen Hausendorf / Quasthoff (1996) eine Analyse der Zuhörerbeiträge in konversationellen Erzählungen durch. Die Beschreibung dieser Untersuchungsergebnisse wird mit dem Konzept „Scaffolding“ dargestellt. Dieses Konzept wird im nächsten Kapitel der vorliegenden Arbeit genauer erörtert. Während die meisten Studien in der Erzählforschung sich auf eine Textsorte konzentrieren, stellt Beckers (2011) Untersuchung mit differenzierten Erzählformen die erste erzähltheoretische Arbeit im deutschsprachigen Raum dar, die den Vergleich unterschiedlicher narrativer Texttypen in den Mittelpunkt stellt. Beckers umfangreiche Studie umfasst über 200 mündliche Erzählungen von fünf-, sieben- und neunjährigen Kindern. Die Studie zeigt, wie Kinder lernen, ihre Erzählungen zu struktuieren und die sprachlichen Anforderungen der Erzählungen im Entwicklungsverlauf immer mehr zu erfüllen. In ihrer Untersuchung differenziert sie vier Erzählformen, nämlich Erlebnis-, Phantasie-, Bilder-, und Nacherzählung. Sie vergleicht die vier Erzählformen in ihren Daten hinsichtlich ihrer affektiven Mittel, narrativen Struktur, interaktiven Konstituierung, Kohäsion, Einführungsformen und rhythmischen Elemente. Nach ihrer Studie können fünfjährige Kinder schon kohärente und strukturierte Erlebniserzählungen produzieren. Dagegen sind die Bildergeschichten zuerst am wenigsten strukturiert. Die Erlebniserzählungen haben jedoch häufig keine Pointe bzw. Auflösung. Diese werden nur auf Nachfrage der Zuhörerin geliefert. Bei den Phantasieerzählungen von Kindern kommt eine Auflösung dagegen viel früher vor. Wie Hausendorf / Quasthoff (1996) berücksichtigt Becker in ihrer Forschung auch die Zuhöreraktivitäten. Der Rolle der erwachsenen Zuhörer widmet sie ein Kapitel ihrer Dissertation. Die Untersuchungsergebnisse sowie deren Vergleich mit dem Befund von Hausendorf / Quasthoff (1996) werde ich im Kapitel über Scaffolding darstellen. <?page no="149"?> 4.2 Die Stellung der Erzählfähigkeit im Spracherwerb 149 4.2.2 Erwerb der Erzählfähigkeit in der Fremdsprache Ein wesentlicher Teil des Forschungsinteresses im Bereich des Erwerbs der Erzählfähigkeit richtet sich bis heute eher auf den Erzählerwerb der Muttersprache. Alle gundlegenden Studien zum Erzählerwerb, die oben vorgestellt worden sind, beziehen sich auf den Erwerb der Muttersprache. Was den Erwerb der Erzählfähigkeit der Fremdsprache angeht, sind im deutschsprachigen Raum nur einige Ansätze von Finemann, Bierbach, Quasthoff und Apfelbaum zu nennen. Im Folgenden wird der Forschungsstand über den Erzählerwerb der Fremdsprache anhand ihrer Untersuchungen dargestellt. Finemann (1987) analysiert Unterschiede zwischen muttersprachlichem und fremdsprachlichem Erzählen derselben realen Geschichte. Ihre Daten sind im Interview elizitiert worden. Die eine Geschichte erzählt die französische Probandin einem französischen Gesprächspartner in der Muttersprache Französisch. Die andere erzählt sie einer deutschen Interviewerin in ihrer Zweitsprache Deutsch. Mit transkribierten Daten analysiert Finemann die beiden Gespräche derselben Geschichte im Hinblick auf den Aufbau der Erzählungen. Nach ihrem Befund werden die rekonstruierten Ereignisse in der fremdsprachlichen Erzählung in eine „zeitlich lineare Folge“ (Finemann 1987: 168) zerlegt, während sich die muttersprachliche Version durch einen „hohen Grad von Diskursorganisation“ (Finemann 1987: 168) auszeichnet. Folglich argumentiert Finemann: Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass offenbar in der Zweitsprache Probleme bestehen, den Erzählraum über eine längere Zeit aufrechtzuerhalten, da die Konzentration bereits stark durch die Planung und Realisierung von propositionalen Gehalten und der entsprechenden sprachlichen Gestaltung in Anspruch genommen wird. In der Zweitsprache scheint ein großer Teil der Aufmerksamkeit bereits auf dem Prozessieren der zweitsprachlichen Handlung selbst zu liegen. So wird die Konzentration nur auf bestimmte einheitliche, aber isolierte Teilstücke gelegt. Das Planungspotentiell für die gesamte Erzählung ist nicht so hoch wie in der Muttersprache. (Finemann 1987: 168) Darüber hinaus weist sie darauf hin, dass das Interviewerverhalten einen Einfluss auf die Erzählungen der Probanden ausübt. Aber eine systematische Berüchsichtigung dieses Faktors fehlt in ihrer Studie. Die Auswirkung des Interviewerverhaltens auf die Organisation der Erzählungen thematisiert Bierbach (1985) in ihrer Untersuchung der Erzählungen italienischer Kinder. Ihre Daten bestehen aus Gesprächen mit teilweise interviewartigem Charakter zwischen vier italienischen Kindern und einem italienischen Erwachsenen. Mit den Beispielen in ihrem Korpus zeigt sie, wie Strukturen der Interaktion auf die grammatische und semantische Organisation von Erzähltexten einwirken. Ausgehend von der Grundlage, dass sprachwissenschaftliche <?page no="150"?> 150 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem Analysen mündlichen Erzählens überwiegend auf elizitierten Erzählungen basieren, ohne diese Tatsache selbst in die Analyse einzubeziehen, weist Bierbach anhand ihrer Untersuchungsergebnisse auf die Abhängigkeit der Erzählstrukturen italienischer Kinder von der Elizitierung des Interviewers hin. Dazu äußert sie wie folgt: Schließlich entlasten Elizitationen Erzähler von der Verpflichtung, die Relevanz des Erzählten zum Beispiel durch evaluative Elemente und / oder in der Konstruktion einer Pointe zu demonstrieren; sie können dies tun, müssen es aber nicht (vgl. Polanyi 1982), denn die durch die Elizitation gestellte Aufgabe kann mit der Darstellung eines Hergangs (Ereignisfolge) als erfüllt betrachtet werden. (Bierbach 1985: 165) Quasthoff-Hartmann (1987) führt eine Untersuchung von Zuhöreraktivitäten in konversationeller Erzählung durch. Als Beispiele verwendet sie zwei Erzählungen eines griechischen Studierenden, der mit einem deutschen Professor auf Deutsch spricht. Ausgehend davon, dass sich konversationelle Erzählungen als „gemeinsame Hervorbringungen der am Gespräch Beteiligten“ (Quasthoff- Hartmann 1987: 104) betrachten lassen, analysiert sie die Zuhöreraktivitäten im Verlauf der nichtmuttersprachlichen Erzählungen. Daraus zieht sie die Schlussfolgerung, dass der muttersprachliche Zuhörer dabei besondere Aufgaben bezüglich der Verständnissicherung und der globalstrukturellen Durchführung der Erzählungen hat. Im Vergleich zu der Erwachsenen-Kind-Interaktion, die sich durch eine sogenannten „Wippenstruktur“ kennzeichnet, ist die Interaktion zwischen mutter- und nichtmuttersprachlichen Gesprächspartnern komplizierter. Ferner kommt neben der „Wippenstruktur“ zwischen unkompetenten und kompetenten Interagierenden ein hierarchischer Faktor hinzu. Nach Quasthoff- Hartmann besteht die Gefahr, dass die eventuelle Degradierung für den Nichtmuttersprachler zu einer Belastung interkultureller Kommunikation führen kann. Daher ist es notwendig, Interaktionsformen zu entwickeln, mit denen der Muttersprachler den Nichtmuttersprachler unterstützen kann, ohne gleichzeitig den Gleichheitsstatus des Gegenübers zu gefährden. Apfelbaum (1993) analysiert ein Korpus deutsch-französischer Tandemsequenzen im Hinblick auf die Charakteristik narrativer und sprachreflexionsbezogener Aktivitäten. Sie bringt damit die Erzählforschung und den Fremdspracherwerb in Verbindung. In erzähltheoretischer Hinsicht kann über ihre Untersuchung rekonstruiert werden, welche erzähltypischen konversationellen Aufgaben erledigt werden und wie die nichtmuttersprachlichen Erzähler mit Hilfe der Muttersprachler die Erzählaufgaben erledigen. Unter der spracherwerbstheoretischen Perspektive steht die systematische Untersuchung von Sprachlernaktivitäten im Mittelpunkt. Die Untersuchung widmet sich der Darstellung der Bearbeitung von Sprachproblemen, Fremdhilfe und Selbsthilfe in <?page no="151"?> 4.3 Modell zur Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 151 Tandem-Gesprächen. Die Lehr- und Lernaktivitäten werden in Bezug auf die Erhöhung der fremdsprachlichen Kompetenz als potenziell lernfördernd interpretiert. 4.3 Modell zur Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem Von den Analysemodellen, die die linguistische Forschung bisher erarbeitet hat, wurden die drei präzisesten von Boueke et al. (1995), Hausendorf / Quasthoff (1996) und Becker (2011) im letzten Kapitel vorgestellt. Nun gilt es zu prüfen, inwieweit diese Modelle für die Analyse konversationeller Erzählung in der vorliegenden Arbeit geeignet sind. Dabei soll sowohl auf die betreffenden Eigenschaften des Modells als auch auf die Eigenschaft der Daten eingegangen werden. Das Vierstufenmodell haben Boueke et al. (1995) auf der Grundlage von mündlich-monologischen Erzählungen der Kinder entwickelt. Somit findet die Interaktion keine Berücksichtigung. Boueke et al. (1995) haben mit diesem Modell hauptsächlich die Erzähltexte als abgegrenzte Einheiten untersucht. In meinen Daten sind jedoch alle Erzählungen in Tandem-Gesprächen eingebettet worden, in denen die Interaktion eine besonders wichtige Rolle spielt. Folglich ist das Vierstufenmodell für die Analyse der Erzählungen in der vorliegenden Arbeit nicht geeignet. Beckers (2011) Modell basiert auf dem Modell von Boueke et al. (1995) und reiht sich auch in die textlinguistische Forschung ein. Die interaktive Konstituierung wird zwar in ihrer Studie mitberücksichtigt, spielt aber keine wesentliche Rolle. Besondere Berücksichtigungen finden dabei verschiedene Formen von Erzählungen, die mit unterschiedlichem Entwicklungsverlauf und sprachlichen Eigenheiten verbunden sind. Hinsichtlich der Differenzierung der Erzählformen (Erlebnis-, Phantasie-, Bilder-, und Nacherzählung) ist Beckers Modell genreübergreifend. In meinen Daten kommen nur Erlebniserzählungen, die entweder die Erzähler selbst erlebt oder gehört haben, vor. Daher ist ein genreübergreifendes Modell für die Analyse meiner Daten nicht notwendig. In Bezug auf die Interaktion im Tandem, die eine der wichtigsten Eigenschaften der Tandem-Gespräche darstellt, braucht man ein Modell, das das interaktive Verfahren der Gesprächsführung in die Beschreibung der Struktur der Erzählungen integriert. Mit anderen Worten, für die Analyse der Daten in meiner Untersuchung ist ein Modell, das die Beschreibung der Erzählstruktur mit der Beschreibung der Interaktion verbindet, geeignet. <?page no="152"?> 152 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem Hausendorf / Quasthoff (1996) haben auf der Grundlage von reichhaltigen Erlebniserzählungen ihr Modell (vgl. ausführlich Hausendorf / Quasthoff 2005, Quasthoff 2001) entwickelt. Ihre Untersuchung ist zwischen Spracherwerbsforschung und Interaktionsforschung angesiedelt und richtet sich auf die gemeinsame Hervorbringung von Diskurseinheiten. Dadurch werden die unterstützenden Handlungen der Erwachsenen, die einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der narrativen Kompetenz der Kinder leisten, als ein Bestandteil des Erzählerwerbverfahrens in das Modell integriert. Angesichts dieser Eigenschaften wird das Modell von Hausendorf / Quasthoff (1996) aus folgenden Gründen für die Analyse der Makrostruktur und Interaktion der konversationellen Erzählungen in meinen Daten übernommen: • Das Modell Hausendorf / Quasthoff (1996) wurde anhand von Erlebniserzählungen entwickelt. In meinen Daten gibt es ausschließlich Erlebniserzählungen. • Das Modell basiert auf Gesprächen zwischen Erwachsenen und Kindern. Der eine ist ein sprachlich kompetenter Sprecher, der andere hat ein niederiges Kompetenzniveau. Das gilt auch für Tandem-Gespräche, in denen der eine Muttersprachler und der andere Nichtmuttersprachler ist. • Das Modell verbindet die Beschreibung der Erzählstruktur mit der Beschreibung der Interaktion in Gesprächsgestaltungen. Das kann einerseits zur Veranschaulichung des Sprachstandes des Erzählers dienen, andererseits einen Einblick in die Spracherwerbmechanismen im Tandem ermöglichen. Damit kann das Ziel der Untersuchung erreicht werden. Will man mit dem von Hausendorf / Quasthoff für kindliche Erzählkompetenz entwickelten Modell die Produktion von nichtmuttersprachlichen Erzählungen im Tandem erfassen, ist ferner zu erwähnen, dass die Beschränkungen des Modells nicht zu übersehen sind. Erstens geht es um den Erzählerwerb der Kinder. Die Kinder verfügen kognitiv über keine vollständigen Erzählmuster. Ein wichtiger Weg für sie, Hinweise über die Struktur der Erzählungen aufzunehmen, liegt in der Interaktion mit dem erwachsenen Hörer. Im Gespräch signalisiert der Erwachsene dem Kind durch bestimmte Mittel wie z. B. Nachfrage, Reparatur, Reformulierung usw., welche Erwartungen er an die Erzählung des Kindes hat. Durch die Realisierung der Erzählung leitet das Kind die Regularien der Erzählung ab. Auf diese Weise wird die Erzählkompetenz des Kindes entwickelt. Erzählmuster für verschiedene Erzählformen werden kognitiv etabliert. Bei erwachsenen Fremdsprachlernern sind allerdings andere Prämissen gegeben. Sie verfügen schon über vollständige Erzählmuster, die sie beim Erwerb ihrer Muttersprache erworben haben. Im Gespräch mit einem Muttersprachler werden die vorhandenen Erzählmuster teilweise aktiviert, während die Kinder <?page no="153"?> 4.3 Modell zur Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 153 die Erzählmuster von Grund auf lernen. In dieser Hinsicht ist der kognitive Prozess beim Erzählen der Kinder anders als beim Erzählen der Fremsprachlerner. Dies liegt aber auf der Kognitionsebene, auf die in der vorliegenden Arbeit nicht weiter eingegangen wird. Zweitens ist zu erkennen, dass es in der konversationellen Erzählung im Tandem noch ein interkulturelles Problem geben kann. Inwieweit das interkulturelle Problem bei den konversationellen Erzählungen eine Rolle spielt, hat Quasthoff (1980) wie folgt beschrieben: Die durch neurophysiologische Bedingungen gegebene Verallgemeinerung und Reduktion von Informationen im Verarbeitungsprozess und die daraus resultierende hierarchische Struktur der Relationsstruktur und der Informationsstruktur sind sicherlich als universal anzusehen. (Quasthoff 1980: 120) Quasthoff hat deutlich darauf hingewiesen, dass die „hierarchische Struktur der Relationsstruktur und der Informationsstruktur“, der die Erzählstruktur zugrunde liegt, „sicherlich … universal“ (s. o.) ist. Obwohl es nicht auszuschließen ist, dass „die Art, in der sich die „Ungewöhnlichkeit“ einer Geschichte in der Erzählung realisiert, mit den Erfahrungen, Normen und Werten verschiedener Kulturen variiert“ (Quasthoff 1980: 120), gilt die Makrostruktur konversationeller Erzählungen als universal. Das Ziel meiner Untersuchung liegt in der Makrostruktur der Erzählung und der Interaktion in Tandemgesprächen und bezieht sich nicht auf kognitive Ebenen. Daher üben die oben genannten Beschränkungen des Modells keinen Einfluss auf meine Analyse aus. Demzufolge ist das Modell nach dem Untersuchungsziel für diese Forschung geeignet. Hausendorf / Quasthoff (1996) beschreiben fünf strukturelle Ebenen von Erzählsequenzen in Gesprächen: - Darstellung von Inhalts- und / oder Formrelevanz - Thematisieren - Elaborieren / Dramatisieren - Abschließen - Überleiten. Hier wird „Evaluation“ aus der strengen sequentiellen Abfolge herausgenommen. Auch Labov (1972: 369) beschreibt später die Evaluation als eine über die ganze Erzählung verteilte sekundäre Struktur. „Evaluation“ wird also eher als Funktion bestimmter sprachlicher Mittel gesehen. Allerdings ist zu erwähnen, dass die Probanden in den Tandemdaten der vorliegenden Arbeit Lerner sind. Sie haben unterschiedliche Niveaus in der deutschen Sprache. Wirft man einen Blick auf ihre mündlichen Erzählungen im <?page no="154"?> 154 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem Tandem, wird schnell klar, dass sie häufig sowohl sprachliche Probleme, als auch Probleme beim Ausbau der Erzählstruktur haben. Eine Analyse der Erzählung, die auf diesem detailliert differenzierten Modell basiert, wäre für meine Daten nicht geeignet, weil sich in den Erzählungen der chinesischen Lerner häufig kein Thematisieren oder keine Differenz zwischen Abschließen und Überleiten findet. Aus diesem Grund wird das Modell für die Analyse meiner empirischen Daten hauptsächlich in vier Ebenen unterteilt: - Erzählanfang - Dramatisieren (Redewiedergaben) - Detaillierung - Erzählbeendigung. Dieses Modell gilt als ein vereinfachtes Modell für die Analyse konversationeller Erzählungen. Es ist für meine Daten geeignet und immer noch in das differenzierte Modell von Hausendorf / Quasthoff (1996) eingebettet. 4.4 Analyse konversationeller Erzählungen am Beispiel einer Erzählung unter Deutschen Bevor man die Analyse konversationeller Erzählung durchführt, sollte man den Verlauf einer solchen Erzählung kennen. Im Folgenden werde ich den Analyseprozess anhand einer konversationellen Erzählung unter Deutschen verdeutlichen. Eine Geschichte unter guten Bekannten 2 Thema: Achmed und Irina im wilden Osten (Geli und Dolf aus Berlin bei Helena und Anton in Süddeutschland) (Redewiedergaben fett) 01 02 03 04 05 06 07 08 09 G: nee und wie gesagt, dieser gIftzahn, iRIna, iRIna, <<acc>°weiß ich noch geNAU,°war ihr vOrname,> die hatauch wenn die andern MÄNner wirklich, auch wenn die mÄnner mal geMÜTlich drauf warn, die hat -IMmer gezEckt und gezOfft und strEIt gesucht. wirklich GANZ bÖsartig, und DANN hAt se ma, wir hatten EI(h)nen in der gr(h)Uppe, der nun, warum im wIlden osten der nu ACHmed hieß,[wEEß ik nich, 2 Ich bedanke mich bei Prof. Dr. Helga Kotthoff, dass sie mir die Daten zur Verfügung gestellt hat. <?page no="155"?> 4.4 Analyse konversationeller Erzählungen am Beispiel einer Erzählung unter Deutschen 155 10 A: [hehehehe 11 12 13 14 15 16 17 G: der hieß ACHmed. hehehe und son, echt son jUnge: : : : : r WILder, ne? also bei dEm musstesse ECHT vorsichtig sein, weil der wurde SEHR leicht aggressIv, und auch HIER körperlich, ne? so mit .h bißchen verPRÜgeln, und irIna hatte, wie: : das immer so frEItags so ihre TOUR war, grad die KÜche gewischt, 18 D: die kÖnnt da en BUCH [drüber schreiben (? ? ) 19 20 21 A: [und der Achmed hat des aber, der hat des WIRKlich nich gesehen, und is in die KÜche gegangen, 22 H: h=hm 23 24 25 26 27 28 G: als der boden noch FEUCHT war, und hat sich en KAFfeetopf gekOcht. und die irina hat den wirklich Angemacht in einer FORM, .h, und achmed hat gesAcht, <<gesetzt>jetz ha ik die SCHNAUze vOll,> dIr mach ik TOT, ne? 29 D: [pfhehehehe 30 G: [dIr mach ik TOT. is kein schErz, ne? 31 D: hehe 32 G: dIr mach ik TOT, det hört sich aba nich GUT an. 33 D: neehe. 34 35 G: und ihr MANN, dieses Ungeheuer, ne? statt da nun ma irgendwie vermittelnd EINzugrnIchts. 36 D: [der wär ja FROH jewesen. hahaha 37 38 G: [dem wär, ich glaube dEm wär es am LIEBSten gewesen wenn irIna n bißchen DRESCHe gekriecht [hätte 39 40 D: [ja ja wenn er se TOTjemacht hätte. 41 G: wenn er ihr DOTjemacht hätte, und dann [e: : h 42 D: [ja jA 43 H: [ho g(h)Ott 44 G: [(? die ham sich TOtal rEIngesteigert da? ) 45 H: [wo bin ich denn HIER hingerAten? [he <?page no="156"?> 156 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 46 47 48 49 50 51 G: [Eben. (? ? ) und dann hat achmed gesAcht,<<gepreßt> HASs: e mir verstanden? gleich brIng ik dir UM, ne? > und Achmed wurde ganz WEIß, dem traten richtig son stÜckchen die AUgen ausm hirn und Ich hatte so PUMPS an, [ne? 52 D: [(? ? ) 53 54 55 56 G: italIEnische wildlederpumps vom FEINsten, dIE hab ich schon AUSgezogen, weil ich wUsste, wenn das hier KRACHT, ICH spring ausm fEnster raus, das is mir [vÖllig egal. 57 H: [hahahaha 58 D: die können sich alle da SO: vermUrksen, wie se w(h) Ollen, 59 G: ICH will (? nIch mim blaues oge ? ) nach hause gehen. 60 D: hahahaha[ha 61 H: [hihi 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 G: ja: . das GLAUBT immer keiner. bei den lEUten, die SO aus aus diesen klAssen und schIchten auch stammen, da gehts dann RICHtich zur sache. °und dann hab ich den karl MALmow angegUckt ich sach, sie mÜssen jetzt hier was TUN°, ne? ich eh Ich kann doch (? nich EINgreifen? ) TRAU ich mich auch nIch. <<lauter>der HAUT ihr doch gleich EIne.> [< <gepreßt>is doch JU: T, is doch JU: T, gELi> 72 D: [det isn jAnz schöner BRUMmer, wa? 73 74 75 76 G: <<gepreßt>SOLL ER IHR DOCH MA ENDLICH EENE MITJEBEN DAMIT HIER MA RUHE WIRD IN DEM LADEN.> ik sach, nEE, das KÖNN wa nich. Ich bin hier AUFsichtsperson, 77 D: [der mAlmow hatte da ooch EINfluss auf die, ne? 78 G: malmow hatte EINfluss, son dIcker, ne? 79 D: den kEnn ick ja OCH, [der is sonst 80 81 G: [en bAggerfahrer, ganz HANDfest. 82 D: [wOhl wOhl 83 G: [der versUcht auch, was aus seinem LEben zu machen, <?page no="157"?> 4.4 Analyse konversationeller Erzählungen am Beispiel einer Erzählung unter Deutschen 157 84 D: ja 85 G: und hat irgendwie gesAcht, son dicken BIERbauch, 86 D: ja 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 G: und Is dann AUFgestanden, hat sich so mit dem bAUch zur KÜche geschoben, und hat gesAcht, °Achmed, junge, KOMM. (? rUhe jetzt ? )° und Ich hab dann eben zu iRIna gesagt, (-) wissen se WAS, jetzt is WIRklich rUhe, jetzt ist SCHLUSS, und HÖRN se auf, und provozIErn se ihn nich NOCH mehr, er hat das ja auch tatSÄCHlich nich mit Absicht gemacht, ne? aber dann muss hier auch SCHLUSS sein, Endlich. au mAnn. da kamda hab ich auch immer den ganzenwenn ich frEItag abends nach HAUse kam, ich hab den gAnzen sonntag samstag vormittag KEIN wort geredet. 99 100 D: h=hm. KONNT ich nich. Der vorangehende Ausschnitt repräsentiert ein Gespräch unter guten Bekannten. Alle Beteiligten sind deutsche Muttersprachler. Geli und Dolf aus Berlin sind bei Helena und Anton in Süddeutschland. Mit der Rekonstruktion der Geschichte von Irena und Achmed liefert Geli eine klassische Erzählung. Mit den Mitteln der gewählten konversationsanalytischen Methode lassen sich anhand dieses Beispiels auf der Ebene der Gesprächsanalyse die folgenden Fragestellungen ermitteln: (1) Wie sieht der strukturelle Aufbau von Erzählungen aus? (2) Wie werden Erzählungen produziert bzw. verstanden? Darstellung von Inhalts- und / oder Formrelevanz Zu Beginn der Erzählung werden die Protagonisten und der Ort explizit dargestellt, indem Geli in Zeile 1 „iRIna“, Zeile 09 „im wIlden osten“ und „ACHmed“ ankündigt. Die von Geli zugleich gelieferten kontextuellen Informationen, dass Irina „gIftzahn“ (Zeile 1) ist, „ IM mer gezEckt und gezOfft und str EI t gesucht“ (Zeile 05) hat und „wirklich GANZ bÖsartig“ (Zeile 06) ist und Achmed „echt son jUnge: : : : : r WILder“ (Zeile 12) ist, bei dem man „ECHT vorsichtig sein“ (Zeile 13) muss und „ SEHR leicht aggressIv“ (Zeile 14) wird, leiten nicht nur die Infe- <?page no="158"?> 158 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem renzen der Rezipienten, sondern untermauern auch die Konfrontation zwischen den beiden Protagonisten. Thematisieren In Zeile 16 fängt Geli an, die Geschichte zu rekonstruieren. Sie thematisiert die zentrale Ereignis-Sequenz der Geschichte, indem sie in Zeile 17 ankündigt, dass Irina „grad die Küche gewischt“ hatte. Auffallend ist, dass sich der Rezipient Anton am Thematisieren beteiligt, indem er seine Vermutung „und der Achmed hat des aber, der hat des WIRK lich nich gesehen, und is in die KÜ che gegangen“ (Zeile 19, 20, 21) äußert. Wir sehen, dass sich Anton durch die Darstellung der Konfrontation zwischen den beiden Protagonisten an der Entwicklung der Geschichte erwartungsmäßig orientiert. Antons Schlussfolgerung wird von Helena mit einem Rezipienzsignal „h=hm“ (Zeile 22) ratifiziert. Gelis Fortsetzung der Rede von Anton (Zeile 23, 24) bestätigt, dass Antons Mitbearbeitung der Geschichte ihre Ratifizierung bei dem Erzähler findet. Die Konfrontation zwischen den beiden Protagonisten wird in dieser Phase konkretisiert. Dramatisieren Geli führt die Geschichte in die nächste Ebene über, dem Dramatisieren. Irina greift Achmed an, weil er den feuchten Boden betritt und sich Kaffee kocht. Achmed reagiert darauf mit einer spielerischen Morddrohung. Mittels direkter Redewiedergaben wird das rekonstruierte Ereignis lebendig gestaltet. Ohne die Sprechhandlung der in Zeilen 27 und 28 zitierten Rede explizit zu nennen, signalisiert Geli mit Hilfe bestimmter verbaler und prosodischer Indikatoren, dass es sich hierbei um eine „Mordbedrohung“ handelt. Die direkte Redewiedergabe „<<gesetzt> jetz ha ik die SCHNAU ze vOll,>, dIr mach ik TOT “ (Zeile 27, 28) trägt alle Spuren der mündlichen Sprache von Achmed. Syntaktisch lässt die Erzählerin Achmed zwei Sätze sagen, die kurz, bestimmt und außerordentlich bedrohlich klingen. Durch den Akzent auf dem Adjektiv „tot“ signalisiert die Erzählerin eine starke affektive Aufladung in Richtung „Morddrohung“. Die zitierte Äußerung wird mit gesetzer Stimme reproduziert und verweist damit auf eine affektive Aufladung: Die Stimme wirkt sichtlich empört und bedrohend. Darüber hinaus wird Achmed im Berliner Dialekt zitiert. Die unverschobenen Plosive in »ik« und »det«, die ja neben dem langen [o: ] für nhd. [au] wie in [o: x] und [j] für nhd. [g] charakterisieren das Berlinerische 3 . 3 Ich bedanke mich bei Prof. Dr. Helga Kotthoff, dass sie die Analyse bezüglich des Berlinischen in ihrer Vorlesung „Kommunikative Praktiken und Formen“ im Sommersemester 2013 an der Universität Freiburg zur Verfügung gestellt hat. <?page no="159"?> 4.4 Analyse konversationeller Erzählungen am Beispiel einer Erzählung unter Deutschen 159 Gerade die gesetzte Stimme und der berlinerische Akzent heben die zitierte Äußerung als fremde Rede von ihrer Umgebung deutlich ab. Die direkte Redewiedergabe „dIr mach ik TOT “ wird in den Redebeiträgen der Erzählerin daraufhin wiederholt, nämlich in Zeile 30 und 32, sogar mit einer Evaluation. In Zeile 47 und 48 wird die Bedrohung durch die gepresste Stimme und das Frage-Format („ HAS s: e mir verstanden? gleich brIng ik dir UM , ne? “) verstärkt. Der Charakter von Achmed als ein „jUnge: : : : : r WIL der“ (Zeile 12) wird durch den Gebrauch der zitierten Rede und der daraus resultierenden affektiven Aufladungen animiert, und die erzählte Welt wird den Rezipienten lebendig vor Augen geführt. Der Höhepunkt (nach Quasthoff (1980) „Planbruch“, nach Boueke et al. (1995) „Diskontinuität“ oder „Minimalbedingung einer Ungewöhnlichkeit“) wird erfolgreich gestaltet. Er zeichnet sich häufig durch ein unerwartetes Ereignis oder den abgewandelten Verlauf einer als normal erwarteten Ereignisfolge aus und ist ein zentrales Kriterium für die Erzählung. Er macht das Besondere der Geschichte aus und gestaltet damit die Erzählung erzählwürdig. Abschließen Mit der Lösung des Konflikts geht die Geschichte zu Ende. Mittels der zitierten Äußerung „°Achmed, junge, KOMM . (? rUhe jetzt ? )° und Ich hab dann eben zu i RI na gesagt, (-) wissen se WAS , jetzt is WIR klich rUhe, jetzt ist SCHLUSS , und HÖRN se auf, und provoz IE rn se ihn nich NOCH mehr,“ (Zeile 90, 91, 92, 93) wird die Auflösung der Geschichte rekonstruiert. Hier wird die Äußerung der Erzählerin zitiert. Im Vergleich zu der direkten Redewiedergabe von Achmeds Äußerung wirkt sie durch die Verwendung der Prosodie und der lexiko-semantischen Elemente bestimmend, vermittelnd und erziehend. Auf diese Weise stehen sich nicht nur Morddrohung und Auflösung gegenüber, sondern zugleich verschiedene Charaktere: die bestimmende, erziehende Geli und der bedrohende, provozierende Achmed. Unmittelbar nach der direkten Redewiedergabe wechselt die Erzählerin dann von der rekonstruierten Szene zurück zur momentanen Interaktionssituation und liefert ihre Evaluation „er hat das ja auch tat SÄCH lich nich mit Absicht gemacht, ne? “ (Zeile 94). Mit dem expliziten Ausdruck „aber dann muss hier auch SCHLUSS sein, Endlich.“ (Zeile 95) wird das Ende der Geschichte indiziert. Den Abschluß der erzählten Welt signalisiert die Erzählerin schließlich mit einem evaluativen Wort „wenn ich fr EI tag abends nach HAU se kam, ich hab den gAnzen sonntag samstag vormittag KEIN wort geredet.“ (Zeile 97, 98). Nach Kotthoff (2014: 18) gehören Evaluationen (wie z. B. „das war dumm“ und Resümees wie „das war_s für mich auch erstmal“) oft zu den Zügen der schritt- <?page no="160"?> 160 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem weisen Beendigung einer Erzählung. Das Gespräch kann danach in verschiedene Bahnen gelenkt werden. Evaluation Betrachten wir nun die ganze Sequenz, ist zu beobachten, dass die Evaluation von Geli die ganze Geschichte durchgeht. Zu Beginn geht es um die Charakterisierung der Protagonisten. Während Irina als bösartig (Zeile 6) und „gIftzahn“ (Zeile 1) bezeichnet wird, wird Achmed als ein „jUnge: : : : : r WIL der“ (Zeile 12) und „leicht aggresIv“ (Zeile 14) beschrieben. Ferner bewertet Geli die direkte Redewiedergabe von Achmed, indem sie „is kein schErz, ne? “ (Zeile 30) und „det hört sich aba nich GUT an.“ (Zeile 32) sagt. Gelis Einstellung zu der Morddrohung von Achmed wird dadurch veranschaulicht. In Zeile 37 weist Geli implizit mit dem Redebeitrag „dem wär, ich glaube dEm wär es am LIEBS ten gewesen“ auf die Beziehung zwischen Irina und ihrem Mann hin, nachdem Dolf das Verhalten von Irinas Mann durch seine Evaluation „der wär ja FROH jewesen. hahaha“ (Zeile 36) kommentiert hat. In Anlehnung an Norricks Studien zu „conversational narrative“ (2000) sieht man, dass hierbei die Beziehung zwischen Geli und Dolf durch „Rapport“ (Norrick 2000: 126) erklärt wird. Nach Norrick (2000) demonstrieren die Gesprächspartner „shared knowledge, usually of joint experience“, die ihre „membership in the same group“ (Norrick 2000: 126) ratifizieren. Die Bekanntschaft zwischen Geli und Dolf wird später wieder indiziert, indem Dolf den Redebeitrag „den kEnn ick ja OCH “ (Zeile 75) liefert, wobei es um einen ihrer gemeinsamen Bekannten geht. Zu den Details der Geschichte liefert Geli eine Evaluation „bei den lEUten, die SO aus aus diesen klAssen und schIchten auch stammen, da gehts dann RICHtich zur sache.“ (Zeile 63, 64, 65), wobei soziale Schichtenunterschiede relevant gesetzt werden und Gelis Sicht auf das Geschehen damit übermittelt wird. Geli identifiziert sich in der erzählten Welt als Pädagogin. Am Ende der Geschichte evaluiert Geli das Verhalten von Achmed als „nich mit Absicht“ (Zeile 94). Sie veranschaulicht ihre Einstellung zu diesem Sachverhalt und ihre Position als Pädagogin. Sie versucht, den Konflikt zu lösen und die Protagonisten zu erziehen. Was ihr Gefühl in diesem Ereignis betrifft, sieht man in ihrem evaluativen Ausdruck „wenn ich fr EI tag abends nach HAU se kam, ich hab den gAnzen sonntag samstag vormittag KEIN wort geredet.“ (Zeile 97, 98). Rezipienten werden auch von der erfolgreichen Gestaltung der szenischen Wiedergabe eingeladen: Helenas Reaktion orientiert sich an der vorgegebenen affektiven Ausrichtung, und mit ihrem Ausdruck „ho g(h)Ott“ (Zeile 43) verdeutlicht sie ihre erstaunte Einschätzung des Sachverhalts. Ihr Redebeitrag im <?page no="161"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 161 Frage-Format „wo bin ich denn HIER hingerAten? “ (Zeile 45) zeigt ferner, dass sie in die betreffende Situation versetzt wird. Durch die Analyse dieser Erzählung möchte ich veranschaulichen, wie eine konversationelle Erlebniserzählung aufgebaut, produziert bzw. verstanden wird. Es ist zu beobachten, dass die Geschichte chronologisch strukturiert und Wichtiges von Unwichtigem unterschieden wird. Um mit der Erzählung eine geteilte Interpretation der Wirklichkeit zu erzielen und / oder die Erzählwürdigkeit der Geschichte zu vermitteln, wird die Erzählerin immer ihre Evaluation zum Ausdruck bringen. Die Einladung an die Rezipienten zur Demonstration ihrer Evaluierung gelingt durch die erfolgreich affektive Gestaltung der Geschichte. 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem Die chinesischen Probanden, die in Tandeminteraktionen Erzählungen auf Deutsch produzieren, sind Lerner. Wirft man einen Blick in die Daten, wird klar, dass sie einerseits bestimmte Kompetenzen, andererseits aber bestimmte Defizite beim mündlichen Erzählen zeigen. Dabei beziehen sich ihre Erzählkompetenzen und -defizite nicht nur auf die Sprache, sondern auch auf den Aufbau der anderen Elemente der Erzählstruktur. Die empirische Untersuchung der vorliegenden Arbeit konzentriert sich hauptsächlich auf die Struktur der konversationellen Erzählungen, die im Tandem interaktiv erzeugt werden. Das Ziel meiner Analyse liegt vor allem darin, die mündlichen Erzählkompetenzen und -defizite der chinesischen Lerner in ihrer Interaktion mit den Muttersprachlern darzulegen. Konkret habe ich Beispiele aus meinen transkribierten Daten mit konversationsanalytischer Methode analysiert. Ausgehend von dem Erzählmodell (siehe 4.3), das ich für meine Tandemforschung begründet habe, teile ich meine Untersuchung des Erzählens in vier Ebenen, nämlich (1) Erzählanfänge, (2) Dramatisieren (Redewiedergabe), (3) Detaillierung und (4) Erzählbeendigungen. Im diesem Kapitel werde ich die Untersuchungsergebnisse unter diesen vier Kategorien darstellen. Dabei wird jeweils auf Defizite und Kompetenzen der chinesischen Probanden beim konversationellen Erzählen eingegangen. Aufgrund der Untersuchungsergebnisse werde ich die Beziehung zwischen der Erzählfähigkeit und dem Sprachniveau thematisieren. In meinen Daten ist deutlich zu beobachten, dass die Lerner mit verschiedenen Sprachniveaus unterschiedliche Erzählfähigkeiten zeigen. Zwar lassen sich aus der Analyse von drei Probanden keine weitreichenden, verallgemeinernden Schlußfolgerungen ziehen. Insofern möchte ich mit der Darstellung meiner Beobachtungen eher einen Anstoß für die Weiterarbeit an diesem Aspekt geben. <?page no="162"?> 162 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem Schließlich werden die Zuhöreraktivitäten in die interaktive Erzählforschung miteinbezogen. Wie verhalten sich die muttersprachlichen Tandempartner gegenüber den defizitären Erzählungen der Lerner? Welche Beiträge leisten sie in den konversationellen Erzählungen in Tandeminteraktion? Beides werde ich am Ende dieses Kapitels behandeln. 4.5.1 Erzählanfänge Erzählanfang wird sowohl in der textanalytischen produktorientierten, als auch in der konversationsanalytischen prozessorientierten Erzählforschung thematisiert. Labov / Waletzky (1967) beschäftigen sich z. B. mit dem Erzählanfang als Orientierung , der ersten Ebene der Erzählstruktur. Sacks (1971) bezeichnet den Beginn der Erzählphase als story prefaces oder abstract , während Jefferson (1978) ihn als story entry device benennt. In dem interaktiven Erzählmodell von Hausendorf / Quasthoff (1996) versteht man unter Erzählanfang die Darstellung von Inhalts-/ Formrelevanz sowie das Thematisieren. Funktionell leisten die Geschichteneinleitungen wichtige Beiträge zum Aufbau konversationeller Erzählungen. Eine der Grundfunktionen des Erzählanfangs liegt darin, die Geschichte in das laufende Gespräch einzubetten. Mittels betimmter Verfahren signalisiert der Erzähler, dass er eine längere Einheit rekonstruieren möchte. Wenn der potenzielle Rezipient das Vorhaben des Erzählers erkennt und zulässt, wird dem Erzähler das Rederecht eingeräumt. Mit diesem besonderen Rederecht, das ansonsten im normalen Zug-um-Zug-Dialog nach jedem Redezug zur Disposition des Gegenübers gestellt wird, bringt der Erzähler sein großes konversationelles Projekt zum Ausdruck. In der Diskurseinheit der Erzählung geht das Rederecht auch nach eventuellen Unterbrechungen automatisch an den Erzähler zurück. Eine weitere Funktion des Erzählanfangs bezieht sich auf den Inhalt der Erzählungen. Der Erzähler kündigt damit nicht nur eine Geschichte an, sondern verdeutlicht meist auch die Art der Geschichte, etwa Erlebnisgeschichte, Witze, spannende oder traurige Geschichten. Hinzu kommt in manchen Geschichteneinleitungen, dass der Erzähler darin sowohl seine Einstellung zur Geschichte zum Ausdruck bringt, als auch seine Rolle verdeutlicht, die dem potenziellen Rezipienten einen Orientierungsrahmen bieten. Eine Geschichte könnte unterschiedlich eingeleitet werden. Beispielsweise kann man sie im laufenden Gespräch mit „Da ist mir gestern was Lustiges passiert“ oder „Weißt du, meine Nachbarin wurde letzte Woche überfallen“ beginnen. Nach Quasthoff (1980: 219-223) sind normalerweise folgende Elemente beim Erzählanfang häufig zu sehen: - meta-narrative Äußerungen <?page no="163"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 163 - Aufmacher - Orientierung (etwa Zeit, Person, Ort). Meta-narrative Äußerungen kommen in Form von z. B. „ Mensch, ich habe euch eine Geschichte zu erzählen “ vor. Mit den Stichwörtern „Geschichte erzählen“ kündigt der Erzähler explizit an, dass er einen langen Redebeitrag für eine bestimmte Diskurseinheit, nämlich Geschichtenerzählung, beansprucht. Äußern sich die potenziellen Rezipienten nicht dagegen, wird das laufende Gespräch dadurch umstrukturiert. Der Erzähler organisiert einen Raum für sein konversationelles Projekt und bringt es zum Ausdruck. Die Rezipienten orientieren sich im Rahmen der meta-narrativen Ankündigung an bestimmter Struktur der einzuleitenden Diskurseinheit und beteiligen sich mehr oder weniger an dem Aufbau der Erzählung. Mit „Aufmacher“ bezeichnet man den Erzählanfang, in dem der Kern der Erzählung formuliert wird. In dem Ausgangsbeispiel von Erzählanalyse eines Gesprächs unter Deutschen sehen wir z. B., wie der Erzähler die Konfrontation zwischen den beiden Protagonisten beim Erzählanfang herausarbeitet. Indem er die Informationen liefert, dass Irina „gIftzahn“ (Zeile 1) ist, „ IM mer gezEckt und gezOfft und strEIt gesucht“ (Zeile 5) hat und „wirklich GANZ bÖsartig“ (Zeile 6) ist und Achmed „echt son jUnge: : : : : r WIL der“ (Zeile 12) ist, bei dem „ ECHT vorsichtig sein“ (Zeile 13) muss und „ SEHR leicht aggressIv“ (Zeile 14) wird, baut er schon die Kernpunkte der Geschichte auf. Gleichzeitig legt er damit auch seine Haltung zu den Protagonisten dar. Zum Erzählanfang in Form des Aufmachers schreibt Norrick (2000) folgendermaßen: Tellers often provide an abstract of their story with a synopsis of the content alongside an evaluative comment. The abstract allows potential hearers to identify the story, while the evaluative comment signals the teller’s attitude toward the events depicted. Together they prepare hearers for the performance to come. (Norrick 2000: 115) Neben meta-narrativen Äußerungen und Aufmachern kann man mit einer Orientierung den Beginn der Erzählphase realisieren. Darunter ist die Nennung von Zeit, Ort und / oder Person(en) des Geschehens zu verstehen. Nach Hausendorf / Quasthoff (1996) wird damit die Inhalts- und Formrelevanz der einzuleitenden Geschichte dargestellt. Die orientierenden Angaben im klassischen Sinne signalisieren die Initiierung der konversationellen Erzählphase. Das folgende Beispiel illustriert, wie der Erzähler mit Orientierungsäußerungen seine Geschichte einführt. 01 02 Anna: ja: aso ja: . un wEIsch du wen ich HEUT-, hEUt war ich beim ARZT. ja? (-) <?page no="164"?> 164 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 03 Bea: ehe (zitiert nach: Helga Kotthoff, Erzähl-Projekte, unveröffentliches Manuskript für eine Einführung in die Konversationsanalyse, April 2014) Hier verwendet die Erzählerin Anna die Orientierung als Einleitung ihrer Geschichte. Die Zeitangabe „ HEUT “ (Zeile 1), die beiteiligte Person „ich“ (Zeile 2) und der Ort „beim ARZT “ im Zusammenhang mit der Markierung des Themas, wen sie gesehen hat, weist eindeutig auf eine Erzählung als folgende Diskurseinheit hin. Kotthoff (2014) unterscheidet fremdinitiierte Geschichten von selbstinitiierten Geschichten. Ihr Ausgangspunkt beginnt mit der Situation, in der eine konversationelle Erzählung erfolgt. Nach Kotthoff (2014: 13) werden in institutionellen Kontexten (wie z. B. auf Sozialämtern, bei Bewerbungen, in Kliniken oder in Beratungsgesprächen) die Klienten oft direkt zum Erzählen aufgefordert. Selbstinitiierte Erzähleinleitungen mittels meta-narrativer Äußerungen sind in solchen Kontexten prinzipiell auszuschließen (Quasthoff 1980: 219). Während Kotthoff die Initiierung der Erzählungen aus kontextueller Perspektive thematisiert, untersucht Bierbach (1985) die Auswirkung der Initiierung auf die konversationelle Erzählstruktur. Nach Bierbach wird der Erzähler durch die Elizitationen des Gesprächspartners entlastet. Da der Gesprächspartner bei der Elizitation in der Regel die Art der Geschichte, die Konstruktion der Pointe, evaluative Elemente oder die Erzählwürdigkeit demonstriert, wird der Erzähler von der Verpflichtung befreit, die Aufgaben des Erzählanfangs zu erfüllen. Wirft man einen Einblick in das vorliegende Material, ist festzustellen, dass es in Tandeminteraktionen sowohl fremdinitiierte als auch selbstinitiierte Erzählungen gibt. Einerseits elizitieren die muttersprachlichen Laienlehrpersonen mündliche Erzählungen der chinesischen Lerner, indem sie bestimmte Verfahren (wie z. B. Fragen, Imperativsätze) einsetzen. Andererseits produzieren die chinesischen Probanden im Lauf des Tandemgesprächs Erzählungen. In meiner empirischen Untersuchung der Erzählungen differenziere ich fremdinitiierte Erzählanfänge von selbstinitiierten Erzählanfängen, wie es in der Konversationsanalyse üblich ist. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass es in der bisherigen Erzählforschung vor allem um die Untersuchung der Einleitungen im Zusammenhang mit dem laufenden Gesprächskontext geht. Quasthoff (1980) und Becker (2011) fokussieren z. B. hauptsächlich auf die strukturelle Gestaltung des Erzählanfangs. Kotthoff (2014) thematisiert die Einbettung der Geschichteneinleitungen in das aktuelle Gespräch. Nach ihrem Befund gibt es Initiierung einer Geschichte ohne aktuellen Themenbezug, mit Bezug zum aktuellen Thema und gegen ein laufen- <?page no="165"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 165 des Thema. Apfelbaums (1993) Studie behandelt überwiegend die Lehr-Lern- Aktivitäten bei konversationellen Erzählungen, ohne die Erzählfähigkeiten der nichtmuttersprachlichen Probanden zu berücksichtigen. Im vorliegenden Material der Erzählungen im Tandem ist aber festzustellen, dass es sich bei der Gestaltung des Erzählanfangs nicht nur um strukturelle, sondern auch um sprachlich-thematische Probleme geht. Da die sprachlich-thematischen Probleme sich deutlich auf die Erzählstruktur auswirken, beziehe ich bei meiner empirischen Untersuchung diesen Faktor mit ein. Damit möchte ich eine Lücke in der bisherigen Erzählforschung schließen. Nachfolgend werde ich meine Untersuchungsergebnisse vorstellen. 4.5.1.1 Lernersprachliche Gestaltung der Erzählanfänge Im vorliegenden Tandemmaterial kommt es gehäuft zu Sequenzen des Erzählanfangs, in denen Defizite der chinesischen Lerner zu beobachten sind. Einerseits weisen diese Sequenzen strukturelle Probleme bei der Rekonstruktion der Geschichteneinleitungen auf. Andererseits zeigen sie sprachlich-thematische Schwierigkeiten beim Erzählanfang, die sich deutlich auf die gesamte Struktur der mündlichen Erzählung auswirken. In diesem Kapitel möchte ich genauer darauf eingehen, wie defizitäre Erzählanfänge der chinesischen Lerner konstruiert werden und durch welche strukturellen und sprachlich-thematischen Merkmale sich dieses Verfahren auszeichnet. 4.5.1.1.1 Fremdinitiierte Erzählanfänge Fremdinitiierte Erzählanfänge machen in dem vorliegenden Datenmaterial einen erheblichen Teil aus und verteilen sich auf alle Tandempaare. Die Fremdinitiierung einer Geschichte zeichnet sich dadurch aus, dass der Kern der einzuleitenden Geschichte in der Elizitation des Gesprächspartners vorbestimmt wird. Der Erzähler kann, muss aber nicht die Art der Geschichte und die Erzählwürdigkeit zu Beginn der Erzählphase konstruieren. In meinem Korpus ist festzustellen, dass die Fremdinitiierung der Geschichte im Tandem meist keinen aktuellen Themenbezug aufweist. Häufig fordern die muttersprachlichen Gesprächspartner die chinesischen Lerner zum Erzählen auf, indem sie Initiierungsverfahren (wie z. B. Fragen, Imperativsätze) einsetzen, ohne sie direkt mit dem Thema des laufenden Gesprächs zu verbinden. Dieses Merkmal kann aus der kontextuellen Situation der Interaktion begründet werden. Wie wir bereits im letzten Kapitel über Gattungsanalyse festgestellt haben, zeigt das Tandemgespräch als eine besondere kommunikative Gattung zwischen Alltagsgesprächen und Unterrichtsinteraktionen teilweise Merkmale der Lehr- Lern-Aktivitäten im Fremdsprachenunterricht. Ausgehend vom Sprachenlernen elizitieren die Muttersprachler als Laienlehrpersonen im Tandem mehr oder we- <?page no="166"?> 166 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem niger Erzählungen der chinesischen Probanden, damit diese Lerner sprachliche und kommunikative Übungen machen können. Gleichzeitig erfüllen die muttersprachlichen Gesprächspartner zum Teil ihre Rolle als Laienlehrpersonen. Meine Untersuchung zeigt, dass es sich beim fremdinitiierten Erzählanfang im vorliegenden Datenmaterial vor allem um die Diskrepanz der Einleitungselemente handelt. Das heißt, die von den chinesischen Lernern produzierten Geschichten weichen von der Elizitation der Muttersprachler ab. Im Folgenden stelle ich verschiedene interaktive Konstruktionen fremdinitiierter Erzählanfänge dar. 1. Diskrepanz zwischen der fremden Elizitation und der Geschichte Das erste Beispiel aus Lis Daten soll illustrieren, wie die Geschichte der Lernerin von dem muttersprachlichen Elizitationsthema abweicht. Gespräch: nachtblind (Episode 036) ((Tandemgespräch, 56: 04-57: 29 Sek.)) [56: 04] 01 Lukas: vor was hast du am meisten ANGST? 02 Li: äh: : : DUNkel; 03 Lukas: DUNkel? 04 Li: ich bin dunkelBLAND. 05 06 Lukas: oh: nachtBLIND. 07 Li: ah nachtbland. 08 Lukas: nachtBLIND. 09 10 Li: nachtBLIND. <<p> dunkel: > 11 12 13 14 15 16 17 Lukas: und was heißt das geNAU, wenn es DUNkel wird; dann siehst du GAR nichts, (2.0) dann ist es naTÜRlich; dass man ANGST hat. wenn man GAR nichts mehr sieht. 18 19 20 Li: ja. hm al als ich vielleicht DREI zwei oder drei jahr jahre alt war? dann (.) kann ich selbst LAUfen. 21 Lukas: KONNte [ich selbst laufen. ] <?page no="167"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 167 22 23 24 25 26 27 28 29 Li: [KONNte ich selbst laufen.] wenn wenn äh in der NACHT, kann ich NICHT sehen; dann habe ich das geSAGT. ich kann NICHT sehen. aber ZUERST alles alle gesagt. du bist ein KIND. vielleicht ein kind äh würde nicht aLLEIne etwas machen; 30 Lukas: mhm. 31 Li: in der nacht. 32 Lukas: mhm mhm. 33 34 35 Li: dann als ich vier drei oder VIER jahre alt. war äh FINdet meine mutter; dass ich bin NACHT- 36 Lukas: dann dann fand sie das heRAUS; 37 Li: ja fand sie das heRAUS; 38 Lukas: 她 发 现 sie fand heraus. sie fand heraus. 39 Li: mhm. 40 Lukas: mhm. [57: 29] 41 Li: dann habe ich viele chinesische medizin geGESsen. Dieser Ausschnitt entstammt einem Gespräch zwischen Li und Lukas. Gesprächsthema ist Lis Angst vor Nachtblindheit. Auf Lukas’ Frage „vor was hast du am meisten ANGST ? “ (Zeile 01) initiiert Li das Thema, indem sie antwortet, dass sie vor „dunkel“ (Zeile 02) am meisten Angst habe. Lukas korrigiert die Aussprache des Adjektivs „dunkel“ (Zeile 03), während der Grammatikfehler in Bezug auf die Nominalisierung des Adjektivs „dunkel“ auf „Dunkelheit“ unkommentiert durchgeht. Li liefert daraufhin ein von ihr selbst gebildetes Wort „dunkel BLAND “ (Zeile 04), wobei sich zeigt, dass sie selbst ein Kompositum zu bilden versucht. Obwohl ihr Wort nicht stimmt, schließt Lukas daraus die richtige Bedeutung und liefert die Lösung „nacht BLIND “ (Zeile 06). Nachdem Li die Korrektur von Lukas ratifiziert, fragt Lukas nach, wie das genau heißt (Zeile 11). Mit „wenn es dunkel wird, dann siehst du gar nichts“ (Zeile 12 und 13) konkretisiert er seine Frage. Auffällig ist, dass danach eine 2-Sekunden-Pause auftaucht (Zeile 14). Offenkundig signalisiert Lukas damit einen Sprechwechsel und wartet auf Lis Antwort, während Li scheinbar seine Frage trotz der darauf folgenden Konkre- <?page no="168"?> 168 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem tisierung nicht versteht und daher die Pause nicht füllen kann. Sie dauert zwei Sekunden und wird von Sprechpause auf Schweigen uminterpretiert. Lukas übernimmt das Rederecht wieder und kommt auf das Thema „Angst“ zurück, indem er sagt „dann ist es natürlich, dass man angst hat, wenn man gar nichts mehr sieht“ (Zeile 15 bis Zeile 17). Auf diese Weise wird das Schweigen gefüllt. Mit dem Gesprächspartikel „ja“ (Zeile 18) reagiert Li. Im Anschluss beginnt sie, die Geschichte über ihre Nachtblindheit zu erzählen, ohne Lukas’ Frage „und was heißt das genau“ (Zeile 11) zu beantworten. In Anlehnung an Auers (1986) Untersuchung zur Kontextualisierung ist Kontext nicht als Material gegeben, sondern wird als interaktiv produziert angesehen. In diesem Beispiel rahmt Lukas zuerst mit seiner Frage „vor was hast du am meisten ANGST ? “ (Zeile 01) das Geprächsthema über Angst ein. Nachdem Li diese Frage beantwortet hat, stellt Lukas gleich eine Frage nach dem Zustand ihrer Nachtblindheit (Zeile 11). Offensichtlich möchte er auf Lis Angst vor Nachtblindheit eingehen. Dabei entsteht ein Kontext zum Thema Angst im Zusammenhang mit Nachtblindheit. Hätte Li diese Frage beantwortet, wäre der Kontext erfolgreich interaktiv hergestellt und das Gespräch in die Richtung der Angst geführt worden. Li weicht aber seiner Frage aus, indem sie die Geschichte erzählt, wie sie in der Kindheit ihre Nachblindheit herausfand. Die Einleitungselemente von Lukas und Li stimmen nicht überein. Eine interaktive Produktion des Kontextes ist misslungen und das Gespächsthema weicht ab. Während das erste Beispiel die Diskrepanz zwischen dem Einleitungsthema und der produzierten Geschichte zeigt, verdeutlicht das zweite, wie Tings Geschichte wegen ihrer defizitären Struktuierung von dem in der Elizitation gerahmten Kern der Erzählung abweicht. Gespräch: ich wurde mal von unserem Hund gebissen. ((Tandemgespräch, 32: 54-33: 13 Sek.)) [32: 54] 01 Linda: dann erzähl doch mal n WITZ aus deinem leben, 02 Ting: ja[: : ? ] 03 Linda: [hehehe] 04 05 06 Ting: ah: wenn ich noch ZWEI jahre; habe ich mit äh mit das HUND in mein mein hause? ähm zusammenessen. 07 Linda: mhm. <?page no="169"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 169 08 09 Ting: und er hat mein AUgen (.) 咬 . yao gebissen [ 咬 ? ] yao gebissen [33: 13] 10 Linda: [gebissen.] Der vorangehende Ausschnitt repräsentiert den Erzählanfang des Gesprächs zwischen Ting und Linda, in dem Ting eine Geschichte aus ihrer Kindheit erzählt. Das Gespräch wird durch Lindas Bemerkung „dann erzähl doch mal n WITZ aus deinem leben,“ (Zeile 01) initiiert. Darauf antwortet Ting mit der Gesprächspartikel „ja: : ? “ (Zeile 02). Die deutlich gedehnte und steigende Intonation signalisiert ihr Nachdenken. Linda reagiert mit Lachen (Zeile 03). In Zeile 04 fängt Ting an, eine Geschichte von sich zu erzählen. Von Zeile 04 bis Zeile 09 wird der Anfang der Geschichte mit den inhaltsrelevanten Elementen (Person, Zeit, Ort) repräsentiert. Ting wurde mal von dem Hund in ihrer Familie ins Auge gebissen, als sie mit ihm zusammensaß. Auch das Thema der Geschichte wird schon zu Beginn vorgestellt. Bemerkenswert ist jedoch, dass es dem Kernwort in Lindas Frage „dann erzähl doch mal n WITZ aus deinem leben,“ (Zeile 01) nicht entspricht. Das Konzept „Witz“ gilt am Anfang der Erzählung als ein Kontextualisierungshinweis. Dadurch wird der von Linda erwartete Erzählinhalt auf den Bereich Witz beschränkt. Ting produziert jedoch eine Erzählung, die die Zuhörerin nicht zum Lachen anregt und daher der Dimension eines Witzes nicht entspricht. Obwohl Ting die weitere Handlung der Geschichte in einem lustigen Tonfall erzählt, bringt sie ihre Tandempartnerin überhaupt nicht zum Lachen. Stattdessen bekundet diese mehrmals ihr Staunen und Mitleid. Ting wird wegen der Verletzung an einem Auge ins Krankenhaus gebracht. Sie geht zwar nach der Behandlung am gleichen Tag schon nach Hause, aber von Witz keine Spur. Warum diese Diskrepanz entstanden ist, könnte darin begründet sein, dass die chinesische Lernerin nicht kompetent darin ist, unterschiedliche Ereignisse ihrer Geschichte zu strukturieren. In ihrer Geschichte gibt es schon einen unerwarteten Ausgang (Pointe), die den Zuhörer zum Lachen anregen kann, nämlich das gemeinsame Essen mit dem Hund. Der Unfall stellt ein anderes Ereignis in der Geschichte dar. Aufgrund ihrer sprachlichen Mängel kann Ting die beiden Ereignisse nicht voneinander unterscheiden und nach den Kontextualisierungserwartungen ihrer Tandempartnerin strukturieren. Die beiden Ereignisse werden einfach hintereinander produziert. Der lustige Punkt an der potenziellen Pointe wird von dem anderen traurigen Ereignis überlagert. Die weitere Erzählung widmet sich dann dem Thema „Unfall“. <?page no="170"?> 170 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 4.5.1.1.2 Selbstinitiierte Erzählanfänge Neben zahlreichen fremdinitiierten Erzählungen kommt es im vorliegenden Datenmaterial manchmal zum selbstinitiierten Erzählanfang, was ebenfalls bei allen Tandempaaren zu finden ist. Ähnlich wie fremdinitiierte Erzählanfänge zeigen die selbstinitiierten Geschichteneinleitungen in meinem Korpus überwiegend keinen deutlichen aktuellen Themabezug. Nur in einigen Fällen ist der Anschluß der Geschichte an das Gesprächsthema erkennbar. Folgend werde ich mit Beispielen aus meinem Korpus die Konstruktion des selbstinitiierten Erzählanfangs in Tandeminteraktionen darstellen. 1. Erzählanfänge ohne Darstellung der Inhaltsrelevanz Selbstinitiierte Erzählungen enthalten Geschichten, die ohne Konstruktion des Themas produziert werden. Relevante Elemente, wie z. B. beteiligte Personen, Ort, Zeit und eventuell evaluative Äußerungen, gibt der Erzähler zu Beginn der Erzählphase nicht deutlich an. Um das zu illustrieren, präsentiere ich das folgende Beispiel von Le und Max. In diesem Gesprächsausschnitt werden wir einerseits sehen, wie Le die Erzählphase in das laufende Gespräch mittels metanarrativer Technik ohne aktuellen Themabezug einleitet. Andererseits zeigt das Beispiel, wie der Anfang der Hauptgeschichte ohne Darstellung der Inhaltsrelevanz interaktiv gestaltet wird. Gespräch: Film „Eurotrip“ ((Tandemgespräch, 20: 14-21: 22 Sek.)) [20: 14] 01 02 Le: ah ah was was ich erZÄHlen möchte, [ich habe einen FILM geschaut.] 03 Max: [ach erZÄHL; ] 04 05 Le: das ist ähm - auf CHInesisch 欧洲 小 欧洲 性旅行 4 Europa klein Europa Sexreise europäische (klein: sie verspricht sich) Sexreise 06 Max: europa reise WAS? 07 08 Le: ähm SExuelle reise in europa; hast du das geHÖRT? 09 Max: ja nach THAIland oder? 10 Le: hm nein nein. 11 Max: ach okay. 12 Le: das ist ein- <?page no="171"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 171 13 14 Max: das ist ein ZEItungsartikel oder? <<pp> buch.> 15 Le: ein FILM, 16 17 Max: ein FILM hehehe- [hehehehe- ] 18 19 20 21 Le: [ein ameriKAnischer film.] und dort wird beSCHRIEben zum beispiel? ähm sie die sie sind nach ähm ähm 东 欧 东 欧 ist - dongou dongou Osteuropa Osteuropa [osteuro osteuROpa.] 22 Max: [ost osteuROpa. ] [21: 22] 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 Le: und sie haben nur ZWEI(.) zwei komma blablablabla; ähm: was ist (.) DOLlar? aber - ((lacht)) DOLlar. sie sind ameriKAner; sie glauben ach wir können nicht mehr LEben, aber dann sind sie in einem FÜNF sterne hotel geblieben? haben VIEL gekauft VIEL VIEL gekauft. Die vorangehende Sequenz repräsentiert ein Tandemgespräch zwichen Le und Max, in dem Le einen Film erzählt. Die chinesische Studierende initiiert das Erzählthema durch „ah ah was was ich erzählen möchte, [ich habe einen FILM geschaut.]“ (Zeile 01, 02). Nachdem Max „[ach er ZÄHL ; ]“ (Zeile 03) geäußert hat, erzählt Le den Film. Sie beginnt mit dem Filmtitel. Die Zeilen 04 bis 17 enthalten eine Sequenz über die Erklärung des Titels des zu erzählenden Films. In Zeile 05 stellt Le den Film mit seinem chinesischen Titel „ 欧洲性旅行 (ou zhou xing lü xing)“ vor. Die chinesische Übersetzung des amerikanischen Films ist jedoch für Max nicht nachvollziehbar. Seine Frage „europa reise WAS ? “ (Zeile 06) verdeutlicht explizit, dass er den chinesischen Ausdruck nicht versteht. Daraufhin formuliert Le den Titel auf Deutsch, nämlich „ähm SE xuelle reise in europa; “ (Zeile 07). Jedoch ist das nicht der Titel der deutschen Version, dessen originaler Titel „Eurotrip“ lautet. Le übersetzt den chinesischen Titel wörtlich ins Deutsche. Max 4 Der originale Name des Films lautet: Eurotrip. <?page no="172"?> 172 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem vermutet, dass er das versteht, und fragt zur Bestätigung danach, ob es um eine Reise nach Thailand gehe (Zeile 09). Seine Tandempartnerin verneint (Zeile 10). Max reagiert darauf einfach mit „okay“ (Zeile 10), ohne weitere Erklärung des Titels anzufordern. Während Le anschließend weiter erzählen möchte, äußert Max Zweifel daran, ob Le einen Film meint (Zeile 13 und Zeile 14). Auf die Bestätigung von Le (Zeile 15) reagiert Max mit Lachen (Zeile 17), ohne das Problem weiter zu vertiefen, obwohl er immer noch nicht verstanden hat. In Zeile 19 fängt Le an, die Geschichte des Films zu erzählen. Sie beginnt mit dem Satz „und dort wird be SCHRIE ben zum beispiel? “ (Zeile 19). Der Ausdruck „zum beispiel“ verdeutlicht, dass sie statt eines Thematisierens des gesamten Films ein einzelnes Ereignis daraus auswählt. Im Anschluss daran erzählt sie, dass sie nach Osteuropa gereist ist (Zeile 20). Darin sind keine Angaben über Person und Zeit enthalten. Durch das Pronomen „sie“ erfährt der Zuhörer nicht, wen die Erzählerin meint. Die inhaltsrelevanten Elemente der Erzählung werden also nicht dargestellt. Ein Kontext für die zu erzählende Geschichte findet sich nicht. Max liefert dabei nur eine Reparatur „ost osteuROpa.“ (Zeile 22), ohne auf Klärung der inhaltsrelevanten Elemente zu bestehen. Von Zeile 23 bis Zeile 31 erzählt Le die Handlung der Geschichte. Erst in Zeile 28 identifiziert sie die Figuren ihrer Erzählung als Amerikaner. Weitere Angaben tauchen überhaupt nicht auf. Die Handlung ist somit schwer nachzuvollziehen. Die Geschichte wird offensichtlich nicht strukturiert. Das Beispiel veranschaulicht erstens, wie Le die Geschichtenerzählung in den Gesprächsablauf einführt. Mit der meta-narrativen Äußerung „ah ah was was ich er ZÄH len möchte, [ich habe einen FILM geschaut.]“ (Zeile 01 und Zeile 02) kündigt sie ein Rederecht für einen langen Redebeitrag an. Der potenzielle Zuhörer gestattet dies durch die Formulierung des Imperativsatzes „[ach er- ZÄHL ; ]“ (Zeile 03). Danach wird der Erzählerin das besondere Rederecht für ein großes konversationelles Projekt eingeräumt. In dieser Hinsicht ist die Geschichteneinleitung gelungen. Zweitens bemerken wir aber die problematische Gestaltung des Geschichtenanfangs. Le steigt nämlich spontan in ein Ereignis der Geschichte ein, ohne die inhaltsrelevanten Elemente und das Thema der Erzählung darzustellen. Das könnte darin begründet sein, dass Le in diesem Fall aus der Balance geriet. Es gelingt ihr nämlich nicht, die Erzählung auf der sprachlichen und der inhaltlicher Ebene gleichzeitig zu erschaffen. Obwohl Le schon ein höheres Sprachniveau hat, offenbart sie in dieser Erzählung mehrmals sprachliche Schwierigkeiten. Sie sucht z. B. in Zeile 20 nach dem deutschen Wort „Osteuropa“ und in Zeile 27 nach „Dollar“. Außerdem begreift ihr Tandempartner ihre Erklärung für den Filmtitel nicht. Das führt vermutlich dazu, dass sie mehr Zeit für die <?page no="173"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 173 Bewältigung der sprachlichen Schwierigkeiten benötigt und die inhaltliche Gestaltung der Erzählung dadurch beeinträchtigt. 2. Diskrepanz zwischen dem Einleitungskonzept und der Geschichte Einerseits finden sich in meinen Daten Erzählungen der chinesischen Lerner, die ohne Darstellung von Inhaltsrelevanz produziert werden. Andererseits weichen einige Erzählsequenzen von dem Einleitungskonzept ab. Das heißt, was die Lerner am Anfang der Erzählphase ankündigen, stimmt mit dem Inhalt ihrer Geschichte nicht überein. Solche sprachlich-thematische Probleme, die die Erzählstruktur beeinflussen, machen in meinen Daten einen nicht unerheblichen Teil aus. Im Folgenden möchte ich nun auf ein Beispiel von Ting eingehen, in dem sie eine Erlebnisgeschichte erzählt. Der Ausschnitt hier präsentiert die Interaktion zwischen Ting und Linda. Um möglichst einen Überblick über den gesamten Gesprächsablauf zu geben, dokumentiere ich auch das Transkript vor der Erzählphase der Geschichte über den Geburtstag von Tings Nachbarin. Von Zeile 01 bis 18 sehen wir nämlich das Gespräch, bevor Ting mit ihrer Geschichte anfängt. Gespräch: der Geburtstag von meiner Nachbarin ((Tandemgespräch, 10: 45-11: 43 Sek.)) [10: 45] 01 Ting: ach ich habe ähm FRAge, 02 Linda: ja. 03 04 Ting: wie wie geht das dieser dieser trau trau nee TRAUbe, (.)TRAUbe, 05 Linda: TRAUbe? 06 07 Ting: also du du gehst na mit dein dein FREUND? und der SOHN dein- 08 Linda: ah TAUfe; 09 Ting: TAUfe [ja. ] 10 11 Linda: [ach TAUfe.] mit [ef.] 12 Ting: [ja,] 13 14 Linda: taube ist der VOgel; he[hehehe ] 15 16 17 Ting: [hehehehe] <<lachend> okay- > [hehehe] <?page no="174"?> 174 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 18 Linda: [hehehe] 19 20 Ting: ich habe äh le letzte woche ein witz geMACHT; so es ist ein geBURTStag von der frau dieser alter frau, 21 Linda: mhm. 22 Ting: ähm es sie ist mein nachBAR; 23 Linda: mhm. 24 25 26 27 Ting: sie sagt mir heute ist mein geBURTStag.= = ich sagte oh ge geBURTSstag? und ich frage SIE; hast du ein toTE ge ge gegessen; 28 Linda: ein was ein- 29 Ting: toTE, 30 Linda: TORte, 31 Ting: [ja, ] 32 Linda: [mhm.] 33 Ting: sie sagte TOD? 34 Linda: oh: : : , 35 36 37 Ting: hehehe. sie sagte <<acc> nein nein nein nein> nicht tod sondern der KUchen. [der ganz KUchen,] [11: 43] 38 Linda: [hehehe- ] Der vorangehende Ausschnitt zeigt auf, wie die Diskrepanz durch einen Translationsfehler entsteht. Ting erzählt ihrer Tandempartnerin, dass sie einmal wegen einer falschen phonetischen Aussprache des deutschen Wortes „Torte“ ins Fettnäpfchen getreten sei. Von Zeile 01 bis Zeile 18 wird die Initiierung der Erzählung demonstriert. Da Linda beim letzten Tandemtreffen sagte, dass sie mit ihrem Freund an einer Taufe teilnehmen werde, will Ting bei diesem Tandemtreffen danach fragen (Zeile 01, 03). Jedoch liefert sie ein falsches Wort. Statt „Taufe“ spricht sie „Traube“ (Zeile 03, 04). Lindas Beitrag „ TRAU be? “ mit einer deutlich steigenden Intonation (Zeile 05) signalisiert ihr Unverständnis. Ting formuliert ihre Frage um, indem sie „also du du gehst na mit dein dein FREUND ? und der SOHN dein -“ (Zeile 06, 07) sagt und dadurch die Kontextinformationen ergänzt. Linda begreift nun Tings Frage und liefert das richtige Wort „Taufe“ (Zeile 08). Das wird von Ting ratifiziert (Zeile 09). Anschließend erklärt Linda, dass das Wort „Taube“ <?page no="175"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 175 Vogel bedeutet (Zeile 13). Das Missverständnis bringt die beiden schließlich zum gemeinsamen Lachen (Zeile 14, 15, 17, 18). Dabei fällt Ting eine Geschichte ein, die auch durch ein falsches Wort passierte. Sie beginnt dann zu erzählen, und zwar mit dem Satz „ich habe äh le letzte woche ein witz ge MACHT ; “ (Zeile 19). In der daran anknüpfenden Fortsetzung geht es eigentlich nicht um einen Witz. Es ist ein Fall, in dem sie ins Fettnäpfchen tritt. Sie wollte ihre Nachbarin fragen, ob sie an ihrem Geburtstag Torte gegessen habe. Aber wegen des phonetischen Problems hat sie „Tote“ statt „Torte“ gesprochen. Das wurde von ihrer Nachbarin als „Tod“ verstanden. Ting klärte dann das Missverständnis sofort durch eine Umformulierung. Die Geschichte wird zwar am Anfang von Ting mit dem Konzept „Witz“ gerahmt, aber der Erzählinhalt entspricht dem Konzept nicht. Es geht nämlich nicht um einen Witz, sondern um einen Tritt ins Fettnäpfchen. Der Grund, wie diese Deskrepanz entstanden ist, liegt in einem Translationsfehler. Der chinesische Ausdruck für die deutsche idiomatische Formulierung „ins Fettnäpfchen treten“ lautet „ 闹笑话 (nao xiao hua)“. „ 闹 (nao)“ ist das Verb, „ 笑话 (xiao hua)“ das Substantiv. Das chinesische Wort für den deutschen Begriff „Witz“ ist auch „ 笑话 (xiao hua)“. Das heißt, in der chinesischen Sprache ist das Substantiv in dem Ausdruck im Sinne des deutschen Idioms „ins Fettnäpfchen treten“ dasselbe Wort für den Begriff „Witz“. Deutsch Chinesisch ins Fettnäpfchen treten „ 闹笑话 “ (nao xiao hua) Witz „ 笑话 “ (xiao hua) Durch ein kurzes Gespräch mit Ting nach diesem Tandemtreffen ist festzustellen, dass sie das Idiom „ins Fettnäpfchen treten“ nicht kannte. Sie hat nur gelernt, dass das chinesische Wort „ 笑话 (xiao hua)“ auf Deutsch „Witz“ heißt. Selbstverständlich hat sie dann das deutsche Wort „Witz“ für die Übersetzung des chinesischen Ausdrucks „ 闹笑话 (nao xiao hua)“ benutzt. So ist der Ausdruck „einen Witz gemacht“ am Erzählanfang als Kontextualisierungshinweis entstanden. Die dadurch geschaffene Diskrepanz wird von der Erzählerin nicht wahrgenommen. Als eine Muttersprachlerin kann Linda diese Unstimmigkeit bemerken, aber das ist für sie implizit. Sie weiß als eine Laienlehrperson nicht, woher die Abweichung kommt und wie sie das korrigieren kann. Darauf reagiert Linda in der Tat eigentlich auch nicht. Diese Widersprüchlichkeit am Erzählanfang geht also unkommentiert durch. Ähnliche problematische Gestaltungen sind auch bei anderen chinesischen Probanden in meinem Korpus zu beobachten. Hier präsentiere ich ein weiteres Beispiel der Germanistikstudentin Le. Obwohl die Erzählphase global von dem <?page no="176"?> 176 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem Muttersprachler initiiert wird, können wir jedoch vom Geschichtenaufbau her mit diesem Beispiel die in diesem Kapitel darzustellende Diskrepanz illustrieren. Es geht hier nicht um sprachlich translationsbedingte Unstimmigkeiten zwischen Einleitungskonzept und Geschichte, sondern um sprachlich pragmatische Probleme, die zur Diskrepanz führen. Gespräch: Ein Mitarbeiter hat Geld gestohlen und wurde gekündigt. ((Tandemgespräch, 16: 01-17: 20 Sek.)) [16: 01] 01 02 03 Max: was was du so erLEBT hast hier in deutschland; irgendeine geSCHIchte, die du so LUSTIG fandest oder SPANnend oder (.) oder SEltsam oder, 04 05 06 07 08 Le: ((lacht)) ich GLAUbe; in deutschland gibt es auch einige KOmische leute; wie zum BEIpiel= =ich bei meinem arbeitsORT. 09 Max: der ist WO? 10 11 Le: in in STUsie ja schwarzwaldstusie isähm vor einigen TAgen hat- 12 Max: schwarzwaldstudentenSIEDlung, 13 Le: schwarzwaldSUshi. 14 Max: achso SUshi. 15 16 17 Le: ja das ist SUshibar. und mein chef hatte hat nee hat hat hat einen mitarbeiter geKÜNdigt. weil er <<lachend> geld geSTOHlen hat.> 18 Max: oh- 19 20 21 Le: ((lacht)) und ja und er HATdieser MITarbeiter hat zuletzt auch immer nicht zugegeben; 22 Max: wie viel hat er geKLAUT? 23 Le: ungefähr FÜNFzig euro. 24 Max: aus der KASse einfach genommen, <?page no="177"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 177 25 26 27 28 29 Le: nein. er er ist ein FAHrer, und er fährt mit beSTELlung ja, er hat zwei bestellungen geLIEfert.= =aber KEIN geld zurück. 30 31 32 33 Max: okay. das hat man dann geMERKT, wie FANdest du es; = =dass er ihn dann geKÜNdigt hat deswegen, [17: 20] 34 Le: naTÜRlich muss man ihn kündigen. In diesem Gesprächsausschnitt (zwischen Le und Max) erzählt Le eine Geschichte von einem ihrer Arbeitskollegen. Indem Max von Zeile 01 bis 03 fragt „was was du so er LEBT hast hier in deutschland; irgendeine ge SCHI chte, die du so LUSTIG fandest oder SPAN nend oder (.) oder SE ltsam oder,“, umrahmt er zugleich mit den vorgeschlagenen Adjektiven „lustig“, „spannend“ und „seltsam“ die Geschichte, die die chinesische Studentin erzählen sollte. Auf Max’ Frage reagiert Le zuerst mit Lachen (Zeile 04), das die zu erzählende Episode im gewissen Maße kontextualisiert. Anschließend beginnt sie zu erzählen. Auffälligerweise bahnt sie ihre Geschichte mit dem einleitenden Satz „in deutschland gibts auch einige KO mische leute“ (Zeile 06) an, der durch „ich glaube“ (Zeile 05) modalisiert wird. Durch diesen zusammenfassenden Beitrag sollte das Thema klar sein, dass es um „komische leute“ in Deutschland geht. Nach der Angabe des Gegenstandes konkretisiert sie ihre Geschichte durch die Bemerkung „wie zum BEI spiel“ (Zeile 07). In Zeile 08 klärt Le die Inhaltsrelevanz durch die Ankündigung des Ortes der zu erzählenden Geschichte. Max fragt in Zeile 09 nach dem genauen Ort der Arbeitsstelle. Nachdem Le „in in STU sie ja schwarzwaldstusi“ (Zeile 10) angibt, nennt sie die Zeit durch die Formulierung „vor einigen TA gen“ (Zeile 11). Jedoch wird sie von ihrem Tandempartner unterbrochen. Max gibt die vollständige Formulierung von Les Abkürzung „schwarzwaldstusie“ mit „schwarzwaldstudentensiedlung“ (Zeile 12) wieder. An seinem steigenden Tonfall ist zu erkennen, dass er diese Ortsangabe bezweifelt. In der deutschen Stadt, wo die beiden studieren, gibt es nämlich ein Wohnheimgebiet für Studierende, das Studentensiedlung oder Stusie genannt wird. Die Kombination von „Stusie“ und „Schwarzwald“ in dem von Le geäußerten Kompositum „schwarzwaldsusie“ klingt für Max offensichtlich fremd. In Zeile 13 korrigiert Le selber das Wort auf „schwarzwaldsushi“. Die Partikel (bzw. Partikelkombination) „ach so“ (Zeile 14) von Max, die nach Wolfgang Imo (2009: 64) die meisten Fälle eines durch eine Partikel realisierten Erkenntnisprozessmarkers liefert, verdeutlicht, dass Max an dieser Stelle neue Informationen über den Ort empfängt. Les Selbstkorrek- <?page no="178"?> 178 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem tur von „schwarzwaldstusie“ auf „schwarzwaldsushi“ wird von Max ratifiziert, indem er das korrigierte Wort nach dem Erkenntnissprozessmarker „ach so“ unmittelbar wiederholt. In Zeile 15 bestätigt Le noch einmal die korrigierte Ortsangabe durch „ja das ist ein SU shibar“. Im Anschluss daran gibt sie den Hauptinhalt, dass ihr Chef einen Mitarbeiter kündigte (Zeile 16), weil er Geld gestohlen hat (Zeile 17), wieder. Bemerkenswert ist, dass Le den Satz in Zeile 17 lachend formuliert, was ihre Einstellung gegenüber der erzählten Geschichte darlegt. Für sie ist sie offenbar eher lustig. Trotz ihres weiteren Lachens (Zeile 19) setzt Max überhaupt kein Lachen ein. Auf Les Darstellung des Hauptinhalts der Geschichte reagiert Max nur kurz mit der Partikel „oh“ im leicht erhöhten Tonfall (Zeile 18), der seinen Erkenntnisprozess sowie sein Erstaunen ausdrückt. Auffallend ist, dass die Erzählung ab Zeile 22 von dem Muttersprachler geleitet wird, indem Max Fragen an Le stellt. In Zeile 22 und 24 fragt er nach ausführlichen Inhaltsinformationen. In Zeile 32 wird eine Frage in Bezug auf Les Kommentare hinzugefügt. Interessant ist, dass in keinem Beitrag von Max zu erkennen ist, ob er diese erzählte Geschichte lustig oder komisch findet, während Le von Anfang an ihr Lachen einsetzt. Das Lachen von Le (Zeile 04) und das lexikalische Konzept „komisch“ (Zeile 06) zu Beginn kontextualisieren schon, dass die chinesische Lernerin die zu erzählende Begebenheit als ein lustiges Ereignis rahmt. Aber diese Kontextualisierung findet bei dem deutschen Zuhörer keine Ratifizierung. Für ihn ist das nicht eine Geschichte zum Belustigen. Statt zu lachen - wie die Erzählerin - lenkt er das Gesprächsthema auf Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern in der beruflichen Welt. Das Beispiel verdeutlicht, dass das lexikalische Konzept „komisch“ sowie das damit verbundene Lachen als Kontextualisierungshinweis bei Erzählanfang im Tandemgespräch zum Verständnisproblem führen. In einem nachträglichen persönlichen Gespräch erklärte Le, dass sie durch die Verwendung des Konzepts „komisch“ in dieser Sequenz vor allem das Gesprächsthema auflockern wollte. Dabei spielt aber auch ihre Muttersprache eine Rolle. Denn im Chinesischen gibt es ein Wort „ 搞笑 (gao xiao)“, das man oft als „komisch“ ins Deutsche übersetzt. Das originale chinesische Wort „ 搞笑 (gao xiao)“ verwendet man aber nicht nur zum Belustigen, sondern auch zum Entspannen beim Erzählen von etwas Ernsthaftem. Unter dem Einfluss der Mutterspache benutzte Le das Konzept am Anfang der Erzählung, um die danach kommende ernsthafte Geschichte etwas zu entkrampfen. Sie wusste aber nicht, ob das Wort „komisch“ in der deutschen Sprache auch von der Pragmatik her auf dieser Ebene benutzt werden darf. <?page no="179"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 179 3. Erzählanfänge mit lexikalisch undifferenziertem Einleitungskonzept In wenigen Fällen meines Korpus‘, vor allem in Lis Daten, tauchen einige Erzählungen auf, in denen der Erzähler beim Erzählanfang lexikalisch undifferenzierte Konzepte verwendet und den muttersprachlichen Zuhörer in die Irre führt. Dazu möchte ich das folgende Beispiel zwischen Li und Lukas wiedergeben. Gespräch: Viele fünfzigjährige „Leute“ fragten meine Freundin nach ihrer Telefonnummer. ((Tandemgespräch, 43: 30-44: 46 Sek.)) [43: 30] 01 02 03 04 05 Li: ein FREUNdin von mir, hat hat mir geSAGT ähmwenn sie: : wenn sie auf jemand an der HALtestelle,= = an der an der HALtestelle gewartet hätt; ähm viele leute viele mi mitten_al mittealten LEUte? 06 Lukas: mhm. 07 Li: viele leute fünfzig ähm viele fünfzig jahre alt LEUte? 08 09 Lukas: mhm. viele fünfzigJÄHrige leute, 10 11 Li: JÄHrige leute hätt sie ähm gefra_gefragt. ähm was ist deine ähm TElefonnummer, 12 Lukas: mhm. 13 14 Li: und sie wirden NICHT ähm das antwortet. und [sie-] 15 Lukas: [wie ] ALT ist deine freundin. 16 17 18 Li: ähm sechsundZWANzig.= = aber sie siehst SEHR.= = ähm sie siehst SCHÖN aus. 19 Lukas: mhm. 20 21 22 23 Li: mhm. und sie: hat immer geSAGT. ich bin ANti <<engl. Aussprache> technology.> ich habe KEIN [nummer.] <?page no="180"?> 180 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 24 25 Lukas: [aha. ] in DEUTSCHland fragen viele leute nach ihrer nummer. 26 Li: hehehe 27 Lukas: 好 奇 怪 sehr seltsam sehr seltsam 28 Li: mhm. 29 30 Lukas: an der busHALtestelle. an DIEser bushaltestelle oder an einer anderen, [44: 46] 31 32 Li: nein. in in der STADTmitte. Es ist ein Teil eines Gesprächs zwischen Li und Lukas. Vorher sprachen die beiden darüber, dass es für Europäer schwer sei, das Alter von Asiaten zu schätzen. Li berichtete ein eigenes Erlebnis. Sie war einmal im Kino und wurde von einem Mann aus Serbien nach ihrem Alter gefragt. Anstatt dass sie die Frage gleich beantwortete, fragte sie ihn zurück, wie alt sie aussehe. Darauf antwortete der serbische Mann, dass er ihr Alter nicht schätzen könne, weil sie eine Asiatin sei. Li lieferte zum Spaß eine unkorrekte Antwort, indem sie sich für dreißig anstatt für fünfundzwanzig ausgab. Im Anschluss an dieses Thema erzählt Li die oben genannte Geschichte, in der viele fünfzigjährige Leute ihre Freundin nach der Telefonnummer fragten. Von Zeile 01 bis Zeile 04 wird die Geschichte von Li angekündigt, worauf Lukas mit einem Rezipienzsignal „mhm“ (Zeile 06) reagiert. In Zeile 07 taucht ein Formulierungsproblem auf, das sie selber zu korrigieren versucht (Zeile 07). Da Lis Selbstkorrektur nicht gelingt, liefert Lukas eine Fremdhilfe, indem er die korrekte Formulierung „viele fünfzigJÄHrige leute“ (Zeile 09) verwendet. Lukas’ Korrektur wird von Li durch die Aussage „ JÄH rige leute hätt sie ähm gefra gefragt“ (Zeile 10) ratifiziert. Li übernimmt also nicht die gesamte korrigierte Formulierung „viele fünfzig JÄH rige leute“ (Zeile 09) von Lukas, sondern nur „ JÄH rige leute“ (Zeile 10). Nachdem Li ihre Einleitung in Zeile 11 beendet hat, reagiert Lukas erneut mit dem Rezipienzsignal „mhm“ (Zeile 12). Offensichtlich versteht Lukas bisher noch nicht, worum es geht. Durch Lis Ankündigung wird kein klarer Kontext für diese Erzählung hergestellt. In Zeile 13 schildert Li die Reaktion ihrer Freundin auf solche Fragen von Fremden an Bushaltestellen. Während Li weiter erzählen möchte (Zeile 14), unterbricht Lukas mit der Frage „[wie ] ALT ist deine freundin.“ (Zeile 15). Durch diesen inhaltlichen Zugriff von Lukas beginnt der interaktive Produktionsprozess des Kontextes. Jedoch bezieht sich Lukas’ Frage wieder auf das frühere <?page no="181"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 181 Thema, das Alter. Betrachten wir das vollständige Transkript dieses Gesprächs, stellen wir fest, dass Li eigentlich über Belästigung sprechen möchte. Lukas’ Frage wird von Li beantwortet (Zeile 16). Darüber hinaus ergänzt sie, dass ihre Freundin sehr hübsch aussieht. Damit möchte Li vermutlich auf ihr Thema der Belästigung hinweisen. Ihr impliziter Hinweis wird aber von Lukas nicht verstanden. Er reagiert einfach mit dem Rezipienzsignal „mhm“ (Zeile 19). Der daraufhin produzierte Redebeitrag von Lukas verdeutlicht explizit, dass ihm das Thema nicht klar ist. Mit seiner rhetorische Frage „in DEUTSCH land fragen viele leute nach ihrer nummer.“ (Zeile 25) zeigt er sein Erstaunen. Der Hauptakzent auf dem Substantiv „ DEUTSCH land“ macht klar, dass er als Deutscher das Phänomen in Deutschland nicht verstehen kann. Sein Kommentar in Zeile 27 „ 好奇怪 (hao qi guai)“ verdeutlicht noch einmal, dass er bisher immer noch kein Verständnis für die von Li rekonstruierte Szene aufbringt. Die Einleitung zur Geschichte über Belästigung gelingt also nicht. Die Herstellung eines nötigen Kontextes für die Orientierung des Zuhörers bleibt erfolglos. Im vorherigen Gespräch sprachen sie über Alter und Aussehen von Asiaten. Dabei erzählte Li eine Geschichte aus dem Kino, wo sie von einem serbischen Mann angesprochen und nach ihrem Alter gefragt wurde. Dies bietet zwar schon einen Rahmen im weiteren Sinne, worin die Geschichte über ihre Freundin, die an Bushaltestellen in Deutschland immer von Fremden nach der Telefonnummer gefragt wird, eingebettet werden kann. Aber für das Thema der Belästigung reicht dieser Rahmen noch nicht. Bei der Überleitung des Themas muss es weiter kontextualisiert werden. Der Grund, warum Li scheitert, ihre Geschichte zu kontextualisieren, liegt an ihrem lexikalischen Konzept „leute“ (Zeile 05). Hätte sie „Männer“ statt „Leuten“ sagen können, hätte sich der Zuhörer an ihrem Thema der Belästigung orientieren können. Durch das lexikalische Konzept „Männer“ würde die Geschichte erfolgreich kontextualisiert. Li benutzt hier aber das Konzept „Leute“ als Kontextualisierungshinweis, das den deutschen Muttersprachler irreführt. Mit diesem Konzept werden sich die Muttersprachler eine Szene vorstellen, wo viele fünzigjährige Leute, Männer und Frauen, Lis Freundin nach ihrer Telefonnummer fragen. Es ist festzustellen, dass Lukas dazwischen versucht, sich durch seine Nachfragen an der interaktiven Produktion des Kontextes zu beteiligen. Er fragt nämlich in Zeile 15 nach dem Alter von Lis Freundin. Es gelingt ihm jedoch trotzdem nicht, sich an Lis Geschichte zu orientieren. 4. Erzählanfänge mit Sprichwörtern Während in der deutschsprachigen Literatur über Erzählforschung vor allem meta-narrative Äußerungen, Aufmacher und Orientierungen als Erzählanfänge <?page no="182"?> 182 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem thematisiert werden, findet sich in meinen chinesisch-deutschen Tandemdaten eine besondere Form des Erzählanfangs. Die chinesischen Probanden verwenden in einigen Fällen Sprichwörter, um mit einer konversationellen Erzählung zu beginnen. Das folgende Beispiel aus Lis Daten zeigt, wie sie versucht, den Erzählanfang mit einem chinesischen Sprichwort zu gestalten. Gespräch: Ein türkischer Student ist auf etwas stinkendes getreten. ((Tandemgespräch, 01: 22: 07-01: 23: 55 Sek.)) [01: 22: 07] 01 02 Li: hm gib es ein sprichWORT. äh so wie- 03 Lukas: es GIBT [ein sprichwort.] 04 05 06 Li: [es <<f> ja: . > ] es gibt ein sprichWORT. so wie äh du hat auf etwas (.) geTRET? 07 Lukas: du: und das VERB ist, 08 Li: du hast [auf ] etwas ge(.)TRET? 09 Lukas: [<<p> du hast,>] 10 Li: 踩 是 什么 , cai ist was, wie heißt cai, 11 LQ: 什么 踩 , was für cai, welches cai, 12 Li: 就是 用 脚 踩到 什么 上 那个 踩 ; PTCL mit Fuß treten etwas auf dieses cai; ich meine das Verb, mit dem Fuß auf etwas treten; 13 LQ: ach treten. 14 Li: treten [ja ] geTREten. 15 16 Lukas: [ach.] geTREten. 17 Li: geTREten. 18 Lukas: ich treTE? 19 Li: mhm. 20 Lukas: er TRITT. 21 Li: er TRETT <<p> tritt [tritt.>] 22 Lukas: [und ] ähm geTREten. 23 24 Li: geTREten. du hat.- <?page no="183"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 183 25 Lukas: also auf etwas TREten. 26 27 Li: du hast auf etwas geTREten, [nee.] 28 Lukas: [ähm: ] du BIST auf etwas getreten. 29 Li: ach du bist auf etwas getreTEN? 30 Lukas: [da-] 31 32 Li: [das] beDEUtet, DU hat ähm: du tritt? 33 Lukas: du TRITTST 34 Li: du trittst auf sch: SCHEIße? 35 Lukas: ach okay. 36 Li: das beDEUtet das? 37 Lukas: mhm. 38 Li: ach äh heute? (.) ähm der mitSTUdent aus der türkei. 39 Lukas: HAT heute, 40 41 42 43 Li: ähm GE: stern ja. der mit der mitSTUdent aus der türkei (.) ähmhat GEstern? ähm: (.)in der KURS in [im KURS ] im KURS; 44 Lukas: [<<p> im KURS.> ] 45 46 47 48 Li: ähm gefr geFRAGT. geFRAGT. er sagt. ähm (.) das teppen das teppich [STINKT. ] 49 Lukas: [der teppich.] 50 Li: äh der teppich STINKT. 51 Lukas: stinkt. [01: 23: 55] 52 53 54 Li: stinkt. ähm ich werde ich werde; = = KANN ich ein anderen platz nehmen. In diesem Gesprächsausschnitt zwischen Li und Lukas erzählt Li eine Geschichte über einen türkischen Studierenden ihres Deutschkurses. Das Thema wird von Li initiiert. Vorher sprachen die beiden über das unhöfliche Verhalten heutiger Jugendlicher in Deutschland. Li fängt mit einer Redewendung an, dass jemand in Scheiße tritt. Das ist ein chinesisches Sprichwort und bedeutet, dass jemand Pech hat. Dabei entsteht <?page no="184"?> 184 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem für Li aber ein Formulierungsproblem. Sie wendet sich an ihren Tandempartner Lukas, indem sie in ihrem Redebeitrag „so wie äh du hat auf etwas (.) ge TRET ? “ (Zeile 06) mit einem erhöhten Ton signalisiert. Lis lexikalische Lücke wird durch Lukas’ Frage nach dem Verb (Zeile 07) verdeutlicht. Nachdem Li ihren Redebeitrag einmal wiederholt (Zeile 08) und Lukas wieder nicht verstanden hat, wendet sie sich an die Forscherin, die zur teilnehmenden Beobachtung dabei ist, und zwar auf Chinesisch (Zeile 10 bis 13). Anschließend findet von Zeile 18 bis 28 eine von Lukas initiierte Lehr- und Lernaktivität statt. In Zeile 34 spricht Li schließlich das Sprichwort aus. Die Bearbeitung der lexikalischen Lücke mit einer Expansion der Nachfrage und der Erklärung wird damit beendet. Das Gespräch wird fortgesetzt. Li beginnt, den Verlauf der Geschichte zu erzählen: 40 41 42 43 Li: ähm GE: stern ja. der mit der mitSTUdent aus der türkei (.) ähmhat GEstern? ähm: (.) in der KURS in [im KURS ] im KURS; 44 Lukas: [<<p> im KURS.>] Li kündigt Zeit (Gestern, Zeile 42), Person (der mit STU dent aus der türkei, Zeile 41) und Ort (im kUrs, Zeile 43) an. Betrachten wir ihre daraufhin folgenden Redebeiträge, ist aber keine Relevanzsetzung zu finden. Li nennt einfach die Ereignisse hintereinander, dass der türkische Student den Teppich stinkend findet (Zeile 48) und einen anderen Platz einnehmen möchte (Zeile 54). Zwar werden die für eine Geschichtenerzählung relevanten Informationen wie Zeit, Person und Ort genannt, eine Orientierung für den Zuhörer wird aber nicht gebildet. Lukas liefert bisher keinen Redebeitrag in Bezug auf den Inhalt und konzentriert sich auf die Korrektur, indem er den Artikel des Substantivs „Teppich“ von „das“ auf „der“ richtigstellt (Zeile 49) und die Aussprache des Wortes „stinkt“ berichtigt (Zeile 51). Greifen wir auf das Sprichwort, das Li am Anfang des Gesprächs artikuliert, zurück, stellen wir keinen deutlichen Zusammenhang zwischen diesem Sprichwort und dem Erzählanfang fest. Durch die hier präsentierte Einleitung ist also nicht klar, wohin diese Geschichte führen wird. Der Zuhörer ist in Bezug auf den Inhalt orientierungslos. Verfolgen wir den weiteren Verlauf der Ereignisse, der hier aus Platzmangel nicht präsentiert werden kann, ist zu erfahren, dass es in dieser Geschichte um einen türkischen Studierenden geht, der auf „Mist“ getreten ist. Der türkische Student empfindet in dem Klassenzimmer einen unangenehmen Geruch und hält den Teppich für die Ursache. Aus diesem Grund möchte er den Platz wech- <?page no="185"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 185 seln, doch der Geruch bleibt. Schließlich erkennt er nach dem Platzwechsel die Ursache: der Geruch kommt von seinen Schuhen. Er ist nämlich auf „Mist“ getreten. Dies ist der Ausgangspunkt der Geschichte, den Li zu Beginn mit dem Sprichwort ausdrücken wollte. Offenkundig wollte Li am Anfang die Inhaltsrelevanz der zu erzählenden Geschichte mit dem Sprichwort darstellen. Dies ist ihr jedoch misslungen, denn sie hat damit das Gespräch nicht erfolgreich kontextualisiert. Laut Günthner (1993: 43) ist Kontextualisierung das Verfahren, mittels dessen Interaktionsteilnehmer in ihren Sprechhandlungen Kontext herstellen. Nach Auer (1986: 4) zeigen Sprecher durch die Ausführung ihrer verbalen, para- und nonverbalen Handlungen an, wie sie diese interpretiert wissen wollen und konstruieren dadurch zugleich den Kontext, in den die Handlungen eingebettet werden. In diesem Beispiel versucht Li, mit dem Sprichwort „jemand tritt auf eine Mist“ für das Gespräch einen Kontext zu entwerfen, um den es in ihrer kommenden Erzählung geht, wo jemand auf „Mist“ tritt. Hätte sie bei der Einleitung genauer sagen können, dass ein Mitstudent wirklich auf „Mist“ tritt und dadurch später eine Szene im Klassenzimmer entsteht, könnte sich der Zuhörer daran orientieren und wissen, in welche Richtung die Erzählung gehen würde. Der erste Job der Erzählstruktur wäre damit erledigt. Der Misserfolg der Einleitung könnte einerseits darin liegen, dass Li wegen ihrer beschränkten sprachlichen Kompetenz nicht in der Lage ist, ihre Absicht, nämlich durch das Sprichwort das Gespräch zu kontextualisieren, explizit bekannt zu machen. Andererseits würde Li schnell in den Inhalt der Geschichte einsteigen. Nach der vorherigen Lehr- und Lernaktivität konnte Li nicht mehr lange warten, zum Inhalt der Erzählung vorzustoßen. In Anlehnung an Kotthoff (1991) möchte ich dieses Phänomen als „Botschaftsfixierung“ (Kotthoff 1991: 391) bezeichnen. Darunter ist zu verstehen, dass, solange die Aufmerksamkeit des Sprechers vollständig auf die Inhaltsgestaltung gerichtet wird, andere Gesprächselemente an Bedeutung verlieren. Es könnte auch sein, dass die Erzählerin dem Erzählfluss zuliebe auf die Erklärung des Zusammenhangs zwischen Sprichwort und der darauf folgenden Geschichte verzichtet hat. <?page no="186"?> 186 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 4.5.1.2 Kompetente Gestaltung der Erzählanfänge Neben lernersprachlichen Gestaltungen der Erzählanfänge kommt es im vorliegenden Datenmaterial zu wenigen gut aufgebauten Geschichtenanfängen. Sie sind ausschließlich in Les Daten zu sehen. Darauf gehe ich mit ihrer Witzerzählung exemplarisch ein. Gespräch: ein Witz über Deutsche ((Tandemgespräch, 17: 53-19: 20 Sek.)) [17: 53] 01 02 Le: was pasSIERT, wenn dein haus in FEUer ist. 03 Max: ähm rufe ich die FEUerwehr; 04 Le: und DANN? 05 06 Max: ähm löscht die FEUerwehr in meinem haus; und dann gehe ich zur verSIcherung. 07 Le: hehe <<f> ja > immer verSIcherung. 08 Max: ((lacht)) 09 10 Le: auch der WITZ sagt; ja in einem gebäude leben viele leute aus aus verSCHIEdenen ländern ja. 11 Max: [mhm.] 12 Le: [äh: ]äh eines tages ist das haus ähm: : geFEUert? 13 Max: ach abgeBRANNT. 14 Le: abgeBRANNT. 15 Max: oder steht im FEUer. 16 17 18 19 Le: hm im FEUer stehen. ((4.0)) ähm die JUden nehmen ihre geldbeutel, und dann die LAUfen weg. 20 Max: ((lacht)) 21 22 23 24 25 Le: und der franZÖse, äh er RETtet seine liebling? und der chinese SUCHT äh seine mutter; das alle ja ja. weil die mutter der chinesen ist (xxx) sehr WICHtig. 26 Max: ach. 27 Le: und noch der ameriKAner mit seine hund. 28 Max: ((lacht)) <?page no="187"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 187 29 30 Le: nur der DEUtsche sagt. <<f> ich habe verSIcherung? > 31 32 Max: hahahaha achso ziemlich STOLZ; 33 Le: [haha- ] 34 Max: [hahaha-] 35 Le: immer verSIcherung [ja. ] 36 Max: [hahaha-] 37 Le: du hast AUCH gesagt. [19: 20] 38 39 40 Max: ja. ja ich habe es schon FAST gedacht. haha- Le erzählt ihrem Tandempartner einen Witz. Es geht um einen Hausbrand und die verschiedene Reaktionen von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen. Die Pointe spielt darauf an, dass Deutsche für und gegen alles versichert sind. Am Erzählanfang deutet Le durch Fragen geschickt auf diese Pointe hin. Le stellt ihrem Tandempartner zuerst die Frage „was pasSIERT, wenn dein haus in FEUer ist.“ (Zeile 01, 02). Nachdem Max mit „ähm rufe ich die FEU erwehr“ (Zeile 03) antwortet, fragt Le mit „und DANN ? “ (Zeile 04) weiter. Darauf sagt Max „ähm löscht die FEU erwehr in meinem haus; und dann gehe ich zur ver SI cherung.“ (Zeile 05, 06). Darauf äußert Le lachend „immer ver SI cherung.“ (Zeile 07). Mit dem Beitrag „auch der WITZ sagt; “ (Zeile 09) erzählt Le dann den Witz. Die Pointe der Erzählung wird von Le durch das Vorspiel, besonders durch die Wiederholung des Wortes „Versicherung“ angezeigt. Die verborgene Botschaft in der Pointe ist aber verständlich, wenn die Geschichte hervorgebracht wird. Das dialogische Vorspiel führt dazu, dass die überraschende Wendung in dem Witz den muttersprachlichen Gesprächspartner persönlich involviert. Als Erzählanfang für einen Witz ist das kompetent gestaltet. 4.5.2 Dramatisieren (Redewiedergabe) Erzählen ist keine Sachrekonstruktion, sondern eine Reinszenierung des Erlebten. Hausendorf / Quasthoff (1996) benutzen dafür den Begriff replaying von Goffman (1974). Ihn hat Goffman folgendermaßen beschrieben: A tale or an anecdote, that is, a replaying, is not merely any reporting of a past event. In the fullest sense, it is such a statement couched from the personal perspective of an actual or potential participant who is located so that some temporal, dramatic development of the reported event proceeds from that starting point. A replaying will therefore, incidentally, be something that listeners can empathetically insert themselves into, vicariously <?page no="188"?> 188 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem reexperiencing what took place. A replaying, in brief, recounts a personal experience, not merely reports on an event. (Goffman 1974: 504) Demnach produziert der Erzähler ein vergangenes Ereignis lebendig, indem er neben Mimik oder Gestik sprachliche Mittel der szenischen Repräsentation, wie z. B. Wiederholungen (Norrick 2000, Tannen 2007), Redewiedergaben (Günthner 1997a, Tannen 2007) verwendet. In der neueren sprachwissenschaftlichen Erzählforschung im deutschsprachigen Raum beschäftigen sich Konversationsanalytiker hauptsächlich mit muttersprachlichen Reinszenierungen. Eine Untersuchung über szenische Repräsentationen von nichtmuttersprachlichen Erzählern steht noch aus. In der vorliegenden Arbeit möchte ich genau auf diesen Aspekt eingehen. Konkret analysiere ich anhand meiner transkribierten Daten solche Redewiedergabe, die ein wichtiges Dramatisierungsmittel für die Detaillierung und die szenische Ausgestaltung darstellt. Redewiedergabe Unter Redewiedergabe versteht man die Art und Weise, wie die Rede einer anderen Person von einem Sprecher / Schreiber wiedergegeben wird. In der literaturwissenschaftlichen und linguistischen Forschung wird traditionellerweise zwischen direkter und indirekter Rede als Formen der Redewiedergabe unterschieden, wie folgende Tabelle zeigt: Direkte Rede Indirekte Rede Linda sagte: „ich habe kein Geld.“ Linda sagte, dass sie kein Geld habe. Dies sind zwei Möglichkeiten, die einem Sprecher A zur Verfügung stehen, wenn er einem Hörer B mitteilen möchte, wie Linda ihren finanziellen Zustand beschreibt. Direkte Rede ist im schriftlichen Bereich wortgetreu wiedergegebene Rede. Eine Rede oder ein Gedanke wird im Wortlaut wiedergegeben und deiktisch in der erzählten Welt verankert. In der schriftlichen Sprache wird diese Rede in Anführungszeichen gesetzt. In der mündlichen Sprache ist zwar kein Anführungszeichen vorhanden, aber direkte Rede reproduziert verschiedene „expressiv-emotive Elemente der Originaläußerung“ (Günthner 2000d: 2), die man in der schriftlichen Sprache mittels Beschreibungen (z. B. rufen, mahnen, schreien), Lautmalerei (z. B. knallen, rumpeln, rauschen, klirren, bellen), Sprachenvarienten (z. B. Dialekte, Fremdsprachen) ausdrücken kann. Nach Kotthoff (2008) kann die direkte Redewiedergabe alle Spuren des Mündlichen tragen, von Interjektionen (z. B. na als Auftakt) über Varietätenspezifik bis hin zu syntakti- <?page no="189"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 189 schen Besonderheiten des Mündlichen. Die direkte Redewiedergabe ist deutlich formorientiert. Der Erzähler kann Stilisierungen einbauen. Bei indirekter Rede kann die Wiedergabe der Äußerung entweder wortgenau oder verändert gegenüber dem Original sein. Deiktisch ist sie in der Erzählwelt verankert. In der schriftlichen Sprache wird sie nicht in Anführungszeichen gesetzt, sondern durch eine untergeordnete Satzstellung (z. B. durch den mit einem Subjunktor „dass“ eingeleiteten Satz) gekennzeichnet. Nach Günthner (2000d: 2) gibt es im Deutschen die Möglichkeit, auf syntaktische Unterordnung zu verzichten und stattdessen den Konjunktiv zur Markierung indirekter Rede einzusetzen. Während in der direkten Rede verschiedene expressiv-emotive Elemente rekonstruiert werden, wird in der indirekten Rede primär der Inhalt wiedergegeben. In ihrer Studie zu Formen der Redewiedergaben in deutschen Alltagsgesprächen hat Günthner (1997, 2000d) zahlreiche Hybridformen herausgefunden. Günthner (2000d) schreibt: In der Alltagskommunikation treten neben den traditionell als direkte und indirekte Rede bezeichneten Wiedergabemustern zahlreiche Hybridformen auf, wobei neben der deiktischen Verankerung, der Modusverwendung (Indikativ bzw. Konjunktiv) und der syntaktischen (Un)Abhängigkeit auch prosodisch-stimmliche Aspekte und die strategische Verwendung sprachlicher Varietäten eine zentrale Rolle spielen. (Günthner 2000d: 3) Unter Berücksichtigung der „prosodisch-stimmlichen Verfahren und Codeswitching-Techniken“ (Günthner 2000d: 20) hat die Autorin verschiedene Varianten zwischen der direkten 5 und indirekten 6 Redewiedergabe im traditionellen Sinn präsentiert. Aufgrund der Differenzierung zwischen direkter Rede und Originaläußerung stellt Günthner (1997) folgende Varianten der direkten Redewiedergabe dar: - zitierte Figuren sprechen ‚im Chor’ - Redewiedergabe zur Illustration wiederkehrender Äußerungen - vage Referenzen und explizite Distanzierungen der Sprechenden - „Übersetzung“ des Codes - nicht-lexikalische Zitate - Redewiedergaben aus zweiter Hand - direkte Rede in fingierten Dialogen. 5 Siehe Günthner (1997). 6 Siehe Günthner (2000d). <?page no="190"?> 190 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem Anhand der Daten von aufgezeichneten Alltagsgesprächen nennt Günthner (2000d) folgende Formen der indirekten Redewiedergabe: (1) eingeleitete indirekte Rede mit Subjunktor und Verbendstellung Gespräch: Drecksarbeit (Baden-Württemberg) 12 Ute: sie [hat] gsagt dass sie mitkäm. (zitiert aus Günthner 2000d: 9) (2) eingeleitete indirekte Rede ohne Subjunktor und ohne Verbendstellung Gespräch: Autofall (Telefongespräch; Baden-Württemberg ) 111 Lisa: =und der sagte mir; 112 ja=aufn=erschten=BLICK=hätt=ers=au=↑NICH=gesehn.= 113 =des=sei=unterhalb=der=STOßSTANGE. (zitiert aus Günthner 2000d: 10) (3) uneingeleitete, syntaktisch autonome indirekte Rede Gespräch: Schwarzschaffe (Baden-Württemberg) 44 Thea: i han (zum willi) au gesagt; 45 du bisch ble: d 7 . 46 ja er dät dene no alles mo: l hoimzahle. (zitiert aus Günthner 2000d: 13) Nach diesem Untersuchungsergebnis meint Günthner (2000d: 19), es erscheine sinnvoller, von einem Kontinuum auszugehen, das von maximaler Direktheit zu maximaler Indirektheit reicht, statt zwei kategorisch voneinander getrennte Arten der Redewiedergabe (direkte Rede vs. indirekte Rede) zu postulieren. Das Kontinuum zwischen direkter und indirekter Redewiedergabe von Günthner lässt sich folgendermaßen darstellen: Redewiedergabe maximal indirekt maximal direkt deiktische Verankerung: Erzählwelt Figurenwelt 7 „Bled“ ist dialektal für „blöd“. <?page no="191"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 191 Redeeinleitung: vorhanden nicht vorhanden Verb in Redeeinleitung: „ungesättigt“ „gesättigt“ Subjunktor / Verbstellung: Subjunktor / Verbendstellung kein Subjunktor / Verbendstellung Modus: Konjunktiv Indikativ Hauptsatzphänomene: nicht vorhanden vorhanden Exklamations-und Dialogpartikel: nicht vorhanden vorhanden Prosodie: Redewiedergabe ist prosodisch integriert Redewiedergabe ist prosodisch unabhängig sprachl. Varietät: unmarkiert Codeswitching Abb. 1: Parameter zur Charakterisierung des Kontinumms zwischen direkter und indirekter Redewiedergabe Funktion der Redewiedergabe Direkte Rede spielt in „allen Arten von szenischer Erzählung“ eine wichtige Rolle (Kotthoff 2008). Brünner spricht vom Vorführungscharakter der direkten Redewiedergabe (1991: 7). Die Charaktere in der erzählten Welt werden identifiziert, indem ihre eigene Rede, einschließlich Tonhöhe, Sprechtempo, Lautstärke, Stimme, Merkmale der Sprachenvarianten wiedergegeben wird. Dies stellt sich wie eine Zoom-Technik (Kotthoff 2008) dar, wodurch sich der Charakter der Figuren in der erzählten Welt anschaulich abhebt. Ferner führt dies zur Kontextualisierung der Erzählung. Eine weitere Funktion der direkten Rede ist das Involvierungsverfahren (Tannen 2007). Unter Involvierung versteht man „an internal, even emotional connection individuals fell which binds them to other people as well as to places, things, activities, ideas, memories, and words“ (Tannen 2007: 27). Nach Chafe (1985: 116) geht es in Involvierungsverfahren um drei Ebenen, nämlich Selbstinvolvierung des Erzählers, interpersonale Involvierung zwischen Erzähler und Zuhörer und Involvierung des Erzählers mit dem zu erzählenden Inhalt. Mit Selbstinvolvierungen des Erzählers sind zumeist Äußerungen mit Personalpronomen in Form der ersten Person (wie ich, mich, wir, mein, unser ) gemeint. Solche Äußerungen (wie „ich finde das seltsam“, „wir waren schockiert“) zeigen den mentalen Prozess des Erzählers. Interpersonale Involvierung zwischen Er- <?page no="192"?> 192 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem zähler und Zuhörer zeichnen sich hingegen durch die Personalpronomen in Form der zweiten Person, durch Reaktionen auf die zuhörerseitige Frage oder eine Fragestellung an den Zuhörer zur Bestätigung (wie ok? , oder? , weißt du? ) aus. Dadurch wird die Interaktion zwischen Erzähler und Zuhörer erzeugt. Unter Involvierung des Erzählers mit dem zu erzählenden Inhalt ist zu verstehen, dass der Erzähler sein Interesse an dem Erzählobjekt durch expressive Wörter, Zitate oder bestimmte Partikels (wie halt, echt ) ausdrückt. Direkte Redewiedergabe ist ein wichtiges Mittel, das diese Involvierungsebenen aktivieren kann. In der Forschung zu direkter Redewiedergabe wird betont, dass die direkt zitierte Rede nicht unbedingt wortgenau wiedergegeben wird. Nach Tannen (2007) ist die wiedergegebene Rede nicht „reported speech“, sondern „constructed dialogue“ (Tannen 2007: 111). In der zitierten Rede dekontextualisieren die Erzähler Äußerungen aus ihrem ursprünglichen Kontext und rekontextualisieren sie in einer aktuellen Situation. Die Bedeutung der ursprünglichen Äußerung wird sich ändern, wenn der Kontext verändert wird. Tannen meint, dass die konstruierten Dialoge „an active, creative, transforming move which expresses the relationship not between the quoted party and the topic of talk but rather the quoting party and the audience to whom the quotation is delvered“ (Tannen 2007: 111) repräsentieren. Auch Günthner (1997) vertritt die Meinung, dass sich die Stilisierungsabsicht des Erzählers mittels „Überlagerung der Stimmen“ (Günthner 1997b) in die direkte Rede einschleicht. Sie schreibt: auch wenn zitierte Rede zur Authentizitätsbekundung beiträgt und bereits in der klassischen Rhetorik als Mittel der „evidentia“ betrachtet wird, repräsentiert sie meist eine Stilisierung der ursprünglichen Äußerung. (Günthner 1997b: 8) Das heißt, die Rekonstruktion der vergangenen Geschichte bringt neue Relevanz und Orientierung mit sich und die Perspektive des Erzählers kann damit in die konversationelle Erzählung einfließen. „Modifikation“ und „adjustment“ (Günthner 2005) werden in dem Prozess der Rekonstruktion der Vergangenheit durchgeführt, je nach dem aktuellen Kontext. Während direkte Rede ein Vorführungsverfahren und daher „eine Sprache der Nähe“ (Kotthoff 2008) darstellt, gilt indirekte Rede meist als Distanzierungsverfahren. Anders als direkte Rede, die deutlich formorientiert ist, zielt indirekte Rede auf Übermittelung der referentiellen Botschaft ab. Die zweite Funktion der indirekten Rede, die in der Forschung zur Redewiedergabe traditionellerweise betont wird, ist, dass die Perspektive des Erzählers in die indirekte Rede auch eingebracht wird (Banfield 1982). Während der Erzähler sich von der zitierten Rede und Person distanziert, schleicht sich seine eigene Perspektive in die indirekte Rede ein. <?page no="193"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 193 Die linguistische Forschung zur Redewiedergabe betont, dass expressiv-emotive Elemente ein Unterscheidungsmerkmal zwischen direkter und indirekter Rede sind und die Expressivität in der indirekten Rede nur durch Redeeinleitung (z. B. verbum dicendi) übersetzt wird (Mayers 1990, Lucy 1993). Günthner (2000d) hat in ihrer Forschung darauf hingewiesen, dass expressive Momente nicht auf die direkte Rede beschränkt sind und nicht in Form einer „Übersetzung“ in die Redeeinleitung integriert werden müssen. Der Erzähler kann zur Inszenierung vergangener Gespräche auch indirekte Rede verwenden. Die Expressivität wird mittels syntaktisch autonomer Wiedergabeformen und / oder der prosodisch-stimmlichen und codespezifischen Markierung in Form indirekter Rede ausgedrückt. Dazu betrachten wir den folgenden Ausschnitt: Gespräch: Karfreitag (Baden-Württemberg) 72 Doris: na sagte er (ach) wie das in solchen fällen so seine A: RT ist. (0.5) 73 (na sagt er dann) 74 <<schnippisch>↑’NEIN. ER HÄTTE SEINE GRÜNDE.> 75 Bert: hahahahahahahaha[hahaha ] 76 Doris: <<schnippisch> die möchte] er respektiert wissen.> hihi 77 Bert: ah ((ha))ja. 78 Anne: hat er [die dann vorgeBRACHT? ] 79 Doris: [(und dann) kuckt er so] BELEIDIGT hihi wenn man ((hi)) 80 nach den GRÜNDEN fragt. (zitiert aus Günthner 2000d: 16) Hier gibt Doris ab Zeile 74 die Äußerung ihres Freundes wieder. Mittels der Exklamationspartikel „↑’ NEIN .“ (Zeile 74) und der prosodisch-stimmlichen Verfahren (schnippisch klingende Stimme) rekonstruiert sie die expressiven Elemente in der erzählten Welt in Form der indirekten Redewiedergabe. Wir sehen, dass die Redewiedergabe reichhaltige Möglichkeiten für die Darstellung der Protagonisten und die Positionierung des Erzählers bietet. Anhand meiner transkribierten Daten führe ich eine Konversationsanalyse der Redewiedergaben der chinesischen Lerner im Tandem durch. Konkret gehe ich auf die stimmliche Differenzierung ein, die im vorliegenden Datenmaterial besonders augenfällig ist. Durch die stimmlichen Mittel, die aktiviert werden, schreibt der Erzähler den Protagonisten, deren Reden er wiedergibt, bestimmte Merkmale <?page no="194"?> 194 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem zu. Zugleich zeigt er damit seine Haltung dazu. Meine Untersuchung ergibt, dass die chinesischen Lerner in meinem Korpus sowohl gut gestaltete als auch defizitäre Redewiedergaben produzieren. Nachstehend stelle ich meine Untersuchungsergebnisse dar. 4.5.2.1 Problematische Gestaltung der Redewiedergabe In den Tandemdaten sind zahlreiche problematische Gestaltungen der Redewiedergabe zu beobachten. Vor allem bei Ting und Li, die niedriges Sprachniveau haben, kommen meistens defizitäre Redewiedergaben in ihren konversationellen Erzählungen vor. Ihre Defizite bei der Gestaltung der Redewiedergabe liegen hauptsächlich darin, dass sie die direkte Rede stimmlich teilweise oder ganz undifferenziert ausgestalten. Auch bei der Rekonstruktion der direkten Rede kommt es mitunter zu sprachlichen Problemen. 4.5.2.1.1 Stimmlich undifferenzierte und sprachlich defizitäre direkte Rede Die Untersuchung ergibt, dass die chinesischen Probanden mit niedrigem Sprachniveau häufig direkte Rede produzieren, ohne sie stimmlich von der allgemeinen Darstellung der Geschichte abzuheben. Außerdem finden sich in manchen Fällen deutlich sprachliche Schwierigkeiten, die die Gestaltung der Redewiedergabe beeinträchtigen. Dafür zitiere ich zuerst das erste Beispiel aus Tings Daten, in dem sie Linda von einem Unfall erzählt. Gespräch: ein Unfall ((Tandemgespräch, 00: 02-01: 43 Sek.)) [00: 02] 01 02 Linda: erZÄHL noch mal von anfang an? [was]ist pasSIERT, 03 04 05 06 07 08 09 Ting: [ja? ] ich habe ein ein frau ein für siebzig jahre frau geSEhen? alte frau geSEhen? °sie war- es gibt- weisst du es gibt ein ein ein ALdi in der zweiten (.)etage von alter messeplatz? so die halteSTADT ähm von- 10 Linda: ach [des- ] 11 Ting: [ja ja.] 12 13 Linda: äh ja. [mhm.] <?page no="195"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 195 14 15 Ting: [ja. ] und äh die frau hat ihre (.) BEIN verletzt ganz schwer verletzt. 16 Linda: weil sie geSTÜRZT auf der roll [treppe? ] 17 18 Ting: [ja ja ] geNAU. und ähm habe ich VIEL VIEL blut- 19 Linda: ach wie FURCHTbar; 20 21 22 23 Ting: ja FURCHTbar; echt FURCHTbar; 真 的 很 多 血 啊 我 跟 你 说 .= echt sehr viel Blut PTCL ich zu dir sagen.= echt sehr viel Blut, ich sage dir.= = 地 上 全 是 血 ; auf dem boden überall ist Blut; auf dem Boden ist überall Blut; 24 25 Linda: oh FURCHTbar; war dann schon KRANkenwagen da oder? 26 27 28 Ting: ich glaube äh sie hat erst FRÜher schon mal verletzt. und irgenwas hat sie noch mal verletzt. [heute-] 29 Linda: [okay, ] 30 Ting: heuteVORmittag. 31 Linda: oh JE, 32 33 34 35 Ting: und - (1.9) ich FREUe mich. weil die ANderen leute hat die ähm ähm krankenhaus angeruft und sie komm gleich, 36 Linda: [ja; ] 37 38 39 40 Ting: [und-] ich glaube, sie hat die frau schon noch noch mal SAgen so; hast so so kann kannst du mich äh HÖren? 41 Linda: mhm. <?page no="196"?> 196 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem [01: 43] 42 43 44 45 46 Ting: und die die FRAU nicht so (.) nicht so so so- 还 还 没有 失去 意识 ; noch noch nicht verloren Bewusstsein; hat ihr Bewusstsein noch nicht verloren; 还 能够 回答 他 . noch konnte antworten ihm. konnte ihm noch antworten. sie kann die die die endlich noch antWORten. ich glaube es nicht so SCHWER; In diesem Gesprächsausschnitt erzählt die chinesische Studentin Ting ihrer deutschen Tandempartnerin Linda von einem Unfall. Im Café berichtet Ting sofort, was sich kurz zuvor ereignete. Vermutlich hatte Linda den Anfang nicht verstanden und bittet sie um Wiederholung der Geschichte. Mit dem Gesprächspartikel „ja? “ (Zeile 03) als Startssignal erzählt Ting den Unfall von Beginn an. Trotz Formulierungsschwierigkeiten schafft Ting, Person und Ort in ihrer Geschichte anzukündigen. Lindas Redebeiträge „[ach des-]“ (Zeile 10) und „äh ja.“ (Zeile 12) signalisieren, dass sie sich mit dem von Ting angekündigten Ort identifiziert. In Zeile 15 nennt sie das Thema, nämlich dass eine Frau, die Ting in Zeile 4 als „alte frau“ (Zeile 04) attribuiert, schwer verletzt wurde. Mit Lindas Reparatur wird die Ursache des Unfalls dargestellt (Zeile 16). Ting beginnt die Erzählphase „Dramatisieren“ (Hausendorf / Quasthoff 1996) durch den Satz „und ähm habe ich VIEL VIEL blut -“ (Zeile 18). Interessant ist, dass sie nach ihrem Redebeitrag „ja FURCHT bar; echt FURCHT bar; “ (Zeile 20, 21) plötzlich vom Deutschen ins Chinesische wechselt. Die beiden Redebeiträge auf Chinesisch in Zeilen 21 und 22 sind hoch affektiv aufgeladen, indem die Sprechgeschwindigkeit deutlich schneller ist und die Lautstärke ansteigt. Das Code-switching hier könnte darin begründet sein, dass Ting wegen ihrer beschränkten Sprachkompetenz auf Deutsch die dramatische Szene nicht illustrieren kann. Um die spannende Situation so schnell wie möglich darzustellen, wechselt sie plötzlich in ihre Muttersprache. Lindas Frage „war dann schon KRAN kenwagen da oder? “ (Zeile 24) hilft Ting, ihre Erzählung weiter aufzubauen. In der darauf folgenden Szene, in der der Krankenwagen eintrifft, rekonstruiert Ting eine Äußerung der zitierten Figuren. Zeile 36 bis Zeile 38 enthält die wiedergegebene Rede. Ting beginnt mit „ich glaube“ (Zeile 38) die vorangegangene Äußerung zu rekonstruieren. Das bedeutet, dass sie sich nicht sicher ist, ob die zitierten Figuren dies wirklich gesagt haben. Was Ting rekonstruieren will, ist nicht die Originaläußerung der Figuren in der erzählten Welt, sondern ihre Vermutung. Sie weiß nicht genau, <?page no="197"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 197 was das Pflege-Team aus dem Krankenwagen sagte. Sie vermutet, was es hätte sagen können. Mit dem verbum dicendi „sagen“ (Zeile 38), was hier jedoch falsch benutzt wird, führt Ting ihre direkte Rede in Form einer Frage ein. Allerdings ist in ihrer Redeeinleitung nicht klar, auf wen sie mit dem Personalpronomen hinweist. Vermutlich meint sie damit das Pflege-Team, das mit dem Krankenwagen gekommen ist und von Ting in Zeile 33 erwähnt wurde. Aber in diesem Gespräch ist das nicht festzustellen. Ting produziert am Ende der Redeeinleitung die Interjektion „so“ (Zeile 39). Nach Kotthoff (1997) funktioniert „so“ in einer Nominalphase in der gesprochenen Sprache des Deutschen als Appell, sich den Referenten als bekannt vorzustellen. In meinen Daten ist Ting jedoch die einzige Probandin, die häufig dieses „so“ benutzt. Funktionell ist Tings „so“ vielfältig. An der rekonstruierten direkten Rede „hast so so kann kannst du mich äh HÖren? “ (Zeile 40), ist deutlich festzustellen, dass Ting Formulierungsschwierigkeiten hat. Dieses „so“, das hier zweimal auftaucht, wird als ein Verzögerungslaut interpretiert. Mit einer Selbstreparatur „hast so so kann kannst“ drückt sie die zitierte Äußerung aus. Bemerkenswert ist, dass die zitierte Figur die verletzte Frau nicht siezt, sondern duzt, was in dieser Situation nicht angemessen ist. In der deutschen Sprache ist grundsätzlich bei neuen Kontakten zunächst das „Sie“ die korrekte Ansprache. Sicherlich gibt es einige Bereiche (wie z. B. unter Studierenden, jungen Lehrerinnen und Lehrern u. a.) oder Branchen (wie z. B. Angestellten bei der Bahn, Polizisten), in denen das Duzen an der Tagesordnung ist. Aber in dieser Situation, wo das Pflege-Team die verletzte Fran anspricht, ist sicherlich das Siezen die korrekte Ansprache. Während diese direkte Rede von der Struktur her Tings sprachliche Probleme zeigt, ist sie auch stimmlich undifferenziert. In dieser rekonstruierten direkten Redewiedergabe sind keine Veränderungen hinsichtlich Stimmqualität, Lautstärke, Intonationsverlauf, Sprechtempo zu erkennen. Ting produziert diese zitierte Äußerung auf dieselbe Sprechweise, wie sie den Unfall erzählt. Ein möglicher Grund könnte in Tings begrenzter deutscher Sprachkompetenz liegen. Der daraufhin auf Chinesisch vervollständigte Redebeitrag verweist noch einmal auf ihre ungenügenden deutschen Sprachkenntnisse. Während es hier um die Redewiedergabe derselben Sprache geht, ist in meinen Tandemdaten oft „Übersetzung des Codes“ (Günthner 1997a: 231) zu be- <?page no="198"?> 198 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem obachten. Mit dem zweiten Beispiel möchte ich illustrieren, wie die sogenannte „Übersetzung des Codes“ gestaltet wird. Gespräch: mein Chef ((Tandemgespräch, 40: 40-41: 20 Sek.)) [40: 40] 01 Linda: erZÄHL mal hast du in letzter zeit mal schon film gesehen oder so? 02 03 04 05 06 Ting: FILM? LETZT mal nee; bis jetzt habe ich noch KEIne zeit. ja mein mein mein CHEF ist jetzt in china, [aber-] 07 Linda: [mhm. ] [41: 20] 08 09 10 11 12 13 14 15 Ting: aber er wird JEden tag mich einmal checken, so wie WAS hast du heute getan? hast du mir äh hast du mich was ich brauche mich äh SCHIcken? er wird JEden tag mich sagen so. hm ich habe KEIne zeit. und wenn wenn wenn alles über mein arbeit FERtig sind; muss ich noch mein mein arbeit arbeit so die die BÜcher über meine arbeit lesen; so. In dieser Gesprächssequenz zwischen Ting und Linda beklagt sich Ting über ihren Chef. Auf Lindas Frage „er ZÄHL mal hast du in letzter zeit mal schon film gesehen oder so? “ (Zeile 01) antwortet Ting, dass sie keine Zeit hatte. Anschließend erzählt sie von Hochbetrieb in ihrem Minijob. Während des Studiums in Deutschland macht Ting einen Minijob in einer Firma. Ihr Chef ist Chinese. Sie ist für Büroarbeit zuständig und arbeitet zwei Tage pro Woche. Von Zeile 08 bis Zeile 10 rekonstruiert Ting die Äußerungen ihres Chefs. Auffallend ist, dass sie diese direkte Rede ohne verbum dicendi einführt, indem sie „aber er wird JEden tag mich einmal checken,“ (Zeile 08) sagt. Mit „so wie“ (Zeile 09) leitet sie die zitierten Äußerungen ein. Das bedeutet, Ting rekonstruiert hier nicht die Ausführungen ihres Chefs in einem einzelnen Fall, sondern seine häufigen Wiederholungen (ab Zeile 09). In dieser rekonstruierten Redewiedergabe geht es um „Übersetzung des Codes“ (Günthner 1997a: 231), der hier rezipientenorientiert ist. Ihr chinesischer Chef spricht Chinesisch mit ihr. Die Zuhörerin Linda versteht zwar auch <?page no="199"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 199 Chinesisch, aber die beiden befinden sich in einer Tandeminteraktion, die von ihnen als eine deutschsprachige Situation vereinbart ist. Daher passt sich Ting dieser Situation an und übersetzt die Originaläußerungen vom Chinesischen ins Deutsche. In den wiedergegebenen Äußerungen ihres Chefs in Zeile 09 und Zeile 10 bemerken wir Tings sprachliche Formulierungsschwierigkeiten. In Zeile 10 überlegt Ting durch die Korrektur von „mir“ auf „mich“ offensichtlich den Kasus. Darüber hinaus ist die Satzstruktur problematisch. Offenkundig versucht Ting, mit ihrem Beitrag „was ich brauche“ (Zeile 10) einen Relativsatz zu bauen. Jedoch gelingt es nicht. Schließlich bietet sie nach einer kurzen Überlegung, die durch den Verzögerungslaut „äh“ signalisiert wird, das Verb „schicken“ als Lösung an. Ting sucht vermutlich während des Verzögerungslauts „äh“ ein semantisch passendes Wort und spricht es („schicken“) sofort aus, ohne über seine grammatische Form in diesem Satz nachzudenken. Während die direkte Rede in diesem Beispiel deutliche sprachliche Defizite zeigt, ist ihre Stilisierung in Bezug auf Prosodie, Stimmqualität, Animation, Intonationsverlauf, Lautstärke kaum zu beobachten. Hätte Ting diese Äußerungen mit stimmlich-prosodischen Verfahren in einem ärgerlichen Tonfall wiedergeben können, könnte die zitierte Figur, nämlich ihr Chef, anschaulich illustriert und ihre eigene Einstellung ausgedrückt werden. Aber da Ting noch viele sprachliche Schwierigkeiten zu bewältigen hat, ist die von ihr rekonstruierte Rede kaum affektiv aufgeladen. 4.5.2.1.2 Stimmlich undifferenzierte direkte Rede Die folgenden Transkriptausschnitte veranschaulichen, dass der Mangel der stimmlichen Differenzierung direkter Redewiedergabe zum fehlenden Kontrast der zitierten Protagonisten und zum unklaren Thematisieren führen kann. Gespräch: nachtblind ((Tandemgespräch, 56: 04-57: 29 Sek.)) [56: 04] 01 Lukas: vor was hast du am meisten ANGST? 02 Li: äh: : : DUNkel; 03 Lukas: DUNkel? 04 Li: ich bin dunkelBLAND. 05 06 Lukas: oh: nachtBLIND. 07 Li: ah nachtbland. 08 Lukas: nachtBLIND. <?page no="200"?> 200 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 09 10 Li: nachtBLIND. <<p> dunkel: > 11 12 13 14 15 16 17 Lukas: und was heißt das geNAU, wenn es DUNkel wird; dann siehst du GAR nichts, (2.0) dann ist es naTÜRlich; dass man ANGST hat. wenn man GAR nichts mehr sieht. 18 19 20 Li: ja. hm al als ich vielleicht DREI zwei oder drei jahr jahre alt war? dann (.) kann ich selbst LAUfen. 21 Lukas: KONNte [ich selbst laufen. ] 22 23 24 25 26 27 28 29 Li: [KONNte ich selbst laufen.] wenn wenn äh in der NACHT, kann ich NICHT sehen; dann habe ich das geSAGT. ich kann NICHT sehen. aber ZUERST alles alle gesagt. du bist ein KIND. vielleicht ein kind äh würde nicht aLLEIne etwas machen; 30 Lukas: mhm. 31 Li: in der nacht. 32 Lukas: mhm mhm. 33 34 35 Li: dann als ich vier drei oder VIER jahre alt. war äh FINdet meine mutter; dass ich bin NACHT- 36 Lukas: dann dann fand sie das heRAUS; 37 Li: ja fand sie das heRAUS; 38 Lukas: 她 发现 . sie fand heraus. sie fand heraus. 39 Li: mhm. 40 Lukas: mhm. [57: 29] 41 Li: dann habe ich viele chinesische medizin ge- GESsen. Hier möchte ich diese Gesprächssequenz zwischen Li und Lukas über Nachtblindheit als Beispiel nennen. In diesem Transkriptausschnitte rekonstruiert <?page no="201"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 201 die chinesische Studentin Li einen Dialog zwischen sich und Erwachsenen in ihrer Kindheit. Den rekonstruierten Dialog leitet Li in Zeile 25 mit dem verbum dicendi „sagen“ ein. Diese Redeeinleitung ist die von Li am häufigsten benutzte Art von Einleitung direkter Rede. Die zitierte Äußerung „ich kann NICHT sehen“ (Zeile 26) schließt sich direkt an. Obwohl sie dem Kontext nach im Kindesalter, ungefähr „zwei oder drei jahre“ (Zeile 19) alt ist, wird dies nicht im kindlichen Tonfall produziert. Eine deutlich stimmliche Kennzeichnung zur Markierung der Kindersprache gibt es nicht. Emotionale Elemente, die ein Kind in der Dunkelheit spüren kann und die mittels prosodisch-stimmlichen Verfahrens in direkter Rede geäußert werden können, sind ebenfalls nicht vorhanden. Hätte Li diese Aussage z. B. in einem animierten kindlichen Tonfall formulieren und dies durch bestimmte stimmliche Verfahren in Bezug auf Angst und Nervosität stilisieren können, würde der Zuhörer Lukas ganz nah an diese Szene herangehen. Leider trägt Lis direkte Rede keine Spuren dieser mündlichen Elemente. Hinsichtlich des Mangels der Mündlichkeit ist die wiedergegebene Rede zwar von der Form her (deiktisch in der erzählten Welt) eine direkte Rede, aber sie erfüllt im engeren Sinne die Voraussetzungen direkter Rede in mündlicher Erzählung nicht. Anschließend wird die Reaktion der anderen auf die Äußerung der Protagonistin rekonstruiert. Die direkte Rede wird wieder mit dem verbum dicendi „sagen“ (Zeile 27) eingeleitet. Daraufhin taucht die zitierte Äußerung „du bist ein KIND . vielleicht ein kind äh würde nicht al LEI ne etwas machen“ (Zeile 28, 29) auf. Offenbar ist diese Redewiedergabe deiktisch in der erzählten Welt verankert. Obwohl Li in der Redeeinleitung nicht genau erklärt hat, was sie mit dem Begriff „alle“ (Zeile 27) meint, ist an der wiedergegebenen Rede „du bist ein KIND “ (Zeile 28) zu erkennen, dass unter diesem Begriff „alle“ Erwachsenen zu verstehen sind. Die anschließende Rede „vielleicht ein kind äh würde nicht al LEI ne etwas machen“ (Zeile 29) zeigt den Zweifel der Erwachsenen daran, dass die Protagonistin wirklich nicht sehen kann. Ihrer Meinung nach ist es eine Ausrede des Kindes, weil es in der Nacht nichts allein machen möchte und eventuell auf die Begleitung der Erwachsenen hofft. An dieser direkten Rede ist bemerkenswert, dass Li bei der Rekonstruktion ihren Tonfall nicht verändert und überhaupt kein prosodisch-stimmliches Merkmal der zitierten Figur zu finden ist. Die Redewiedergabe der Äußerung der Erwachsenen unterscheidet sich weder von der des Kindes, noch von der der Erzählerin. Lukas’ Reaktion mit dem einfachen Rezipienzsignal „mhm“ (Zeile 30) zeigt, dass er durch die direkte Rede nicht stark in die Geschichte involviert wird. Hätte Li diese Rede in dem ungeduldigen Tonfall von Erwachsenen wiedergeben können, hätte sie deren Einstellung zu der Äußerung der Protagonis- <?page no="202"?> 202 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem tin veranschaulicht, und sie hätte mehr Reaktion des Zuhörers (wie Kommentar, emotionales Verhalten usw.) erwarten können. Ferner ist zu erwähnen, dass es in beiden oben zitierten direkten Reden um „Übersetzung des Codes“ (Günthner 1997a: 231) geht. Danach kann die Rekonstruktion einer Äußerung mit einer Übersetzung in eine andere Sprache, einen anderen Dialekt oder Soziolekt einhergehen. In Günthners Untersuchung werden zwei Arten von „Übersetzung des Codes“ in direkter Rede gezeigt. Bei der einen handelt es sich um rezipientenorientierte Übersetzung in den Code der Erzählwelt. Das heißt, die zitierte Äußerung wird aus ihrem ursprünglichen Kontext (z. B. chinesischsprachig) herausgelöst und dem aktuellen Kontext (z. B. deutschsprachig) angepasst. Bei der anderen geht es um die Übersetzung in einen von der Erzählsituation abweichenden Code. Das heißt, die zitierte Figur spricht zwar dieselbe sprachliche Varietät wie die in der Erzählsituation, aber sie wird von dem Erzähler in einem anderen Code (z. B. in der Standardsprache, einem anderen Dialekt) wiedergegeben, weil der Erzähler damit die zitierte Figur stilisieren möchte. Die zitierten Äußerungen „ich kann NICHT sehen“ (Zeile 26) und „du bist ein KIND . vielleicht ein kind äh würde nicht al LEI ne etwas machen“ (Zeile 28, 29) können meiner Meinung nach der ersten Art untergeordnet werden. Jedoch stellt dies ein Sonderbeispiel dar. Denn die beiden Äußerungen werden zwar aus ihrem ursprünglichen chinesischen Kontext herausgelöst und der deutschsprachigen Erzählwelt angepasst, aber es ist zu beachten, dass die deutschsprachige Erzählwelt im Tandem eine von den Gesprächsbeteiligten vereinbarte Situation ist. Es ist keine rezipientenorientierte Übersetzung, denn der deutsche Zuhörer Lukas spricht Chinesisch. Li könnte diese Äußerungen auf Chinesisch zitieren und würde ihrerseits eine bessere Erzählwirkung erreichen. Aber sie hat trotz ihrer Formulierungsprobleme (z. B. „vielleicht ein kind äh“) die Rede auf Deutsch wiedergegeben. Das heißt, dass hier die Übung der Fremdsprache eine wichtigere Rolle spielt als die Erzählwirkung. Betrachten wir die Redebeiträge von Lukas in diesem Gesprächsausschnitt, fällt auf, dass er sich vorwiegend der sprachlichen Korrektur widmet. In Zeile 18 beginnt Li mit ihrer Geschichte. Lukas beteiligt sich kaum daran. Er produziert dreimal das Rezipienzsignal „mhm“ (Zeile 30, 32, 40). An allen anderen Stellen werden von ihm nur Korrektur und Reparatur geliefert. Ein Kommentar oder eine deutliche Reaktion in Bezug auf Lis Erzählung fehlt. Somit bestätigt sich, dass es Li mittels ihrer rekonstruierten Rede nicht gelingt, Lukas in ihre Geschichte zu involvieren. Charakterisierung der Protagonisten mittels Redewiedergaben spielt einerseits bei der Konstruktion des Kontrastes eine Rolle. Andererseits kann sie auch zum Thematisieren der Geschichte beitragen. Hierfür präsentiere ich das fol- <?page no="203"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 203 gende Beispiel. Wir werden sehen, wie Li mit ihrer stimmlich undifferenzierten direkten Rede scheitert, den Protagonisten bestimmte Charaktere zuzuschreiben. Das hätte das Thema ihrer Geschichte erkennbar machen können. Gespräch: Viele fünfzigjährige „Leute“ fragten meine Freundin nach ihrer Telefonnummer. ((Tandemgespräch, 43: 30-44: 46 Sek.)) [43: 30] 01 02 03 04 05 Li: ein FREUNdin von mir, hat hat mir geSAGT ähmwenn sie: : wenn sie auf jemand an der HALtestelle,= = an der an der HALtestelle gewartet hätt; ähm viele leute viele mi mitten_al mittealten LEUte? 06 Lukas: mhm. 07 Li: viele leute fünfzig ähm viele fünfzig jahre alt LEUte? 08 09 Lukas: mhm. viele fünfzigJÄHrige leute, 10 11 Li: JÄHrige leute hätt sie ähm gefra_gefragt. ähm was ist deine ähm TElefonnummer, 12 Lukas: mhm. 13 14 Li: und sie wirden NICHT ähm das antwortet. und [sie-] 15 Lukas: [wie ] ALT ist deine freundin. 16 17 18 Li: ähm sechsundZWANzig.= = aber sie siehst SEHR.= = ähm sie siehst SCHÖN aus. 19 Lukas: mhm. 20 21 22 23 Li: mhm. und sie: hat immer geSAGT. ich bin ANti <<engl. Aussprache> technology.> ich habe KEIN [nummer.] 24 25 Lukas: [aha. ] in DEUTSCHland fragen viele leute nach ihrer nummer. 26 Li: hehehe <?page no="204"?> 204 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 27 Lukas: 好 奇怪 ; sehr seltsam; sehr seltsam; 28 Li: mhm. 29 30 Lukas: an der busHALtestelle. an DIEser bushaltestelle oder an einer anderen, [44: 46] 31 32 Li: nein. in in der STADTtmitte. In diesem Gesprächsausschnitt zwischen Li und Lukas produziert Li zweimal direkte Rede. Im letzten Kapitel wurde diskutiert, dass Lukas wegen des irreführenden Konzepts „Leute“ nicht versteht, was Li thematisieren möchte. Neben dem lexikalischen Konzept steht Li aber eine weitere Möglichkeit für die Bekanntgabe des Themas zur Verfügung, nämlich die Inszenierung des vergangenen Dialogs zwischen ihrer Freundin und den mittelalterlichen Leuten mittels prosodisch-stimmlicher Verfahren. Lis direkte Rede ist aber stimmlich nicht differenziert. Ihre erste Zitierung beginnt in Zeile 10 mit der Einleitung der direkten Rede, dass viele fünfzigjährige Leute ihre Freundin „ähm gefra_gefragt“. Anschließend wird die Äußerung dieser Leute „was ist deine ähm TE lefonnummer,“ (Zeile 11) zitiert. Allerdings wird sie mit einem Verzögerungslaut „ähm“ (Zeile 11) eingeleitet. Offensichtlich gehört das „ähm“ nicht zu der Originaläußerung, sondern es wird in Lis gesprochener Sprache zur Überbrückung einer Sprechpause zwischen zwei Sprecheinheiten eingesetzt. Obwohl deutlich erkennbar ist, dass diese Redewiedergabe „was ist deine ähm TE lefonnummer,“ nicht die Originaläußerung eines deutschen Muttersprachlers ist, wird der Inhalt in der Frage doch wiedergegeben. Jedoch hat sie keine deutliche prosodisch-stimmliche Markierung zur direkten Redewiedergabe. Sie hebt sich nicht von ihrer Umgebung ab. Hätte Li diese direkt zitierte Äußerung z. B. in einem flirtenden Tonfall formulieren können, könnte kontextualisiert werden, dass die fünfzigjährigen Leute ihre Freundin „anbaggern“ wollten. Das Gesprächsthema „Belästigung“ wäre deutlich geworden. Unter der zitierten Aussage, die aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst wird, ist „Dekontextualisierung“ (Günthner 1997: 229) zu verstehen. Sie wird dann in einen neuen Kontext integriert. Diese sogenannte „Rekontextualisierung“ (Günthner 1997: 229) orientiert sich Günthner zufolge an „den interaktiven Absichten, dem kommunikativen Kontext und der gemeinsamen Interpretationsaushandlung der Interagierenden“ (Günthner 1997: 229). Im Fall der chinesisch-deutschen Tandeminteraktion meiner Daten ist es jedoch <?page no="205"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 205 häufig auf die sprachlichen Schwierigkeiten der Lerner zurückzuführen, dass es sich nicht um eine wörtliche Wiedergabe handeln kann. In der zweiten direkten Rede geht es um die Freundin, die Li in dieser konversationellen Erzählung als Protagonistin zitiert. Sie leitet die direkte Rede mit dem verbum decendi „sagen“ (Zeile 21) ein. Daraufhin wird die Äußerung ihrer Freundin in der erzählten Welt produziert, indem sie sagt „ich bin AN ti <<engl. Aussprache> technology.> ich habe KEIN [nummer.]“ (Zeile 22, 23). Auffallend ist das Codeswitching in dieser direkten Rede. Ob es zur Originaläußerung der zitierten Figur oder zu Lis Äußerung gehört, ist jedoch in diesem Gespräch nicht zu beurteilen. In der Forschung zur Redewiedergabe wird betont, dass die „Codeswitching-Techniken als zentrale Ressourcen zur Evokation der Perspektive der Zitierenden auf die zitierte Rede fungieren“ (Günthner 2000d: 3-4). In diesem Fall spielt jedoch das Codeswitching keine bedeutende Rolle. Denn die beiden, die Erzählerin Li und die zitierte Protagonistin, sind Nichtmuttersprachlerinnen. Es ist daher hochwahrscheinlich, dass das englische Wort in Ermangelung eines entsprechenden deutschen Wortes benutzt wird. Wieder einmal ist die direkte Rede undifferenziert. Zwischen ihr und Lis eigener Rede ist kein deutliches Unterscheidungsmerkmal zu finden. Li rekonstruiert diese zitierte Äußerung mit dem Tonfall, mit dem sie jede Rede in ihrer konversationellen Erzählung produziert. Hätte sie die Äußerung der zitierten Protagonistin z. B. entschlossen, ablehnend oder schüchtern formulieren können, würde sie diese Figur mit den zum Flirt bereiten fünfzigjährigen Leuten direkt konfrontieren. Der Kontrast zwischen ihnen und der ablehnenden Frau könnte als richtige Orientierung zum Thema „Belästigung“ führen. 4.5.2.1.3 Stimmlich teilweise differenzierte direkte Rede Zuweilen produzieren die chinesischen Probanden in ihren konversationellen Erzählungen teilweise differenzierte direkte Rede. Sie stilisieren damit die zitierten Figuren in ihrer erzählten Welt. Jedoch bricht der Stilisierungsprozess <?page no="206"?> 206 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem wegen ihrer beschränkten sprachlichen Kompetenz auf Deutsch mitunter ab. Dafür zitiere ich das folgende Beispiel aus Lis Daten. Gespräch: Junge Leute sind unhöflich. ((Tandemgespräch, 01: 18: 25-01: 19: 09 Sek.)) [01: 18: 25] 01 02 03 04 Li: gestern haben wir ein geSCHIchte gesehen.= = gelesen? gelesen; ähm das ist über über der FÄLL der berliner mauer, 05 06 Lukas: mhm. ähm- 07 Li: es war- 08 Lukas: eiNE geschichte. 09 Li: eiNE geschichte. 10 Lukas: [also] sie ist Über. 11 12 13 14 15 Li: [äh- ] sie ist Überhm <<p> eine geschichte= =sie ist über.>> es war in neunzehnHUNdert äh neunundachzig, 16 17 Lukas: mhm. <<p> neunzehnhundert ja; >> 18 19 Li: dann der mit_mitstuDENT hat gesagt. oh meine mutter ist nur äh war nur VIERzehn jahre alt. [01: 19: 09] 20 Lukas: mhm. Dieser Ausschnitt aus einem Tandemgespräch zwischen Li und Lukas widmet sich dem Gesprächsthema des Altersunterschieds zwischen Mutter und Kind. Vorher erzählte Li Lukas, dass sie einen Kommilitonen hat, dessen Mutter ihn im ganz jungen Alter gebar. In dieser Sequenz erzählt Li, dass sie das Alter der Mutter von ihrem Kommilitonen im Kurs erfahren hat. Li fängt mit einer Geschichte, die sie im Kurs gelesen hat, an. Ihr Ziel liegt aber nicht darin, die Geschichte des Falls der Berliner Mauer zu erzählen. Sie will vielmehr die Szene illustrieren, in der ihr Kommilitone das Alter seiner Mutter nannte. Von Zeile 18 bis 19 geschieht die Rekonstruktion dieser Szene mittels direkter Redewiedergabe. Mit dem verbum dicendi „sagen“ (Zeile 18) <?page no="207"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 207 führt Li die Äußerung ihres Kommilitonen ein. Auffälligerweise wird die direkte Rede mit der einleitenden Interjektion „oh“ mit einer langgezogenen und steigenden Betonung (Zeile 19) affektiv aufgeladen. Dadurch hebt sich die zitierte Äußerung deutlich von ihrer Umgebung ab. Bei der anschließend rekonstruierten Äußerung „meine mutter ist nur äh war nur VIER zehn jahre alt.“ (Zeile 19) entsteht ein Formulierungsproblem. Li korrigiert den Tempusfehler „ist“ auf die richtige Zeitform „war“, wobei der Verzögerungslaut „äh“ (Zeile 19) zur Überbrückung der Sprechpause zwischen den beiden Sprecheinheiten dient. Anders als die affektiv aufgeladene Interjektion „ja“ ist die rekonstruierte direkte Rede „meine mutter ist nur äh war nur VIERzehn jahre alt.“ (Zeile 19) nicht deutlich differenziert. Der Ausdruck „ VIER zehn jahre alt“ (Zeile 19) wird leicht lachend produziert. Berücksichtigen wir den Kontext, dass Li sich über den geringen Altersunterschied zwischen Mutter und Kind wundert, ist festzustellen, dass das Lachen hier die Einstellung der Erzählerin reflektiert. In der Untersuchung zu Stilisierungsverfahren hat Günthner (1997b: 14) darauf hingewiesen, dass die Erzählerin durch Überlagerung von Stimmen die Möglichkeit erhält, ihre eigene Evaluation in den Diskurs einzubringen, ohne diese unbedingt explizit zu machen. In diesem Fall schleicht sich die Expressivität der Erzählerin über die Stimme der Figur ein. In diesem Beispiel ist zu sehen, dass Li zwar die direkt zitierte Äußerung nicht komplett lebendig gestaltet, aber es ihr schon bewusst ist, mittels prosodisch-stimmlichen Verfahren die direkte Redewiedergabe zu illustrieren und durch Überlagerung von Stimmen ihre eigene Perspektive in die Erzählung einzubringen. Die teilweise differenzierte und teilweise undifferenzierte direkte Redewiedergabe könnte in Lis begrenzter Sprachkompetenz begründet sein. Das wird im zweiten Beispiel verdeutlicht. Gespräch: Im Kino hat ein Mann mit mir gesprochen. ((Tandemgespräch, 41: 00-43: 09 Sek.)) [41: 00] 01 Li: vor zwei wochen war ich in war ich in war ich in im KIno. 02 Lukas: im KIno. 03 04 Li: hm war ich im Kino. und ein (.) MANN aus servien; 05 06 Lukas: mhm. aus SERbien. <?page no="208"?> 208 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 07 08 09 10 Li: aus SERbien ja. er hat mir äh geSAGT. wie ALT bisähm wie ALT bist du? 11 Lukas: hat mich geFRAGT. 12 13 Li: hat mir geFRAGT.= = wie ALT bist du, 14 15 16 17 hm ich sa hm ich SAG.= = ähm wie ALT wie ähm: = = wie alt wie ähmähm: : 18 Lukas: wie alt SEhe ich aus (.) oder? 19 20 21 22 23 Li: ach ja.= = wie alt seh SEhe ich aus? er sagt viellei,= = ich ich bin nicht SIcher; du bist Asian. 24 Lukas: he[he; ] 25 26 27 Li: [hm: ] vielleicht ZWANzig jahre alt; und ähm ich wollte nicht mit ihr sprin SPREchen, dann - 28 Lukas: ich wollte nicht mit IHM sprechen. 29 30 31 Li: mit IHM sprechen. dann sage ich. ich bin DREIßig jahre alt. 32 Lukas: hehe; 33 34 35 36 37 38 39 40 Li: und ich bin ähm DOKtor. und ich habe ein ein paPIER dabei; alles sind ähm - alles sind für ein SOFTware, hm heißt A? und gebe so VIEL zeit dann. und ich habe DAS ihr ähm - ich habe das ihr äh geZEICHnet? 41 Lukas: ich habe IHM [das.] <?page no="209"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 209 42 43 44 45 46 47 Li: [ich] habe ihm das geZEICHnet; ähm ich SAGte. GUCK mal, ich bin ein DREIßig jahre alt doktor; und das ist WAS äh - das ist WAS ich arbeite (.) jeden tag mit? 48 Lukas: ähm - 49 Li: das [ist WAS,] 50 Lukas: [das ist ] DAS; 51 Li: das ist DAS; 52 Lukas: womit. 53 Li: womit ich [jeden tag arbeite.] 54 Lukas: <<p> [jeden tag arbeite.] > 55 56 57 Li: und er er finden das UNglaublich; er sagt. du bist NICHT dreißig jahre alt. 58 Lukas: ((lacht)) 59 60 61 Li: aber ich sagte, wir sind äh Asian leute, und wir kann wir sin wir siehst wir sehen äh JUNger aus. 62 Lukas: ((lacht)) 63 Li: und wir haben so VIEL kosmetik gemacht; 64 Lukas: he[hehe-] [43: 09] 65 Li: [hehe-] Die Sequenz ist Teil eines Gesprächs zwischen Li und Lukas, in dem Li ihr Erlebnis im Kino erzählt. Vorher diskutierten sie über Alter und Aussehen von Europäern und Asiaten. Lukas teilte ihr mit, dass es für Europäer schwierig sei, das Alter von Asiaten an ihrem Aussehen abzuschätzen. Anschließend erzählt Li ihre Geschichte, in der ein Europäer sie bei einem Kinobesuch nach ihrem Alter fragt. Li rekonstruiert den Dialog zwischen sich und dem Serben durch direkte Rede. Nach Ankündigung der Zeit, des Ortes und der Personen gibt Li den Dialog im Kino direkt wieder, indem sie die zitierte Äußerung mit dem verbum dicendi „sagen“ (Zeile 08) einleitet. Daraufhin wird die Äußerung des Serben „wie ALT bisähm wie ALT bist du“ (Zeile 09, 10) genannt. Trotz Schwierigkeit bei der Formulierung (Zeile 09) schafft Li durch Selbstreparatur, die Rede vollständig auszudrücken (Zeile 10). Die prosodisch-stimmliche Differenzierung fällt hier auf. Die zitierte Äußerung des Serben hebt sich von ihrer sprachlichen Umgebung ab. <?page no="210"?> 210 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem Lukas korrigiert das verbum dicendi „sagen“ (Zeile 08) auf „fragen“ (Zeile 11), und Li ratifiziert diese Korrektur durch Wiederholung ihrer direkt zitierten Äußerung „hat mir ge FRAGT . wie ALT bist du,“ (Zeile 12, 13). Interessanterweise bleibt diese stimmlich undifferenziert. Während sich die direkte Rede vor der Korrektur von der Umgebung abhebt, wird die korrigierte direkte Rede mit einem unstilisierten Tonfall wiederholt, wobei das Sprechtempo deutlich ansteigt. Dies mag darin begründet sein, dass Li ihre Geschichte weiter erzählen möchte und nicht zu viel Zeit an sprachlichen Formen verschwenden will. Auf die Frage des Serben antwortet Li „= ähm wie ALT wie ähm: =“ (Zeile 15), was wieder mit dem verbum dicendi „sagen“ (Zeile 14) eingeführt wird. Der zweimal aufgetretene Verzögerungslaut „ähm“ zeigt jedoch, dass hier ein Formulierungsproblem besteht. Die kurze unvollständige Redewiedergabe differenziert sich nicht von ihrer Umgebung. Li versucht, diesen Satz noch einmal mit der Wiederholung „= wie alt wie ähm-“ (Zeile 16) zu sagen. Diese abgebrochene Redewiedergabe ist wieder undifferenziert. Lukas interpretiert Lis ausgedehnten Verzögerungslaut „ähm: : “ (Zeile 17) als Hilfssignal und stellt „wie alt SE he ich aus (.) oder? “ (Zeile 18) seiner Tandempartnerin Li zu Verfügung. Das Wort „oder? “ im steigenden Tonfall zeigt jedoch, dass er sich nicht sicher ist, ob seine Reparatur dem Gedanken von Li entspricht. Lukas’ Reparatur findet Ratifizierung bei Li, indem sie „ach ja.=“ (Zeile 19) sagt und gleich den reparierten Satz „= wie alt seh SE he ich aus? “ (Zeile 20) wiederholt. Trotz der Formulierungsschwierigkeit bei „seh SE he“ (Zeile 20) rekonstruiert Li diese Äußerung in einem amüsierten Tonfall. Diese direkt zitierte Rede ist differenziert. Differenziert ist auch die folgende direkte Rede, die die Antwort des Serben rekonstruiert. Sie wird auch mit dem verbum dicendi „sagen“ (Zeile 21) eingeleitet. Die anschließende direkte Rede „= ich ich bin nicht SI cher; du bist Asian.“ (Zeile 22, 23) ist zwar grammatisch teilweise unkorrekt, aber es ist schwer zu beurteilen, ob die Grammatikfehler in dem ursprünglichen Kontext entstanden sind oder von der Erzählerin Li gemacht werden. Denn die beiden sind Nichtmuttersprachler. Trotzdem ist diese direkte Rede deutlich prosodisch-stimmlich differenziert. Der rekonstruierte sachliche Tonfall des Serben bildet mit dem amüsierten Tonfall der Protagonistin einen Kontrast. Das Lachen von Lukas „he[he]“ (Zeile 24) zeigt, dass er in die illustrierte Szene hineinversetzt wird. Li vervollständigt die zitierte Äußerung des Serben, indem sie „[hm] vielleicht ZWAN zig jahre alt“ (Zeile 25) in einem sachlichen Tonfall sagt. Bevor Li ihre nächste Aussage zitiert, erklärt sie, dass sie „nicht mit ihr sprin SPRE chen“ (Zeile 26) wollte. Das Personalpronomen im Dativ „ihr“ wird von Lukas auf „ihm“ (Zeile 28) korrigiert und danach von Li ratifiziert. Lis Erklärung über ihren Unwillen in der erzählten Welt kontextualisiert die darauf folgende <?page no="211"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 211 Illustrierung des vorangegangenen Dialogs zwischen ihr und dem Serben. Der Redeeinleitung mit dem verbum dicendi „sagen“ (Zeile 30) folgt die rekonstruierte Rede der Protagonistin „ich bin DREI ßig jahre alt“ (Zeile 31) mit einem amüsierten und ungeduldigen Tonfall. Lukas’ Reaktion mit Lachen (Zeile 32) kann einerseits als seine Involvierung in die erzählte Welt, andererseits als sein Kommentar zu Lis Irreführung in Bezug auf ihr Alter interpretiert werden. Während der Satz „ich bin DREI ßig jahre alt“ (Zeile 31) deutlich prosodischstimmlich differenziert ist, ist in den darauf zitierten Äußerungen der Protagonistin in dieser illustrierten Szene (Zeile 33 bis 38) kein Unterscheidungsmerkmal zu finden. Betrachten wir diese Redewiedergabe „und ich bin DOK tor. und ich habe ein ein pa PIER dabei, alles sind ähmalles sind für ein SOFT ware. hm heißt A? und gebe so VIEL zeit dann-“ (Zeile 33 bis 38), sehen wir Lis große Formulierungsschwierigkeiten. Die Redewiedergabe wird an dieser Stelle nicht vollständig ausgedrückt. Der Inhalt wird nicht erfolgreich übermittelt. Die Undifferenziertheit dieser direkten Rede könnte darin begründet sein, dass die Erzählerin Li primär den Inhalt wiedergeben möchte und die Rekonstruktion der Form daher vernachlässigt. Erst wenn die Inhaltsübermittlung problemlos durchgeführt würde, würde die Form der Rede (teilweise) wiedergegeben. Kotthoff (1991) nennt solche Abstriche in der interimsprachlichen Pragmatik, wo die lernerseitige sprachliche Produktion von ihrer Muttersprache wie von der Zielsprache abweicht, „lernersprachliche Reduktion“ bzw. „Botschaftsfixierung“ (Kotthoff 1991: 391). Die Aufmerksamkeit der Lerner wird in erster Linie auf die Botschaft gerichtet, wenn sie die Fremdsprache sprechen. Dies wird auch in der nächsten direkten Redewiedergabe weiter bestätigt. Von Zeile 44 bis 47 wird die Äußerung der Protagonistin wieder direkt zitiert. Bemerkenswert ist, dass Li „ GUCK mal. ich bin ein DREI ßig jahre alt doktor.“ (Zeile 44, 45) in einem amüsierten Tonfall rekonstruiert, der dem Tonfall bei der direkten Rede „= wie alt seh SE he ich aus“ (Zeile 20) gleicht. Lis Absicht, Spaß zu machen, wird durch die prosodisch-stimmliche Differenzierung der direkten Rede hervorgehoben. Ferner verwendet Li für die beiden direkten Redewiedergaben der Protagonistin (Zeile 20 und Zeile 44 bis 45) denselben differenzierten Tonfall. Das ist kein Zufall. Es zeigt, dass es Li bewusst ist, mit bestimmtem prosodisch-stimmlichen Verfahren die zitierte Figur zu stilisieren. An den beiden oben genannten Stellen gelingt ihr, die Protagonistin in der erzählten Welt mittels stimmlich differenzierter direkter Redewiedergabe als eine amüsante Figur zu formen. Jedoch ist die Stilisierung in der folgenden direkten Redewiedergabe bei Formulierungsproblemen nicht zu sehen. Betrachten wir die direkte Rede von Zeile 46 bis 47 „und das ist WAS ähdas ist WAS ich arbeite jeden tag mit“, fallen Lis große sprachliche Schwierigkeit auf. Ihre Wiederholung „das ist WAS “ (Zeile <?page no="212"?> 212 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 47) zeigt ihr Nachdenken über die sprachliche Formulierung der zitierten Rede, während die Gestaltung der Form direkter Redewiedergabe nicht berücksichtigt wird. Der Stilisierungsprozess, der in Zeile 44 und 45 durchgeführt wird, wird hier abgebrochen. Lukas liefert eine Reparatur, die von Li ratifiziert wird. Von Zeile 48 bis 54 findet eine Lehr-Lernaktivität statt, wobei sich die reparierte Redewiedergabe stimmlich undifferenziert wiederholt. Im Anschluss daran wird die Antwort des Serben direkt wiedergegeben. Nachdem Li die Rede mit dem verbum dicendi „sagen“ (Zeile 56) eingeleitet hat, rekonstruiert sie die Äußerung der zitierten Figur „du bist NICHT dreißig jahre alt“ (Zeile 57), die metapragmatisch als „ UN glaublich“ (Zeile 55) gerahmt wird, in direkter Rede, die deutlich in einem erstaunten Tonfall wiedergegeben wird. Wie Günthner (1997a: 243) indiziert, zitieren Sprecher fremde Rede häufig unmittelbar im Anschluss an eine Beschreibung des affektiven Zustands einer Figur. Die prosodischen und stimmlichen Verfahren illustrieren und unterstreichen dann die affektive Haltung der betreffenden Figur als wütend, beleidigt, schnippisch, erstaunt, entrüstet usw. (Günthner 1997a: 243). Das Lachen von Lukas (Zeile 58) signalisiert seine Involvierung in die erzählte Welt. Li rekonstruiert die vergangene konversationelle Szene durch ein direktes Zitat der Protagonistin weiter. Bemerkenswert ist, dass die direkte Rede hier nicht nur mit dem verbum dicendi „sagen“ (Zeile 59) eingeleitet, sondern vom Lachen der Erzählerin begleitet wird. Dadurch wird die zu illustrierende Szene als amüsant kontextualisiert. Das gemeinsame Lachen von Lukas und Li bestätigt dies kurz danach. Obwohl die rekonstruierte direkte Rede „wir sind äh Asian leute. und wir kann wir sin wir siehst wir sehen äh JUN ger aus“ (Zeile 60, 61) wegen Formulierungsschwierigkeiten stimmlich wieder undifferenziert ist, wird die Erzählwirkung durch das Lachen als Kontextualisierungshinweis erreicht. 4.5.2.2 Kompetente Gestaltung der Redewiedergabe Redewiedergaben, die differenziert gestaltet sind und ihre Funktion in der Erzählung erfüllen, kommen in meinen Daten hauptsächlich bei Le vor. In wenigen Gesprächen zwischen Ting und Linda sind gut gestaltete Rekonstruktionen direkter Rede zu finden. Bei Li, die das niedrigste Sprachniveau hat, beobachtet man kaum problemlos aufgebaute Redewiedergabe. Nachstehend möchte ich die Ergebnisse meiner Konversationsanalyse an Beispielen vorstellen. <?page no="213"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 213 4.5.2.2.1 Stimmlich differenzierte direkte Rede Die folgenden Beispiele werden verdeutlichen, wie sich Les direkte Rede von der Umgebung abhebt. Le rekonstruiert ihre eigene Äußerung in einer vergangenen Situation, in der sie betrunken war. Gespräch: Ich war betrunken wegen Glühwein. ((Tandemgespräch, 00: 10-01: 23 Sek.)) [00: 10] 01 Max: warst warst du schon mal beTRUNken, 02 03 04 Le: ja in in OSnabrück vor zwei jahren; = = ich habe einmal ähm ungefähr eine HÄLFte voneine HÄLFte: mit glas (.) glühwein getrunken; 05 Max: ein HALbes glas. 06 Le: ja und dann bin ich getrun beTRUNken; 07 08 Max: SCHON, ein HALbes glas, 09 Le: ja. 10 11 Max: oh ((lacht)) und was hast du geMACHT, 12 13 Le: <<f> geTANZT geSUNgen und zu allen geSAGT.=> = ich würde euch EINladen zu essen? 14 Max: hehe[hehe-] 15 16 Le: [hehe-] und dann habe- 17 Max: nächstes mal gebe ich dir AUCH ein halb. 18 19 Le: oh NEIN, [bitte NICHT.] 20 Max: [hehehe ] 21 Le: und das die die anderen sind alle ähmaustauschstuDENten aus [allen] anderen ländern ja. 22 Max: [ähm. ] 23 24 Le: ähm nächsten tag kommen einige zu MIR; und [SAgen- ] 25 Max: [um zu ESsen] oder, 26 27 Le: <<f> ja ja ja. > [hehehehe-] 28 Max: [hehehehe-] <?page no="214"?> 214 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 29 Le: du du du IMmer. 30 Max: ja aber mit einem halben glas glühwein würde ich gar NICHT betrunken; 31 Le: aber glühwein ist SCHON mit sehr hohem- [01: 23] 32 33 Max: ja mit SCHUß. vielleicht mit so einem HARten alkohol oder; Die Sequenz ist Teil eines Gesprächs zwischen der chinesischen Studentin Le und ihrem deutschen Tandempartner Max, in dem Le ihr Alkoholerlebnis erzählt. Auf Max’ Frage „warst warst du schon mal be TRUN ken“ (Zeile 01) berichtet Le, dass sie vor zwei Jahre ein Alkoholerlebnis hatte. Sie liefert danach eine Illustrierung ihres Verhaltens in der vergangenen Situation, nachdem Max die Frage „und was hast du ge MACHT “ (Zeile 11) gestellt hat. In der ersten Rekonstruktion in den Zeilen 12 und 13 zitiert Le ihre eigene Äußerung in der vergangenen Geschichte. Sie fasst ihr Verhalten mit der Aussage „ge TANZT ge SUN gen“ (Zeile 12) zusammen. Daraufhin führt sie ihre direkte Rede mit dem verbum dicendi „sagen“ ein und gibt ihre zitierte Äußerung wieder. Auffällig ist, dass die rekonstruierte Rede „ich würde euch EIN laden zu essen“ (Zeile 12) in einem deutlich imitierenden Tonfall produziert wird. Dieser hebt sich hinsichtlich Prosodie und Stimmqualität von seiner Umgebung ab. Dadurch wird die rekonstruierte Szene in der erzählten Welt anschaulich beleuchtet und dem Zuhörer eine betrunkene Figur vorgeführt. Das unmittelbare Lachen von Max (Zeile 14) kann entweder als sein Kommentar zu der illustrierten Szene oder als ein Involviertheitszeichen interpretiert werden. Mittels expressiv-emotiver Rekonstruktion der vergangenen Szene involviert Le den Zuhörer erfolgreich in die erzählte Geschichte. Das ist ebenfalls in Zeile 25 festzustellen, wenn Max Les Rede fortsetzt. In Zeilen 23 und 24 entwickelt Le ihre Geschichte durch die Aussage, dass einige Leute am nächsten Tag zu ihr gekommen seien, weiter. Mit dem verbum dicendi „sagen“ (Zeile 24) will sie erneut die vergangenen Äußerungen der anderen zitierten Figuren rekonstruieren. Es wird aber abgebrochen, indem Max mit seinem Redebeitrag „um zu ES sen oder“ (Zeile 25) Les Rede vervollständigt. Das Wort „oder“ drückt aus, dass Max seine vorangegangene Aussage infrage stellt und das Rederecht der Erzählerin gibt. Le bestätigt die Fortsetzung von Max mit „<<f> ja ja ja >“ (Zeile 26). Die anschließende Redewiedergabe wird zwar wegen der Beteiligung von Max an der Erzählung abgebrochen, verdeutlicht aber, dass Max in die erzählte Welt involviert wird und sich richtig an der Entwicklung der Geschichte orientiert. Les konversationelle Erzählung erreicht einen guten Wirkungsgrad. Während es in diesem Tandemgespräch um die Wiedergabe der einzelnen Rede geht, möchte ich mit dem zweiten Beispiel zeigen, wie die chinesische <?page no="215"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 215 Lernerin einen Dialog in ihrer Erzählung rekonstruiert. Wir finden da einige stimmlich gut differenzierte Redewiedergaben. Gespräch: der Geburtstag von meiner Nachbarin ((Tandemgespräch, 11: 11-12: 48 Sek.)) [11: 11] 01 02 Ting: ich habe äh le letzte woche ein witz geMACHT; so es ist ein geBURTStag von der frau dieser alter frau, 03 Linda: mhm. 04 Ting: ähm es sie ist mein nachBAR; 05 Linda: mhm. 06 07 08 09 Ting: sie sagt mir heute ist mein geBURTStag.= = ich sagte oh ge geBURTSstag? und ich frage SIE; hast du ein toTE ge ge gegessen; 10 Linda: ein was ein- 11 Ting: toTE, 12 Linda: TORte, 13 Ting: [ja, ] 14 Linda: [mhm.] 15 Ting: sie sagte TOD? 16 Linda: oh: : : , 17 18 19 Ting: hehehe. sie sagte <<acc> nein nein nein nein> nicht tod sondern der KUchen. [der ganz KUchen,] 20 Linda: [hehehe- ] 21 22 23 Ting: sie sagte nee ich habe nur ein STÜCK ge gegessen, weil sie ist alLEIN hier in freiburg. äh ihre kinder ihre tochter ist in in ENGland; 24 Linda: mhm. 25 26 27 Ting: so sie ist alLEIN in freiburg. sie ist ein- ich glaube sie ist ein ein ARme frau, Linda: [okay, ] <?page no="216"?> 216 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem Ting: [sie ist] ja JEden tag allein ausgehend allein früh gehen, 29 Linda: hm: : - 31 32 Ting: und ich ich werde manchmal sie beSUchen, so: aber die ANderen leute äh wohnt bei bei uns in der gleichen gebäude, 33 34 Linda: mhm. [mhm. ] 35 Ting: [ALles] allein alter mann oder alte frau, 36 Linda: mhm. 37 38 Ting: ist das allgeMEIN in deutschland? (2.0) 39 40 Linda: ähm ja es gibt schon VIEle alte menschen die alleine sind; daDURCH also- ich ich glaube in CHINA ist das viel mehr so dass (.) [die: zuSAMmen]leben. 41 Ting: [ja zuSAMmen. ] 42 43 Linda: also hier ist es SCHON teilweise so; = =dass die alten menschen alLEIne sind. 44 Ting: aber (.) werden die die ÄLteren nicht mit ihren kindern zusammen leben möchten? [12: 48] 45 Linda: also bei- In diesem Beispiel rekonstruiert Ting ihren eigenen Dialog mit ihrer Nachbarin aus der vergangenen Woche, den sie als einen „Witz“ (Zeile 01) bezeichnet. Bei dieser Aufnahme war die Verfasserin anwesend. In dem Transkript wird sie als „ LQ “ bezeichnet. Nach Ankündigung der Person („von der Frau dieser alter frau“ in Zeile 01 und „mein nachbar“ in Zeile 04) und der Zeit („letzte Woche“ in Zeile 01) beginnt Ting, den Dialog zwischen sich und ihrer Nachbarin zu rekonstruieren. Mit dem verbum dicendi „sagen“ (Zeile 06), dessen Zeitform jedoch unkorrekt ist, führt Ting die Rede ihrer Nachbarin „heute ist mein geburtstag.“ (Zeile 06) grammatisch unproblematisch ein. In Anschluss daran wird Tings Antwort in der erzählten Welt wiedergegeben. Die im erhöhten Tonfall produzierte Interjektion „oh“ (Zeile 07) signalisiert, dass Ting die zitierte Äußerung expressiv-emotiv rekonstruieren möchte. Das wird leider wegen ihrer Formulierungsschwierigkeit „ge geburtstag? “ (Zeile 07) gebrochen. Ihre Einstellung dazu wird daher nicht deutlich. <?page no="217"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 217 In Zeile 08 leitet Ting die direkte Rede mit dem verbum dicendi „fragen“, das erneut in einer falschen Form verwendet wird, ein. Bei der anschließenden Frage „hast du ein torde ge ge gegessen; “ (Zeile 09) entstehen Formulierungsprobleme. Erstens wird das Wort „Torte“ phonetisch nicht korrekt gesprochen. Statt „Torte“ spricht sie „Tote“. Lindas Nachfrage „ein was ein -“ (Zeile 10) verdeutlicht, dass sie das Wort nicht versteht. Zweitens wird die Perfektform „gegessen“ in diesem Satz erst nach zwei Verzögerungen produziert. Offensichtlich sucht Ting die richtige Form des Wortes, was eine Weile dauert. Prosodischstimmliche Stilisierung, die die expressiv-emotiven Elemente zeigen könnte, ist in dieser direkten Rede nicht zu erkennen. Nachdem das phonetisch falsch produzierte Wort „Tote“ (Zeile 09) geklärt und von Ting ratifiziert worden ist (Zeile 13, 14), setzt Ting ihre Erzählung mit der verbalen Reaktion ihrer Nachbarin fort. Mit dem verbum dicendi „sagen“ (Zeile 15) leitet sie die zitierte Äußerung „ TOD ? “ ein. Diese direkte Rede ist hoch affektiv aufgeladen. Sie wird in einem deutlich erhöhten und stark steigenden Tonfall produziert. Dadurch werden das Erstaunen und der Zweifel der Frau anschaulich illustriert. Die Pointe dieses witzigen Ereignisses wird damit aufgebaut. Darauf reagiert Linda mit einer deutlich ausgedehnten Interjektion „oh: : : ,“ (Zeile 16), was ebenfalls ihr Erstaunen signalisiert. Somit wird klar, dass Linda durch die expressiv-emotive Gestaltung der direkten Rede in die Geschichte involviert wird. In Anschluss daran setzt Tings Gelächter ein. Es ist ihr Kommentar zu diesem Missverständnis, gilt aber auch als ein Kontextualisierungsverfahren, durch das die witzige Modalität dieser Geschichte hervorgehoben wird. In Zeile 18 führt Ting mit dem verbum dicendi „sagen“ eine direkte Rede ein. An der zitierten Äußerung „sie sagte <<acc> nein nein nein nein> nicht tod sondern der kuchen.“ (Zeile 18) ist bemerkenswert, dass das Personalpronomen „sie“ hier nicht passt. Offensichtlich ist das nicht die Äußerng ihrer Nachbarin, sondern ihre eigene. Die Nachbarin hat vorher ihr Erstaunen in einem stark ansteigenden Tonfall, der ihre Frage signalisiert, geäußert. Ting sollte dann versuchen, das Missverständnis zu klären. Tings direkte Rede „sie sagte <<acc> nein nein nein nein> nicht tod sondern der kuchen.“ (Zeile 18) ist unzweideutig prosodisch-stimmlich differenziert. Zuerst wird das Verneinungswort „nein“ in einem stark ansteigenden Tonfall und mit einem deutlich schnelleren Sprechtempo wiederholt produziert. Der Intonationsverlauf ändert sich deutlich. Ting wiederholt „nein“ kontinuierlich viermal, ohne dazwischen eine Pause zu machen. Diese stark affektiv aufgeladene Redewiedergabe legt Tings hoch aufgeregte Stimmung in der vorangegangenen Situation dar und signalisiert, dass sie das Missverständnis, das die alte Nachbarin verletzen könnte, so schnell wie möglich bewältigen will. <?page no="218"?> 218 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem Anschließend rekonstruiert Ting ihre Erklärung des ursprünglichen Dialogs mit ihrer Nachbarin. Da das von ihr phonetisch falsch gesprochene Wort „tote“ zum Missverständnis geführt hat, benutzt sie zur Erklärung das neue Wort „kuchen“. Linda reagiert mit Lachen (Zeile 20). Ting setzt die Äußerung ihrer Nachbarin mit dem verbum dicendi „sagen“ (Zeile 21) fort. Trotz einer Formulierungsschwierigkeit bei „ge gegessen“, die Ting vorher schon hatte, wird die Rede inhaltlich vollständig rekonstruiert. Prosodisch-stimmlich ist sie hier nicht deutlich von der Sprechweise der Erzählerin differenziert. Danach wechselt Ting plötzlich in indirekte Rede. Das Personalpronomen „sie “ (Zeile 22) und das Possessivpronomen „ihr“ (Zeile 23) signalisieren, dass die Redewiedergabe deiktisch in der Erzählwelt verankert ist. Günthner (1997) weist in ihrer Studie zu Redewiedergaben in Alltagsgesprächen darauf hin, dass ein Wechsel des Wiedergabemodus innerhalb der Äußerung einer Figur sein kann. In Anlehnung an sie gehe ich davon aus, dass der Wechsel hier in Tings Beispiel als der Wechsel von der direkten Rekonstruktion zur Erklärung dafür interpretiert werden könnte. Während in den oben zitierten Beispielen die Lernerinnen ihre eigenen Äußerungen in der vorausgegangenen Situation mittels prosodisch-stimmlichen Verfahrens und expressiv-emotiver Elemente von ihrer Sprechweise differenzieren und damit bildhaft wiedergeben, verdeutlicht das nächste Beispiel, wie Le die Gedanken von Figuren in einem Film anschaulich rekonstruiert. Gespräch: Film „Eurotrip“ ((Tandemgespräch, 20: 14-21: 40 Sek.)) [20: 14] 01 02 Le: ah ah was was ich erZÄHlen möchte, [ich habe einen FILM] geschaut. 03 Max: [ach erZÄHL; ] 04 05 Le: das ist ähm - auf CHInesisch 欧洲 小 欧洲 性旅行 . Europa klein europa sexreise europäische (klein: sie verspricht sich) sexreise 06 Max: europa reise WAS? 07 08 Le: ähm SExuelle reise in europa; hast du das geHÖRT? 09 Max: ja nach THAIland oder? 10 Le: hm nein nein. 11 Max: ach okay. <?page no="219"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 219 12 Le: das ist ein - 13 14 Max: das ist ein ZEItungsartikel oder? <<pp> buch.> 15 Le: ein FILM, 16 17 Max: ein FILM hehehe- [hehehehe- ] 18 19 20 21 Le: [ein ameriKAnischer film.] und dort wird beSCHRIEben zum beispiel? ähm sie die sie sind nach ähm ähm 东欧 东欧 ist - dongou dongou Osteuropa Osteuropa [osteuro osteuROpa.] 22 Max: [ost osteuROpa. ] 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 Le: und sie haben nur ZWEI(.) zwei komma blablablabla; ähm: was ist (.) DOLlar? aber - ((lacht)) DOLlar. sie sind ameriKAner; sie glauben ach wir können nicht mehr LEben, aber dann sind sie in einem FÜNF sterne hotel geblieben? haben VIEL gekauft VIEL VIEL gekauft. 33 Max: mit ZWEI dollar? 34 Le: ja, 35 Max: ZWEI dollar? 36 Le: ja. 37 Max: viel KAUfen? 38 39 Le: aber vielleicht ist der film schon vor(.) ZEHN jahren, (1.3) 40 41 42 Max: Le: Max: okay und dann was ist pasSIERT, nur nur nur um zu um zu SCHREIben nur - [was heiß - ] 43 44 Le: [zu beSCHREIben; ] in in osteuropa [ist alles -] [21: 40] 45 Max: [ist BILlig.] <?page no="220"?> 220 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem In dieser Gesprächssequenz schildert Le ihrem Tandempartner einen Film, den sie neulich gesehen hat. Le initiiert das Thema durch die Ankündigung, sie habe „einen FILM geschaut“ (Zeile 02). Da Le eine chinesische Version des Films sah und den originalen Titel nicht kennt, entsteht für Max bei der Identifikation des Films ein Missverständnis. In Zeile 04 nennt Le den chinesischen Titel, den Max unmittelbar ins Deutsche „europa reise“ (Zeile 06) übersetzt. Da Max sich seiner Übersetzung nicht sicher ist und das mit dem aufsteigenden Wort „ WAS ? “ (Zeile 06) signalisiert, liefert Le eine wörtliche deutsche Übersetzung des Filmtitels „ SE xuelle reise in europa“ (Zeile 07), die jedoch dem Originaltitel nicht entspricht. Nachdem Le die Spekulation von Max („ja nach THAI land oder? “ in Zeile 09) unzweideutig verneint hat, versucht sie, den Filmtitel durch seinen Inhalt zu erklären. Sie beginnt, die Handlung des Films zu erzählen. Trotz des problematischen Erzählanfangs mit dem Demonstrativpronomen „sie“ (Zeile 20), durch welches unklar ist, wen sie meint, lässt Max Le weitererzählen. Er liefert nur eine Fremdreparatur (Zeile 22), wenn es der Erzählerin am Vokabular mangelt und sie ins Chinesische wechselt. Les rekonstruierte Geschichte enthält in Zeile 30 eine direkte Rede. Diese zitierte Äußerung wird mit dem verbum dicendi „glauben“ (Zeile 30) eingeleitet. Das Demonstrativpronomen „sie“ (Zeile 30) verdeutlicht, dass hier die zitierten Figuren als „generische Charaktere“ auftreten und als „im Chor sprechend“ (Günthner 1997a: 229) animiert werden. An dieser rekonstruierten Äußerung fällt ihre prosodische und stimmliche Markierung (durch deutlich erhöhte Lautstärke und ausgedehnte Stimme) auf, die die verzweifelte und traurige Stimmung der zitierten Figuren hervorhebt. Le beginnt diese Äußerung mit dem Empfindungswort (Symptominterjektion) „ach“ in einer gedehnten Stimmführung. Damit wird die Redewiedergabe stark emotional aufgeladen. Der steigende Tonfall des Wortes „leben“ am Ende unterstreicht den Zweifel der Figuren an ihrer Lebenssituation. Die Äußerung, die so stimmlich differenziert und expressiv-emotiv vorgeführt wird, verstärkt den Kontrast zwischen der pessimistischen Erwartung der zitierten Figuren und ihrem Wohlstand in der Wirklichkeit (Übernachtung im Hotel mit fünf Sternen und viel Einkauf). Obwohl die Struktur der gesamten Erzählung in diesem Beispiel nicht unproblematisch ist, wird jedoch die Rekonstruktion der direkten Redewiedergabe erfolgreich stilisiert und der Kontrast hervorragend verstärkt. Die Wirkung dieser Rekonstruktion sehen wir an Max’ zweimaliger Nachfrage „ZWEI dollar? “ (Zeile 35) und „viel KAU fen? “ (Zeile 37). Offensichtlich wird er durch die expressivemotive Illustrierung in die erzählte Welt hineingezogen. <?page no="221"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 221 4.5.2.2.2 Überlagerung der Stimmen in direkter Rede Le kann nicht nur Äußerungen der zitierten Figuren in der erzählten Welt durch prosodisch-stimmliche Verfahren anschaulich wiedergeben und damit den Zuhörer in ihre Geschichte involvieren, sondern auch ihre Perspektive mittels expressiv-emotiver Stilisierung in ihre Erzählung einbringen. Das folgende Beispiel zeigt die Überlagerung der Stimmen in direkter Rede in Les konversationeller Erzählung. Gespräch: Film „Urban Explorer“ ((Tandemgespräch, 12: 33-13: 43 Sek.)) [12: 33] 01 Le: ja ich habe vor einigen tagen einen deutschen HORrorfilm geschaut. 02 Max: oh JA. 03 04 05 06 07 08 09 Le: und ähm der hauptfigur ist ein ameriKAner? aber er kann (.) DEUTSCH. jemand hat ihn geFRAGT. ähm waRUM kannst du deutsch, er hat hat geSAGT. ja ich habe in FREIburg <<lachend> studiert; > hehehe[hehe- ] 10 Max: [<<lachend> im FILM.>] 11 12 Le: ja. [hehehe-] 13 Max: [hehehe-] 14 Le: RICH[tig.] 15 Max: [wie ]heißt wie ist der FILM, 16 17 18 19 20 21 Le: ähm ich habe das auch mit CHInesisch untertitel geschaut, ich glaube - die übersetzung ist abenTEUre innerhalb der fiinnerhalb der STADT. 城市 冒险 . Stadt Abenteure. Abenteure in der Stadt. nicht geHÖRT, ((seufzt)) 22 Max: ((lacht)) 23 Le: gibt es emPFEHlungen für deutsche filme? <?page no="222"?> 222 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 24 25 26 27 28 Max: (1.3) deutsche FILme sind - ((lacht)) weiß ich NICHT. war s till SCHWEIger oder so, gibt es irgendwelche deutsche SCHAUspieler, 29 30 Le: äh - hase und? 31 Max: ja das ist ähm till SCHWEIger, 32 Le: ja. 33 34 Max: ja der SCHAUspieler, [oder,] [13: 43] 35 Le: [ja. ] In dieser Teilsequenz eines Tandemgesprächs zwischen Le und Max erzählt Le einen deutschen Horrorfilm. Nach Les Ankündigung des Themas äußert sie ihre Verwunderung darüber, dass die amerikanische Hauptfigur Deutsch sprechen kann. Anschließend rekonstruiert sie den vorangegangenen Dialog, in dem die Hauptfigur nach ihren Deutschkenntnissen gefragt wird. Die Zeilen 05 bis 08 geben die dialogische Szene des Films wieder. Li fängt mit dem Satz „jemand hat ihn ge FRAGT “ (Zeile 05) an, wobei sie das verbum dicendi „fragen“ verwendet. Nach dem Verzögerungslaut „ähm“ (Zeile 06) - der offensichtlich nicht die Originaläußerung zitiert, sondern von der Erzählerin produziert wird - gibt Le die Äußerung der zitierten Figur mit den Worten „wa RUM kannst du deutsch,“ (Zeile 06) wieder. Diese direkte Rede ist jedoch von der Sprechweise der Erzählerin nicht deutlich differenziert. Danach leitet Le die Antwort der Hauptfigur mit dem verbum dicendi „sagen“ (Zeile 07) ein. Im Anschluss daran wird die zitierte Äußerung des Amerikaners rekonstruiert. Le führt diese direkte Rede mit dem Gesprächspartikel „ja“ (Zeile 08) ein. Danach folgt die zitierte Äußerung „ich habe in FREI burg <<lachend> studiert.>“ (Zeile 08). Auffallend daran ist das stark expressiv-emotive Element bei der Formulierung des Wortes „studiert“, während der Rest des Satzes nicht ausdrücklich emotional aufgeladen wird. Es ist unwahrscheinlich, dass das Lachen bei der Äußerung des letzten Wortes von der Originaläußerung zitiert wird. Das erklärt die Einstellung der Erzählerin. Sie findet es lustig, dass die Hauptfigur ausgerechnet in Freiburg studiert hat, wo sie und ihr Tandempartner jetzt studieren. Die zitierte Äußerung des Amerikaners wird aus dem originalen Kontext, nämlich dem Film, herausgelöst und neu rekontextualisiert. Mit der Stilisierungsabsicht der Erzählerin wird der Äußerung mittels expressiv-emotiven <?page no="223"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 223 Verfahrens eine neue Bedeutung zugeordnet, nämlich dass die Zufälligkeit des gleichen Studienorts lustig ist. Max versteht Les Perspektive in der rekonstruierten direkten Redewiedergabe, er lacht mit ihr (Zeile 10, 13). Zugleich betont er in einem absteigenden Tonfall „im FILM “ (Zeile 10), was die Pointe dieser rekonstruierten Rede noch einmal hervorhebt. In diesem Beispiel gibt Le bei Rekonstruktion der direkten Rede nicht nur die Äußerung der zitierten Figur wieder, sondern bringt auch hervorragend ihre Perspektive mittels expressiv-emotiven Verfahrens ein, ohne das explizit zu machen. Zugleich involviert sie den Zuhörer in ihre Erzählung. Sie verwendet die Stilisierungsstrategie bei der Gestaltung direkter Rede „Überlagerung der Stimmen“ (Günthner 1997b) erfolgreich. Le ist kompetent, mittels bestimmter prosodisch-stimmlicher Verfahren ihre Stilisierungsabsicht zu erreichen und die Geschichte zu rekontextualisieren. 4.5.2.2.3 Kompetente Gestaltung direkter Rede im Witz In den Daten meiner Arbeit ist bereits deutlich geworden, dass Le als Germanistikstudentin mit höherem Sprachniveau häufig in der Lage ist, direkte Rede stimmlich zu gestalten und in ihre Geschichte einzubauen. Im Folgenden möchte ich anhand einer Witzerzählung zeigen, wie sie mittels direkter Rede einen Witz erfolgreich aufbaut. Nach Kotthoff (1997: 163) ist die Gattung Witz nicht nur durch eine Pointenkonstruktion gekennzeichnet, sondern auch durch verschiedene Erzählstile mit Elementen mündlicher Kunst, wie z. B. direkte, stilisierte und dramatisierte Formen der Redewiedergabe. Die Äußerungen im Witz werden so animiert, dass die typischen Züge der Charaktere herausgearbeitet werden und den Zuhörer unmittelbar zum Zeugen der rekonstruierten Szene machen. Der Witzgenuß basiert sowohl auf der Pointengestaltung, als auch auf den Stilisierungselementen (z. B. Sprechtempo, Dialekte, Soziolekte, Lautstärke, Stimmqualität, Prosodie, Intonation), die der Erzähler verwendet. Gespräch: ein Witz über Deutsche ((Tandemgespräch, 17: 53-19: 20 Sek.)) [17: 53] 01 02 Le: was pasSIERT, wenn dein haus in FEUer ist. 03 Max: ähm rufe ich die FEUerwehr; 04 Le: und DANN? 05 06 Max: ähm löscht die FEUerwehr in meinem haus; und dann gehe ich zur verSIcherung. <?page no="224"?> 224 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 07 Le: hehe <<f> ja > immer verSIcherung. 08 Max: ((lacht)) 09 10 Le: auch der WITZ sagt; ja in einem gebäude leben viele leute aus aus verSCHIEdenen ländern ja. 11 Max: [mhm.] 12 Le: [äh: ] äh eines tages ist das haus ähm: : geFEUert? 13 Max: ach abgeBRANNT. 14 Le: abgeBRANNT. 15 Max: oder steht im FEUer. 16 17 18 19 Le: hm im FEUer stehen. ((4.0)) ähm die JUden nehmen ihre geldbeutel, und dann die LAUfen weg. 20 Max: ((lacht)) 21 22 23 24 25 Le: und der franZÖse, äh er RETtet seine liebling? und der chinese SUCHT äh seine mutter; das alle ja ja. weil die mutter der chinesen ist (xxx) sehr WICHtig. 26 Max: ach. 27 Le: und noch der ameriKAner mit seine hund. 28 Max: ((lacht)) 29 30 Le: nur der DEUtsche sagt. <<f> ich habe verSIcherung? > 31 32 Max: hahahaha achso ziemlich STOLZ; 33 Le: [haha- ] 34 Max: [hahaha-] 35 Le: immer verSIcherung [ja. ] 36 Max: [hahaha-] 37 Le: du hast AUCH gesagt. [19: 20] 38 39 40 Max: ja. ja ich habe es schon FAST gedacht. haha- Le erzählt hier ihrem deutschen Tandempartner Max einen Witz, der auf Kosten der Deutschen geht. Die Besonderheit des Aufbaus liegt darin, dass Le die Pointe des Witzes am Anfang in Form der Frage „was pas SIERT , wenn dein haus in <?page no="225"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 225 FEU er ist“ (Zeile 01, 02) herausstellt. Nach kurzer Überlegung, die durch die Interjektion „ähm“ (Zeile 03) realisiert wird, gibt Max zur Antwort, er werde die Feuerwehr rufen (Zeile 03). Offensichtlich fragt Le ihn absichtlich weiter, was er dann machen würde (Zeile 04). Die Interjektion „ähm“ in Zeile 05 signalisiert, dass Max noch einmal überlegt. Danach erklärt er sein Handeln im eventuellen Brandfall durch den Satz „löscht die FEU erwehr in meinem haus; und dann gehe ich zur ver SI cherung“ (Zeile 05, 06). Les unmittelbares Gelächter und deutlich erhöhte Lautstärke bei der Formulierung „ja“ (Zeile 07) scheinen in diesem Kontext nicht normal. Ihr Redebeitrag „immer ver SI cherung“ (Zeile 07) zeigt allerdings, dass Max’ Antwort ihre Erwartung erfüllt. Le hebt hier also die Pointe, die sie später im Witz konstruieren wird, schon hervor, ohne es Max explizit zu machen. Im Kontrast zu Les emotiver Reaktion liefert Max einfach einen Lachpartikel (Zeile 08). Erst in Zeile 09 beginnt Le mit dem Inhalt des Witzes. Sie leitet ihn mit dem Redebeitrag „auch der WITZ sagt“ (Zeile 09) ein. Das Wort „auch“ signalisiert den Zusammenhang zwischen der vorangegangenen Aussage und dem Witz. Danach werden unmittelbar die Personen und der Ort eingeführt (Zeile 10). Mit der routinemäßigen Formulierung „eines tages“ (Zeile 12), die typisch für das Erzählen einer Geschichte ist, beginnt Le, die Szene zu konstruieren. Hier entsteht ein Formulierungsproblem, das Le mit dem ansteigenden Tonfall (Zeile 12) ankündigt. Max liefert eine Korrektur (Zeile 13) und bietet eine Alternative (Zeile 15) an. Nach der Lehr- und Lernaktivität setzt Le die Witzerzählung fort. Von Zeile 18 bis Zeile 27 beschreibt Le das Handeln von Menschen unterschiedlicher Nationalität im Brandfall. Bei deren Reaktionen handelt es sich um Stereotype. Die betreffenden Charaktere werden nach ihrer Nationalität typisiert. Während man die Juden mit Geld und die Franzosen mit Romantik assoziiert, werden die Amerikaner als Hundefreunde dargestellt. Die Typisierung der Chinesen ergänzt Le mit der Formulierung „weil die mutter der chinesen ist (xxx) sehr WICH tig.“ (Zeile 25). Offensichtlich ist ihr bewusst, dass Stereotypenwissen eine Rolle beim Verstehen eines Witzes spielt und ein Mangel an dem Stereotypeskulturwissen eventuell zu Missverständnissen führen kann. Während die Beschreibung der Reaktionen von Juden, Franzosen, Chinesen und Amerikanern in Aussagesätzen erfolgt, wird die Reaktion des Deutschen über direkte Rede mitgeteilt. Mit dem verbum dicendi „sagen“ (Zeile 29) leitet Le die Äußerung des Deutschen ein. Das bisherige Muster wird in Zeile 29 gebrochen, und es ändert sich auch die Intonation, welche hier als weiteres Kontextualisierungsverfahren eingesetzt wird. Die wiedergegebene direkte Rede „ich habe verSIcherung“ (Zeile 30) ist deutlich stilisiert und von der Sprechweise der Erzählerin differenziert. Der Akzent liegt auf „versicherung“. Intonatorisch <?page no="226"?> 226 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem signalisiert Le die Gleichgültigkeit der zitierten Figur. Außerdem kann man in dieser stilisierten direkten Rede die leichte Verhöhnung der Erzählerin hören. Das heißt, über die intonatorische Gestaltung gibt Le nicht nur die Äußerung der zitierten Figur wieder, sondern sie bringt auch ihre eigene Einstellung zum Ausdruck, ohne es explizit zu machen. Darüber hinaus ist zu erwähnen, dass die Rekonstruktion der direkten Rede in diesem Beispiel ein Rekontextualisierungsverfahren ist. Nach Kotthoff (1997) gilt für orale Gattungen generell, dass nur Textgerüste relativ stabil bleiben, während ihre Darbietung immer wieder anders realisiert werden kann. Die Darbietung des Witzes in diesem Gesprächsausschnitt ist rezipientenorientiert. Der Zuhörer Max ist erstens ein Deutscher und hat zweitens am Anfang gesagt, dass er in einem Brandfall zur Versicherung gehen würde. Die Typisierung der Deutschen wird in direkter Rede durchgeführt. Anders als die Beschreibung der Reaktionen von Leuten aus anderen Ländern in Aussagesätzen, die distanziert vom Zuhörer sind, bringt die direkte Rede durch ihren Vorführungscharakter den deutschen Zuhörer näher an die Szene. Das unmittelbare Gelächter von Max (Zeile 31) verdeutlicht, dass er sofort involviert ist. Die Gestaltung der witzigen Pointe verweist nicht lediglich auf die semantische Konstruktion, sondern auf „ein Zusammenspiel lexikosemantischer, prosodischer, stilistischer und alltagsnormativer Elemente zur Evozierung des Humoristischen“ (Kotthoff 1996: 11). Hätte Le im gleichen sachlichen Tonfall sagen können, dass der Deutsche wegen seiner Versicherung nichts mitgenommen hat, könnte der Witzgenuß für Max anders sein. Die Performanz der Konstruktion der Pointe in Form direkter Redewiedergabe stellt sich als wichtig heraus. 4.5.3 Detaillierung Erzählen ist eine Gattung, in der Details insbesondere Verwendung finden. Denn nach der Definition widmet sich Erzählen der Wiedergabe von Ereignissen, die in bestimmten Szenen stattfinden. Nach Tannen (2007) haben Details verschiedene Funktionen in narrativen Erzählungen. Erstens rekonstruiert man mittels Angaben der Details eine Szene, in der die vergangenen Ereignisse geschahen. Zweitens liefert man eine Szene mit Authentizität, indem man die zu erzählende Geschichte durch Benennung der im Einzelnen dargelegten Informationen wiedergibt. Drittens kann die Detaillierung einen Beitrag zur Gestaltung der Pointe leisten. Durch ausführliche Beschreibungen kann sich der Höhepunkt einer Geschichte hervorheben. Schließlich bietet man mittels Detaillierung der vergangenen Ereignisse eine sogenannte „internal evaluation“ (Tannen 2007: 136). Das heißt, die Rezipienten ziehen selbst einen Schluss aus der Erzählung. Ihr Verständnis der erzählten Geschichte basiert in diesem Fall <?page no="227"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 227 auf ihrer eigenen Interpretation. Im Vergleich zur externen Evaluation ist die interne Evaluation in narrativen Erzählungen überzeugender. Denn bei externer Evaluation bekommen die Rezipienten die Interpretation der Geschichte unmittelbar vom Erzähler. Mit dem folgenden Beispiel möchte ich die Funktionen der Detaillierung weiter erläutern. Eine griechische Frau erzählt einer amerikanischen Zuhörerin, wie ein Amerikaner zu ihr kam, als sie in Paris von einem fremden Mann attackiert wurde. Wir werden sehen, wie die Erzählerin die Szene durch detaillierte Beschreibungen rekonstruiert und damit die Pointe der Geschichte hervorbringt. and at that time, (there) enters enters like an act of God, an American about seventy years old, I’ll never forget a, he was wearing a shirt with large checks (Tannen 2007: 137) Die unterstrichenen Zeilen verdeutlichen die detaillierte Darstellung der vergangenen Geschichte. Die Nationalität („American“), das Alter („seventy years old“) und die Kleidung („a shirt with large checks“) der Hauptfigur bilden die Szene des Ereignisses nach und machen die Erzählung anschaulich. Wenn es in der Kommunikation nur um sachliche Wiedergaben ginge, wären diese Angaben irrelevant. Im Gegensatz dazu spielen sie hier in der narrativen Erzählung aber eine wichtige Rolle. Einerseits zeigen sie, worin die Erinnerung der Erzählerin verankert ist. Anderseits tragen sie auch einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung der Erzählwürdigkeit der Geschichte bei. Die Angaben der Nationalität („American“) und der typischen amerikanischen Mode („a shirt with large checks“) sind in diesem Fall relevant für die Rezipientin, weil sie amerikanisch ist. Eine interpersonale Verbindung wird dadurch hergestellt. Schließlich wird die Lebendigkeit des Ereignisses durch diese Detaillierung verstärkt, und damit die Erzählwürdigkeit der Geschichte. Ferner zeigt Tannen in ihrer Studie (2007: 138-139), dass Details auf der strukturellen Ebene häufig beim Erzählanfang oder bei der Gestaltung der Erzählwürdigkeit produziert werden. Während beim Erzählanfang detaillierte Informationen wie Person, Ort, Zeit, Handlungssituation zur Orientierung angegeben werden, hebt sich die Erzählwürdigkeit der Geschichte (wie im oben zitierten Beispiel) mittels der Detaillierung hervor. <?page no="228"?> 228 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem Meine empirische Forschung der Tandemgespräche ergibt, dass chinesische Lerner zwar in ihren konversationellen Erzählungen Details produzieren, aber hauptsächlich nur bei der Darstellung der relevanten Elemente am Erzählanfang, wie wir im vorausgegangenen Kapitel festgestellt haben. Beim Aufbau der Erzählwürdigkeit bzw. der wichtigen Aktivitäten der Geschichte findet sich kaum ein Beleg der Detaillierung, die die Lerner selbstinitiiert darlegen. Detaillierungen in den nichtmuttersprachlichen Erzählungen kommen zumeist durch konstruktive Unterstützung des muttersprachlichen Zuhörers vor. Das werde ich im Kapitel über Scaffolding genau erläutern. 4.5.4 Erzählbeendigungen Wie jede Erzählung eine Ankündigung hat, weist sie auch eine Sequenz auf, mit der sie beendet wird. Labov / Waletzky (1967) bezeichnet sie als Koda, die einen Brückenschlag zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart herstellt. Von der Koda aus kann das Gespräch in verschiedene Richtungen fortgesetzt werden. Man kann z. B. die vorangegangene Kommunikation wieder aufnehmen oder andere Themen initiieren. Nach konversationsanalytischer Erzählforschung kommt Erzählbeendigung in verschiedenen Formen vor. Kotthoff (2014: 18-19) nennt folgende Gestaltungsmöglichkeiten von Erzählbeendigungen, die in konversationellen Erzählungen auftreten können: - Evaluationen - Haltung der Rezipienten zur Geschichte - Zusammenfassende Bewertung der Geschichte - Klischees oder Sprichwörter. Wie der Erzählanfang wird die Auflösung der konversationellen Geschichte interaktiv hervorgebracht. In der Erzählforschung setzen sich die Gesprächsanalytiker mit der Konstruktion der Übergänge vom Dramatisieren zum Abschließen auseinander. Quasthoff (1980: 222) weist z. B. darauf hin, dass das Ende einer Erzählung häufig vorher angekündigt wird. Durch bestimmte Partikeln wie na ja oder also indiziertder Erzählerden Wechsel von „einer tieferen auf eine höhere Ebene der Informationsstruktur“ (Quasthoff 1980: 222). Im Hinblick auf die Organisation der Erzählstruktur funktionieren solche Partikeln als Gliederungssignale. Bei derlei Ankündigung der Erzählbeendigung hat der Zuhörer Möglichkeiten, seine weiteren Informationsbedürfnisse bezüglich der erzählten Geschichte zu befriedigen oder den Abschluss zu akzeptieren. Ein Blick in die Literatur zeigt, dass sich die bisherige Erzählforschung hauptsächlich mit der Gestaltung der Erzählbeendigung muttersprachlicher Gesprächspartner beschäftigt (Labov / Waletzky 1967, Quasthoff 1980, Hausen- <?page no="229"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 229 dorf / Quasthoff 1996, Kotthoff 2014). Nichtmuttersprachliche Erzählbeendigungen werden noch kaum behandelt. In den bisherigen Studien werden die Strukturen der muttersprachlichen Konstruktionen des Abschließens analysiert. Meine Untersuchung bezieht sich auf die Erzählbeendigungen der chinesischen Lerner. Zum einen sind bei meinen Probanden bestimmte Erzählbeendigungen zu beobachten, die wie unter Muttersprachlern gestaltet werden. Zum anderen zeichnen sich die konversationellen Erzählungen in meinen Daten durch spezifische konstruierte Beendigungen aus. Die Erzählungen gehen nämlich durch Beiträge des Muttersprachlers, sprachliche Lehr-Lern-Aktivitäten oder landeskundliche Diskussionen zu Ende. Dies lässt sich damit begründen, dass die Erzählungen im Tandem einerseits das Sprachenlernen als ein wichtiges Ziel haben und andererseits in eine interkulturelle kommunikative Situation eingebettet sind. Folgend werde ich meine Untersuchungsergebnisse präsentieren. 4.5.4.1 Erzählbeendigungen durch zusammenfassende Bewertungen Ein Teil der konversationellen Erzählungen in meinem Korpus gehen mit einer zusammenfassenden Bewertung zu Ende. Mit dem folgenden Beispiel demonstriere ich, wie Ting ihre Erzählbeendigung mit einer Koda, die die „Erzählzeit“ und die „erzählte Zeit“ verbindet, gestaltet. Gespräch: der Zug ist ausgefallen. ((Tandemgespräch, 26: 17-26: 40 Sek.)) [26: 17] 29 30 31 Ting: ja ich habe ein TAxi genommen; oh: : TEUer; [hehehehe- ] 32 Linda: [ja was beZAHLteste du? ] 33 Ting: hm FÜNFzehn [FÜNFzehn euro.] 34 Linda: [oh: : ] 35 Ting: hehehehe- 36 LQ: für fünf fünfzehn miNUten; 37 38 Linda: ja. SCHEIße. 39 40 41 42 Ting: SCHEIße. ah: : werde ich NICHT mehr äh dort gehen. es ist zu TEUer. 43 Linda: oh: : <?page no="230"?> 230 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 44 (4.0) 45 Ting: WANN brauch brauchen wir (.) dort gehen, [26: 40] 46 Linda: kommt ihr MIT? Die Sequenz zeigt auf, wie Ting und Linda eine Erzählung durch einen gemeinsamen Abschluss beenden. In diesem Beispiel erzählt Ting eine Geschichte von sich. Sie war am vergangenen Wochenende in eine andere Stadt zum Einkaufen gefahren. Bei der Rückfahrt verpasste sie wegen eines Zugausfalls die letzte Busfahrt vom Bahnhof nach Hause. Sie musste um Mitternacht ein Taxi nehmen. Betrachten wir nun die Beendigung dieser Erzählung. In Zeile 29 erzählt Ting ihrer Tandempartnerin, dass sie schließlich ein Taxi nach Hause nahm. Im Anschluss daran kommentiert sie „oh: : TEU er; “ (Zeile 30) mit einer deutlich emotionalen Stimme. Das darauf folgende Lachen (Zeile 31) kann als das Verbergen ihrer Verzweiflung interpretiert werden. Die Frage der deutschen Studentin „[ja was be ZAHL teste du? ]“ (Zeile 32) führt zur Präzisierung der Taxikosten „ FÜNF zehn euro“ durch Ting (Zeile 33). Lindas Staunen wird durch die deutliche Dehnung von „oh: : : “ (Zeile 34) ausgedrückt. Ting reagiert darauf mit einem verlegenen Lächeln (Zeile 35). Da ich diese Geschichte vorher schon kannte, ergänze ich bei der teilnehmenden Beobachtung hier, dass die Taxifahrt nur „fünfzehn mi NU ten“ dauert (Zeile 36). Linda liefert das Hörersignal „ja“ (Zeile 37) und kommentiert diese Geschichte danach mit „ SCHEI ße“ (Zeile 38), was Resonanz bei der chinesischen Erzählerin findet, indem sie anschließend „ SCHEI ße“ (Zeile 39) wiederholt. Tings kurze Zusammenfassung „werde ich NICHT mehr äh dort gehen. es ist zu TEU er.“ (Zeile 41 und Zeile 42) verweist auf die Zukunft. Die Koda schlägt eine Brücke zwischen der Vergangenheit in der Geschichte und der Gegenwart der Erzählzeit. Ting steigt damit also aus der Erzählung aus. Der Abschluß der Geschichte wird deutlich angekündigt. Linda produziert hier noch einmal das gedehnte Signal „oh: : “ (Zeile 43), was ihre Verwunderung unterstreicht. Nach einer kurzen Pause (Zeile 44) schneidet Ting ein anderes Thema an (Zeile 45). Die beiden reden nun über den Abendplan für einen Chor. Die Erzählung über den Zugausfall geht also zu Ende. 4.5.4.2 Erzählbeendigungen durch Beiträge des Muttersprachlers Lis Daten zeigen, dass sie als Lernerin mit einem niedrigen Sprachniveau häufig sprachliche Probleme beim Erzählen hat. In ihren Tandemgesprächen findet sich eine große Menge von Sequenzen, in denen sie mit ihrem Tandempartner gemeinsam sprachliche Probleme bearbeitet. Um eine Geschichte zu Ende zu bringen, dauert es bei Li also normalerweise deutlich länger als bei anderen Probanden. Das führt dazu, dass die beiden Gesprächspartner mitunter das Interesse an der konversationellen Erzählung verlieren. Das folgende Beispiel <?page no="231"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 231 zeigt, wie Li nach der mühsamen Bearbeitung der Sprache bzw. nach der langen Zeitdauer das Gesprächsthema plötzlich wechselt und wie ihr Tandempartner die Geschichtenerzählung zu Ende bringt. Gespräch: Ein türkischer Student ist auf etwas stinkendes getreten. ((Tandemgespräch, 01: 30: 29-01: 31: 38 Sek.)) [01: 30: 29] 01 Li: [als ] er das heRAUSfund; 02 Lukas: [oder-] 03 04 05 Li: Lukas: hat er den andere anderen schuler SCHÜler. entSCHULdigung gesagt. entSCHULdigte er sich bei den anderen schülern. 06 Li: entSCHULdigte. 07 08 entSCHULdigte (.) er sich bei den anderes anderen schuler. [schülern.] 09 Lukas: [SCHÜlern.] 10 11 12 Li: schülern hm. und danach un danach ähm (.) ist er zu hause GEhen. [nach nach- ] 13 Lukas: [daNACH ging er nach hause.] 14 Li: ja danach gehe danach GING er nach hause. 15 (1.4) 16 Lukas: <<rall> wie LANge > (.) war der unterricht noch; 17 Li: äh dreizig miNUten. 18 (2.5) 19 20 Lukas: dann sagte er oh mein schuh STINKT so sehr; äh ich MUSS jetzt gehen; 21 Li: mhm. 22 Lukas: hehe 23 Li: ich habe eine ANdere - 24 (2.0 Geräuch von Blättern) 25 Lukas: ist das vorBEI, 26 Li: ich habe ein paar WÖRter, 27 Lukas: ja, <?page no="232"?> 232 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 28 Li: nicht verstehen. [01: 31: 38] 29 Lukas: verstanden. In diesem Gesprächsausschnitt erzählt Li, dass ein türkischer Student auf etwas Stinkendes getreten sei. Das gesamte Gespräch über diese Geschichte dauert fast 10 Minuten. Ein Teil des Transkripts wurde bereits bei der Analyse des Erzählanfangs und der Redewiedergabe präsentiert. Hier ist der letzte Teil der Erzählung. In Lis Geschichte geht es um einen türkischen Student aus ihrem Sprachkurs. Er versuchte einmal, die Quelle des Gestanks im Kursraum herauszufinden. Zuerst verdächtigte er den Teppich, aber der Geruch blieb, auch wenn er einen anderen Platz nahm. Schließlich fand er heraus, dass der unangenehme Geruch von seinen Schuhen kam. Er war nämlich auf etwas Stinkendes getreten, bevor er in den Kursraum kam. In dem oben präsentierten Ausschnitt erzählt Li, dass der türkische Student die Geruchsquelle herausfand und anschließend nach Hause ging. In dem Gespräch zwischen Li und Lukas gibt es mehrere Nebensequenzen für Lernaktivitäten. Denn Li hat ein niedriges Sprachniveau und Lukas ist im Vergleich zu anderen Probanden in meinem Korpus deutlich aktiver, seiner Tandempartnerin bei sprachlichen Formulierungsschwierigkeiten zu helfen. Die Rolle von Lukas im Tandem wird im nächsten Kapitel über Scaffolding genauer analysiert. Wir schauen in diesem Kapitel auf die Erzählbeendigungen. Bis Zeile 14 erzählt Li die grobe Handlung der Geschichte, was ca. 9 Minuten dauert. Nach einer kurzen Pause (Zeile 15) beginnt Lukas nachzufragen (Zeile 16). Auffällig ist die längere Pause in Zeile 18. Li beantwortet Lukas’ Frage, indem sie kurz „äh dreizig miNUten“ (Zeile 17) sagt. Die Pause könnte in den unterschiedlichen Erwartungen der beiden Probanden begründet sein. Einerseits denkt Li, dass sie die Frage von Lukas beantwortet hat und Lukas weiter reden sollte. Andererseits könnte es sein, dass Lukas von Li weitere Details erwartet, weil die Geschichte bisher noch keine Pointe hat. Der Beitrag von Lukas daraufhin kann im gewissen Maße beweisen, dass er ausführliche Beschreibungen der Geschichte erwartet, da er selber mittels direkter Redewiedergabe (Zeile 19, 20) die Dramatisierung gestaltet. Darauf reagiert Li mit einem Rezipienzsignal „mhm“ (Zeile 21). Lukas lacht anschließend leicht (Zeile 22). Interessanterweise wechselt Li im Anschluss daran schnell das Thema, indem sie „ich habe eine AN dere -“ (Zeile 23) äußert. Gleichzeitig beginnt sie, in Büchern zu blättern. Auffallend ist, dass Lukas die Frage „ist das vor BEI ,“ (Zeile 25) stellt. Er kündigt damit im gewissen Maße die Erzählbeendigung auf eine spezifische Weise an. Darauf reagiert Li aber nicht. Ihre Aufmerksamkeit ist schon auf ein anderes Thema gelenkt. Sie <?page no="233"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 233 möchte sich unter Mithilfe ihres Tandempartners mit fremden Wörtern der deutschen Sprache beschäftigen, ohne die Erzählung weiter zu bearbeiten. Lukas passt sich dem von Li eingeführten neuen Thema an. Lis Geschichte geht also mit Lukas’ expliziten Ankündigungen in Form der Frage zu Ende. Wir sehen, dass diese Erzählung durch den Beitrag des Muttersprachlers auf eine spezifische Weise beendet wird. Nach fast 10 Minuten hat Li endlich geschafft, die Handlung der Geschichte grob zu erzählen. Aber es folgt dann keine weitere Bearbeitung (z. B. Kommentar, Höhepunkt, Quintessenz). Der Themawechsel ist unnatürlich, selbst Lukas ist überrascht und fragt, ob die Geschichte vorbei sei (Zeile 25). Der Grund dafür könnte darin liegen, dass Li nach der langen mühsamen Erzählung wenig Lust verspürt, die Geschichte weiter zu bearbeiten. Schauen wir das gesamte Transkript an, bemerken wir viele sprachliche Formulierungsschwierigkeiten beim Erzählen dieser Geschichte. In diesem Gespräch kommen häufig Nebensequenzen vor, wo beide Partner sprachliche Probleme bewältigen. Daraus ergibt sich, dass neben dem Sprachniveau mindestens zwei weitere Faktoren das Erzählen der Lerner stören können. Erstens geht es um die Zeitdauer der Erzählung. Einerseits steht die Wirkung einer erzählten Geschichte im Zusammenhang mit der Länge der Erzählzeit. Andererseits beeinflusst die Zeitdauer die Gesprächspartner. Die beiden würden nach und nach das Interesse an der Erzählung verlieren. In dem oben zitierten Beispiel geschieht dies der Sprecherin. Zweitens greifen Muttersprachler stark ein. In diesem Beispiel spielt der Muttersprachler eine sehr aktive Rolle. Bei den meisten sprachlichen Schwierigkeiten von Li hilft Lukas. Es ist zu beobachten, dass die Nebensequenzen von Lernaktivitäten einen großen Teil in der gesamten Erzählung ausmachen. Das führt dazu, dass die Erzählung oft unterbrochen wird und länger dauert. 4.5.4.3 Erzählbeendigungen mit sprachlichen Bearbeitungen Zuweilen schließen Gesprächspartner Erzählsequenzen mit sprachlichen Lehr- Lern-Aktivitäten ab. In diesem Fall wird die Erzählbeendigung in meinen Daten explizit angekündigt. Dazu das folgende Beispiel aus Lis Daten: Gespräch: nachtblind ((Tandemgespräch, 01: 05: 20-01: 08: 32 Sek.)) [01: 05: 20] 01 02 03 Li: als ich gesagt; ich habe nicht diese KRANKheit. diese er [er erbliche- ] 04 Lukas: [erbliche KRANKheit.] <?page no="234"?> 234 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 05 06 07 Li: erbliche KRANKheit; denn ich habe typi typiTAL ähm - ich bin NICHT ein typital pa patient; 08 Lukas: ein? 09 Li: ein typiTAL? 10 11 Lukas: typital? 没有 ; keins; das gibt es nicht; 12 Li: <<engl.Aussprache> typical? > 13 14 Lukas: ach: : (lacht) ein TYpischer. 15 16 Li: TYpischer ein TYpischer ein TYpischer patient; dann ihr hat ein anderen paTIent gefunden. 17 18 19 20 21 22 Lukas: aber typisch heißts- also. (2.4) ich glaube nicht dass du TYpisch sagen möchtest. ich glaube dass du etwas ANderes sagen möchtest. ähm- 23 24 Li: TYpisch. weil ich brauche- 25 Lukas: du willst nicht geBRAUCHT oder? 26 Li: nein. 27 Lukas: oder, 28 29 Li: ich ich meine; vielleicht für diese er erblich KRANKheit, 30 Lukas: mhm. 31 Li: äh du bist bist du äh nicht BLIND, 32 Lukas: mhm. 33 34 Li: äh und deine mutter oder deine großmutter hat diese diese KRANKheit auch? hat auch diese KRANKheit? 35 36 Lukas: achso. jetzt[verstehe ich.] <?page no="235"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 235 37 38 Li: [und dann- ] ein anderer- 39 Lukas: also äh ähm diese krankheit ist nicht TYpisch; 40 41 Li: mhm. (1.6) 42 43 44 45 Lukas: also eine eine typische KRANKheit; eine krankheit die sie MÖCHte, oder eine krankheit die sie beNUtzen kann, um zu FORschen, wäre die krankheit die ERBlich ist. 46 Li: mhm. 47 Lukas: aber eine atypische oder untypische KRANKheit (.) weil sie so selten ist; 48 Li: mhm. 49 50 51 Lukas: und weil sie nicht verERBlich ist; (1.8) die BRAUchen sie nicht; 52 (15.5) 53 LQ: 他们 就是 需要 那种 遗传性的 去 研究 , sie also brauchen die vererbliche zum Erforschen, sie brauchen also die vererbliche Krankheit zum Erforschen, 54 Li: 因为 这 那个 病 本 身 就是 遗传性的 . weil diese Krankreit selbst ist vererblich. weil diese Krankheit eigentlich vererblich sein sollte. 55 LQ: 嗯 . en. mhm. <?page no="236"?> 236 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 56 57 58 Li: 他们 给 我 诊 断 成 那种 病 ; sie für mich diagnostizieren diese Krankheit; sie haben meinen Fall als diese Krankheit diagnostiziert; 但是 我 又 我 又 说 了 . aber ich wieder ich wieder sagte. aber ich habe auch gesagt. 我 家 人 没 有 这种 病 . meine Familienmitglieder haben keine solche Krankheit. meine Familienmitglieder haben solche Krankheit nicht. 59 LQ: 哦 : : o: : ach: : 59 Li: 所以 我 不 是 个 典型的 病人 . deswegen ich nicht bin eine typische Patientin. deswegen gehöre ich nicht zu den Patienten, die diese typische Kankheit haben. 60 LQ: 嗯嗯 . en en. mhm mhm. 61 Li: 所 以 我 想 说 这个 叫做 typischer [patient.] deswegen ich möchte sagen das heißt typischer Patient. deswegen möchte ich sagen, dass das ein typischer Patient ist. 62 Lukas: [mhm mhm.] 63 LQ: [mhm mhm.] 64 65 Lukas: also ähm ein ein typischer patient wäre jemand der HUSten hat. oder jemand der SCHNUPfen hat. 66 Li: hm: 67 68 69 70 Lukas: oder jemand der sich ein etwas geBROchen hat. ein knochen geBROchen hat. das ist TYpisch. also [häufig] sehr häufig. <?page no="237"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 237 71 Li: [hm. ] 72 Lukas: ein typischer paTIent. 73 Li: hm hm hm. 74 Lukas: aber einer also dieser typ von KRANKheit. 75 Li: mhm. 76 Lukas: man redet über die KRANKheit nicht über den patient. 77 78 79 80 Li: aha, typisch KRANKheit. mhm. (6.6) 81 Lukas: okay? 82 Li: ja. 83 Lukas: ja schon halb FÜNF. 84 (9.2) [01: 08: 32] 85 Li: ähm du isst nur nur geMÜse? Li erzählt die Geschichte ihres Arztbesuchs. Der Erzählanfang ist bei der Analyse der Redewiedergabe schon präsentiert worden. Aus Platzgründen wird hier nur das letzte Teil der Erzählung dargestellt. Li besuchte wegen ihrer Nachtblindkeit einen Arzt. In der Tandeminteraktion mit Lukas versucht sie, ihr Gespräch mit dem Arzt zu rekonstruieren. Früher war bei Li eine erbliche Nachtblindheit diagnostiziert worden. Beim letzten Besuch jedoch wurde festgestellt, dass keines ihrer Familienmitglieder unter Nachtblindkeit leidet. Daher ist ihre Nachtblindkeit untypisch. Aus diesem Grund machte der Arzt den Vorschlag, dass Doktoranden oder andere Wissenschaftler in diesem Bereich ihre besondere Nachtblindkeit untersuchen könnten. Im obigen Ausschnitt führt Lis Ausdruck „typischer Patient“ zum Missverständnis. Aus diesem Grund entsteht eine lange Nebensequenz, in der die beiden die sprachlichen Probleme behandeln. In Zeile 07 äußert Li zum ersten Mal den Ausdruck „ein typital pa patient; “. Offensichtlich erfindet sie das Wort „typital“. Sie leitet es von dem englischen Wort „typical“ ab, spricht es jedoch nach den phonetischen Regeln der deutschen Sprache aus. Lukas versteht nicht und fragt nach, indem er „ein? “ mit deutlich steigender Intonation sagt. Li wiederholt wie zuvor. Die Wiederholung von Lukas „typital? “ (Zeile 10) und die unmittelbar anschließende Verneinung auf Chinesisch (Zeile 11) verdeutlicht, dass er immer noch nicht verstanden hat. Nachdem Li das Wort „typical“ auf Englisch spricht (Zeile 12), versteht Lukas und liefert den richtigen deutschen Ausdruck „ein typischer“ (Zeile 14). Das wird von Li ratifiziert (Zeile 15) und sie möchte die Geschichte fortsetzen (Zeile 16). Jedoch schenkt Lukas ihrer weiteren Erzählung <?page no="238"?> 238 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem keine Aufmerksamkeit. Stattdessen denkt er immer noch über Lis Ausdruck „ein typischer Patient“ nach. In Zeile 17 will er versuchen, die Bedeutung des Wortes „typisch“ zu erklären. Die Erklärung liefert er aber nicht. Stattdessen äußert er nach einer kurzen Pause (Zeile 19) seine Annahme, dass Li nicht „typisch“, sondern „etwas anderes“ (Zeile 21) sagen möchte. Als ein Muttersprachler erkennt er offensichtlich die Unangemessenheit dieses Wortes an dieser Stelle. Tatsächlich wird dieser Ausdruck „ein typischer Patient“ aus der chinesischen Sprache wörtlich in die deutsche Sprache übersetzt, was aber nicht in den deutschen Kontext passt. Trotz Lukas‘ Zweifel an dem Ausdruck hält Li daran fest, wenn sie ihn „ TYpisch“ (Zeile 23) mit stärkerer Intonation wiederholt. Während sie das begründen möchte (Zeile 24), stellt Lukas eine Frage (Zeile 25), die sich nicht direkt auf den gerade erörterten Ausdruck bezieht, sondern in den vorher vermittelten Inhalt zurückführt. Li bestätigt, dass sie nicht als eine Probandin gebraucht werden will (Zeile 26). Mit der Einführungsrede „ich meine“ (Zeile 28) versucht Li weiter zu erklären, was sie mit dem Ausdruck meint. Von Zeile 29 bis Zeile 34 findet sich ihre Erklärung. Daraus schließt Lukas, dass er versteht, was Li sagen will. Das beweisen sein Verstehenssignal „achso“ (Zeile 35) und seine explizite Äußerung „jetzt verstehe ich“ (Zeile 36). In Zeile 39 übernimmt er wieder das Rederecht und korrigiert Lis Ausdruck „typischer Patient“ auf „also äh ähm diese krankheit ist nicht TY pisch; “ (Zeile 39). Die Korrektur wird von Li ratifiziert (Zeile 40). Nach einer kurzen Pause (Zeile 41) konkretisiert Lukas die Bedeutung einer „typischen Krankheit“ (von Zeile 42 bis Zeile 47). Dazwischen produziert Li einfach „mhm“, was entweder als Rezipienzsignal oder als Hörersignal interpretiert werden kann. Von Zeile 49 bis Zeile 51 gibt Lukas seine Interpretation von Lis Erzählung. Er nimmt nämlich an, dass der Arzt Li nicht als eine Probandin nehmen möchte, weil ihre Krankheit nicht erblich sei. Nach der Interpretation von Lukas in Zeile 51 entsteht eine lange Pause. Offenbar erwartet er entweder eine Bestätigung oder eine weitere Erklärung seiner Tandempartnerin. Li schweigt aber in diesem Zeitraum. Ein möglicher Grund könnte darin liegen, dass sie den Beitrag von Lukas nicht versteht. Da die Pause ungewöhnlich lange dauert und das Gespräch nicht weiter fortgesetzt wird, greife ich ein. Bei der Aufnahme dieses Gesprächs war ich als teilnehmende Beobachterin dabei. Ich sprach mit ihr auf Chinesisch. Von Zeile 53 bis Zeile 61 ist klar, was Li genau erzählen möchte. Der Arzt möchte sie als Probandin nehmen, weil ihre Krankheit eine Ausnahme in diesem Bereich darstellt. In der Regel ist eine solche Krankheit vererblich, aber in ihrem Fall nicht. Das ist eine Besonderheit, die den Arzt fasziniert. Aus dem chinesischen <?page no="239"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 239 Gespräch zwischen Li und mir erfährt Lukas auch die genaue Handlung der erzählten Geschichte. Das Missverständnis wird dadurch beseitigt. Lukas versteht nun, worin der Irrtum besteht. Von Zeile 64 bis Zeile 72 erklärt er, was ein „typischer Patient“ bedeutet. Darauf reagiert Li mehrmals mit dem Rezipienzsignal „mhm“ (Zeile 66, 71, 73). In Zeile 74 weist Lukas explizit darauf hin, dass es in Lis Fall eigentlich nicht um den Patienten, sondern um die Krankheit geht (Zeile 74 und Zeile 76). Lis Reaktion mit „aha,“ (Zeile 77) und ihr neuer Ausdruck „typisch KRANK heit.“ (Zeile 78), der ihren vorherigen Ausdruck „typischer Patient“ ersetzt, verdeutlichen offensichtlich, dass sie das Formulierungsproblem jetzt versteht. Nach dem anschließenden Rezipienzsignal „mhm“ (Zeile 79) entsteht eine kurze Pause. Ein möglicher Grund dafür wäre, dass Li in dieser Zeit noch über den neuen Ausdruck nachdenkt. Das kurze Schweigen (Zeile 79) wird schließlich von Lukas’ Frage, ob das „okay? “ (Zeile 80) sei, unterbrochen. Nachdem Li mit „ja.“ (Zeile 81) geantwortet hat, weist Lukas darauf hin, dass es „schon halb fünf “ (Zeile 82) sei. Damit erklärt er, dass er sich wegen der fortgeschrittenen Zeit verabschieden möchte. Bei der teilnehmenden Beobachtung ist zu sehen, dass Li dann aufsteht und zu einem Schrank geht. Sie nimmt eine Packung vom getrockenem Gemüse aus China heraus und will sie ihrem Tandempartner schenken. Da Lukas beim vorherigen Tandemtreffen ihr erzählt hatte, dass er Veganer sei, fragt sie zur Bestätigung noch einmal nach (Zeile 85). Die Erzählung ihrer Geschichte über den Arztbesuch endet auf diese Weise. Bemerkenswert ist, dass es sich im letzten Teil dieser Erzählung hauptsächlich um die Behandlung des sprachlichen Problems zur Verständnissicherung des Muttersprachlers handelt. Nach der Bewältigung bearbeiten die beiden aber die Geschichte nicht mehr. Einerseits liegt es an Lukas’ Zeitnot, auf die er explizit hinweist. Andererseits könnte es aber auch von der langen Dauer der Erzählung von über drei Minuten abhängig sein. Es ist verständlich, wenn das den Hörer ermüdet. Lukas hat scheinbar nicht so viel Interesse, nach Details oder weiteren Handlungen in dieser Geschichte zu fragen. Die Erzählung wird dann mit der sprachlichen Bearbeitung beendet. 4.5.4.4 Erzählbeendigungen mit landeskundlichen Diskussionen Die Einleitung einer landeskundlichen Diskussion am Erzählende macht einen nicht unerheblichen Teil in meinen Daten, überwiegend bei Le, aus. Le ist häufig in der Lage, das Thema der erzählten Geschichte zu erweitern und damit den <?page no="240"?> 240 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem Übergang zwischen der Erzählbeendigung und dem nächsten Gesprächsthema zu gestalten. Dazu möchte ich das erste Beispiel über Erdbeben präsentieren. Gespräch: Ich habe einmal ein Erdbeben erlebt. ((Tandemgespräch, 05: 45-06: 54 Sek.)) [05: 45] 43 Le: nein nein nur SCHÜTtelte; 44 Max: okay; 45 Le: ich [habe-] 46 Max: [was ] MACHT ihr dann wenn so was passiert, 47 Le: alle LIEfen zum sportplatz, 48 Max: okay; 49 50 Le: und dann blieben DORT ein bisschen; und dann hat die schule ähm entSCHIEden uns freizulassen 51 52 Max: ja KLAR; ((lacht)) 53 Le: ja? 54 Max: <<p> okay; > 55 Le: in DEUTSCHland gibt es auch kein (.) keine hochwasser? 56 57 58 59 60 61 Max: das SCHON.= =SCHON ja. das SCHON. und zwar meistens da in DRESden oder so eher weiter oben; = =und irgendwo (.) gibts AUCH.= =ja doch es gibts SCHON. 62 Le: und- 63 Max: aber auch nicht so MEgaschlimm. 64 Le: TROckenheit auch nicht, 65 66 67 Max: DÜRre hm nee; du SIEHST ja das wetter hier. ((lacht)) 68 Le: deutschland ist ein GUT (.) country. 69 (2.0) 70 71 Max: auch keine HURricane. wirbelSTÜRme gibts hier auch nicht (.) wirklich. <?page no="241"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 241 [06: 54] 72 (2.0) In diesem Gespräch erzählt Le ihr Erlebnis bei einem Erdbeben in China. Max initiiert das Thema durch die Frage, ob sie ein Erdbeben erlebt habe. Aus Platzgründen wird hier nur ein Teil des Transkripts wiedergegeben, und zwar das Ende der Erzählung. In Zeile 46 stellt Max die Frage „[was] MACHT ihr dann wenn so was passiert,“, was dazu führt, dass Le die Erdbebenszene näher beschreibt (Zeile 47, 49, 50). Dazwischen reagiert Max ohne explizite Kommentierung einfach mit dem Rezipienzsignal „okay; “ (Zeile 48, 54). Bemerkenswert sind die Zeilen 51 bis 54. Nachdem Le die Szene erzählt hat, liefert Max einfach „ja KLAR ; “ (Zeile 51), ohne darauf weiter einzugehen. Le reagiert mit einem kurzen „ja? “ (Zeile 53), was entweder als Hörersignal oder Rezipienzsignal interpretiert werden kann. Danach produziert Max wieder ein Rezipienzsignal „<<p> okay; >“ (Zeile 54). An der gesenkten Stimme ist zu sehen, dass Max kein großes Interesse zeigt. Le übernimmt dann das Rederecht und rahmt den Gesprächsinhalt in dem Thema „Naturkatastrophe“ ein, indem sie die Frage „in DEUTSCH land gibt es auch kein (.) keine hochwasser? “ (Zeile 55) an ihren Tandempartner stellt. Dadurch wird einerseits das Gesprächsthema auf eine landeskundliche Diskussion erweitert, andererseits geht die Erzählung über das Erdbebenerlebnis auf diese Weise zu Ende. Auch beim Witzerzählen sehen wir gut gestaltete Erzählbeendigungen durch Erweiterung des Themas, die ebenfalls von der chinesischen Lernerin initiiert wird. Hier möchte ich wieder auf das Beispiel von Le zurückgreifen, um die interaktive Konstruktion des Witzabschlusses zu illustrieren. Gespräch: ein Witz über Deutsche ((Tandemgespräch, 19: 12-19: 42 Sek.)) [19: 12] 35 Le: immer verSIcherung [ja. ] 36 Max: [hahaha-] 37 Le: du hast AUCH gesagt. 38 39 40 Max: ja. ja ich habe es schon FAST gedacht. haha- 41 42 43 44 Le: aber äh WIE zum beispiel; = wenn ich KRANK bin; wäre hmm ich gehe ich gehe zum KRANkenhaus, und wieVIEL prozent kann ich von den versicherung nehmen? <?page no="242"?> 242 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem [19: 42] 45 46 47 Max: das kommt daRAUF an. WAS (.) du versichert bist. hehe- Dieser Ausschnitt entstammt dem Gespräch über einen auf Deutsche bezogenen Witz, der bereits bei der Analyse des Erzählanfangs und der Redewiedergabe präsentiert wurde. Nun also das Ende der Witzerzählung. In dem Witz geht es um verschiedene Reaktionen von Menschen aus unterschiedlichen Ländern. Die Betroffenen wohnen in einem Haus. Als das Haus einmal brennt, verhalten sie sich sehr unterschiedlich. Während der Franzose seine Liebhaberin sucht, will der Chinese zuerst seine Mutter aus dem Haus bringen. Der Jude denkt nur an seinen Geldbeutel, für den Amerikaner spielt sein Hund die wichtigste Rolle. Nur der Deutsche kommt aus dem Haus, ohne etwas mitzunehmen. Überraschenderweise sagt er, dass er versichert sei. Dadurch ist die Pointe des Witzes erfolgreich gestaltet, was das unmittelbare Lachen des Hörers bestätigt. In Zeile 35 kommentiert Le ihren Witz durch die Wiederholung der Pointe „Versicherung“. Max reagiert mit starkem Lachen. Le weist darauf hin, dass er gleich zu Beginn der Erzählung gesagt habe (Zeile 37), dass er das Feuer löschen und dann zur Versicherung gehen würde. Das heißt, Max wird in diesem Witz mit dem Protagonisten zweifach identifiziert. Einerseits ist er ein Deutscher wie der Protagonist im Witz. Andererseits denkt er auch sofort an die Versicherung wie der Deutsche in der erzählten Geschichte. Auf Les Hinweis „du hast AUCH gesagt“ (Zeile 37) antwort Max, dass er vorher schon an diese mögliche Pointe gedacht habe (Zeile 38). Sein leichter Stolz auf die richtige Vermutung wird durch das anschließende Lachen unterstrichen (Zeile 40). Le übernimmt danach das Rederecht und leitet aufgrund der Witzpointe ein neues Thema ein, sie redet über Versicherungen in Deutschland (Zeile 41 bis Zeile 44). In Form von Fragen „wäre hmm ich gehe ich gehe zum KRAN kenhaus, und wie VIEL prozent kann ich von den versicherung nehmen? “ (Zeile 43, 44) gibt sie das Rederecht an Max zurück, damit er die Situation in Deutschland beschreibt und das Gespräch dann fortsetzt. Die Witzerzählung wird gleichzeitig auf diese natürliche Weise beendet. Während in den beiden oben genannten Beispielen Le das Erzählthema auf eine landeskundliche Diskussion bezüglich Deutschland erweitert, sehen wir im <?page no="243"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 243 folgenden Beispiel, wie der muttersprachliche Tandempartner eine kontrastive interkulturelle Diskussion einführt. Gespräch: Ein Mitarbeiter hat Geld gestohlen und wurde gekündigt. ((Tandemgespräch, 17: 20-19: 14 Sek.)) [17: 20] 34 Le: naTÜRlich muss man ihn kündigen. 35 Max: mhm. 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 Le: und (.) noch eine mitarbeiterin hat hat mir erZÄHLT; sie hat in einemdas istwie SAGT man, ein einen shop bei TANKstelle äh dort gearbeitet; = =und ähm ihr CHEF hat einmal gemerkt; es wird ungefähr fünfzigtausend euro fün- FÜNFtausend euro ähmdurch VIdeoaufnahmen hat der chef äh gefunden; = =dass eine mitarbeiterin hat das geld geSTOHlen; 46 47 48 49 50 51 52 Max: hier gibts VIEle fälle.= =zum beispiel auch wenn irgendwelche kasSIErerinnen oder so auch mal PFANDzettel mitnehmen. das nutzen dann die arbeitgeber immer als grund sie zu FEUern. denn hier in deutschland kann man ja eigentlich KEInen mitarbeiter feuern. also wir haben KÜNdigungsSCHUTZ eben. es gibt haltso ein paar GRÜNde wo man leute dann feuern kann. 53 Le: ja, 54 55 56 57 58 Max: und dann beNUtzen sie sowas ganz gern; = =auch wenn es nur ZEHN cent oder so war, als dann als grund um die leute zu FEUern. gibt es in china bei euch AUCH solche fälle, da gibts wahrscheinlich ganz VIEle solche sachen. <?page no="244"?> 244 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 59 60 61 62 Le: äähhhich glaube; = =in china sind ste STEllen vonich meine po posiTIONen von chef und mitarbeitern nicht so gleich wie in deutschland; 63 64 65 66 67 68 69 Max: hier sind ja auch hier hieRARchisch. hier also großer teil ist hier auch hieRARchisch gegliedert, die unternehmensFÜHrung in deutschland. aber es geht der TREND ist schon dahin.= =dass die hier hierarCHIE flacher wird.= =also dass nicht der CHEF dann kommt der dann kommt der,= =sondern eher das alles so zuSAMmen mitarbeitet. 70 Le: ja; 71 Max: weil das eben viel efFEKtiver beziehungsweise effizienter (.) ist die arbeit. 72 Le: die atmosphäre hier ist viel viel BESser; [19: 14] 73 Max: ja. In diesem Gesprächsausschnitt erzählt Le eine Geschichte über Diebstahl und die darauf folgende Kündigung. Die beiden beenden nun diese Erzählung. Aus Platzgründen kann das Transkript des gesamten Gesprächs hier nicht präsentiert werden. Jedoch möchte ich darauf hinweisen, dass Le vorher erzählt hatte, dass einer ihrer Mitarbeiter das Geld am Arbeitsplatz stahl und deswegen von dem Chef gekündigt wurde. Max fragte sie, wie sie das finde. Mit „na TÜRlich muss man ihn kündigen.“ (Zeile 34) äußert sie ihre Meinung explizit. Um diese weiter zu untermauern, berichtet sie von einem ähnlichen Fall, den sie von ihrer Mitarbeiterin gehört hat (Zeile 36 bis 45). Mit der Ankündigung „hier gibts VIE le fälle.“ (Zeile 46) nennt auch Max Beispiele. Jedoch bezieht er sich nicht auf konkrete Fälle, sondern liefert mit der Formulierung „irgendwelche kasSIErerinnen oder so“ (Zeile 47) eine allgemeine Aussage darüber. Danach ergänzt er Hintergrundinformationen. Nach seiner Meinung nutzt der Arbeitgeber den Diebstahl immer als Grund für eine Kündigung, weil man in Deutschland wegen des Kündigungsschutzes eigentlich keinen Mitarbeiter entlassen kann (Zeile 48 bis Zeile 50). Le reagiert darauf kurz mit „ja“ (Zeile 53), was als Hörersignal interpretiert werden kann. Von Zeile 54 bis Zeile 56 konkretisiert Max sein Argument, um die Bedeutung der Diebstahl für die Kündigung in Deutschland zu unterstreichen. Anschlie- <?page no="245"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 245 ßend fragt er die chinesische Studentin, ob es in China auch solche Fälle gebe (Zeile 57), worauf sie nicht direkt antwortet. Nach einem kurzen Zögern (Zeile 59) erklärt sie, dass die Position eines Chefs und eines Mitarbeiters anders als in Deutschland sei (Zeile 62). Diese durch „ich glaube“ (Zeile 60) modalisierte Aussage zeigt aber auch ihre Unsicherheit. Mit diesem Themawechsel geht die Erzählung über den Diebstahl und die Kündigung gleichzeitig zu Ende. Max geht im weiteren Gespräch auf die Hierarchie in deutschen Unternehmen ein und schneidet damit ein neues Thema an (Zeile 63 bis 69). Mit der Aussage über die ungleiche Position zwischen Chef und Mitarbeiter weist Le darauf hin, dass der Chef in China eine deutliche höhere Position hat und daher eine entscheidende Rolle bei der Kündigung des Mitarbeiters spielen kann. Max übernimmt das Thema über die Hierarchie im Unternehmen und führt das neue Gesprächsthema weiter. Le’s Beitrag „die atmosphäre ist hier viel viel BES ser“ (Zeile 72) verdeutlicht offensichtlich, dass Le’s Aufmerksamkeit nun auch auf das neue Thema gelenkt wird. Die oben genannten Beispiele legen dar, dass Le häufig in der Lage ist, den Übergang des Gesprächsthemas zur landeskundlichen Diskussion zu gestalten und damit die vorhergehende Geschichte zu beenden. Im Vergleich zu Le haben Ting und Li zwar ein deutlich niedriges Sprachniveau. Aber ein Blick in ihre Daten zeigen, dass sie trotz sprachlich-thematischer Schwierigkeiten ihre Erzählungen zuweilen mit einer landeskundlichen Diskussion weiterführen. Dazu das folgende Beispiel aus Lis Daten: Gespräch: Viele fünfzigjährige „Leute“ fragten meine Freundin nach ihrer Telefonnummer. ((Tandemgespräch, 00: 57: 24-01: 01: 25 Sek.)) [00: 57: 24] 01 02 03 Lukas: ich FINde, es ist äh (.) eigentlich eGAL; WIE eine beziehung anfängt. 04 05 06 07 Li: ach: : hehe das ist typisch ähm euROpa leute; (lacht) mhm. 08 (13.1) <?page no="246"?> 246 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 09 10 11 12 13 Lukas: ich denke das ist ein tradiTIonelles denken. dass ähm man als als FRAU möchte man erobert werden. man möchte man möchte äh: äh: sich so fühlen als ob man ein bisschen HÖher ist als der mann. (.) und der mann fragt die FRAU, ob sie nicht mit ihm zuSAMmen sein möchte. 14 (6.7) 15 Lukas: also die frau als etwas ganz beSONderes. 16 Li: mhm. 17 18 19 Lukas: und der mann äh äh fragt dann äh äh äh die FRAU, und und ähm- ähm ähm SCHÄTZT die frau sehr; 20 Li: mhm. 21 22 23 24 25 Lukas: und äh äh - er denkt äh oh sie ist ja sie ist ja so SCHÖN und so so GUT; und und ich bin ja EIgentlich nicht so gut; aber jetzt habe ich s geSCHAFFT. dass ich ein bisschen HÖher komme. 26 27 28 Li: ach: : : 我们 中国 嗯 有 一个 词 , wir China hm gibt es ein Wort, bei uns in China gibt es ein Wort, 叫做 凤凰男 ; heißt fenghuangnan; es lautet Phönixmann; 29 Lukas: <<p> 凤 -> fengunvollständige chinesische Aussprache für Phönix 30 Li: 凤凰 . fenghuang. vollständige chinesische Aussprache für Phönix 31 Lukas: <<p> 凤凰男 .> fenghuangnan. Phönixmann. <?page no="247"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 247 32 33 Li: mhm. 凤 凰 呢 就 是 跟 龙 相对应的 动物 . fenghuang PTCL ist also drache entsprechend tier. Phönix ist also das Tier, das dem Drache entspricht. 34 凤凰 . fenghuang. Phönix. 35 LQ: PHÖnix. 36 Li: [hm. ] 37 Lukas: [ach okay,] 38 39 Li: 这个的 说法 呢 就 是 形容 - dieser Ausdurck PTCL ist also zum Beschreibendiesen Ausdruck benutzt man also zum Beschreiben- 嗯 这个 男生 是 住在村里的 . hm der Junge wohnt im Dorf. hm der Mann wohnt in einem Dorf. 40 Lukas: <<p> 村里 -> im Dorfin einem Dorf- 41 42 43 44 45 Li: dorf. er wohnt in ein in einem DORF; und ähm er hat sehr ähm er hat sehr gut ges- er hat sehr gut gestudier stuDIERT? und dann er kann ein job in einer GROßen stadt funden. 46 Lukas: mhm. 47 48 Li: finden. dann er heißt ähm 凤凰男 . fenghuangnan. Phönixmann. 49 Lukas: ach: 50 51 Li: mhm. je[mand-] 52 Lukas: [also ] er ist sehr erFOLGreich. 53 Li: folgreich? <?page no="248"?> 248 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 54 Lukas: erFOLGreich. 55 56 57 Li: erFOLGreich ja. dann er hat ein ein FRAU in der ähm sie ähm die in der großstadt? ähm: 58 Lukas: lebt. 59 Li: geBOren, 60 Lukas: ach geBOren ist. 61 62 63 Li: und geBOren ist. wenn er hat sie- äh wenn ER mit sie- 64 Lukas: wenn er mit IHR, 65 Li: wenn er mit IHR (.) verheiratet? 66 Lukas: ist. 67 68 Li: ist? [dann vielleich-] 69 Lukas: [oder wenn er ] mit ihr HEIratet, 70 71 72 73 Li: HEIratet? gibt es ähm- gibt äh nein. ES zu viel probleme gibt. 74 Lukas: gibt es VIEL probleme. 75 76 Li: mhm. gibt es VIEL probleme. 77 Lukas: das ist vom unterschiedlichen STANDpunkt. 78 Li: mhm ja. 79 (3.7) 80 81 82 Li: das ist REal. das ist gegen 非 常 现 实 的 - ziemlich realistischziemlich realistisch- [REal 是 , ] ist, ist, 83 84 Lukas: [reaLIStisch; ] (3.8) 85 Li: er heißt 凤凰男 . fenghuangnan. Phönixmann. <?page no="249"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 249 86 (2.0) 87 88 89 90 Li: ja die frau ist HOCH? die in stadt- 社 会 地 位 怎么 说 ʔ shehui diwei wie sagen? wie sagt man shehui diwei auf Deutsch? <<engl. Aussprache> social statis,> 91 Lukas: sozialer STAND. 92 Li: ja [soziale-] 93 Lukas: [oder ]sozialer STAtus. 94 95 Li: socialer STAtus. mhm. 96 (5.0) 97 Li: in deutschland gi gibt es ähm in DEUTSCHland ? 98 Lukas: ja das gibt es AUCH. 99 Li: auch? 100 Lukas: ja. 101 102 Li: ach: : das ist ein übeRALL problem (.) in der ganz - 103 104 105 Lukas: ich denke in der GANzen welt ja. (5.4) oder auch zwischen verschiedenen LÄNdern. [01: 01: 25] 106 107 Li: ach: : ein kollegin- Diese Gesprächssequenz ist Teil des Gesprächs zum Thema „viele fünfzigjährige Leute fragten meine Freundin nach ihrer Telefonnummer“ zwischen Li und Lukas, das wir bei der Behandlung des Erzählanfangs und der Redewiedergaben bereits erörtert haben. In dieser Sequenz geht das Erzählthema zu Ende. Li behandelt die Belästigung von jungen asiatischen Frauen in Deutschland. Sie fängt dieses Thema mit Erlebnissen ihrer chinesischen Freundin an. Diese wird nämlich häufig von Männern mittleren Alters an Bushaltestellen nach ihrer Telefonnummer gefragt. Das wird von dem deutschen Studierenden als merkwürdig kommentiert. Als ein Muttersprachler kann Lukas sich nicht vorstellen, dass ein Fremder den anderen an einer Bushaltestelle nach Kontaktdaten fragt. Li erzählt dann eine andere Geschichte, in der eine ihrer Freundinnen in einer Bar von fremden Menschen angesprochen und nach ihrer Handynummer gefragt wird. Das hält Lukas für normal, weil es das Ziel eines Barbesuchs sei, <?page no="250"?> 250 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem Leute kennenzulernen und Kontakte miteinander zu knüpfen. Anschließend nennt Lukas sich und seine Freundin als ein Beispiel für diese Weise des Kennenlernens. Er erzählt, wie seine Freundin und er sich online kennenlernten und eine gute Beziehung entwickelten. Das Gespräch dauert bis zu diesem Zeitpunkt fast 14 Minuten. Die obige Sequenz ist der letzte Teil des Themas. Nachdem Lukas seine eigene Geschichte, die sich auf das Gesprächsthema bezieht, erzählt hat, kommentiert er sie in Zeile 01. Lis Beitrag dazu, sie finde das typisch europäisch (Zeile 05), deutet darauf hin, dass es in ihrer chinesischen Vorstellung nicht egal sei, wie eine Beziehung anfängt. Ihr Tandempartner begreift dies und geht nach einer Pause (Zeile 08) auf Lis Meinung ein. Von Zeile 09 bis 25 konkretisiert er das „traditionelle Denken“ (Zeile 09), dass am Beginn einer Beziehung die Frau eher eine höhere Stellung als der Mann habe. Der Mann freut sich, wenn er es endlich schafft, von seiner verehrten Frau als ihr fester Freund akzeptiert und in seinem Ansehen dadurch erhöht zu werden. Li fällt aufgrund der ausführlichen Erklärung von Lukas anschließend ein chinesisches Wort dafür ein, wenn sie in Zeile 27 und 28 mit der Redeeinführung „ach: : : “ (Zeile 26) das chinesische Wort „ 凤凰男 8 (feng huang nan)“ liefert. Mit diesem Begriff werden in China solche Männer bezeichnet, die auf dem Land geboren und aufgewachsen sind und später durch das Studium in großen Städten erfolgreich werden. Von Zeile 29 bis Zeile 95 entsteht eine lange Nebensequenz, in der Li ihrem Tandempartner den chinesischen Begriff beibringt. Dazwischen liefert Lukas mehrere Korrekturen und Reparaturen. Die Lehr- und Lernaktivität endet mit dem Rezipienzsignal „mhm“ (Zeile 95) auf die Reparatur von Lukas in Bezug auf den deutschen Ausdruck „sozialer Status“ (Zeile 94). Nach einer kurzen Pause (Zeile 96) führt Li das Gespräch von der langen Nebensequenz zum Gesprächsthema zurück, indem sie die Frage „in deutschland gi gibt es ähm in DEUTSCH land? “ an den deutschen Studierenden (Zeile 97) stellt. Trotz sprachlicher Schwierigkeiten übernimmt Li erneut das Rederecht und setzt das Gesprächsthema fort. Der Übergang von der Nebensequenz bis zum Gesprächsthema wird auf eine natürliche Weise durchgeführt. Ferner ist zu beobachten, dass Li die Erzählung zusammenfasst (Zeile 102), nachdem Lukas bestätigt, dass es auch in Deutschland ein solches traditionelles Denken gibt (Zeile 98, 100). Lis Zusammenfassung wird von Lukas ratifiziert (Zeile 103). Nach einer kurzen Pause (Zeile 104), die als Zeit zum Überlegen interpretiert werden kann, ergänzt Lukas, dass es in verschiedenen Ländern auch so sein kann (Zeile 105). Daraufhin beginnt Li, eine andere Geschichte über die Beziehung zwischen einer thailändischen Studienkollegin und deren deutscher Schwiegermutter zu erzählen. Dieses Thema ist offensichtlich von 8 wörtliche Übersetzung: Phönixmann. Bedeutung: ein hässliches Entlein. <?page no="251"?> 4.5 Analyse konversationeller Erzählungen im Tandem 251 Lukas’ Ergänzung „oder auch zwischen verschiedenen LÄN dern.“ (Zeile 105) abgeleitet worden. Bis hier kann man sehen, dass das Gesprächsthema über die Belästigung und der sich daraus ergebende Beziehungsanfang mit der Zusammenfassung der beiden Gesprächspartner beendet wird. Bemerkenswert ist, dass Li am Ende dieser Erzählung trotz sprachlicher Schwierigkeiten die Gesprächsstruktur im Vergleich zu ihren Beiträgen in früheren Beispielen erfolgreich gestaltet. Auf Lis Beiträge verhält sich Lukas angemessen. 4.5.4.5 Erzählbeendigungen durch Schweigen der beiden Tandempartner In den Daten von Ting und Linda tauchen Erzählsequenzen auf, die aufgrund von Schweigen der beiden Gesprächspartnerinnen auf eine unerwartete Weise zu Ende gehen. Dazu das folgende Beispiel: Gespräch: Unfall ((Tandemgespräch, 03: 03-04: 55 Sek.)) [03: 03] 01 02 Ting: mein gro großvater ähm geSTORben, weil er hatte sein BEIN verletzt; 03 Linda: wie ist das pasSIERT, 04 05 Ting: so er wohnt in in (.)DORF, äh 农村 怎么 说 , nongcun wie sagen, wie sagt man nongcun auf Deutsch, 06 Linda: [dorf. ] 07 LQ: [auf dem] LAND; 08 Linda: auf dem LAND ja. 09 10 Ting: auf dem LAND; und er MUSS jeden tag sehr so die die gemüse (.) gießen, 11 Linda: ja. 12 13 Ting: und er muss JEden tag so. was (.) die ganze familie ESsen selbst zu pflanzen pflanzen; 14 Linda: mhm. 15 16 17 Ting: und: es war ein WINter glaube ich; und er ha er FALlen auf den treppen. und hat ihn hat seine äh BEIN verletzt. 18 Linda: mhm. <?page no="252"?> 252 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem 19 20 21 Ting: und na: ch einer woche (.) geSTORben. weil er zu zu zu ALT ist_? er war NEUNundachzig jahre? 22 23 Linda: oh GOTT. okay. 24 25 26 Ting: ja zu ALT; und er ist der der BROnen- 骨头 怎么 说 , gutou wie sagen, wie sagt man gutou auf Deutsch, 27 LQ: KNOchen; 28 Ting: [KNOchen.] 29 Linda: [ach. ] 30 31 Ting: ja genau KNOchen. es ist ganz SCHWER zu wieder ähm- 32 Linda: zu beHANdeln? 33 34 35 36 37 38 39 Ting: ja. genau genau. weil er zu ALT ist; wenn es für ein JUNge, es ist einFAcher; weil ähm wenn du in KRANkenhaus bleiben, vielleicht nach einem monat wird es wieder KNOchen (.) wieder- 40 Linda: geHEILT? 41 Ting: [ja geNAU.] 42 Linda: [oh ui: : ] 43 44 Ting: ja geNAU. aber für IHN ist es zu schwer. 45 (9.0) [04: 55] 46 47 Ting: oh: : : heute habe ich ENDlich einen ganzen tag in der u: be: geblieben. Dieser Ausschnitt gibt die finale Gesprächssequenz zwischen Ting und Linda wieder, in der Ting von einem Unfall erzählt. Ein Teil des Gesprächs ist bei den Redewiedergaben schon präsentiert worden. Hier ist der letzte Teil dieser Erzählung. Ting hat vorher ihrer Tandempartnerin erzählt, dass sie einen Unfall in einem Supermarkt gesehen habe. Eine Seniorin stürzte die Treppen herunter und wurde verletzt. Ein Ambulanzwagen brachte sie ins Krankenhaus. Das erinnert sie an ihren Großvater, der an einem ähnlichen Unfall starb. In der oben <?page no="253"?> 4.6 Zusammenfassung 253 präsentierten Sequenz führt Ting dieses Gesprächsthema mit der Geschichte ihres Großvaters weiter. Die Erzählung über das Thema „Unfall“ geht endet in diesem Teil. In Zeile 01 und Zeile 02 führt Ting ihren Großvater mit dem Satz „mein großvater ähm ge STOR ben, weil er hatte sein BEIN verletzt; “ in das Gespräch ein. Lindas Frage „wie ist das pas SIERT ,“ (Zeile 03) trägt zu der Entwicklung der Erzählstruktur bei. Von Zeile 04 bis Zeile 44 erzählt Ting den Unfall. Dabei liefert Linda hauptsächlich Rezipienzsignale „ja“ (Zeile 11) und „mhm“ (Zeile 14, 18) sowie einige Reparaturen. Ein weiterer Beitrag der Muttersprachlerin zur Entwicklung der Erzählstruktur ist nicht zu finden. Besonders bemerkenswert ist eine lange Pause (9.0 Sekunden) (Zeile 45), nachdem Ting die Handlung der Geschichte erzählt hat. Danach übernimmt Ting noch einmal das Rederecht, und zwar mit dem Signal „oh: : : “ (Zeile 46) als Einleitung. Im Anschluss daran fängt sie mit einem völlig anderen Thema an. Die Erzählung über den Unfall wird mit der Einführung des neuen Themas beendet. Das Beispiel zeigt, wie eine Erzählung in Tandeminteraktionen durch das beiderseitige Schweigen unterbrochen und damit auf eine unerwartete Weise beendet wird. Ein eindeutiger Abschluss ist nicht zu erkennen. Die Interaktion läuft dann auf eine beliebige Weise weiter und die Probleme der vorherigen Erzählung, sowohl von der Struktur her als auch sprachlich, gehen unbehandelt durch. 4.6 Zusammenfassung Ziel des Kapitels 4 ist es, die konversationellen Erzählungen der chinesischen Lerner im Tandem zu rekonstruieren und damit ihre Erzählkompetenzen und Erzähldefizite zu analysieren. Die Untersuchung der vorliegenden Arbeit hat ergeben: (1) Die Analyse des Erzählanfangs zeigt, dass die chinesischen Lerner, unabhängig von ihrem Sprachniveau, oft in der Lage sind, ihre Erzählaktivität in das laufende Gespräch einzubringen. Dabei setzen sie unterschiedliche Verfahren ein. Die in der sprachwissenschaftlichen Erzählforschung behandelten verbalen Formen der Geschichteneinleitung, nämlich meta-narrative Äußerungen, Aufmacher und Orientierungen, sind bei den Probanden im vorhandenen Datenmaterial zu beobachten. Außerdem fällt auf, dass die chinesischen Lerner in meinem Korpus bei der Erzählinitiierung Sprichwörter verwenden. Dies betrachte ich als eine spezifische Variante der Einleitungsformen einer Geschichte, die wahrscheinlich kulturell bedingt ist. <?page no="254"?> 254 4 Erzählkompetenzen und Erzähldefizite der chinesischen Lerner im Tandem Trotz ihrer Kompetenz bezüglich der Einleitungsform sind auf der anderen Seite deutliche Defizite beim Aufbau des Erzählanfangs zu finden. Nach dem Befund der empirischen Untersuchung kann die problematische Gestaltung des Erzählanfangs hauptsächlich in sprachlichen bzw. sprachlich-thematischen Schwierigkeiten der Lerner begründet sein. Einerseits wird die Konstruktion des Erzählanfangs aufgrund des beschränkten Sprachniveaus oft beeinträchtigt. Andererseits sehen wir, dass Translationsprobleme, pragmatische sowie lexikalische Defizite für die Gestaltung des Erzählanfangs mitunter große Hemmnisse sind. (2) Im Bereich der Redewiedergabe sehen wir deutliche Unterschiede bei den Probanden, die verschiedene Sprachniveaus haben. Die Untersuchung verdeutlicht, dass Li häufig nicht in der Lage ist, die direkte Rede der Protagonisten in ihrer Geschichte stimmlich zu gestalten. Während Ting zuweilen gut differenzierte Redewiedergaben beherrscht, zeigt Le mit ihrem höheren Sprachniveau eine deutliche Steigerung im Vergleich zu den anderen. Le kann nicht nur die Wiedergabe direkter Rede in ihrer Erzählung stimmlich differenzieren und damit bestimmte Erzählwirkungen erreichen, sondern auch die Strategie der Überlagerung der Stimmen in ihrer Geschichtenerzählung einsetzen. Bei Li und Ting findet sich kein einziger Beleg der Überlagerung der Stimmen. Im Gegensatz dazu sind in den Daten von Li und Ting oft sprachliche Bearbeitungen bei der Konstruktion der Redewiedergabe zu beobachten. In Anbetracht der Anzahl der Probanden in meinem Korpus kann ich natürlich keine allgemeine Schlußfolgerung ableiten, in welchem Verhältnis das Sprachniveau der Lerner und ihre Fähigkeit bei der Gestaltung der Redewiedergabe stehen. Aber ich möchte mit dieser Beobachtung einen Anstoß für weitere Forschung unter diesem Aspekt geben. (3) Bei der Erzählbeendigung finden wir heraus, dass neue Formen im chinesisch-deutschen Tandem auftauchen. Neben der traditionellen Beendigungsform mittels zusammenfassender Bewertung der Geschichte entstehen im vorliegenden Datenmaterial neue Varianten. Die chinesischen Lerner und ihre muttersprachlichen Tandempartner schließen die konversationellen Erzählungen nämlich durch sprachliche Lehr-Lern-Aktivitäten und landeskundliche Diskussionen bezüglich des Erzählthemas ab. Diese lassen sich als besondere Formen des Erzählens im Tandem bezeichnen, die in der bisherigen konversationsanalytischen Erzählforschung nicht behandelt worden sind. Offensichtlich spielt das Sprachniveau auch dabei eine wichtige Rolle. Während Le mit höherem Sprachniveau die Erzählbeendigung häufig selbständig initiiert und den Übergang zum weiteren Gesprächsthema gestaltet, werden Geschichtenerzählungen von Li und Ting zuweilen durch Beiträge ihrer muttersprachlichen Tandempartner angekündigt und beendet. Außerdem ist in Tings <?page no="255"?> 4.6 Zusammenfassung 255 Daten zu beobachten, dass ihre konversationelle Erzählung einfach zu Ende geht, indem die beiden Gesprächspartner schweigen und damit eine relativ lange Pause entsteht. (4) An verschiedenden Stellen der Untersuchungsergebnisse ist bereits deutlich geworden, dass die muttersprachlichen Tandempartner eine bedeutende Rolle beim Aufbau der Erzählstruktur spielen. Letztendlich ist die Konstruktion der konversationellen Erzählung ein gemeinsames Handeln zwischen dem Erzähler und dem Zuhörer. Das nächste Kapitel widme ich der Analyse von Aktivitäten muttersprachlicher Laienlehrpersonen. <?page no="257"?> 5.1 Das Scaffolding-Konzept 257 5 Scaffolding 5.1 Das Scaffolding-Konzept Unter „Scaffolding“ ist im weitesten Sinne unterstützendes Lehrerverhalten im Lernprozess zu verstehen. In Form von Anleitungen, Reparaturen und anderen Hilfestellungen des kompetenteren Gesprächspartners werden sprachliche Aufgaben, die der Lerner allein noch nicht bewältigen kann, gelöst. Es handelt sich also um ein gemeinsames Handeln. Wie bei einem Gerüstbau wird zuerst eine Vorlage zur Orientierung aufgebaut. Sobald der Lerner in der Lage ist, bestimmte Teilaufgaben eigenständig zu bearbeiten, wird das stützende Gerüst schrittweise entfernt. „Scaffolding“ ist ein inzwischen konventionalisierter englischer metaphorischer Begriff. Im Deutschen wird es als unterstützender Dialog, dialogische Sprechlernhilfe, sprachliches Gerüst, interaktive Hilfestellung, Ko-Konstruktion, Gerüstbau u. ä. bezeichnet. Die Scaffoldingforschung hat ihre Ursprünge in den Erstspracherwerbsuntersuchungen des amerikanischen Kognitionspsychologen Bruner und seiner Mitarbeiter. In ihrem 1976 veröffentlichen Aufsatz (Wood / Bruner / Ross 1976: 90) zu vorsprachlichen Interaktionen zwischen Erwachsenem und Kind erschien der Begriff „Scaffolding“ erstmals. Grundlage zu Bruners Konzept des Scaffolding bildet Wygotskis Theorie von der Zone der nächsten Entwicklung. Damit bezeichnete Wygotski die Differenz zwischen zwei Entwicklungsniveaus des Kindes. Zum einen meint er das Niveau der aktuellen Entwicklung des Kindes, in der das Kind allein bestimmte Aufgaben lösen kann. Das andere Niveau erreicht das Kind nicht selbstständig, sondern in Zusammenarbeit mit einem Erwachsenen oder einem anderen Kind. Die Bedeutung der Zone der nächsten Entwicklung verdeutlicht Wygotski, indem er darauf hinweist: „Was ein Kind heute in der Zusammenarbeit macht, wird es morgen selbständig zu machen fähig sein“ (Wygotski 1934 / 1993: 240). Konkret untersuchen Wood / Bruner / Ross (1976) anhand Daten von 30 Kindern im Alter von drei, vier und fünf Jahren, wie sie mit Unterstützung einer Tutorin Holzpyramiden zusammensetzten. Die Aufgabe ist so gestaltet, dass sie nicht nur interessant, sondern auch mit einer gewissen Herausforderung verbunden ist und die Kinder sie ohne Hilfestellungen der Tutorin nicht schaffen konnten. Das Ziel ist, dass die Kinder in diesem Versuch mit der Unterstützung <?page no="258"?> 258 5 Scaffolding der Tutorin ihre Aufgaben erledigen und anschließend selbständig Probleme lösen können. Die Hauptfragestellung liegt darin, ob und wie die Tutorin erfolgreich den Kindern helfen kann, das Ziel zu erreichen. In der Untersuchung werden die Kinder nach ihrem Alter in unterschiedliche Gruppen eingeteilt. Die Tutorin-Situationen, die ca. 20 bis 60 Minuten dauern, werden in der Untersuchung gefilmt und analysiert. Es zeigt sich, dass es der Tutorin gelingt, die Kinder bei dem Bau der Holzpyramiden zu unterstützen, indem sie ihr Verhalten dem Lernstand des jeweiligen Kindes und der Schwierigkeit der Aufgabe anpasst und daher unterschiedliche Strategien (verbale Interaktionen oder direkte Interventionen) einsetzt. Aufgrund der Analyse der Interaktionssequenzen in den beschriebenen Gruppen ermitteln die Forscher zentrale Kompetenzen des „Scaffoldings“ (Wood / Bruner / Ross 1976), die sich nach Krammer (2009: 75) drei Ebenen zuordnen lassen: - Emotionale Ebene: Wecken des Interesses der Kinder für das Problem, Aufrechterhalten der Motivation und die Unterstützung im Umgang mit Frustrationen - Prozedurale Ebene: Einschränken von Lösungswegen - Inhaltliche Ebene: Hinweise auf relevante Merkmale der Problemlösung und Vorzeigen der Lösungsschritte. Die bisherige sprachwissenschaftliche Forschung konzentriert sich hauptsächlich auf Scaffolding-Verfahren in Erwachsenen-Kind-Interaktionen im Erstspracherwerb und in Unterrichtsinteraktionen im Zweit- und Fremdsprachenerwerb. 5.1.1 Bedeutung des Scaffoldings für Lehren und Lernen Aus der lernberatenden Perspektive beschäftigt sich Dubs (1999) mit einer Taxonomie des Scaffoldings, die sich an verschiedenen Unterrichtssituationen orientiert und die die Lehrperson bei der Lernberatung einsetzen kann. Der Begriff Scaffolding wird von ihm auf der Basis eines gemäßigt konstruktivistischen Ansatzes zur Förderung von selbstreguliertem lebenslangem Lernen konzipiert (Dubs 1999: 60). Er definiert: Die Lehrkraft unterstützt die Lernenden bei ihrem Lernen, indem sie Anstöße und Anregungen bei der Konstruktion von Wissen sowie zum Aufbau von Lern- und Denkstrategie (aber keine Lösungen und Arbeitsanweisungen) gib. (Dubs 1999: 63) Ausgehend von der Situation im unterrichtlichen Alltag, dass die Forderung nach einem lernerzentrierten Unterricht immer häufiger laut wird und dabei das <?page no="259"?> 5.1 Das Scaffolding-Konzept 259 Augenmerk vermehrt auf die Aktivitäten der Lerner gelegt wird, erörtert Dubs (1999) in seiner Arbeit die Bedeutung der Lernberatung durch die Lehrperson, die er als Scaffolding bezeichnet. Nach Dubs (1999) nützt es nichts, sich in der Lernberatung lediglich auf die Handlungen der Lernenden zu konzentrieren. Vielmehr sollte das Augenmerk seiner Ansicht nach zunehmend auf die anspruchsvollen Aufgaben der Lehrenden gerichtet werden. Denn entscheidend seien nicht Lernaktivitäten an sich, sondern ausschlaggebend sei die Qualität dieser Aktivitäten (Dubs 1999: 59). Offensichtlich hängt die Qualität seiner Meinung nach auch von den lehrerseitigen Interventionen ab. Für die praktischen Umsetzungen erfolgreicher Lehrerstrategien entwickelt Dubs (1999) die Taxonomie des Scaffoldings, die einzelne Techniken aufzeigt, die eine Lehrperson bei der Lernberatung einsetzen kann. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die von Dubs (1999) entwickelten Scaffolding-Verfahren nicht dem Einüben von Grundfertigkeiten dienen, sondern den anspruchsvollen Lernprozessen, bei denen die Erarbeitung von Wissen und der Aufbau des Könnens (Lern- und Denkstrategien) bedeutsam sind (Dubs 1999: 68). Konkret geht es in der Taxonomie des Scaffoldings um Unterstützungen der Lehrkraft bei der Planung des Lernprozesses, der Ausführung, Bewertung und Reflexion der Lernhandlungen und der Förderung der Interaktion (Dubs 1999: 64-67). Mittels Schaffolding-Verfahren steuert die Lehrkraft die Lerner in die Richtung des konstruktiven Lernprozesses. Dubs (1999) macht in seiner Studie Vorschläge zu praktischen Techniken, die meistens in Form der Frage oder des Imperativsatzes realisiert werden. (1) Planung des Lernprozesses Die Lehrkraft gibt Hinweise für die Organisation der Arbeit und die Technik einer selbständigen Erarbeitung. - Was wollt ihr insgesamt erreichen? - Welche Technik könnte eingesetzt werden, um diesen komplizierten Text besser zu verstehen? (2) Ausführung der Lernhandlungen Die Lehrkraft hilft, den Lernprozess in Gang zu halten und das Wissen zu vertiefen. - Gebt Beispiele, um euer Wissen zu verdeutlichen. - Diese Aussage ist zu allgemein und zu wenig klar. Präzisiert sie. (3) Bewertung der Lernhandlungen Die Lehrkraft führt die Lerner zur Evaluation ihres Lernergebnisses. Die Lerner können dadurch selbst beurteilen, ob sie ihr Ziel erreichen. <?page no="260"?> 260 5 Scaffolding - Ist eure Lösung schon genügend differenziert? - Was ist eigentlich euer Ziel? (4) Reflexion der Lernhandlungen Die Lehrkraft versucht, die Lerner zum Nachdenken über die einzelnen Schritte des Lernprozesses anzuregen. - Wie seid ihr zu dieser Lösung gelangt? - An welcher Stelle habt ihr den Denkfehler erkannt? (5) Förderung der Interaktion In einer Klasse bemüht sich die Lehrkraft, dass alle Schüler an den Unterrichtsaktivitäten teilnehmen. Dies gilt vor allem den passiven Schülern. - Wie beurteilst du diese Feststellung? - Wie würdet ihr diese Überlegung weiterführen? 9 5.1.2 Scaffolding in der Erstspracherwerbsforschung Studien zum Thema Scaffolding nehmen in den 80er Jahren mit der Wiederentdeckung und Neurezeption Wygotskis zu. Diese Studien beschäftigen sich speziell mit Erwachsenen-Kind-Interaktionen, in denen die Probanden gemeinsam ein Problem, z. B. beim Zusammensetzen eines Puzzles oder Nachbauen einer Figur aus Bauklötzen, lösen (Wertsch / McNamee / McLane / Budwig 1980, Wertsch / Hickmann 1987). Darüber hinaus sind in dieser Zeit auch Studien entstanden, die sich mit Scaffolding im Zusammenhang mit der sprachlichen Entwicklung von Kindern befassen (Preece 1992, Bokus 1992, Snow / Dickinson 1990, Blum-Kulka / Snow 1992). Diese Studien richten sich vor allem auf die konkreten Aktivitäten des erwachsenen Zuhörers und berücksichtigen den Kontext mit. Eine umfassende empirische Studie dazu aus der entwicklungsorientierten Perspektive bezüglich des Erzählerwerbs wurde von Hausendorf / Quasthoff (1996) durchgeführt. Sie gehen auf die Ko-Konstruiertheit bezüglich der Realisierung globaler Erzählstrukturen in Erwachsenen-Kind-Interaktionen ein. Ihr Fokus liegt nicht nur auf den Aktivitäten des Zuhörers, sondern auch auf den Wirkungsweisen der Scaffolding-Verfahrens des erwachsenen Gesprächspartners. Untersuchungsgegenstand sind transkribierte konversationelle Erzählungen von Kindern im Alter von vier, sieben, zehn und vierzehn Jahren mit Erwachsenen. Nach Hausendorf / Quasthoff (1996: 241) soll Scaffolding dabei helfen, dass der Erwachsene in der Interaktion mit seinem kindlichen 9 Die komplette Taxonomie des Scaffoldings: siehe Dubs 1999: 64-67. <?page no="261"?> 5.1 Das Scaffolding-Konzept 261 Gegenüber in systematischer Weise seine Fähigkeiten nutzt, um dem Kind die Lösung einer Aufgabe zu ermöglichen, die das Kind, auf sich allein gestellt, überfordern würde. Ihre Untersuchungsergebnisse verdeutlichen, dass erwachsene Gesprächspartner die kindlichen Erzähler oft mit Strukturerwartungen konfrontieren, indem sie verschiedene Gerüstbaustrategien einsetzen. Die einschlägigen Scaffolding-Verfahren lassen sich nach Hausendorf / Quasthoff (1996: 282) folgendermaßen darstellen: - Setzung: Der Zuhörer etabliert einen narrationsspezifischen Zugzwang. („drüben hab ich eben son Knall gehört, was warn da los? “) - Explikation: Der Zuhörer expliziert den narrationsspezifischen Zugzwang. („erzähl mir mal, was da los war“) - Übernahme: Der Zuhörer übernimmt an Stelle des Erzählers einen Anteil an der Erledigung der Jobs. - Lokalisierung und Als-ob-Behandlung: Der Zuhörer etabliert zunächst einen Zugzwang („weißt Du, was passiert ist? “) und behandelt die - lokal motivierte - Antwort des Erzählers („ja, ich habs mitgekricht“), als ob damit der Einstieg in ein globales Diskursmuster realisiert sei („mensch, erzähls mir noch mal“). - Altersspezifischer account / Modifikation der Zugzwänge: Der Zuhörer passt seine Zugzwänge dem unterstellten Entwicklungsniveau seines kindlichen Gegenübers an. In Anbetracht ihrer Befunde arbeiteten die beiden Autorinnen einen Erwerbsmechanismus heraus, den sie in Analogie zu Bruners Begriff LASS (Language Aquisition Support System) als DASS (Discourse Aquisition Support System) bezeichnet, mit dem die Kinder beim Erzählen unterstützt werden. Anders als frühere Scaffoldingstudien, die sich hauptsächlich auf die Aktivitäten des Zuhöres richten, beziehen sie den entwicklungsorientierten Aspekt in ihre Untersuchung ein. Die entwicklungsorientierten Wirkungsweisen der Scaffoling-Verfahren der erwachsenen Zuhörer werden in vier Kategorien eingeteilt: Anforderung, Demonstration, Überbewertung und Attribuierung (Hausendorf / Quasthoff 1996: 282). Unter Anforderung versteht man die Setzung lokaler und globaler Zugzwänge durch den Erwachsensen, um dem kindlichen Erzähler die im Erzählmodell beschriebenen narrationsspezifischen Strukturerwartungen zu liefern und ihn auf die notwendige Abarbeitung der erzählrelevanten Jobs aufmerksam zu machen. Durch Explikation der Anforderung unterstützt der Erwachsene das Kind weiter. Er expliziert zum Beispiel den erzählspezifischen Zugzwang „drüben hab ich eben son Knall gehört, was warn da los? “, indem er „erzähl mir mal, was da los war“ sagt. <?page no="262"?> 262 5 Scaffolding Wird der Anforderung nicht oder nicht ausreichend nachgekommen, folgt häufig eine sogenannte Demonstration . Der Erwachsene zeigt, wie die Anforderung erfüllt werden kann, indem er den erzählspezifischen Job übernimmt. Das Ziel der Demonstration liegt darin, den kindlichen Erzähler wieder in die Interaktion zu bringen und seinen nächsten Versuch zu ermöglichen und zu erleichtern. Das Stichwort Überbewertung bezieht sich auf eine Als-Ob-Behandlung. Das heißt, der erwachsene Zuhörer nimmt die sprachlichen Aktivitäten des Kindes auf und behandelt sie so, als ob sie im erwarteten Sinne zu verstehen wären oder passen würden, auch wenn sie eigentlich nicht als ausreichend erfüllte Jobs in der globalen Struktur der Erzählung gelten können. Das Kind wird durch diese Überbewertung seiner Äußerung aktiv an der Abarbeitung der erzählrelevanten Anforderungen beteiligt, auch wenn es nicht über die Kompetenzen dafür verfügt. Auch wird dadurch der Fortgang der Interaktion sichergestellt. Mit Attribuierung wird schließlich auf das Verhalten des erwachsenen Zuhörers Bezug genommen. Die Zuhöreraktivitäten werden auf ein unterstelltes Fähigkeitsniveau des Kindes abgestimmt. Das heißt, die Handlungen des erwachsenen Zuhöres beruhen auf der intuitiven Attribuierung des Kompetenzniveaus des kindlichen Erzählers. Die Anpassung des Erwachsenen an das Fähigkeitsniveau des kindlichen Gegenübers verhindert eine Über- oder Unterforderung. Damit weisen Hausendorf / Quasthoff (1996) darauf hin, dass die Zuhöreraktivitäten eine spezifische Doppelfunktionalität haben. Zum einen erfüllen sie interaktive Funktionen. Zum anderen sind sie aber auch funktional für den Erwerb und die Entwicklung der Erzählfähigkeiten. In ihrer Dissertation über den Erwerb narrativer Fähigkeiten von Kindern in ihrer Erstsprache befasst sich Becker (2011) mit der sogenannten interaktiven Konstituierung , die die Scaffolding-Verfahren von erwachsenen Zuhörern auf ihre Interaktionen mit Kindern bezieht. Die empirische Analyse basiert auf insgesamt 208 Erzählungen, die von Kindern im Alter von fünf, sieben und neun Jahren produziert und von der Forscherin aufgezeichnet worden sind. Eine Besonderheit der Untersuchung liegt darin, dass sie sich nicht auf einen bestimmten Texttyp konzentriert, sondern den Vergleich verschiedener narrativen Texte (Erlebnis-, Phantasie-, Bilder-, und Nacherzählung) ins Zentrum stellt. Die Autorin untersucht die Menge und die Funktion der Höreraktivitäten beim Erzählen des Kindes in ihrem Korpus und stellt dabei fest, dass die Höreraktivitäten in ihren Daten nur ansatzweise mit denen von Quasthoff / Hausendorf (1996) vergleichbar sind. Während in der Studie von Quasthoff / Hausendorf (1996) der Hörer unter Umständen die Durchführung bestimmter Erzählstrukturteile („Jobs“ bei Quasthoff / Hausendorf 1996) wie das Überleiten oder das <?page no="263"?> 5.1 Das Scaffolding-Konzept 263 Thematisieren übernimmt, bleibt der Hörer in der Untersuchung von Becker (2011) ausschließlich auf die Initiierung von Äußerungen beschränkt, indem er häufig mit der sogenannten „Und-dann-Frage“ (Becker 2011: 128) den Erzähler zum Ausbau der Geschichte anregt. Darüber hinaus weist Becker (2011: 133) in ihrer Querschnittstudie, die auf dem Vergleich der vier Texttypen beruht, darauf hin, dass die Erzählform bei der Funktion der Scaffolding-Verfahren eine entscheidene Rolle spielt. Bei der reproduktiven Form der Nacherzählung wird dialogische Sprechlernhilfe eingesetzt, wenn die Kinder die Geschichte inhaltlich nicht wiedergeben können, weil es sie kognitiv überfordert. Das heißt, die Scaffolding-Verfahren dienen in diesem Fall vielmehr der inhaltlichen Vorgabe als dem Gerüstbau bezüglich der Erzählstruktur. Im Gegensatz dazu stellen die Strategien wie Fremdinitiierungen bei den primär produktiven narrativen Texttypen von Phantasie- und Erlebniserzählungen eine interaktive Unterstützung dar, die den Kindern hilft, entsprechende Strukturteile zu produzieren. Nach Becker (2011: 133) verfügen die Kinder grundsätzlich schon über das Wissen und den Inhalt der einzelnen strukturellen Elemente wie Komplikation und Auflösung („Elaborieren“ und „Abschließen“ bei Quasthoff / Hausendorf 1996). Bei der Realisierung sind sie aber nicht sicher und greifen auf die Unterstützung des erwachsenen Zuhörers zurück. Aufgrund der Analyse der Scaffolding-Verfahren in ihrer Untersuchung fasst Becker (2011) die Ergebnisse ihrer Beobachtung folgendermaßen zusammen: Der Hörer hat bei Textproduktionen innerhalb eines Dialogs keinen inhaltlichen oder themengebenden Einfluss auf den Text des Sprechers. Lediglich innerhalb des von Sprecher oder von der Textform vorgegebenen Globalplans interagiert der Hörer. (Becker 2011: 133) 5.1.3 Scaffolding in der Zweitspracherwerbsforschung Scaffolding in der Zweitspracherwerbsforschung steht im engen Zusammenhang mit der soziokulturellen oder kontextuellen Wende der Zweitspracherwerbsbzw. Fremdsprachenforschung. Bevor Firth / Wagner (1997) eine Grundsatzdebatte über die Inhalte, Ziele und Methoden der Zweitspracherwerbsforschung auslösten, richtete sich die Zweitspracherwerbsforschung hauptsächlich auf kognitive bzw. psycholinguistische Aspekte des Zweitspracherwerbs. Firth / Wagner forderten, den soziokulturellen Kontext in die Zweitspracherwerbsforschung einzubeziehen und den konstruktiven und aushandelnden Charakter der Interaktion zwischen Interagierenden herauszuarbeiten. Sie plädieren für „a significantly enhanced awareness of the contextual and interactional dimensions of language use“ (Firth / Wagner 1997: 286). <?page no="264"?> 264 5 Scaffolding Vor diesem Hintergrund spielt Scaffolding als die Unterstützung der Lerner durch soziale Interaktionen (Schramm 2006: 170), eine bedeutende Rolle beim Zweitspracherwerb. Im Bereich des Zweitspracherwerbs wird Scaffolding meist im Unterrichtskontext diskutiert. Gibbons (2002: 10) versteht unter Scaffolding „the temporary assistance by which a teacher helps a learner know how to do something, so that the learner will later be able to complete a similar task alone“. Demnach ist Scaffolding also eine vorübergehende Hilfestellung, die die Lehrperson in Interaktionen mit dem Lerner einsetzt. Nach Gibbons (2002: 17) schafft Scaffolding einen unterstützender Kontext für die Entwicklung der zweiten Sprache. Mehrfache Wiederholungen oder häufige Übungen ermöglichen dem Lerner, sich die Fähigkeiten anzueignen, selbständig (sprachliche) Aufgaben zu lösen. Wenn der Lerner in der Lage ist, sprachliche Handlungen ohne Unterstützung der Lehrperson durchzuführen, wird das Gerüst wieder abgebaut. Für Hatch (1978) sind Diskursstrukturen beim Zweitspracherwerb im Grunde genommen das Herz der Entwicklung der Satzstrukturen. Anhand empirischer Daten argumentiert sie in ihrer Studie, dass Sprachenlernen zuerst von der Durchführung der Gespräche ausgehen sollte und die Sytaxkonstruktionen sich daraus entwickeln werden. Im Gegensatz zu den üblichen Standpunkten, dass die Lerner zunächst die sprachlichen Formen lernen und dann die erworbenen Formen in Gesprächen anwenden, vertritt Hatch die Meinung, dass die Lerner sich in Interaktionen ganze Formeln aneignen können, die sie später in einzelne Elemente auflösen und in der Praxis gebrauchen. Mit anderen Worten, sie lernen zuerst, wie man sprachlich miteinander interagieren kann. Durch die Aushandlung der Bedeutungen in Interaktionen werden sich die Syntaxkonstruktionen entwickeln und später zu den eigenen sprachlichen Kenntnissen des Lerners. Die Frage-Antwort-Sequenzen zwischen Erwachsenen und Kindern oder zwischen Muttersprachlern und Fremsprachlernern in Hatchs Daten sind z. B. lernwirksam, da sich die Lerner durch die Hilfe iheres Gesprächspartners in Form der Frage ständig an der sprachlichen Interaktion beteiligen. Darüber hinaus weist Hatch (1978) darauf hin, dass in solchen Interaktionen für den Lerner die fremden Satzstrukturen zu gemeinsam geteilten und schließlich zu seinen eigenen Satzstrukturen werden. Die Bedeutung des Inputs wird also in Hatchs Studie unterstrichen. Sie plädiert für einen so bearbeiteten Input, dass er für die Lerner verständlich wird, weil die Syntaxkonstruktionen der Lerner ihrer Meinung nach durch die Häufigkeit der Satzstrukturen im Input geprägt werden. Unterrichtsinteraktion ist ein viel untersuchtes Thema in der Zweitspracherwerbsforschung. Nach Sprachwissenschaftlern wie Sinclair / Coulthard (1975), Mehan (1979) und Edwards / Mercer (1987) ist das sogenannte IRF -Modell (Ini- <?page no="265"?> 5.1 Das Scaffolding-Konzept 265 tiation-Response-Feedback) ein dominantes Interaktionsmodell zwischen der Lehrperson und den Lernern im Fremdsprachenunterricht. Zuerst stellt die Lehrperson eine Frage, auf die die Lehrperson meistens schon die Antwort weiß. Die Lerner reagieren darauf mit einer kurzen Antwort. Anschließend bewertet die Lehrperson die Antwort der Lerner. Walqui (2006) unterscheidet Scaffolding examplarisch von dem traditionellen IRF -Modell (Initiation-Response-Feedback) im Fremdsprachenunterricht (Englisch als Fremdsprache). Die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen IRF und Scaffolding lassen sich nach Walquis (2006: 166) folgendermaßen darstellen: <?page no="266"?> 266 5 Scaffolding Initiation-Response- Feedback in Lehrer- Schüler-Interaktion (Gibbons 2002) Scaffolding in Lehrer-Schüler-Interaktion (Walqui 2001) T: What season comes after fall? Der Lehrer weiß die Antwort und möchte wissen, ob der Schüler das weiss. S: Winter. T: Good girl. Der Lehrer bewertet die Antwort des Schülers. S: It’s like everybody should get the same rights and protection, no matter, like, race, religion. T: Yeah. Everybody. Der Lehrer erkennt die Aussage des Schülers an und wartet auf seine weiteren Beiträge. S: No matter if they are a citizen or illegal, they should get the same protection. T: I agree with you, but why do you say that with confidence? Der Lehrer elaboriert den Denkprozess des Schülers. S: Because it says that. T: Because it says that? Der Lehrer nimmt die Aussage des Schülers auf und wartet weiter auf das Elaborieren. S: Also because it [the 14th Amendment] says it should not deny any person of the right to life, liberty and property without due process. Der Schüler untermauert seine Meinung. T: Okay, not any citizen? Der Lehrer macht den Schüler auf einen relevanten Aspekt aufmerksam. S: Any person. Der Schüler hält an seiner Interpretation fest. T: Okay, so is the 14th Amendment helpful to you? Der Lehrer verbindet die gelernte Kenntnis mit den Erfahrungen des Schülers mit Migrationshintergrund. <?page no="267"?> 5.1 Das Scaffolding-Konzept 267 Folgendes ist deutlich zu beobachten: Obwohl die beiden Interaktionen im Fremdsprachenunterricht gleiche Komponenten wie Lehrerfragen, Schülerreaktionen und die Rückmeldungen des Lehrers enthalten, unterscheiden sie sich voneinander im pädagogischen Fokus (Seedhouse 2004). In der obengenannten IRF -Interaktion delegiert der Lehrer seine Äußerungsabsicht an den Schüler. Sein Ziel liegt darin, dass der Schüler ein Wort, einen Satz oder einen Fakt liefert, den er erwartet, um zu prüfen, ob der Schüler das beherrscht. Der Lehrer gilt hier häufig als der Vermittler der Information. Im Gegensatz dazu lässt der Lehrer beim Scaffolding den Schüler für sich sprechen. Durch unterschiedliche Scaffolding-Verfahren (z. B. Hinweise auf relevante Aspekte, Elaborieren des Denkprozesses) gelingt es dem Lehrer, mit dem Schüler gemeinsam seine Rede zu strukturieren. Die beiden Interaktionsmodelle haben ihre Funktionen im Fremdsprachenunterricht. Das IRF -Modell ist z. B. geeignet für die Übungen der sprachlichen Formen oder des logischen Denkprozesses. Aber wie wir oben in den Beispielen sehen, haben die Lerner in einem IRF -Modell weniger Gelegenheit, ihre sprachlichen Kenntnisse in der Praxis für sich selber zu verwenden. Dabei weisen Edwards / Mercer (1987) darauf hin, dass in meisten Klassenzimmern der Lehrer am meisten spricht. Das heißt, ein solches Modell kann die Anforderung, dass die Lerner im Fremdsprachenunterricht „comprehensible output“ produzieren sollen, nicht erfüllen. Im Gegensatz dazu kann Scaffolding einen effizienteren unterstützenden Kontext für den Zweitspracherwerb schaffen. In Schramms (2006) Untersuchung wird anhand zweier Transkripte von Erzählinteraktionen in einer Grundschule narratives Scaffolding analysiert. Das Ziel besteht darin, auf der Grundlage dieser empirischen Untersuchung ein Forschungsdesign für weitergehende Analysen von Longitudinaldaten zum Zusammenhang von Erzählen und Zweitspracherwerb zu entwickeln. In den zwei Trankripten geht es jeweils um eine gemeinsame Nacherzählung eines literarischen Textabschnitts und eine Erlebniserzählung. Mit der diskurs- und konversationsanalytischen Methode werden die Interaktionen zwischen den SchülerInnen und der jeweiligen Lehrerin in den beiden Datenbeispielen aufgezeigt. Die von den Lehrerinnen realisierten Scaffolding-Verfahren werden dadurch auch verdeutlicht. Die empirische Analyse ergibt, dass der Erzähltyp eine entscheidende Rolle beim Scaffolding spielt. Außerdem sind verschiedene Funktionen der Scaffolding-Verfahren zu beobachten. Bei der Nacherzählung treten Verfahren auf, die charakteristisch für den Unterrichtsdiskurs (wie didaktische Fragen) und speziell den Fremdsprachenunterricht (wie selbstinitiierte Fremdreparatur und fremdinitiierte Selbstkorrekturen) sind. Die didaktische Frage fungiert als eine narrative Methode, mit der die Lehrerin bestimmte Äußerungen von den Schü- <?page no="268"?> 268 5 Scaffolding lerInnen elizitiert, die sie erwartet. Reparaturen und Korrekturen dienen in dem Datenbeispiel dazu, dass die SchülerInnen den mit der Textvorlage identischen Begriff produzieren. Es geht also nicht um die Bearbeitung der Verständnisschwierigkeiten, sondern um die Korrektheit auf der Ebene der sprachlichen Form. Dagegen sind bei der Erlebniserzählung Scaffolding-Verfahren wie Modell-Spiegelungen, affektive Markierungen, genuine Fragen und inhaltliche Erweiterungsvorschläge zu beobachten. Während Modell-Spiegelungen eine Bedeutungsaushandlung (Long 1996) initiieren und dabei das inkongruente Verständnis der Lehrerin korrigiert wird, motivieren affektive Markierungen, genuine Fragen und inhaltliche Erweiterungsvorschläge als weitere narrative Scaffolding-Verfahren die SchülerInnen zum Ausbau der Geschichte. Aufgrund der Untersuchungsergebnisse und der daraus sich ergebenden Fragestellungen bietet Schramm (2006) ein Forschungsdesign an, das aus den folgenden fünf Datenbanken besteht: - indviduelle Variablen der SchülerInnen wie Geschlecht und Familiensprache - Longistudinaldaten aus vier Schuljahren zum individuellen Zweitspracherwerb - authentische Unterrichtsaufnahmen - die in diesen Unterrichtsstünden erhobenen und transkribierten Erzählungen - die lernerseitigen Kommunikations-, Erzähl- und Reparaturstrategien sowie die Scaffolding-Interaktionen. Der Komplex der Untersuchung soll dazu dienen, empirisch abgesicherte didaktische Handlungsempfehlungen für das lehrerseitige Scaffolding von zweitsprachlichen Unterrichtserzählungen bereitzustellen (Schramm 2006: 182). Donato (1994) prägte den Begriff „collective scaffolding“, der in Lerner- Lerner-Interaktionen stattfindet. Probanden in seiner Untersuchung sind drei Französischstudierende im dritten Semester einer amerikanischen Hochschule. Untersuchungsgegenstand sind die aufgezeichneten und danach transkribierten Daten einer Gruppenarbeit der drei Studierende, die ein Szenario vorbereiten und es später in der Klasse aufführen. Ziel ist es, die Ko-Konstruktion im Sprachenlernprozess der Lerner im institutionellen Kontext darzustellen und damit die Frage zu beantworten, ob die soziale Interaktion zwischen den Lernern ihre zweitsprachliche Entwicklung fördern kann (Donato 1994: 39). Seine Untersuchungsergebnisse zeigen, dass die Lerner in der Lage sind, andere Lerner in zweitsprachlichen Interaktionen zu unterstützen. Sie setzen Scaffolding-Verfahren ein, die ähnlich sind wie die in Interaktionen zwischen kompetenteren und weniger kompetenten Interagierenden. Zudem wird anhand der Tonaufzeichungen der späteren Aufführung der Probanden festgestellt, dass fast alle in Scaffolding-Verfahren behandelten Äußerungen (24 von 32) in der Aufführung <?page no="269"?> 5.1 Das Scaffolding-Konzept 269 eine Woche später adäquat realisiert werden. Die Effizienz des kollektiven Scaffoldings ist deutlich zu beobachten. Die Funktionalität des kollektiven Scaffoldings wird von Gibbons (2002) bewiesen, indem sie zeigt, wie die kindlichen Probanden durch Zusammenarbeit sprachlich mehr leisten als individuell. In ihren Daten werden Kinder in einer Klasse in Gruppen eingeteilt. Die Gruppen bekommen unterschiedliche Aufgaben zum Thema der magnetischen Abstoßung. Die Kinder in der Gruppe sollen zusammen ein Experiment machen und danach den anderen Gruppen berichten, was in ihrem Experiment passiert ist und was sie dadurch gelernt haben. Bevor die Kinder ihre Experimente machen, wird geklärt, dass sie ihre späteren Berichte deutlich und so gut wie möglich nachvollziehbar machen sollen, weil die anderen Gruppen von ihrem Experiment nichts wissen. Folgendes ist ein Beispiel aus Gibbons Daten. Die Gruppe besteht aus vier Kindern. Ihre Aufgabe besteht darin, mit einem kleinen Schaumstoff und mehreren Eisstielen eine Wiege zu basteln und danach einen Magnet hinein zu legen. Die Kinder sollen dann den Effekt testen, wenn sie einen anderen Magnet auf den ersten legen und anschließend die Position des zweiten Magnets umdrehen. Wenn sie voneinander abstoßen, schwebt der zweite auf dem ersten. Schließlich sollen sie dann vor der Klasse berichten, was sie in ihrem Experiment beobachten. Im folgenden Gespräch diskutieren die Kinder, wie sie dem Rest der Klasse ihr Experiment berichten. 01 Emily: we have to talk about what we did last time and what were the results… 02 Milad: we got em…we got a . thing like…this…pu-we got paddle pop sticks and we got 03 Maroun: we put them in a pot 04 Milad: and have to try and put 05 Gina: wasn’t in a pot…it’s like a foam… 06 Milad: a foam 07 Emily: a block of foam 08 Gina: and we put it 09 Emily: we put paddle pops around it, the foam, and then we put the magnet in it 10 Gina: and then we got 11 Emily: and then we got another magnet and put it on top, and it wasn’t touching the other magnet… <?page no="270"?> 270 5 Scaffolding 12 Maroun: when we…when we turned it the other way…it didn’t stick on because…because 13 Gina: because? 14 Maroun: because em..it was on a different…side 15 Milad: Emily your go 16 Emily: OK . last week we…we…did an experiment…we had a em a block of foam and we um…stuck paddle pop sticks in it and we put…a magnet, a bar of magnet…into the em cradle that we made with the paddle pop sticks. Then we put another magnet on top and the result of this was…the magnet that we put on top of the cradled magnet did not stick to the other magnet. 17 Gina: then when we turned it around. When we turned the other magnet around it… 18 Maroun: stuck 19 Milad: it stuck together because 20 Maroun: and it stuck together because it was 21 Emily: it was on a different side 22 Gina: it was on a different side and the other one’s and 23 Emily: and the poles are different 24 Gina: and the poles are different 25 Milad: and em when…we put on the first side it stuck together… 26 Gina: because em it was on different side, because we put it on the on the thin side and it didn’t and we didn’t..it didn’t stick… 27 Maroun: because the flat side is stronger than the thin side? 28 Emily: no, because the poles are different 29 Milad: because the poles are different, alright? (Gibbons 2002: 19-20) Es zeigt sich, dass sich alle Kinder aktiv an der Konstruktion des Gesprächs beteiligen. Gibbons (2002) Untersuchungsergebnisse des „collective scaffoldings“ in diesem Beispiel lassen sich auf folgenden Ebenen zusammenfassen: • Semantik. Der Ausdruck „block of foam“ wird durch eine progressive Klärung („a pot“, „not a pot“, „a foam“, „a block of foam“ in Zeile 03, 05, 06, 07) von drei Kindern (Gina, Milad und Emily) hervorgebracht. • Syntax. Der Kernsatz zum Thema des Experiments wird durch sieben turns (Zeile 17 bis Zeile 23) von allen Kindern in der Gruppe ausgedrückt: when we <?page no="271"?> 5.1 Das Scaffolding-Konzept 271 turned the other magnet around it stuck together because it was on a different side and the poles are different. • Stil. Durch den Prozess des „collectiven scaffoldings“ ist eine verbesserte Ausdrucksweise zu beobachten. Die Beiträge der Kinder werden immer explizit und schriftlich. Beispielsweise wird „different sides“ (Zeile 21, 22) durch den wissenschaftlicheren Ausdruck „different poles“ (Zeile 23) ersetzt. Gibbons (2002: 20) zieht daraus einen Schluss, dass so ein Modell des „collective scaffoldings“ manchmal so nützlich sei wie das von der Seite der Lehrperson. Senyildiz (2010) untersucht in ihrer Arbeit das Scaffolding in Eltern-Kind- Deutschkursen. Probanden ihrer Untersuchung sind drei russischsprachige Vorschulkinder, die Deutsch als Zweitsprache erwerben. Der Untersuchungsgegenstand sind Interaktionen im Rahmen des Eltern-Kind-Deutschkurses und deren sprachliche Ausgestaltung sowohl in der Erstsprache Russisch, als auch in der Zweitsprache Deutsch. Ihre Fragestellungen im Hinblick auf das Scaffolding liegen darin, wie lässt sich die zweitsprachliche Entwicklung der Kinder im Eltern-Kind-Deutschkurs aus der Perspektive der soziokulturellen Theorie verändern und welche Rolle die Eltern in der sprachlichen Entwicklung ihrer Kinder spielen (Senyildiz 2010: 20). Für die Forschung werden Interviews sowie teilnehmende Beobachtungen durchgeführt und authentische Interaktionsdaten in den untersuchten Kursen zehn Monate lang erhoben. Aufgrund der Analyse der transkribierten Tonaufzeichnungen stellt Senyildiz (2010) fest, dass die sprachliche Entwicklung der Kinder im Laufe des Eltern- Kind-Deutschkurses beobachtbar ist und die Eltern das Gerüst allmählich abbauen (Senyildiz 2010: 250). Konkret wird das Scaffolding im Rückgriff auf die interaktiven Komponenten von Wood / Bruner / Ross (1976) in fünf Kategorien dargestellt. Erstens stellen die Eltern Aufgaben an das Kind, die es interessieren. Dazu kommt, dass die Eltern durch positive Bewertungen das Interesse des Kindes weiter wecken. Zweitens tragen die Eltern dazu bei, die Aufmerksamkeit des Kindes auf relevante Aspekte zu lenken, indem die Eltern in den untersuchten Kursen verschiedene sprachliche Mittel einsetzen. Drittens realisieren die Eltern sowohl inhaltliche Vereinfachungen durch Erklärungen als auch sprachliche Vereinfachungen durch Übersetzungen in die Erstsprache oder metasprachliche Kommentare. Viertens helfen die Eltern dem Kind beim Sprachenlernen, indem sie Äußerungsmodelle (Wörter, Sätze) zur Verfügung stellen, um die Verständnisschwierigkeiten in den Interaktionen zu bearbeiten und damit die bestehenden sprachlichen Lücken des Kindes zu schließen. Fünftens werden sprachliche Abweichungen des Kindes von seinen Eltern korrigiert. Während die bisherige Scaffoldingforschung im Zusammenhang mit dem Zweitspracherwerb sich vor allem auf das lehrerseitige Verhalten fokussiert <?page no="272"?> 272 5 Scaffolding (Dubs 1999, Schramm 2006), deutet Senyildiz (2010) darauf hin, dass die Selbststeuerung der Kinder dabei auch eine bedeutende Rolle spielt (Senyildiz 2010: 250). Das Scaffolding entsteht in Interaktionen, die aus gegenseitigen Handlungen bestehen. Der lehrerseitige Gerüstbau besitzt zwar eine entscheidende Bedeutung, aber ohne die Aktivitäten der Lerner könnte das Gerüst, das sie in ihrem Sprachlernprozess unterstützen sollte, nicht genutzt werden. Zusammenfassend zeigen sich nach Senyildiz (2010: 251) die Aktivitäten der Kinder im Scaffoldingprozess auf den folgenden Ebenen: - Hervorrufen benötigter Hilfestellungen durch den Einsatz prosodischer Mittel, Reduplikation, Nachfragen usw. - Auswählen der angebotenen Äußerungsmodelle und Selbstentscheiden, sie zu übernehmen oder zu ignorieren. - Erfragen der fehlenden Wörter, die die Kinder nicht kennen oder auf die sie nicht zugreifen können. - Selbstbestimmen des Rückgriffs auf ihre Erstsprache (Code-Switching, Übersetzungen). - Ignorieren der Hilfestellungen, die die Kinder überfordern bzw. die außerhalb der Zone der nächsten Entwicklung sind. Apfelbaum (1993) analysiert die Rolle des Muttersprachlers im deutsch-französischen Tandem. Obwohl der Begriff Scaffolding in ihrer Untersuchung nicht verwendet wird, ist deutlich beobachtbar, dass sich die dialogische Hilfe des muttersprachlichen Tandempartners bei der Durchführung konversationeller Erzählungen auf das Scaffolding bezieht. Anhand der transkribierten Erzählsequenzen in Gesprächen von drei Tandempaaren an einer französischen Universität fasst Apfelbaum (1993) die Unterstützungen der kompetenteren muttsprachlichen Tandempartner in drei funktionellen Punkten zusammen: (1) Elizitierung einzelner Strukturteile, (2) Bearbeitung von Problemmanifestationen in Bezug auf die Durchführung der Erzählstruktur, (3) Beteiligung an der Evaluation. Die Muttersprachler elizitieren in ihrem Korpus bestimmte Strukturteile der Erzählung der Fremdsprachenlerner durch den Einsatz verschiedener Fragen (Entscheidungsfragen, Detailfragen, Alternativfragen). Es kommt auch zur expliziten Manifestation von die Erzählstruktur betreffenden Problemen, die der muttersprachliche Zuhörer mit dem Lerner gemeinsam bearbeitet, indem sie Scaffolding-Verfahren wie Alternativfragen, Kategorisierung des Problems, Kommentare verwenden. Die Analyse der Evaluationssequenzen in den aufgezeichneten konversationellen Erzählungen ergibt, dass evaluative Mittel nicht nur als bewertende Kommentare in den Verlauf der Erzählung einfließen, sondern auch zur Elizitierung eines narrativen Textes führen können. In <?page no="273"?> 5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen 273 dieser Hinsicht gelten solche evaluative Mittel (z. B. rhetorische Entscheidungsfragen, expressive Bewertungen) als narrative Scaffolding-Verfahren. Aufgund der Untersuchungsergebnisse weist Apfelbaum (1993: 110) darauf hin, dass sich die Verfahren im Hinblick auf die Elizitierung der Strukturteile weitgehend den für muttersprachliche Kommunikation beschriebenen annähern bzw. an die von Bierbach (1985) herausgearbeiteten Elitizierungstechniken von deutschen Interviewern im Gespräch mit italienischen Kindern erinnern. Außerdem wird der Lerneffekt in den Fällen von Bearbeitung der Problemmanifestationen bezüglich der Erzählstruktur in dieser Arbeit bezweifelt (Apfelbaum 1993: 114). Nach Apfelbaum (1993: 121) stimmt die Kategorisierung des Problems durch den Zuhörer nicht immer mit der des Nichtmuttersprachlers überein. Während die Muttersprachler solche Probleme häufig als semisprachliche oder Weltwissensprobleme kategorisieren, sieht der Erzähler sie als sprachliche Probleme. Erklärt der Muttersprachler diese Probleme auf die Muttersprache des Erzählers, werden sie zwar reibungslos gelöst, aber der Lerneffekt ist dabei fragwürdig. 5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen Während die im letzten Kapitel diskutierten Beispiele die mündlichen Erzähldefizite und die Erzählkompetenz der chinesischen Lerner verdeutlichen sollten, beschäftige ich mich in diesem Kapitel mit solchen Sequenzen, in denen konversationelle Erzählungen im Tandem interaktiv produziert werden und die Scaffolding-Verfahren der muttersprachlichen Tandempartner bezüglich der Durchführung der Erzählstruktur rekonstruiert werden können. Dabei stütze ich mich grundsätzlich wieder auf das Erzählmodell von Hausendorf / Quasthoff (1996) als Ausgangspunkt meiner Analyse der konstruktiven Dialoghilfe, die die muttersprachlichen Tandempartner einsetzen, um die chinesischen Lerner bei der Erledigung unterschiedlicher Erzählstrukturen („Jobs“ nach Hausendorf / Quasthoff 1996) zu unterstützen. In diesem Zusammenhang ist die von Apfelbaum (1996) durchgeführte Studie zur Rolle des muttersprachlichen Zuhörers bei der Durchführung des Diskursmusters Erzählen im deutsch-französischen Tandem für meine Untersuchung besonders interessant. Im Gegensatz zu ihrer Forschung, in der sie sich den erzählfördernden muttersprachlichen Zuhöreraktivitäten widmet, bezieht sich meine Arbeit daneben auch auf versuchte narrative Unterstützungen und Kontexte für potentielles Scaffolding. Mit „Kontexte für potentielles Scaffolding“ sind die problematischen Stellen in der Erzählung, die man mit dialogischer <?page no="274"?> 274 5 Scaffolding Sprechlernhilfe hätte beseitigen können und jedoch unbehandelt durchgehen lässt, gemeint. Während Apfelbaum ihre Untersuchungsergebnisse bei der Darstellung in drei Bereiche gliedert: (1) die Verfahren der muttersprachlichen Elizitierung einzelner Strukturteile, (2) die Bearbeitung von Problemmanifestationen bei der Durchführung der Erzählstruktur, (3) die Beteiligung des Muttersprachlers an der Evaluation, möchte ich die Ergebnisse meiner Forschung über die kompetenten erzählfördernden Scaffolding-Verfahren der Muttersprachler anhand folgender Kategorien darstellen, um durch die Analyse meiner Daten des chinesisch-deutschen Tandems neue Beobachtungen integrieren zu können: • Initiierung der Erzählung durch den Muttersprachler • Elizitierung einzelner Strukturteile • Übernahme einzelner Strukturteile • Wiedergabe der Erzählstruktur • Beteiligung des Muttersprachlers an der Evaluation • Bearbeitung von Problemen bei der Durchführung der Erzählstruktur. Dabei wird jedoch darauf hingewiesen, dass, obwohl die oben genannten Kategorien voneinander abgegrenzt sind, Übergänge dazwischen nicht zu vermeiden sind. Es wird in den Gesprächssequenzen gezeigt, dass z. B. evaluative Mittel auch als Elizitierung gelten können. Aufgrund dessen werde ich versuchen, eine Typologie der vielfältigen Scaffolding-Verfahren meiner Daten zu entwickeln. In Anbetracht der Tatsache, dass der sprachliche Gerüstbau in Interaktionen eingebettet ist und daher bei der Durchführung die beiderseitigen Interagierenden eine bedeutende Rollen spielen, werde ich in meiner Untersuchung die Aktivitäten des Lerners bei der muttersprachlichen konstruktiven Hilfe thematisieren. Es wird veranschaulicht, wie die Lerner auf die Ko-Konstruktion ihrer Tandempartner reagieren. Schließlich ist in meinen Daten zu sehen, dass sich die muttersprachlichen Tandempartner beim Einsatz ihrer Scaffolding-Verfahren an das Sprachniveau der chinesischen Lerner anpassen, was die Studie von Apfelbaum (1993) nicht zeigt. 5.2.1 Typen von Scaffolding Wie in Apfelbaums Studie (1993) kommen in meiner Untersuchung auch zahlreiche Scaffolding-Verfahren vor, die von den deutschen Studierenden intuitiv eingesetzt werden und verschiedene Funktionen bezüglich der Erzählförderung <?page no="275"?> 5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen 275 erfüllen. Dies möchte ich im Folgenden anhand transkribierter Aufnahmen illustrieren. 5.2.1.1 Initiierung der Erzählung durch den Muttersprachler Um zu demonstrieren, welche möglichen Scaffolding-Verfahren von dem muttersprachlichen Tandempartner für die Initiierung der Erzählung genutzt werden, möchte ich nochmals auf die Sequenz „ich war betrunken wegen Glühwein“ zurückkommen, die bereits unter dem Aspekt der darin von dem nichtmuttersprachlichen Erzähler geleisteten Redewiedergabe in Kapitel 4 diskutiert wurde. Hier der Beginn der entsprechenden Sequenz: Gespräch: Ich war betrunken wegen Glühwein. ((Tandemgespräch, 00: 10-00: 35 Sek.)) [00: 10] 01 Max: warst warst du schon mal beTRUNken, 02 03 04 Le: ja in in OSnabrück vor zwei jahren; = = ich habe einmal ähm ungefähr eine HÄLFte voneine HÄLFte: mit glas (.) glühwein getrunken; 05 Max: ein HALbes glas. [00: 35] 06 Le: ja und dann bin ich getrun beTRUNken; Der deutsche Studierende Max initiiert das Erzählthema, indem er die Entscheidungsfrage „warst warst du schon mal be TRUN ken,“ (Zeile 01) stellt. Auf seine Frage fängt die chinesische Lernerin Le unmittelbar an, eine Geschichte zu diesem Thema zu erzählen. In Zeile 02 ist eine Darstellung von inhaltsrelevanten Elementen zu beobachten. Der Ort („in Osnabrück“) und die Zeit der Geschichte („vor zwei jahren; =“) werden dabei angegeben. Nach Hausendorf / Quasthoff (1996) bildet das die erste Ebene einer Erzählung. Während in diesem Beispiel eine Erzählung durch die interaktive Hilfestellung des Muttersprachlers in Form einer Entscheidungsfrage initiiert wird, gibt es andere Beispiele, in denen der muttersprachliche Tandempartner Imperativsätze äußert und dabei durch die Angaben der erwartenden Gattung die Modalität der zu erzählenden Geschichte vorgibt. Dazu folgendes Beispiel, das aus dem Treffen zwischen Linda und Ting stammt. Die Sequenz wurde ebenfalls schon im Kapitel 4 erörtert. <?page no="276"?> 276 5 Scaffolding Gespräch: ich wurde mal von unserem Hund gebissen. ((Tandemgespräch, 32: 54-33: 08 Sek.)) [32: 54] 01 Linda: dann erzähl doch mal n WITZ aus deinem leben, 02 Ting: ja[: : ? ] 03 Linda: [hehehe] 04 05 06 Ting: ah: wenn ich noch ZWEI jahre; habe ich mit äh mit das HUND in mein mein hause? ähm zusammenessen. [33: 08] 07 Linda: mhm. In diesem Beispiel ergreift die deutsche Studierende Linda die Initiative, indem sie ihre Tandempartnerin Ting auffordert, einen Witz aus ihrem Leben zu erzählen (Zeile 01). Durch den klar dargestellten Begriff „Witz“ wird die erwartete Erzählung auf eine bestimmte Gattung und die dazu gehörige Modalität beschränkt. Darauf reagiert Ting mit einem Rezipienzsignal im deutlich steigenden Tonfall (Zeile 02). Linda lacht dabei (Zeile 03). Die Interjektion „ah: “ in der darauf folgenden Zeile signalisiert, dass Ting sich vorher mit dem „ja“ im steigenden Tonfall (Zeile 02) einen Witz aus ihrem Leben überlegt. Mit dem lang gezogenen „ja“ gewinnt sie Zeit zur Überlegung. Im Anschluss daran ist ebenfalls eine Darstellung der inhaltrelevanten Elemente (Angaben zu Ort, Zeit, Person und Ereignis) zu beobachten (Zeile 04, 05). Das dargestellte Ereignis in Zeile 05 und 06, in dem die zweijährige Ting mit dem Hund ihrer Familie zusammengegessen hat, deutet schon auf die potentielle Pointe ihres Witzes hin. Der erste Schritt einer Erzählung wird dabei aufgebaut. Die Initiierung durch die muttersprachliche Tandempartnerin kann daher als erfolgreich interpretiert werden. Im Zusammenhang mit den oben genannten Beispielen für fremdinitiierte Erzählung durch Entscheidungsfragen und Imperativsätze möchte ich noch auf ein anderes Transkript verweisen, in dem der Muttersprachler eine Alternativfrage zur Initiierung einer Erzählung stellt, die die Möglichkeit einer Erzählung eröffnet. <?page no="277"?> 5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen 277 Gespräch: Ein Mitarbeiter hat Geld gestohlen und wurde gekündigt. ((Tandemgespräch, 16: 01-16: 18 Sek.)) [16: 01] 01 02 03 Max: was was du so erLEBT hast hier in deutschland; irgendeine geSCHIchte, die du so LUSTIG fandest oder SPANnend oder (.) oder SEltsam oder, [16: 18] 04 05 06 07 08 Le: ((lacht)) ich GLAUbe; in deutschland gibt es auch einige KOmische leute; wie zum BEIpiel= =ich bei meinem arbeitsORT. Hier formuliert Max als potentieller Initiator einer mündlichen Erzählung seiner Tandempartnerin eine Alternativfrage in Form eines Relativsatzes (Zeile 01, 02, 03). Die Nennung der möglichen Modalität der Geschichte „lustig“ oder „spannend“ oder „seltsam“ (Zeile 03) bietet der Erzählerin eine Orientierung an. Die Erzählwürdigkeit der zu erzählenden Geschichte wird dadurch hervorgehoben. Le reagiert zuerst mit Lachen (Zeile 04) und beginnt dann unmittelbar mit einer Geschichte. Bezogen auf die Durchführung der Erzählung zielen die Beiträge der Muttersprachler in solchen Beispielen auf die Initiierung der Geschichte ab. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass dies eine besondere Rolle in meinen Daten der chinesisch-deutschen Tandemgespräche spielt. Bei der Datenerhebung und der teilnehmenden Beobachtung ist deutlich zu beobachten, dass die chinesischen Lerner in ihren Tandemgesprächen selten selbst eine Erzählung initiieren. Im Vergleich zu ihrer Kompetenz in Beschreiben, Berichten und Argumentieren zeigen sie Erzähldefizite. In meinen Daten initiieren die chinesischen Probanden häufig Beschreibungen und Diskussionen über gesellschaftliche Phänomene. Selbstinitiierte Erzählungen kommen selten vor. Ein chinesischer Proband hat sich im Abschlußinterview folgendermaßen geäußert, warum er wenige Geschichten in seinem Tandemtreffen erzählt. „ 我喜欢跟人家讲故事。那就是呃,就是其实背景是两个。第一个讲故事 的语言要求很高,讲故事的语言要求非常高。我我觉得我能我敢说这个 话我专业出身嘛。我学过那么多课我知道我的所有课都不会让我讲故事 的[……]根本的东西是文化,根本的东西是,有些故事我讲不深,我可 以大概讲,描述一个客观事实,但是我内心感受上我我有些东西我觉得 <?page no="278"?> 278 5 Scaffolding 搞不搞不出来,对吧?这个憋不出来。或者我跟他讲白讲,他不能理解 这个事情的对吧?比如说我说中国人很多很纠结。我喜欢一个女孩子我 怎么追啊?因为有一些现实的什么问题。 “ Übersetzung: ich mag Geschichten erzählen. Aber ähm, es geht eigentlich um zwei Voraussetzungen. Erstens ist es sprachlich sehr anspruchsvoll, wenn man eine Geschichte erzählt. Sprachlich ist es ziemlich anspruchsvoll. Ich ich glaube, ich kann oder ich traue mich, das zu sagen, weil ich Germanistik als mein Hauptfach in meinem Bachelorstudium in China studiert habe. Ich habe viel Unterricht gehabt. Aber ich weiß, in keinem Unterricht lässt mich die Lehrperson eine Geschichte erzählen […] Im Wesentlichen geht es um die Kultur. Das Wesentliche ist, manche Geschichte kann ich nicht tiefgehend erzählen. Ich kann das Allgemeine erzählen und einen objekten Fakt wiedergeben. Aber was die innerlichen persönlichen Gefühle angeht, kann ich, glaube ich, nicht zum Ausdruck bringen, oder? Das kann ich nicht zum Ausdruck bringen. Oder es würde sich nicht lohnen, dass ich meinem Tandempartner eine Geschichte erzähle. Er kann meine Geschichte nicht verstehen, oder? Zum Beispiel, wenn ich sage, viele Chinesen sind verwickelt. Ich mag ein Mädchen, aber wie kann ich mit ihr zusammen sein? Es gibt manche realen Probleme. Demnach kann der Grund für den Mangel der selbstinitiierten Erzählung der chinesischen Lerner darin begründet sein, dass erstens das Thematisieren des Erzählens im Deutschunterricht in China fehlt. Den chinesischen Deutschlernern wird also nicht systematisch beigebracht, wie man eine Geschichte auf Deutsch mündlich erzählen soll. Zweitens geht es auch um die Kultur. Die erwarteten oder erfahrenen kulturellen Unterschiede werden in gewissem Maße als Hindernisse betrachtet. Dies führt dazu, dass die chinesischen Lerner nicht motiviert sind, Geschichten zu erzählen. 5.2.1.2 Elizitierung einzelner Strukturteile Die Untersuchung meiner Daten ergibt, dass sich die Elizitierung einzelner Strukturteile auf alle Ebenen des Erzählmodells von Hausendorf / Quasthoff (1996) bezieht. Die Scaffolding-Verfahren werden von den muttersprachlichen Tandempartnern bei (1) Darstellung der Inhaltsrelevanz, (2) Thematisieren, (3) Elaborieren / Dramatisieren, (4) Evaluation und (5) Abschließen / Überleiten eingesetzt, um die Erzählung der chinesischen Lerner fortführen zu lassen. Darüber hinaus werde ich hier anhand meiner Daten nachweisen, dass sich die Muttersprachler beim Einsatz der dialogischen Unterstützungsstrategien dem Sprachniveau ihrer chinesischen Tandempartner anpassen. Obwohl das <?page no="279"?> 5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen 279 Scaffolding im Tandem intuitiv realisiert wird, sind gewisse Anpassungen der deutschen Studierenden jedoch nicht zu übersehen. 1. Darstellung der Inhaltsrelevanz In Kapitel 4 über die Erzählkompetenz und Erzähldefizite der chinesischen Lerner wurde bereits gezeigt, dass die chinesischen Probanden in meinen Daten im Allgemeinen bei der Darstellung der Inhaltsrelevanz selten Probleme haben. In einigen Erzählungen der chinesischen Studierenden kommt es jedoch zur Elizitierung der Darstellung der Inhaltsrelevanz durch ihre muttersprachlichen Tandempartner. Die Beispiele sind zwar insgesamt nicht sehr zahlreich, verdeutlichen aber besondere Perspektiven der Darstellung der Inhaltsrelevanz. In meinen Daten geht es dabei entweder um das Informationsbedürfnis oder um die Verständnissicherung seitens des muttersprachlichen Zuhörers. Im ersten Beispiel „ein Mitarbeiter hat Geld gestohlen und wurde gekündigt“ liegt eine Geschichte vor, die Le auf die Initiative von Max erzählt. Hier zunächst der Ausschnitt, in dem es zur Elizitierung der Darstellung der Inhaltsrelevanz durch das Scaffolding-Verfahren des Muttersprachlers kommt. Gespräch: Ein Mitarbeiter hat Geld gestohlen und wurde gekündigt. ((Tandemgespräch, 16: 01-16: 45 Sek.)) [16: 01] 01 02 03 Max: was was du so erLEBT hast hier in deutschland; irgendeine geSCHIchte, die du so LUSTIG fandest oder SPANnend oder (.) oder SEltsam oder, 04 05 06 07 08 Le: ((lacht)) ich GLAUbe; in deutschland gibt es auch einige KOmische leute; wie zum BEIpiel= =ich bei meinem arbeitsORT. 09 Max: der ist WO? 10 11 Le: in in STUsie ja schwarzwaldstusie isähm vor einigen TAgen hat- 12 Max: schwarzwaldstudentenSIEDlung, 13 Le: schwarzwaldSUshi. 14 Max: achso SUshi. <?page no="280"?> 280 5 Scaffolding [16: 45] 15 16 17 Le: ja das ist SUshibar. und mein chef hatte hat nee hat hat hat einen mitarbeiter geKÜNdigt. weil er <<lachend> geld geSTOHlen hat.> Max stellt in diesem Ausschnitt eine Ergänzungsfrage (Zeile 09), die auf eine genauere Darstellung der Ortsangabe hindeutet. Dabei richtet sich sein Fokus auf eine Präzisierung des lokalen Umfeldes „bei meinem arbeits ORT “ (Zeile 08). Le antwortet mit einer konkreten Ortsangabe (Zeile 10), die jedoch falsch formuliert wird. Statt „Sushi“ liefert sie das falsche Wort „Stusie“, das zu einem Irrtum führt. Der Beitrag von Max mit einem deutlich steigenden Tonfall in Zeile 12 verdeutlicht seinen Zweifel an der präzisierten Ortsangabe. Er interpretiert nämlich den Namen „schwarzwaldstusie“ als eine Abkürzung für „schwarzwald SIED lung“ (Zeile 12), die scheinbar für ihn keinen Sinn macht. Er möchte das von Le bestätigen lassen. Daraufhin liefert Le den richtigen Ortsnamen „schwarzwald SU shi“ (Zeile 13). Das Rezipienzsignal „achso“ von Max in Zeile 14 signalisiert, dass der Begriff jetzt für ihn verständlich ist. Mit „ SU shibar“ (Zeile 15) erklärt Le die Ortsangabe explizit. Die Sequenz auf die Initiative der Elizitierung der präzisen Ortsangabe wird bis Zeile 15 beendet. Ab Zeile 16 führt die chinesische Erzählerin die Geschichte fort. Bezogen auf die Durchführung der Erzählstruktur zielt der sprachliche Gerüstbau von Max in Form der Ergänzungsfrage („der ist WO ? “ in Zeile 09) auf die Elizitierung von inhaltsrelevanten Elementen ab. Die Ortsangabe der Geschichte wird präzisiert und das Wissensdefizit des deutschen Tandempartners in Bezug auf den Arbeitsort von Le wird dadurch ausgeglichen. Während das Scaffolding-Verfahren bezüglich der Darstellung der Inhaltsrelevanz eher mit dem Informationsbedürfnis des muttersprachlichen Zuhörers zu tun hat, möchte ich mit dem folgenden Beispiel zeigen, dass die konstruktive Unterstützung auf der Ebene von Elizitierung der Inhaltsrelevanz auch zur Verständnissicherung dienen kann. <?page no="281"?> 5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen 281 Gespräch: Viele fünfzigjährige „Leute“ fragten meine Freundin nach ihrer Telefonnummer. ((Tandemgespräch, 43: 30-45: 15 Sek.)) [43: 30] 01 02 03 04 05 Li: ein FREUNdin von mir, hat hat mir geSAGT ähmwenn sie: : wenn sie auf jemand an der HALtestelle,= = an der an der HALtestelle gewartet hätt; ähm viele leute viele mi mitten_al mittealten LEUte? 06 Lukas: mhm. 07 Li: viele leute fünfzig ähm viele fünfzig jahre alt LEUte? 08 09 Lukas: mhm. viele fünfzigJÄHrige leute, 10 11 Li: JÄHrige leute hätt sie ähm gefra_gefragt. ähm was ist deine ähm TElefonnummer, 12 Lukas: mhm. 13 14 Li: und sie wirden NICHT ähm das antwortet. und [sie-] 15 Lukas: [wie ] ALT ist deine freundin. 16 17 18 Li: ähm sechsundZWANzig.= = aber sie siehst SEHR.= = ähm sie siehst SCHÖN aus. 19 Lukas: mhm. 20 21 22 23 Li: mhm. und sie: hat immer geSAGT. ich bin ANti <<engl. Aussprache> technology.> ich habe KEIN [nummer.] 24 25 Lukas: [aha. ] in DEUTSCHland fragen viele leute nach ihrer nummer. 26 Li: hehehe 27 Lukas: 好 奇怪 . sehr seltsam. sehr seltsam. 28 Li: mhm. <?page no="282"?> 282 5 Scaffolding 29 30 Lukas: an der busHALtestelle. an DIEser bushaltestelle oder an einer anderen, 31 32 Li: nein. in in der STADTmitte. 33 (4.0) 34 35 Lukas: mhm. 四 十 五十的 或者 还是 五十的 vierzig fünfzigjährige oder fünfzigjährigesind sie vierzigjährig oder fünfzigjährig- 36 Li: 四 五 十 vier fünfzigjährigsie sind ungefähr vier- und fünfzigjährig- 37 Lukas: 四 五 vier fünfvier- und fünfzigjährig- 38 Li: hehehe- 39 她 二 十 五 岁 , sie fünfundzwanzig jahre alt, sie ist fünfundzwanzig Jahre alt, 40 41 mhm. aber sie sieht SCHÖN au SCHÖN aus. [45: 15] 42 43 44 hehehe- 所以 ? deswegen? deswegen? hehehe- Li erzählt in diesem Beispiel das Belästigungserlebnis ihrer Freundin in Deutschland. Obwohl in ihrer Erzählung eine Thematisierung fehlt, was im Kapitel 4 bereits diskutiert wurde, ist von Zeile 01 bis Zeile 04 jedoch eine primäre Darstellung der Inhaltsrelevanz der Geschichte zu sehen. Person („ein FREUN din von mir,“ in Zeile 01 und „ähm viele leute viele mi mitten_al mittealten LEU te? “ in Zeile 05) und Ort („an der HAL testelle,“ in Zeile 03) werden angegeben. Bemerkenswert ist, dass sie trotz der Formulierungsschwierigkeit den genannten „mitten_al mittealten LEUte? “ (Zeile 04) das Attribut „fünfzigjährig“ zuzuschreiben versucht (Zeile 06), was die Darstellung der betreffenden Person in der Geschichte präzisiert und dabei auch auf seine Bedeutung für die Geschichte hindeutet. <?page no="283"?> 5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen 283 Es fällt auf, dass Lukas in Zeile 14 eine Ergänzungsfrage zur Elizitierung einer präzisen Angabe der Protagonistin in der Geschichte dient. Er fragt nach dem Alter der Protagonistin. Deutlich möchte er dadurch ein Verständnis für die von Li erzählte Geschichte aufbauen, deren Thema wegen der Erzähldefizite der chinesischen Studentin unklar ist. Es zeigt sich, dass das eingesetzte Scaffolding-Verfahren in Zeile 14 auf die Darstellung der Inhaltsrelevanz abzielt, aber andererseits der Verständnissicherung dient. Das Gleiche gilt für die Ko-Konstruktion in Zeile 29. Hier greift Lukas eine von Li gegebene Information auf, indem er sich auf die darin enthaltene Ortsangabe der erzählten Geschichte „an der bus HAL testelle“ (Zeile 28) fokussiert und damit eine Präzisierung fordert. Offensichtlich macht er sich Gedanken über den Handlungsort. Sein Unverständnis wird auch durch seinen Kommentar „ 好奇怪 (hao qi guai)“ in Zeile 26 ausgedrückt. Er möchte durch die Nachfrage Hinweise finden, durch die die erzählte Geschichte für ihn einleuchtender werden kann. Er realisiert das Scaffolding-Verfahren durch eine Alternativfrage „an DIE ser bushaltestelle oder an einer anderen,“ (Zeile 30). Mit „ DIE ser bushaltestelle“ (Zeile 30) meint er die Bushaltestelle vor seinem Tandemtreffpunkt, der sich im Vorort der Stadt befindet. Die Verneinung von Li (Zeile 31) bezieht sich offensichtlich auf „ DIE ser bushaltestelle“ (Zeile 30). Li liefert darauf die präzise Ortsangabe, dass die gemeinte Bushaltestelle in der erzählten Geschichte „in in der STADT mitte.“ (Zeile 32) steht. Die erwartete Präzisierung der Ortsangabe wird also durch den Einsatz des Scaffolding-Verfahren in Form einer Alternativfrage erfolgreich elizitiert. Die darauf folgende Sequenz (von Zeile 34 bis 39) zeigt, dass sich Lukas über das Alter der betreffenden Personen in der Erzählung Gedanken macht. Denn er versucht, das erzählte Ereignis in Zusammenhang mit den dargestellten inhaltsrelevanten Elementen (Person und Ort) zu bringen. Damit will er die ganze Geschichte verstehen. 2. Thematisieren In den Daten meiner Arbeit ist bereits deutlich geworden, dass das Thema der Erzählung der chinesischen Lerner häufig entweder von den deutschen Studierenden vorgegeben wird, im Fall von fremdinitiierter Erzählung, oder von den chinesischen Probanden am Anfang zum Ausdruck gebracht wird. In einigen Tandemgesprächen meiner Daten, und zwar ausschließlich in denen von Li, ist das Thema jedoch unklar. Der muttersprachliche Tandempartner setzt Scaffolding-Verfahren ein, damit das Thema der Erzählung elizitiert wird. <?page no="284"?> 284 5 Scaffolding Im Folgenden möchte ich nun auf ein Beispiel von Li eingehen, in dem das Thema ihrer Erzählung elizitiert wird. Der Ausschnitt hier präsentiert die Interaktion zwischen Li und Lukas, in der das vorherige Gesprächsthema über den Altersunterschied in das neue Thema zu unhöflichen jungen Leuten übergeleitet wird. Gespräch: Junge Leute sind unhöflich. ((Tandemgespräch, 01: 18: 07-01: 20: 31 Sek.)) [01: 18: 07] 72 Li: ein mitstudent aus tür aus der türKEI ist nur neunzehn jahr alt. 73 Lukas: mhm. 74 Li: aber (.) seine mutter ist nur fünfundzwan äh fünfundDREIßig jahre alt. 75 Lukas: mhm. 76 77 78 79 80 81 Li: ja, und ähm- gestern haben wir ein geSCHIchte gesehen.= = gelesen? gelesen; ähm das ist über über der FÄLL der berliner mauer, 82 83 Lukas: mhm. ähm- 84 Li: es war- 85 Lukas: eiNE geschichte. 86 Li: eiNE geschichte. 87 Lukas: [also] sie ist Über. 88 89 90 91 92 Li: [äh- ] sie ist Überhm <<p> eine geschichte= =sie ist über.>> es war in neunzehnHUNdert äh neunundachzig, 93 94 Lukas: mhm. <<p> neunzehnhundert ja; >> 95 96 dann der mit_mitstuDENT hat gesagt. oh meine mutter ist nur äh war nur VIERzehn jahre alt. <?page no="285"?> 5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen 285 97 Lukas: mhm. 98 Li: und HEUte er hat gesagt. 99 Lukas: heute hat er geSAGT? 100 101 102 Li: heute hat er geSAGT? seine NICHte ist äh ist sechsäh seine NICHte sechs jahre alt ist. 103 104 105 Lukas: ah. heute hat er geSAGT; DASS- 106 Li: DASS [äh seine- ] 107 Lukas: [seine nichte.] 108 Li: seine nichte? 109 Lukas: sechs [jahre alt ist. ] 110 111 112 Li: [sechs jahre alt ist.] und sie hat IMmer gesagt, du ÄLter du bekann_äh du behindert. 113 Lukas: du beHINderter? 114 Li: mhm. 115 Lukas: waRUM. 116 117 118 Li: hm: je_jetzt viele junge leute nicht; = =jetzt viele junge leute- 119 Lukas: du musst die ZEIT immer ein bisschen dahinten; 120 Li: ach: 121 Lukas: viele_viele junge leute, 122 Li: viele junge leute äh sind nicht zu HÄUFlich? 123 124 Lukas: äh: : ? viele junge leute SIND. 125 Li: <<lachend> sind JETZT [äh] nicht häuflich,>> 126 127 Lukas: [ja] mhm nicht? 128 129 130 Li: HÄUFlich. häufLICH? [HÄUF]lich. 131 132 Lukas: [ach ] nicht HÖFlich oder, 133 Li: nicht HÖFlich. <?page no="286"?> 286 5 Scaffolding 134 135 Lukas: UNhöflich. [nicht- ] 136 Li: [UNhöflich.] 137 Lukas: mhm. [01: 20: 31] 138 139 140 Li: ähm sie hat diesie hat die al_alten leute (.) immer beHINdert. du ALter gesagt. Lukas erzählt vorher eine private Geschichte, dass seine Eltern seit langem getrennt seien und sein Vater jetzt eine neue Frau habe. Mit der fünfunddreißigjährigen Frau hat sein Vater nun ein dreijähriges Kind. Die Mutter von Lukas war damals viel älter als sein Vater. Wenn Lukas jetzt mit dem Kind auf der Straße läuft, denken manche Leute, dass er der Vater des Kindes sei. Li wundert sich über den Altersunterschied zwischen seiner Mutter und seinem Vater. Ab Zeile 72 liefert sie auch ein Beispiel in Bezug auf das Thema. Von Zeile 78 bis Zeile 96 wird die Geschichte erzählt, wie sie erfuhr, dass die Mutter des neunzehnjährigen Mitstudierenden nur fünfunddreißig Jahre alt sei. Lis Verwunderung steigt noch mehr, als sie das Alter der Nichte von sechs Jahren erfährt. (Zeile 101, 102). Ab Zeile 111 ist jedoch ein Fokuswechsel zu beobachten, indem Li die Rede des sechsjährigen Kindes wiedergibt. Hier ergreift Li selbst die Initiative, ein neues Ereignis zu erzählen. Die Geschichte zum Thema „Altersunterschied“ geht damit zu Ende. Allerdings ist auffallend, dass der zu erzählenden Geschichte ein Thematisieren fehlt. Li verdeutlicht nicht, was sie mit der wiedergegebenen Rede des Kindes sagen will. Die Reaktion von Lukas, „du be HIN derter? “ (Zeile 113) im deutlich steigenden Tonfall, offenbart sein Unverständnis. Bezogen auf die Durchführung der Erzählstruktur gilt das auch als ein Scaffolding-Verfahren in Form einer Rückfrage, die der Elizitierung des Thematisierens der Geschichte dienen soll. Das versteht Li allerdings nicht. Sie produziert darauf einfach das Rezipienzsignal „mhm“ (Zeile 114). Offensichtlich interpretiert sie die Rückfrage von Lukas als eine Aufforderung zur Bestätigung, ob das betreffende Kind wirklich „du be HIN derter? “ (Zeile 113) gesagt habe. Diese konstruktive Dialoghilfe ist also nicht gelungen. Bemerkenswerterweise expliziert Lukas in Zeile 115 seine Frage, indem er seine Unterstützung in Form einer direkten Ergänzungsfrage einsetzt. Darauf folgend liefert Li ihre Erklärung (von Zeile 116 bis 122), dass es in ihrer Geschichte um die Unhöflichkeit der jungen Leute gehe. Es kommt zwar zu einer längeren Nebensequenz, weil sie nicht über das richtige deutsche Wort für „höflich“ verfügt. Der Einsatz der Ergänzungsfrage klärt aber das Thema der neuen <?page no="287"?> 5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen 287 Geschichte. Die Erzählung zum Thema „Unhöflichkeit der jungen Leute“ wird ab Zeile 138 fortgesetzt. 3. Elaborieren / Dramatisieren Meine Untersuchung hat ergeben, dass Strukturteile auf der Ebene von Elaborieren / Dramatisieren häufig elizitiert werden. Dabei handelt es sich um Scaffolding-Verfahren, die auf verschiedene Aspekte abzielen und in unterschiedlichen Formen realisiert werden. Im ersten Beispiel „ich war betrunken wegen Glühwein“ liegt der Fall einer Erlebniserzählung vor. Auf Initiative von Max thematisiert Le ihre Geschichte, als sie betrunken war. Gespräch: Ich war betrunken wegen Glühwein. ((Tandemgespräch, 00: 10-00: 47 Sek.)) [00: 10] 01 Max: warst warst du schon mal beTRUNken, 02 03 04 Le: ja in in OSnabrück vor zwei jahren; = = ich habe einmal ähm ungefähr eine HÄLFte voneine HÄLFte: mit glas (.) glühwein getrunken; 05 Max: ein HALbes glas. 06 Le: ja und dann bin ich getrun beTRUNken; 07 08 Max: SCHON, ein HALbes glas, 09 Le: ja. 10 11 Max: oh ((lacht)) und was hast du geMACHT, 12 13 Le: <<f> geTANZT geSUNgen und zu allen geSAGT.=> = ich würde euch einLAden zu essen? [00: 47] 14 Max: hehe[hehe-] Hier formuliert Max als muttersprachlicher Zuhörer eine Ergänzungsfrage „und was hast du ge MACHT “, (Zeile 11), die die chinesische Erzählerin zuerst mit einer allgemeinen Darstellung „<<f> getAnzt gesUngen und zu allen ge SAGT .=>“ (Zeile 12) beantwortet, woran sie eine direkte Redewiedergabe „= ich würde euch ein LA den zu Essen? “ (Zeile 13) zur Dramatisierung anschließt. Der Einsatz des Scaffolding-Verfahrens in Form einer Ergänzungsfrage setzt die Erzählung fort. <?page no="288"?> 288 5 Scaffolding Im folgenden Beispiel, das ebenfalls dem Tandemgespräch zwischen Max und Le entstammt, läuft die Elizitierung von Detailinformationen zum Elaborieren / Dramatisieren der Geschichte, ähnlich wie im letzten Beispiel, über Fragen (Ergänzungsfragen und Entscheidungsfragen), die die Fortsetzung der Erzählung fördern. Gespräch: Ein Mitarbeiter hat Geld gestohlen und wurde gekündigt. ((Tandemgespräch, 16: 32-17: 12 Sek.)) [16: 32] 15 16 17 Le: ja das ist SUshibar. und mein chef hatte hat nee hat hat hat einen mitarbeiter geKÜNdigt. weil er <<lachend> geld geSTOHlen hat.> 18 Max: OH- 19 20 21 Le: ((lacht)) und ja und er HATdieser MITarbeiter hat zuletzt auch immer nicht zugegeben; 22 Max: wie viel hat er geKLAUT? 23 Le: ungefähr FÜNFzig euro. 24 Max: aus der KASse einfach genommen, 25 26 27 28 29 Le: nein. er er ist ein FAHrer, und er fährt mit beSTELlung ja, er hat zwei bestellungen geLIEfert.= =aber KEIN geld zurück. [17: 12] 30 Max: okay. Max stellt in diesem Ausschnitt zwei Fragen, die auf Detailinformationen bei der Durchführung der Erzählstruktur hindeuten. Zum einen führt er in Zeile 22 eine Ergänzungsfrage „wie viel hat er ge KLAUT ? “ ein, was über Les Antwort „ungefähr Fünfzig euro.“ (Zeile 23) eine genauere Information über das vergangene Ereignis elizitiert. Zum anderen setzt Max darauf folgend in Zeile 24 das Scaffolding-Verfahren in Form der Entscheidungsfrage ein, ob der Protagonist das Geld „aus der KAS se einfach genommen“ hat, die Le zuerst mit „nein“ (Zeile 25) beantwortet, worauf Les Darstellung „er er ist ein FAH rer, und er fährt mit be STEL lung ja, er hat zwei bestellungen ge LIE fert.= =aber KEIN geld zurück“ (von Zeile 26 bis Zeile 29) dazu führt, dass der Fokus erneut auf das Elaborieren der Geschichte gelegt wird. Während die konstruktiven Dialoghilfen in den oben genannten Beispielen durch Ergänzungsfragen oder Entscheidungsfragen realisiert werden, tauchen <?page no="289"?> 5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen 289 in meinen Daten Erzählungen auf, in denen die von den muttersprachlichen Tandempartnern eingesetzten Scaffoling-Verfahren durch affektive Mittel durchgeführt werden. Dazu verweise ich auf ein Beispiel, das der Tandeminteraktion zwischen Ting und Linda entstammt. Gespräch: Eine Frau wurde verletzt. ((Tandemgespräch, 00: 26-01: 00 Sek.)) [00: 26] 15 Ting: und äh die frau hat ihre (.) BEIN verletzt ganz schwer verletzt. 16 Linda: weil sie geSTÜTZT auf der roll[treppe? ] 17 18 Ting: [ja ja ] geNAU. und ähm habe ich VIEL VIEL blut- 19 Linda: ach wie FURCHTbar; 20 21 22 23 Ting: ja FURCHTbar; echt FURCHTbar; 真 的 很 多 血 啊 我 跟 你 说 .= echt sehr viel blut PTCL ich zu dir sagen.= echt sehr viel Blut, ich sage dir.= = 地 上 全 是 血 ; auf dem boden überall ist blut; auf dem Boden ist überall Blut; 24 25 Linda: oh FURCHTbar; war dann schon KRANkenwagen da oder? 26 27 28 Ting: ich glaube äh sie hat erst FRÜher schon mal verletzt. und irgenwas hat sie noch mal verletzt. [heute-] [01: 00] 29 Linda: [okay, ] Hier bietet die muttersprachliche Zuhörerin Linda eine Evaluation („ach wie FURCHT bar; “ in Zeile 19) an, mit der der chinesischen Erzählerin Ting nahegelegt wird, mit weiteren Detailangaben zu reagieren. In Zeile 20 reagiert Ting auf Lindas Beitrag ebenfalls mit einer Evaluation, indem sie deren Kommentar „ FURCHT bar; “ (Zeile 20) mit deutlich emotionaler Färbung zuerst wiederholt und dann durch „echt FURCHT bar“ (Zeile 21) steigert. Apfelbaum (1993: 114) weist darauf hin, dass die Aufgabe der Evaluation parallel zu allen anderen Aufgaben von Erzähler und Zuhörer erledigt werden muss. In diesem Fall elizitiert <?page no="290"?> 290 5 Scaffolding die Evaluation von Linda eine weitere Fortführung der Inszenierung der vergangenen Situation. Es fällt auf, dass Ting zum Elaborieren der Szene auf ihre Muttersprache zurückgreift (Zeile 22, 23). Das Code-Switching hier lässt sich als die Behandlung eines Problems im Bereich sprachlichen Wissens interpretieren. Nach Apfelbaum (1993: 114) kann ein Wechsel in die Muttersprache des Erzählers zwar die Behandlung eines Problems erleichtern, aber der Lerneffekt für den Nichtmuttersprachler bleibt eher fragwürdig. Obwohl diese weiteren Angaben zu der Szene in der erzählten Geschichte von Ting so auf einem allgemeinen Niveau bleiben, wird der Job (Elaborieren / Dramatisieren) der Erzählstruktur jedoch durch den Einsatz der Evaluation elizitiert. Lindas Reaktion darauf, dass sie ihre Evaluation durch die Interjektion „oh“ (Zeile 24) steigert, signalisiert, dass die Erzählung der dramatischen Szene zwar immer noch allgemein ist, aber die muttersprachliche Zuhörerin doch in die Geschichte involviert (Tannen 2007) wird. In Zeile 25 benützt Linda ein neues Scaffolding-Verfahren in Form einer Entscheidungsfrage, die weitere Detailinformationen zum Elaborieren der Geschichte elizitieren sollte. Aber Tings Reaktion darauf zeigt, dass die Gerüstunterstützung nicht funktioniert. Darüber soll im nächsten Kapitel zum versuchten Scaffolding diskutiert werden. 4. Evaluation Während die Evaluation im oben zitierten Beispiel zur Elizitierung einzelner Erzählstrukturen (Elaborieren / Dramatisieren) dient, tauchen in meiner Arbeit auch Scaffolding-Verfahren auf, die explizit auf die Elizitierung der Evaluation abzielen. Dies ist in meinen Daten ausschließlich in interaktiven Erzählungen zwischen Le und Max zu finden. Hier verweise ich noch einmal auf das Gespräch zum Thema „ein Mitarbeiter hat Geld gestohlen und wurde gekündigt“, um die Elizitierung der Evaluation durch den Muttersprachler zu illustrieren. Im folgenden Ausschnitt präsentiere ich die entsprechende Sequenz. Gespräch: Ein Mitarbeiter hat Geld gestohlen und wurde gekündigt. ((Tandemgespräch, 16: 32-17: 21 Sek.)) [16: 32] 15 16 17 Le: ja das ist SUshibar. und mein chef hatte hat nee hat hat hat einen mitarbeiter geKÜNdigt. weil er <<lachend> geld geSTOHlen hat.> <?page no="291"?> 5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen 291 18 Max: OH- 19 20 21 Le: ((lacht)) und ja und er HATdieser MITarbeiter hat zuletzt auch immer nicht zugegeben; 22 Max: wie viel hat er geKLAUT? 23 Le: ungefähr FÜNFzig euro. 24 Max: aus der KASse einfach genommen, 25 26 27 28 29 Le: nein. er er ist ein FAHrer, und er fährt mit beSTELlung ja, er hat zwei bestellungen geLIEfert.= =aber KEIN geld zurück. 30 31 32 33 Max: okay. das hat man dann geMERKT; wie FANdest du das, dass er ihn dann geKÜNdigt hat deswegen; [17: 21] 34 Le: naTÜRlich muss man ihn kündigen. Hier fragt Max die Erzählerin Le direkt nach ihrem Kommentar zu dem Vorfall, worauf sie eine Kündigung seines Arbeitsplatzes für gerechtfertigt hält (Zeile 34). Eine Evaluation wird also durch das Scaffolding-Verfahren in Form der Ergänzungsfrage von Max kurz vor dem Ende der Erzählung erfolgreich elizitiert. Die beiden diskutieren anschließend über Kündigung in Deutschland und China. Zur interaktiven Produktion der Evaluation im Tandem hat Apfelbaum (1993: 114) die Untersuchungsergebnisse dargestellt, die sich auf die Beteiligung des muttersprachlichen Zuhörers daran beziehen. Eine Elizitierung der Evaluation durch den Muttersprachler ist in ihrer Studie nicht zu finden. Es muss aber betont werden, dass dies in meiner Arbeit ausschließlich bei dem Tandempaar Le und Max auftaucht. Das könnte darin begründet sein, dass die chinesische Lernerin Le ein höheres Sprachniveau hat. Das heißt, der Einsatz der Scaffolding-Verfahren der muttersprachlichen Tandempartner hat vermutlich mit dem Sprachniveau der nichtmuttersprachlichen Erzähler zu tun. Darüber wird im folgenden Kapitel diskutiert. 5. Abschließen und Überleiten Anders als die Befunde in der Studie von Hausendorf / Quasthoff (1996) „Zuhöreraktivitäten“ (Hausendorf / Quathoff 1996: 207) in Eltern-Kinder-Interaktionen, wo die erwachsenen Gesprächspartner den kindlichen Erzählern in <?page no="292"?> 292 5 Scaffolding Richtung auf die Erfüllung aller Ebenen der Erzählstruktur steuern, zeigen sich weder in Apfelbaums Forschung noch in meiner Arbeit unterstützende Aktivitäten des muttersprachlichen Zuhörers bezüglich der Elizitierung des Abschließens und des Überleitens. Daran sieht man, dass die Muttersprachler im Tandem eine relativ passive Rolle spielen. 5.2.1.3 Übernahme einzelner Strukturteile Unter „Übernahme einzelner Strukturteile“ ist das Scaffolding-Verfahren zu verstehen, mit dem der muttersprachliche Zuhörer einzelne Strukturteile der nichtmuttersprachlichen Erzählung übernimmt. Meine Untersuchung hat ergeben, dass dies durch verschiedene Formen realisiert werden kann. Das erste Beispiel illustriert die Übernahme eines Strukturteils in Form einer Entscheidungsfrage. Gespräch: Eine Frau wurde verletzt. ((Tandemgespräch, 00: 04-00: 39 Sek.)) [00: 04] 04 05 06 07 08 09 Ting: ich habe ein ein frau ein für siebzig jahre frau geSEhen? alte frau geSEhen? °sie war- es gibt- weisst du es gibt ein ein ein ALdi in der zweiten (.)etage von alter messeplatz? so die halteSTADT ähm von- 10 Linda: ach [des- ] 11 Ting: [ja ja.] 12 13 Linda: äh ja. [mhm.] 14 15 Ting: [ja. ] und äh die frau hat ihre (.) BEIN verletzt ganz schwer verletzt. 16 Linda: weil sie geSTÜRZT auf der roll[treppe? ] [00: 39] 17 18 Ting: [ja ja ] geNAU. und ähm habe ich VIEL VIEL blut- Hier formuliert Linda in Zeile 16 den Beitrag „weil sie ge STÜRZT auf der roll[treppe? ]“, der sich an das Thematisieren der Erzählung von Ting „und äh die frau hat ihre (.) BEIN verletzt ganz schwer verletzt.“ (Zeile 15) anschließt. Der deutlich steigende Tonfall von Lindas Beitrag signalisiert, dass er als eine Entscheidungsfrage gelten soll. Darauf reagiert Ting mit dem doppelten Rezi- <?page no="293"?> 5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen 293 pienzsignal „ja“ und dem anschließenden „ge NAU “ (Zeile 17), das ihre Ratifikation verstärkt. Lindas Äußerung zur Ursache der Verletzung der Frau passt also in die Geschichte. Das Elaborieren der Geschichte wird so durch Lindas Entscheidungsfrage („weil sie ge STÜRZT auf der roll[treppe? ]“ in Zeile 16) erledigt. Nach der Ratifikation (Zeile 17) führt Ting ihre Erzählung zum Elaborieren / Dramatisieren fort. Im nächsten Beispiel sehen wir eine andere Form der Übernahme einzelner Strukturteile, die darin besteht, dass der Muttersprachler eine Redewiedergabe des Protagonisten in der Geschichte produziert. Gespräch: Ein türkischer student ist auf etwas Stinkendes getreten. ((Tandemgespräch, 01: 30: 58-01: 31: 27 Sek.)) [01: 30: 58] 11 12 Li: und danach un danach ähm (.) ist er zu hause GEhen. [nach nach ] 13 Lukas: [daNACH ging er nach hause.] 14 Li: ja danach gehe danach GING er nach hause. 15 (1.4) 16 Lukas: <<rall> wie LANge > (.) war der unterricht noch; 17 Li: äh dreizig miNUten. 18 (2.5) 19 20 Lukas: dann sagte er oh mein schuh STINKT so sehr; äh ich MUSS jetzt gehen; [01: 31: 27] 21 Li: mhm. Die vorangehende Sequenz ist ein Teil des Gesprächs zwischen Li und Lukas, in dem Li ihrem Tandempartner erzählt, dass ein türkischer Mitstudierender des Deutschkurses auf etwas Stinkendes getreten sei und der unangenehme Geruch ihn im Kurs gestört habe. Hier geht es um die Sequenz der Geschichte, in der der türkische Mitstudierende nach Hause geht. Von Zeile 11 bis 13 geschieht eine Sequenz zu Behandlung eines sprachlichen Problems. Die Pause in Zeile 14, die an Lis Ratifikation der sprachlichen Korrektur anschließt, signalisiert, dass Li dies sehr wohl für die Beendigung der Erzählung hält. Lukas stellt aber danach die Frage „<<rall> wie LAN ge > (.) war der unterricht noch; “ (Zeile 16), die Detailsangaben elizitieren soll. Darauf antwortet Li mit „äh dreizig mi NU ten.“ (Zeile 17). Hier tritt wieder eine Pause ein (Zeile 18). Es kann sehr wohl sein, dass Li ihren Beitrag in Zeile 17 wieder als <?page no="294"?> 294 5 Scaffolding die Beendigung der Geschichte betrachtet. Es kann aber genauso gut sein, dass sie auf die Reaktion ihres Tandempartners wartet. Das bleibt offen. Bemerkenswert ist, dass Lukas dann selbst einen Strukturteil der erzählten Geschichte formuliert, indem er „dann sagte er oh mein schuh STINKT so sehr; äh ich MUSS jetzt gehen; “ (Zeile 19, 20) äußert. Lukas übernimmt in Form einer direkten Redewiedergabe die Detailangabe in Bezug auf Dramatisieren der Geschichte und findet Ratifikation bei der chinesischen Erzählerin (Zeile 21). Die beiden Beispiele verdeutlichen, wie die muttersprachlichen Tandempartner einzelne Erzählstrukturteile der Lerner übernehmen und wie die chinesischen Erzählerinnen darauf reagieren. In beiden Fällen werden die Übernahmen durch die deutschen Studierenden sofort von den Erzählerinnen ratifiziert. Die auf diese Weise produzierten Beiträge werden so in die Erzählung integriert und leisten einen Beitrag zum Rekonstruieren des vergangenen Ereignisses. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass die Übernahme einzelner Strukturteile bezüglich der Durchführung der nichtmuttersprachlichen Erzählung in meiner Arbeit meistens in den Daten von Li und Ting zu beobachten ist. Bei Le, der Germanistin mit einem viel höheren Sprachniveau, kommt es nicht zur Übernahme einzelner Strukturteile durch Max. Also hat offensichtlich der Einsatz dieses Scaffolding-Verfahrens sehr wohl etwas mit dem Sprachstand der Lerner zu tun. 5.2.1.4 Wiedergabe der Erzählstruktur In den konversationellen Erzählungen zwischen Li und Lukas kommt es auch zur Wiedergabe der Erzählstruktur durch den Muttersprachler Lukas, was in den anderen Daten nicht auftaucht. Dazu möchte ich noch einmal zu dem Gespräch „Ein türkischer Student ist auf etwas Stinkendes getreten.“ zurückkommen. Folgend präsentiere ich den entsprechenden Ausschnitt. Gespräch: Ein türkischer Student ist auf etwas Stinkendes getreten. ((Tandemgespräch, 01: 26: 55-01: 27: 43 Sek.)) [01: 26: 55] 166 Lukas: also zuerst hat der der der türkische ähm äh mit mit mitschüLER? = 167 Li: mhm. 168 169 Lukas: = gesagt. der BOden stinkt. 170 Li: mhm. 171 172 Lukas: ich TAUsche den platz. oder ich gehe [auf einen ANderen platz.] <?page no="295"?> 5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen 295 173 174 Li: [der boden stinkt.=] = oder ähm[: : der mitSCHÜler] ja ja. 175 176 177 Lukas: [der mitSCHÜler. ] aber am ende hat er herAUSgefunden? seine SCHUHen stinken. 178 Li: ja. 179 180 ((handy klingelt)) ((14.0)) 181 182 Lukas: am ende hat er herAUSgefunden. dass ER es ist. 183 Li: dass ER es ja. 184 Lukas: dass er ES [ist. ] 185 Li: [dass ]er- 186 Lukas: es. 187 188 Li: ES ist. dass ER es ist. [01: 27: 43] 189 Lukas: mhm. Hier endet das Gesprächsthema. In Zeile 166 greift Lukas das Rederecht auf und beginnt, mit dem Partikel „also“ als Einleitungswort, die von Li erzählte Geschichte wiederzugeben, die wegen der Erzähldefizite der Lerner nicht klar strukturiert wurde. Der steigende Tonfall des Beitrags in Zeile 166 signalisiert, dass Lukas dies zuerst als eine Rückfrage stellt und eine Ratifikation für seine Wiedergabe bei Li finden möchte. Darauf reagiert Li mit dem Rezipienzsignal „hm.“ als Ratifikation. Lukas führt dann seine Erzählung fort (von Zeile 168 bis Zeile 182). Dabei ratifiziert Li die Geschichte mit den Rezipienzsignalen „mhm.“ (Zeile 170) und „ja.“ (Zeile 178). Man sieht, dass Li in Zeile 173 die von Lukas formulierten Ausdrücke „der boden stinkt.=“ wiederholt, was ihr Nachdenken über die Handlung der Geschichte signalisiert. Nach einer kurzen Verzögerung („= oder ähm“ in Zeile 174) ratifiziert sie die Wiedergabe von Lukas mit dem doppelten „ja“ (Zeile 174). Betracht man die Geschichte des Muttersprachlers, ist festzustellen, dass er die Haupthandlung der erzählten Geschichte rekonstruiert. Lukas präsentiert nämlich nicht die vollständige Erzählstruktur, sondern die Strukturteile des Elaborierens / Dramatisierens und Abschließens, die die chinesische Erzählerin wegen sprachlicher Schwierigkeiten nicht klar wiedergegeben hat. Andererseits dient dies Lukas auch zur Verständnissicherung. Seine Beiträge, in diesem Fall als Rückfragen, verdeutlichen, dass er dabei Ratifikation bei der Erzählerin finden möchte. Das kann sehr wohl daran liegen, dass ihm in Lis unstrukturierter Erzählung nicht klar war, was genau in der Geschichte passiert ist. Seine <?page no="296"?> 296 5 Scaffolding Wiedergabe der Erzählung leistet in dieser Hinsicht einen Beitrag zur Sicherstellung seines Verständnisses. 5.2.1.5 Beteiligung an der Evaluation In der Mehrzahl der von mir analysierten nichtmuttersprachlichen Erzählungen treten Beteiligungen der muttersprachlichen Tandempartner an der Evaluation auf. Sie werden zu Beginn, während und am Ende der Erzählungen in verschiedenen Formen realisiert. Dafür präsentiere ich einige Beispiele in meiner Arbeit. Das erste Beispiel entstammt dem Tandemgespräch „viele fünfzigjährige Leute fragten meine Freundin nach ihrer Telefonnummer“, das in der vorliegenden Arbeit mehrmals zitiert wurde. Hier geht es um das Ende dieses Gesprächsthemas. Gespräch: Viele fünfzigjährige Leute fragten meine Freundin nach ihrer Telefonnummer. ((Tandemgespräch, 01: 00: 35-01: 01: 25 Sek.)) [01: 00: 35] 85 Li: er heißt 凤凰男 . fenghuangnan. Phönixmann. 86 (2.0) 87 88 89 90 Li: ja die frau ist HOCH? die in stadt- 社会 地位 怎么 说 ʔ shehui diwei wie sagen? wie sagt man shehui diwei auf Deutsch? <<engl. Aussprache> social statis,> 91 Lukas: sozialer STAND. 92 Li: ja [soziale-] 93 Lukas: [oder ]sozialer STAtus. 94 95 Li: socialer STAtus. hm. 96 (5.0) 97 Li: in deutschland gi gibt es ähm in DEUTSCHland ? 98 Lukas: ja das gibt es AUCH. 99 Li: auch? 100 Lukas: ja. <?page no="297"?> 5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen 297 101 102 Li: ach: : das ist ein übeRALL problem (.) in der ganz - 103 104 105 Lukas: ich denke in der GANzen welt ja. (5.4) oder auch zwischen verschiedenen LÄNdern. [01: 01: 25] 106 107 Li: ach: : ein kollegin- Nach der Rekonstruktion der Geschichte führt die chinesische Erzählerin Li den chinesischen Begriff „Phönixmann“ in die Diskussion ein. Mit „Phönixmann“ werden in China die Männer bezeichnet, die vom Land kommen und in der Stadt studieren bzw. Karriere machen. Li erzählt Lukas ein aktuelles gesellschaftliches Phänomen aus China: Wenn solche Männer Frauen heiraten, die in der Stadt geboren und aufgewachsen sind, entstehen häufig familiäre Probleme. Nachdem Li von Lukas erfährt, dass auch in Deutschland solche Fälle vorkommen (Zeile 98), bewertet sie dieses Phänomen als ein übliches Problem auf der ganzen Welt (Zeile 102). Lukas ratifiziert ihre Evaluation, indem er „ich denke in der GAN zen welt ja.“ äußert (Zeile 103). Wir sehen, dass er in diesem Fall die von Li eingebrachte Evaluation aufgreift und dies mit der Partikel „ja“ am Ende seines Beitrags verstärkt. Nach einer kurzen Pause (Zeile 104) ergänzt Lukas, dass das gerade erörterte Phänomen auch zwischen verschiedenen Ländern besteht (Zeile 105). Seine weitere Evaluation führt dazu, dass die chinesische Erzählerin einen neuen narrativen Text daran anschließt, der die These „oder auch zwischen verschiedenen LÄN dern“ (Zeile 105) bestätigt. In Zeile 106 beginnt Li mit dieser neuen Geschichte. Während in diesem Beispiel der Muttersprachler Lukas die Evaluation der Erzählerin aufgreift, sie verstärkt benutzt und um einen neuen Aspekt erweitert, schiebt der muttersprachliche Zuhörer Max im nächsten Beispiel einfach seinen bewertenden Kommentar ein. Gspräch: die ersten Tage in Deutschland ((Tandemgespräch, 01: 57-02: 32 Sek.)) [01: 57] 35 36 37 Le: ähm bei allTAGSleben ist kein problem; aber ich meine. auf der bei der vorlesung bei der seminar kann ich am anfang fast NUR zehn prozent verstehen. 38 Max: mhm. <?page no="298"?> 298 5 Scaffolding 39 Le: da war ich wirklich sehr sehr sehr nerVÖS; 40 Max: mhm. 41 42 43 Le: und nach ungefähr ZWEI monaten habe ichhabe ich ähm einmal ähm einen TRAUM gehabt. und der traum ist auf DEUTSCH. 44 45 46 47 Max: oh das ist GUT.= =wenn man in einer sprache TRÄUMT; die man LERNT; dann hat man es schon geSCHAFFT. 48 Le: ja. [02: 32] 49 Max: mhm. In Zeile 44 produziert Max einen bewertenden Kommentar, der mit der affektiv aufgeladenen Interjektion „oh“ eingeleitet wird. Im Anschluss daran baut er seine Evaluation aus, indem er den allgemeinen bewertenden Beitrag „das ist GUT .“ (Zeile 44) erläutert (von Zeile 45 bis 47). Er begründet dadurch seinen positiven Kommentar zu Les Geschichte beim Spracherwerb. Auf die Evaluation des muttersprachlichen Gesprächspartners reagiert Le mit „ja“ (Zeile 48), was Ratifikation bedeutet. Im folgenden Beispiel setzt der deutsche Studierende Lukas einen expliziten, bewertenden Kommentar, nachdem seine erste Evaluation von der chinesischen Erzählerin Li nicht ratifiziert wurde. Gespräch: Viele fünfzigjährige „Leute“ fragten meine Freundin nach ihrer Telefonnummer. ((Tandemgespräch, 44: 27-44: 46 Sek.)) [44: 27] 21 22 23 Li: und sie: hat immer geSAGT. ich bin ANti <<engl. Aussprache> technology.> ich habe KEIN [nummer.] 24 25 Lukas: [aha. ] in DEUTSCHland fragen viele leute nach ihrer nummer. 26 Li: hehehe 27 Lukas: 好 奇怪. sehr seltsam. sehr seltsam. 28 Li: mhm. <?page no="299"?> 5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen 299 29 30 Lukas: an der busHALtestelle. an DIEser bushaltestelle oder an einer anderen, [44: 46] 31 32 Li: nein. in in der STADTmitte. Hier greift Lukas den Inhalt der von Li erzählten Geschichte auf und formuliert ihn mit der Rückfrage „in DEUTSCHland fragen viele leute nach ihrer nummer.“ (Zeile 25), bei dem die Betonung auf „ DEUTSCH land“ liegt. Das offenbart die Einstellung des Sprechers, dass er den Vorgang für unverständlich hält. Dieser Beitrag mit evaluativem Charakter findet aber keine explizite Ratifikation bei der Erzählerin. Li reagiert darauf einfach mit Lachen (Zeile 26). Es kann sehr wohl sein, dass Li die Evaluation von Lukas nicht versteht; es kann aber genauso gut sein, dass Li die Einstellung von Lukas zwar versteht, aber nicht weiss, was sie dazu sagen soll. Das bleibt offen. Lukas expliziert daraufhin seine Evaluation, indem er den direkt bewertenden Kommentar „ 好奇怪 (hao qi guai)“ (Zeile 27) produziert. Bemerkenswerterweise formuliert er seinen Beitrag auf Chinesisch, was in den deutschen Gesprächen zwischen ihm und Li nicht häufig vorkommt. Er will wohl damit die Verständnisschwierigkeit für Li reduzieren. Li reagiert darauf mit dem Rezipienzsignal „mhm“ (Zeile 28). Danach kommt es zur Sequenz, die in meiner Arbeit unter dem Aspekt zur Elizitierung einzelner Stukturteile schon thematisiert wurde. Der Prozess der Beteiligung an der Evaluation veranschaulicht in diesem Beispiel die Scaffoldingkompetenz von Lukas. Als eine Laienlehrperson ist er in der Lage, seinen Beitrag umzuformulieren bzw. zu explizieren, damit es für seine chinesische Tandempartnerin leichter wird und die konversationelle Erzählung fortgeführt werden kann. In wenigen nichtmuttersprachlichen Erzählungen in meinen Daten wird die muttersprachliche Beteiligung an der Evaluation durch einen wiederkehrenden bewertenden Kommentar markiert. Dazu präsentiere ich den Ausschnitt eines Tandemgesprächs zwischen Le und Max. Gespräch: Haarausfall ((Tandemgespräch, 10: 23-10: 57 Sek.)) [10: 23] 38 39 40 Le: wenn man immer LEItungswasser trinkt, verLIERT man haare; verLIERT man haare; 41 Max: ((lacht)) 42 Le: WIRKlich. <?page no="300"?> 300 5 Scaffolding 43 44 Max: ECHT, hehehe- 45 Le: in ch- 46 Max: habe noch NIE gehört. 47 48 Le: ich wohnte in CHINA früh früher; und habe NICHT so viel- 49 50 Max: in CHINA vielleicht. ECHT, 51 52 Le: NICHT so viel haare verloren. aber in deutschland habe ich VIEle- 53 Max: ECHT, 54 55 Le: deshalb habe ich immer mediKAment zugenomm nommen. ähm äh ANtihaarverlust [shampoo-] [10: 57] 56 57 Max: [nur bei ] CHInesen oder für alle, auch für DEUtsche? Der vorangehende Ausschnitt ist Teil eines Gesprächs zwischen Le und Max, in dem Le ihrem Tandempartner erzählt, dass eine ihrer Freundinnen einen Wasserfilter gegen Haarausfall in Deutschland gekauft hat. Auch sie selbst verliere in Deutschland viele Haare. Der Grund dafür liegt ihrer Meinung nach am Wasser. Das zu kalkhaltige Wasser in Deutschland sei Schuld daran. In Zeile 41 reagiert Max auf die Äußerung der chinesischen Erzählerin mit Lachen, das offensichtlich einen evaluativen Charakter hat und seinen Zweifel offenbart. Im Anschluss daran produziert Le „ WIRK lich.“ (Zeile 42) mit einem entschlossenen Tonfall, was zeigt, dass sie an dem von ihr formulierten Grund festhalten will. Darauf reagiert Max mit einer Rückfrage („ ECHT ,“ in Zeile 43), die seine zweifelnde Einstellung dazu explizit ausdrückt. Das anschließende Lachen (Zeile 44) verstärkt seinen Zweifel. Bemerkenswert ist, dass er daraufhin Le unterbricht und einen weiteren bewertenden Kommentar („habe noch NIE gehört“ in Zeile 46) produziert, der seine Evaluation verstärkt. Auf Max’ verstärkende Evaluation schließt die chinesische Erzählerin mit einem anderen Text an, indem sie ab Zeile 47 ihr eigenes Erlebnis zu diesem Thema wiedergibt. Max liefert während ihrer weiteren Erzählung wieder zweimal seinen bewertenden Kommentar „ ECHT ,“ (Zeile 50, 53). Dabei beendet Le ihre Erzählung nicht. Bezogen auf die Durchführung der Erzählung kann man sagen, dass die immer wiederkehrende Evaluation von Max das Fortführen der nichtmuttersprachlichen Erzählung vorantreibt. In Zeile 56 und 57 expliziert Max seinen Zweifel, der durch das wiederkehrende evaluative Adjektiv „echt“ gezeigt wird, <?page no="301"?> 5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen 301 weiter, indem er die Alternativfrage „[nur bei] CHI nesen oder für alle, auch für DEU tsche? “ stellt. Eine andere Form der Evaluation ist ein Ausruf, der expressiv realisiert wird. Das folgende Beispiel aus dem Gespräch zwischen Ting und Linda illustriert ein solches interaktives Evaluationsverfahren. Gespräch: Der Zug ist ausgefallen. ((Tandemgespräch, 26: 07-26: 21 Sek.)) [26: 07] 24 25 26 27 Ting: ja und DANN; wenn wir wenn wir in freiburg ANgekommen; es ist SCHON zwölf uhr zwan zwanzig; und es gibt kein BUS mehr[kein es BAHN ] mehr; 28 Linda: [<<f> oh nee: >] [26: 21] 29 30 Ting: ja ich habe ein TAxi genommen; oh: : TEUer; Linda bewertet Tings Geschichte über ihre umständliche Rückfahrt in expressiver Form („[<<f> oh nee: >]“ in Zeile 28), wobei ihre emotionale Färbung einerseits durch den deutlich ansteigenden Tonfall und zweitens durch die Überlappung ihres Beitrags mit dem von Ting veranschaulicht wird. An verschiedenen Stellen meiner Arbeit sehen wir, dass Linda selten ihre Tandempartnerin unterbricht. Sie hört so lange zu, bis Ting ihren Beitrag beendet. Aber in diesem Fall beobachten wir eine deutliche, von Linda initiierte Überlappung. Die emotionale Färbung in ihrem evaluativen Beitrag wird dadurch stärker verdeutlicht. Ting reagiert darauf mit dem Gesprächspartikel „ja“ (Zeile 29) und führt ihre Geschichte fort. Abschließend möchte ich noch einmal auf die Gesprächssequenz „ich war betrunken wegen GLÜH wein.“ zurückkommen, in der der muttersprachliche Zuhörer zu Beginn, während und am Ende der nichtmuttersprachlichen Erzählung Evaluationen in unterschiedlichen Formen produziert. An verschiedenen Stellen meiner Arbeit ist deutlich geworden, dass die Daten wenige Erzählungen der chinesischen Studierenden enthalten, in denen die Evaluation des deutschen <?page no="302"?> 302 5 Scaffolding Tandempartners die ganze Erzählung durchzieht. Hier ein Beispiel aus den Daten von Max und Le. Gespräch: Ich war betrunken wegen Glühwein. ((Tandemgespräch, 00: 10-01: 09 Sek.)) [00: 10] 01 Max: warst warst du schon mal beTRUNken, 02 03 04 Le: ja in in OSnabrück vor zwei jahren; = = ich habe einmal ähm ungefähr eine HÄLFte voneine HÄLFte: mit glas (.) glühwein getrunken; 05 Max: ein HALbes glas. 06 Le: ja und dann bin ich getrun beTRUNken; 07 08 Max: SCHON, ein HALbes glas, 09 Le: ja. 10 11 Max: oh ((lacht)) und was hast du geMACHT, 12 13 Le: <<f> geTANZT geSUNgen und zu allen geSAGT.=> = ich würde euch einLAden zu essen? 14 Max: hehe[hehe-] 15 16 Le: [hehe-] und dann habe- 17 Max: nächstes mal gebe ich dir AUCH ein halb. 18 19 Le: oh NEIN, [bitte NICHT.] 20 Max: [hehehe ] 21 Le: und das die die anderen sind alle ähm austauschstuDENten aus [allen] anderen ländern ja. 22 Max: [ähm. ] 23 24 Le: ähm nächsten tag kommen einige zu MIR; und [SAgen- ] 25 Max: [um zu ESsen] oder, 26 27 Le: <<f> ja ja ja. > [hehehehe-] [01: 09] 28 Max: [hehehehe-] Max produziert hier seine erste Evaluation in Form einer Rückfrage „ SCHON , ein HAL bes glas,“ (Zeile 07, 08), worauf Le mit dem Rezipienzsignal „ja.“ (Zeile <?page no="303"?> 5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen 303 09) reagiert. Der fallende Tonfall signalisiert ihre Bestätigung an der von Max rückgefragten Mengenangabe. Daraufhin liefert Max mit dem Ausruf „oh“ (Zeile 10) seine zweite Evaluation und schließt ein Lachen an. Der erzählten Geschichte wird dadurch eine Spaß-Modalität zugeschrieben. Danach elizitiert er die Fortführung der Geschichte. Nachdem Le ihr Verhalten in der obigen Situation erzählt hat, bricht Max in Lachen aus (Zeile 14). Le lacht mit (Zeile 15). Das Lachen mit evaluierendem Charakter veranschaulicht, dass beide in Bezug auf die Modalität der erzählten Geschichte übereinstimmen. In Zeile 17 initiiert Max eine Nebensequenz, die auf den Fokus der Mengenangabe zurückzuführen ist. Auf die Antwort von Le „oh NEIN “ (Zeile 18) reagiert Max wieder einmal mit einem Lachen (Zeile 20), was verdeutlicht, dass er das spaßig findet. Le verlässt diese Nebensequenz und setzt ihre Erzählung fort. Auffällig ist das gemeinsame Lachen der beiden in den Zeilen 27 und 28. Dies geht von einer interaktiv gestalteten Sequenz (Zeile 23 bis 26) aus. In Zeile 25 greift Max durch das Unterbrechen das Rederecht auf und vervollständigt Les Beitrag, indem er das Stichwort „essen“, auf das vorher in Les Erzählung hingewiesen wurde, ergänzt. Les affektiv aufgeladene Reaktion „<<f> ja ja ja >“ (Zeile 26) mit einem deutlich erhöhten Tonfall veranschaulicht ihre Ratifikation. Dem darauf folgenden gemeinsamen Lachen kommt eine zweifache Bedeutung zu. Zum einen funktioniert es als ein bewertender Kommentar der beiden Gesprächspartner zu der rekonstruierten Szene. Zum anderen kann es auch so interpretiert werden, dass die beiden es lustig finden, dass ihnen an dieser Stelle ohne vorherige Absprache das gleiche Wort einfiel. Die Erzählung endet, indem die beiden Gesprächsteilnehmer eine Übereinstimmung finden. Die Analyse zeigt uns, dass die Evaluationen in diesem Fall gut in das Gespräch integriert sind und einen Beitrag zur Fortführung der nichtmuttersprachlichen Erzählung leisten. Aber wie oben bereits erwähnt, kommt es in meiner Arbeit ausschließlich in den Daten von Max und Le zu solchen Sequenzen, in denen die muttersprachlichen Evaluationen in die konversationellen Erzählungen von Anfang bis Ende gut eingebettet sind. Die Muttersprachler beteiligen sich zwar bei allen Tandempartnern meiner Arbeit an der Evaluation, aber die Unterschiede zwischen den Probanden bezüglich der Form und der Einsatzstelle der Evaluation sind schon auffällig. Das liegt wohl an der Rolle der chinesischen Lerner. Ein möglicher Grund dafür besteht genauso gut darin, dass sich der jeweilige muttersprachliche Zuhörer dem Sprachstand seines Tandempartners anpasst. Darüber wird im folgenden Kapitel zur Anpassung des muttersprachlichen Tandempartners an den Sprachstand des Lerners diskutiert. <?page no="304"?> 304 5 Scaffolding 5.2.1.6 Bearbeitung von Problemen bei der Durchführung der Erzählstruktur In nichtmuttersprachlichen Erzählungen von Li kommt es zu Sequenzen, in denen Probleme der erzählten Geschichte bearbeitet werden. In der Bearbeitungssequenz geht es einerseits um die Behandlung der sprachlichen Probleme, andererseits aber handelt es sich auch um die Erzählstruktur, die dadurch verändert wird. Das folgende Beispiel illustriert, wie die Bearbeitungssequenz in die Erzählung zum Thema „Im Kino hat ein Mann mit mir gesprochen“ eingebettet wird. Gespräch: Im Kino hat ein Mann mit mir gesprochen. ((Tandemgespräch, 41: 00-43: 29 Sek.)) [41: 00] 01 Li: vor zwei wochen war ich in war ich in war ich in im KIno. 02 Lukas: im KIno. 03 04 Li: hm war ich im Kino. und ein (.) MANN aus servien; 05 06 Lukas: mhm. aus SERbien. 07 08 09 10 Li: aus SERbien ja. er hat mir äh geSAGT. wie ALT bisähm wie ALT bist du? 11 Lukas: hat mich geFRAGT. 12 13 Li: hat mir geFRAGT.= = wie ALT bist du, 14 15 16 17 hm ich sa hm ich SAG.= = ähm wie ALT wie ähm: = = wie alt wie ähmähm: : 18 Lukas: wie alt SEhe ich aus (.) oder? 19 20 21 22 23 Li: ach ja.= = wie alt seh SEhe ich aus? er sagt viellei,= = ich ich bin nicht SIcher; du bist Asian. 24 Lukas: he[he; ] <?page no="305"?> 5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen 305 25 26 27 Li: [hm: ] vielleicht ZWANzig jahre alt; und ähm ich wollte nicht mit ihr sprin SPREchen, dann - 28 Lukas: ich wollte nicht mit IHM sprechen. 29 30 31 Li: mit IHM sprechen. dann sage ich. ich bin DREIßig jahre alt. 32 Lukas: hehe; 33 34 35 36 37 38 39 40 Li: und ich bin ähm DOKtor. und ich habe ein ein paPIER dabei; alles sind ähm - alles sind für ein SOFTware, hm heißt A? und gebe so VIEL zeit dann. und ich habe DAS ihr ähm - ich habe das ihr äh geZEICHnet? 41 Lukas: ich habe IHM [das.] 42 43 44 45 46 47 Li: [ich ] habe ihm das geZEICHnet; ähm ich SAGte. GUCK mal, ich bin ein DREIßig jahre alt doktor; und das ist WAS äh - das ist WAS ich arbeite (.) jeden tag mit? 48 Lukas: ähm - 49 Li: das [ist WAS,] 50 Lukas: [das ist ] DAS; 51 Li: das ist DAS; 52 Lukas: womit. 53 Li: womit ich [jeden tag arbeite.] 54 Lukas: <<p> [jeden tag arbeite.] > 55 56 57 Li: und er er finden das UNglaublich; er sagt. du bist NICHT dreißig jahre alt. 58 Lukas: ((lacht)) 59 60 61 Li: aber ich sagte, wir sind äh Asian leute, und wir kann wir sin wir siehst wir sehen äh JUNger aus. 62 Lukas: ((lacht)) <?page no="306"?> 306 5 Scaffolding 63 Li: und wir haben so VIEL kosmetik gemacht; 64 Lukas: he[hehe-] 65 Li: [hehe-] 66 67 Lukas: sehr LUStig. [was ] hast du ihm geZEIGT, 68 69 Li: [aber] ähm (--)<<engl.Aussprache> matheMAtics; > 70 Lukas: ach okay. 71 Li: mhm. 72 Lukas: hehehe- 73 74 Li: hehe- und [ein ein- ] 75 76 Lukas: [also kein] kein ARZT. sondern doktors <<engl.Aussprache> deGREE; > 77 Li: ja doktor <<engl.Aussprache> deGREE.> [43: 29] 78 Lukas: mhm. Hier erzählt Li ihrem Tandempartner ein Erlebnis im Kino. Von Zeile 01 bis Zeile 66 wird die Geschichte trotz vieler sprachlicher Schwierigkeiten der chinesischen Erzählerin wiedergegeben. Die Reaktion des muttersprachlichen Zuhörers, das Lachen (Zeile 62) und insbesondere das gemeinsame Lachen der beiden Gesprächspartner (Zeile 64, 65) verdeutlichen, dass Lukas die Geschichte versteht und würdigt. Der bewertende Kommentar „sehr LUS tig“ (Zeile 66) von Lukas drückt seine Einstellung zu der erzählten Geschichte explizit aus. Bezogen auf die Erzählstruktur scheint die Geschichte an dieser Stelle beendet. Wie Kotthoff (2014) darstellt, besteht das Ende der Geschichte oft aus einer Bewertung in mehreren Schritten, die einige Male lachend bekräftigt wird. Demnach soll das Anschließen der Erzählung in diesem Beispiel ein typisches Ende der erzählten Geschichte sein. Auffallend ist jedoch, dass das Thema nicht abgeschlossen, sondern weiterentwickelt wird. In Zeile 67 stellt Lukas anschließend die Frage („[was ] hast du ihm geZEIGT,“), die sich auf ein Verständnisproblem in der vorher rekonstruierten Szene bezieht. Li antwortet - offenbar wegen sprachlicher Probleme - auf Englisch (Zeile 68, 69). Dadurch versteht Lukas, dass Li vorher mit der Angabe „doktor“ (Zeile 45) eine Promotion meint, statt den Arzttitel (Zeile 75, 76). Li bestätigt das mehrmals (Zeile 79), worauf Lukas mit dem Rezipienzsignal „hm.“ (Zeile 80) reagiert. Die Erzählung wird erst hier beendet. Darauf folgt ein neues Thema. Anders als Erzählbeendigungen, die Kotthoff (2014) in ihrer Darstellung vorstellt, ist das Ende der Geschichte in diesem Tandemgespräch zwischen Li und <?page no="307"?> 5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen 307 Lukas weder mit einer mehrschrittigen Bewertung (auch Lachen) noch mit einem zusammenfassenden Kommentar zu der Geschichte gestaltet. Hier endet die Erzählung mit der Bearbeitung einer vorherigen unklaren Angabe, die der Verständnissicherung des muttersprachlichen Zuhörers dient. Wir sehen, dass die Bearbeitungssequenz von Lukas initiiert wird. Der Muttersprachler spielt hier also eine aktive Rolle. Er stellt seine Frage (Zeile 67) an die Erzählerin, was dazu führt, dass im Anschluss an die Stelle (Zeile 66), die das Ende der Geschichte sein sollte, ein weiterer Strukturteil (Zeile 67 bis 78) entsteht. Der Grund dafür ist eindeutig: Lukas möchte sein Verständnisproblem bewältigen und die ganze Geschichte verstehen. 5.2.2 Versuchtes Scaffolding Während im letzten Unterkapitel erfolgreiche Scaffolding-Verfahren der muttersprachlichen Zuhörer analysiert wurden, möchte ich in dem folgenden Unterkapitel versuchte konstruktive Dialoghilfe in meinen Daten zeigen. Die muttersprachlichen Tandempartner sind Laienlehrpersonen. In manchen nichtmuttersprachlichen Erzählungen kommt es zu Sequenzen, in denen die deutschen Studierenden narrative Unterstützungsstrategien einsetzen. Aber diese sind ohne Kooperation der chinesischen Studierenden vergeblich. Bemerkenswert ist aber auch, dass die Muttersprachler keine weiteren Maßnahmen ergreifen, um den eingesetzten sprachlichen Gerüstbau fortzusetzen. Um das zu illustrieren, möchte ich noch einmal das Beispiel „ich wurde mal von unserem Hund gebissen“ aus den Daten von Ting und Linda aufgreifen. Gespräch: Ich wurde mal von unserem Hund gebissen. ((Tandemgespräch, 34: 57-36: 01 Sek.)) [34: 57] 50 51 Linda: hm und ansonsten warst du mal irgendwie anSONsten im krankenhaus oder schlimmer verletzt oder so,= = [hast du mal deinen BEIN] oder arm gebrochen oder so, 52 53 54 55 Ting: [ja: : : ] nee nee nee. der ANdere teil sind alles gut. [weil-] 56 Linda: [hehe ] 57 58 Ting: hehe ja. weil das HUND ist von unserem haus; <?page no="308"?> 308 5 Scaffolding 59 Linda: DER hund. 60 Ting: ja ja der hund; 61 Linda: mhm. 62 Ting: er KENNT nicht. 63 Linda: mhm. 64 65 Ting: er er KENNT nicht so; er er ist NUR in der moment[sehr] ärgert; 66 67 Linda: [mhm.] okay. 68 69 Ting: ja, (1.7) 70 Linda: mhm. 71 72 Ting: er WEIß ich bin(.)inich bin in dieser <<lachend> famiLIE.> 73 74 75 Linda: okay? oh JE, [hm ]als du noch so KLEIN- 76 Ting: [weil-] 77 78 79 Linda: hat es dir bestimmt WEH getan. ist das das ERste, an das du dich erINnern kannst? 80 Ting: ja; 81 Linda: ja? 82 83 84 Ting: <<pp> mhm.> ich möchte ein hund HAben. wenn ich mein ei mein EIgene familie haben; 85 Linda: mhm. 86 87 88 Ting: ich mag sehr GERne hund. aber ich habe geHÖRT so. die PERsone mag hund und katze(.)sind zwei unterschiedliche charakter, [36: 01] 89 Linda: mhm. In diesem Gespräch erzählt Ting ihrer Tandempartnerin, dass sie in ihrer Kindheit mit dem Hund in ihrer Familie zusammen gegessen hat und von ihm gebissen wurde. Im hier präsentierten Ausschnitt geht es um die Weiterentwicklung des Gesprächs, nachdem Ting die Haupthandlung ihrer Geschichte rekonstruiert hat. Linda versucht, das Gespräch zum Thema „Verletzung“ weiterzuentwickeln, indem sie die Frage „hm und ansonsten warst du mal irgendwie an SON sten im krankenhaus oder schlimmer verletzt oder so,= = [hast du mal deinen BEIN ] <?page no="309"?> 5.2 Scaffolding in Tandeminteraktionen 309 oder arm gebrochen oder so,“ (Zeile 50, 51) stellt. Diese Frage sollte Ting zum weiteren Erzählen ihrer Geschichte elizitieren. Das funktioniert aber nicht. Tings Reaktion darauf „[ja: : : ] nee nee nee.der AN dere teil sind alles gut.“ (Zeile 52 bis 54) zeigt, dass sie nicht versteht, was Linda meint. Während sie ausweichend auf Lindas Frage antwortet, reagiert Linda dazwischen mit Lachen (Zeile 56) und den Rezipienzsignalen „mhm“ (Zeile 61, 63, 66) und „okay“ (Zeile 67), ohne ihre Frage explizit zu erklären. An keiner Stelle des weiteren Gesprächs ist zu beobachten, dass Linda noch einmal auf ihre Frage zurückkommt. Die Frage, die Linda in Ziele 50 und 51 stellt und eigentlich als ein Gerüst zum weiteren Elizitieren der nichtmuttersprachlichen Erzählung führen sollte, geht einfach unbehandelt verloren. In Zeile 78 versucht Linda noch einmal, die Erzählung der chinesischen Studierende zu steuern. Mit der affektiv aufgeladenen Einleitung „oh JE ,“ (Zeile 74) und dem anschließenden bewertenden Kommentar „[hm] als du noch so KLEIN - hat es dir bestimmt WEH getan.“ (Zeile 75, 77) fragt Linda, ob dies Tings erste Erinnerung sei (Zeile 78, 79). Offenbar sollte diese Frage auch als Gerüst zur Weiterentwicklung der Erzählung dienen. Aber Ting nimmt dies erneut nicht an. Tings Reaktion verdeutlicht ihr Unverständnis. Auf Lindas Frage signalisiert sie mit der Gesprächspartikel „ja; “ (Zeile 80) im leicht steigenden Tonfall ihre Unsicherheit. Im Anschluss daran kann Lindas Gesprächspartikel „ja“ (Zeile 81) mit einem deutlich steigenden Tonfall als Rückfrage zur Verständnissicherung interpretiert werden. Auffällig ist, dass Ting darauf ihre Lautstärke reduziert und einfach mit „mhm.“ (Zeile 82) reagiert. Sie spricht anschließend von ihrem Wunsch nach einem Hund, was nichts mit Lindas Frage zu tun hat. Bemerkenswert ist auch, dass Linda dabei nur zweimal das Rezipienzsignal „mhm“ (Zeile 85, 89) produziert, ohne ihre konstruktive Dialoghilfe in Form einer Frage näher zu erklären. Das Gerüst wird also wieder einmal vergeblich gebaut. Im vorangehenden Beispiel sehen wir, wie das Scaffolding in einer interaktiven Situation ohne Koordination der beiden Gesprächspartner scheitert. Erstens kommt die konstruktive Dialoghilfe bei der nichtmutterprachlichen Erzählerin nicht gut an. In diesem Fall versteht die chinesische Studierende den von der Tandempartnerin angebotenen Gerüstbau entweder falsch oder kann ihn nicht verstehen. Der Grund dafür liegt sehr wohl in ihrem Sprachniveau. Trotz ihrer Verständnisschwierigkeit bekundet sie aber mit keinem expliziten Signal (wie z. B. deutlich steigender Tonfall, Rückfrage, Verzögerung), dass sie weitere Hilfe braucht, um die Formulierung von Linda zu verstehen. Stattdessen führt sie ihre Erzählung fort, wie sie will. Zweitens produziert Linda keine weitere Hilfe, um ihre Fragen zu erklären und die Erzählerin in eine bestimmte Richtung zu steuern. Obwohl sie merkt, dass Ting ihre Fragen nicht versteht, greift sie nicht ein. Sie lässt die Lernerin einfach auf ihre Art erzählen. Deshalb verläuft das <?page no="310"?> 310 5 Scaffolding Gespräch zwischen ihnen parallel. Der Gerüstbau versagt in beiden Stellen des obigen Ausschnitts. 5.2.3 Kontext für potenzielles Scaffolding Manche muttersprachlichen Erzählungen der chinesischen Lerner enthalten Problemmanifestationen, die mit Hilfestellungen der Muttersprachler bewältigt werden könnten, in der Interaktion aber unkommentiert durchgehen. Dies wird in der vorliegenden Arbeit unter dem Aspekt „Kontext für potentielles Scaffolding“ bezeichnet. Das folgende Beispiel soll illustrieren, wie die Erzählung von Le beendet wird, ohne das Verständnisproblem des deutschen Studierenden gelöst zu haben. Gespräch: Haarausfall ((Tandemgespräch, 11: 20-11: 55 Sek.)) [11: 20] 68 69 Max: habe NIE gehört. hehehe- 70 Le: deshalb haben wir auch äh haben auch IMmer chinesen wAsserfilter gekauft. 71 Max: ah- 72 Le: aber ich noch NICHT. 73 74 75 okay okay. habe NIE gehört. hehe- 76 77 na vielleicht das wasser ist nicht geEIGnet für die asia, kann [das - ] 78 79 80 81 [aber für-] interesSANT; woHER weißt man warum; gibts eine erKLÄrung? 82 83 wir sagen; = =das wasser ist zu STARK. 84 zu STARK? 85 auf chinesisch 太 硬 了 . zu stark PCTL. zu stark. <?page no="311"?> 5.3 Formen der Scaffolding-Verfahren 311 86 87 太 硬 了 . zu stark PCTL. zu stark. okay. [11: 55] 88 ja. In diesem Gespräch erzählt Le ihrem deutschen Tandempartner die Geschichte ihrer chinesischen Freundin. Diese kaufte einen Wasserfilter, weil sie in Deutschland viele Haare verlor. In dem vorstehenden Ausschnitt erklärt sie, warum die Chinesen in Deutschland häufig Haare verlieren. Ihrer Meinung nach liegt der Grund dafür sehr wohl am Wasser. Max äußert seinen Zweifel daran, indem er „habe NIE gehört.“ (Zeile 68) sagt, was durch sein Lachen (Zeile 69) bekräftigt wird. Die Wiederholung der gleichen Äußerung in Zeile 74 und das anschließende Lachen unterstreichen seinen Zweifel. Auf Les Begründung „na vielleicht das wasser ist nicht geEIGnet für die asia,“ (Zeile 76) reagiert er mit dem bewertenden Kommentar „interes SANT ; “ (Zeile 79). Im Anschluss daran fragt er nach dem Grund, warum das Wasser in Deutschland nicht geeignet für die Asiaten sein könnte (Zeile 80, 81). Le argumentiert mit der Äußerung „=das wasser ist zu STARK .“ (Zeile 83). Der deutlich steigende Tonfall von Max (Zeile 84) signalisiert, dass er die Formulierung „zu stark“, die Le wörtlich aus dem Chinesischen ins Deutsche übersetzt, nicht versteht. Le sagt es dann auf Chinesisch (Zeile 85). Max wiederholt einfach die chinesische Formulierung (Zeile 86). In Zeile 88 ist die Geschichte beendet. Was Le mit „=das wasser ist zu STARK.“ (Zeile 83) meint, versteht Max aber immer noch nicht. Le will eigentlich sagen, dass das Wasser in Deutschland sehr kalkhaltig ist. Bemerkenswert ist aber, dass Max trotz seines Verständnisproblems keine Maßnahmen ergreift, um weitere Erklärungen von Le zu elizitieren. Die Konsequenz seiner fehlenden konstruktiven Dialoghilfe ist, dass der Inhalt dieser Erzählung ohne das Verständnis und die Würdigung des Zuhörers beendet wird. 5.3 Formen der Scaffolding-Verfahren Anhand der Daten meiner Arbeit versuche ich in diesem Kapitel eine Typologie der Scaffolding-Verfahren zu entwickeln. Im Folgenden wird an Ausschnitten aus den konversationellen Erzählungen in meinem Korpus die Interaktion zwischen den chinesischen und deutschen Studierenden diskutiert. Dabei werden unterschiedliche Formen der von den Deutschen als muttersprachlichen Zuhörern realisierten Scaffolding-Verfahren, die als narrative Unterstützung zu charakterisieren sind, deutlich. <?page no="312"?> 312 5 Scaffolding 5.3.1 Fragen Sowohl in Schramms (2006) Studie über Scaffolding in Unterrichtsinteraktionen als auch in Apfelbaums (1993) Tandemforschung ist deutlich geworden, dass Fragen häufig als thematische weiterführende Unterstützung oder als Nachfragen zu Details eingesetzt werden. In der vorliegenden Arbeit versuche ich, anhand meiner Daten die Fragen als Scaffoling-Verfahren systematisch darzustellen. Die Analyse der Fragen in meiner Untersuchung erfolgt nach Strukturtypen getrennt für Entscheidungsfragen, Ergänzungfragen und Alternativfragen, wobei jeweils für unterschiedliche Strukturtypen Trankripte aus meinen Tandemdaten angeführt werden. 5.3.1.1 Entscheidungsfragen Unter Entscheidungsfragen sind die Fragen zu verstehen, die keine Fragewörter benötigen und die man nur mit ja oder nur mit nein beantworten kann. In Anlehnung an Rost-Roths (2006: 161) Studie über Formen und Funktionen der Nachfragen gehe ich davon aus, dass die Verbstellung ein wesentlicher Merkmal zur Beschreibung der Strukturen der Entscheidungsfragen sei. Grammatisch werden Entscheidungsfragen durch ein Verb an der ersten oder an der zweiten Stelle konstruiert. Steht das Verb an der zweiten Stelle, wird die Entscheidungsfrage durch einen in der Regel fallend-steigenden Tonfall erkannt. 1. Entscheidungsfragen mit Verb-Erst-Stellung Im Deutschen sind Entscheidungsfragen mit Erst-Stellung des finiten Verbs häufig als Standardfall anzusehen. Im folgenden Beispiel liegt Verb-Erst-Stellung in einer thematisch initiierenden Frage vor. Gespräch: Ich war betrunken wegen Glühwein. ((Tandemgespräch, 00: 10-00: 31 Sek.)) [00: 10] 01 Max: warst warst du schon mal beTRUNken, [00: 31] 02 03 04 Le: ja in in OSnabrück vor zwei jahren; = = ich habe einmal ähm ungefähr eine HÄLFte voneine HÄLFte: mit glas (.) glühwein getrunken; <?page no="313"?> 5.3 Formen der Scaffolding-Verfahren 313 Ein anderer Ausschnitt zeigt, dass dieser Strukturtyp nicht nur bei thematisch initiierenden Fragen, sondern auch bei thematisch weiterführenden Fragen zu beobachten ist. Gespräch: Eine Frau wurde verletzt. ((Tandemgespräch, 00: 40-00: 49 Sek.)) [00: 40] 20 21 22 23 Ting: ja FURCHTbar; echt FURCHTbar; 真 的 很 多 血 啊 我 跟 你 说 .= echt sehr viel Blut PTCL ich zu dir sagen.= echt sehr viel Blut, ich sage dir.= = 地 上 全 是 血 ; auf dem boden überall ist Blut; auf dem Boden ist überall Blut; [00: 49] 24 25 Linda: oh FURCHTbar; war dann schon KRANkenwagen da oder? 2. Entscheidungsfragen mit Verb-Zweit-Stellung Entscheidungsfragen mit Verb-Zweit-Stellung werden in der Regel durch einen fallend-steigenden Tonfall markiert. Funktionell werden sie nach Rost-Roth (2006: 163) häufig als „Bestätigungsfragen“ oder „Vergewisserungsfragen“ bezeichnet, wie im folgenden Beispiel: Gespräch: Viele fünfzigjährige „Leute“ fragten meine Freundin nach ihrer Telefonnummer. ((Tandemgespräch, 43: 30-44: 41 Sek.)) [43: 30] 01 02 03 04 05 Li: ein FREUNdin von mir, hat hat mir geSAGT ähmwenn sie: : wenn sie auf jemand an der HALtestelle,= = an der an der HALtestelle gewartet hätt; ähm viele leute viele mi mitten_al mittealten LEUte? 06 Lukas: mhm. 07 Li: viele leute fünfzig ähm viele fünfzig jahre alt LEUte? <?page no="314"?> 314 5 Scaffolding 08 09 Lukas: mhm. viele fünfzigJÄHrige leute, 10 11 Li: JÄHrige leute hätt sie ähm gefra_gefragt. ähm was ist deine ähm TElefonnummer, 12 Lukas: mhm. 13 14 Li: und sie wirden NICHT ähm das antwortet. und [sie-] 15 Lukas: [wie ] ALT ist deine freundin. 16 17 18 Li: ähm sechsundZWANzig.= = aber sie siehst SEHR.= = ähm sie siehst SCHÖN aus. 19 Lukas: mhm. 20 21 22 23 Li: mhm. und sie: hat immer geSAGT. ich bin ANti <<engl. Aussprache> technology.> ich habe KEIN [nummer.] 24 25 Lukas: [aha. ] in DEUTSCHland fragen viele leute nach ihrer nummer. 26 Li: hehehe [44: 41] 27 Lukas: 好 奇怪 . sehr seltsam. sehr seltsam. Das vorangehende Beispiel zeigt, dass Lukas’ Nachfrage mit Verb-Zweit-Stellung auf die Bezugsäußerung der chinesischen Erzählerin beruht. Dies ist aber keine Wiederaufnahme der Bezugsäußerung, sondern eine freie Formulierung des muttersprachlichen Zuhörers. Es tauchen aber in meinen Daten zahlreiche Sequenzen auf, in denen die Entscheidungsfragen durch die Wiederaufnahme der Bezugsäußerung mit einem spezifischen Tonfall realisiert werden. Diese werden unter der Kategorie der Entscheidungsfragen in Form von Subjekt-Verb- Ellipsen behandelt. <?page no="315"?> 5.3 Formen der Scaffolding-Verfahren 315 3. Entscheidungsfragen in Form von Subjekt-Ellipsen Es gibt elliptische Formulierungen der Entscheidungsfragen, die keine Subjekt- Vorkommen aufweisen. Dieser Strukturtyp ist in meinen Daten bei inhaltserweiternden Fragen zu beobachten. Gespräch: Ein Mitarbeiter hat Geld gestohlen und wurde gekündigt. ((Tandemgespräch, 17: 00-17: 13 Sek.)) [17: 00] 24 Max: aus der KASse einfach genommen, 25 26 27 28 29 Le: nein. er er ist ein FAHrer, und er fährt mit beSTELlung ja, er hat zwei bestellungen geLIEfert.= =aber KEIN geld zurück. [17: 13] 30 Max: okay. Bei subjektlosen Formulierungen ist der Kontext in der Regel klar, auf wen referenziert wird. 4. Entscheidungsfragen in Form von Subjekt-Verb-Ellipsen Bei Erscheinungsformen ohne Verb kann die Verbstellung, die in grammatischen Darstellungen häufig als ein wichtiges Merkmal der Entscheidungsfragen gilt, nicht dienen. Diese erscheint dann über die Intonation markiert. In meinen Daten tauchen Satzstrukturen auf, die weder Verb noch Subjekt erhalten. Im folgenden Beispiel liegt eine solche Formulierung in thematisch weiterführenden Fragen vor. Gespräch: Junge Leute sind unhöflich. ((Tandemgespräch, 01: 19: 15-01: 19: 51 Sek.)) [01: 19: 15] 100 101 102 Li: heute hat er geSAGT? seine NICHte ist äh ist sechsäh seine NICHte sechs jahre alt ist. 103 104 105 Lukas: ah. heute hat er geSAGT; DASS- 106 Li: DASS [äh seine- ] 107 Lukas: [seine nichte.] 108 Li: seine nichte? <?page no="316"?> 316 5 Scaffolding 109 Lukas: sechs [jahre alt ist. ] 110 111 112 Li: [sechs jahre alt ist.] und sie hat IMmer gesagt, du ÄLter du bekann_äh du behindert. 113 Lukas: du beHINderter? 114 Li: mhm. 115 Lukas: waRUM. [01: 19: 51] 116 117 118 Li: hm: je_jetzt viele junge leute nicht; = =jetzt viele junge leute- Es geht hier um eine Wiederaufnahme der Bezugsäußerung der chinesischen Erzählerin. Mit einem steigenden Tonfall realisiert Lukas eine Entscheidungsfrage, die sein Erstaunen zeigt und zur Verständnissicherung dient. Interessanterweise finden sich in meinem Korpus Gesprächssequenzen, in denen die Entscheidungsfragen in Form von Subjekt-Verb-Ellipsen mehrfach gestaltet werden. So geht es im folgenden Beispiel um eine dreifach gestaltete Erscheinungsform, die ebenfalls durch den steigenden Tonfall ausgedrückt wird. Gespräch: Film „Eurotrip“ ((Tandemgespräch, 20: 58-21: 40 Sek.)) [20: 58] 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 Le: und sie haben nur ZWEI(.) zwei komma blablablabla; ähm: was ist (.) DOLlar? aber - ((lacht)) DOLlar. sie sind ameriKAner; sie glauben ach wir können nicht mehr LEben, aber dann sind sie in einem FÜNF sterne hotel geblieben? haben VIEL gekauft VIEL VIEL gekauft. 33 Max: mit ZWEI dollar? 34 Le: ja, 35 Max: ZWEI dollar? 36 Le: ja. 37 Max: viel KAUfen? <?page no="317"?> 5.3 Formen der Scaffolding-Verfahren 317 38 39 Le: aber vielleicht ist der film schon vor(.) ZEHN jahren, (1.3) 40 41 42 Max: Le: Max: okay und dann was ist pasSIERT, nur nur nur um zu um zu SCHREIben nur - [was heiß - ] 43 44 Le: [zu beSCHREIben; ] in in osteuropa [ist alles -] [21: 40] 45 Max: [ist BILlig.] Eine genaue Betrachtung der Frageformulierung im vorangehenden Beispiel zeigt, dass sie hier sowohl dem Ausdruck des Erstaunens, als auch der Vergewisserung des muttersprachlichen Zuhörers dient. Die dreifache Gestaltung der Erscheinungsform verstärkt ihre Funktion und trägt zur Fortführung der Erzählung bei. 5.3.1.2 Ergänzungsfragen Mit Ergänzungsfragen sind Fragen gemeint, mit denen nach einer unbekannten Sachverhaltskomponente gefragt wird. Es kann z. B. um Ort, Person, Zeit, Zustand, Art und Weise oder Zweck gehen. Diese Fragetypen werden auch als W-Fragen bezeichnet. Ergänzungsfragen unterscheiden sich grundsätzlich von Entscheidungsfragen. Eine Antwort mit „ja“ oder „nein“ passt bei einer Ergängzungsfrage nicht. Nach Rost-Roth (2006: 168) werden Konstruktionen mit Fragewort in Satzanfangsstellung in der Literatur als Normalfall angesehen. In indirekter Rede taucht das Verb an der Endstellung des Satzes auf, während das Fragewort nicht verändert wird. 1. Ergänzungsfragen mit Fragewort in Satzanfangsstellung Eine Vielzahl von Ergänzungsfragen wird mit Fragewort in Satzanfangsstellung produziert. Dies dient in meinen Daten sowohl zur thematischen Initiierung als <?page no="318"?> 318 5 Scaffolding auch zur Elizitierung bestimmter Strukturteile der Geschichte. Folgend zuerst ein Beispiel für eine thematisch initiierende Ergänzungsfrage: Gespräch: Ein Mitarbeiter hat Geld gestohlen und wurde gekündigt. ((Tandemgespräch, 16: 01-16: 10 Sek.)) [16: 01] [16: 10] 01 02 03 Max: was was du so erLEBT hast hier in deutschland; irgendeine geSCHIchte, die du so LUSTIG fandest oder SPANnend oder (.) oder SEltsam oder, Ein anderes Beispiel illustriert, wie eine solche Ergänzungsfrage zur Elizitierung des narrativen Strukturteils führt. Gespräch: Ich war betrunken wegen Glühwein. ((Tandemgespräch, 00: 37-00: 47 Sek.)) [00: 37] 10 11 Max: oh ((lacht)) und was hast du geMACHT, [00: 47] 12 13 Le: <<f> geTANZT geSUNgen und zu allen geSAGT.=> = ich würde euch EINladen zu essen? 2. Ergänzungsfragen mit Fragewort in nicht-initialer Stellung Zuweilen sind in meinem Korpus, ausschließlich in den Tandemgesprächen zwichen Le und Max, Ergänzungsfragen mit Fragewort in nicht-initialer Stellung zu beobachten. Folgend ein Beispiel dazu: Gespräch: Ein Mitarbeiter hat Geld gestohlen und wurde gekündigt. ((Tandemgespräch, 16: 11-16: 28 Sek.)) [16: 11] 04 05 06 07 08 Le: ((lacht)) ich GLAUbe; in deutschland gibt es auch einige KOmische leute; wie zum BEIpiel= =ich bei meinem arbeitsORT. 09 Max: der ist WO? [16: 28] 10 11 Le: in in STUsie ja schwarzwaldstusie isähm vor einigen TAgen hat- <?page no="319"?> 5.3 Formen der Scaffolding-Verfahren 319 Auf der Seite der chinesischen Lernerin ist diese Struktur einer Ergänzungsfrage eine neue Erscheinungsform, die anders als die im Deutschunterricht gelernte Standardkonstruktion ist. Dieser Typ kommt in der Regel eher in der gesprochenen Sprache vor. Bemerkenswert ist, dass die chinesische Lernerin diese Frage problemlos beantwortet. Rost-Roths äußert sich bezüglich dieses Strukturtyps der Ergänzungsfrage, dass „das Fragewort in der Frageformulierung ‚weiter rechts‘ erscheint, wodurch sich direkte Anschlussmöglichkeiten für die Antwortformulierung ergeben“ (2006: 171). In Zusammenhang mit dem vorangehenden Beleg kann man wohl daraus den Schluss ziehen, dass der Lerner in der Interaktion mit dem Muttersprachler die gesprochene Sprache wahrnehmen kann. Ob die wahrgenommene gesprochene Sprache erworben würde, kann ich anhand meinen Daten aber nicht nachweisen. Das wäre ein interessanter Aspekt in der Zweitspracherwerbsforschung, insbesondere in der Forschung über den Erwerb der gesprochenen Sprache. Dafür ist eine Langzeitstudie mit einer ausreichenden Datensammlung nötig. 3. Ergänzungsfragen in Form eines einfachen Fragewortes Zahlreiche Ergänzungsfragen in Form eines einfachen Fragewortes befinden sich in meinem Korpus. Auffallend ist, dass diese Satzstruktur in meinen Tandemdaten häufig in Kombination mit anderen Frageformulierungen erscheint. Im nächsten Beispiel folgen z. B. diesem Strukturtyp ein Normalfall der Ergänzungsfrage und eine Alternativfrage. Gespräch: Der Zug ist ausgefallen. ((Tandemgespräch, 25: 21-25: 52 Sek.)) [25: 21] 01 02 03 Ting: wir wir war (.) äh in MEtzingen? fünf uhr zuRÜCKgekommen, und habe ich ZWÖLF uhr ZWÖLFund(.)halb angekommen. 04 05 06 Linda: waRUM, was war LOS? [STAU ]oder, 07 08 Ting: [weil-] ja nee; 09 Linda: auf dem ZUG, <?page no="320"?> 320 5 Scaffolding [25: 52] 10 11 12 13 14 15 Ting: oh nee nee; auf dem ZUG ja. weil ein einmal ist DURCHgefallen; und sie haben mir NICHT gesagt; wir WARten und WARten, aber es gibt diesen zug NICHT, Hier kann man die nachfolgenden Fragen „was war LOS? “ (Zeile 05) und „[STAU] oder,“ (Zeile 06) als eine Erleichterung der Verständnisschwierigkeit für die kurze Frage „Warum,“ (Zeile 04) interpretieren. Die muttersprachliche Tandempartnerin konkretisiert dadurch ihre Frage nach der Ursache. Sie liefert sogar die Alternative „Stau“ (Zeile 06), was die Ursache in der erzählten Geschichte sein könnte und die chinesische Erzählerin wohl auf Deutsch nicht ausdrücken kann. 5.3.1.3 Alternativfragen Als Alternativfragen werden Frageformulierungen bezeichnet, in denen zwei Antwortmöglichkeiten angeboten werden. Der Gesprächspartner kann nur mit einer der angebotenen Möglichkeiten zu antworten. Obwohl in einer Alternativfrage sinngemäß zwei Entscheidungsfragen durch die Konjunktion „oder“ kombiniert werden, können Alternativfragen nicht mit „ja“ oder „nein“ beantwortet werden. Das heißt, Alternativfragen beruhen auf dem Entweder-Oder- Prinzip. Funktionell können sie zur schnellen Antwortfindung führen. 1. Alternativfragen mit vollständiger Realisierung der Alternativen Alternativfragen, in denen zwei konkrete Antwortmöglichkeiten angeboten werden, sind in meinen Tandemdaten häufig zu beobachten. Folgend z. B. der Fall einer Alternativfrage mit zwei vollständig dargestellten Wahlmöglichkeiten: Gespräch: Viele fünfzigjährige „Leute“ fragten meine Freundin nach ihrer Telefonnummer. ((Tandemgespräch, 44: 41-44: 46 Sek.)) [44: 41] 29 30 Lukas: an der busHALtestelle. an DIEser bushaltestelle oder an einer anderen, [44: 46] 31 32 Li: nein. in in der STADTmitte. Die Alternativfrage des muttersprachlichen Gesprächspartners in Zeile 30 zielt auf eine Präzisierung der Ortsdarstellung ab. Auf Lukas’ Alternativfrage (Zeile <?page no="321"?> 5.3 Formen der Scaffolding-Verfahren 321 30) antwortet die chinesische Erzählerin jedoch mit einem „nein“ (Zeile 31), was hier nicht passt. Der Grund dafür liegt sehr wohl darin, dass Li die Alternativfrage als Entscheidungsfrage behandelt. Ihr anschließender Beitrag „in in der STADT mitte“ (Zeile 32) zeigt aber, dass sie die Alternativfrage (Zeile 30) inhaltlich versteht. Ein anderes Beispiel illustriert, wie der Sprecher die in der Alternativfrage angebotene Antwortmöglichkeit anschließend konkretisiert. Gespräch: Haarausfall ((Tandemgespräch, 10: 34-11: 05 Sek.)) [10: 34] 47 48 Le: ich wohnte in CHINA früh früher; und habe NICHT so viel- 49 50 Max: in CHINA vielleicht. ECHT, 51 52 Le: NICHT so viel haare verloren. aber in deutschland habe ich VIEle- 53 Max: ECHT, 54 55 Le: deshalb habe ich immer mediKAment zugenomm nommen. ähm äh ANtihaarverlust [shampoo-] 56 57 Max: [nur bei ] CHInesen oder für alle, auch für DEUtsche? [11: 05] 58 59 60 Le: alle DEUtsche sagen; nein das bestimmt NICHT. <<f> WEIL WEIL ihr hab> ihr habt nicht den anderen land gelebt; Max benutzt für die zweite Alternative in seiner Frage zuerst den allgemeinen Begriff „alle“ (Zeile 56), den er jedoch darauf durch „Deutsche“ (Zeile 57) konkretisiert. Interessant ist, dass Le hier jedoch die Alternativfrage (Zeile 56) nicht direkt mit einer der angebotenen Antwortmöglichkeiten beantwortet, sondern mit einer direkten Redewiedergabe (Zeile 58, 59). Sinngemäß ist Les Meinung aber in diesem Fall schon klar, dass das Problem (Haarausfall) nur für Chinesen gelte. <?page no="322"?> 322 5 Scaffolding 2. Alternativfragen mit einschränkender Realisierung der Alternativen Es gibt in meinen Daten auch Alternativfragen, bei denen eine der Alternativen nicht realisiert wird. Hier ist ein Beispiel dazu, in dem die zweite Wahlmöglichkeit offen gelassen wird. Gespräch: Der Zug ist ausgefallen. ((Tandemgespräch, 25: 21-25: 40 Sek.)) [25: 21] 01 02 03 Ting: wir wir war (.) äh in MEtzingen? fünf uhr zuRÜCKgekommen, und habe ich ZWÖLF uhr ZWÖLFund(.)halb angekommen. 04 05 06 Linda: waRUM, was war LOS? [STAU ]oder, 07 08 Ting: [weil-] ja nee; 09 Linda: auf dem ZUG, [25: 40] 10 11 Ting: oh nee nee; auf dem ZUG ja. Linda produziert ihre Alternativfrage (Zeile 06) in Zusammenhang mit zwei anderen Fragen (Zeile 04, 05). Hier ist die Antwort der chinesischen Lernerin auf die Fragen ihrer Gesprächspartnerin auffällig. Die Überlappung zwischen Zeile 06 und 07 signalisiert, dass Tings Antwort „[weil-]“ (Zeile 07) auf die Ergänzungsfrage „ WA rum“ (Zeile 04) abzielt. Die anschließende Antwort „ja nee“ (Zeile 08) ist grammtisch weder für Lindas zweite Frage „was war LOS ? “ (Zeile 05) noch für die dritte Frage „[STAU]oder,“ (Zeile 06) angemessen. Ein möglicher Grund für Tings Antwort mit „ja nee“ (Zeile 08) könnte darin liegen, dass sie auch die Alternativfrage als Entscheidungsfrage behandelt, wie Lis Antwort „nein“ auf die Lukas’ Alternativfrage „an DIE ser bushaltestelle oder an einer anderen,“ im oben zitierten Beispiel. <?page no="323"?> 5.3 Formen der Scaffolding-Verfahren 323 5.3.2 Imperativ Bei Initiierungen der nichtmuttersprachlichen Erzählungen sind in meinem Korpus zuweilen Imperativsätze zu beobachten. Das erste Beispiel zeigt, wie eine Fremdinitiierung der Erzählung durch den Imperativsatz realisiert wird. Gespräch: Ich wurde mal von unserem Hund gebissen. ((Tandemgespräch, 32: 54-32: 59 Sek.)) [32: 54] 01 Linda: dann erzähl doch mal n WITZ aus deinem leben, 02 Ting: ja[: : ? ] [32: 59] 03 Linda: [hehehe] Während es im vorangehenden Beispiel um den Imperativsatz bei Fremdinitiierungen geht, illustriert das folgende Beispiel, wie der Imperativsatz des muttersprachlichen Zuhörers bei Selbstinitiierungen der Erzählung funktioniert. Gespräch: Film „Eurotrip“ ((Tandemgespräch, 20: 14-20: 23 Sek.)) [20: 14] 01 02 Le: ah ah was was ich erZÄHlen möchte, [ich habe einen FILM] geschaut. 03 Max: [ach erZÄHL; ] [20: 23] 04 05 Le: das ist ähm - auf CHInesisch 欧洲 小 欧洲 性旅行 . europa klein europa sexreise europäische (klein: sie verspricht sich) sexreise Hier initiiert die chinesische Lernerin die Erzählung, indem sie „ah ah was was ich erzählen möchte, [ich habe einen FILM geschaut.]“ (Zeile 01, 02) formuliert. Dabei produziert der muttersprachliche Tandempartner „[ach er ZÄHL ; ]“ (Zeile 03), was die thematische Weiterführung fördert. 5.3.3 Explikation Explikation bezeichnet allgemein die Erklärung der unverständlichen oder diskrepanten Äußerungen. Bei Explikation wird eine weitere Relevanz miteinbezogen, um die entsprechenden Stellen so gut wie möglich darzustellen. In der vorliegenden Arbeit zählt Explikation zu den Zuhöreraktivitäten des muttersprachlichen Tandempartners. Die folgende Sequenz aus meinen Daten ver- <?page no="324"?> 324 5 Scaffolding deutlicht z. B., wie der deutsche Studierende seine Äußerung expliziert, um sie für die chinesische Lernerin verständlich zu machen. Gespräch: nachtblind ((Tandemgespräch, 56: 04-56: 45 Sek.)) [56: 04] 01 Lukas: vor was hast du am meisten ANGST? 02 Li: äh: : : DUNkel; 03 Lukas: DUNkel? 04 Li: ich bin dunkelBLAND. 05 06 Lukas: oh: nachtBLIND. 07 Li: ah nachtbland. 08 Lukas: nachtBLIND. 09 10 Li: nachtBLIND. <<p> dunkel: > 11 12 13 14 15 16 17 Lukas: und was heißt das geNAU, wenn es DUNkel wird; dann siehst du GAR nichts, (2.0) dann ist es naTÜRlich; dass man ANGST hat. wenn man GAR nichts mehr sieht. [56: 45] 18 19 20 Li: ja. hm al als ich vielleicht DREI zwei oder drei jahr jahre alt war? dann (.) kann ich selbst LAUfen. Hier ist eine zweifache Explikation zu beobachten. Nachdem Lukas die Frage „und was heißt das geNAU,“ (Zeile 11) stellt, konkretisiert er direkt im Anschluss daran seine Frage, indem er „wenn es DUN kel wird; dann siehst du GAR nichts,“ (Zeile 12, 13) äußert. Der steigende Tonfall in Zeile 13 signalisiert, dass Lukas eine Bestätigung von Li erwartet. Diese Erläuterung mit der markierten Intonation sollte es der chinesischen Lernerin erleichtern, die Frage zu beantworten. Li reagiert darauf aber nicht. Nach einer Pause (Zeile 14) setzt Lukas erneut eine Explikation, indem er „dann ist es na TÜR lich; dass man ANGST hat. wenn man GAR nichts mehr sieht.“ (Zeile 15 bis 17) formuliert. Das Gesprächsthema zur Angst wird dabei miteinbezogen. Erst jetzt liefert Li eine Anwort (Zeile 18). Danach schließt sie eine Geschichte zum Thema „Angst und Nachtblindheit“ an. Die zweite Explikation ist also zum Ziel gelangt. <?page no="325"?> 5.3 Formen der Scaffolding-Verfahren 325 5.3.4 Affektive Mittel Affektive Mittel sind Mittel, die dazu dienen, den Text emotional zu qualifizieren. Sie werden durch eine Vielzahl von besonderen sprachlichen Formen bzw. Stilmitteln geprägt. Boueke et al. (1995) kategorisieren affektive Markierungen in zwei Typen; die eine wird auf der sprachlichen, die andere auf der inhaltlichen Ebene erzeugt. Auf der sprachlichen Ebene geht es um Intensifikatoren (sehr, mehr, viel, ganz), evaluierende Adjektive (glücklich, schön), expressive Verben (heulen, lachen, staunen), Temporaladverbien, lautmalerische Äußerungen (Onomatopoeia: Baff, Batsch). Mit inhaltlicher Ebene meint er die Darstellung innerer Zustände, Beschreibung von Gedanken, Wünschen, Empfindungen und Sinneswahrnehmungen, direkte oder indirekte Rede. Aufgrund der Kategorisierung von Boueke et al. (1995) modifiziert Becker (2011) die Definition der affektiven Mittel. Zu diesen „im eigentlichen Sinne“ zählt Becker (2011: 94) folgende Elemente: • expressive Verben • positiv oder negativ konnotierte Adjektive und Nominalgruppen • Darstellung innerer Wahrnehmung oder Vorgänge • Onomatopoeia. Becker (2011) schließt dabei Temporaladverbien und Redewiedergaben aus den affektiven Mitteln aus. Bemerkenswert ist aber, dass es bei affektiven Mitteln sowohl nach Becker (2011) als auch nach Boueke et al. (1995) um sprachliche Mittel geht. Die Befunde in meinem Korpus zeigen jedoch nonverbale affektive Markierungen. 5.3.4.1 Affektive Mittel in sprachlicher Form Sprachliche affektive Mittel sind in meinen Daten zwar häufig zu beobachten, aber nicht vielfältig. Sie kommen meistens in Form von Interjektion oder konnotierter Adjektive vor. Im folgenden Beispiel realisiert der muttersprachliche Zuhörer seine Reaktion durch eine Interjektion. Gespräch: Ich wurde mal von unserem Hund gebissen. ((Tandemgespräch, 35: 31-35: 43 Sek.)) [35: 31] 73 74 75 Linda: okay? oh JE, [hm ]als du noch so KLEIN- 76 Ting: [weil-] <?page no="326"?> 326 5 Scaffolding 77 78 79 Linda: hat es dir bestimmt WEH getan. ist das das ERste, an das du dich erINnern kannst? [35: 43] 80 Ting: ja; Während hier Lindas Beitrag (Zeile 74) durch Interjektion affektiv markiert wird, produziert sie im nächsten Beispiel ihre Emotion mittels der Kombination aus Interjektion und expressivem Adjektiv. Gespräch: Eine Frau wurde verletzt. ((Tandemgespräch, 00: 26-00: 49 Sek.)) [00: 26] 15 Ting: und äh die frau hat ihre (.) BEIN verletzt ganz schwer verletzt. 16 Linda: weil sie geSTÜRZT auf der roll [treppe? ] 17 18 Ting: [ja ja ] geNAU. und ähm habe ich VIEL VIEL blut- 19 Linda: ach wie FURCHTbar; 20 21 22 23 Ting: ja FURCHTbar; echt FURCHTbar; 真 的 很 多 血 啊 我 跟 你 说 .= echt sehr viel Blut PTCL ich zu dir sagen.= echt sehr viel Blut, ich sage dir.= = 地 上 全 是 血 ; auf dem boden überall ist Blut; auf dem Boden ist überall Blut; [00: 49] 24 25 Linda: oh FURCHTbar; war dann schon KRANkenwagen da oder? Durch die affektiven Mittel beteiligt sich einerseits die muttersprachliche Tandempartnerin an dem evaluativen Strukturteil der Erzählung. Andererseits leisten diese einen Beitrag zur Fortführung der Geschichte (siehe 5.2.1.2). <?page no="327"?> 5.3 Formen der Scaffolding-Verfahren 327 5.3.4.2 Affektive Mittel durch nonverbales Verhalten Ein nicht unerheblicher Teil von affektiven Mitteln in meinen Daten wird durch nonverbales Verhalten, vor allem Lachen (Gelächter, Lächeln), ausgedrückt. Dazu ein Beispiel: Gespräch: Ich war betrunken wegen Glühwein. ((Tandemgespräch, 00: 10-00: 54 Sek.)) [00: 10] 01 Max: warst warst du schon mal beTRUNken, 02 03 04 Le: ja in in OSnabrück vor zwei jahren; = = ich habe einmal ähm ungefähr eine HÄLFte voneine HÄLFte: mit glas (.) glühwein getrunken; 05 Max: ein HALbes glas. 06 Le: ja und dann bin ich getrun beTRUNken; 07 08 Max: SCHON, ein HALbes glas, 09 Le: ja. 10 11 Max: oh ((lacht)) und was hast du geMACHT, 12 13 Le: <<f> geTANZT geSUNgen und zu allen geSAGT.=> = ich würde euch EINladen zu essen? 14 Max: hehe[hehe-] 15 16 Le: [hehe-] und dann habe- 17 Max: nächstes mal gebe ich dir AUCH ein halb. 18 19 Le: oh NEIN, [bitte NICHT.] [00: 54] 20 Max: [hehehe ] Max evaluiert hier durch sein Lachen (Zeilen 10, 14). 5.3.5 Übernahme Unter Übernahme ist das Verfahren zu verstehen, mit dem der muttersprachliche Gesprächspartner an Stelle des nichtmuttersprachlichen Erzählers einen Teil der Erzählung übernimmt, entweder um sprachliche Probleme in der Erzählung zu bewältigen oder die Rekonstruktion der vergangenen Geschichte zu <?page no="328"?> 328 5 Scaffolding fördern. Das erste Beispiel verdeutlicht, wie der deutsche Studierende einen Teil des Dramatisierens der Erzählstruktur übernimmt. Gespräch: Im Kino hat ein Mann mit mir gesprochen. ((Tandemgespräch, 41: 24-41: 43 Sek.)) [41: 24] 12 13 Li: hat mir geFRAGT.= = wie ALT bist du, 14 15 16 17 hm ich sa hm ich SAG.= = ähm wie ALT wie ähm: = = wie alt wie ähmähm: : 18 Lukas: wie alt SEhe ich aus (.) oder? [41: 43] 19 20 21 22 23 Li: ach ja.= = wie alt seh SEhe ich aus? er sagt viellei,= = ich ich bin nicht SIcher; du bist Asian. Li hat in diesem Ausschnitt unverkennbar sprachliche Schwierigkeiten. In Zeile 15 und 16 versucht sie, die direkte Redewiedergabe des vergangenen Ereignisses zu rekonstruieren. Ihr Zögern wird durch das mehmalige „ähm“ (Zeile 15, 16, 17) beleuchtet. In diesem Fall übernimmt Lukas die Wiedergabe der direkten Rede, indem er „wie alt SE he ich aus (.) oder? “ (Zeile 18) liefert. Der deutlich steigende Tonfall signalisiert Lukas’ Unsicherheit. Er wartet auf eine Bestätigung von der chinesischen Erzählerin. Die von Lukas rekonstruierte Redewiedergabe wird schließlich von Li mit „ach ja.=“ (Zeile 19) ratifiziert. Die Erzählung wird fortgesetzt. Während sich die Übernahme in diesem Beispiel auf die Aufnahme der Bezugsäußerung der chinesischen Erzählerin („wie alt“ in Zeile 16) bezieht, produziert der muttersprachliche Zuhörer im nächsten Beispiel einen Strukturteil ohne Bezugsäußerung der Lernerin. Gespräch: Ein türkischer student ist auf etwas Stinkendes getreten. ((Tandemgespräch, 01: 30: 54-01: 31: 26 Sek.)) [01: 30: 54] 10 11 12 Li: schülern hm. und danach un danach ähm (.) ist er zu hause GEhen. [nach nach- ] <?page no="329"?> 5.3 Formen der Scaffolding-Verfahren 329 13 Lukas: [daNACH ging er nach hause.] 14 Li: ja danach gehe danach GING er nach hause. 15 (1.4) 16 Lukas: <<rall> wie LANge > (.) war der unterricht noch; 17 Li: äh dreizig miNUten. 18 (2.5) 19 20 Lukas: dann sagte er oh mein schuh STINKT so sehr; äh ich MUSS jetzt gehen; [01: 31: 26] 21 Li: mhm. Hier ist die von Lukas rekonstruierte direkte Redewiedergabe zu beobachten. An Stelle der chinesischen Erzählerin drückt er die Redewiedergabe „dann sagte er oh mein schuh STINKT so sehr; äh ich MUSS jetzt gehen; “ (Zeile 19, 20) aus. Offenbar nimmt er dabei keine Bezugsäußerung der Lernerin auf. Er bringt diese Redewiedergabe nach der von Li erzählten Handlung zum Ausdruck. Seine Übernahme wird von Li mit dem Rezipienzsignal „hm.“ (Zeile 21) ratifiziert. 5.3.6 Wiedergabe Mit Wiedergabe ist gemeint, dass der muttersprachliche Zuhörer einen Teil der Erzählstruktur erneut wiedergibt. Dies kommt in meinen Daten ausschließlich in den Gesprächen zwischen Lukas und Li vor. Der deutsche Studierende setzt die Wiedergabe meistens dann ein, wenn die nichtmuttersprachliche Erzählerin große sprachliche Schwierigkeiten hat, die Geschichte zu rekonstruieren. Im folgenden Beispiel liegt ein solcher Fall vor. Gespräch: Ein türkischer Student ist auf etwas Stinkendes getreten. ((Tandemgespräch, 01: 26: 55-01: 27: 43 Sek.)) [01: 26: 55] 166 Lukas: also zuerst hat der der der türkische ähm äh mit mit mitschüLER? = 167 Li: mhm. 168 169 Lukas: = gesagt. der BOden stinkt. 170 Li: mhm. 171 172 Lukas: ich TAUsche den platz. oder ich gehe [auf einen ANderen platz.] <?page no="330"?> 330 5 Scaffolding 173 174 Li: [der boden stinkt.= ] = oder ähm[: : der mitSCHÜler] ja ja. 175 176 177 Lukas: [der mitSCHÜler. ] aber am ende hat er herAUSgefunden? seine SCHUHen stinken. 178 Li: ja. 179 180 ((handy klingelt)) ((14.0)) 181 182 Lukas: am ende hat er herAUSgefunden. dass ER es ist. 183 Li: dass ER es ja. 184 Lukas: dass er ES [ist. ] 185 Li: [dass ]er- 186 Lukas: es. 187 188 Li: ES ist. dass ER es ist. [01: 27: 43] 189 Lukas: mhm. Nach einer langen Sequenz über Behandlungen der sprachlichen Probleme endet das Gesprächsthema. Die Haupthandlung der erzählten Geschichte wird von Lukas wiedergegeben. Dabei ratifiziert Li die Rekonstruktion des vergangenen Ereignisses durch ihren Tandempartner. Die Wiedergabe des Inhalts dient einerseits der Verständnissicherung seitens des Zuhörers. Andererseits kann sie auch einen Beitrag zur Förderung des Sprachenlernens leisten, weil sie dadurch einen muttersprachlichen Input anbietet. 5.4 Zu Aktivitäten der chinesischen Lerner bei der konstruktiven Dialoghilfe im Tandem Scaffolding ist in Interaktionen eingebettet und soll die Fortführung des Gesprächs vorantreiben. Bei dessen Durchführung spielen die beiderseitigen Interagierenden eine bedeutende Rolle. Ohne entsprechende Kooperation zwischen sprachlich kompetenten Gesprächspartnern und Lernern kommt es nicht zu einem erfolgreichen konstruktiven Dialog. Während der sprachliche Gerüstbau seitens der Lehrpersonen oder Eltern - je nachdem, ob es in Lehr-Lern-Sequenzen oder in Eltern-Kind-Interaktionen - in der Forschung häufig intensiv thematisiert wird (z. B. Apfelbaum 1993, Hausendorf / Quasthoff 1996, Gibbons 2002, Schramm 2006), finden sich bisher wenige Untersuchungen, in denen die Bedeutung des Lernerverhaltens erforscht wird. <?page no="331"?> 5.4 Zu Aktivitäten der chinesischen Lerner bei der konstruktiven Dialoghilfe im Tandem 331 In Senyildizs (2010) Forschung zum Thema Eltern-Kind-Interaktion im Deutschkurs, wo die russischsprachigen Eltern und Kinder zusammen Deutsch lernen, wird das sprachliche Verhalten des Kindes bei dem von den Eltern initiierten Scaffolding thematisiert. Zusammenfassend stellt Senyildiz (2010) in ihrer Untersuchung fest, dass die Aktivitäten der Kinder beim Scaffolding auf den folgenden Ebenen zu beobachten sind: - Hervorrufen benötigter Hilfestellungen durch den Einsatz prosodischer Mittel, Reduplikation, Nachfragen usw. - Auswählen der angebotenen Äußerungsmodelle und Selbstentscheiden, sie zu übernehmen oder zu ignorieren. - Erfragen der fehlenden Wörter, die die Kinder nicht kennen oder auf die sie nicht zugreifen können. - Selbstbestimmen des Rückgriffs auf ihre Erstsprache (Code-Switching, Übersetzungen). - Ignorieren der Hilfestellungen, die die Kinder überfordern bzw. die außerhalb der Zone der nächsten Entwicklung sind. Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass Senyildiz (2010) diese Schlußfolgerungen hauptsächlich anhand ihrer teilnehmenden Beobachtung zieht. Ihre ganze Studie basiert zwar auf einem umfangreichen Korpus, der aus transkribierten Tonaufzeichnungen, teilnehmender Beobachtung und offenen Interviews besteht. Für die Analyse der kindlichen Aktivitäten werden aber vor allem die Ergebnisse der teilnehmenden Beobachtung einbezogen. Das heißt, sie beschreibt das Verhalten des Kindes beim Scaffolding nach ihrer Beobachtung in der Feldforschung, ohne eine systematische Analyse dieses kindlichen sprachlichen Verhaltens mit der gesprächsanalytischen Methode durchzuführen. Die Tonaufzeichnungen in ihren Daten widmet sie hauptsächlich der Untersuchung der sprachlichen Entwicklung des Kindes (wie Lexik, Syntax, Morphologie, Aussprache usw.). Außerdem werden dialogische Hilfestellungen in ihrer Studie vor allem an lokalen Stellen behandelt. Ko-Konstruktionen, die der globalen Struktur des Gesprächs dienen, werden kaum thematisiert. In der vorliegenden Arbeit werden die Aktivitäten des Lerners beim Scaffolding in Bezug auf die Erzählstruktur untersucht. Es soll veranschaulichen, wie die Lerner die narrative Unterstützung seines muttersprachlichen Tandempartners ratifizieren oder (beim versuchten Gerüstbau) missverstehen. <?page no="332"?> 332 5 Scaffolding 5.4.1 Ratifizieren Scaffolding muss interaktiv durchgeführt werden. Durch die Ratifizierungen der Lerner wird die konstruktive Dialoghilfe wirksam abgeschlossen. In vielen Fällen meiner Daten ist zu sehen, dass die chinesischen Probanden bei der Ratifizierung unterschiedliche Mittel einsetzen. Im Beispiel „ich haben einmal ein Erdbeben erlebt“ in Les Daten reagiert sie direkt mit einer Antwort auf die global unterstützende Frage ihres Tandempartners. Nachdem Max die Frage „[was] MACHT ihr dann wenn so was passiert“ (Zeile 46) stellt, liefert Le unmittelbar den Beitrag „alle LIE fen zum sportplatz“ (Zeile 47). Dadurch wird die Erzählung fortgefahren. Die Funktion des sprachlichen Gerüstbaus in Form der Frage, die Details in der Geschichte zu elizitieren, wird erfüllt. Gespräch: Ich habe einmal ein Erdbeben erlebt. ((Tandemgespräch, 05: 43-06: 03 Sek.)) [05: 43] 39 Le: wir waren in der in den geBÄUden; 40 Max: ja okay; 41 Le: und PLÖTZlich schüttelte es. 42 Max: ((unverständlich,ca.2 Sek)) 43 Le: nein nein nur SCHÜTtelte; 44 Max: okay; 45 Le: ich [habe-] 46 Max: [was ] MACHT ihr dann wenn so was passiert, 47 Le: alle LIEfen zum sportplatz, [06: 03] 48 Max: okay; Während Le die konstruktive Frage des Muttersprachlers häufig umgehend ratifiziert, wird die Ratifizierung bei Li oft durch ihre Verzögerung (wie äh, ähm) markiert. Gespräch: Ein türkischer student ist auf etwas Stinkendes getreten. ((Tandemgespräch, 01: 30: 54-01: 31: 20 Sek.)) [01: 30: 54] 10 11 12 Li: schülern hm. und danach un danach ähm (.) ist er zu hause GEhen. [nach nach ] <?page no="333"?> 5.4 Zu Aktivitäten der chinesischen Lerner bei der konstruktiven Dialoghilfe im Tandem 333 13 Lukas: [daNACH ging er nach hause.] 14 Li: ja danach gehe danach GING er nach hause. 15 (1.4) 16 Lukas: <<rall> wie LANge > (.) war der unterricht noch; [01: 31: 20] 17 Li: äh dreizig miNUten. Die Verzögerung kann darauf hinweisen, dass Li aufgrund ihres niedrigen Sprachniveaus nicht fließend sprechen kann. Es kann aber genauso gut sein, dass sie über den Inhalt nachdenkt. Das bleibt offen. In einigen Fällen und insbesondere in Les Daten kommen Ratifizierungen vor, die durch affektive Mittel eingeleitet werden. In der folgenden Sequenz reagiert Le auf die Initiierungsfrage ihres Tandempartners z. B. zuerst mit einem Lachen (Zeile 04). Danach wird die Geschichte eingeführt. Gespräch: Ein Mitarbeiter hat Geld gestohlen und wurde gekündigt. ((Tandemgespräch, 16: 01-16: 19 Sek.)) [16: 01] 01 02 03 Max: was was du so erLEBT hast hier in deutschland; irgendeine geSCHIchte, die du so LUSTIG fandest oder SPANnend oder (.) oder SEltsam oder, [16: 19] 04 05 06 07 08 Le: ((lacht)) ich GLAUbe; in deutschland gibt es auch einige KOmische leute; wie zum BEIpiel= =ich bei meinem arbeitsORT. Ein nicht unerheblicher Teil der Ratifizierungen des chinesischen Lerners wird mit einer Aufnahme der Bezugsäußerung aus dem muttersprachlichen Beitrag realisiert. Im Folgenden wird gezeigt, wie die chinesische Lernerin Ting auf den bewertenden Kommentar ihrer Gesprächspartnerin reagiert. Gespräch: Eine Frau wurde verletzt. ((Tandemgespräch, 00: 26-00: 45 Sek.)) [00: 26] 15 Ting: und äh die frau hat ihre (.) BEIN verletzt ganz schwer verletzt. 16 Linda: weil sie geSTÜRZT auf der roll [treppe? ] <?page no="334"?> 334 5 Scaffolding 17 18 Ting: [ja ja] geNAU. und ähm habe ich VIEL VIEL blut- 19 Linda: ach wie FURCHTbar; [00: 45] 20 21 22 23 Ting: ja FURCHTbar; echt FURCHTbar; 真 的 很 多 血 啊 我 跟 你 说 .= echt sehr viel Blut PTCL ich zu dir sagen.= echt sehr viel Blut, ich sage dir.= = 地 上 全 是 血 ; auf dem boden überall ist Blut; auf dem Boden ist überall Blut; Hier nimmt Ting das expressiv geäußerte Adjektiv „furchtbar“ von Linda auf und bringt damit ihre eigene Evaluation zum Ausdruck. Das Scaffolding wird auf diese Weise interaktiv durchgeführt. Ratifizierungen mit einer Aufnahme der Bezugsäußerung tauchen in meinen Daten meist bei der muttersprachlichen Beteiligung an der Evaluation auf. Bei Wiedergabe der Erzählstruktur durch den muttersprachlichen Zuhörer sind häufig Rezipienzsignale, die als continuer (wie: mhm, hm usw.) wirken, zu beobachten. Gespräch: Ein türkischer Student ist auf etwas Stinkendes getreten. ((Tandemgespräch, 01: 26: 55-01: 27: 04 Sek.)) [01: 26: 55] 166 Lukas: also zuerst hat der der der türkische ähm äh mit mit mitschüLER? = 167 Li: mhm. 168 169 Lukas: = gesagt. der BOden stinkt. [01: 27: 04] 170 Li: mhm. Rezipienzsignale, die expressiv ausgedrückt werden, finden sich oft bei Übernahme der Strukturteile durch den deutschen Tandempartner. Die folgende Sequenz zwischen Ting und Linda illustriert, wie die chinesische Lernerin mit dem <?page no="335"?> 5.4 Zu Aktivitäten der chinesischen Lerner bei der konstruktiven Dialoghilfe im Tandem 335 affektiv geladenen Ausdruck „[ja ja] ge NAU .“ (Zeile 17) den unterstützenden Beitrag von Linda bestätigend ratifiziert. Gespräch: Eine Frau wurde verletzt. ((Tandemgespräch, 00: 26-00: 39 Sek.)) [00: 26] 15 Ting: und äh die frau hat ihre (.) BEIN verletzt ganz schwer verletzt. 16 Linda: weil sie geSTÜRZT auf der roll [treppe? ] [00: 39] 17 18 Ting: [ja ja ] geNAU. und ähm habe ich VIEL VIEL blut- 5.4.2 Schweigen Scaffolding-Verfahren des muttersprachlichen Tandempartners werden nicht jedes Mal vom Lerner ratifiziert. In meinen Daten ist festzustellen, dass die chinesische Probandin Li aufgrund ihres niedrigen sprachlichen Niveaus manchmal nicht auf die konstruktive Unterstützung ihres Gesprächspartners reagiert. Dazu betrachten wir noch einmal den Gesprächsausschnitt zum Thema „nachtblind“. Gespräch: nachtblind ((Tandemgespräch, 56: 13-56: 45 Sek.)) [56: 13] 04 Li: ich bin dunkelBLAND. 05 06 Lukas: oh: nachtBLIND. 07 Li: ah nachtbland. 08 Lukas: nachtBLIND. 09 10 Li: nachtBLIND. <<p> dunkel: > 11 12 13 14 15 16 17 Lukas: und was heißt das geNAU, wenn es DUNkel wird; dann siehst du GAR nichts, (2.0) dann ist es naTÜRlich; dass man ANGST hat. wenn man GAR nichts mehr sieht. <?page no="336"?> 336 5 Scaffolding [56: 45] 18 19 20 Li: ja. hm al als ich vielleicht DREI zwei oder drei jahr jahre alt war? dann (.) kann ich selbst LAUfen. Von Zeile 11 bis 13 setzt Lukas ein Scaffolding-Verfahren ein, um Details zu elizitieren. Der steigende Tonfall seines Beitrages in Zeile 13 signalisiert, dass das eine Frage an Li ist. Während Lukas eine Ratifizierung von Li erwartet, reagiert die chinesische Lernerin nicht. Die Pause (Zeile 14) verdeutlicht ihr Schweigen. Erst durch den Einsatz eines weiteren unterstützenden Mittels von Lukas, nämlich der Explikation (siehe Kap. 5.3.3), führt Li das Gespräch fort. Auffallend ist, dass Li hier kein Mittel zum Signalisieren ihres Verständnisproblems einsetzt. Li ist nicht in der Lage, eine Fremdhilfe (nach Apfelbaum 1993) zu initiieren. 5.4.3 Missverstehen Während in Lis Beispiel das erstmals nicht ratifizierte Scaffolding später von dem Muttersprachler repariert wird (siehe Kap. 5.4.2), kommt es in Tings Gesprächen dabei zum Missverstehen. Hier greife ich noch mal auf die misslungene Ko-Konstruktion bei Ting zu, die in Kap. 5.2.2 unter dem Aspekt des versuchten Scaffoldings behandelt wurde. Gespräch: Ich wurde mal von unserem Hund gebissen. ((Tandemgespräch, 34: 57-36: 01 Sek.)) [34: 57] 50 51 Linda: hm und ansonsten warst du mal irgendwie anSONsten im krankenhaus oder schlimmer verletzt oder so,= = [hast du mal deinen BEIN] oder arm gebrochen oder so, 52 53 54 55 Ting: [ja: : : ] nee nee nee. der ANdere teil sind alles gut. [weil-] 56 Linda: [hehe ] 57 58 Ting: hehe ja. weil das HUND ist von unserem haus; 59 Linda: DER hund. 60 Ting: ja ja der hund; <?page no="337"?> 5.4 Zu Aktivitäten der chinesischen Lerner bei der konstruktiven Dialoghilfe im Tandem 337 61 Linda: mhm. 62 Ting: er KENNT nicht. 63 Linda: mhm. 64 65 Ting: er er KENNT nicht so; er er ist NUR in der moment[sehr] ärgert; 66 67 Linda: [mhm.] okay. 68 69 Ting: ja, (1.7) 70 Linda: mhm. 71 72 Ting: er WEIß ich bin(.)inich bin in dieser <<lachend> famiLIE.> 73 74 75 Linda: okay? oh JE, [hm ]als du noch so KLEIN- 76 Ting: [weil-] 77 78 79 Linda: hat es dir bestimmt WEH getan. ist das das ERste, an das du dich erINnern kannst? 80 Ting: ja; 81 Linda: ja? 82 83 84 Ting: <<pp> mhm.> ich möchte ein hund HAben. wenn ich mein ei mein EIgene familie haben; 85 Linda: mhm. 86 87 88 Ting: ich mag sehr GERne hund. aber ich habe geHÖRT so. die PERsone mag hund und katze(.)sind zwei unterschiedliche charakter, [36: 01] 89 Linda: mhm. Auf Lindas Frage „hm und ansonsten warst du mal irgendwie an SON sten im krankenhaus oder schlimmer verletzt oder so,=“ (Zeile 50) liefert Ting zuerst simultan ein ausgedehntes Rezipienzsignal „[ja: : : ]“ (Zeile 52). Dabei expliziert Linda ihre Frage, indem sie im Anschluss daran „= [hast du mal deinen BEIN ] oder arm gebrochen oder so,“ (Zeile 51) formuliert. Darauf reagiert Ting umgehend mit „nee nee nee.“ (Zeile 53). Der anschließende Beitrag „der AN dere teil sind alles gut.“ (Zeile 54) zeigt, dass Ting die Frage ihrer Tandempartnerin missversteht. Nach ihrer Interpretation wollte Linda wissen, ob sie sich in der gerade erzählten Geschichte andere Körperteile verletzt habe. Obwohl Tings Antwort von Lindas konstruktiver Frage abweicht, greift die Muttersprachlerin nicht ein. <?page no="338"?> 338 5 Scaffolding Von Zeile 75 bis 79 ist wieder ein Scaffolding-Verfahren in Form der Frage zu beobachten. Die chinesische Lernerin antwortet darauf einfach mit „ja; “ (Zeile 80). Der steigende Tonfall signalisiert ihre Unsicherheit, die auch von Linda bemerkt wird. Linda produziert zur Verständnissicherung eine Rückfrage, indem sie „ja? “ (Zeile 81) mit einem deutlich steigenden Tonfall ausdrückt. Im Anschluss daran senkt Ting aber ihre Lautstärke und liefert einfach ein Rezipienzsignal „<<pp> mhm.>“ (Zeile 82). Was sie daraufhin erzählt, zeigt, dass sie Lindas Fragen wieder einmal missversteht. An dieser Stelle setzt Linda auch kein Mittel ein, um das Scaffolding zu reparieren. 5.5 Anpassung des Muttersprachlers an den Sprachstand des Lerners Im Hinblick auf die Differenziertheit der Zuhöreraktivitäten in Interaktionen zwischen kompetenten und weniger kompetenten Gesprächspartnern nimmt die Studie von Hausendorf / Quasthoff (1996) eine Sonderstellung ein, weil sie anhand eines umfangreichen Korpus’ von Erwachsenen-Kind-Interaktionen die Zuhöreraktivitäten in kindlichen Erzählungen diffenrenziert analysieren. Die Befunde ihrer Untersuchung ergeben, dass die Zuhöreraktivitäten der Erwachsenen gegenüber Fünfjährigen und Siebenjährigen nicht unerhebliche Unterschiede zeigen. Nach Hausendorf / Quasthoff (1996) verteilen sich die Unterschiede auf alle Ebenen der Erzählstruktur. Bei der Darstellung der Inhaltsrelevanz sind Zuhöreraktivitäten nur gegenüber Fünfjährigen zu beobachten. Während die Erwachsenen im Bereich der Thematisierung gegenüber Fünfjährigen hauptsächlich den Aufbau der Erzählstruktur fördern, richten sich die Zuhöreraktivitäten gegenüber Siebenjährigen auf die Erzählbarkeit des Vorfalls. Beim Elaborieren / Dramatisieren modifizieren die Erwachsenen ihr Zuhörerverhalten je nach Alter des Kindes. Im Bereich des Abschließens ergeben sich bei Zuhörerbeiträgen der Erwachsenen gegenüber Fünfjährigen einerseits und Siebenjährigen andererseits auch Unterschiede. Zum einen werden die von Fünfjährigen eingesetzten Mittel des Abschließens missachtet, weil der Erwachsene die kindliche Erzählstruktur sehr wohl als nicht ausreichend betrachtet. Zum anderen wird die Mehrarbeit des Zuhörers gegenüber Siebenjährigen in Bezug auf das Beenden darin begründet, dass es nicht am Mangel der Erzählstruktur, sondern am Mangel der Erzählbarkeit liegt. Beim Überleiten sind die Zuhöreraktivitäten erst gegenüber Siebenjährigen vereinzelt zu beobachten. Die Erwachsenen initiieren diesen Strukturteil („Job“ nach Hausendorf / Quasthoff 1996) in die Abwicklung der Erzählung und erledigen ihn gemeinsam mit dem kindlichen Erzähler. <?page no="339"?> 5.5 Anpassung des Muttersprachlers an den Sprachstand des Lerners 339 Die Interpretation der Zuhöreraktivitäten erfolgt bei Hausendorf / Quasthoff (1996) jedoch aufgrund der Erwachsenen-Kind-Interaktion. Obwohl Apfelbaum die Rolle der Muttersprachler in Tandeminteraktionen analysiert, wird die Anpassung der muttersprachlichen Gesprächspartner an den Sprachstand des Lerners wenig thematisiert. Eine Untersuchung über die Modifikation des Zuhörerverhaltens gemäß dem Sprachniveau des Erzählers im Tandem blieb bisher aus. In der vorliegenden Arbeit versuche ich, mich anhand meiner empirischen Daten mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Zwar können die Ergebnisse meiner Forschung wegen der beschränkten Anzahl der Probanden nicht verallgemeinert werden, jedoch möchte ich hiermit den Anstoß zur weiteren Bearbeitung dieses Aspekts geben. In meinen Fallstudien geht es um drei chinesische Probanden mit unterschiedlichen Sprachniveaus. Als Germanistikstudentin im Masterstudium kann Le in der Regel ohne Schwierigkeiten alltägliche Kommunikationen bewältigen. Ting studiert zwar Jura auf Deutsch im Masterstudium, hat jedoch häufig sprachliche Schwierigkeiten in mündlichen Kommunikationen. Li hat das niedrigste Sprachniveau. Ohne die Unterstützung ihres Tandempartners kann sie häufig die Gespräche nicht durchführen. In den Aufzeichnungen sind auf verschiedenen Ebenen unterschiedliche Zuhöreraktivitäten der muttersprachlichen Studierenden gegenüber ihren jeweiligen chinesischen Tandempartnern zu beobachten. Dies lässt sich unter folgenden Punkten darstellen. Erstens ergeben sich im Bereich der Evaluation erhebliche Unterschiede gegenüber Le einerseits und Ting sowie Li anderereits. Zur interaktiven Produktion der Evaluation im Tandem lässt sich zusammenfassen: Gegenüber Le stellt der deutsche Muttersprachler zum einen direkt offene Fragen (z. B. „wie fandest du es“), die explizit auf die Elizitierung der Evaluation abzielen (siehe Kap. 5.2.1.2). Dies ermöglicht der chinesischen Erzählerin, frei von sich zu sprechen. Bei Ting und Li findet sich dafür kein empirischer Beleg. Die Tandempartner setzen bei ihnen zwar auch evaluative Verfahren ein. Aber dies dient nur ihrer Beteiligung an der Bewertung des Vorfalls. Eine explizite Elizitierung in Form einer direkt offenen Frage kommt nicht vor. Zum anderen sieht man in Les Daten häufig, dass die muttersprachlichen Bewertungen in der ganzen Geschichte in verschiedenen Formen (verbal oder nonverbal) integriert werden, während bei Ting und Li die evaluativen Kommentare des Zuhörers nur vereinzelt in die Erzählung eingeschoben werden (siehe Kap. 5.2.1.5). Die beiden oben genannten Unterschiede sind zumeist darauf zurückzuführen, dass der Muttersprachler sein Zuhörerverhalten nach seiner Abschätzung vom Sprachstand des chinesischen Tandempartners modifiziert. Gegenüber Le, die als Germanistikstudentin fließendes Deutsch spricht, setzt der Muttersprachler in der konversationellen Erzählung mehr Eingriffe, auch in <?page no="340"?> 340 5 Scaffolding unterschiedlicheren Formen (verbal, Intonation, expressive Mittel usw.), ein. Die beiden Gesprächspartner werden dabei häufig in die erzählte Geschichte involviert und die Fortführung der Erzählung wird vorangetrieben. Im Gegensatz dazu tauchen bei Ting und Li deutlich weniger Interventionen von Seiten des Zuhörers auf. Aufgrund ihrer niedrigeren Sprachniveaus werden einerseits sehr wohl die Grundbedingungen der fremdinitiierten Evaluation des Muttersprachlers als nicht hinreichend erfüllt betrachtet. Andererseits können die muttersprachlichen Zuhörer wegen der problematischen Formulierungen der chinesischen Lerner nicht umgehend mit bewertenden Kommentaren reagieren. Zweitens finden sich bei Ting und Li ausgeprägte Fälle der Übernahme einzelner Strukturteile durch ihre Tandempartner (siehe Kap. 5.2.1.3 und Kap. 5.3.5), die in Les Tandemgesprächen fehlen. Durch Übernahmen erledigt der Muttersprachler Strukturteile der Erzählung. Die Analyse in der vorliegenden Arbeit hat ergeben, dass der chinesische Lerner dabei entweder sprachliche Formulierungsschwierigkeiten hat oder Defizite bei der Gestaltung der Geschichte zeigt. Die deutschen Tandempartner greifen ein und bewältigen solche Aufgaben anstelle des chinesischen Erzählers. Le, die das höhere Sprachniveau hat, hat offenbar weniger Schwierigkeiten in diesem Bereich. Drittens lässt sich in der Analyse feststellen, dass ausschließlich in Lis Daten die Wiedergabe der Erzählstruktur durch den muttersprachlichen Zuhörer auftritt (siehe Kap. 5.2.1.4 und Kap. 5.3.6). Bei Le und Ting, die ein höheres Sprachniveau haben, gibt es keinen einzigen Fall, in dem der Muttersprachler die Erzählstruktur des Lerners wiedergibt. Im Hinblick auf Lis Sprachstand versucht der Muttersprachler mit der Wiedergabe der Erzählstruktur die Geschichte erneut zu rekapitulieren, um sicherzustellen, richtig verstanden zu haben. Gegenüber Le und Ting ist diese Zuhörerstrategie jedoch nicht nötig. Aus der Art und Weise, wie die muttersprachlichen Tandempartner je nach Sprachstand der chinesischen Lerner unterschiedlich reagieren, ist der Schluss zu ziehen, dass die deutschen Studierenden in meinem Korpus schon intuitiv Anpassungsstrategien beim Einsatz des Schaffoldings verwenden. Diese Ergebisse aus drei Fallstudien können zwar nicht verallgemeinert werden. Aber sie eröffnen eine neue Perspektive in der Tandemforschung. 5.6 Zusammenfassung Ziel des Kapitels 5 ist es, anhand der muttersprachlichen Zuhöreraktivitäten Scaffolding-Qualitäten zu rekonstruieren, die bei der Durchführung der nichtmuttersprachlichen Erzählung in meinen Tandemdaten typisch sind. Die Untersuchung der vorliegenden Arbeit hat ergeben: <?page no="341"?> 5.6 Zusammenfassung 341 (1) Bei der Analyse der erfolgreichen Ko-Konstruktion durch die muttersprachlichen Tandempartner wird deutlich, dass der Einsatz der narrativen Unterstützung einen deutlichen Beitrag zur Fortführung der nichtmuttersprachlichen Erzählung leistet. Die im Korpus aufgetauchten Beispiele erinnern zum Teil an die von Apfelbaum (1993) durchgeführte Untersuchung der Rolle des muttersprachlichen Zuhörers im deutsch-französischen Tandem. Sie weisen teilweise Gemeinsamkeiten mit dem Verhalten des Muttersprachlers gegenüber dem Lerner auf. Bei der Elizitierung einzelner Strukturteile beteiligen sich die deutschen Zuhörer in meinen Daten an der Erledigung von allen narrativen „Jobs“ (Hausendorf / Quasthoff 1996) außer Abschließen / Überleiten . Im Bereich der muttersprachlichen Beteiligung an der Evaluation ist die Unterstützung von der Seite der deutschen Studierenden ebenso zu beobachten. Eine nicht unwichtige Rolle spielen die deutschen Probanden bei der Bearbeitung von Problemen bei der Durchführung der Erzählstruktur. (2) Darüber hinaus lassen sich bei gelungenen Unterstützungen folgende Punkte darstellten, die ich anhand meiner Daten herausgefunden habe: • In meinen chinesisch-deutschen Tandemdaten sind Scaffoldings auffällig, mit denen die Muttersprachler eine Erzählung bei den chinesischen Probanden elizitieren. Der Grund dafür ist auf die chinesischen Lerner zurückzuführen. Einerseits wird das Erzählen im DaF-Unterricht nicht systematisch unterrichtet. Andererseits stellen die potenziellen kulturellen Unterschiede Hindernisse für die chinesischen Lerner dar. • Gegenüber chinesischen Probanden in meinem Korpus sind Übernahmen einzelner Strukturteile zu beobachten. Der Muttersprachler erledigt an Stelle des Lerners manche Strukturteile und fördert damit die nichtmuttersprachliche Erzählung. • Wiedergabe der Erzählstruktur wird von dem muttersprachlichen Zuhörer eingesetzt, um sein Verständnis der nichtmuttersprachlichen Erzählung sicherzustellen. Das kommt in der Regel vor, wenn der Lerner wegen seiner sprachlichen Schwierigkeit die Geschichte nicht deutlich rekonstruieren kann. (3) Neben der Performanz des muttersprachlichen Tandempartners beim Scaffolding sind in meinem Korpus auch Defizite zu beobachten. Nicht alle konstruktiven Dialoghilfen im Tandem werden wirksam durchgeführt. Die Analyse der Gespräche zeigt, dass die deutschen Studierenden als Laienlehrperson zuweilen nicht in der Lage sind, die Lerner durch Gerüstbau zu unterstützen. Die Defizite der Laienlehrperson lassen sich auf zwei Ebenen verdeutlichen. Zum einen sieht man keinen Eingriff von der Seite der Laienlehrperson, wenn der sprachliche Gerüstbau nicht richtig beim Lerner <?page no="342"?> 342 5 Scaffolding ankommt. Zum anderen ist der muttersprachlicher Tandempartner in manchen Fällen nicht in der Lage, durch den Einsatz der Ko-Konstruktion die Erzählung fortzuführen. Mit anderen Worten, ist es ihm nicht bewusst, wo und wie man durch eine konstruktive Dialoghilfe die Schwierigkeite bzw. die Probleme des Lerners bewältigen kann. In den Daten finden sich problematische Stellen, die man mit interaktiver Unterstützung hätte lösen können. Da fehlt aber das Scaffolding. (4) Als Einstieg in die systematische Untersuchung der Lerneraktivitäten bei der interaktiven Durchführung des Scaffoldings wurden wesentliche Befunde in Bezug auf die Rolle des Lerners gemacht. Einerseits können die Probanden, unabhängig von ihren Sprachniveuas, mit unterschiedlichen Mitteln die Ratifizierungen realisieren. Andererseits sind sie aber zuweilen nicht in der Lage, den Muttersprachlern ihre Probleme bzw. Schwierigkeiten zu signalisieren, wenn sie mit der von den muttersprachlichen Tandempartnern eingesetzten Dialoghilfe nicht weiter kommen. Missverstehen des Scaffoldings durch den Lerner ist auch ein Grund für das Scheitern der konstruktiven Dialoghilfe seitens des muttersprachlichen Zuhörers. (5) In Anbetracht der chinesischen Probanden mit jeweils unterschiedlichen Sprachniveaus sind Anpassungen des Muttersprachlers beim Einsatz des Scaffolding-Verfahrens zu beobachten. Die unterschiedlich modifizierten Strategien gegenüber Lernern mit verschiedenen Sprachstands lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: • Im Bereich der Evaluation werden gegenüber Le, der Germanistikstudentin mit dem höchsten Sprachniveau unter den Probanden, offene Fragen (z. B. „wie fandest du es“), die explizit auf die Elizitierung der Evaluation abzielen, eingesetzt. Im Gegensatz dazu sind bei Li und Ting nur muttersprachliche Beteiligungen an der Bewertung des Vorfalls zu beobachten. Offene Fragen, die den Lerner frei bewertende Kommentare äußern lassen, kommen bei Li und Ting nicht vor. • Übernahmen einzelner Strukturteile finden sich in meinem Korpus ausschließlich in den Gesprächsdaten von Li und Ting. Gegenüber Le, die in der Regel deutlich weniger sprachliche Schwierigkeiten hat, wird kein Scaffolding-Verfahren in Form der Übernahme einzelner Strukturteile eingesetzt. • Gegenüber Li, die das niedrigste Sprachniveau hat, tritt zuweilen Wiedergabe der Erzählstruktur durch den muttersprachlichen Tandempartner auf, wenn die chinesische Erzählerin wegen ihrer sprachlichen Schwierigkeiten die jeweiligen Strukturteile nicht deutlich darstellen kann. Die Wiedergabe der Erzählung dient der Verständnissicherung des Muttersprachlers. Im <?page no="343"?> 5.6 Zusammenfassung 343 Gegensatz dazu findet sich bei Le und Ting, die eine höhere sprachliche Stufe haben, kein einziger Fall dazu. <?page no="345"?> 6.1 Das Sprachenlernen im Tandem: zwischen Fiktionalität und Realität 345 6 Schlussbetrachtungen In der vorliegenden Arbeit wollte ich mit konversationsanalytischer Methode das Sprachenlernen im Interaktionsprozess des chinesisch-deutschen Tandems verdeutlichen. In diesem abschließenden Kapitel gehe ich zusammenfassend auf die wesentlichen Ergebnisse meiner empirischen Untersuchung ein und schließe daran einen Ausblick auf weitere Forschungsperspektiven an. 6.1 Das Sprachenlernen im Tandem: zwischen Fiktionalität und Realität Das Sprachenlernen im Tandem findet seit den 1980er Jahren seinen Platz an Hochschulen in Deutschland. In den letzten Jahrzehnten wurde das Konzept schnell weiterentwickelt und stark verbreitet. Heute gibt es nahezu an jeder Universität ein Tandemprogramm, mit dem man entweder Tandemseminare anbietet oder Einzeltandem vermittelt. Inzwischen ist diese besondere Lernform auch bei den Sprachlernern allgemein verbreitet. Neben der von der Hochschule oder dem Sprachlehrinstitut organisierten Einzeltandemvermittlung suchen die Lerner häufig selbstinitiiert ihre potenziellen Tandempartner, indem sie Aushänge im öffentlichen Bereich der Hochschule bzw. Sprachschule oder im Sozialnetzwerk (wie Facebook, Online-Plattform) machen. Mit dem Tandemfieber erlangt das Konzept vermehrt wissenschaftliches Interesse. In der jungen Tandemforschung entstanden in den letzten Jahren zwar Studien, die uns einen Blick in das Lernen im Tandem unter verschiedenen Gesichtspunkten - das Sprachenlernen (Herfurth 1993, Apfelbaum 1993, Rost-Roth 1995), das interkulturelle Lernen (Bechtel 2003), Beratungen und Begleitungen für die Interagierenden (Schmelter 2004, Holstein / Oomen-Welke 2006, Brammerts 2006, Reinecke 2013) - ermöglichen. Methodologisch ist die bisherige Tandemforschung aber vorwiegend durch quantitative und qualitative Methoden (Interviews, Umfragen, teilnehmende Beobachtungen, Tagebuchaufzeichnungen) geprägt. Wenige Untersuchungen (Apfelbaum 1993, Rost-Roth 1995, Bechtel 2003) beruhen auf empirischen Gesprächsdaten und folgen interaktionsorientierten sprachwissenschaftlichen Ansätzen. Für weitere Aufschlüsse zur Einschätzung des Lernens im Tandem ist es jedoch notwendig, reale Gesprächsabläufe anhand authentischer Daten genauer zu untersuchen. Was geschieht, wenn zwei Tandempartner zum Zweck des Fremdsprachenlernens <?page no="346"?> 346 6 Schlussbetrachtungen ins Gespräch kommen? Wie laufen die Lernprozesse? Welche Kompetenzen und Defizite zeigen sie in der Interaktion? Inwieweit werden die Lernpotenziale im Tandem als einer besonderen Lehr-Lern-Situation entfaltet? Die systematische konversationsanalytische Untersuchung der vorliegenden Arbeit veranschaulicht die Lehr-Lern-Sequenzen im Tandem. Das Lernpotenzial der Tandeminteraktion lässt sich hier auf zwei Ebenen zusammenfassen. Einerseits zeigen sowohl chinesische Lerner als auch muttersprachliche Laienlehrpersonen bestimmte sprachlernfördernde Kompetenz. Andererseits sind aber auch deutlich defizitäre Verhaltensweisen der Tandempartner in Sprachlernaktivitäten zu beobachten. Im Folgenden werde ich die wesentlichen Untersuchungsergebnisse der beiden Ebenen erläutern. Unter den potenziellen sprachlernfördernden Gesichtspunkten ist festzustellen, dass die chinesischen Probanden häufig in der Lage sind, Sequenzen zur sprachlichen Behandlung selbstinitiiert in das Gespräch einzuführen. Die Formen der Initiierungsstrategien variieren jedoch nach ihrem Sprachniveau. Während die Germanistikstudentin Le zahlreiche metasprachliche Fragen in verschiedenen Formen ausdrückt und damit Sprachlernaktivitäten explizit initiiert, signalisiert Li mit niedrigem Sprachstand ihre Bedürfnisse zur sprachlichen Bearbeitung durch steigende Intonation oder Alternativfragen. Dagegen verwendet Ting, deren Tandempartnerin fließend Chinesisch sprechen kann, vielmehr Codeswitching vom Deutschen ins Chinesische. Die Selbstinitiierung zur Sprachlernaktivität der Lerner weist ein Lernpotenzial auf. Von Seiten der muttersprachlichen Laienlehrpersonen finden sich auch zahlreiche von ihnen initiierte Lehr-Lern-Sequenzen (wie Korrigieren, Wiederholen, metasprachliche Fragen, Alternativfragen, Wörtererklärungen, Scaffolding). Neben lokalen sprachlichen Schwierigkeiten wie lexikalischen, syntaktischen und grammatischen Problemen wird dabei auch die globale Entwicklung der Erzählstruktur bearbeitet. Ein weiterer Befund in Bezug auf das Verhalten der Laienlehrpersonen zeigt, dass sie je nach dem Sprachniveau ihres chinesischen Tandempartners intuitiv Anpassungsstrategien einsetzen. Gegenüber Lernern mit unterschiedlichen fremdsprachlichen Fähigkeiten sind deutlich verbale Anpassungen der Muttersprachler zu sehen. Beispielsweise verwendet Linda gegenüber Ting im niedrigen Sprachstand oft Initiierungsverfahren wie Scaffolding, Wörtererklärungen, Alternativfragen, die sprachlich und kognitiv entlastend sind, während in Les Daten häufig Fremdinitiierungen mittels metasprachlicher Fragen ihres Tandempartners vorkommen. In solchen Aktivitäten der Laienlehrpersonen steckt zweifellos sprachlernförderndes Potenzial. Bezogen auf die Defizite der Tandempartner möchte ich die Ergebnisse meiner empirischen Analyse unter drei Aspekten erörtern. Erstens kann festgestellt werden, dass dem Sprachenlernen in Tandeminteraktion ein übergreifendes <?page no="347"?> 6.1 Das Sprachenlernen im Tandem: zwischen Fiktionalität und Realität 347 pädagogisches Ziel fehlt. Die meisten Sequenzen zur sprachlichen Bearbeitung sind entweder auf die Beseitigung lokaler sprachlicher Schwierigkeiten im Gesprächsverlauf oder auf die Verständnissicherung der Muttersprachler zurückzuführen. Während die Interaktion im Fremdsprachenunterricht von pädagogischen Zielen und Methoden geleitet wird, zeichnet sich der Lernprozess im Tandem durch Spontaneität bzw. Beliebigkeit aus. Eine global gezielte Bearbeitung an Progression findet sich im Tandem kaum. Zweitens tauchen in Anbetracht der Lehraktivitäten der Muttersprachler zahlreiche Defizite auf. Es fällt in meinen Daten auf, dass die Laienlehrpersonen nicht immer in der Lage sind, die interaktive sprachliche Bearbeitung überzeugend in den Griff zu bekommen. Sie können zwar die Lerner bei sprachlichen Fehlern oder Schwierigkeiten im Gesprächsverlauf unterstützen, indem sie korrekte Elemente bezüglich der sprachlichen Form (z. B. Artikel, Syntax, Zeitform) anbieten. Aber grundsätzliche Erklärungen über relevante sprachliche Phänomene bleiben immer aus. Außerdem sind defizitäre Lehraktivitäten auf der prozeduralen Ebene zu sehen. Die Lehr-Lern-Sequenzen in Tandeminteraktion werden häufig nicht konsequent durchgeführt. Ein nicht unerheblicher Teil der Sprachlehraktivitäten in meinem Korpus wird ohne sprachlernfördernde Verhalten abgeschlossen. Prozedurale defizitäre Lehrverhalten lassen sich neben solchen lokalen Aspekten auch auf der globalen Ebene beobachten. Anders als für Unterrichtsinteraktion, die sich durch lernfördernde Nacharbeitung sowie Vorbereitung bezüglich relevanter sprachlicher Elemente auszeichnet, findet sich in meinen Tandemdaten kein empirischer Beleg. Ein weiteres Defizit der muttersprachlichen Lehraktivitäten besteht in ihren Kommunikationsstrategien. Als Laienlehrpersonen ist ihnen oft nicht bewusst, wann und wie sie mit konstruktiven Verfahren eingreifen sollen, um die sprachlichen Schwierigkeiten der chinesischen Lerner zu beseitigen und damit das Gespräch fortzuführen. In vielen Beispielen meiner Daten ist deutlich, dass problematische Stellen bzw. Missverständnisse unbehandelt durchgehen. Dies wird besonders im Kapitel über Scaffolding erkennbar. Seitens der chinesischen Lerner zeigt die Untersuchung, dass sie zuweilen nicht in der Lage sind, den muttersprachlichen Laienlehrpersonen zu signalisieren, wenn sie mit der von ihnen eingesetzten konstruktiven Unterstützung nicht weiterkommen können. In diesem Fall wird das sprachlernfördernde Ziel nicht erreicht. Darüber hinaus weise ich auf weitere Aspekte hin, die mir während meiner teilnehmenden Beobachtung der Datenerhebung auffielen. Im Tandem kann nämlich die menschliche Beziehung eine entscheidene Rolle spielen. Allgemein beobachtete ich bei allen fünf Tandempaaren, die ich zu Beginn meiner Un- <?page no="348"?> 348 6 Schlussbetrachtungen tersuchung aufgenommen habe, hohe Begeisterung für das Projekt. Im Laufe der Zeit zeigten aber einige von ihnen deutlich weniger Interesse daran. Das Abbrechen eines Tandempaares nach ca. drei Monaten ist hauptsächlich auf die negative Beziehung zwischen den Partnern zurückzuführen. Während die chinesische Teilnehmerin eine zielorientierte und disziplinierte Studierende ist, zeichnet sich der deutsche Partner durch seinen hohen Konsum von Alkohol und Zigaretten aus. Das Lernen im Tandem wurde häufig nach ca. 20 Minuten wegen des Rauchwunsches des deutschen Studierenden unterbrochen. Außerdem ist die chinesische Lernerin sehr kritisch gegenüber der Abhängigkeit ihres Tandempartners, weil er während seines Studiums immer noch im Elternhaus wohnt und mit seinem „Hotel Mama“ zufrieden ist. Auf ihre Fragen nach seinem Karriereplan und den Zielen seines Lebens konnte er nicht antworten. Die beiden konnten sich nicht gut verständigen. Beim Tandemtreffen traten zwar keine direkten Konflikte auf. Aber langsam sank das Interesse an dem Lernen im Tandem deutlich, bis sie den Kontakt abbrachen. Außerdem fällt es den Tandempaaren in meinem Korpus oft schwer, Gesprächsthemen bei ihrem Tandemtreffen zu finden. Mit der Zeit beschwerten sich zwei chinesische Probanden häufig bei mir, dass sie nicht wüssten, worüber sie mit ihren deutschen Tandempartnern sprechen sollten. Das liegt meiner Beobachtung nach daran, dass sie einerseits nicht wissen, wie sie die vielfältigen potenziellen Möglichkeiten des Tandems zum Sprachenlernen nutzen können. Alle Probanden meiner Daten trafen sich mit ihren Tandempartern in der Universität, in einem Café und in ihren Wohnungen. Sie saßen sich einfach gegenüber und versuchten, ins Gespräch zu kommen und (zwangsweise) etwas Erzählwürdiges zu thematisieren. Andere Möglichkeiten, mit denen man das Sprachenlernen z. B. durch Handeln (wie Wandern, Kinobesuch, Kochen, Sport) realisieren kann, tauchten bei meinen Probanden nicht auf. Andererseits könnte das mit dem relativ eintönigen Leben der chinesischen Lerner an ihrem Studienort begründet sein. Ihr Spektrum in Deutschland beschränkt sich vor allem auf ihr fachliches Studium, auf Minijobs und einige Reisen ins europäische Ausland in der vorlesungsfreien Zeit. Teilnahme an deutschen studentischen Veranstaltungen (wie Filmclub, Fachschaften, Lesungen, Stammtisch, Improvisationstheater, Tanzen) sind bei meinen chinesischen Probanden überhaupt nicht zu finden, auch nicht bei der Germanistikstudierenden mit dem hohen Sprachniveau, ganz zu schweigen von sozialen (ehrenamtlichen) Aktivitäten (wie Tafel, Ökostation, Nachmittagsbetreuung für Kinder). In gewissem Maße kann man sagen, dass sie in Deutschland nur räumliche kulturelle Erfahrungen haben. Kein Wunder ist es also, dass es ihnen in Interaktionen mit Muttersprachlern schwerfällt, besprechenswerte Themen aus dem alltäglichen Leben zu finden, die das gemeinsame Interesse des Gegenübers <?page no="349"?> 6.2 Ausblick: Supervision für das Sprachenlernen im Tandem 349 erwecken könnten. Es passierte oft, dass die chinesischen Lerner auf Fragen ihrer Tandempartner wie „erzähl mal, was hast du am Wochenende gemacht? “ einfach mit „lernen, schlafen, kochen“ antworteten. Natürlich lag es auch an den muttersprachlichen Gesprächspartnern, dass Gesprächsthemen nur schwer initiiert wurden. Zusammenfassend bietet das Tandem-Konzept zwar viele Möglichkeiten zum Lernen, aber die Lehr- und Lernpotenziale werden zum großen Teil nicht genutzt. Mit anderen Worten, es ist den Tandempartnern nicht bewusst, wie sie die vielfältigen Möglichkeiten zum Zweck des Sprachenlernens erproben und damit verschiedene Lehr-Lern-Aktivitäten gestalten können. Daher wäre es sinnvoll, eine Supervision aufgrund empirischer Befunde für das Sprachenlernen im Tandem zu entwickeln. 6.2 Ausblick: Supervision für das Sprachenlernen im Tandem Betrachten wir die oben dargestellen Aspekte, sehen wir, dass die Tandeminteraktion als eine besondere kommunikative Gattung zwischen Alltagsgespräch und Unterrichtsinteraktion sowohl sprachlernfördernde Potenzial als auch Defizite aufweist. Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine Untersuchung, die mit konversationsanalytischer Methode den Interaktionsprozess für das Sprachenlernen im Tandem rekonstruiert und damit das Lernpotential in diesem Kontext weiterentwickeln will. In Anbetracht der Realität der untersuchten Tandempaare stellt sich die Frage, welche grundsätzlichen Möglichkeiten das Tandem für das Sprachenlernen bietet und wie sie von Interagierenden verstanden werden können. Deshalb versuche ich anhand der Daten, die ich aus den chinesisch-deutschen Tandemgesprächen gewonnen habe, eine Supervision für das Sprachenlernen im Einzeltandem zu entwickeln. Unter Supervision versteht man eine Form der Fortbildung bzw. Beratung, die von einem Supervisor mit entsprechender Qualifikation geleitet wird. Die Teilnehmer lernen dabei Handlungsmöglichkeiten für bestimmte Ziele. Aus meinen Untersuchungsergebnissen wissen wir, dass für die Interagierenden im Einzeltandem eine individuelle und intensive Betreuung nötig wäre. Dafür sollte zuerst eine Lehrkraft, die mit dem Sprachenlernen im Tandem vertraut ist, anwesend sein. Sie bietet als Supervisor die Anleitung zur Tandemarbeit und steht den Tandempartnern für ihre Fragen, Schwierigkeiten und alle anderen Unterstützungsbedürfnisse zur Verfügung. Organisatorisch kann die Supervision für das Sprachenlernen im Tandem in dem Sprachlehrinstitut der Hochschule stattfinden. Es ist sinnvoll, Fallsupervisionen durchzuführen. Das heißt, <?page no="350"?> 350 6 Schlussbetrachtungen die Lehrkraft trifft sich mit den beiden Interagierenden, um ihre Besonderheiten zu besprechen und den Umgang mit ihnen zu planen oder zu verbessern. Das Ziel ist, dass die Tandempartner die Lernmöglichkeiten in Tandeminteraktionen kennenlernen und den Lernprozess selber organisieren und kontrollieren können. Die konkreten Aufgaben der Supervision werde ich prozedural unter vier Aspekten darstellen. 1. In erster Linie müssen positive Rahmenbedingungen für das Lernen im Tandem geschaffen werden. Gerade angesichts des Befundes, dass dem Einzeltandem ein übergreifendes pädagogisches Ziel fehlt, wäre es sinnvoll, dass sich die Tandempartner am Anfang ein klares Ziel der Lehr-Lern-Aktivitäten stecken. Das sollten sie mit der erfahrenen Lehrkraft gemeinsam erarbeiten, indem sie relevante Elemente wie die Sprachniveaus, ihre Erwartungen, die Regelmäßigkeit des Treffens besprechen. Durch eingehende Beratung informiert sich die Lehrkraft über die konrekte Situation des Tandempaares und macht danach Vorschläge. Aufgrund der Absprache setzen sich die Tandempartner ein erreichbares Ziel in einer begrenzten Zeit mit messbarem Erfolg. 2. In diesem Rahmen folgt anschließend eine machbare Planung für das Sprachenlernen im Tandem. Dabei werden die Vorbereitung bzw. Nachbereitung jedes Tandemtreffens durchgesprochen. Eventuell gibt die Lehrkraft Hinweise auf Materialien bezüglich des Lernziels der Betroffenen. Besonders wichtig ist, dass sich die Teilnehmer über die Möglichkeiten informieren, mit denen ihr Interaktionsprozess effizient realisiert werden kann. Ausgehend von den Defiziten der Tandempartner in meinen Daten möchte ich hier potenzielle Strategien, die sie zur Gestaltung ihrer Interaktion verwenden können, auf zwei Ebenen (innerhalb bzw. außerhalb der Tandemgespräche) vorstellen. Innerhalb der Tandemgespräche sollten die Interagierenden auf vielfältige sprachlernfördernde Strategien (z. B. metasprachliche Fragen, Scaffolding- Verfahren, Korrektur, Erklären, Reformulierung, Wiederholung) hingewiesen werden. Inhaltlich wäre es sinnvoll, Vorschläge zu Gesprächsthemen bzw. Textsorten (wie Berichte, Argumentieren, Beschreiben, Erzählen, Besprechen von Lektüre) anzubieten. Im Falle schwieriger Themenfindung könnten sie dann auf diese Vorschläge zurückgreifen. Außerhalb der Tandemgespräche geht es vor allem darum, dass die Tandempartner sich nicht ausschließlich gegenüber sitzen, sondern auch handeln sollten. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Tandeminteraktion und dem institutionellen Unterricht liegt gerade darin, dass die Lerner im Tandem viele Möglichkeiten zur freien Gestaltung ihrer Lehr-Lern-Aktivitäten bekommen. Sie könnten z. B. gemeinsam ins Kino gehen, Sport treiben, <?page no="351"?> 6.2 Ausblick: Supervision für das Sprachenlernen im Tandem 351 an einer Lesung teilnehmen oder wandern, je nach ihrem Interesse. Dabei könnten einerseits zahlreiche Anregungen entstehen (den Film besprechen, Dialoge nachspielen usw.). Andererseits könnte das gegenseitige Verständnis durch solche gemeinsame Aktivitäten verstärkt und damit die menschliche Beziehung gefördert werden. Meine empirische Untersuchung zeigt jedoch, dass solche Alternativen nicht genutzt wurden. Weder die Muttersprachler noch die chinesischen Lerner kamen auf die Idee, statt der Face-to-Face-Gespräche noch etwas anderes aktiv zu unternehmen. In dieser Hinsicht wäre es sinnvoll, dass die Lehrkraft Infomationen über Handlungsmöglichkeiten gibt. Neben selbstinitiierten Aktivitäten wären meiner Meinung nach Informationen über studentische und soziale Veranstaltungen bzw. Engagements vor Ort empfehlenswert. Im Folgenden nenne ich einige Beispiele, die die Tandempartner in Freiburg als potentielle Sprachlernkontexte nutzen könnten. (1) Studentische Veranstaltungen - Fachschaften - Filmclub - Debattierclub - Sportvereine - Arbeitskreis kritischer Juristen - Chor - „Sätzlinge“ (Literarische Wanderung durch unterschiedliche Stadtgebiete) - Poetry Slam - Improvisationstheater (2) soziale Aktivitäten - Ökostation - Naturschutzzentrum - Führungen (Molkerei, Friedhof, Brauerei, Weinbau, historische Gebäude, usw.) - ehrenamtliche Arbeit (Altenheim, Tafel, Nachmittagsbetreuung für Kinder, usw.) - Schwarzwaldverein (Wanderungen mit verschiedenen Motiven) - Literaturbüro Diese Liste ist natürlich nicht vollständig. Sie verdeutlicht aber schon, wie viele Wege die Tandempartner beschreiten könnten. Eine an die jeweilige <?page no="352"?> 352 6 Schlussbetrachtungen Unternehmung anschließende Diskussion wäre für die Gesprächspartner sicherlich interessant und anregend. 3. Nach der Setzung des Ziels und der Erstellung des Lehrplans ist es drittens wichtig, dass die Lehrkraft das Lernen im Tandem begleitet. Sie steht den Teilnehmern für ihre Rückmeldungen und Unterstützungsbedürfnisse zur Verfügung. Eventuell könnte sie den Lernprozess teilweise beobachten. Im Fall von deutlichen Problemen, die das Sprachenlernen behindern, könnte sie helfend eingreifen. 4. Schließlich sollte die Lehrkraft zusammen mit den Betroffenen auswerten, inwiefern das geplante Ziel in der verabredeten Zeit erreicht worden ist. Eine Evaluation könnte einerseits den Lernern helfen, ihre Fortschritte zu kennen. Andererseits könnte das der Reflexion ihrer angewandten Methoden dienen. Sobald die Tandempartner ihren Lernprozess selbst organisieren und kontrollieren können, kann die Unterstützung in Form der oben dargestellten Supervision wegfallen. Letztendlich liegt das Anliegen der Supervision darin, den Tandempartern beizubringen, wie sie die Lehr- und Lernpotenziale selbst steuern und ihre Sprachlernaktivitäten gestalten können, um ihr Ziel zu erreichen. <?page no="353"?> Literatur 353 Literatur Adams, Rebecca (2007): Do second language learners benefit from interacting with each other? In: Alison Mackey (eds.): Conversational Interaction in Second Language Acquisition. Oxford: Oxford University Press, 29-51. Antón, Marta (1999): The discourse of a learner-centred classroom: Sociocultural perspectives on teacher-learner interaction in the second-language classroom. In: The Modern Language Journal 83 (3): 303-318. Apfelbaum, Birgit (1993): Erzählen im Tandem. Sprachlernaktivitäten und die Konstruktion eines Diskursmusters in der Fremdsprache. Tübingen: Gunter Narr. Auer, Peter (1986): Kontextualisierung. In: Studium Linguistik 19, Sonderdrucke aus der Universität Freiburg, 22-47. 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Die plastische Darstellung und Tiefenanalyse der Vielfalt von Tandeminteraktionen, ihrer Schwierigkeiten, Probleme und Potenziale verdeutlicht eine im Alltagsverständnis allzu oft idealisierte Vorstellung von der „Natürlichkeit“ des Lernens im Tandem, die sich in dieser Untersuchung nicht bestätigen lässt. Am Ende des Bandes werden konkrete Anforderungen an Tandemlehrende formuliert sowie Empfehlungen für die Verbesserung und Verfeinerung der Methodik ausgesprochen. 558 Qian Sprachenlernen im Tandem Sprachenlernen im Tandem Eine empirische Untersuchung über den Lernprozess im chinesisch-deutschen Tandem Lingyan Qian