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»Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst«

Artur Kutscher und die Praxisdimension der Münchner Theaterwissenschaft

0116
2017
978-3-8233-9082-4
Gunter Narr Verlag 
Chiara Maria Buglioni

Der vorliegende Band präsentiert die erste wissenschaftliche Untersuchung zur Frühphase der Münchner Theaterwissenschaft und zur Tätigkeit des "Theaterprofessors" Artur Kutscher. Er folgt dabei der Theorie der situierten Kognition, die sich am Vorbild von J. Lave und E. Wenger orientiert (Theorie der Communities of Practice). Kutschers praxisorientierte Forschungsperspektive zeigt noch heute eine erstaunliche Aktualität: Zusammen mit seiner Arbeitsgruppe antizipierte er die Debatte über die Praxis als Hauptgrund für die Theaterforschung und als Hauptgrund für das Lernen im Allgemeinen. Die Publikation richtet sich an alle Theater- und Literaturinteressierten, die gern einen Einblick in die Entwicklung der akademischen Disziplin Theaterwissenschaft und in das Leben und Werk des faszinierenden Professors bekommen wollen.

<?page no="0"?> Der vorliegende Band präsentiert die erste wissenschaftliche Untersuchung zur Frühphase der Münchner Theaterwissenschaft und zur Tätigkeit des „Theaterprofessors“ Artur Kutscher. Er folgt dabei der Theorie der situierten Kognition, die sich am Vorbild von J. Lave und E. Wenger orientiert (Theorie der Communities of Practice). Kutschers praxisorientierte Forschungsperspektive zeigt noch heute eine erstaunliche Aktualität: Zusammen mit seiner Arbeitsgruppe antizipierte er die Debatte über die Praxis als Hauptgrund für die Theaterforschung und als Hauptgrund für das Lernen im Allgemeinen. Die Publikation richtet sich an alle Theater- und Literaturinteressierten, die gern einen Einblick in die Entwicklung der akademischen Disziplin Theaterwissenschaft und in das Leben und Werk des faszinierenden Professors bekommen wollen. Forum Modernes Theater Schriftenreihe | Band 48 ISBN 978-3-8233-8082-5 Buglioni »Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst« Chiara Maria Buglioni »Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst« Artur Kutscher und die Praxisdimension der Münchner Theaterwissenschaft <?page no="1"?> »Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst« <?page no="2"?> Forum Modernes Theater Schriftenreihe l Band 48 begründet von Günter Ahrends (Bochum) herausgegeben von Christopher Balme (München) <?page no="3"?> Chiara Maria Buglioni »Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst« Artur Kutscher und die Praxisdimension der Münchner Theaterwissenschaft <?page no="4"?> Gedruckt mit der Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT. Unterstützt von der Associazione Italiana di Germanistica. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio‐ nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Ver‐ lages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Überset‐ zungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0935-0012 ISBN 978-3-8233-8082-5 <?page no="5"?> 8 Teil I. 14 14 22 25 36 41 44 51 57 61 65 Teil II. 70 70 78 86 92 98 115 119 Teil III. 133 133 142 144 146 150 153 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Praxisdimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Theaterwissenschaft zwischen Theorie und Praxis . . . . . Wissenschaftlicher Diskurs und ausgehandelte Praxis . . . . . . Situiertes Lernen nach Jean Lave und Etienne Wenger . . . . . Die Praxis in der Theorie des situierten Lernens . . . . . . . . . . . . . . . . Die soziale Landschaft der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lerngemeinschaft, Lehrtätigkeit und Performativität . . . . . . . . . . . . Der Kutscher-Kreis als Lerngemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . Performative Aspekte des gemeinsamen Lernens . . . . . . . . . . Potentialphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . München, der kulturelle Pol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theaterdebatten und -experimente in München . . . . . . . . . . . Eine künstlerische und gesellschaftliche Neugeburt . . . . . . . . „Schwabingertum“ und Aktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kutschers Erfahrung in und zwischen kulturellen Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beteiligung an der Münchner Moderne und Unterrichtstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kutschers Forschungsprojekte zwischen 1908 und 1910 . . . . Erste Entwicklungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem einer umfassenden Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Forschungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Seminarraum und im Theatermuseum . . . . . . . . . . . . . . . . Die Struktur des theaterwissenschaftlichen Kurses . . . . . . . . Außerhalb des Universitätsgebäudes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Aufführungen des Kutscher-Kreises . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="6"?> 156 158 164 173 176 180 181 183 189 Teil IV. 194 194 195 199 200 207 209 211 221 224 228 241 243 253 284 290 293 311 311 312 Ein System verknüpfter Gruppierungen und Organisationen . . . . . Die letzte Phase des „Neuen Vereins“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das „literarische Seminar“ Artur Kutschers . . . . . . . . . . . . . . . Die Gesellschaft „Das Junge Krokodil“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wissenschaftliche Tätigkeit und soziales Engagement . . . . . Koordination und Partizipationsstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Leitfigur einer praxisorientierten Gemeinschaft . . . . . . . Vollständige, periphere und randständige Mitgliedschaft . . . Partizipation und Nicht-Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reifephase - Orte und Örtlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Ursprung des Theaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Referenzmodell der Münchner Theaterwissenschaft . . . Die Mimustheorie Hermann Reichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Theater als mimisch-pantomimische Ausdruckskunst . . Das Beziehungsgeflecht des Kutscher-Kreises . . . . . . . . . . . . . . . . . . Natur, Volk und Laientheater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die „Gesellschaft für das süddeutsche Theater“ . . . . . . . . . . . Lokale und globale Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kontakt zum ausländischen Theater und zu anderen Kulturen Über die Grenzen hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Letzte Entwicklungsphase - was weiterlebt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Münchner Theaterwissenschaft »im Dritten Reich und danach« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs. Die NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachwort. Zur Aktualität der theaterwissenschaftlichen Beschäftigung Artur Kutschers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Artur Kutschers Leben und Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chronologisches Verzeichnis der Vorlesungen von A. Kutscher an der Universität München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Archivalische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="7"?> 312 313 323 Zeitschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . <?page no="8"?> Vorwort Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den Anfängen der Theaterwissen‐ schaft in München und der Rolle des „Theaterprofessors“ Artur Kutscher in der Entwicklung der Disziplin. Als ich zum ersten Mal auf den Namen Artur Kut‐ scher stieß, war es aus reinem Zufall: Für meine Masterarbeit beschäftigte ich mich mit den Ingolstädter Stücken Marieluise Fleißers und erfuhr dabei, die Dichterin hatte 1920 theaterwissenschaftliche Veranstaltungen bei Kutscher be‐ legt. Kurz davor hatte auch Ödön von Horváth an der Münchner Universität Seminare und Vorlesungen des Theaterprofessors besucht; selbst Bertolt Brecht war ein Kutscher-Schüler gewesen. Das war für mich wie eine Erleuchtung: Die kanonisierten Hauptvertreter des kritischen Volksstücks, ja die wichtigsten DramatikerInnen der Zeit gehörten am Anfang ihrer Karriere zur Kutscher-Hö‐ rerschaft. Die Figur des Theaterprofessors erregte mein besonderes Interesse und ich fing damit an, Informationen über Kutschers theaterwissenschaftliche Bemühungen zu sammeln. Es stellte sich allerdings sofort heraus, dass so gut wie keine wissenschaftliche Literatur zu Artur Kutscher existierte und dass sein Nachlass noch fast unerforscht war. Aus den Berichten und Erinnerungen von Kutschers Studenten und Freunden gewann man den Eindruck, der Theater‐ professor sei nicht nur eine Legende in der Münchner Kulturwelt, sondern auch einer der Bahnbrecher der deutschen Theaterwissenschaft gewesen. In den Ein‐ führungen in die Wissenschaft des Theaters konnte man indessen nur ein paar Zeilen über Artur Kutscher lesen, entweder im Widerspiel mit der Berliner Schule Max Herrmanns oder in Einklang mit Carl Niessens Theorie, das Theater habe im Mimus seinen Ursprung. Das schien mir ein paradoxer Tatbestand zu sein. In München fand ich dann eine städtische Artur-Kutscher-Realschule, einen von Lothar Dietz geschaffenen Artur-Kutscher-Brunnen am gleichna‐ migen Platz im Herzen Schwabings und sogar eine Bronzebüste des Theater‐ professors im Büro des Direktors des Instituts für Theaterwissenschaft an der LMU . Wenn aber der Name Artur Kutscher gelegentlich vor den Studenten der Münchner Universität erwähnt wurde, merkte ich, dass der „Außerordent‐ liche“ - wie die Kutscher-Schüler ihren Lehrer nannten - heute kaum bekannt ist. Solche offensichtlichen Widersprüche führten mich zur intensiven Beschäf‐ tigung sowohl mit der frühen Theaterwissenschaft als auch mit dem heutigen Stand der Disziplin. Ein wesentliches Bindeglied zwischen den Anfängen der <?page no="9"?> 1 Für Community of Practice wird im Folgenden die Abkürzung CoP verwendet. Theaterwissenschaft in München und den Fragen, die in den letzten Jahrzehnten ins Zentrum der Debatte über die akademische Kunstforschung gerückt sind, identifizierte ich in der Praxisdimension. Die Theaterforschung geht für Kut‐ scher immer mit der Generierung und Pflege eines nicht nur theoretischen son‐ dern auch praktischen Wissens einher, und die Praxis selbst galt als Forschung. Alle Leistungen der Münchner Theaterwissenschaft lassen sich in den ersten Entwicklungsstufen auf einen Nenner bringen: die Verflechtung zwischen The‐ orie bzw. Historiographie und Praxis, die Vermittlung zwischen Kunst(for‐ schung) und Leben. Gerade diese Dimension wurde von den anderen Begrün‐ dern der Disziplin zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum berücksichtigt, sodass die Untersuchung sowie die Entwicklung der Praxisdimension im theaterwis‐ senschaftlichen Bereich als charakteristisches Zeichen der Arbeitsgruppe um Artur Kutscher aufgefasst werden kann. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen geht es in Teil I dieser Arbeit darum, zu zeigen, wie Artur Kutscher im Gegensatz zu seinen Kollegen eine wissen‐ schaftliche praxisbasierte Forschung durchführte; darüber hinaus werden Be‐ deutung und Benutzung des ‚Praxis‘-Begriffs in der Theaterwissenschaft von den Anfängen bis heute erörtert. Die starre kategoriale Unterscheidung zwi‐ schen intellektuellem Wissen und praktischem Verstand wurde erkenntnisthe‐ oretisch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgegeben - insbesondere dank des Beitrags von Gilbert Ryle, Michael Polanyi und Pierre Bourdieu - und die Praxis wurde sowohl von der Diskursanalyse als auch von der Interdiskurs‐ analyse in den Vordergrund gerückt. Im ersten Teil wird auch das methodolo‐ gische Instrumentarium der Untersuchung dargestellt: Als Ansatzpunkt wird die Theorie der situierten Kognition angewandt, die dem Vorbild von Jean Lave und Etienne Wenger folgt und die den individuellen sowie gesellschaftlichen Lernprozess als eine kontextbezogene Transformation des Wissens versteht, welche persönliche Veränderungen mit der Entwicklung von Sozialstrukturen kombiniert. In Laves und Wengers Auffassung hängt das situierte Lernen von der auf verschiedene Weisen legitimierten Teilhabe an Communities of Practice ab. 1 Diese Teilnahme ist daher ein konstituierender Bestandteil für den Lernin‐ halt und für die Identitätskonstruktion im Verhältnis zu den Lerngemein‐ schaften. Um festzustellen, in welchem Ausmaß Artur Kutscher die Theater‐ wissenschaft als einen situierten Kontext des Lernens verstand, werden erstens die Grundkonzepte ‚Praxis‘ und ‚Gemeinschaft‘ untersucht; zweitens wird der Begriff ‚soziale Landschaft‘ und die Art und Weise, wie globale Partizipation und Vorwort 9 <?page no="10"?> lokale Teilhabe aufeinander wirken, zum Gegenstand der Analyse gemacht. Am Ende dieses Teils richtet sich der Blick auf die Entwicklungsstufen einer CoP und auf die Verkoppelung zwischen Lehrtätigkeit und Performativität beim Theaterwissenschaftler Kutscher, denn beim Lernen handelt es sich um den Vollzug bestimmter Aufgaben, Formalitäten und Riten, also um den Zugang zu einer Performance. Teil II führt in die wichtigsten kulturellen Debatten, Reformversuche der Kunst und Künstlerkreise ein, die in der Prinzregentenzeit die Schwabinger Bo‐ hème prägten und welche zur sog. „Theatralisierung der Kultur“ maßgeblich beitrugen. Kutschers kulturelles Engagement bis 1909 bzw. seine Teilnahme an unterschiedlichen Gruppierungen sowie am Meinungsaustausch über das le‐ bendige Theater war die Vorbedingung für die Förderung und Koordination einer praxisorientierten Theaterwissenschaft. In Teil III geht es um die Darstellung der ersten Entwicklungsphase der von Kutscher geleiteten theaterwissenschaftlichen Arbeitsgruppe. Um die Konturen der neuen Disziplin zu verschärfen, entwarf Kutscher zunächst eine grundle‐ gende Theorie, die den Untersuchungsgegenstand ‚Theater‘ beschrieb und den Modus Operandi der Theaterforschung vorschlug. Zum einen erarbeitete er die Konzepte ‚Kritik‘ und ‚Stilkunde‘ und stellte sich die Frage nach der Objektivität der Untersuchung, zum anderen rechtfertigte er die Anwesenheit eines spezi‐ fischen theaterwissenschaftlichen Forschungsbereiches. Der Kutscher-Kreis führte dann die Praxis seiner CoP weiter und versuchte hierzu, eine Balance zwischen Expertise und Erfahrung zu finden. Durch Universitätsvorlesungen und Seminare, Übungen in praktischer Kritik, Autorenabende, Führungen, Stu‐ dienfahrten, Lehraufführungen und persönliche Kontakte mit Theaterleuten beabsichtigte die Arbeitsgruppe Kutschers, die gemeinschaftsbildenden Aktivi‐ täten zu erweitern, und sie befasste sich auch mit der Festlegung unterschied‐ licher Partizipationsstufen. In wenigen Jahren konfigurierte sich der theater‐ wissenschaftliche Kurs an der LMU als ein gut strukturiertes Lernsystem mit festen Grenzen und produktiven Beziehungen zu anderen Gruppierungen. Teil IV stellt die Reifephase der Münchner Theaterwissenschaft um Artur Kutscher vor. Ungefähr ab 1919 beschäftigte sich der Kutscher-Kreis mit dem Ursprung des Theaters, was insbesondere angesichts der Steigerung des kul‐ turellen Engagements der Gemeinschaftsmitglieder und der Verstärkung des gemeinsamen Zieles Relevanz bekam. Als Referenzmodell der CoP wurde die Mimustheorie Hermann Reichs verwendet, wobei die Theaterwissenschaft ihren Wissensbereich über die Grenzen der traditionellen Theatergeschichte hinaus ausbaute. Der mimische Ursprung des Theaters ermöglichte die Münchner Lerngemeinschaft, einerseits heimatgebundene Interessen zu Vorwort 10 <?page no="11"?> wahren und volkstümliche Theaterformen zu berücksichtigen, andererseits transnationale Interaktionen und Einsätze zu fördern. Jenseits aller gesellschaft‐ lichen und historischen Bedingtheiten des theatralen Phänomens suchte Kut‐ schers Lerngemeinschaft kunstspezifische Konstanten, die als Orientierungs‐ hilfe in der Forschungsarbeit wirken konnten, und schuf weiterhin ein Beziehungsgeflecht, das zuerst in München und Bayern, dann in Süddeutsch‐ land, in Europa und schließlich in der ganzen Welt eine wichtige Rolle für die CoP spielte. Neben globalen Spielräumen öffnete die Münchner Theaterwissen‐ schaft auch intermediäre Räume zwischen Lerngemeinschaften und Fachberei‐ chen, auch wenn die Forschung immer vom Standpunkt der Kunst aus betrieben wurde. Dieser Teil endet mit der Betrachtung der auslösenden Faktoren der frühen theaterwissenschaftlichen Arbeitsgruppe. Obwohl der Theaterprofessor immer noch als Vermittler zwischen den erfolgreichen Künstlergenerationen der vergangenen Jahrzehnte und den aufstrebenden Jugendlichen betrachtet wurde, konzentrierte er seine Energie darauf, ein selbstständiges theaterwis‐ senschaftliches Institut an der LMU einzurichten und eine akademische Aus‐ zeichnung für seine Leistungen zu erhalten. Kutschers leitende Rolle reduzierte sich dann schrittweise, die Mitglieder zerstreuten sich in andere Arbeits‐ gruppen, die Praxis wurde nicht mehr weiterentwickelt und der Zufluss an neuen Themen verringerte sich erheblich. Die Auflösungstendenz der lebens‐ lang von Kutscher koordinierten Lerngemeinschaft wurde allerdings durch die Fortführung des theaterwissenschaftlichen Unternehmens balanciert: Die Be‐ mühungen um die Verkoppelung von Theorie und Praxis, die Vorstellung einer Theaterforschung durch und für die Praxis sowie durch und für das Leben, das Konzept einer universitären Ausbildung für die Identitätsentwicklung der Lern‐ enden, die Anerkennung und Rechtfertigung eines faszinierenden „strittigen Gebiets“ zwischen Wissenschaft und Kunst reizen heute noch Theaterwissen‐ schaftler und Theaterinteressierten. In dieser Hinsicht ist die Aktualität der Tä‐ tigkeit und der Struktur der frühen Münchner Theaterwissenschaft anhaltend. Im Anschluss an die gesamte Diskussion wird ein Exkurs über die Theater‐ wissenschaft und Artur Kutscher im Nationalsozialismus, eine skizzenhafte Bi‐ ographie des Theaterprofessors und ein chronologisches Verzeichnis der thea‐ terwissenschaftlichen Vorlesungen Artur Kutschers an der LMU dargeboten. An dieser Stelle möchte ich allen Personen danken, ohne die meine Arbeit in der vorliegenden Form nicht möglich gewesen wäre. Namentlich danke ich zu‐ erst meinen Betreuern: Prof. Dr. Christopher Balme, der bereits in den ersten Entwurf meines Promotionsprojekts sein Vertrauen demonstrierte, der mich auch in den Bereich der Theaterwissenschaft begleitete, mir das wissenschaft‐ Vorwort 11 <?page no="12"?> liche Potenzial der Untersuchung bewusst machte und die Begegnung mit Kut‐ scher-Experten vermittelte; und Prof. Marco Castellari, der mich stets mit großer Geduld, unzähligen Ratschlägen und viel Humor unterstützt hat und der mir konkret zeigte, dass die Bedeutung der akademischen Ausbildung und For‐ schung weit über das Universitätsgebäude hinaus reicht. Bedanken möchte ich mich auch bei den zwei Hochschulen, an denen ich meine Cotutelle-Promotion abgeschlossen habe: die Università degli Studi di Milano, die mein Projekt drei Jahre lang finanzierte, und die Ludwig-Maximilians-Universität, insbesondere das Institut für Theaterwissenschaft, das mich herzlich aufnahm. Mein beson‐ derer Dank gilt Dr. Olaf Laksberg, ohne dessen Berichte und Erinnerungen ich die Anfänge der Theaterwissenschaft in München, Artur Kutschers Charisma und Klaus Lazarowicz’ Tätigkeit nie richtig verstanden hätte; Dr. Carl Klein, der mir über seine Familie und seinen Großvater erzählte und mir freundlich die privaten Fotoalben der Kutschers zeigte; Edgar Reitz, der mir ein ausführliches Interview gewährte; und Prof. Dr. Gabriella Rovagnati, die mir schon viele Jahre eher den Einblick in die deutsche Theatergeschichte verschaffte und die mir von dem Moment an in meinen Bemühungen Beistand leistet. Nicht zu vergessen sind hier außerdem die MitarbeiterInnen des Archivs der Ludwig-Maximi‐ lians-Universität München, des Bayerischen Hauptstaatsarchivs München, des Deutschen Literaturarchivs Marbach und des Staatsarchivs München, die mich sachkundig durch ihre Häuser geführt haben. Besonders dankbar bin ich Frank Schmitter, Gabriele Eitzinger und Martin Heidenreich vom Monacensia-Litera‐ turarchiv München, weil sie immer freundlich und hilfsbereit waren. Speziell zu danken habe ich dem Gunter Narr Verlag für die Annahme meines Manuskripts in die Reihe Forum Moderne Theater sowie den Lektorinnen Kathrin Heyng, Vanessa Weihgold und Elena Gastring für ihre gedulidge Hilfe und kompetente Betreuung. Außerdem bin ich der VG Wort und der Associacione Itatliana di Germanistica für die Unterstützung zu Dank verpflichtet. Für die Anregungen und das schöne Beisammensein muss ich noch Dr. Gero Tögl danken, für die aufmerksame Lektüre meiner Arbeit Frau Margit Kohl, und für die wunderbare Freundschaft Tobias Honold, Elizabeth und der ganzen Familie Mittermeier, die zu meiner deutschen Familie geworden ist. Mein Dank gilt weiterhin meinen italienischen Unterstützern und Freunden: Ringrazio di cuore tutti miei com‐ pagni di avventura, senza i quali il dottorato a Milano non sarebbe stato lo stesso, in particolare Elisabetta Bevilacqua e Giulia Peroni; gli amici che non mi hanno dimenticato nonostante i mesi trascorsi all’estero e che saranno sempre dalla mia parte, qualunque scelta io faccia: Angelica, Annalisa, Gloria, Fabio, Federica e Marco; gli amici di famiglia, che poi sono la mia famiglia allargata: Marisa, Marco e Andrea, Laura, Flavio e Stefania. Stefania, grazie per esserci sempre Vorwort 12 <?page no="13"?> stata. Ringrazio poi la persona che ha condiviso con me questi anni, tra sbalzi di umore, viaggi, pensieri a un mondo lontano, delusioni e gioie: senza di te, Andrea, punto fermo in una vita movimentata, non credo ce l’avrei fatta. Infine, non posso che ringraziare i miei genitori: non esisterebbe una riga di questo lavoro se non avessi avuto voi come esempio, esempio di onestà etica e intel‐ lettuale, di dedizione totale, di amore incondizionato. Vorwort 13 <?page no="14"?> Teil I. Ausgangspunkte Die Praxisdimension Ich mußte das sein, was meiner Zeit am meisten fehlte: Systematiker, Methodiker, der von unten auf organischen Zusammenhang suchte, Ganzheit; der ausging von den Elementen, von der Materie des Schaffens, von Sprache, Mimus, bewegtem Foto, Ton; der an Stelle der älteren Kunstbetrachtung nach äußeren Stoffen, Formen die inneren, ureigenen schöpferischen Mächte Gehalt und Gestalt setzte und die stilbildenden Faktoren der Persönlichkeit, der Zeit, der Gattung. Unter diesen Gesichtspunkten lehrte ich Dichtung, Theater, Film, Funk erfassen, jede Kunst für sich würdigen in ihrer stilistischen Reinhaltung. […] Ein volles, schönes Leben ist mir geschenkt von Gott, in der Familie […]; in Geselligkeit mit guten Freunden, in der Sphäre des alten Schwabing mit all seinen Dichtern, Schriftstellern, bildenden Künstlern, Musikern, Schauspielern, Schlawinern; in Bezie‐ hung zu Künstlern, Forschern, Wissenschaftlern weit über Deutschlands Grenzen hi‐ naus; besonders aber in dem berühmt-berüchtigten Kreise meiner Studenten. Dieser Kreis war ein dichtes Gewebe persönlicher, wissenschaftlicher und künstlerischer Beziehung, ein fester, magischer Ring, in welchem einer auf den anderen wirkte, einer den anderen steigerte, formte, ich meine Schüler, und diese mich, den sie tatfreudig erhalten haben und dem sie immer neues Leben zuführten. Wir waren uns gegenseitig menschliche Entwicklungsfaktoren. Die diesem Kreise angehörten, erkennen ei‐ nander an heimlichen Zeichen und an der Parole Stilkunde, Theaterwissenschaft, Mimus. (Kutscher 1948: 257 f.) In der Dankesrede bei der Feier zu seinem siebzigsten Geburtstag zeigt Artur Kutscher das Hauptmerkmal der von ihm geförderten Disziplin auf: eine Di‐ mension des Lernens, in der die soziokulturellen Quellen des menschlichen Schaffens erkannt, systematisiert und weitergegeben werden. Als „Theaterpro‐ fessor“ strebte er danach, einen Lehr- und Lernprozess zu entwickeln, welcher die Kluft zwischen logozentrischer Kunstforschung an Hochschulen und ak‐ tivem, dynamischem Erfahrungsaustausch an Ort und Stelle der theatralischen Tätigkeit überbrücken konnte. Wenn man heutzutage in der Münchner Thea‐ terwissenschaft eine Spur der Leistung Kutschers sucht, dann findet man weder eine zeitübergreifende Taxonomie der Gegenstände und Grundbegriffe des Fachgebietes, noch eine umfassende Systematik von dessen Forschungsergeb‐ nissen; was sich von jener ersten Phase der Disziplin noch erkennen lässt, ist <?page no="15"?> vielmehr die Praxisdimension, in der die akademische Lehre verwurzelt ist. Kutschers Kunstforschung war mit der Praxis unauflöslich verflochten. In seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegen‐ stand der neuen, noch zu legitimierenden Disziplin entwickelte Kutscher ein wissenschaftliches praxisbasiertes Untersuchungsverfahren, das avant la lettre viele Fragen problematisierte, die gerade heute im Zentrum der Debatte über die akademische Kunstforschung stehen. Das Konzept Praxis hat sich in der Geschichte der Theaterwissenschaft allmählich herausgebildet und ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand das praktische Wissen nun auch neben und manchmal vor der theoretischen Erkenntnis in Kunstfragen Beachtung. Deshalb ist es zunächst notwendig, Kutschers Auffassung von Praxis darzulegen und dann die Entwicklung des Konzepts und der ihm verbundenen Problema‐ tiken zu beschreiben. Am Ende werden in der früheren Münchner Theaterwis‐ senschaft mehrere Schwerpunkte wieder zu erkennen sein, die auf ein praxis‐ basiertes Untersuchungsverfahren hinweisen, etwa die Reflexion über das Wesen des Theaters - sowie des Kunstwerkes -, die Frage nach der Objektivität der theaterwissenschaftlichen Forschung ebenso wie die Gedanken über For‐ schungsmethoden, Anwendung von Materialien, Feldforschung und direkte Partizipation der Forschenden. Entscheidend für die Auffassung einer Kunstforschung, die nicht nur For‐ schung über ein künstlerisches Objekt ist, sondern die durch und für die konkrete Kunstpraxis betrieben werden muss, ist zuallererst die Definition des spezifi‐ schen Wissensbereichs. Kutscher erklärte wiederholt, das Gebiet der neuen wis‐ senschaftlichen Disziplin umfange nicht nur das Drama, sondern auch Tanz, Schauspielkunst, Regie, Bühne, Dekoration, Technik sowie »Praxis und Gegen‐ wärtigkeit und Lebendigkeit« (1936: 192). Praxis ist in dieser Hinsicht eine Komponente des facettenreichen Forschungsgegenstands, der sich als Auffüh‐ rung schlechthin bestimmen lässt. Kutscher identifizierte nämlich die Auffüh‐ rung mit dem Zusammenwirken eines textlichen und eines darstellerischen Elements, die dem Publikum und den Darstellern »genügend Erlebensmöglich‐ keiten« biete (1936: 10). Als solche entspreche die Aufführung einem Kunst‐ werk - und zwar einem organischen Lebewesen, Stil und Ausdruck menschli‐ cher Existenz - und die theatralische Kunst einem Kulturfaktor. Kutschers Begriff von Aufführung und Theaterkunst hat in Wilhelm Diltheys Ästhetik seinen Ursprung, deswegen unterschied der Theaterprofessor im Theater zwei Bestandteile: das Universal, d. h. die menschliche Natur, und das Lebensgefühl der Gegenwart. Mit diesem Unterschied erklärte Kutscher die Tatsache, dass das Theater immer einen Prozess innerer Wandlung durchmacht, der sein Wesen nicht verändert, doch zeitgeschichtliche sowie gesellschaftliche Bedingtheiten Die Praxisdimension 15 <?page no="16"?> 1 Gerade in der ersten Auflage seines Fachbuchs der Theaterwissenschaft äußerte sich Kutscher diesbezüglich ganz deutlich: »Die Methode der Theaterwissenschaft kann nicht ohne die Praxis bestehen, die wir bereits eine Ergänzung der Geschichte nannten und die ganz besonders notwendig ist neben der Theorie.« (1936: 204). registriert. In dem aufgeführten Kunstwerk suchte die von Kutscher geförderte Theaterwissenschaft dann sowohl die Gegenwärtigkeit als auch den ewigen Geist; gleichfalls verfolgte sie in der Forschung bzw. im Lernprozess die direkte Erfahrung und die kritische Reflexion über jene Erfahrung. Praxis wurde somit auch als Element des Untersuchungsverfahrens betrachtet. Es sei erst die dy‐ namische, wechselseitige Beziehung zwischen Praxis und wissenschaftlicher Forschung, die zu einem komplexen System von Wissenserwerb und -vermitt‐ lung führe: Der Theaterforscher brauche einerseits einen umfassenden theore‐ tischen Apparat, der ihm eine gewisse Vertrautheit mit den Grundelementen des Theaters, inklusive der Technik, gewährt. Andererseits werde eine aktive Teilnahme an der gemeinsamen Praxis benötigt, um die aktuellen Fragen nach den besonderen Bedingungen, den Möglichkeiten und den Grenzen des Theaters überhaupt stellen zu können und zu behandeln. Die Beteiligung an der prakti‐ schen Ausführung wird hierdurch zum Korrelat der Analyse und Interpretation der Ausführungen selbst. Diesbezüglich gab Kutscher einen erschöpfenden Überblick über die Stratifizierung der theaterwissenschaftlichen Forschung: Er skizzierte einen Verlauf, in dem sich Historiografie, Stilkunde und Praxis ge‐ genseitig ergänzen. Die Theatergeschichte mache das Wandelbare und das Transitorische klar, obwohl die Quellen nicht immer sicher oder prüfbar sind; die Stilkunde zeige das Bleibende auf, das an den Menschen gebunden ist, und die Praxis veranschauliche die Beziehung zu den Realitäten des Theaters. Wäh‐ rend die Theatergeschichte also eine fast objektive Basis für die Kunstbetrach‐ tung garantiere, basiere die Stilkunde immer auf einem subjektiven Urteil. Artur Kutschers Anerkennung und Würdigung der Subjektivität innerhalb der thea‐ terwissenschaftlichen Untersuchung ist in der Frühphase der Disziplin eigent‐ lich außergewöhnlich. Das bedeutet aber nicht, dass Kutscher dem individuellen Charakter jeglicher Kunstbetrachtung und -bewertung freien Raum ließ. Er versuchte hingegen diese Neigung des Zuschauers und des Forschers einzu‐ dämmen: Er beschäftigte sich erstens damit, der ästhetischen Erfahrung eine begriffliche Terminologie und eine Grundsystematik zu geben, sodass die Stil‐ kunde als eine Wissenschaft wirken konnte. Zweitens konzentrierte er sich auf die Praxis, weil kreative Prozesse und subjektive Urteile erst zu neuem Wissen werden könnten, wenn sie von einer (sozialen) Praxis, d. h. von der aktiven Teilnahme an einer gemeinsamen, gesellschaftlichen Theaterproduktion und -rezeption eingerahmt würden. 1 Das Korrektiv der vermeintlichen Objektivität Teil I. Ausgangspunkte 16 <?page no="17"?> sowie der interpretierenden Subjektivität sei also die Vermittlung von Kunst und Leben, welcher eine umfassende Kenntnis der Elemente aller Stilbildung vo‐ rangeht: Persönlichkeit und Zeit, Gattung und Material. Um jede »Fachsim‐ pelei« zu vermeiden, bedürfe die Theaterwissenschaft einer Balance zwischen Materialität und subjektiver Bewertung, die ständig ausgehandelt werden muss (Kutscher 1960: 75). Die Theaterwissenschaft, wie alle lebendigen Wissen‐ schaften, wandele sich kontinuierlich und spezialisiere sich dem gegenwärtigen Empfinden entsprechend. Kutscher stellte damit die Fixierung der Bühnenkunst durch Artefakte und die Bereicherung des gegenwärtigen Theaters nebenei‐ nander. In diesem Zusammenhang gewann die Praxis gegenüber der Theorie an Bedeutung: Für Kutscher umfasste sie das Anschauen von Materialien - etwa Modelle, Diapositive und Lichtbilder - wie aber auch Theaterbesuche, Studien‐ fahrten, Übungen in praktischer Kritik, persönliche Fühlungnahme mit Thea‐ terleuten und eigene Aufführungen der Studierenden. Objekte und Medien halfen der theaterwissenschaftlichen Betrachtungsweise, aber nur als Prämisse einer konkreten Feldforschung. Alle Materialien konnten dem Forscher nützlich sein, ihm die abstrakte Idee einer bestimmten Form vom Theater oder einer Aufführung zu geben, aber für eine Wissenserzeugung reichten sie nicht aus. Die Verhältnisse in der Wirklichkeit waren dort zu untersuchen, wo das Theater aktiv betrieben wurde. Widersprechende Anschauungen aus den Büchern oder aus den Bildern können nämlich, so Kutschers wissenschaftliches Selbstver‐ ständnis, erst durch direkte Betrachtung und direkte Partizipation ersetzt werden. Es ist der Aktivismus, der das ältere, rein spekulative und lebensferne Wissenschaftskonzept von den Vertretern der jüngeren Wissenschaft trennt, die dem tätigen Leben und der gegenwärtigen sowie künftigen Kunst dienen soll. Die theaterwissenschaftliche Lehrtätigkeit sollte folglich Intellektuelle aus‐ bilden, die für stilkundliche, kulturgeschichtliche und zugleich soziale Fragen die Verantwortung übernehmen. Die Praxis - oder das dynamische Merkmal des theaterwissenschaftlichen Unterfangens - entfaltet sich dann in zwei Di‐ mensionen: in einer zeitlichen und in einer geografischen bzw. sozialen. Was die zeitlich-geschichtliche Dynamik der praxisorientierten Theaterwissenschaft betrifft, muss man Kutschers Suche nach dem Ursprung des Theaters und seine besondere Neigung zur volkstümlichen Theaterkunst betrachten. Beide hängen mit seinem Streben zusammen, einen wissenschaftlichen Mittelweg zwischen der stark wechselnden Gestaltung des lebendigen Theaters und dessen kunst‐ spezifischen, konstanten Faktoren zu finden. Die Notwendigkeit, zu den primi‐ tiven Ausdrucksformen der Bühnenkunst vorzudringen, führte Kutscher zur Beschäftigung mit Formen wie Bauerntheater und Laientheater, in denen er die Frühstufen der mimischen Kunst sah. Was hingegen die „soziale Landschaft“ der Die Praxisdimension 17 <?page no="18"?> 2 Siehe dazu auch Ignaz Gentges’ Darlegung zu Hans Knudsens Aufsatz „Die Aufgaben des Theaterwissenschaftlichen Universitäts-Institutes und seine Bedeutung für das le‐ bendige Theater“ (1924). 3 In Berlin postulierte Max Herrmann eine Verflechtung zwischen Geschichte und Praxis, welche der engen Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entspreche (1974: 352). Carl Niessen erklärte, die Aufgaben der theatergeschichtlichen Abteilung am deutschen Seminar der Universität Köln zerfallen in zwei Gruppen: »eine mehr geschichtlich-theoretische und eine Fachbildung mit praktischen Zielen« (1924: 141 f.). Albert Köster in Leipzig, hingegen, wollte seine Schüler nicht zu einem praktischen Bühnenberuf vorbereiten und lehnte somit die an anderen Universitäten vertretene Form des Praxisbezugs ab (Vgl. Kirschstein 2009: 93 f.). Münchner Theaterwissenschaft angeht, knüpfen die Mitglieder des Kut‐ scher-Kreises Weltbeziehungen, nicht nur um »geistige Brücken« zu schlagen (1960: 193), sondern auch, um lokale, sprich deutsche Erscheinungen durch die Wechselwirkung mit anderen ausländischen Kunstformen zu bereichern. Da‐ rüber hinaus ermöglicht das globale und interdisziplinäre Beziehungsgeflecht dem Theater ebenso wie der Wissenschaft vom Theater eine dichte Vernetzung, eine produktive intellektuelle Kooperation. Die Vorteile dieser Kooperation re‐ sultieren aus der prägenden Begegnung zwischen Anhänglichkeit an heimat‐ gebundenen Traditionen, Hochschätzung der deutschen Dichtung und Anre‐ gung zur Erneuerung lokaler Kunst einerseits, und Öffnung zur Transkulturalität des globalen Phänomens Theater andererseits. Durch die Be‐ teiligung aller Forscher an der gemeinsamen Arbeit und durch den Erfahrungs- und Wissensaustausch in der Theaterpraxis verwischen sich die Grenzen zwi‐ schen akademischer Wissenschaft und Praxis. Es gibt also keinen theatralischen Diskurs bzw. keinen Logos, der die Theaterpraxis beherrscht und vorstrukturiert, sondern eine wechselseitige Beeinflussung von Theorie und Praxis. Die Metho‐ dologie der von Kutscher angeregten Theaterwissenschaft vermittelt eine an‐ schauliche Vorstellung der geistig-sinnfälligen Struktur jeder praktischen Aus‐ führung 2 und anerkennt das direkte, konkrete Experimentieren ebenso wie die Anwendung künstlerischer Mittel in der Forschung überhaupt als wissenschaft‐ lich gültige Methodik. Darin unterscheidet sich die in München betriebene Theaterwissenschaft von anderen Entwicklungstendenzen der Disziplin, welche sich etwa in Berlin, Leipzig und Köln durchsetzen konnten. Auch wenn es stimmt, dass fast alle Bahnbrecher der Theaterwissenschaft die These vertraten, der Theoriediskurs sei parallel zum Praxisbezug zu entwickeln, 3 muss man jedoch Stefan Hulfeld (2007) und Corinna Kirschstein (2009) darin zustimmen, dass die neue Wissen‐ schaft des Theaters schon in ihrer Anfangsphase einen inneren Zwiespalt zwi‐ Teil I. Ausgangspunkte 18 <?page no="19"?> 4 Die Eröffnung der Germanistik zur Gegenwartsliteratur war noch um die Jahrhundert‐ wende in den Philologischen Fakultäten heftig umkämpft, weil die „neuere deutsche Literatur“ sowohl dem altphilologischen Arbeitsethos als auch dem Dogma der klassi‐ schen Ästhetik entgegenstand. Der Rekurs auf philologische Methoden war daher die einzige Möglichkeit, die Neugermanistik an den Universitäten zu etablieren. Hulfeld und Kirschstein stellen in ihren Studien deutlich fest, die theaterwissenschaftliche For‐ schung habe sich ähnlicher Legitimationsstrategien wie die Neugermanistik bedient. 5 Von Herrmanns Vortrag sind nur Berichte und Kommentare verfügbar. Im Folgenden sei auf die Mitteilungen der „Vereinigung künstlerischer Bühnenkunst“ in Die Scene (1917: 32) verwiesen. schen theatergeschichtlicher Forschung und erfahrungsnaher Praxis durchma‐ chen sollte. Der sogenannte „Geburtsfehler“ der Disziplin im deutschsprachigen Raum, d. h. die genannte Trennung von Historiographie und Praxis, habe seinen Grund in der Notwendigkeit, im Universitätssystem die Eigenständigkeit der Theaterwissenschaft zu legitimieren und genau deshalb die philologische Me‐ thodik anzuerkennen. 4 Die Bestrebung, sich auch mit der Praxis wissenschaft‐ lich zu beschäftigen, richte sich also nicht auf die Auseinandersetzung mit dem tatsächlich aufgeführten Theater oder mit ästhetischen Fragen der Gegenwart, sondern auf »technisch-organisatorische Faktoren des Theaterbetriebs wie The‐ aterrecht, -technik oder Regieübungen (auf einer Probebühne)« (Kirschstein 2009: 91). Erhellend ist hierzu der Vortrag, den Max Herrmann am 14. Januar 1917 vor den Mitgliedern der „Vereinigung künstlerischer Bühnenkunst“ hielt. 5 Dem Zweck dienend, die Bedeutung der Theatergeschichte - »im weiteren Sinne dann Theaterwissenschaft« - für die Theaterpraxis zu erklären, führte der Berliner Professor zwei anschauliche Beispiele an: Das erste betraf die Über‐ tragungsaufgabe des Regisseurs in jeder Aufführung, das zweite seine vielbe‐ rühmten Forschungen über die Hans-Sachs-Bühne. Der Spielleiter sei »gewis‐ sermaßen ein Übersetzer«, der oftmals ältere Dichter »in die Bühnensprache« der Gegenwart übertragen muss. Wenn der Regisseur damit ein Kunstwerk her‐ stellen will, müsse er sowohl die Theatersprache der Vergangenheit als auch die der Gegenwart beherrschen: Da kein Theater mit nur modernem Spielplan auskommen kann, sondern immer auf klassische Stücke zurückgegriffen werden muß, so wird der Spielleiter das jedesmalige innere Verhältnis des Dichters zur Bühne seiner Zeit kennen, geschichtlich erfassen müssen. […] Theatergeschichte […] ist für ihn ebensowenig überflüssig, wie seine Theaterbegabung notwendig. Man könne den Nutzen der Theatergeschichte anhand der Forschungen weiter beobachten, weil sie eine entscheidende Hilfe für die Regisseure leisten, die in ihren Inszenierungen den »Hans-Sachsischen Theatersinn« treffen wollen. Ob‐ Die Praxisdimension 19 <?page no="20"?> 6 Vgl. Münz 1998: 47-51. Stefan Corssen beweist allerdings, dass Herrmann noch 1925 davon überzeugt war, der Regisseur solle in jede Inszenierung die vermeintliche Auto‐ rintention übertragen (1998: 162 f.). Herrmann propagierte tatsächlich das Primat des Dramas über die Regiearbeit und setzte sich nie eingehend mit ästhetischen Regie‐ problemen auseinander. 7 Siehe Münz 1998: 44 f. u. 50. 8 Dafür sprechen nicht nur die Veröffentlichungen Max Herrmanns, sondern auch die Lehrveranstaltungen, die er vom WiSe 1891 / 92 bis zum SoSe 1933 an der Friedrich-Wil‐ helms-Universität Berlin anbot (siehe Hollender 2013: Anhang 1, 349-358), und die theatergeschichtlichen Schriften aus der sog. „Berliner theaterwissenschaftlichen Schule Max Herrmanns“ (vgl. Satori-Neumann 1925: 72-84). 9 Siehe dazu Knudsen 1950: 77 f. wohl solche Ansichten Max Herrmanns Neubestimmung seiner theaterwissen‐ schaftlichen Positionen nach 1920 nicht entsprechen, 6 zeigen sie immerhin eine Verengung des Konzepts Praxis innerhalb der Theatertheorie. Herrmanns Rück‐ griff auf den Praxisbegriff in seiner Darstellung der Aufgaben eines theaterwis‐ senschaftlichen Institutes scheint also weniger der aktiven Partizipation am ge‐ genwärtigen Theaterleben das Wort zu reden, als die Selbstständigkeit der Theaterwissenschaft zu behaupten, die darum ein eigenes Institut braucht: »[D]er Theaterhistoriker soll nicht alles das lernen brauchen, was der Germanist zu lernen hat. / Andererseits muß der Theaterwissenschaftler wieder das lernen, was der Germanist nicht zu lernen braucht«, und zwar muss er in der Lage sein, »alle technischen und künstlerischen Eindrücke« zu beurteilen, die nur von Theaterfachmännern unterrichtet werden können (1974: 353). In Max Herrmanns Vorstellung ist die Praxis - als ästhetischer Ausdruck und als Verwirklichung eines mehr oder minder idealen Theatermodells - vom his‐ torisch-akademischen Wissen beeinflusst, doch umgekehrt übt sie gar keinen Einfluss auf den Theoriediskurs aus. Mit Hulfelds Worten, die praktische Rele‐ vanz der neuen theaterwissenschaftlichen Erkenntnisse geht mit der Umsetzung der genetischen Methode verloren (2007: 280). Diesbezüglich sei es nur noch angemerkt, dass Herrmann anders als Kutscher die volkstümlichen Theater‐ formen sowie das Laientheater negativ bewertete, 7 weil sie zur Realisierung des gewünschten dichterischen Theaterideals nicht beitragen könnten, und dass er sich vorwiegend dem alten Theater widmete. 8 Ebenfalls überaus skeptisch äu‐ ßerte sich Carl Niessen gegenüber Dilettantenvereinen und Studentenbühnen, denn der Mangel an künstlerischen Ambitionen hätte die Theaterwissenschaft belasten können. 9 Der kulturgeschichtliche Blick des Theaterwissenschaftlers solle sich zwar den mimisch-spielerischen Theaterformen aller Völker hin‐ wenden, zugleich aber mit einem gewissen akademischen Abstand. Teil I. Ausgangspunkte 20 <?page no="21"?> Herrmanns und Niessens lediglich theoretische Berücksichtigung der Thea‐ terpraxis, die dann jedoch faktisch ignoriert wurde, fand einige Jahrzehnte später bei Heinz Kindermann und Hans Knudsen ihre Fortsetzung. Der Wiener Germanist Kindermann, der sich erst in den 1940er Jahren der Theaterwissen‐ schaft zuwandte, versuchte bis zum Ende des Krieges eine nationalsozialistische Traditionslinie von Goethe, Klopstock, Hebbel, Raimund bis hin zur Gegen‐ wart - eigentlich: Wagner - herzustellen, wobei der Forschungsfokus aus‐ schließlich auf der Theatergeschichtsschreibung lag. Die Praxis scheint auch später in Kindermanns Auffassung der Theaterwissenschaft keine Rolle zu spielen, da er in seinen Aufgaben und Grenzen der Theaterwissenschaft (1953) den Praxisbezug der Disziplin überhaupt nicht erwähnte. Hans Knudsens »Blick auf die Praxis« verriet seinerseits einen schon bekannten Ansatz: Die »rein thea‐ terwissenschaftliche Ausbildung« an der Universität muss »durch Vermittlung auch der praktischen Lösungen, soweit so etwas lehrbar ist« ergänzt werden (1951: 16 f.). »Immer wieder: Begabung für das Theater ist die Voraussetzung alles dessen, was wir hier aussprechen […]. Wir setzen jenes Maß künstlerischer, schöpferischer Fruchtbarkeit für das Theater voraus, das man in der Theater‐ wissenschaft unter allen Umständen haben muß«. Nach dieser generellen Fest‐ legung erklärte Knudsen näher: »Dieser Vorbereitung für die Praxis, für das lebendige Theater, dienen die Vorlesung und Übungen zur Regie« (17) - mit derartigen Lehrveranstaltungen war der Praxisbezug der Theaterwissenschaft erschöpft. Wenn man das ganze erörterte Spektrum theaterwissenschaftlicher Positi‐ onen berücksichtigt, dann kann man Marvin Carlson nicht zustimmen, der in Anlehnung an Erika Fischer-Lichtes Interpretation von Max Herrmanns Kon‐ zept der Theaterwissenschaft feststellt, die im deutschsprachigen Raum geför‐ derte Disziplin habe nie an der Spannung zwischen Theater und Performance bzw. Praxis gelitten, welche in den USA deutlich gespürt wurde und noch heute gespürt wird (Carlson 2008: 4). Die Spuren dieser Spannung waren in den ersten fünfzig Jahren der deutschen theaterwissenschaftlichen Forschung eigentlich beseitigt, denn die eingehende Untersuchung der sogenannten „Wissensver‐ körperung“ und der Praxis sowie die Erforschung eines Wissensgebietes, das nur durch die ständige Berührung mit anderen Feldern und durch die unmit‐ telbare, sinnliche Erfahrung das theatrale Phänomen erfassen kann, hätte die Etablierung der Disziplin an den Hochschulen verhindert. In Berlin, Leipzig, Köln und Wien sowie an kleineren Instituten für Theaterwissenschaft lag die praxisbezogene Lehre oder das praxisbezogene Lernen nur in programmati‐ schen Reden und Schriften vor. Außer Regieübungen, gelegentlichen Exkursi‐ Die Praxisdimension 21 <?page no="22"?> onen und der Sammlungstätigkeit fand die Theaterpraxis keinen Zugang zum Universitätssystem. Wissenstheorie Die strenge Unterscheidung zwischen intellektuellem Wissen und praktischer Vernunft wurden erkenntnistheoretisch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun‐ derts stufenweise aufgegeben. Nach der bahnbrechenden Arbeit von Gilbert Ryle auf dem Gebiet der Philosophie des Geistes (The Concept of Mind, 1949), in welcher der Philosoph zwei komplementäre Bestandteile des Wissens erkannte und die Begriffe knowing-what als deklaratives Wissen und knowing-how als prozedurales Wissen bzw. Fertigkeit, soziale Expertise prägte, muss die Lehre von Michael Polanyi erwähnt werden. Aufschlussreich ist in The tacit dimen‐ sion, dass sich Polanyi auf Dilthey und Lipps beruft, um in der Philosophiege‐ schichte die ersten Schritte zur Anerkennung und Beschreibung des so ge‐ nannten taciten Wissens zu finden (Polanyi 1967: 16 f.). Mit „tacitem“ oder implizitem Wissen meinte Polanyi ein gesellschaftlich vermitteltes Wissen in‐ tuitiver Art, welches immer subjekt- und kontextbezogen bleibt und nicht sprachlich artikulierbar ist - d. h. auch kaum reproduzierbar. Es bilde den kom‐ plementären Pol zum expliziten Wissen, welches kognitive Wahrnehmungen, abstrakte Repräsentationen, Theorien und Modelle umfasst. Wilhelm Diltheys Erlebnis ebenso wie Theodor Lipps’ Einfühlung traten sonach als erste Versuche hervor, das zu interpretieren, was Menschen tatsächlich wissen, doch in Worten nicht ausdrücken können. Schon am Anfang des sog. „Zeitalters der Extreme“ hätten Geisteswissenschaftler versucht, das erworbene Erfahrungswissen mit einem theoretischen Wissen zu verbinden. Polanyi stellte aber zum ersten Mal deutlich fest, dass implizites Wissen nicht den Geisteswissenschaften allein an‐ gehört, sondern jedem wissenschaftlichen Wissen: [A] true knowledge of a theory can be constructed only after it has been interiorized and extensively used to interpret experience. Therefore: a mathematical theory can be constructed only by relying on prior tacit knowing and can function as a theory only within an act of tacit knowing, which consists in our attending from it to the previously established experience on which it bears. (1967: 20) Tacites Wissen sei demzufolge ein unentbehrlicher Bestandteil des menschli‐ chen Lernprozesses, der zur Modell- und Theorieentwicklung beitrage, weil er jeder Erkenntnis oder Entdeckung zugrunde liege: Wissenschaftliches Wissen gleiche insoweit dem Wissen einer sich nähernden Entdeckung, die Menschen dank ihres impliziten Wissens vorhersehen. Dies bedeutet fernerhin, dass jede Teil I. Ausgangspunkte 22 <?page no="23"?> Entdeckung mit einem subjektiven Engagement gekoppelt ist, was jedes posi‐ tivistische Ideal der Objektivität in der Forschung zerstört (25). Durch die Ein‐ fühlung in das Forschungsobjekt schließt der Mensch die Einzelheiten einer Struktur oder eines Phänomens zu einem übergeordneten Ganzen unmittelbar zusammen, ohne die einzelnen am Prozess beteiligten Details kognitiv wahrzu‐ nehmen. Das implizite Wissen artikuliere sich demnach im Handeln, im Können. Implizites und explizites Wissen sind folglich nach Polanyi parallele Dimensi‐ onen des Wissenserwerbs, die erkenntnistheoretisch gleichwertig sind - auch wenn der Fokus mehr auf dem „stillschweigenden“ Wissen liegt. Polanyi schuf somit den ersten umfassenden praktischen Wissensbegriff, in dem Handeln und kritische Reflektion einander ergänzen. Der Kunsttheoretiker Carr beschrieb Jahre später das praktische Wissen »as a matter of some interplay between phronesis and techne« (1999: 244), wobei er die aristotelische phronesis zur Basis der Beziehung zwischen ästhetischer Empfindung und künstlerischem Wissen machte. Die phronesis beruhe auf erfahrungsbasierten praktischen Prinzipien, welche menschliche Empfindlichkeiten - oder Prädispositionen - pflegen und entwickeln. Sie sei ein Modus des praktischen erfahrungsbasierten Weltwissens, das sich nicht durch theoretische Aussagen oder Thesen ausdrücken lasse, son‐ dern durch eine gewisse Organisation der Erfahrung im Einklang mit einer be‐ stimmten Anschauung oder Idealvorstellung von Schönheit, Form oder Aus‐ druck (254). Das ästhetische Wissen wurde hierdurch zu einer Form des praktischen Wissens. Ein letzter Versuch zur Versöhnung der zwei Erkenntnismodi, d. h. zwischen dem Objektivismus realistischer sowie materialistischer Prägung und dem ide‐ alistischen Subjektivismus, wurde in der Sozialwissenschaft von Pierre Bourdieu unternommen. Er plädierte nämlich für eine praxeologische Erkenntnisweise, welche die regulierende Logik des praktischen Wissens, das auf der Primärer‐ fahrung der Subjekten beruhe, und die Eigenlogik des theoretisch-wissenschaft‐ lichen Erkenntnismodus, das hingegen einen konstruktivistischen Charakter aufweise, kombinieren könnte. Erst diese neue Erkenntnisform sei in der Lage, die Welt zu erfassen (2001: 174). Deswegen entwickelte Bourdieu seine nach der Forschungspraxis orientierte Habitustheorie. Mit dem Begriff Habitus ver‐ knüpfte er ein dauerhaft wirksames System von unauflöslich miteinander ver‐ wobenen, (vor)strukturierten Dispositionen, welche das Subjekt dazu bringen, in einer bestimmten Weise zu agieren: Sie bilden also den praktischen Sinn, befähigen die Menschen, an der sozialen Praxis teilzunehmen und diese zugleich hervorzubringen. Solche Dispositionen werden während der Sozialisation er‐ worben, d. h. als Ergebnis der Inkorporierung gesellschaftlicher Strukturen. Der Habitus generiert Praktiken, wiederkehrende Sozialhandlungen, die ihrerseits Die Praxisdimension 23 <?page no="24"?> 10 Hierzu sei es angemerkt, dass Bourdieu auch andere Erzeugungsprinzipien von Prak‐ tiken erkennt, die unabhängig vom Habitus sind, wie etwa das rationale Kalkül oder die Befolgung ausdrücklicher Normen. Immer wenn die Strukturen des sozialen Feldes mit dem inkorporierten Habitus in Konflikt geraten, kann der Habitus die individuellen Praktiken nicht mehr orientieren. Dieser Zustand stellt sich typischerweise in Krisen‐ situationen ein, die sogar zu Revolutionen führen können. gesellschaftliche Regelmäßigkeiten bzw. Strukturen konstituieren. Diese werden vom Subjekt verinnerlicht, in einer Wechselbeziehung, in der der Ha‐ bitus die Strukturen (re)produziert und die Strukturen den Habitus. Der Habitus wirkt demzufolge als Vermittler zwischen den externen materiellen, kulturellen und gesellschaftlichen Existenzbedingungen - oder den objektiven Strukturen des sozialen Feldes - und den von einzelnen Akteuren ausgeführten Praktiken, die mit ihrer persönlichen Wahrnehmung und Anschauung in die Umwelt ver‐ flochten sind. Daraus folgt, dass der Habitus dem Subjekt die Grenzen möglicher Praktiken zur Verfügung stellt, dass das agierende Subjekt nicht vollständig de‐ terminiert ist. 10 Der Habitus wirkt als »Erzeugungsmodus der Praxisformen« (1987: 136), nicht als Erzeugungsmodus einzelner Praktiken. Besonders wichtig für die Kunstpraxis und -forschung scheint allerdings die Tatsache zu sein, dass die von Bourdieu theorisierte Verinnerlichung von äußerlichen Existenzbedin‐ gungen weniger durch die Sprache hindurch geschieht, als vielmehr auf Kör‐ perebene: Die soziale Ordnung wird verkörpert, inkorporiert, einverleibt. Sprache und Leib haben beide die Aufgabe, praktische Erfahrungen, Fakten oder Normen zu speichern, wobei sie als treibende Kräfte für die Herausbildung so‐ zialer Praxen fungieren - sie sind sowohl Speicher als auch Träger (1987: 127). Doch ist die praktische Erkenntnis eher an den Körper gebunden, weil sich die Menschen der Eigenschaften ihres eigenen Habitus nicht bewusst sind und in ihrem praktischen Handeln von einer vorbewussten, vorreflexiven Kraft ge‐ trieben werden. Der Körper ist ein »Gedächtnis« (1976: 199), das Regungen, Bewegungen oder Handlungen nicht nur ausführt, sondern auch bestimmt. Die Körperlichkeit bestimme die Praxis sowohl im Hinblick auf die Bildung des kör‐ perlich verankerten Habitus als auch im Hinblick auf dessen Anwendung: »Ein‐ zelne Körperbewegungen bilden die kleinste Einheit jeglicher Praxis. Da sowohl Körper als auch soziale und materielle Welt formbar sind, können sie intensiv miteinander verschränkt sein« (Fröhlich / Rehbein 2009: 201). Auf diese Weise hat jede menschliche Bewegung nicht nur einen sozialen, sondern auch einen individuellen Aspekt; das Äußere wird immer von Menschen in mentalen Re‐ präsentationen verinnerlicht bzw. inkorporiert. Als Folge einer solchen Aner‐ kennung forderte Bourdieu eine neue Wissenschaft, welche auch die Körper‐ lichkeit der Akteure berücksichtigt: Teil I. Ausgangspunkte 24 <?page no="25"?> 11 Eine zusammenfassende Übersicht über die Entwicklung der „deutschen“ Theaterwis‐ senschaft in den 1970er und 1980er Jahren liefert Fischer-Lichte 1994: 19-21. Im Gegensatz zu den scholastischen Welten verlangen bestimmte Universen wie die des Sports, der Musik oder des Tanzes ein praktisches Mitwirken des Körpers und somit die Mobilisierung einer körperlichen Intelligenz, die eine Veränderung, ja Um‐ kehrung der gültigen Hierarchien herbeiführen kann. Man sollte die hier und da, vor allem in der Didaktik dieser Körperpraktiken - des Sports natürlich und insbesondere der Kampfsportarten, aber auch des Theaterspielens und des Musizierens - ver‐ streuten Notizen und Beobachtungen einmal methodisch zusammenstellen; sie würden wertvolle Beiträge zu einer Wissenschaft dieser Erkenntnisform liefern. (Bourdieu 2001: 185) Diese Wissenschaft habe also die Funktion, die Wissensbestände und -inhalte aus dem jeweiligen sozialen Feld mit denen aus der direkten körperlichen Er‐ fahrung zu ergänzen. Das bedeutet außerdem, dass das Subjekt die soziale Welt erkennen kann, auch wenn es keine objektivierende Distanz zu den Wissens‐ objekten hat; um eine systematische, sprich wissenschaftliche, Analyse seiner Handlungspraxis durchzuführen, braucht es aber eine kritische (Selbst)Refle‐ xion. Die Reflexivität in der Theorie Bourdieus dringt darauf, »die theoretische Beobachterposition zur zu beobachtenden Praxis zu machen« (Fröhlich / Reh‐ bein 2009: 203 f.). Die Verwandlung vom unbewussten Sinnvollen der Praxis in das bewusste, reflexive Sinnvolle der theoretischen Wissenschaft muss sich daher auch in der Kunstforschung vollziehen. Die Theaterwissenschaft zwischen Theorie und Praxis Schon in den 1970er Jahren hatte eine vielstimmige Methodendiskussion in der Theaterwissenschaft eingesetzt, welche sich aber mehr auf die semiotische Wende in der Aufführungsanalyse konzentrierte und die theaterwissenschaft‐ liche Verflechtung zwischen Theorie und Praxis kaum betrachtete. Im folgenden Jahrzehnt konnte die Theaterpraxis das Interesse der an den deutschen Hoch‐ schulen etablierten Disziplin wecken: 1982 wurde das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen gegründet, das unter der Leitung von Andrzej Wirth die theatertheoretische Forschung zusammen mit dem Stu‐ dium der theatralen Praxis pflegte. Das Ende der 1980er Jahre fällt außerdem mit der Hinwendung der Theaterwissenschaft zu den Paradigmen Theatralität und Performativität zusammen, was eine Neubestimmung der Forschungsstra‐ tegien und des Fachbereiches nötig machte. 11 In dieser Phase der wissenschaft‐ lichen Re-Konzeptualisierung erlangten der Körper sowie der performative Er‐ Die Praxisdimension 25 <?page no="26"?> 12 Die Debatte begann 1989 mit der Feststellung seitens des englischen CNAA (Council for National Academic Awards), auch kreative Praxis - also eine nicht unbedingt mit wissenschaftlichen Spekulationen verbundene Praxis - könne ein legitimiertes Sujet für Promotionsarbeiten sein. Der erste Schritt zur Anerkennung der Praxis als For‐ schung ist dann auf 1992 datierbar, als das britische Instrument zur Evaluation der Forschung an Hochschulen RAE (Research Assessment Exercise) die ersten Angaben dazu lieferte, wie man praxisbasierte Forschungen einreichen konnte. Bemerkenswer‐ terweise sind die Bereiche Bildende Kunst und Design die ersten, die an der Diskussion um die praxisbasierte Forschung teilnahmen. Erst im neuen Jahrtausend fingen auch Theater, Tanz, Film, Neue Medien und Musik an, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. zeugungsprozess der Identität große Bedeutung, so dass sich die »Wissenschaft von der Aufführung« (Fischer-Lichte 2005: 351) endlich als produktive Ver‐ kopplung von Semiotizität und Theatralität verstehen konnte. Die Entwicklung der Disziplin in dieser Richtung setze sich dabei relativ stabil fort und der Mit‐ telpunkt des Forschungsinteresses »shifted to the processes of making, produ‐ cing, creating, doing, and to the actions, processes of exchange, negotiation, and transformation as well as to the dynamics which constitute the agents of these processes, the materials they use and the cultural events they produce« (Fi‐ scher-Lichte 1999: 168). Im Bereich der creative and performing arts und der gegenwärtigen Theater‐ wissenschaft ist die Debatte über die epistemologische Bedeutung des Zusam‐ menhangs von wissenschaftlicher Forschung mit künstlerischer Praxis ab den 1990er Jahren immer lebhafter geworden. 12 Der Begriff Praxis wurde dann von den neuen Konzepten „research as cultural practice“ und „practice as research“ maßgeblich geprägt. Praxis ist, so definiert Robin Nelson, »theory imbricated within practice«, und zwar eine Untersuchungsmethode, die an der Schwelle zwischen Rationalität und verkörpertem Wissen operiert (2006: 108). Zugleich ist Praxis ein (Selbst)Verständnismodell, welches unreflektierte, spontane, kre‐ ative Prozesse durch das Zusammenwirken von unterschiedlichen Fachleuten sowie Künstlern in einem transdisziplinären Kontext erklärt und interpretiert. An erster Stelle profiliert sich also die Forschungsarbeit als eine kulturelle Praxis, welche rein akademische Bestrebungen überwindet und andere kulturelle Praktiken überschneidet. Gerade diese Überschneidung bildet das Hauptmerkmal jeder Untersuchung, die weit über die Grenzen einzelner Dis‐ ziplinfelder hinaus geht. Die Forschung ist selbst eine hybride Kulturtätigkeit, weil sie verschiedene Wissenssegmente und Tätigkeiten, die ihrerseits mit an‐ deren soziokulturellen Kenntnissen verkettet sind, zu einem Netz zusammen‐ fasst. Die Besonderheit von „research as cultural practice“ liegt demnach in seiner gesellschaftlichen und kulturellen Einbettung: Das dabei ermittelte Wissen ist nicht absolut, abstrakt, unmarkiert oder delokalisiert, sondern par‐ Teil I. Ausgangspunkte 26 <?page no="27"?> tiell, konkret, verkörpert und verortet - kurzum: situiert. Erst durch die Ver‐ körperung des Wissens, durch die Kontextbedingtheit aller Forschung ebenso wie jedes Untersuchungsprozesses kann die Forschung zu einer generativen Matrix werden. Bezeichnenderweise wird die Reflexion über „research as cul‐ tural practice“ von Wolmark und Gates-Stuart (2002) an Donna Haraways’ Kon‐ zept des situierten Wissens angeschlossen. Die amerikanische Forscherin hatte Ende der 1980er Jahre im Bereich der feministischen Wissenschaftskritik ihr Plädoyer für eine verkörperte Objektivität und eine kritische Positionierung, eine bewusste Infragestellung des Wissens formuliert. Der naiv gläubigen, vom Sozialkonstruktivismus und von einigen Postmodernisten verbreiteten Darstel‐ lung einer „wirklichen“, völlig kodierten Welt und einer „objektiven“ Wissen‐ schaft, die man erst betreiben kann, wenn man eine entkörperte Perspektive von außen, eine Perspektive von oben herab einnimmt, setzte Haraway eine »femi‐ nistische Objektivität« entgegen, welche zeitlich, gesellschaftlich, örtlich und geschlechtlich markierten Feldern des Wissens entspreche: »[O]nly partial per‐ spective promises objective vision. […] Feminist objectivity is about limited lo‐ cation and situated knowledge, not about transcendence and splitting of subject and object. It allows us to become answerable for what we learn how to see« (1988: 583). Als einzig mögliche Alternative zum Relativismus sowie zur Tota‐ lisierung des unmarkierten Blicks betrachtete Donna Haraway die partielle, si‐ tuierte und kritische wissenschaftliche Perspektive, die allein ein Geflecht von Verbindungen gestatte. Die Positionierung sei also das entscheidende wissens‐ begründende Vorgehen: I am arguing for politics and epistemologies of location, positioning, and situating, where partiality and not universality is the condition of being heard to make rational knowledge claims. These are claims on people’s lives. I’m arguing for the view from a body, always a complex, contradictory, structuring, and structured body, versus the view from above, from nowhere, from simplicity. (589) Die traditionelle Epistemologie stütze sich auf eine Art Gottesstandpunkt, was die Rolle des wissenserzeugenden Subjekts außer Acht lasse. Da aber das Wissen von Menschen erzeugt ist und da jeder Mensch situiert ist, müssen alle Dimen‐ sionen der Einbettung in der Umwelt zum Bestandteil des epistemologischen Kontexts werden. Die kontextuelle Betrachtungsweise erlaubt fernerhin, das allgemeine Wissensgut jedes Mal erneut nachzuprüfen, zu interpretieren und letztlich zu übertragen. Das dadurch ausgehandelte Wissen bestehe dann aus einer Vielfalt von Sichtweisen, Standpunkten, sozialen Beziehungen und kul‐ turellen Praktiken, die immer vom Individuum und dessen Umfeld geprägt ist: »Knowledge bears marks of its producer« (Paraviainen 2002: 12). In diesem Die Praxisdimension 27 <?page no="28"?> 13 Wolmark und Gates-Stuart (2002) äußern sich diesbezüglich wie folgt: »The researcher becomes a participant rather than assuming the impossible perspective of an omniscient and detached seeker of truth«. 14 Vgl. Schneider und Wright 2010: 10-13. 15 Siehe dazu Paraviainen 2002: 15. Forschungs- und Lernprozess sind sowohl das Subjekt als auch das Objekt des Wissens Akteure, Agenten: Das untersuchte Objekt sei also handlungsfähig. Die Wissenschaft hänge daher nicht von einer „Logik der Entdeckung“ ab, d. h. von der Leistung eines Meisters, der Objekte dekodierert, die einfach still darauf warteten, gelesen zu werden, sondern von »a power-charged social relation of „conversation“« (Haraway 1988: 593). In dieser Beziehung findet immer eine Aushandlung statt - eine Aushandlung von Wissensbeständen und -erwerb sowie von Praktiken. Aktive Subjekte in der Forschungsarbeit seien sowohl die Forscher als auch die erforschte Welt. Der Forscher wird somit zum Teilnehmer am Wissensprozess, der das allgemeine Wissensgut aufzeigt und zugleich er‐ weitert. 13 Seine Forschungsarbeit bleibt innerhalb des soziokulturellen Bezie‐ hungsgewebes ständig verkörpert und das erworbene Wissen ist demzufolge nicht präskriptiv: Kulturelle Hybridität, Netzwerke unterschiedlicher Position‐ ierungen, Zusammenwirkung von Medien und Wissensbereichen, unberechen‐ bare Ergebnisse sind im Forschungsprozess nicht fehl am Platz, sondern Grund‐ steine der gemeinsamen Praxis. Die situierte Perspektive und die gemeinsame Praxis befähigen die Individuen, das ausgehandelte Wissen in einer dynami‐ schen Umwelt zu nutzen und zu bereichern. Transdisziplinäre Arbeitsweisen, transkulturelle Verbindungen, Experimente als wissenserzeugende Praktiken bringen Wissenschaftler und Künstler immer näher zueinander: Wissen‐ schaftler erzeugen Wissen, indem sie andauernd durch die konkrete Partizipa‐ tion an ihrem Umfeld, durch ihre vielfältigen Beziehungen Kenntnisse er‐ werben, sammeln und markieren. Aus ihrer Position heraus positionieren sich die Künstler in der performativen Praxis als Forscher unter der Bedingung, dass sie eine »critical meta-practice« ausüben (Melrose 2002). Der practitioner muss, anders gesagt, sowohl die Konventionen seiner eigenen Aktivität und Disziplin berücksichtigen als auch einige von ihm angewandte Praktiken infrage stellen. Als aktiver Untersuchungsprozess verkörpert der kreative Schaffensprozess selbst das Wissen, das der Künstler durch seine Arbeit erworben hat und das er in einer erfassbaren Form ausdrückt. 14 Künstler und deren Kunst werden zu Wissenssubjekten, insofern die Praktiker den subjektiven Prozess verstehen, durch den sie Wissen erzeugen und verwenden. 15 Wissensobjekte stellen nur Gegenstände dar, über die man Untersuchungen vornimmt und dadurch Wissen erweitert; dagegen sind Wissenssubjekte »subjects both in the sense of being Teil I. Ausgangspunkte 28 <?page no="29"?> 16 Die lexikalische Trennung zwischen PBR und PAR erläutert u. a. Baz Kershaw: »I take practice-based research to refer to research through live performance practice, to deter‐ mine how and what it may be contributing in the way of new knowledge or insights in fields other than performance. […] By practice-as-research I refer to research into per‐ formance practice, to determine how that practice may be developing new insights into or knowledge about the forms, genres, uses, etc., of performance itself, for example with regard to their relevance to broader social and / or cultural processes.« (2002: 138) (Herv. im Originaltext). Da aber die Grenze zwischen den Termini höchst fließend ist und da die Fokussierung nichtsdestotrotz immer auf Praxis als Forschung liegt, werden die Begriffe „praxisbasierte Forschung“ und „praxisorientierte Forschung“ im Folgenden als Synonyme verwendet. 17 Die Geschichte dieses Legitimationsverfahrens skizziert Nelson 2013: 11-17. subject to and shaped by the social forces constituting particular forms of know‐ ledge, and in the sense of intentionally creating and using new forms of know‐ ledge to transform those social forces« (Crowley/ Himmelweit 1992: 1). Das Forschungsverfahren durch die Praxis hindurch ist unter dem Namen „practice-based research“ ( PBR ) bekannt, während der Begriff „practice-as-re‐ search“ ( PAR ) eine gründliche Untersuchung zur performativen Praktik be‐ zeichnet. 16 Die Verwandtschaft beider Namen und Forschungsmethoden ver‐ weist natürlich auf ihre gegenseitige Abhängigkeit: Erst die Verbindung beider Ansätze kann kognitive und ästhetische Bereiche in Kontakt bringen und neues Wissen produzieren. Angela Piccini formuliert eine Definition von „prac‐ tice-as-research“, welche die zwei wissenschaftlichen Perspektiven umfasst: It is perhaps more useful to think of practice as research as formalizing an institutional acceptance of performance practices and processes as arenas in which knowledges might be opened. Practice as research acknowledges fundamental epistemological issues that can only be addressed in and through practice […]. (2002: 2) Künstlerische, kreative Tätigkeiten und die wissenschaftliche Reflexion finden in PAR eine Balance: Praxis im Sinne eines hybridisierten, dynamischen und situierten Forschungsprozesses bedeutet mithin Wissenserzeugung und zu‐ gleich Wissensaustausch, weil sie die inneren Vorgänge, die Instrumente, die soziale Einbettung einer Kunstpraxis aufzeigt und ständig neu bestimmt. Sie produziert und vermittelt Wissen. Akademische Institutionen konnten folglich die Funktion nicht mehr ignorieren, welche die kontextuelle, praxisorientierte Kunstforschung für den Lern- und Wissensprozess hat: Von Beginn der 1990er Jahre an haben zuerst britische, dann australische, skandinavische und US -ame‐ rikanische Hochschulen die Gültigkeit praxisbasierter Forschungsprojekte an‐ erkannt. 17 Die Legitimierung dieser Form des verkörperten Wissens stellt aller‐ dings eine doppelte Herausforderung an das akademische Wissenssystem des Die Praxisdimension 29 <?page no="30"?> Abendlandes dar: Zum einen verliert der Geist, der menschliche Verstand seine Bedeutung als einziger locus der sicheren Kenntnis, weil der Körper zum gleich‐ berechtigten Mittel des Wissens wird; zum anderen werden das geschriebene Wort und die Publikation als einzig anerkannte Methoden hinterfragt, die Er‐ gebnisse einer Forschungsarbeit zu speichern und zu verbreiten. Was die pra‐ xisorientierte Kunstforschung darüber hinaus in Frage stellt, ist der Auftrag an die Forschung, unbedingt zu festen Ergebnissen zu führen. Jede performative Praktik ist in die aktuellen Fragen derart eingespannt, dass sie einen fundamen‐ talen Beitrag dazu leistet, die Strukturen und Abläufe der Gegenwart zu inter‐ pretieren. Die »immanente und performative Perspektive« dieser Art von Kunstforschung bringt aber ein offensichtliches Paradox für die etablierte wis‐ senschaftliche Forschung mit sich: Es handelt sich um eine Untersuchung, »die nicht von einer Trennung zwischen Subjekt und Objekt ausgeht und folglich keine Distanz des Forschenden zur Kunstpraxis voraussetzt. Stattdessen ist die künstlerische Praxis ein wesentlicher Bestandteil sowohl des Forschungs‐ prozesses als auch der Forschungsergebnisse« (Borgdorff 2009: 30). Der practi‐ tioner ist derjenige Wissenschaftler, der aus seiner pragmatischen Perspektive die Probleme identifiziert, die in der Praxis selbst entstanden sind, und der dafür Lösungen sucht, die ihrerseits von der Praxis geprägt sind. In einer von Prakti‐ kern-Wissenschaftlern betriebenen Forschung werden Aspekte wie Subjekti‐ vität, Selbstreflexivität und Interaktion mit Forschungsmaterialien zur Kenntnis genommen und Wissen ergibt sich als ausgehandelt, kontextbezogen und in‐ tersubjektiv. Henk Borgdorff erklärt diesen Ansatz näher, indem er die Über‐ einstimmung von Theorie und Praxis in der Kunst ins Gedächtnis ruft: Die di‐ rekte Interdependenz von Konzepten, Denk- und Interpretationssystemen, Erfahrungen und Auffassungen in Kunstpraktiken findet in PAR ihr Pendant, denn diese Kunstforschung versucht, »einen Teil dieses im kreativen Prozess oder im Kunstobjekt enthaltenen Wissens zu artikulieren« (Ebd.). Das Ziel der praxisbasierten Forschung unterscheidet sich also nicht prinzipiell von dem der akademischen Forschung, weil sie immer einen Wissens- und Erkenntnisge‐ winn in verschiedenen Bereichen des menschlichen Lebens anstrebt. PAR geht jedoch ein antipodisches Verhältnis zum Logozentrismus der Forschung im Universitätsbereich ein: Der Versuch zur Legitimierung der Praxis an Hoch‐ schulen kollidiert einerseits mit dem Konzept des wissenschaftlichen Wertes der Forschung und andererseits mit dem Dokumentationsbedarf. Der traditionelle Forschungsbegriff ist von bestimmten akademischen Standards, Gebräuchen und Protokollen geprägt, welche am Ende zu einem schriftlichen Text zusam‐ menfließen. Der Wert einer Forschungsarbeit lässt sich anhand der Originalität des Beitrags zum kollektiven Wissen sowie anhand der Beweisbarkeit der For‐ Teil I. Ausgangspunkte 30 <?page no="31"?> 18 In Donald A. Schöns Worten, »[w]hen someone reflects-in-action, he becomes a re‐ searcher in the practice context. He is not dependent on the categories of established theory and technique, but constructs a new theory of the unique case. […] The dilemma of rigor or relevance may be dissolved if we can develop an epistemology of practice which places technical problem solving within a broader context of reflective inquiry, and links the art of practice in uncertainty and uniqueness to the scientist’s art of re‐ search«. (1983: 68 f.). schungsergebnisse durch ein kohärent angewandtes theoretisch-methodologi‐ sches Instrumentarium abschätzen. Im Falle von praxisbasierten Untersu‐ chungen gelten jedoch andere Gesetze, die die Kunstforschung leiten, weil die Infragestellung der Forschungsprozesse, das Hervorbringen von unerklärtem, nicht-begrifflichem Wissen und die bewusste Reflektion über schon etablierte Kunstpraxen hier viel wichtiger als empirisch überprüfbare Ergebnisse sind. Implizites Wissen und reflektierende Praxis / Reflexion bilden tatsächlich den Fokus von zwei für die Diskussion um PAR bedeutenden Theorien, die zu einer neuen Epistemologie der Praxis beigetragen haben. Die erste ist die bereits er‐ wähnte Position von Michael Polanyi, während sich die zweite in Donald Alan Schöns Werk The Reflective Practitioner artikuliert. 1983 hat Schön den Begriff „reflective practice“ eingeführt, welcher den Zusammenhang von Wissen und Handeln in der Tätigkeit von Praktikern zu verdeutlichen versucht und nach einer neuen, auf der Praxis basierenden Verschmelzung von Kunst und akade‐ mischer Lehre strebt. Von unterschiedlichen Fallstudien ausgehend stellt Schön fest, dass die Art und Weise, wie Praktiker Aufgaben stellen und Probleme lösen, von einem impliziten personalen Wissen abhängt, das oftmals nicht ausgespro‐ chen ist und das auf die in der Praxis gelernte Improvisationsfähigkeit setzt. Doch diese statische Wissensform sei nicht in der Lage, mehr Wissen im Pra‐ xisfeld zu konstruieren, weil Praktiker die Instrumente für die Artikulation ihres intuitiven, im Handeln inhärenten Wissens und folglich für die Wissensver‐ mittlung nicht beherrschen. Der Bereich der Praxis bleibt hier von dem der wis‐ senschaftlichen Untersuchung getrennt. Unter bestimmten Umständen können sich Praktiker allerdings auf eine „reflektierende Praxis“ konzentrieren, welche die Beziehung zwischen Praxis und Forschung wiederherstellt. Der natürliche Austausch zwischen diesen Bereichen wird durch die „Reflexion im Handeln“, d. h. das Reflektieren über das Handeln während des Handelns selbst, und die „Reflexion über das Handeln“, d. h. eine rückschauende Reflexion über die ab‐ geschlossene Handlung, implementiert. Der Praktiker wird zum Erforscher seiner eigenen Praxis, wenn er über sein eigenes Wissen in der Praxis reflek‐ tiert - mitten in der kreativen Handlung wie auch danach. 18 Christopher Crouchs Kritik an Schöns reflektierender Praxis (2007) gipfelt aber in der Fest‐ Die Praxisdimension 31 <?page no="32"?> stellung, Reflection sei ein Prozess, durch welchen sich das Individuum an einem schon vorhandenen Wissensbestand beteilige, ohne sich zu fragen, wie und in‐ wiefern er seine Forschung beeinflusst und was letztendlich als Forschung an‐ genommen wird. Crouch plädiert stattdessen für die Wichtigkeit von reflexive practitioners, die sich kritisch mit ihren kreativen Werken oder Artefakten be‐ schäftigen. Reflexivität bezeichnet demnach einen dynamischen Lernprozess, der die interne Perspektive mit der externen verbindet. Im Kunstbereich bzw. in der Kunstforschung wird ein solcher Lernprozess entweder in Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Akademikern oder von Kunstpraktikern selbst durch‐ geführt, die aber ihre eigenen auf der Praxis basierenden Kenntnisse mit kriti‐ schem Blick untersuchen und in der Öffentlichkeit verbreiten können. Praxis bzw. reflexives Handeln erzwingt den Einsatz der Einzelnen für die Aushand‐ lung eher gesellschaftlicher als akademischer Prinzipien und Werte: When the creative practitioner adopts praxis, it encourages the act of reflecting upon, and reconstructing the constructed world. Adopting praxis assumes a process of meaning making, and that meaning and its processes are contingent upon a cultural and social environment. Because praxis is not self-centred but is about acting together with others, because it is about negotiation and is not about acting upon others, it forces the practitioner to consider more than just the practicalities of making. Praxis encourages a move away from the pitfalls of introspective narcissism and towards an analytical engagement with human interaction, and emphasizes the necessity to clarify the inter-subjective circumstances of the communicative act. (111 f.) So ist es nicht überraschend, dass die Situiertheit des Wissens und des Lern‐ prozesses als heutiges Bewertungskriterium von PAR am meisten zählt. Sie be‐ trifft die Art und Weise, wie die practitioners ihre Arbeit kontextualisieren - d. h. situativ platzieren -, welche Probleme sie durch ihre Arbeit untersuchen und welche Methoden sie anwenden, um die Fragen ihrer Kunstforschung zu be‐ handeln und, wenn möglich, zu beantworten. Es besteht in dieser Hinsicht kein entscheidender Unterschied zwischen situiertem und erfahrungsbasiertem Wissen, soweit nach Sutherland und Krzys (2007) die praktische, kontextbezo‐ gene und relationale Aktivität des Lernens betroffen ist. Wenn sie behaupten: »[R]ather than metaphors of location, creative practice demonstrates the need to use metaphors of embodiment and tacit knowledge in order to understand the nature of experiential knowledge« (133), dann übersehen sie die Bedeutung von Situiertheit sowie die ganze Debatte über die Praxis als Hauptgrund für das Lernen. Doch die Fokussierung auf das Erfahrungswissen und auf die Konsti‐ tuierung des Kunstwerks durch die direkten Kontakte der Subjekte zur Kunst beleuchtet das Problem der Re-präsentation von praxisorientierten Forschungs‐ arbeiten. Teil I. Ausgangspunkte 32 <?page no="33"?> Da jede wissenschaftliche Forschung auf »sustained and structured reflec‐ tion« basiert, welche das unausgesprochene, implizite Wissen eines Kunstproz‐ esses explizit macht (Nelson 2006: 112), muss Praxis sowohl im Kunstwerk als auch in einer damit verbundenen Dokumentation artikuliert und kommuniziert werden. Diese Doppelartikulation der Kunstpraxis im wissenschaftlichen Be‐ reich wird aber in zweifacher Hinsicht kritisch gesehen: Wenn einige Wissen‐ schaftler argumentieren, gewisse Kunstpraktiken und die Erschaffung von Kunst selbst seien als ernsthafte wissenschaftliche Forschung zu betrachten, »or at least as an integral aspect of the research, because it is an indispensable part of the research« (Dallow, 2003: 55), beklagen andere die akademische Betonung auf Zweck und Ziel der Kunstschöpfung, was das Kunstwerk und dessen Wert in den Hintergrund drängt. Anna Pakes (2004) spricht ihr tiefes Bedauern über den für PAR typischen systematischen Versuch aus, die Konturen von Kunst‐ werken festzulegen, sie als Lösung einer externen Infragestellung aufzuweichen und somit ihre Polysemie zu verweigern: »The problem is that exercising such control may also undercut the value of artworks as able to speak to a multiplicity of interests and a variety of viewers […]«. Erschwerend kommt hinzu, dass die etablierte akademische Weise, die Struktur einer Forschungsarbeit zu evalu‐ ieren, gerade dem epistemologischen Wert der Kunst entgegensteht: Neben der objektiven wissenschaftlichen Erkenntnis spielen die äußerst produktive Ver‐ flechtung von Beziehungen und Erfahrungen, die intime und innige Beschäfti‐ gung mit dem eigenen Werk ebenso wie die hohe Interpretationsoffenheit von Kunstwerken eine Rolle. Gerade wegen dieses zweimal verkörperten Wissens - einmal im kreativen Prozess, einmal im Kunstwerk - ist die Frage nach einer angemessenen Dokumentation vor allem in den praxisorientierten performative arts entscheidend: Die Flüchtigkeit von Aufführungen und die von ihnen un‐ trennbare leibliche Ko-Präsenz von Zuschauern und Akteuren entziehen sich jeder Übertragung in andere Formen. Hier kommt es zu einem Bruch zwischen Wissensproduktion und Wissensvermittlung: Die effektive Übersetzung einer Performance in ein anderes Medium, wodurch die Kriterien der etablierten aka‐ demischen Forschung allein befriedigen werden könnten, untergräbt die For‐ Die Praxisdimension 33 <?page no="34"?> 19 Peggy Phelan (1993) gibt deutliche Exemplifikationen dieser Auffassung: »Performance in a strict ontological sense is nonreproductive. […] Performance implicates the real through the presence of living bodies« (148); »Performance’s only life is in the present. Performance cannot be saved, recorded, documented, or otherwise participate in the circulation of representations of representations: once it does so, it becomes something other than performance. To the degree that performance attempts to enter the economy of reproduction it betrays and lessens the promise of its own ontology. […] Performance occurs over a time which will not be repeated. It can be performed again, but this re‐ petition itself marks it as “different”. The document of a performance then is only a spur to memory, an encouragement of memory to become present.« (146); »Performance’s independence from mass reproduction, technologically, economically, and lingu‐ istically, is its greatest strength.« (149). schungsmethode selbst. 19 Eine solche Forschungsarbeit kann sich nämlich ge‐ rade mit den medialen Bedingungen oder mit der besonderen Erscheinung der Materialität einer Aufführung beschäftigen - und zwar mit Aufführungsmerk‐ malen, die auf ein verkörpertes Wissen hindeuten und per definitionem in einer Video- oder Audioaufzeichnung weder eingebettet noch artikuliert werden können (Rye 2003). Eine derartige Kunstforschung wird folglich entweder durch spezifische Dokumentationsmodi betrieben, die über ihr immanentes Paradox Auskunft geben: »that is, documents that do not suggest an unproblematic transparency between the live event and its record and therefore that the two cannot be conflated« (Ebd.); oder durch eine anti-akademische Praxis sensu stricto, die statt Sicherheit, Kontrolle oder Archivierungszwang gerade Zweifel, Verlust und Verschwinden kultiviert, um alle möglichen Interpretationen der transformierenden bzw. produktiven Triebkraft zwischen Realem und Reprä‐ sentation immer zu zulassen und aufzuführen (Phelan 1993: 173; 180). Als Ant‐ wort auf die bisher aufgezeigte Debatte über Methodologie und Validität der Forschung schlug Brad Haseman 2006 vor, ein neues Paradigma in der Kunst‐ wissenschaft einzuführen - das Paradigma der Performative Research. Damit sind alle Untersuchungsformen gemeint, bei denen die symbolischen Fakten selbst performativ wirken: »It not only expresses the research, but in that ex‐ pression becomes the research itself«. Performative Research könne also die So‐ zialstruktur und den kulturellen Kontext der Kunstpraxis erklären, gerade weil sie sich auf persönliche Narrative als situierte Praxis konzentriere: »Performa‐ tive research represents a move which holds that practice is the principal re‐ search activity - rather than only the practice of performance - and sees the material outcomes of practice as all-important representations of research findings in their own right«. Schließlich lässt sich festhalten, dass die kritische Teil I. Ausgangspunkte 34 <?page no="35"?> 20 Dem Thema widmen die Autoren Gray und Malins beispielsweise ein ganzes Kapitel (2009: 93-128). Dort suggerieren sie mehrmals die Auffassung, der wichtigste Teil der Kunstforschung bestehe gerade darin, genau zu wissen, wie man Untersuchungen überhaupt durchführt. 21 Nach Kutschers Auffassung bildet die Praxis immer den Zielpunkt der theaterwissen‐ schaftlichen Tätigkeit, gleich ob sie direkt zu einer Berufsausübung im Theater führt oder ob sie indirekt zur kulturellen Gesellschaftsentwicklung beiträgt. 22 Paradigmatisch für die Tendenz zur Nivellierung der methodischen sowie inhaltlichen Unterschiede in der theaterwissenschaftlichen Forschung der Frühphase steht der Ver‐ such, „die Anfänge der Theaterwissenschaft“ auf die Schule Max Herrmanns und auf die Berliner Institutsgründung einzuschränken. Anderen Wegbereitern und Orten wird nur eine marginale Bedeutung beigemessen. Wenn man heute die wissenschaftliche Literatur zur Einführung in die Theaterwissenschaft analysiert, dann findet man eine ausführliche Erklärung von Herrmanns Theaterkonzept, während die Namen Kutscher, Niessen, Köster oder Litzmann nur für Vertreter von Ansätzen stehen, die sich von dem Herrmanns unterscheiden und die folglich keine gründliche Analyse erfordern. Hinterfragung der Methoden und des Dokumentationsverfahrens, 20 das Expe‐ rimentieren ebenso wie die direkte Teilnahme der Forschenden an der prakti‐ schen Durchführung ihrer Forschungspläne die Bestandteile der praxisbasierten Forschung bzw. der künstlerischen Praxis bilden. Sowohl Nelson (2006: 115) als auch Borgdorff (2009: 43 f.) setzen sich darum für die Verwendung des umfas‐ senden Begriffs „arts research“ / „Kunstforschung“ ein, deren Hauptmethodik auf der Praxis beruht und die das implizite Wissen verkörpert, welches durch Experimente und Interpretationen ermittelt und vermittelt wird. Vor diesem Hintergrund kann Artur Kutschers wissenschaftliche Beschäfti‐ gung mit dem Objekt Theater als eine sehr frühe Anerkennung der grundle‐ genden Praxisdimension im Untersuchungsverfahren und als eine erste Ein‐ grenzung des Problems „Praxis als Forschung“ im akademischen Horizont betrachtet werden. Kutscher lehnte jedes praxisferne Untersuchungsverfahren im Bereich der Theaterwissenschaft ab, weil er die Praxis als Ausgangspunkt und Zielpunkt 21 aller Kunstforschung betrachtete. Er war außerdem davon überzeugt, die Binarität zwischen Praxis und Theorie sei nur ein Konstrukt des etablierten akademischen Denksystems, welches das Wissenspotential der me‐ takritischen Theaterpraxis nicht gebührend schätzte. Da diese für Kutscher und dessen Schüler typische Forschungsperspektive in anderen zeitgenössischen theaterwissenschaftlichen Abteilungen oder Instituten kein Analogon fand, er‐ scheint es nicht richtig, von der Entstehung einer einheitlichen, monolithischen Disziplin im deutschsprachigen Raum zu reden, 22 sondern von der Entwicklung unterschiedlicher Facetten eines Wissenschaftsgebiets, die die Tätigkeit unter‐ schiedlicher Forschungsgemeinschaften aus unterschiedlichen Orten wider‐ spiegeln. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, welches methodologische Die Praxisdimension 35 <?page no="36"?> 23 Foucault selbst versuchte, den Diskursbegriff durch den Dispositivbegriff zu ergänzen, um das Geflecht der kombinierten Diskurs- und Machtstrukturen in einem historisch gegebenen Zeitpunkt näher zu bestimmen. Die Handlung einzelner Akteure bleibt aber immerhin außerhalb des Bezugsystems der Diskursanalyse, d. h. sie spielt keine domi‐ nante strategische Rolle. 24 Der Diskurs wird oft als Praxis bezeichnet, um ihn von Objekten und Programmen deutlich zu trennen. Das Konzept Praxis ruft eine konkrete Dimension hervor, in der die geregelten Rede- und Handlungsweisen ermittelt werden können. Vgl. dazu Land‐ wehr 2008: 20 u. 68. Instrumentarium dem Spezifikum der von Kutscher betriebenen Theaterfor‐ schung bzw. der Praxisdimension gerecht wird. Das theoretische Modell sollte zum einen den spezialisierten Wissenszweig „Theaterwissenschaft“ nicht als isolierte Erscheinung untersuchen, die Bedingungen der Möglichkeit prüfen, wie dieses neue Gebiet sich im universitären Wissenschaftsbetrieb von anderen Fächern abgrenzen, bzw. akademische Anerkennung erfahren konnte. Mit an‐ deren Worten: Die Analyse muss im Hinblick auf den Modernisierungsprozess und auf den Betätigungsdrang der Intellektuellen im gesellschaftlichen und kul‐ turellen Bereich durchgeführt werden, welche aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlicher Weise die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts charakte‐ risierten. Zum anderen sollte es die Bestrebungen des „Theaterprofessors“, durch die Etablierung eines neuen Fachgebietes den Wissenserwerb und die Wissens‐ erzeugung seiner Lerngemeinschaft anzuregen, in einen breiteren gesellschaft‐ lichen Rahmen stellen. Wissenschaftlicher Diskurs und ausgehandelte Praxis Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft kann keine gründliche Beschäfti‐ gung mit materiellen und / oder institutionellen Bedingungen des wissenschaft‐ lichen Diskurses von Foucaults Diskursanalyse absehen. Doch Foucaults Dis‐ kursbegriff stellt hinsichtlich der Praxis ein großes Dilemma dar: das Verschwinden des Einzelakteurs in der Praxis selbst und daher die Negation direkter Interaktionen sowie produktiver Austauschprozesse zwischen Sub‐ jekten. 23 Besonders am Anfang seiner theoretisch-methodologischen Reflexion (1968- 1970) versucht Michel Foucault wiederholt, den Überbegriff „regulierte Praxis“ bzw. „Diskurs“ zu beschreiben. Diskurs und Praxis bilden lediglich ein Analy‐ seinstrument, um die Konstitution von Wissen und Wirklichkeit zu erfassen. 24 Er erkennt eine diskursive Praxis einerseits und eine nicht-diskursive Praxis andererseits. Die erste sei »eine Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche Teil I. Ausgangspunkte 36 <?page no="37"?> 25 Foucaults Entscheidung für eine positive und eine negative Kennzeichnung der wis‐ senserzeugenden Praktiken - dominierend „diskursiv“ vs. negativ bestimmt, also do‐ miniert, „nicht-diskursiv“ - wurde später besonders in der praxisbasierten Kunstfor‐ schung kritisiert, weil jene Trennung ausschließlich in sprachlicher Hinsicht funktioniert und jede Art mixed-mode Praxis negiert. Vgl. dazu Melrose 2002. 26 Die produktive »Fixierung auf die Beschränkung« in Foucaults Theorie wird von Sara Mills (2007: 77-79) ausführlich erklärt. und für eine gegebene soziale, ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben« (Foucault 1973: 171), während sich die zweite auf eine zu errichtende Systematik des Machbaren - also nicht des Aussagbaren oder des Denkbaren - bezieht. 25 Die funktionale Verkettung dieser zwei Praktiken erschafft ein allgemeines System von Regeln, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums der Wissenspro‐ duktion zugrunde liegen. Es stellt sich hier natürlich die Frage, wer oder was diese Regeln determiniert. Als reglementierende Instanz fungiert eine Art ano‐ nyme historische Macht, die der Praxis sowie dem sprechenden und handelnden Subjekt vorausgesetzt ist, eine aus Beziehungsbündeln bestehende Matrix. Die Praxis entspricht in Foucaults Theorie einem System von Strukturen oder Mus‐ tern, die alle Gegenstände, Begriffe und sprachlichen Äußerungen sowie die Position des Aussagesubjekts hervorbringen. Im Rahmen dieser Praxis gestalten Subjekte ihre Welt, »wie sie dabei von den Regeln des Diskurses geleitet, be‐ schränkt und dezentriert werden« (Sarasin 2005: 107). Die Praxis regelt alles, was man denken, sagen und tun kann, und zwar organisiert sie die wahrge‐ nommene Wirklichkeit. Die Individuen, die mit einer bestimmten diskursiven und nicht-diskursiven Praxis vertraut sind, teilen dieselben begrenzten Mög‐ lichkeiten, sich in einer gewissen Weise auszudrücken und zu handeln. Subjekte stehen mithin nicht im Zentrum des Lern- und Erkenntnisprozesses, sondern am Rande der Wissenserzeugung und der Wirklichkeitskonstitution: Durch die Subjekte bekommen gegebene Äußerungen eine festgelegte Funktion innerhalb der Praxis bzw. des Diskurses. Das Individuum als Subjekt, als Akteur stellt in Bezug auf die Praxis ein transparentes, amorphes und regungsloses Wesen dar, durch welches eine Äußerung erst konkret ausgesprochen werden kann. Das Subjekt existiert also nur, um Diskursinhalte zu vermitteln; es wurde vom Dis‐ kurs selbst konstituiert und legitimiert, sodass keine Aussage und kein Handeln außerhalb des Normierungssystems des Diskurses möglich sind. Der Diskurs allein bringt Wissen hervor, indem seine Prozesse die Handlungsmöglichkeiten der Menschen beschränken. 26 Gerade in der Produktion von materiellen und diskursiven Bedingungen - und nicht zuletzt in der Produktion von Wissen - wird die Rolle des persönlichen Beitrags, der individuellen Leistung überaus Die Praxisdimension 37 <?page no="38"?> 27 Vgl. Saids Kritik an Foucaults Machttheorie (1983: 243-247). fragwürdig: Wenn die Praxis einen Denkraum und zugleich einen Tätigkeits‐ bereich bezeichnet, dann erscheint die Vorstellung fragwürdig, dass der Akteur nur ein Epigone sei, der auf eigene Interessen, Intentionen und Entscheidungen verzichtet und der die ihm äußerlichen Strukturen einfach inkorporiert und re‐ produziert. Foucault erkennt zwar einen subjektiven Anteil in der Art und Weise, wie der Einzelakteur Aussagen nachvollzieht, insistiert zugleich aber auf dem Konzept, das Subjekt sei nur ein kontingentes Produkt einer historischen, kontextabhängigen, regulierten Praxis. In der letzten Phase der Konstituierung seiner Theorie der Macht (1971- 1984) beschreibt Foucault das Subjekt eher als Produkt von vorherrschenden allgegenwärtigen Machtkonstellationen. Die Verkoppelung zwischen Diskurs und Macht bekräftigt also Foucaults Ansatz, menschliche (Selbst)Erfahrung und Wirklichkeitswahrnehmung basieren nur auf einem Sozialdiskurs bzw. auf einem Machtfeld. Auch diese soziale Einbettung der Praxis löst den Widerspruch zwischen einer systeminternen Kausalität und dem menschlichen Handeln in‐ nerhalb des Geschichtswandels nicht. In dem Versuch, die anthropozentrische Denkstruktur und deren fast metaphysischen Subjektbegriff zu bekämpfen, ka‐ pituliert Foucault vor der Immanenz und Determiniertheit der objektiven Struk‐ turen. Die jenseits menschlicher Kontrolle existierende Ordnung des Diskurses generiert nämlich ein Wissenssystem, das von den Akteuren und den Instituti‐ onen völlig unabhängig ist, die es durch eine konkrete Praxis anwenden und zu guter Letzt erzeugen (Bourdieu 2001: 316 f.; 329 f.). Das dynamische Prinzip dieses Systems befinde sich im System selbst, wobei die Einzelakteure keinen Spielraum für die Infragestellung, Ablehnung, Veränderung oder Neudefinie‐ rung der herkömmlichen Ordnung von Sinnproduktion und -durchsetzung hätten. Die aktive Rolle des handelnden Individuums, die Bedeutungsaushand‐ lung sowie die Fähigkeit zu alternativen Taten und Intentionen 27 bleiben bei Foucault außer Acht. Ein Versuch, die Frage zu beantworten, wie sich geschichtliche materielle Bedingungen, ästhetische Strukturen und soziale Trägerschaften jenseits simpler Reproduktionsmuster aufeinander beziehen lassen, wurde erst von der Interdiskursanalyse durchgeführt. Die Erweiterung der Foucaultschen Diskurs‐ Teil I. Ausgangspunkte 38 <?page no="39"?> 28 Mit „Spezialdiskursen“ meinen Jürgen Link, Ursula Link-Heer und Rolf Parr u. a. spe‐ zialisierte Sektoren des Wissens, die ihre Gegenstände zum eigenen „Lexikon“ und zur eigenen „Grammatik“ konstituieren. Unter „Interdiskurs“ einer Kultur verstehen sie hingegen ein generatives Reservoir von »„Zügen“ im Sinne der Spieltheorie, von Fi‐ guren, Klischees, Stereotypen, Vorstellungsarten, pragmatischen Ritualen usw.«, das sich als Gegentendenz zur Diskurspezialisierung gesellschaftlich durchsetzt ( Jürgen Link 1988: 289). Zu solchen kollektiv erzeugten und kollektiv rezipierten Anschau‐ ungsformen gehören vor allem Kollektivsymbole, Sinn-Bilder, »deren kollektive Ver‐ ankerung sich aus ihrer sozialhistorischen, z. B. technohistorischen Relevanz ergibt, und die gleichermaßen metaphorisch wie repräsentativ-synekdochisch und nicht zuletzt programmatisch verwendbar sind« (286). Interdiskursive Elemente sind dann von Phi‐ losophie, Religion, Kunstliteratur und „Weltanschauung“ elaboriert, da jede auf ihre Weise einzelne Spezialdiskurse verbindet und die Kollektivsymbolik verarbeitet. Da‐ durch bilden sie ein Vermittlungsfeld zwischen sozialen und ästhetischen Strukturen, wo Applikationsvorlage sowohl für individuelle Subjektbildung als auch für die Bildung eines Sozialkörpers angeboten werden. analyse durch die zwei parallelen Begriffe „Spezialdiskurs“ und „Interdiskurs“ 28 erfolgt zugunsten einer Rehabilitierung des Subjekts: Dies profiliert sich als Stifter von Interdiskursen, der aus den unterschiedlichen kursierenden Dis‐ kursen auswählen kann. Der generative Ansatz in der soziokulturellen Praxis wird somit wieder zur wissenschaftlichen Debatte gestellt. Rolf Parr erarbeitet die interdiskurstheoretische Perspektive für die Beschreibung literarisch-kul‐ tureller Gruppierungen, wobei er den Interdiskurs »als entscheidende[s] Kopp‐ lungsfeld zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Praxisbereichen« an‐ nimmt (2000: 23). Die Fokussierung verschiebt sich allmählich auf die kollektive As-Sociation bzw. Socius-Bildung, welche »immer zugleich individuelle Aus‐ bildung von „Psyche“ und Prozess des kollektiven sich Associierens an andere« ist (14). Doch auch im interdiskursiven Ansatz erdrückt die grundlegende sozi‐ alhistorische Kontingenz des Wissenssubjekts jede Handlung oder jeden aktiven Lernprozess des Individuums. Wenn auch das Konzept des homogenen Kollek‐ tivsubjekts durch die Annahme einer Herstellung distinkter Subjektpositionen im kulturellen Feld konterkariert wird, bleibt die individuelle Betätigung in der Integration der Praktiken und in der Applikation von interdiskursiven Ele‐ menten völlig unbeachtet. Der Interdiskurs setzt einen Wissensgehalt voraus, der objektiv gegeben, schon fixiert und kaum veränderlich ist. Das Subjekt ist kein Akteur, der seinen Spielraum durch seine eigene Körperlichkeit, Erfahrung und Wahrnehmungsfähigkeit innerhalb einer Gemeinschaft bewerten, mitbe‐ stimmen und neu definieren kann. Die Interdiskursanalyse vermeidet konse‐ quent, den Begriff „Praktiken“ zu definieren: Anscheinend sind sie nur genera‐ tive Regeln für die Erzeugung von Kunst und Wissen. Die Aushandlung von Bedeutungen, Praktiken und Symbolen spielt demgemäß überhaupt keine Rolle: Die Praxisdimension 39 <?page no="40"?> 29 Rituale nennt Parr »institutionalisierte Formen der Applikation von Symbolen und Ideologemen des formierend-historischen Projekts« (2000: 21). 30 Hier sei nur daran erinnert, dass jede Wissenschaft immer mit einer gesellschaftlichen Institution und mit einer kulturellen Praxis zusammenfällt. Jeder Teilnehmer eines literarisch-kulturellen Vereins scheint eher passiv, ohn‐ mächtig zu sein. Das Verfahren der Reproduktion formierender interdiskursiver Elemente in der Tätigkeit einer Gruppierung werde nämlich, wie Parr argu‐ mentiert, durch Rituale fortgeführt, deren Auswahl, Genese, Entwicklung und Modifizierung offenbar jenseits der Einflussmöglichkeiten der Mitglieder liegen. 29 Das sogenannte formierend-historische Projekt bzw. das „Projekt der Praktikenintegration“ nimmt dann die vagen Konturen einer unsichtbaren, den Individuen vorgängigen Macht an. Auch in der Interdiskurstheorie bleibt die Subjektivität in abstrakten Strukturen oder in unfassbaren Kreuzen zwischen unterschiedlichen Achsen befangen: Das Individuum ist immer noch ein Träger des jeweils gegebenen Projekts, kein interaktives und zugleich agierendes Sub‐ jekt. Man spricht ständig von Ideen, Symbolen, Ideologemen und Projekten, als wären sie Teil eines halbgöttlichen Plans, da von Menschen kaum die Rede ist. Eine Analyse von soziokulturellen Gesellschaften oder Vereinen, von Wissen‐ schaften 30 , von Künsten und deren Werken kann allerdings nicht darauf ver‐ zichten, die Erzeugung und Reproduktion von Erfahrung und Wissen seitens der Subjekte zu berücksichtigen. Mit anderen Worten, das Individuum als Pro‐ dukt einer Struktur soll mit einem subjektiven Bedeutungs- und Aktionshori‐ zont dialektisch verknüpft werden, den außerhalb jener Struktur gewonnen wurde. Wie Stephen Turner zu Recht bemerkt, ist es das Konzept von Praxis selbst, das eine Zwei-Ebenen-Struktur aufweist: einerseits eine individuelle Substanz, die subjektive Veranlagungen mit einschließt, andererseits eine sozi‐ alhistorische Gegebenheit (1994: 50). Es ist nun deutlich geworden, dass weder die Diskursanalyse noch die Inter‐ diskuranalyse einen angemessenen theoretischen Rahmen bieten, in dem die Problematik der von Subjekten im Alltagsleben sowie in (theater)wissenschaft‐ licher Forschung ausgehandelten Praxis einer eingehenden Betrachtung zuge‐ führt werden kann. Die für die Münchner Theaterwissenschaft bezeichnende Praxisdimension kann nur als Baustein der Wissensumwandlung begriffen werden, die in der Lerntätigkeit der an Artur Kutscher gebundenen Gemein‐ schaft durch die zweipolige Interaktion zwischen personaler Erfahrung und so‐ zialen Kompetenzen stattfand. Als Ansatzpunkt für vorliegende Arbeit wird demnach die Theorie der situierten Kognition angewandt, die dem Vorbild von Teil I. Ausgangspunkte 40 <?page no="41"?> 31 Vgl. Lave 1988; Lave / Wenger 1991; Wenger 1998; Wenger 1998b; Wenger 2000; Wenger / McDermott / Snyder 2002. 32 Obwohl einige Wissenschaftler den Begriff ‚Community of Practice‘ ins Deutsche als ‚Praxisgemeinschaft‘ übersetzt haben, wird im Folgenden das englische Schlagwort be‐ vorzugt (Abk.: CoP). Der Begriff ‚Lerngemeinschaft‘ wird in diesem Zusammenhang als Synonym von CoP verwendet. 33 Lernprozesse geschehen in, durch und zwischen Communities of Practice. Jean Lave und Etienne Wenger folgt 31 und die den Lernprozess als eine kon‐ textbezogene Transformation des Wissens versteht, welche persönliche Verän‐ derungen mit der Entwicklung von Sozialstrukturen kombiniert (Wenger 2000: 227). Situiertes Lernen nach Jean Lave und Etienne Wenger In Laves und Wengers Auffassung hängt das situierte Lernen von der auf ver‐ schiedene Weisen legitimierten Teilhabe an Communities of Practice ab. 32 Diese Teilnahme ist daher ein konstituierender Bestandteil sowohl für Wissensinhalte als auch für die Identitätsentwicklung im Verhältnis zu Lerngemeinschaften. Lernen ist ein kollektiver sowie relationaler Prozess und stimmt mit der Aus‐ handlung einer Identität überein - zumal Identitätsbildung heißt, als Mitglied sozialer Gemeinschaften die Bedeutungen individueller Erfahrung auszuhan‐ deln. Lernen ist lediglich ein soziales Phänomen und für jedes Individuum ge‐ schieht es durch die Partizipation bzw. durch den aktiven Anteil an den Praxen seiner Gemeinschaft(en). Aus diesem Grund wird die Lernform in der Theorie der situierten Kognition auch kooperatives Lernen genannt. Der Wissenserwerb ist direkt im Prozess der sozialen Ko-Partizipation verortet, also nicht im Geist der Einzelsubjekte, sodass Lernen nicht dem Gewinn einer gewissen Anzahl von abstrakten, vorab vorgefertigten Wissenssegmenten entspricht, sondern dem Gewinn der Fähigkeit zum Mitwirken, indem der Lernende konkret am Lern‐ prozess teilnimmt. Der Ort des Wissens ist demzufolge der produktive Prozess schlechthin, der immer von den - oftmals unterschiedlichen - Perspektiven der ko-partizipierenden Lernenden vermittelt wird. Dies bedeutet, dass es eine Ar‐ beitsgruppe ist - die sogenannte CoP -, die unter diesen Bedingungen lernt, nicht das einzelne Individuum. Lernen vollziehe sich nämlich immer innerhalb eines partizipatorischen Rahmens, 33 was Laves und Wengers Einstellung ge‐ genüber klassisch strukturalistischen Lerntheorien ebenso wie gegenüber in‐ teraktionistisch orientierten Ansätzen klarstellt. Die erste Theorierichtung be‐ hauptet, Wissenserwerb handle mit dem Erwerb vorgeprägter Strukturen und Verstehen sei eine Frage der Erkenntnis der Strukturen sowie der Entwicklung Die Praxisdimension 41 <?page no="42"?> 34 Bemerkenswert ist hier die Tatsache, dass sich Lave und Wenger explizit auf Bourdieus Oeuvre berufen, um die wichtigsten Beiträge einer Theorie der sozialen Praxis hervor‐ zuheben, etwa die Einbeziehung von Akteur, Welt und Handeln in die Praxis (1991: 50). 35 ‚Peripherikalität‘ wird von Wehner, Clases und Endres als Übersetzung des von Lave und Wenger verwandten Begriffs ‚pheripherality‘ benutzt. Dieser beschreibe tatsäch‐ lich, als relationaler Begriff, die Positionierung des Lernenden innerhalb der Struktur einer CoP und nicht die Ränder einer beliebigen CoP. 36 Siehe dazu Hanks 1991: 17 f. der Fähigkeit, sich in das System einzuleben. Der Lernende implementiere sei‐ nerseits das System, indem er es mit einer Überlagerung von situativen Beson‐ derheiten fülle und diese auf einen Strukturzusammenhang beziehe. Das Ver‐ stehen betreffe, mit anderen Worten, individuelle Bindungsrepräsentationen von Subjekten. Bei interaktionistischen Theorien hingegen wird vertreten, dass das, was Menschen lernen keinen schon vorhandenen Inhalt besitze: Lernsub‐ jekte und Lernkontext seien bekanntlich miteinander verflochten. Laves und Wengers Ansatz ist ein Mittelweg: 34 Er beruht darauf, dass partizipatorische Rahmen eigentlich strukturiert sind und gerade dieses Merkmal das Lernen in Communities of Practice ermöglicht. Erst ein strukturierter partizipatorischer Lernrahmen könne nämlich den Modus der sogenannten „legitimierten peri‐ pheren Partizipation“ vorhersehen. Lernende interagieren mit der vorhandenen sozialen und materiellen Situation, und zwar mit den jeweils herrschenden so‐ ziokulturellen Aspekten, wie Vorbildern, Konventionen, Werten und Werk‐ zeugen. Lernende seien also Personen, die im bestimmten Maße an einer Praxisgemeinschaft beteiligt und zuneh‐ mend in der Lage sind, an den verschiedenen Aushandlungssegmenten zu partizi‐ pieren; mit einer je konkreter legitimierten Form des Zugangs und mit einer vielfältig bestimmten Position der Peripherikalität in Relation zum Praxisfeld, d. h. einer spezi‐ fischen Form der Zurückgenommenheit vom Handlungsdruck. 35 (Wehner / Clases / Endres 1996: 81) Nichtsdestotrotz seien diese Strukturen adaptiv, weil sie vielmehr den variablen Ereignissen einer Handlung entsprechen als deren invariablen Vorausset‐ zungen. 36 Vorgefertigte Strukturen können zwar Gedanken, Handlungen und Lernerfahrungen irgendwie bestimmen, aber in einer höchst schematischen Weise; darüber hinaus werden Strukturen im lokalen Handlungskontext immer neu konfiguriert. Es sind nicht nur die Subjekte, die sich durch die Teilnahme als Ko-Lernende hindurch verändern, sondern auch die Strukturen und die er‐ worbenen Fertigkeiten. Wie Wenger kommentiert, wurden CoPs sofort zur Ver‐ körperung von »this view of learning as happening at the boundary between Teil I. Ausgangspunkte 42 <?page no="43"?> the person and social structure - not just in the social structure or not just in the individual, but in that relationship between the two« (in Omidvar / Kislov 2013: 269). Lernen profiliert sich hiermit als eine Eigenschaft, als eine besondere Art soziokulturelle Handlungspraxis, die im Rahmen der „legitimierten peri‐ pheren Partizipation“ durchgeführt wird. Die legitimierte periphere Partizipa‐ tion bildet also die Bedingungsmöglichkeit des Lernens, eines kreativen Pro‐ zesses, an dem sich das Subjekt dadurch beteiligt, dass es im Geflecht der CoP immer neu ausgehandelte Rollen erwirbt und spielt - und jeder Rolle entspricht eine Art von Verantwortung, eine Vielfalt von Rollenbeziehungen sowie unter‐ schiedliche interaktive Beteiligungsformen. Was Lernende erwerben ist sonach kein Reservoir von Partizipationsschemata, sondern die Fähigkeit, unterschied‐ liche Aufgaben bzw. Funktionen in unterschiedlichen Lern- und Praxisfeldern auszuüben, wie zum Beispiel die Improvisationskompetenz oder das Timing von Tätigkeiten in Bezug auf sich ändernde Umstände. Die allmählich aufgebaute Expertise steht also in enger Verbindung mit der Fähigkeit zur Aufgabenerfül‐ lung. Demzufolge seien die Fähigkeiten zur Bewältigung der Lernsituation bzw. kognitiven Wachstums mit der Fähigkeit verbunden, Aufgaben zu erfüllen. In der Theorie der situierten Kognition erkennt man die Verknüpfung zwischen den gelehrten und gelernten Fertigkeiten einerseits und der jeweiligen „perfor‐ mance situation“ andererseits: Insofar as learning really does consist in the development of portable interactive skills, it can take place even when coparticipants fail to share a common code. The apprentice’s ability to understand the master’s performance depends not on their possessing the same representation of it, or of the objects it entails, but rather on their engaging in the performance in congruent ways. […] Again, it would be this common ability to coparticipate that would provide the matrix of learning, not the commonality of symbolic or referential structures. (Hanks 1991: 21 f.) Kognitionen werden immer von Individuen in kulturell organisierten Kontexten gemeinsam konstruiert. Jeder Lernprozess gleicht einer Aufführungsform in‐ nerhalb der sozialen Welt, unter besonderen Umständen, in einer gewissen Zeit und an einem bestimmten Ort. Aus dieser partizipatorischen Aufführungsform resultiert die dynamische Reproduktion von Lerngemeinschaften, die durch Tradierung reproduktiver Wissens- und Handlungssegmente ebenso wie durch Verschiebungen und Brüche erfolgt. Das Lernen erfüllt demgemäß eine doppelte Funktion: Erstens, um Kontinuität aus bestimmten Traditionen, lokalen Deu‐ tungsmustern und wichtigen Handlungsweisen im Praxisfeld herzustellen; zweiteins, um die Diskontinuitäten zu fördern, die zur Entwicklung und Um‐ gestaltung führen. Laves und Wengers Auffassung von situierter Kognition Die Praxisdimension 43 <?page no="44"?> 37 Wenger erläutert fast nebenbei, der Sinn sei das, was Lernen erzeugen muss. Der Sinn wird gerade vom menschlichen Engagement in der Welt produziert: »As a regime of competence, every practice is in some sense a form of knowledge, and knowing is par‐ ticipating in that practice« (1998: 141). stützt sich zusammenfassend auf die Situiertheit sowohl der Lernprozesse als auch des Handelns. Die Praxis in der Theorie des situierten Lernens Wir Kutscherleute stellen bei unserer täglichen Arbeit immer wieder fest, daß überall im deutschen (und sogar im ausländischen) Theater, in den verschiedensten Lagern und Stellungen, bis in die entlegensten Randgebiete hinein wir Mitglieder eines ganz und gar nicht organisierten Ordens ohne Satzung und Regel sitzen - eben die Kut‐ scherschüler. (Hans Werner Rückle in Günther 1953: 182) Die Untersuchung der Anfänge der Theaterwissenschaft in München geht von der These aus, dass Artur Kutscher die Theaterwissenschaft als privilegierten Locus des Wissenserwerbes und der Wissenserzeugung verstand. Um festzu‐ stellen, ob und in welchem Ausmaß das Modell der Communities of Practice, das bisher fast ausschließlich in der empirischen Pädagogik und im Wissensma‐ nagement seine Anwendung gefunden hat, im theaterwissenschaftlichen Be‐ reich praktisch und produktiv ist, sind in erster Linie die Grundkonzepte Praxis und Gemeinschaft zu untersuchen. Zum Zweiten sollen der Begriff „soziale Landschaft“ und die Art und Weise, wie globale Partizipation und lokale Teilhabe aufeinander wirken, zum Gegenstand der Analyse gemacht werden; schließlich soll der Blick auf die feste Verkoppelung zwischen Lehrtätigkeit und Performa‐ tivität beim Theaterwissenschaftler Kutscher gerichtet werden. Etienne Wenger gibt dem Terminus Praxis mehrere Definitionen, welche dessen Zentralität für die Lerntheorie deutlich zeigen. Erstens ist Praxis das, was eine CoP bestimmt, und zwar der Ursprung ihres Zusammenhalts. Zweitens entspricht sie immer einer gesellschaftlichen Praxis, die das Explizite ebenso wie das Implizite, das Vorausgesetzte mit einbezieht. Drittens bedeutet Praxis »doing in a historical and social context that gives structure and meaning to what we do« (1998: 48), also eine gemeinsame Geschichte von situiertem Lernen und Handeln. Vor allem aber ist sie ein Prozess: ein Beteiligungsprozess, der die gesamte Person mit einbezieht, aber auch ein Prozess der Sinnaushandlung, durch den jeder Mensch sein Leben, die ganze Welt und sein Engagement in dieser als sinnvoll erfahren kann. 37 Kurzum lässt sich ohnehin behaupten, die Praxis sei die soziale Erzeugung von Bedeutung durch die fundamentalen Fak‐ Teil I. Ausgangspunkte 44 <?page no="45"?> 38 Hier wird der Begriff Dualität im Gegensatz zu bloßer Dichotomie benutzt: Dualität deutet auf »a single conceptual unit that is formed by two inseparable and mutually constitutive elements whose inherent tension and complementarity give the concept richness and dynamism« (66). Das heißt, beide Bestandteile wirken gleichzeitig, treten nicht an die Stelle des anderen, brauchen und ermöglichen einander, variieren immer Form und Intensität und verändern ihre gegenseitige Beziehung. toren der Bedeutungsaushandlung, der Partizipation und der Verdinglichung. Diese sind der Praxis innewohnende Faktoren und erlauben den Menschen, den Sinn zu erfahren bzw. die Bedeutung ihrer Lebenserfahrung herauszufinden. Im Aushandlungsprozess sollen Partizipation und Verdinglichung verbunden werden, um die Produktivität der Praxis zu entfalten. Da bei der nachfolgenden Schilderung der Lerngemeinschaften auf diese drei Konzepte zurückgegriffen wird, seien sie hier kurz zusammengefasst. Unter dem Begriff Bedeutungsaushandlung versteht Wenger den dualen Pro‐ zess, in dem die Bedeutung verortet ist: »Meaning exists neither in us, nor in the world, but in the dynamic relation of living in the world« (54); Partizipation und Verdinglichung bilden hingegen die zwei konstitutiven Prozesse, die in die Bedeutungsaushandlung verwickelt sind. Sie verkörpern die Dualität der Be‐ deutung, und zwar die Verflechtung und das Zusammenspiel zwischen gegen‐ seitiger Anerkennung und Projizierungen von sich selbst. 38 Diese balancierte Dualität wird als entscheidendes Element für die Etablierung und Entwicklung von CoPs, für die Identitätskonstruktion der Mitglieder sowie für das Wesen der Praxis selbst betrachtet. Durch die enge Wechselwirkung von Partizipation und Verdinglichung gestalten sich die Welt und die Erfahrung gegenseitig. Alltäglich erzeugen Menschen nämlich Bedeutungen, welche die Bedeutungsgeschichten, zu denen sie gehören, bestätigen, fortschreiben, verarbeiten, neu interpretieren oder demontieren. Eine derartige ständige Interaktion zieht sowohl Interpreta‐ tion als auch Handlung nach sich. Der doppelte Antrieb von Bedeutungsaushandlung entspringt einerseits durch die Partizipation der einzelnen Mitglieder der CoP, andererseits durch den ablaufenden Verdinglichungsprozess. Partizipation sei demnach »the social ex‐ perience of living in the world in the terms of membership in social communities and active involvement in social enterprises« (55). Wenger unterscheidet sie zudem von der bloßen Beteiligung am gemeinschaftlichen Handeln, weil Parti‐ zipation immer eine Bedeutungsaushandlung im Kontext der verschiedenen Mitgliedsformen in mehreren Gemeinschaften beinhaltet, was mit dem Haupt‐ merkmal der Gegenseitigkeit zusammenfällt. Die gegenseitige Anerkennung durch die Partizipation führt zur Identitätsbildung: Menschen bilden ihre eigene Die Praxis in der Theorie des situierten Lernens 45 <?page no="46"?> Identität, indem sie sich selbst in den Anderen erkennen und die Verantwortung für die Bedeutungen übernehmen, die sie stets entwickeln. Das Wort Verdinglichung bezeichnet indessen zum einen den Prozess, durch den die Menschen ihre Erfahrung gestalten, indem sie Gegenstände erzeugen, die eine solche Erfahrung zur Dinglichkeit werden lassen; zum anderen weist es auch auf den hierdurch erzeugten Gegenstand hin. Menschen projizieren ihre Bedeutungen in die Welt hinein und spüren dann diese Bedeutungen, als wären sie lebendig in der Welt, als hätten sie ein unabhängiges Leben. Dabei bilden Menschen Fokuspunkte, um welche die Bedeutungsaushandlung organisiert werden kann: Verdinglichung modelliert somit jede menschliche Erfahrung. Bei der Verdinglichung projiziert man sich selbst in die Welt und, da man sich selbst in solchen Projektionen nicht unbedingt wiedererkennen muss, schreibt man den eigenen Bedeutungen eine selbstständige Existenz zu. Menschliche Erfah‐ rung und die gesamte Welt sind daher immer in festgesetzten Formen kristalli‐ siert, d. h. als Gegenstände hervorgebracht: »Any Community of Practice pro‐ duces abstractions, tools, symbols, stories, terms, and concepts that reify something of that practice in a congealed form« (59). Diese Aussage erklärt erneut, dass Verdinglichung auf Partizipation beruht, denn alles, was ausge‐ drückt oder dargestellt wird, setzt als Kontext für seine Interpretation eine Par‐ tizipationsgeschichte voraus. Ihrerseits formiert sich Partizipation um Verding‐ lichung herum, weil sie prinzipiell Gegenstände, Konzepte und Worte einbezieht, die ihren Ablauf ermöglichen (67). Eine praxisorientierte Gemeinschaft lässt sich dann als eine Sozialstruktur beschreiben, die aus Personen besteht, die sich in einem spezifischen Wissens‐ bereich an einem Prozess vom kollektiven Lernen beteiligen - anders formuliert, sie häufen Wissen zusammen an und sind durch den Wert verbunden, den sie dem Zusammen-Lernen beimessen. Nicht jede Gruppe kann sich als Community of Practice bezeichnen, weil sie gleichzeitig drei Kernelemente umfassen muss: Als erstes Element benötigt sie einen begrenzten Wissensbereich, welcher die Raison d’Être der Gemeinschaft darstellt, sowie ein gemeinsames Unterfangen, was kein festes Ziel oder keine vorher bestimmte Reihe von Aufgaben ist, son‐ dern das Ereignis eines kollektiven Aushandlungsprozesses, die Festlegung von Schwerpunkten, die Mitglieder gemeinsam erleben. Wonach CoPs generell streben ist die Erzeugung, die Pflege und der Austausch von Wissen sowie die Förderung des Lernens und der individuellen Fähigkeiten. Der spezifische Wis‐ sensbereich stellt das Wechselspiel zwischen Individuen dar, die ein gemein‐ sames Projekt erkennen, das dann Gestalt annimmt. Wenn eine Lerngemein‐ schaft daraufhin dieses Projekt bespricht, werden Verlässlichkeit und gegenseitige Verantwortlichkeit unter den Mitgliedern sichtbar, die zu wesent‐ Teil I. Ausgangspunkte 46 <?page no="47"?> lichen Komponenten in der Praxis werden. Mitglieder, die die Grenzen, Stärken und Spitzen des Wissensbereichs ihrer Gemeinschaft kennen, sind in der Lage zu beschließen, was sie am besten teilen, wie sie ihre Vorschläge und Ideen darbieten oder welche Aktivitäten sie ausüben können. Erst durch die Aus‐ handlung des spezifischen Wissensbereichs prägen Umstände, Quellen, Mate‐ rialien und Anforderungen die gemeinsame Praxis. Daraus folgt, dass »[t]he most successful Communities of Practice thrive where the goals and needs of an organization intersect with the passions and aspirations of participants« (Wenger / McDermott / Snyder 2002: 32). Das zweite Element einer CoP ist folgerichtig der gemeinsame Einsatz für das ausgehandelte Projekt, bzw. die Gemeinschaft selbst: Die Mitgliedschaft in einer Lerngemeinschaft stützt sich auf die gegenseitige Beteiligung. Diese stellt die solide Basis für die Entwicklung einer partizipativen Identität dar. Der Zusam‐ menhang, der die gegenseitige Beteiligung in eine organisierte Lerngemein‐ schaft verwandelt, verlangt eine ständige Arbeit seitens der Mitglieder: Jeder muss sich der Erhaltung der Gemeinschaft hingeben. Zusammenhang bedeutet aber nicht Homogenität, sondern Vielfalt, Unterschiedlichkeit der Mitglieder, weil jeder Einzelne einen spezifischen Platz in der CoP findet und fernerhin eine eindeutige Identität bekommt, die im Laufe der Zeit sowie durch die engagierte und kooperative Mitwirkung weiter bestimmt und integriert wird. Das dritte und letzte Element ist das gemeinsame Repertoire - eine andere Bezeichnung für die Praxis selbst. Diese Praxis ist demgemäß eine Reihe von Gerüsten, Ideen, Stilen und Diskursen, Instrumenten, Medien, Geschichten und Artefakten, welche die Mitglieder einer praxisbezogenen Gemeinschaft teilen. Die heterogenen Gerüste finden ihren Zusammenhalt in dem Zustand, dass sie zur Praxis einer Gemeinschaft gehören, die an einem eigenen Projekt teilnimmt. Die geteilten Wissensressourcen ermöglichen dann der Gemeinschaft, sich mit ihrem Bereich weiter zu beschäftigen und somit ihr gemeinsames Wissen zu erweitern. Das Repertoire verbindet Aspekte, die sowohl mit der Partizipation als auch mit der Verdinglichung verbunden sind, was dazu führt, dass sich die gemeinsame Praxis als den Ursprung für die Bedeutungsaushandlung konfigu‐ riert. Das gemeinsame Repertoire von Gerüsten muss dementsprechend zur Aushandlung stehen, damit sich die legitimierten Mitglieder einer Gemeinschaft in deren Praxis beteiligen können. Das benötigt einerseits eine genügsame Kenntnis der Geschichte der gemeinsamen Praxis, um sie an den Werkzeugen ihres Repertoires zu erkennen, und andererseits die Fähigkeit und Legitimität, diese Geschichte wieder bedeutsam zu machen. Wenn die drei Bestandteile zu‐ sammenwirken, dann wird die betreffende CoP zu einer optimalen sozialen Die Praxis in der Theorie des situierten Lernens 47 <?page no="48"?> 39 Wenger macht eindeutig klar, Communities of Practice bieten ihren Mitgliedern die Ge‐ legenheit, soziale Kompetenzen durch eine Erfahrung direkter Partizipation auszuhan‐ deln. CoPs bestimmen nämlich ihre Expertise, indem sie die drei vorher erwähnten Elemente verknüpfen. Man ist „kompetent“, erstens wenn man das gemeinsame Un‐ terfangen ausreichend versteht, um zu diesem persönlich beizutragen, zweitens wenn man sich an der Gemeinschaft beteiligt und als zuverlässigen Partner in ihren Aktivi‐ täten betrachtet wird, drittens wenn man Zugang zu den Wissensressourcen hat und sie in geeigneter Weise benutzen kann (2000: 229). 40 »Boundaries […] connect communities and they offer learning opportunities in their own right. These learning opportunities are of a different kind from the ones offered by communities. Inside a community, learning takes place because competence and experience need to converge for a community to exist. At the boundaries, competence and experience tend to diverge: a boundary interaction is usually an experience of being exposed to a foreign competence«. (Wenger 2000: 233). Struktur, wo das Wissen gefördert und vermittelt wird. 39 Infolgedessen prägen sich Lerngemeinschaften zum einen als lebendiger Kontext für das Erlernen soziokultureller Praxis seitens der Neueingetretenen aus - »a privileged locus for the acquisition of knowledge« -, zum anderen als einen produktiven Kon‐ text, in dem man neue Impulse ins gemeinsame Wissen verwandeln kann - »a privileged locus for the creation of knowledge« (Wenger 1998: 214). Die Praxis ist wie irgendein locus innerhalb einer soziokulturellen Landschaft, die Grenzen und Peripherien hat. Grenzen entsprechen logischerweise Diskon‐ tinuitäten zwischen der einzelnen CoP und ihrer Umwelt, weil die kontinuier‐ liche Aushandlung von gemeinsamen Geschichten und Ressourcen zu Diffe‐ renzen zwischen Innen und Außen bringt. Man muss allerdings bemerken, dass Grenzen in Wengers Auffassung keine Hemmung für die Weiterentwicklung von Lerngemeinschaften bedeuten; ganz im Gegenteil bilden sie neue Verflech‐ tungen und Wechselspiele von Erfahrung und Expertise, wobei sie zur produk‐ tiven Bedeutungsaushandlung beitragen. 40 Neben Diskontinuitäten existieren auch Kontinuitäten, die bestimmte Verbindungsarten unter den Grenzen her‐ stellen: Diese werden Peripherien genannt, um ihre Zwitterstellung zu poin‐ tieren. Denn sie enthalten immer Gleichgewichtprobleme zwischen unter‐ schiedlichen Innen- und Außenperspektiven, weil jede Grenzüberschreitung den Lernprozess sowie das Leben der CoP potenziell sowohl erleichtern als auch erschweren kann (140). Am wichtigsten wirken aber Grenzen und Peripherien als Schauplätze für die Bewirtschaftung und Übersetzung des allgemeinen Wis‐ sensgutes. Die Beziehungen, welche die gemeinsame Praxis begründen, werden folgerichtig vom Lernen bestimmt: »As a result, the landscape of practice is an emergent structure in which learning constantly creates localities that re‐ configure the geography« (131). Es sei die Praxis selbst, die Abgrenzungen von und Vernetzungen mit der Außenwelt einer Gemeinschaft schaffe und die somit Teil I. Ausgangspunkte 48 <?page no="49"?> das Gewebe von Diskontinuitäten und Kontinuitäten der sozialen Landschaft bilde. Im Besonderen lassen sich drei von der Praxis ausgebaute Vernetzungs‐ typologien erkennen: boundary practices, Überlappungen und Peripherikali‐ täten. Die ersten Praktiken entstehen vor allem in Organisationen, wenn grenz‐ überschreitende Treffen wiederholt und stabilisiert werden - dabei muss es notwendigerweise ein gemeinsames spezifisches Projekt geben. Direkte und anhaltende Überlappungen geschehen wiederum zwischen Praxen und ermög‐ lichen eine konkrete Wissensbeschaffung. Peripherikalitäten, wie zuvor ange‐ deutet, sind schließlich periphere Erfahrungen oder Beteiligungsformen an der Lerngemeinschaft, die als legitimiert betrachtet werden, ohne alle Vorausset‐ zungen für eine volle Mitgliedschaft zu erfüllen. Dank des jeweils ausgehan‐ delten Zugangs zum Praxisfeld und der spezifischen Peripherikalität erweist sich jede CoP als ein dynamischer Organismus, als »a node of mutual engage‐ ment that becomes progressively looser at the periphery, with layers going from core membership to extreme peripherality« (118). Das Wort Organismus zeigt eigentlich auf etwas Lebendiges, was bestimmte aufeinander folgende Entwick‐ lungsstufen durchläuft. Auch wenn Lerngemeinschaften sich entwickeln und verändern, kann man nicht jede Interaktionseinheit für eine CoP halten. Die Sozialstruktur einer CoP hat eine mittlere Größe, und zwar unterscheidet sie sich von zu kleinen Kreisen, wo Mitglieder keine gemeinsame Praxis erzeugen können und wo langfristige Kontinuitäten nicht sicherzustellen sind, und von zu heterogenen Gruppen, in denen die unterschiedlichen Perspektiven der Mit‐ glieder zusammenstoßen und die Trennung zwischen der CoP und der üblichen Welt bzw. anderen Lerngemeinschaften nicht eindeutig ist. Mit Bezug hierauf listet Wenger die Kennzeichen einer CoP auf: 1. Sustained mutual relationships 2. Shared ways of engaging in doing things together 3. The rapid flow of information and propagation of innovation 4. Absence of introductory preambles, as if conversations and interactions were merely the continuation of an ongoing process 5. Very quick setup of a problem to be discussed 6. Substantial overlap in participants’ descriptions of who belongs 7. Knowing what others know, what they can do, and how they can contribute to an enterprise 8. Mutually defining identities 9. The ability to assess the appropriateness of actions and products 10. Specific tools, representations, and other artifacts 11. Local lore, shared stories, inside jokes, knowing laughter Die Praxis in der Theorie des situierten Lernens 49 <?page no="50"?> 12. Jargon and shortcuts to communication as well as the ease of producing new ones 13. Certain styles recognized as displaying membership 14. A shared discourse reflecting a certain perspective on the world (125 f.) Besonders relevant für die Analyse der Entstehungsphase der Münchner The‐ aterwissenschaft sind die ausgehandelten Modalitäten, sich am gemeinsamen Projekt zu beteiligen, und die Schaffung spezifischer Werkzeuge, Repräsentati‐ onen und anderer Artefakte. Dazu kommen noch der gemeinsam geteilte Dis‐ kurs, welcher eine gewisse Weltanschauung reflektiert, sowie die Abwesenheit einleitender Präambeln. Diese Abwesenheit gilt eigentlich als Zeichen für den ständigen Austausch und die gegenseitige Bereicherung zwischen der Praxis einzelner Gemeinschaften und derjenigen Einstellungen, Aussagen und Praxen, die in demselben gesellschaftlich-historischen Kontext auftauchen und ausge‐ handelt werden. Spezifische Interessen und Probleme der Mitglieder einerseits und deren temporale sowie lokale Eingebundenheit andererseits richten die CoP so ein, dass sie sich aus dem Fluss ihrer Auseinandersetzungen und Aktivitäten bildet. Anders gesagt, Lernen durch CoPs schließt sowohl den Prozess der Wis‐ sensumwandlung als auch den Ort, den Kontext ein, in dem eine partizipative Identität bestimmt wird. Unter Communities of Practice als bevorzugten Unter‐ suchungsfelder versteht man also eine präzise Örtlichkeit, in der eine komplexe Interaktion zwischen Lokalem und Globalem stattfindet. Wengers Auffassung dieser Interaktion ist insofern bemerkenswert, als sie das Lernen in Praxis als eine Art Zwischenraum-Phänomen zeichnet, aus dem sinnhafte Entwicklungs‐ möglichkeiten des Wissens und der persönlichen Erfahrung der Gemeinschafts‐ mitglieder entstehen können. Bei der Differenzierung zwischen Partizipation und Beteiligung stellt Wenger beispielsweise fest: »We can develop new ways of participating in the global, but we do not engage with it. […] The cosmopolitan character of a practice, for instance, does not free it from the locality of en‐ gagement« (131). Einerseits kann die direkte Beteiligung nur lokal sein, auch wenn sie an weltumspannende Probleme gebunden ist, andererseits öffnet sich diese lokale Beteiligung zu einer globalen Partizipation - oder näherhin zu einer translokalen und transkulturellen Dimension. Lernen geschieht nämlich in einer lokalen Praxis, stellt aber einen globalen Kontext für seine spezifische Örtlich‐ keit her. Die von Wenger konzipierte Situiertheit der Handlungspraxis in Raum und Zeit bzw. der Bezugsrahmen aller Interaktionen innerhalb und zwischen Gemeinschaften könnte auch in Bezug auf Chandra Talpade Mohantys Begriff Teil I. Ausgangspunkte 50 <?page no="51"?> 41 Mohanty bezeichnet damit »the historical, geographical, cultural, psychic, and imagi‐ native boundaries which provide the ground for political definition and self-definition« (1995: 68). 42 Wenger illustriert seine Beobachtung anhand von zwei Beispielen: »We define ourselves by what we are as well as by what we are not, by the communities we do not belong to as well as by the ones we do. These relationships change. We move from community to community. In doing so, we carry a bit of each as we go around. Our identities are not something we can turn on and off. You don’t cease to be a parent because you go to work. You don’t cease to be a nurse because you step out of the hospital. Multimem‐ bership is an inherent aspect of our identities.« (2000: 239). politics of location 41 und dessen Implikationen für kritische sozialwissenschaft‐ liche Wissensproduktion betrachtet werden. Mohanty erklärte bekanntlich, Si‐ tuiertheit sei keine weder zeitliche noch örtliche Fixierung, sondern a »move‐ ment between cultures, languages, and complex configurations of meaning and power«, in dem man sich selbst wiedererkennt und definiert (1995: 82) (Herv. im Originaltext). In der Theorie der Communities of Practice beteiligen sich Menschen fortwährend an gewissen lokalen Projekten, wobei sie notgedrungen jedes Mal ihre Identität unterschiedlichen Orten zuordnen, wodurch ein globales Netz von Beziehungen, Erfahrungen und Wissensinhalten aufgebaut wird. 42 Gerade dieser Aspekt der Theorie Wengers interessiert die aktuelle Forschung: Der Fokus liegt nicht mehr auf in sich geschlossenen Einzelgemeinschaften, sondern auf multiplen Praxissystemen, auf Multimitgliedschaft, auf Praxisland‐ schaften und auf durch Praxen hindurch konstruierten Identitäten (Omidvar / Kislov 2013: 270). Die soziale Landschaft der Praxis Die Praxislandschaft resultiert aus unterschiedlichen Partizipationsmodi, die sich zwischen lokalen Interaktionen und globaler Partizipation bewegen. Um die drei wichtigsten Formen oder Mechanismen der Partizipation zu be‐ schreiben, verwendet Wenger die Begriffe Beteiligung (engagement), Vorstel‐ lung (imagination) und Ausrichtung (alignment). Während die Beteiligung eine aktive Mitwirkung bei zeitlich, räumlich und psychologisch markierten Bedeu‐ tungsaushandlungsprozessen bezeichnet, weist die Vorstellung auf einen krea‐ tiven Prozess hin, der die menschliche Erfahrung nutzt, um Weltbilder zu schaffen und Verbindungen durch Raum und Zeit aufzuspüren. Solche über die Beteiligung hinausgehende Bilder und Beziehungen werden zu Grundbestand‐ teilen des Selbstbewusstseins sowie der individuellen Auslegung der eigenen Partizipation an der Sozialwelt. Es ist auffällig, dass sich Wenger dabei auf Be‐ nedict Andersons Vorstellungsgedanken beruft (Wenger 2000: 228). Die Vor‐ Die Praxis in der Theorie des situierten Lernens 51 <?page no="52"?> 43 Anderson bezeichnet die Nation wie folgt: »[I]t is an imagined political community - and imagined as both inherently limited and sovereign.« (1996: 6). 44 Der Begriff Translokalität wird in der Gesellschaftsgeschichtsforschung weithin be‐ nutzt, um sowohl eine neue Sichtweise auf grenzüberschreitende Verflechtungen als auch den Gegenstand mancher Untersuchungen zu beschreiben. »Im letzteren Sinne werden unter Translokalität Phänomene verstanden, die als Ergebnisse von Zirkulation und Transfer gesehen werden können, die also aus konkreten „Bewegungen“ von Men‐ schen, Gütern, Ideen und Symbolen hervorgehen, soweit diese mit einer gewissen Re‐ gelmäßigkeit räumliche Distanzen und Grenzen überwinden.« (Freitag 2005: 2). stellung diente Anderson zum Modell, um die Entstehung gemeinschaftsbild‐ ender Beziehungen bzw. Nationen in der Moderne zu erklären. 43 Die Vorstellung einer begrenzten und souveränen Gemeinsamkeit existiere zwar ohne direkte Begegnung und aktive Mitbeteiligung der Mitglieder, wurzele zugleich aber im soziohistorischen Kontext: Als Entität, die sowohl Individuen als auch deren kleine Gemeinschaften einbezieht und zugleich über diese hinausgeht, ent‐ spricht die Vorstellung einem Wechselspiel zwischen Erfahrungen, Projekten, Selbstdarstellungen, Gefühlen und Bedingtheiten, welches immer neue Identi‐ tätsbeziehungen herstellt. Wenger bekräftigt den Standpunkt Andersons, indem er feststellt, das Hauptmerkmal der Vorstellung sei, dass: it is anchored in social interactions and communal experiences. It is a mode that always involves the social world to expand the scope of reality and identity. Because imagination involves unconstrained assumptions of relatedness, it can create relations of identity anywhere, throughout history, and in unrestricted number. (1998: 178) Diese theoretische Öffnung zur Translokalität 44 hat selbstverständlich ihr prak‐ tisches Pendant: Beteiligung und Vorstellung wirken zusammen als ein Mecha‐ nismus paralleler Einbindung und Entbindung. Die Beteiligung führt zur Her‐ stellung von CoPs, die Vorstellung hingegen ermöglicht dem Subjekt, von seiner Beteiligung Abstand zu nehmen und diese durch die Augen eines Außenste‐ henden zu sehen. Kurzum, die Verknüpfung von Beteiligung und Vorstellung ergebe eine »reflective practice«, welche zwei Fähigkeiten kombiniert: einerseits die Fähigkeit, sich mit einem gemeinsamen Projekt zu identifizieren, anderer‐ seits die Fähigkeit, das Projekt in seinem translokalen Kontext zu betrachten (218). Jeder Akteur gehe also mit Grenzen und Peripherien insofern produktiv um, als er seine Identität(en) mitspielen lassen und suspendieren kann. Indivi‐ duen seien sowohl in lokale Lerngemeinschaften als auch in translokale Netz‐ werken eingebettet, die Prozesse kulturellen Austauschs und Transfers fördern. Im Mittelpunkt der Analyse stehen also nicht mehr einheitliche Akteure, son‐ dern Trägergruppen, die in einem dynamischen Aktions- und Erfahrungsraum translokale bzw. transkulturelle Komponenten ständig miteinander verbinden Teil I. Ausgangspunkte 52 <?page no="53"?> 45 Auch wenn es zumindest drei Erklärungs- und Periodisierungsmodelle für das Globa‐ lisierungsphänomen gibt (Schwentker 2008: 103 f.), wird im Folgenden der Aufsatz be‐ vorzugt, der besagt, epochal sei transnationale Geschichte auf die Zeit seit dem 16. Jahrhundert begrenzt. Dazu sei es weiter bemerkt, dass Transnationalismus als Relati‐ vierung nationalhistorischer Perspektive und / oder als konkretes Bündel von den na‐ tionalstaatlichen Grenzen transzendierenden Praktiken, sozialen Beziehungen sowie Transferphänomenen nur als ein Sonderfall von Translokalität verstanden werden kann. 46 Eine eindringliche Beschreibung des Ausrichtung-Konzepts gibt Etienne Wenger selbst: »The process of alignment bridges time and space to form broader enterprises so that participants become connected through the coordination of their energies, actions, and practices. […] What alignment brings into the picture is a scope of action writ large, of coordinated enterprises on a large scale, not inherent in engagement or in imagination.« (1998: 179). und diese als wandelbare Einheit bilden. Mitglieder solcher Trägergruppen oder Trägerinstitutionen sind Individuen, welche ihre eigene Identität selbst als transkulturell empfinden: Die transkulturelle Fähigkeit, sich durch unterschied‐ liche Sozialwelten zu bewegen und das jeweils spezifische Wissen zu übertragen, um potenziell immer neue mögliche Identitäten zu realisieren, prägt die Men‐ schen seit der Neuzeit. 45 Obwohl Wenger das Präfix „trans“ im Bereich des Translokalen, Transnationalen oder Transkulturalen nie benutzt, verweist die von ihm theorisierte soziale Landschaft der Communities of Practice auf den pragmatischen Ansatz translokaler Sichtweise, der Phänomene der Kontakt‐ zonen berücksichtigt und Übertragungs- und Abneigungsprobleme in den Vor‐ dergrund stellt. Wengers Beteiligung, Vorstellung und Ausrichtung - der letzte Begriff bezeichnet einen Koordinationsprozess von Kräften und Tätigkeiten, welcher das Subjekt darauf vorbereitet, sich an breitere Sozialstrukturen anzu‐ passen und dadurch an umfangreicheren Projekten teilzunehmen 46 - bilden eine Wissens- und Identitätsstruktur ab, die Praxisbeziehungen nicht zwischen Lo‐ kalem und Globalem aufbaut, sondern zwischen verschiedenen Örtlichkeiten, zwischen effektiven und imaginierten Räumen, wie diese eine globale Dimen‐ sion erschließen. So ist es kaum verwunderlich, dass der Identifikationsprozess für Wengers situiertes Lernen zentral ist. Identifikation sei nämlich ein Prozess, durch den die Partizipationsmodi zum konstitutiven Teil menschlicher Identität werden, indem sie Bindungen oder Differenzierungen herstellen, für die man sich ein‐ setzen kann (208 ff.). In dieser Hinsicht deute die Identifikation auf den konsti‐ tutiven Charakter der CoP und der Konturen von Mitgliedschaft oder Nicht-Mit‐ gliedschaft für die menschliche Identität hin. Die Anwesenheit unterschiedlicher Sozialformen von Partizipation, welche die Grenzen einer ge‐ wissen Region transzendieren, führt zur Proliferation translokaler Erfahrungen, Die Praxis in der Theorie des situierten Lernens 53 <?page no="54"?> 47 Zu den Begriffen „Deterritorialisierung“ und „Reterritorialisierung“ im Bereich der Globalisierung siehe Hernàndez 2006. 48 Identifikation durch Beteiligung erfolgt im Handeln selbst; Identifikation durch Vor‐ stellung geschieht mittels Assoziationen und Oppositionen, wobei sich die Menschen ein Bild von der Welt und von sich selbst machen; Identifikation durch Ausrichtung beruht auf dem Mechanismus, durch welchen die individuelle oder kollektive Macht die Ausrichtung fördert und somit die eigene Identität auf der Kraft der Menschen erweitert, die sich gleich ausrichten (Wenger 1998: 193-196). 49 Bourdieu (1985) benutzt das Konzept „sozialer Raum“, um eine Topographie der sozialen Welt zu zeichnen, in der alle Agenten anhand ihrer relativen Position zueinander be‐ stimmt werden. Die soziale Welt sei demzufolge in einem multidimensionalen Raum abgebildet, aus welchem sich mehrere Dimensionen erkennen lassen. Jeder Dimension einspricht eine Form von Kapital (das ökonomische, soziale, kulturelle oder symbolische Kapital). Da jeder Akteur in einem gewissen Moment über eine oder mehrere Kapital‐ formen im jeweils unterschiedlichen Maß verfügt, markiert die Zusammensetzung der Kapitalstruktur seine relative Position im sozialen Raum. Die jeweiligen relativen Po‐ sitionen signalisieren die gesellschaftliche Differenzierung. Vgl. Oßenbrügge 2004: 19 f. die Deterritorialisierungs- und Relokalisierungsprozesse charakterisieren. 47 Der Kontext jedes Partizipationsmodus setzt also eine spezifische Identifikation vo‐ raus, 48 so dass die Identitätsbildung die besondere Aufgabe erfüllt, direkte sowie indirekte Erfahrungen, konkrete sowie symbolische Aushandlungen und Aus‐ einandersetzungen in ein kohärentes Selbstbild und Fremdbild aufzunehmen. Sie bringt den Versuch jedes Individuums zum Ausdruck, seine alltägliche Praxis innerhalb der lokalen Gemeinschaften mit weltumspannenden Phänomenen zu verbinden und diese zwei Bereiche einander gegenseitig zu interpretieren, zu übertragen und einzuverleiben. Der De- und Reterritorialisierungsprozess so‐ zialer Beziehungen und Praktiken, in dem jeder seine Einzelidentität konstitu‐ iert, resultiert somit aus der Wahrnehmung der sozialen Welt durch die unter‐ schiedlichen - doch zugleich komplementären - Mechanismen der Partizipation. Themenkreise, denen eine Forschung aus transnationaler oder transkultureller Perspektive nachgeht, sind demnach alle »über den National‐ staat hinausreichenden Interaktionen, Verbindungen, Zirkulationen, Über‐ schneidungen und Verflechtungen von Menschen, materiellen Gegenständen und Institutionen jeder Art […], sei es in Form von sozialen Praktiken, Symbol‐ systemen oder Artefakten« (Patel 2008: 77 f.). Hierzu könnte Pierre Bourdieus Auffassung von „sozialem Raum“ 49 die praktische Auswirkung der Transloka‐ lität näher beleuchten: Neben den eindeutig lokalisierten sozialen Wirklich‐ keiten gibt es eine relationale Ordnungsvorstellung, die sich als abstrakte Raum‐ konzeption ergibt. Die Wahrnehmung bzw. Erfahrung vom Sozialraum geht also aus einem doppelten Produktionssystem hervor: einerseits aus einer objektiven Perspektive her, durch welche die in einer Gemeinschaft ausgehandelten Ar‐ Teil I. Ausgangspunkte 54 <?page no="55"?> 50 Wie schon erklärt, lässt sich jede Praxis aus Formen der Zugehörigkeit zu und Ent‐ fremdung von der Gemeinschaft, des Zugangs und Nicht-Zugangs zu den Wissensres‐ sourcen strukturieren. 51 Schwentker spricht sogar von einer »Verdichtung von Raum und Zeit«, um den Glo‐ balisierungsprozess zu beschreiben (2008: 102). tefakte und Symbole nicht isoliert, sondern in elementaren Verkoppelungen wahrgenommen werden; andererseits aus einer subjektiven Perspektive her, durch welche die objektiven Strukturen der sozialen Welt inkorporiert werden. Wenn man Ludger Pries’ „transnationale soziale Räume“ bedenkt (1996), kann man diese translokale Raumvorstellung als Zeichen dafür betrachten, dass so‐ ziale Beziehungen und Verflechtungszusammenhänge existieren, die »geogra‐ phisch-räumlich diffus« sind (456) und die sich zwischen und oberhalb der lokal-regionalen Sozialräume aufspannen. Dies ist so zu verstehen, dass Men‐ schen Vorstellungen über Räume benötigen, um ihre Praxen aus der Umwelt abzugrenzen und mithin zu bestimmen, 50 und Vorstellungen über soziale Praxen benötigen, um die Räumlichkeit zu erfassen, in der sie handeln bzw. sich als Identität definieren. Erst in einem translokalen Handlungsspielraum entfalten sich die Wirkungen einzelner Subjekte und zugleich die Ressourcen, die Bedeu‐ tungen und Wissenssegmente, die ständig ausgehandelt und genutzt werden können. Der Blick auf die Translokalität hat demnach die Funktion, »ein Denken in Strukturen durch eines in Strömen ( flows, streams)« zu ergänzen (Oster‐ hammel 2001: 474), d. h. neben der historischen, sozialen und ökonomischen Situiertheit des Wissens auch neue bewegliche Formationen einzubeziehen, die intensive Austauschbeziehungen, produktive Durchmischungen seitens der Träger und Austauschvorgänge in vielen Bereichen zu umfassen. Ein letztes, mit der „sozialen Landschaft“ verflochtenes Element, das man hervorheben muss, bevor man sich mit dem Lebenszyklus einer CoP beschäftigt, ist die Reflexion über die unterschiedlichen Verläufe der Einzelidentität (trajec‐ tories). Unter diesem Begriff verstehet Wenger weder ein Endziel noch einen festgelegten Weg, den man vorhersehen kann. Vielmehr bezeichnet das Wort einen Bezugspunkt, der für die zeitliche Verbindung von Vergangenheit, Ge‐ genwart und Zukunft sorgt (1998: 154). Indem das Subjekt eine Reihenfolge von Partizipationsformen durchlebt, zeichnet seine Identität immer unterschiedliche Verläufe auf, sowohl innerhalb als auch quer über Lerngemeinschaften. Das be‐ deutet, dass mehrere Typologien von Identitätsverläufen existieren - wie etwa periphere, eingehende, innere Trajektorien, Grenztrajektorien oder ausgehende Trajektorien - und dass jede Einzelidentität eine Vergangenheit und eine Zu‐ kunft mit sich bringt. Identität sei demnach nicht nur auf den Raum, sondern auch auf die Zeit bezogen. Raum und Zeit durchdringen sich gegenseitig. 51 Das Die Praxis in der Theorie des situierten Lernens 55 <?page no="56"?> 52 Von grundsätzlicher Bedeutung ist dementsprechend nicht nur die sich wandelnde ge‐ sellschaftliche, territoriale und kulturelle Reproduktion kollektiver Identität, sondern auch die sog. Ich-Identität, die durch ihre Imagination eine soziokulturelle Transloka‐ lität bildet. Vgl. Appadurai (1991; 1996). Lernen, das durch Communities of Practice erfolgt, stellt eine Geographie mög‐ licher Verläufe dar - und zwar den Vorschlag einer Identität: »Learning com‐ munities will become places of identity to the extent they make trajectories possible - that is to the extent they offer a past and a future that can be expe‐ rienced as a personal trajectory« (215). Durch die Partizipation an multiplen Praxissystemen handeln alle Menschen ihre Trajektorien aus, greifen ihre Iden‐ titäten ineinander. Eröffnen Lerngemeinschaften eine Reihe möglicher Verläufe, dann setzen sie Beteiligung, Vorstellung und Ausrichtung zusammen in Gang. Wie Wenger nachdrücklich sagt, nimmt die Beteiligung eigener Identität auch Vorstellung und Ausrichtung auf: »[E]nvisioning these possible futures and doing what it takes to get there« (2000: 241). Das Netzwerk von CoPs muss das Individuum befähigen, ein hohes Maß an lokalem Zusammenhang, globaler Ausdehnung und sozialer Effektivität zu gewinnen. Selbstverständlich bringt die Aushandlung von Trajektorien eine Zusammenkunft von Generationen mit sich, was Wenger als besonders produktiv einschätzt. Er erkennt ausdrücklich an, eine solche Zusammenkunft sei wahrlich ein Treffen, »in which generations attempt to define their identities by investing them in different moments of the history of the practice« (157 f.). Die Zeitlichkeit der Identität in der Praxis ist also weder bloß individuell noch linear-deterministisch, weil Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in gegenseitig verzahnten Verläufen verkörpert sind. Diesbezüglich bietet die Forschungsperspektive Wengers die Gelegenheit, zwei gegensätzliche Aspekte mit neuen Instrumenten zu analysieren. Zum einen können Raum und Zeit als Sozialformen betrachtet werden, welche den situa‐ tionsbezogenen Einsatz, die Vorstellung und Ausrichtung des weltweiten Spekt‐ rums der Träger und Akteure hervorbringen. Raum und Zeit werden somit zu Zentralkategorien jeder Art von Untersuchung, sofern sie eine soziale Land‐ schaft mit fließenden Grenzen bilden, in deren Disjunktionen jedes Individuum Bedeutungen und Identitätsmöglichkeiten aushandeln kann. Diese Kategorien sind daher nicht absolut, sprich vorgegeben, sondern historisch, politisch, öko‐ nomisch, kulturell von jeweils unterschiedlichen Agenten markiert. Obschon Einzelakteure immer an Communities of Practice partizipieren, stehen sie mit ihrer Situiertheit im Fokus der Aufmerksamkeit: Es sind Einzelakteure, die letzt‐ endlich die soziale Landschaft wahrnehmen und diese (um)gestalten. 52 Selbst der Begriff Identität enthält die Erfahrung von Multimitgliedschaft und die Tä‐ tigkeit, alle wahrgenommenen Anhänglichkeiten und eigenen Identitäten in Teil I. Ausgangspunkte 56 <?page no="57"?> 53 Wie Mark Roseman (2005). Auch wenn Roseman zwischen Kontinuitäten und Diskon‐ tinuitäten in den deutschen Jugendbewegungen der Vormoderne und Moderne unter‐ scheidet, lässt er die produktiv-generative Trägerschaft der Generation außer Acht. Man könnte Jugendbewegungen soeben als „entangled histories“, als Verwicklungen, als Beziehungsgeschichten analysieren. eine Ganzheit zusammenzuführen. Zum anderen kann man Generationen nicht nur als „imagined communities“ auffassen, 53 sondern auch als komplementäre Faktoren zum Transport, zur Adaption sowie zur Neubestimmung des Wissens innerhalb und durch CoPs. Eine Generation ist nicht einfach ein Konstrukt, eine Projektionsfläche kollektiver Phantome, Selbstbilder und Erwartungen, die sich als imaginäre Gemeinschaft profiliert, sondern vielmehr die Verkörperung einer spezifischen gemeinsamen Praxis, die in Beziehung mit der Geschichte anderer Generationen steht. Mit anderen Worten: ein derartiges Generationskonzept ermöglicht, sowohl Kontinuitäten als auch Diskontinuitäten als Kategorien aus‐ zumachen. Kontinuität taucht in der Aufeinanderfolge von Illusionen, Projekten oder Deutungen auf, Diskontinuität finde man in den soziopolitischen und kul‐ turellen Verhältnissen, in den realen Rahmenbedingungen, welche »die Chancen generationeller Autopoiesis bestimmen und anscheinend zunehmend begrenzen« (Niethammer 2009: 37). Erst in der Durchdringung von Generati‐ onen erkennt das Individuum die Befangenheit sowie die erforderliche Gebun‐ denheit, die Grenzen sowie die Ausweitungsmöglichkeit seiner eigenen Erfah‐ rung in der sozialen Welt. Diese Auffassung zieht die zwei Dimensionen des Generationsbegriffs in Betracht, und zwar einerseits dessen synchronische Aus‐ dehnung, welche »Operationen der Einteilung, Abgrenzung und Identifizie‐ rung« entspricht, und andererseits dessen diachronische Ausdehnung, welche die Generativität bzw. die Genealogie betrifft (Weigel / Parnes / Vedder / Willer 2005: 7). Die Generation als Selbstverständnis und zeitgleich als Prägekraft im Prozess des Erwerbes und der Erzeugung von Wissen stellt ebendaher das Span‐ nungsverhältnis zwischen Einrichtung und Transformation der Praxen dar, das sich allein wirksam erweist. Lerngemeinschaft, Lehrtätigkeit und Performativität Was mich an Kutscher immer begeisterte, war die lebhafte Art seines Vortrags. Sein Mit-Dabei-Sein versetzte auch seine Hörer in Stimmung und brachte ihnen Epochen und Persönlichkeiten nahe. […] Wenn Kutscher las, wurde der Hörsaal immer etwas Bühne. (Regimius Netzer in Günther 1953: 181) Lerngemeinschaft, Lehrtätigkeit und Performativität 57 <?page no="58"?> 54 Statt einer chronologischen Gliederung der Phasen wird im Folgenden eine flexiblere praxisgerechte Einteilung bevorzugt. Damit die Entwicklung einer CoP genauer gefasst werden kann, gliedert Wenger u. a. deren Lebenszyklus in fünf prägende Phasen oder Momente, die von einer jeweils unterschiedlichen spannungsgeladenen Beziehung zwischen den Grundbestandteilen gekennzeichnet sind. Auch wenn dieser Phasenablauf zu streng erscheint, um die effektive Entfaltung der Münchner Theaterwissen‐ schaft zu erklären, 54 ist es immerhin brauchbar, die Entwicklungsmerkmale jeder Phase zusammenzufassen: Sie verweisen nämlich auf die wechselnden Heraus‐ forderungen der Mitglieder und des Koordinators einer CoP sowie auf das tem‐ porale und räumliche Spannungsfeld, in dem die Praxis selbst immer wieder definiert wird. Im Gewebe der Entwicklungsstufen eines kooperativen Lernens kann außerdem die Rolle der Lehrtätigkeit hervorgehoben werden, was uns auf die Figur Artur Kutscher zurückführt. Kutschers Fokussierung auf die Ausbil‐ dung der SchülerInnen bzw. seine pädagogische Berufung wird sich schließlich als ein grundlegendes Element erweisen, um in der neugeborenen praxisbezo‐ genen Disziplin das spezifische, kollektiv erarbeitete Wissen zu tradieren, zu erneuern und aktiv für die Aufgabenerfüllung anzuwenden. Die erste Lebensphase einer Lerngemeinschaft fällt mit seiner Gründung zu‐ sammen; es handelt sich also um eine Phase, in der das Potential der entste‐ henden Gemeinschaft bekannt wird und sich systematisch zu organisieren be‐ ginnt. Man braucht selbstverständlich Planungswerkzeuge und Gründungsaktivitäten, um aus einem losen Personennetzwerk eine struktu‐ rierte, praxisorientierte Gruppe zu bilden. Der Ursprung einer CoP liegt aber nicht in einem Leerraum: Die mitbeteiligten Subjekte haben nämlich schon etwas Gemeinsames sowie Beziehungen zueinander, »[t]hey start to see their own issues and interests as communal fodder and their relationships in the new light of a potential community. As the sense of a shared domain develops, the need for more systematic interactions emerges and generates interest« (Wenger / Snyder 2000: 71). Aus diesem Knotenpunkt heraus taucht eine Person auf, die für den Start der gemeinsamen Praxis die Verantwortung übernimmt. Das herauszuholende Potential stellt den Gemeinschaftsmitgliedern eine Span‐ nungssituation vor: Alle Teilnehmer müssen die Entdeckung nutzbarer, bereits vorhandener Elemente, gemeinsamer Probleme und einer geteilten Geschichte mit der Vorstellung einer künftigen Mission balancieren. Die Identifikation ge‐ meinsamer Forderungen an Wissen und Handeln führt zur Aushandlung sowohl von Ressourcen als auch von Visionen, so dass die Lerngemeinschaft eine be‐ stimmte Trajektorie annimmt. Eine zweite Stufe im Leben der CoP entwickelt Teil I. Ausgangspunkte 58 <?page no="59"?> sich aus der Verschmelzung der Mitglieder sowie ihrer Aktionsprinzipien. Die entstehende CoP ist mit der Schwierigkeit konfrontiert, eine konkrete Gruppe zu bilden und sich nach Außen hin zu profilieren. Der anfängliche Enthusiasmus kollidiert notgedrungen mit der Realität des strukturellen Aufbaus, der Ver‐ trauensgewinnung unter den Mitgliedern, der Interaktionsfähigkeit und der Förderung des Ideenaustauschs. Da solche dem Zusammenwachsen dienende Aktivitäten keinen unmittelbaren Nutzen bringen, kann die Beteiligung der Mitglieder stark sinken und somit der interne Zusammenhalt zerrissen werden. In diesem Moment ist ein Gleichgewicht zwischen der für die Entwicklung er‐ forderlichen Etablierung von Beziehungen, Ritualen sowie Interaktionen und der konkreten Wertschaffung herzustellen. Wenn eine CoP diese Lebensphase übersteht, dann beginnt das Wechselspiel zwischen öffentlichen und privaten Räumen zu funktionieren: Die praxisorientierte Gemeinschaft nimmt stufen‐ weise feste Gestalt an und wird zu einem Fixpunkt für die Erlebnisse der Mit‐ glieder. Die dritte Phase besteht folglich im Reifwerden: Nachdem sie den Wert des gemeinsamen Lernens festgestellt hat, muss die Gruppe das ausgehandelte Projekt näher bestimmen und eine stärker auf die Gemeinschaft fokussierte Identität bilden. Die Mitglieder entwickeln ihr Selbstverständnis als aktive Teil‐ nehmer, steigern mithin ihr Engagement und verleihen der Arbeitsgruppe eine hohe Dynamik. In dieser Phase beschäftigt sich die Lerngemeinschaft damit, die eigenen Ziele zu klären, Standards für die Problemlösung und Routineoperati‐ onen festzulegen, Wissenslücken zu finden und auszufüllen, das gemeinsame Wissen effizient zu organisieren und die eigenen Grenzen zu bestimmen. Die zwei gegensätzlichen Forderungen sind daher die kräftige Expansion und die systematische Fokussierung bezüglich zentraler Themen und Zwecke. Man könnte sogar behaupten, das innere Wachsen entspreche einem Modernisie‐ rungsprozess, einer Wiederaufnahme schon ausgehandelter Bedeutungen und Praxisressourcen in Anbetracht der umliegenden Sozialwelt. Die folgende Ent‐ wicklungsphase ist dann jene der Festigung, die durch eine fortwährende Trans‐ formation gekennzeichnet ist. Die Gemeinschaft reagiert auf die Umwelt und gestaltet diese zeitgleich: »The strength of communities of practice is self-per‐ petuating. As they generate knowledge, they reinforce and renew themselves« (Wenger / Snyder 2000: 143). Einerseits entwickelt sie ihre Methoden weiter, um das gewonnene Wissen zu expandieren, und sucht andere Kontexte, um dieses zu überprüfen und umzusetzen. Aus diesem Grund öffnet sie sich Newcomern und erarbeitet neue Ansätze. Andererseits versucht die CoP, dank der gewon‐ nenen Relevanz im eigenen Wissensgebiet andere Lerngemeinschaften oder größere Organisationen zu beeinflussen. Die Mitglieder versuchen also, den Lernprozess in der Gesellschaft intensiv zu nutzen. Ein Spannungsverhältnis Lerngemeinschaft, Lehrtätigkeit und Performativität 59 <?page no="60"?> entwickelt sich in dieser Hinsicht zwischen der gezielten Offenheit und den Eigentumsansprüchen langzeitiger Mitglieder, die Angst davor haben, in der breiteren Gemeinschaft ihre Führungsrolle und ihren Einfluss zu verlieren. Die letzte Entwicklungsstufe trägt den viel sagenden Namen „Umwandlung“, der eine tiefgründige Transformation oder sogar das Ende der CoP bezeichnet. Aus‐ lösende Faktoren können ein nicht mehr aktueller Wissensstand, ein übertrie‐ bener Tätigkeitsdrang, eine fehlende Identifikation der Mitglieder mit der ge‐ teilten Praxis und dem Projekt, strukturelle Veränderungen oder die Verstreuung der Mitglieder in andere Lerngemeinschaften sein. Die Herausfor‐ derung besteht also darin, die Spannung zwischen der Auflösung der ganzen Gemeinschaft und der Fortführung als Erbe für andere Communities of Practice abzubauen. Wie jeder andere lebende Organismus kann auch eine Lerngemein‐ schaft wegen interner Schwächen oder mangelnder Funktionstüchtigkeit sterben. Darum [t]he very qualities that make a community an ideal structure for learning - a shared perspective of a domain, trust, a communal identity, long-standing relationships and established practice - are the same qualities that can hold it hostage to its history and its achievements. The community can become an ideal structure for avoiding learning. (Wenger / McDermott / Snyder 2002: 141) Eine aufgelöste CoP kann nichtsdestotrotz in der Erfahrung der Mitglieder wei‐ terleben und als Ansatzpunkt für eine Fusionierung oder für eine Neugründung genutzt werden. Was aus dem erörterten Lebenszyklus klar hervorgeht, ist die Positionierung von Communities of Practice - als Lerngemeinschaften - im Prozess sozialer Umgestaltung. Die Tatsache, dass Lernende alle Beziehungen von Identifikation und Aushandlung innerhalb einer teils konkreten teils imaginierten Landschaft immer neu konfigurieren, ist ebenso wichtig für das Lernen wie der Zugang zu Informationen. Die Umgestaltung betrifft also nicht nur von Mal zu Mal die lokale Praxis, sondern auch ihre translokalen Einbeziehungen: Lernen sei dem‐ nach »a way of being in the social world, not a way of coming to know about it. Learners, like observers more generally, are engaged both in the contexts of their learning and in the broader social world within which these contexts are produced« (Hanks 1991: 24). Insgesamt lässt sich also resümieren, dass die Teil‐ habe an CoPs den Lernprozess ermöglicht und dass Lernen seinerseits ein Mittel zum Ausbau der Teilhabe an CoPs ist. Beim Lernen handelt es sich um einen erweiterten Zugang zur Performance, und zwar um den Vollzug bestimmter Aufgaben, gemeinsam getroffener Entscheidungen, etablierter Formalitäten und Riten. Erst durch die Teilnahme an einer CoP werden die Lerngegenstände und Teil I. Ausgangspunkte 60 <?page no="61"?> -werkzeuge relevant und es können sich neue Lerninhalte entwickeln. Das ge‐ meinsame Lernen führt somit die Subjekte dazu, notwendige Expertisen und Fertigkeiten zu erschließen und diese durch die selbsterlebten Ereignisse zu er‐ gänzen. Der Erfolg des Koordinators einer CoP geht also mit seiner Fähigkeit einher, das spezifische Wissensgebiet und die Partizipation an der gemeinsamen Praxis so zu strukturieren, dass jedes Mitglied seinen Spielraum im und durch den Lernkontext hat. Die ständige wechselseitige Bereicherung zwischen der individuellen Lebenserfahrung und dem gemeinsamen Handeln dient der Ent‐ wicklung sowohl von den Einzelpersönlichkeiten als auch von der Lerngemein‐ schaft. Der Kutscher-Kreis als Lerngemeinschaft Wenn man zu den Anfängen der Münchner Theaterwissenschaft zurückkehrt, dann merkt man gerade im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in den Uni‐ versitätsvorlesungen und -übungen Artur Kutschers die progressive Trennung zwischen Lehr- und Lerninhalten einerseits, die man als der neueren deutschen Literatur zugehörig betrachtet, und der wissenschaftlich-didaktischen Ausei‐ nandersetzung mit Theaterstücken und Inszenierungen andererseits. Diese Dif‐ ferenzierung der Wissensbereiche veranlasste schnell das Experimentieren und dann die endgültige Durchsetzung neuer Forschungs- und Lehrmethoden, welche die Theaterpraxis gleichzeitig als Gegenstand der Analyse, als Untersu‐ chungsmethode und als Wirkungsebene für gemeinsames Handeln betrachten. Der direkte Übergang zu einer praxisbezogenen Disziplin vervollkommnete sich innerhalb des Kutscher-Kreises und durch die Beziehung zwischen dem Lehrer, den Künstlern und den Schülern. Die Münchner Theaterwissenschaft entstand zweifelsohne durch die Koordination durch eine Leitfigur wie Kutscher, wurde aber erst durch den Austausch und durch die Teilnahme einer Gruppe von Per‐ sonen verwirklicht. Kutscher war eher der Leiter einer Lerngemeinschaft als der Vertreter eines Fachgebietes, da er das Objekt, die Methodologie, die Probleme und die Aufgaben der Theaterwissenschaft als veränderliche Aushandlungser‐ gebnisse betrachtete, die er am gesellschaftlichen Kontext und an anderen Mit‐ wirkenden seines kulturellen Kreises band. In den Berichten der Intellektuellen, Freunde oder Schüler Kutschers über die anfängliche Phase des theaterwissen‐ schaftlichen Lern- und Lehrprozesses in München, findet man lediglich die Be‐ Lerngemeinschaft, Lehrtätigkeit und Performativität 61 <?page no="62"?> 55 Was die Berliner Theaterforschung betrifft, erklärte Bruno Th. Satori-Neumann schon im Jahr 1925, man spräche »in der Theaterwissenschaft von der sogenannten „Berliner theaterwissenschaftlichen Schule Professor Max Herrmanns“«. Der Erfolg des Aus‐ drucks war so breit, dass auch Rudolf Münz (1974) und später Stefan Corssen (1998) ihn verwendeten. In Anlehnung daran favorisierte Corinna Kirschstein (2008) die Bezeich‐ nung „Leipziger Schule“ für die theaterwissenschaftliche Forschung Albert Kösters. Helmar Klier (1981: 10) schrieb hingegen von einer „Wiener Schule“, die sich aus dem Programm Kindermanns entwickelte. 56 Die zitierten Ausdrücke tauchen mehrmals in den Erinnerungen von Kutschers Schü‐ lern (wie in Günther 1957, Baer 1960 und Kemp 1999) sowie in den Briefen auf, die von oder an Artur Kutscher geschrieben wurden. Siehe zum Beispiel Ruederer, Josef an Kutscher, Artur, 20. Mai 1911 (Monacensia, JR B 839); Kutscher, Artur an Noder, Anton Alfred, 30. Dezember 1918 (Monacensia, A I / 7); Falckenberg, Otto an Kutscher, Artur, 21. März 1939 (DLA, A: Kutscher 57.4480); Wesendonk, Aladar von (Noûs. Internationale Zeitschrift für Wissenschaft) an Kutscher, Artur, Mai 1946 (Monacensia, n. k.); Kutscher, Artur an Kölwel, Gottfried, 18. Dezember 1957 (Monacensia, A I / 15). 57 Vgl. u. a. den Artikel Höchst fatal! Zum Fall Kutscher, München in der Reichszeitung des NS-Studentenbundes „Die Bewegung“ (1. Juli 1936) sowie den Brief von Robert Spindler (Seminar für Englische Philologie) an den Dekan der Philosophischen Fakultät, I. Sek‐ tion, Univ.-Prof. Dr. W. Wüst, 25. August 1936 (UAM, O-XIV-508). 58 Obgleich ein berühmter Kreis damals in München schon tätig war, und zwar der um Stefan George, hatte die Praxis dieses Kreises auf den Kutscher-Kreis kaum einen Ein‐ fluss: Der theaterwissenschaftliche Kreis wurde nie als eine Sekte empfunden, in der man den Meister in einen Kultusgegenstand verwandelte und sich künstlerischen und sittlichen Exzessen widmete. zeichnung „Kreis“, während der Ausdruck „Schule“ nicht einmal erscheint 55 . Die besondere semantische Fruchtbarkeit des Ausdrucks „Kreis“ erweist sich tat‐ sächlich in einer Reihe von Deklinationen, welche die Zentralität der Arbeits‐ gruppe immer hervorhebt: Der mehrmals zitierte »Kutscher-Kreis« war sowohl ein »Schülerkreis« als auch ein »Freundeskreis«, ein »fruchtbarer«, »kunstge‐ schulter« Kreis mit eigener Tradition, und schließlich ein »Wirkungskreis«. 56 Offenbar benutzten die Studenten Kutschers diesen Begriff, um von innen he‐ raus die Grenzen des gemeinsamen Unternehmens zu markieren. Die Tatsache, dass die Bezeichnung dann auch von politischen Autoritäten und Universitäts‐ kollegen angewandt wurde, beweist die äußere Anerkennung, die in wenigen Jahrzehnten die Münchner Theaterwissenschaft gewonnen hatte. 57 Der Thea‐ terprofessor selbst verstand seine Lerngemeinschaft nicht als eine Wissens‐ struktur, in der ein aufgeklärtes Einzelsubjekt seinen Hörern die Prinzipien und Ansätze einer Wissenschaft sowie deren praktische Anwendung einschärfte. Ganz im Gegenteil, er betonte wiederholt welchen grundlegenden Wert die Ko-Partizipation als Basis und Anreiz für die Lernsituation hat. 58 Der Lernende wird ja instruiert, wie er zu handeln hat, aber nicht durch einen überlegenen Lehrmeister oder weil ein abstrakter sozialer Zusammenhang vorgegeben ist, Teil I. Ausgangspunkte 62 <?page no="63"?> 59 Wie z. B. Kirschstein 1989: 82 f. 60 Tollebeek präzisert anschließend, dass »the discipline’s locations are not chosen by chance, and are not neutral, but are meaningful sites at which the production of knowledge […] responds to or is supposed to respond to specific ambitions« (2014: 130). 61 Vgl. Pfeiffer Belli 1925: 2-3. sondern er lernt aus der »Wahrnehmung, Redefinition und emotionale[n] Be‐ wertung« der Lernsituation in ihrer Situiertheit in der Praxisgemeinschaft (Wehner / Clases / Endres 1996: 77). Am Anfang aller Überlegungen bezüglich der Lernsituation im theaterwis‐ senschaftlichen Kutscher-Kreis steht also die Frage, wo und wie das Lernen praktiziert wurde. Es wäre eine oberflächliche Betrachtungsweise, würde man, was die Münchner Theaterwissenschaft betrifft, die in der Universität selbst betriebene Forschung von der praktischen Forschungsarbeit in Kneipen, Ver‐ einen oder auf Studienfahrten unterscheiden. 59 Der Fokus soll daher nicht in der Differenzierung zwischen Innerhalb und Außerhalb der Universität bzw. des Universitätssystems liegen, sondern auf dem Dazwischen. In der modernen Historiographie um 1900 sieht Jo Tollebeek beispielsweise eine intendierte Selbst-Inszenierung, d. h. den Versuch, durch die Gestaltung der sogenannten „Landschaft der Disziplin“ 60 eine neue Bildungsform herzustellen, »whose pur‐ pose was to make a nouvelle histoire possible« (2014: 130). In der sich in den‐ selben Jahren konstituierenden Theaterwissenschaft könnte man ebenso das Ziel erblicken, durch die Vermischung von traditionellen universitären Räumen, privaten Gesellschaften und Vereinen, informellen Kreisen, Ausflugsorten und Bühnen zum einen das reformierte Theater der Zukunft zu gestalten und zum anderen eine dem Theater gewidmete Disziplin zu etablieren. In der Regel wurden die theaterwissenschaftlichen Vorlesungen im Universitätshauptge‐ bäude und die Übungen im Institut, im Theatermuseum, in der Universitätsbib‐ liothek, auf der Probebühne und / oder in Schauspielhäusern abgehalten. 61 Da‐ rüber hinaus wurden Autorenabende, Theaterbesuche, Stammtischtreffen und Gesellschaftssitzungen zum Bestandteil des Studiums. Eine wichtige Stelle im Studienplan bekamen auch die gelegentlichen Theaterexkursionen. Die neue Disziplin verband ihren Wissensmodus mit den politisch-strategischen und kul‐ turrelevanten Örtlichkeiten der Gegenwart und brachte dadurch das Studium an der Universität mit aktuellen Fragen der Kunst und der Gesellschaft in Ver‐ knüpfung: Das Hochschulsystem hätte sich der Theaterwissenschaft annehmen müssen, weil sie schon Teil der Kunstdebatte und dazu der sozialen Entwicklung der Jugend war. Lerngemeinschaft, Lehrtätigkeit und Performativität 63 <?page no="64"?> 62 In dem Versuch, der Theatergeschichte eine fast objektive Basis für die Kunstbetrach‐ tung zu garantieren und das Problem des Wandelbaren und Transitorischen im For‐ schungsgegenstand „Theater“ zu bewältigen, begann Carl Niessen verstreute histori‐ sche Theatralia zu sammeln: Bücher, Abhandlungen, Stücktexte, Libretti, Programmhefte, Theaterzettel, Plakate, Gemälde, Bühnenbild- und Kostümentwurfe, Fotos und Diapositive, aber auch Skulpturen, Bühnenmodelle, Musikalia, die ersten Filme und vor allem Theatermasken, Puppen, Schattenfiguren. Da es in den 1920er und -30er Jahre noch keinen Marktwert für solche Materialien gab, wuchs die Sammlung quantitativ und qualitativ schnell. Vgl. Kirsch 1992. Gerade um die Jahrhundertwende trat fernerhin eine Wende im Wesen so‐ wohl der Wissenschaft als auch des Theaters ein, der sich auf die theaterwis‐ senschaftliche Lehrtätigkeit Artur Kutschers auswirkte. Einerseits sahen die Verkünder der Theaterwissenschaft die Notwendigkeit ein, durch die Schaffung einer historiographischen Grundlage und durch die Zusammenstellung eines Kanons den Forschungsgegenstand „Theater“ wissenschaftsfähig zu machen. Die performative Theaterkunst wurde folgerichtig in Objekten, Artefakten und Modellen fixiert, welche man sammeln konnte: Das Theater wurde also musea‐ lisiert. Treffende Beispiele für diese Tendenz bieten die vielen Theatermuseen und neuen Theatersammlungen, welche in die Universitäts- und Forschungs‐ institute eingegliedert wurden. Schon 1910 wurde das Münchner Theatermu‐ seum im Clara-Ziegler-Haus gegründet, 1919 richtete Carl Niessen seine Thea‐ tersammlung ein, 62 bis zu seinem Tod im Jahr 1924 vereinigte Albert Köster eine theatergeschichtliche Sammlung in Leipzig, 1922 baute Joseph Gregor die The‐ atersammlung der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien auf, 1924 ver‐ anlasste Eugen Wolff die Einrichtung des Kieler Theatermuseums, 1927 rief Oskar Eberle die „Gesellschaft für schweizerische Theaterkultur“ ins Leben, welche die Schweizerische Theatersammlung in Bern etablierte. Andererseits entdeckte die akademische Theaterwissenschaft den Körper, die Oralität und die Spektakularität als Bestandteile nicht nur ihres Forschungsgegenstandes son‐ dern auch ihrer Lehrstrategien. Es wurde also versucht, die Tendenz zur Ver‐ dinglichung mit der Vitalität und Dynamik der Kunst zu bekämpfen, welche die Dozenten eben im Theater der Gegenwart erkannten. Universitäre Lehr‐ veranstaltungen entwickelten sich allmählich in Richtung Performativität. Ob‐ wohl eine explizite performative Fokussierung in der erziehungswissenschaft‐ lichen Reflexion erst in den 1990er Jahren zu beobachten ist, um jeweils eine Metapher für die Unterrichtskommunikation, eine Methode der partizipatori‐ schen Lehre oder ein Paradigma fürs Bildungserlebnis zu bezeichnen (Pineau 1994: 6), kann man schon um die Jahrhundertwende eine neue Konzeptualisie‐ rung des Bildungsbegriffs erkennen, die sich auch im Universitätsunterricht ab‐ zeichnete. Unter Bildung wurde ein Prozess verstanden, in dem sich die Einzel‐ Teil I. Ausgangspunkte 64 <?page no="65"?> identität der Lernenden und die sich verändernden soziokulturellen Kontexte ständig verflechten. Eine solche Verkettung hätte dann allen Subjekten ermög‐ licht, an ihren Bildungs- oder Lernbedingungen mitzuwirken, und zwar sich selbst sowie ihre (Praxis)Gemeinschaft zu gestalten. Die rege Beteiligung aller Mitglieder - Lehrer und Schüler - an der Anhäufung, Bereicherung, Neu-Defi‐ nierung und Weitergabe von Wissen erfordere daher eine immer höhere Auf‐ merksamkeit für die Regeln, Rollen und Rituale, die jeden Teilnehmer in den Lernprozess einbinden. Der performative Blickwinkel auf die Identitäts- und Gesellschaftsbildung bestimmt mithin die pädagogische Funktion des Lehrers neu: Er sei weder ein vom performativen Kontext isolierter Schauspieler noch ein Prediger inmitten der passiven, amorphen Masse seiner Studenten, sondern die leitende Figur der Aufführung „Unterricht“, der Koordinator, der die Lern‐ gemeinschaft organisiert, der er selbst angehört. Lernende seien demzufolge nicht mehr Objekte des Bildungsprozesses, sondern dessen Subjekte, die sich ständig mit Lerngegenständen und Deutungen auseinandersetzen. Im unter‐ richtlichen Lernen werden dann die Körperlichkeit, das Erfahrene, die einzelnen Ereignisse und die ausgehandelten Wissensressourcen besonders signifikant. Eine sog. performative Lehrtätigkeit besteht in anderen Worten darauf, dass es im Unterricht um gelebte Realität geht, also um die Existenz, wie sie konkret erfahren wird. Jedes Fachgebiet entspricht folglich einer wahrnehmbaren Praxis, »in der sich ein bedeutender Teil subjektiver Kulturleiblichkeit bildet« (Klepacki 2009: 21). Performative Aspekte des gemeinsamen Lernens Kutschers außergewöhnliche Stellung in der Entstehungsphase der Theater‐ wissenschaft, d. h. seine Bestrebung, die wissenschaftliche Arbeit an Fragen des zeitgenössischen Theaters anzubinden und den intensiven Austausch zwischen Historiographie, Kritik und Praxis zu unterstützen, rührt von der oben geschil‐ derten Konvergenz von Wissenschaft und Kunsttheater her. Im Prozess der Wissenserzeugung akzentuierte Kutscher den performativen Aspekt des ge‐ meinsamen Lernens und fügte theatrale Komponenten in die wissenschaftliche Methodik ein. Dabei trat die aktive, partizipatorische Lerngemeinschaft in den Vordergrund und die Aushandlung von Lerninhalten, Interpretationen und wis‐ senschaftlichen sowie künstlerischen Praktiken überschritt die Grenzen der professoralen Lehre im Seminarraum. Hugo Hartung sprach hierüber von den Impulsen »Forscherdrang, Lern- und Lehrbegier«, die den Kutscher-Kreis in Vorlesungen, Übungen, Exkursionen, Autorenabende, Theaterbesuche und -kri‐ tiken soeben wie in studentische Aufführungen trieben (1966: 164). Der ehema‐ Lerngemeinschaft, Lehrtätigkeit und Performativität 65 <?page no="66"?> 63 Alle Beispiele für die Lehrtätigkeit Kutschers stammen aus den Erinnerungen seiner Schüler, die sich entweder in Festschriften zu Ehren des alten Professors oder in pos‐ tumen Schriften befinden. Man könnte an der Objektivität solcher Berichte zweifeln, doch die offensichtliche Funktion, dem Meister - auch nach seinem Tod - die innige Dankbarkeit zu zeigen, entwertet nicht automatisch die Verlässlichkeit solcher Aus‐ sagen. Im Fall der Festschriften hätte Kutscher die unkorrekten Berichte oder die un‐ wahren Anekdoten dementieren können - zum Kutscher-Mythos trugen schon viele Geschichten bei; im Fall der postumen Veröffentlichungen, die oftmals Kutscher nicht direkt betreffen, unterlagen die Autoren keinem äußeren Zwang, eine Hagiographie vom Theaterprofessor zu schreiben. lige Student erinnert sich nicht nur an ein »spazierengehende[s] Lernen« (165), sondern auch an die »Vorlesung belebende[n] Glanznummern« (161), die Kut‐ schers Programm bis in die 1960er Jahre hinein charakterisierten. Bezüglich der Art und Weise, wie Kutscher die Mitwirkung seiner Schüler an der gemeinsamen Praxis förderte, seien nur einige aufschlussreiche Beispiele genannt. 63 Hugo Hartung schilderte Kutschers Haltung während der Lehrveranstaltungen fol‐ gendermaßen: In seinen Vorlesungen kam Artur Kutscher uns oft vor wie Mephisto, der den Schüler lehrt und plötzlich wieder mal den Teufel spielen muß. Dann zog er wohl die Augen‐ brauen hoch, den Mundwinkel herunter, die Faust fuhr aufs Katheder nieder, und ein scharfer satirischer Pfeil schwirrte von der Sehne. Ihn gar den Mimus als den Urquell allen Theaters leidenschaftlich verteidigen sehen, war oft genug auch ein mimisches Erlebnis. (1966: 161) Nach der Beschreibung von Kutschers temperamentvollen Ausführungen und coups de théâtre im Universitätssaal konstatierte er: »Die Geheimräte«, wie Kutscher seine Gegner kollektiv zu nennen pflegte, ver‐ sperrten ihm den Weg zum Lehrstuhl eines Ordinarius. […] Sie verstanden, daß ein Theaterwissenschaftler nicht nur die Meistersingerbühne von Nürnberg getreulich zu rekonstruieren brauchte, sondern daß er selbst jenen »Tropfen Theaterblut« besitzen mußte, den unser Professor allen Seminaradepten als Grundbedingung Numero eins mit steilem Zeigefinger abverlangte. / Für einen Kutscherschüler, der diesen Tropfen Theaterblut in sich hatte, war der Schritt in die Praxis nie sonderlich schwer. (163) Vom besonderen Interesse ist hier zunächst die implizite Kritik an der Tendenz anderer Dozenten bzw. Institute, die Aufgaben der Theaterwissenschaft auf die Rekonstruktion einzelner Inszenierungselemente zu beschränken. Der Rekon‐ struktion widersetzte sich das Erlebnismoment, das man erst durch die und in der konkreten Theaterpraxis hat. Auch Carl Niessen betonte diesen Ansatz Kut‐ schers: In der Lehre des Münchner Professors »stand die Bühne der Erfahrung stets im Mittelpunkt« und für seine Schüler »wurde das Theater nie zu einer Teil I. Ausgangspunkte 66 <?page no="67"?> Abstraktion« (in Günther 1938: 199). Da das verkörperte Wissen allein eine starke Wirkung auf der künstlerischen sowie gesellschaftlichen Ebene entfalten könne, erschöpfte sich das gemeinsame Lernen nicht im Unterricht, sondern ging programmatisch durch unkonventionelle Örtlichkeiten wie Theater‐ fahrten, Wanderungen, Zusammenkünfte, Stammtische und Aufführungen weiter. Darüber gab Ernst Hoferichter eine erschöpfende Auskunft: Da waren die Vorlesungen bei Arthur Kutscher über Theatergeschichte, Stilkunde und Literarische Kritik sowohl Befreiung wie Entbindung. Hier herrschten statt der Ismen allein das Leben und seine Wirklichkeiten. Lebensgefühl war alles! Eine imaginäre Nabelschnur verband seine Vorlesungen mit der Fülle des Erlebens. „Meine Dam’n und Herren! “ begann eine Stimme, die ihre Erbmasse nicht aus der Sixtinischen Ka‐ pelle bezogen hatte. Schwer und dumpf kamen da Töne aus dem Inneren. Hier sprach die Erde mit. Diese Stimme höre ich noch immer. Was sie vortrug, habe ich längst vergessen. […] Die Wände des Hörsaals versanken. Wir saßen in einem Wald, zitierte Verse wurden Blätterräuschen. […] Und wenn eine Stunde zu Ende war, so stand die Kutscherei erst am Anfang eines Tages. Kanäle des Jungseins führten ins Herzgeviert brodelnder Lebendigkeit. (in v. Bruch / Müller 1986: 321 f.) Hugo Hartungs Wortwahl „Adepten“, „Grundbedingung“ und „verlangen“ soll hier deswegen in den Fokus gerückt werden, weil sie die Organisation der von Kutscher koordinierten Lerngemeinschaft eindeutig bestimmt. Hartung ist nicht der Einzige, der den partizipatorischen Charakter des Kutscher-Kreises ge‐ wahrte: Arnaudoff, bulgarischer Professor für deutsche Sprache und Kultur, be‐ hauptete, Kutschers »Vorlesungen, Übungen und Ausflüge« seien »massenhaft besucht bzw. mitgemacht« worden, und betonte fernerhin die Wichtigkeit der Bedeutungsaushandlung (in Günther 1938: 192). In Kutschers Übungen hätten alle Teilnehmer die Herausforderung angenommen, sich mit den im Seminar‐ raum vorgeschlagenen Gedanken, Auffassungen oder Urteilen eingehend aus‐ einanderzusetzen, so dass »häufig verschiedene Meinungen verfochten wurden und im Kampfe miteinander standen« (193). Auch Pongs, Professor für deutsche Literatur an der TH Stuttgart, erkannte, dass Kutschers Übungen »den Hörer in Zustimmung und Widerspruch« aktivierten (203), und Schalom Ben-Chorin präzisierte dahingehend, dass alle im Unterricht gewonnenen Erkenntnisse »bei Kutscher nicht vorgefaßte akademische Meinung, sondern Endprodukte langen Nachdenkens und reicher Erfahrung« waren (in v. Bruch / Müller 1986: 339). Vor diesem Hintergrund muss der Begriff ‚Praxis‘ in Kutschers Lehrtätigkeit weiter erläutert werden: Der Theaterprofessor bezog sich damit nicht nur auf die Bühnenpraxis als mögliches Endziel einer universitären Bildung, sondern auch auf die Praxis der wissenschaftlichen Untersuchung. Die Voraussetzung für die Teilnahme an der Münchner theaterwissenschaftlichen CoP war ein Lerngemeinschaft, Lehrtätigkeit und Performativität 67 <?page no="68"?> »braves Immerdasein. Hier hieß es: immer darin sein - mitten in der Kunst, mitten im Leben und in der lebendigen Wissenschaft« (Hartung 1966: 165). Kunst, Leben und Wissenschaft bildeten somit ein Kontinuum, in dem sich alle drei Elemente bewegen sowie gegenseitig beeinflussen und bereichern. So ist es kaum verwunderlich, dass Kutscher als »der einzige Wissenschaftler, der das Theater als ein lebendiges und aus eigenen Gesetzen wachsendes Werk der Kunst erkannte« vom Regisseur Karl Hans Böhm und als »ein Mensch, der die Brücke zu schlagen wußte zwischen Wissenschaft und Praxis« vom Dramaturg Hermann Frieß bezeichnet wurde (in Günther 1938: 266 u. 272). Hoferichter bekräftigte diese Darstellungen, indem er schrieb: »Obgleich das ewig Leben‐ dige ohne den Geist lebendig bleiben könnte, kam die Strenge der Wissenschaft bei Kutscher nicht zu kurz« (in v. Bruch / Müller 1986: 322). Die Grundkonzepte von Kutschers Forschung, d. h. das Zusammenwirken und das Aneinander‐ lernen, waren zum einen in akademischen Veranstaltungen und zum anderen im Kontakt mit dem aufgeführten oder noch aufzuführenden Theater vermittelt. Der übliche Verlauf eines theaterwissenschaftlichen Unterrichts in München bezog sich auf zwei Hauptmethoden: die einleitende Veranschaulichung und die nachfolgende Feldarbeit. Kutscher bot allen Mitgliedern der praxisbezogenen Lerngemeinschaft zuerst Anschauungsmaterialien wie Lichtbilder, Diapositive, Bücher mit Zetteln oder Modelle aus unterschiedlichen Stoffen, und dann for‐ derte er die Mitglieder auf, mit oder aus diesen Objekten heraus selbstständiges Experimentieren bzw. empirische Feldforschung zu betreiben und die erwor‐ benen Kenntnisse zu überprüfen. Er lehrte aus der Praxis heraus für die Praxis. Manchmal benutzte er auch banale Gebrauchsgegenstände, um das Verständnis eines Spiels oder die Erfassung eines Phänomens auf der Bühne vorzubereiten. Das von Norbert Schultze erzählte Hutexperiment in einer Vorlesung ist also ein gutes Beispiel für Kutschers Lehrtätigkeit: Er wollte das »Wesen des Komischen« an Hand eines Experimentes noch einmal zu‐ sammenfassend deutlich machen. Dazu hatte er einen feierlichen steifen schwarzen Hut mitgebracht. Das »Experiment« bestand nun darin, die »Glocke« auf mannigfal‐ tige Art und unter gewissenhafter Veränderung des Neigungswinkels auf das Profes‐ sorshaupt zu stülpen. Solch eine Art Demonstration scheint mir typisch für Professor Kutscher: Sie war ebenso unterhaltend und erheiternd wie einprägsam und zweck‐ mäßig. (in Günther 1938: 306) Die Demonstration zeigt nicht nur die modernen sowie exzentrischen Lehrme‐ thoden Kutschers, sondern auch seine Art, die Materialität der Szene - die ‚Glocke‘ ist ein im Volkstheater immer wieder vorkommendes Element - im Seminarraum zu reproduzieren, um sie den Studenten erfahrbar zu machen. Außerdem können die Vorlesungsteilnehmer ihre Fähigkeiten und Fantasie an‐ Teil I. Ausgangspunkte 68 <?page no="69"?> hand der gebotenen Situation unter Beweis stellen. Die performative Didaktik Kutschers ist ein Beweis dafür, dass der Dozent und seine Schüler keine ent‐ körperlichte, abstrakte Wahrheit verfolgten, sondern dass sie sich an »collabo‐ rative fictions« beteiligten (Pineau 1994: 10), um die Pluralität der Meinungen und Weltanschauungen zu einem kollektiv erarbeiteten Wissen zusammen‐ fließen zu lassen, welches dann seine konkrete Anwendung in der Forschung sowie im Leben finden konnte. Alle möglichen Wissensansprüche sollten daher innerhalb der theaterwissenschaftlichen Gemeinschaft ausgehandelt und auf‐ geführt werden: »[P]erformance reframes the whole educational enterprise as a mutable and ongoing ensemble of narratives and performances, rather than a linear accumulation of isolated, discipline-specific competencies« (Ebd.). Lerngemeinschaft, Lehrtätigkeit und Performativität 69 <?page no="70"?> Teil II. Potentialphase München, der kulturelle Pol Man suchte nach einem Ferment, das dieses Zellgewebe einer Stadt so weitmaschig und locker gemacht hat. Du verläßt einen Kreis, und der nächste nimmt dich auf. Du treibst dich so lange im fünften, bis dich unversehens drei Schritte wieder in den Mittelpunkt führen, während du schon dachtest, wer weiß wo zu sein. Jeder ist zu‐ gleich, wo er ist, und überall. Jeder ist bei jedem. Jeder hat alle Kreise. Alle Kreise haben jeden und keinen. Wenn man zu Ende ist, ist man wieder am Anfang. Wenn man sein Kleid nicht mehr zeigen kann, verkleidet man sich. […] Und so war München die Stadt einer gefühlsmäßigen Demokratie und auch des Karnevals. (Blei 2004: 322 f.) Nach dem Abitur in der Geburtsstadt Hannover entschied sich Kutscher im September 1899 für die Münchner Universität, wo er bei Hermann Paul, Franz Muncker, Roman Woerner, Adolf Furtwängler, Karl Theodor von Heigel und anderen anerkannten Namen studierte, die damals in der Hauptstadt Bayerns lehrten. Im Sommersemester 1900 besuchte er die Universität zu Kiel, an der Eugen Wolff Seminare über Schillers Ästhetik und über die Geschichte des deutschen Dramas im 19. Jahrhundert hielt. Kutscher ließ sich von Wolffs Vor‐ stellung einer Wissenschaft des Theaters begeistern und las auch seine skiz‐ zenhafte Stilkunde mit Interesse, bevor er sie aber aus mangelnder wissen‐ schaftlicher Präzision und Vollkommenheit ablehnte. Im Wintersemester 1900 / 1901, nach dem Besuch der Pariser Weltausstellung, zog Kutscher nach Berlin und, auch wenn er »das Theater gründlich kennenlernen« wollte (1960: 32), belegte dort vor allem germanistische Vorlesungen: „Altertums- und Volks‐ kunde“ bei Karl Weinhold, die er positiv fand, „Geschichte der ältesten deutschen Literatur“ bei Roediger, dessen Reizlosigkeit Kutscher sehr schnell verurteilte, „Goethes Faust“ bei Ludwig Geiger, die dem Studenten eine dermaßen große Enttäuschung verursachte, dass er aus dem Kolleg hinauslief, und schließlich „Deutsche Literatur von Klopstock bis Schiller“ bei Erich Schmidt, dem ver‐ ehrten Nachfolger Wilhelm Scherers, den Kutscher auch hochschätzte. Darüber hinaus hörte der späte Theaterwissenschaftler Max Dessoirs Vorlesung „Äs‐ thetik mit Beispielen aus moderner Malerei, Musik und Architektur“. Gerade in jener Berliner Zeit engagierte sich Dessoir für die Neubegründung einer syste‐ matischen Kunstwissenschaft, was zweifellos eine große Faszination auf Kut‐ <?page no="71"?> scher ausübte. Allerdings verschlug es Kutscher im Sommersemester 1901 nochmals nach München und von da ab wurde die Stadt zu seiner Wahlheimat. Die Gründe seiner jugendlichen Entscheidung erklärte Kutscher in seiner Au‐ tobiographie: »Was mich veranlaßte, wieder München zu wählen, war nicht eigentlich die Universität, sondern die Atmosphäre der Stadt«, die er näher be‐ stimmt: »ihre Offenheit gegen die mannigfaltige, große Natur, ihre ganze Le‐ bensführung, die einem kräftigen […] Volkstum verbunden war, und ihre Liebe zu bildender Kunst, Architektur, Musik, Theater, die weniger vom bajuwari‐ schen Stamme als von Zugereisten aus Nord und Südost getragen wurden« (35). Was tatsächlich München um die Jahrhundertwende charakterisierte, war einerseits der Aufschwung des Wirtschaftslebens, der am Ende des sog. „Sieb‐ ziger Krieges“ gegen Frankreich begann, und andererseits die Bevölkerungsex‐ plosion: Durch eine massive Einwanderung wurde die Zahl der Einwohner in der Zeitspanne 1890-1900 von 350 000 auf 498 503 erhöht (Wilhelm 1993: 9). Neben den darauffolgenden aufsteigenden sozialen Konflikten erlebte die Stadt das Aufblühen von Vereinen, Bünden, Kreisen und Gesellschaften, Zeitungen, Zeitschriften und internationalen Ausstellungen, wie die ab 1889 jährliche In‐ ternationale Kunstausstellung im Glaspalast, die den Ruf Münchens als „Stadt der Kunst“ begründete. Die Prinzregentenzeit leitete eine Blütezeit ein, die München in eine der führenden Kunst- und Kulturstädte des deutschen Reiches verwandelte. Der Münchner Aufbruch in die Moderne wurde von sehr unter‐ schiedlichen Persönlichkeiten, Bewegungen und kulturellen Richtungen ge‐ tragen, die aber einen gemeinsamen Charakter zeigten: der Widerstand gegen die Autorität - auch im künstlerischen Bereich - ebenso wie gegen viele sittliche Normen und Unterdrückungsformen. Der Begriff ‚Moderne‘ entfaltete sich kunst-, theater- und literarhistorisch in der naturalistischen Bewegung und gleichzeitig in mancherlei Gegenrich‐ tungen, die im Kunstwerk entweder die Entfaltung der Subjektivität nach Nietz‐ sches „Willen zur Macht“ oder den Einbruch des Freud’schen Unbewussten oder die Erweckung naturmystischer Vorstellungen erstrebten. Wie Brauneck tref‐ fend zusammenfasst, ergab sich in der Moderne »ein äußerst produktives geist‐ iges Klima […], in dem künstlerische Richtungen wie Impressionismus, Sym‐ bolismus oder „Neuromantik“ ihre theoretischen oder weltanschaulichen Bezugspunkte fanden« (682). Sowohl die Vertreter des Naturalismus als auch die Naturalismus-Gegner propagierten ein eigenes Projekt der Moderne: ent‐ weder einen Objektivitätsanspruch (Außenwelt, Realität „ohne die Menschen“) oder einen subjektiven Wahrheitsbegriff (Innenwelt, Empfindung, Naturtrieb, Vitalismus). Wenn man sich im deutschsprachigen Raum auf München allein konzentriert, ist sowohl die Koexistenz gegenseitiger und trotzdem eng ver‐ München, der kulturelle Pol 71 <?page no="72"?> 1 Die damaligen Dichtersterne waren der Nobelpreisträger Paul Heyse, Emanuel Geibel, Martin Greif, Hermann Lingg und Felix Dahn. Sie bildeten den sog. „Münchner Dich‐ terkreis“ im Kontext der Kulturpolitik Maximilians II., die darauf abzielte, durch Kunst und Wissenschaft sowohl die bayerische Monarchie zu legitimieren als auch die Stadt München zu neuem Glanz zu führen. 2 Diesbezüglich siehe Jelavich 1985: 11-26, bes. S. 21-23. 3 Wagners Theaterutopie wird von Primavesi (2010) facettenreich dargestellt. bundener Strömungen als auch das Kulturengagement unterschiedlicher Grup‐ pierungen am deutlichsten erkennbar. Eine Beschreibung des kulturellen Pols München um 1900 ist für die Analyse der frühen Tätigkeit Artur Kutschers äu‐ ßerst brauchbar, denn diese enthielt schon in nuce das Potential für die Förde‐ rung bzw. Koordination einer praxisorientierten Theaterwissenschaft. Wenn man Communities of Practice genauer betrachtet, kann man diese nicht als iso‐ lierte Erscheinungen auffassen oder sie unabhängig von anderen Praktiken ver‐ stehen: Ihre unterschiedlichen Praktiken sind miteinander eng verbunden. Ihre Mitglieder und ihre Artefakte sind nicht ihre eigenen allein, ihre Geschichten sind nicht einfach interne Geschichten. Sie sind eher Artikulationsgeschichten zur übrigen Welt hin (Wenger 1998: 103). Was die Kunst- und Kulturgeschichte Münchens in der Prinzregentenzeit prägt, sei eben die Aufwertung der Gemein‐ schaft im Sinne einer Bildung von sozialen Gruppierungen unterschiedlicher Art. Eine solche Kollektivität entfernte sich allmählich vom aufklärerischen Ideal einer kulturellen Elite, die nach ihrem geistigen Muster die ganze Nation modellieren sollte, und gab sich eher der Volksutopie hin. Die Künstler, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Förderung eines kultivierten Bürgertums beschäftigt hatten, plädierten für die Ausbreitung eines unpolitischen Klassi‐ zismus und waren daher der königlichen Macht untergeordnet. 1 Die junge Künstlergeneration rebellierte demnach heftig gegen diese sterile Kunst, die in ihren Augen den Status quo einfach verteidigte und die deutsche Misere ver‐ tiefte. In ihrer Vorstellung sollte ein außergeschichtliches oder unhistorisches Volk an die Stelle einer bürgerlichen bzw. philiströsen Nation treten. In diesem Zusammenhang spielte die Theatervision Richard Wagners unzweifelhaft eine große Rolle. 2 Wagners Kunstbegriff fußte auf dem Gemeinschaftserlebnis, wel‐ ches durch emotionale, prä-rationale Bindungskräfte eine temporäre Überwin‐ dung der sonst gültigen Gesellschaftsspaltungen erforderte und hierdurch das ganze Volk konsolidieren und einigen konnte. 3 Eine für das Volk erzeugte Kunst konnte nur aus der idealisierten Gemeinschaft des Volks selbst kommen und verlangte somit die Zusammenarbeit zwischen Intellektuellen, Theoretikern, schon ausübenden sowie debütierenden Künstlern, die sich jeweils durch eine Verflechtung ihrer Praktiken gegenseitig legitimierten. Rolf Parr, Literaturhis‐ Teil II. Potentialphase 72 <?page no="73"?> toriker und anerkannter Forscher auf dem Feld literarisch-kultureller Vereine vor und nach dem ersten Weltkrieg, hat versucht, das Phänomen systematisch zu kontextualisieren: Im wilhelminischen Deutschland hätten das Prosperieren von Technik, die Industrialisierung und die Universalisierungstendenz eines kapitalistischen Systems zur Radikalisierung der Opposition zwischen vorhan‐ denem Materialismus und mangelndem Idealismus geführt, »was notwendiger‐ weise kulturkritische Konzepte mit kompensatorischer Intention auf den Plan rufen mußte, die von einer nach 1860 geborenen und bereits im Reich aufge‐ wachsenen Generation von Intellektuellen getragen wurden« (2000: 47). Man betrachtete also die schwache nationale Identität der Deutschen als direkte Folge des kulturellen Verfalls und beabsichtigte daher, das Verhältnis zwischen Nati‐ onalidentität und Kultur zu problematisieren: Für diesen Teil des wilhelminischen Bildungsbürgertums galt es, zum einen nach „außen“ zu expandieren und zu kolonisieren, […] zum anderen nach „innen“ die deut‐ sche Kultur zu erneuern, um damit […] das Spezifische eines präsupponierten deut‐ schen Nationalcharakters und zugleich die eigene sozio-ökonomische Stellung zu si‐ chern. (Ebd.) Die konsequente Reaktion sei eine konservative Kulturkritik gewesen, welche die Kunst idealistisch verstand, wobei sie diese mit einem germanischen Kult verband. Das Volk würde somit zum utopischen Zielbegriff einer noch zu verwirklichenden neuen nationalen Integra‐ tion, um deren Realisierung sich um 1900 eine Vielzahl kulturkritischer, lebensrefor‐ merischer und in der Regel zugleich völkisch-religiös akzentuierter Gruppe, Bünde, Orden, Gemeinschaften und Kreise bemühte, die teils mit minimalen Distinktionen in Konkurrenz zueinander standen, sich teils in übergeordneten Verbänden kooperie‐ rend zusammenschlossen. (49) München, der kulturelle Pol 73 <?page no="74"?> 4 Ganz deutlich verbindet Parr die vielen um die Jahrhundertwende entstandenen Ver‐ einsprojekte mit der »Suche nach einer Neuakzentuierung, Ergänzung oder gar Ablö‐ sung der Literatur als favorisiertem Interdiskurs«, und zwar mit dem Versuch, neue interdiskursive Diskurse zu etablieren - wie bildende Kunst, Architektur oder The‐ ater -, die gleichzeitig völkische Diskurse ermöglichen konnten (2000: 16). 5 Unter dem Begriff ‚reaktionär‘ versteht Herf eine Tradition der bürgerlichen Rechts‐ ideologie, die nach einer kulturell-politischen Revolution suchte, welche die ganze Na‐ tion revitalisieren und die Degeneration umkehren konnte, die von einem Exzess von Zivilisation verursacht wurde. Mit ‚Modernismus‘ meint er eine Entwicklung von Themen, die mit der modernen Avantgarde und dem Irrationalismus verbunden waren: »If aesthetic experience alone justifies life, morality is suspended and desire has no limits. Modernism exalted the new and attacked traditions, including normative tradi‐ tions. As aesthetic standards replaced moral norms, modernism indulged a fascination for horror and violence as a welcome relief to bourgeois boredom and decadence. Mo‐ dernism also celebrated the self. When modernists turned to politics, they sought en‐ gagement, commitment, and authenticity, experiences the fascists and Nazis promised to provide« (1984: 12). 6 Die häufigen und kunstprägenden Reisen deutscher Schriftsteller und Künstler ins Ausland - man denke nur an Conrads, Georges, Albert Langens oder Wedekinds fran‐ zösische Reisen - können nicht als Kolonialisierungsversuche oder als Expansion »nach „außen“« gelesen werden. Gerade im Zeitalter der politischen Nationalismen schuf die internationale, moderne Kunst ein kulturelles Imaginär, das als Vermittlungsinstanz zwischen der individuellen Phantasie einerseits, die sich in lokalen ästhetischen Pro‐ dukten manifestierte, und der transkulturellen Erfahrungswirklichkeit andererseits fungierte. Die Moderne entfaltete sich nämlich als Kultur, die »intern durch eine Plu‐ ralisierung möglicher Identitäten gekennzeichnet« war und »extern grenzüberschrei‐ tende Konturen« aufwies (Welsch 1994: 84). Die Durchlässigkeit im ästhetischen Raum zwischen den konventionellen Nationalgrenzen erlaubte auch ausländischen Künst‐ lern, sich in München zeitweilig niederzulassen, wie im Fall von Marc Henry, Henrik Ibsen, Olaf Gulbransson, Anton Ažbe, Wassily Kandinsky, Alexej von Jawlensky, Ma‐ rianne von Werefkin oder Rudolf von Laban. Der Ansatz einer konservativen Kulturkritik 4 ebenso wie der eines reaktionären Modernismus im Sinne Jeffrey Herfs 5 übersieht jedoch die ständige Gegenüber‐ setzung von Denkern und Künstlern mit auktorialen Instanzen - seien sie Ver‐ körperung der kulturellen Tradition oder Ausdruck der politischen Macht -, die Öffnung der deutschen Kunst zu ausländischen, sogar transnationalen Stilen 6 sowie die Aushandlung von Bedeutungen, Funktionen und Praktiken zwischen Mitgliedern zwar unterschiedlicher, jedoch verbundener Gemeinschaften, Künste und Disziplinen. Die Münchner Moderne kann eigentlich als »constellation of interconnected practices« bezeichnet werden. Damit meint Wenger Beziehungen zwischen Lerngemeinschaften, welche gemeinsame historische Wurzeln, voneinander abhängende Projekte sowie einige gemeinsame Mitglieder haben, einen ge‐ meinsamen Zweck erfüllen oder einer Institution angehören, sich mit denselben Teil II. Potentialphase 74 <?page no="75"?> 7 Grenzen und Peripherien sind in Wengers Modell bedeutende Stellen für Koordination und Übersetzung, die sowohl die Ränder einer Lerngemeinschaft als auch ihre An‐ knüpfungspunkte zur Welt darstellen. Sachverhalten konfrontieren, Artefakte miteinander teilen, entweder geogra‐ phisch oder durch Interaktion naheliegen, Überlappungsdiskurse oder -stile zeigen und welche schließlich für dieselben Ressourcen in Konkurrenz stehen (1998: 127). Die Interaktion zwischen Praktiken gibt der Konstellation eine ge‐ wisse Kontinuität und, umgekehrt, eine einzige CoP produziert und reproduziert die Verbindungen, Stile, Medien, Werkzeuge und Diskurse, durch die sie dazu beiträgt, eine breitere Konstellation zu bilden (130). Dieser Aspekt der Moderne in München ist noch prägender, wenn man die Abgrenzung und Strukturierung ihrer vielen praxisorientierten Gruppierungen betrachtet. Die Abgrenzung ist immer das Resultat historisch gewachsener und gemeinsam benutzter Hand‐ lungs- und Deutungsmuster, welche sich nur zum Teil in formal-organisatori‐ schen Parametern spiegeln: »Sie sind vor allem Ergebnis von Aushandlungs‐ prozessen zwischen betrieblichen Akteuren, die sich im Produktionsalltag immer wieder neu vollziehen« (Wehner / Clases / Endres 1996: 79). Die Träger der Geschichte und Tradition einer CoP sind daher die Produktionsmittel, bzw. Artefakte, und die Organisationsstrukturen. Eine so markierte Abgrenzung der kulturellen CoPs war aber um 1900 in der Hauptstadt Bayerns nicht vorhanden, was folglich daran zweifeln lässt, ob man von Communities of Practice überhaupt sprechen kann. Sie waren vielmehr embryonale praxisbezogene Gruppierungen, die einfach gemeinsame Interessen teilten oder die sich um starke Persönlich‐ keiten sammelten, ohne die Bedingungen für eine gemeinsame Unternehmung auszuhandeln. Sie mangelten ferner an einem im Laufe ihrer Existenz erzeugtem Repertoire, das sie von anderen Lerngemeinschaften unterscheiden ließ. Auch die charakteristische Multimitgliedschaft und Vielseitigkeit der Gesellschaften der Münchner Bohème gefährdete ständig ihre Grenzen und Peripherien 7 sowie ihre Reproduktion, d. h. die Tradierung lokaler Deutungsmuster und relevanter Handlungssegmente. So ist es kaum verwunderlich, dass alle künstlerisch-ge‐ selligen Zirkel ihre interne Dynamik nicht lange zu bewahren wussten, nur we‐ nige Jahre dauerten und mehrmals neugegründet wurden - oft mit anderen Namen. Schon 1954 vertrat Heribert Wenig in seiner - übrigens von Borcherdt und Kutscher selbst betreuten - Dissertation zu deutschen akademisch-drama‐ tischen Vereinigungen eine ähnliche Ansicht: Eine kulturelle und künstlerische Erneuerung im sozial-ethischen Sinne hätte der Parteisozialismus in seiner Beschränkung auf wirtschaftliche und politische Probleme freilich nicht durchführen können. Erst die Hilfe einer Gruppe von Individualisten, die sich aus allen Gesellschaftskreisen zusammensetzten und nur durch ihre sozialis‐ München, der kulturelle Pol 75 <?page no="76"?> tischen Neigungen verbunden waren, vermochte das zu tun. Diese Repräsentanten des sozialen Gewissens der Zeit bildeten, ohne dass man sie gesellschaftlich hätte einordnen können, eine Art anonyme Partei. Es war eine Partei der Jugend, in der die akademische besonders vertreten war und sich hervortat. Sie war kaum ein Feind des Kapitalismus im sozialdemokratischen Sinne, sie kämpfte nur gegen die Macht des Kapitals über die geistige Freiheit. Erfüllt von nationalem Stolz, zog sie gegen den nationalen Illusionismus zu Felde. […] Das ewige Preisen und Beschönigung natio‐ naler Tugenden und der zur Macht und Reichtum führenden Errungenschaften be‐ deuteten für sie hauptsächlich einen Rücktritt. […] Diese Partei verfolgte vor allem soziale und ethische Ideale. Und sie fand hauptsächlich auf dem künstlerischen Gebiet für das Zustandekommen einer sozialen Kultur zusammen. So war es zunächst mehr ein Programm der Vereinigung […]. (7) Die erste Proto-Lerngemeinschaft der Münchner Moderne, welche die vorher erwähnten Züge trägt, entwickelte sich um die Literaturzeitschrift „Gesellschaft. Realistische Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben“, die am 1. Januar 1885 gegründet wurde. Die Beschreibung ihrer Entstehung und Ver‐ änderung soll dem Zweck dienen, die Probleme der konkurrierenden Künst‐ lerkreise vor Augen zu führen, die von ihr ausgingen. Die „Gesellschaft“ bildete sich weniger aus gemeinsamen Ideen oder Pro‐ jekten als vielmehr aus der generellen Verurteilung des als steril empfundenen Epigonen-Klassizismus der „offiziellen“ Kultur. Darüber hinaus strebten alle Mitglieder danach, ein politisches Diskussionsforum für die Moderne naturalis‐ tischer Prägung zu errichten. Die epochemachende Nähe zwischen Kunst und soziopolitischen Bemühungen kennzeichnete bereits sowohl die Zeitschrift als auch die an ihr gebundene „Gesellschaft für modernes Leben“, welche am 29. Januar 1891 in der Gaststätte Isarlust ihre erste öffentliche Veranstaltung durch‐ führte. Wenn der Klassizismus von Heyse und Kollegen eine Flucht im wirk‐ lichkeitsentfernten Idealismus gefunden hatte, wollten Michael Georg Conrad - Hauptvertreter des Naturalismus in München - Otto Julius Bierbaum, Julius Schaumberger, Georg Schaumberg, Hanns von Gumppenberg und der von vielen als Inbild des modernen Dichters verehrte Detlev von Liliencron »die künstlerische Produktion mit einem Engagement für die „Verbesserung der Le‐ bensführung der Armen und Notleidenden jeder Art und Herbeiführung ver‐ nünftiger Lebensgestaltung“ und damit Kunst und Politik verbinden« (Wilhelm 1993: 16). Schriftsteller, Journalisten, Dramatiker und andere Künstler ver‐ langten also ein gesellschaftliches, ja politisches Engagement, ohne damit par‐ teipolitisch zu sein. Der erste Paragraph der Satzung der „Gesellschaft für mo‐ dernes Leben“ lautete: Teil II. Potentialphase 76 <?page no="77"?> 8 In einer späteren Beschreibung des verstorbenen Freundes heißt es bei Kutscher: »[D]er Träumer mußte sich auseinandersetzen mit den Problemen des Tages, mußte erkennen, daß Mitarbeit an der Besserung der Verhältnisse nicht der unwürdigste Teil der Auf‐ gaben des echten Dichters sei. Aus H.s sozialen Gedichten spricht die schmerzliche Ergriffenheit des jungen Idealisten über die Not des Lebens in den Tiefen, über das Elend des Großstadtproletariats, über die Vergewaltigung des Arbeiters, über das Schicksal der Dirne. Der Enthusiast für Menschenglück und Völkerfrieden tritt auf als Ankläger der Gesellschaft, des Staates und zeigt in grellen Farben, in überscharfer Schatten- und Lichtverteilung seine echte Entrüstung. […] H. war wie einst Herwegh von dem Wahne befangen, man könne die soziale Frage mit dem Liede lösen, durch Kampf einerseits und sodann durch Lobpreisung rein menschlicher Güte […]« (1932: 131). 9 Zum Dramatisch-Theatralen in Gerichtsverhandlungen und zu deren Bedeutung für die Theatralisierung der Kultur in der Münchner Moderne siehe Balme 1994: 21 f. Zweck der Gesellschaft ist die Pflege und Verbreitung modernen schöpferischen Geistes auf allen Gebieten […] durch Vortragsabende, Errichtung einer freien Bühne, Veranstaltung von Sonderausstellungen von Werken bildender Kunst, Herausgabe einer Zeitschrift und sonstiger literarischer Veröffentlichungen. Politische Tendenzen irgendwelcher Art stehen der Gesellschaft fern. (zit. nach Wilhelm 1993: 18) Wenn man die Struktur dieser Gemeinschaft näher betrachtet, erkennt man zwei relevante Gestaltungsdimensionen, die später auch in anderen Kreisen und Ver‐ einen zu verzeichnen sind: den Impuls zum Aktivismus und die Etablierung von Gewohnheiten und Zeremonien, wie etwa den Stammtisch, die Veranstaltung von Theateraufführungen, Autorenabenden oder die Veröffentlichung wissen‐ schaftlicher Texte. Speziell soll aber auch auf die mangelnde Aushandlung von Bedeutung innerhalb der „Gesellschaft für modernes Leben“ eingegangen werden, da sie ihre Weiterentwicklung behinderte. Ein klares Beispiel dafür bietet der dritte Vortragsabend der Gesellschaft, als Hanns von Gumppenberg aus den Werken von Karl Henckell vorlas, der als proletarischer Dichter galt 8 . Er las auch das Gedicht An die deutsche Nation vor, in dem sich Henckell scho‐ nungslos gegen den Kaiser äußert. Das Publikum protestierte vehement, man klagte von Gumppenberg wegen Majestätsbeleidigung an und die „Gesellschaft für modernes Leben“ distanzierte sich vom politischen Inhalt des Gedichtes, indem sie erklärte, sie hätte nur dadurch literarisch-künstlerische Tendenzen zeigen wollen. Auch von Gumppenberg verteidigte sich vergebens im Laufe der Gerichtsverhandlung auf diese Weise: Am Ende wurde er zu zwei Monate Fes‐ tungshaft verurteilt 9 . Kurz nach dem Ende des Prozesses richtete sich die Münchner Polizei gegen die Zeitschriften „Gesellschaft“ und „Modernes Leben“, die ebenfalls Beiträge naturalistischer Autoren veröffentlichten. Der Natura‐ lismus wurde weiterhin als verdächtig angesehen, als Inbegriff von Nihilismus und Atheismus, als Sprachrohr der Sozialdemokratie. Conrad distanzierte sich prompt von solchen Anklagen, wobei er sich mehrmals innerhalb weniger Mo‐ München, der kulturelle Pol 77 <?page no="78"?> 10 Vgl. Jelavich 1985: 43. 11 Auch im Ruederer-Kreis fanden Autorenabende regelmäßig statt. Vgl. Halbe 1976: 157- 161. nate als Nationalist, Protestant und SPD -Gegner öffentlich bezeichnete. Die Po‐ sition Conrads wurde aber von anderen jüngeren Mitgliedern der Gesellschaft nicht geteilt, was zu einem ideologischen Bruch führte: Schon Ende September 1891 bemerkte Schaumberger in einem Brief an Max Halbe, die „Gesellschaft“ mangele inzwischen an Einheit und Einigkeit. 10 Conrad und seine Vertrauten einerseits sowie die jüngeren Künstler andererseits waren nicht in der Lage, die Gemeinschaft zu erhalten und ihre Bedeutung, ihre Prinzipien sowie ihre Ak‐ tivitäten auszuhandeln. Nur die Aushandlung der Bedingungen innerhalb einer Lerngemeinschaft ermöglicht nämlich die Reziprozität des Vertrauens unter den Mitgliedern, die zum wesentlichen Bestandteil der Praxis wird. Im Fall der „Ge‐ sellschaft“ könnte man auch sagen, dass ihr gemeinsames Projekt bzw. das Er‐ gebnis eines kollektiven Aushandlungsprozesses als zu schwach resultierte und die Personengruppe löste sich auf, sobald die partikulären Interessen der Mit‐ glieder in der Praxis der Gemeinschaft nicht mehr integriert werden konnten und die Gesellschaftspraxis sich zugleich durch die partikulären Interessen der Mitglieder nicht mehr modifizieren ließ. Sehr schnell traten konkurrierende Li‐ teraturkreise, literarische Gesellschaften und Kulturstammtische in München auf, die die Existenz der „Gesellschaft für modernes Leben“ überflüssig machten und ihre Mitglieder anzogen. Die „Nebenregierung“, mit der Josef Ruederer und junge Musiker, Maler und Schriftsteller die zwei ‚Hauptregierungen‘ - bzw. den Naturalismus der „Gesellschaft für das moderne Leben“ und den Klassizismus eines Paul Heyse - herausfordern wollten, 11 ist nur ein Beispiel für einen An‐ hängerkreis, dessen Trägerschaft zu elitär blieb und dessen Einsatzraum zu be‐ grenzt war. Theaterdebatten und -experimente in München Die erfolgreichste neue Gesellschaft war „Der Akademisch-Dramatische Verein“, die ihren Wissensbereich deutlicher als die vorherigen Gemeinschaften bestimmte, Stile, Rituale und zeremonielle Aktivitäten für ihre Erhaltung etablierte und jedem legitimen Mitglied erlaubte, an den verschiedenen Hand‐ lungssegmenten teilzunehmen. Der am 27. November 1891 von Studenten der Münchner Universität, Intellektuellen und ausübenden Künstlern zur Förderung der modernen Kunst gegründete Verein identifizierte das lebendige Theater als seinen Wirkungsbereich, nach dem Vorbild der Berliner „Freie Bühne“. Als das Programm zur Förderung der gegenwärtigen Bühnenkunst vom Münchner Teil II. Potentialphase 78 <?page no="79"?> 12 25. Juni 1903, neben der Aufführung von Kurt Goldmanns Einakter Tragödie des Tri‐ umphs. Eine komplette Auflistung der Veranstaltungen des „Akademisch-Dramati‐ schen Vereins“ findet man in Hartl 1976: 96-104. Schauspielhaus zunehmend übernommen wurde, nutzte der Verein die Gele‐ genheit, sich anderen Zielen zuzuwenden: erstens der Popularisierung debü‐ tierender Dramatiker und Schauspieler, zweitens der »Pflege noch unbekannter oder kaum gespielter Werke vergangener Zeiten«, wie das Dialektlustspiel Dat‐ terich von Ernst Niebergall (Wenig 1954: 35). Der Verein distanzierte sich Schritt für Schritt vom naturalistischen Kurs, als man spürte, dass der Naturalismus längst tot war: »[D]ie enge Zusammenarbeit mit jungen Schriftstellern der ver‐ schiedensten Richtungen und die fruchtbare Auseinandersetzung mit dem sich immer mehr der „Moderne“ öffnenden Berufstheater bewahrten den „Akade‐ misch-Dramatischen Verein“ vor Einseitigkeit und Erstarrung in literarischen Dogmen« (Hartl 1976: 67). Demnach inszenierte man sowohl Dramen von Ibsen, Hauptmann, Sudermann und Max Halbe als auch Stücke von Maeterlinck, Wilde, D’Annunzio, Wedekind und drei Dialoge (4.-6.) aus Arthur Schnitzlers Reigen 12 , was am 28. November 1903 die Auflösung des Vereins durch die Uni‐ versitätsbehörde zur Folge hatte. In dieser Hinsicht zeigte der Verein eine ge‐ wisse Elastizität im Aushandlungsprozess von Ressourcen und Werkzeugen, was nur wenige Tage nach seiner Auflösung, am 20. Dezember, zur Gründung der Nachfolgeorganisation „Der Neue Verein“ führte. Der treibende Impuls für die Neugründung war das Vorhaben, »die guten künstlerischen Überlieferungen zu wahren und die wertvolle Bibliothek« sowie die Sammlung neuerer Literatur zu retten (Kutscher 1955: 249). Josef Ruederer war erster Vorsitzender, während sich Georg Hirth, Thomas Mann, Otto Falckenberg und der Rechtsanwalt Wil‐ helm Rosenthal - später erster Vorsitzende sowie Direktor der „Emelka“ - den Vorstand bildeten. Gerade in diesem „Neuen Verein“ hielt Georg Fuchs am 10. November 1904 den Vortrag über das nur in München durchführbare »kame‐ radschaftliche Zusammengehen der dramatischen Entwicklung mit der bild‐ enden und darstellerischen Künstlerschaft« und über die »Lösung des Theater‐ problems«. Dort fand er »die lebhafteste Zustimmung führender Persönlichkeiten der bildenden und angewandten Kunst« und die Einsatzfreude seines späteren Mitarbeiters Max Littmann (1909: 203). Der Verein war kurzum »[e]in Experimentier-Institut für moderne, gefährliche, dem Zensor unsympa‐ thische Aufführungen. Jede Veranstaltung dieses Vereins war ein Kulturereignis für München« (Mühsam 1977: 169). Der Erfolg und die Stabilität der Umwand‐ lung vom „Akademisch-Dramatischen Verein“ zum „Neuen Verein“ beruhten darauf, dass sich ihre Mitgliedschaft fast jedes Semester erneuerte und immer neue Ideen und Kräfte in die Gruppierung aufgenommen wurden: »Daneben München, der kulturelle Pol 79 <?page no="80"?> 13 Die Uraufführung von Herbert Eulenbergs Ein halber Held im Münchner Schauspiel‐ haus (26. September 1904). 14 Hugo von Hofmannsthals Drama Der Tor und der Tod fand seine Uraufführung gerade durch die Münchener literarische Gesellschaft (13.-14. 11. 1898). gab die demokratische Ordnung der Statuten ausgeprägten und berufenen Per‐ sönlichkeiten die Möglichkeit, schnell und wirkungsvoll die literarischen und künstlerischen Geschicke des Vereins zu beeinflussen« (Wenig 1954: 42). Die Gestaltung des gemeinsamen Projekts erwies sich folglich als außerordentlich flexibel, so lebte der Verein bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs weiter. Die Gesellschaft, die in der Zeitspanne 1905-1910 mit dem „Neuen Verein“ in Kon‐ kurrenz trat, war die von Conrad, Halbe und Kurt Martens geleitete „Münchner Dramatische Gesellschaft“. Diese »suchte ihre Hauptaufgabe in der Entdeckung und Förderung neuer Autoren. Damals, wo der Nachwuchs der Dramatiker von den großen Bühnen noch nicht so verwöhnt ward wie heutigen Tages, hatte das noch einen Sinn. Gleich der erste Versuch gelang über Erwarten 13 « (Martens 1924: 32). Sie war ihrerseits die Nachfolgerin der im Frühjahr 1900 erloschenen „Münchener literarischen Gesellschaft“, die zumindest erwähnt werden muss, weil sie im April 1898 Shakespeares Troilus und Cressida auf die Bühne brachte, was die ganze Idee der Gesellschaft enthüllte: »eben das Absonderliche […], das Grelle, Bizarre, Groteske, das Dekadente, das fin de siécle, auf das man abzielte und zu dem man sich bekannte« (Halbe 1976: 200). Nach einem Projekt von Ernst von Wollzogen und Ludwig Ganghofer gruppierte sich die geistige Münchner Elite, um den Tod des Naturalismus zu verkünden und an dessen Stelle für einen neuromantischen Kunstsinn zu plädieren 14 . Die Inkohärenz zwischen der Trä‐ gerschaft und dem Projekt war aber ganz deutlich: Die Ehrenpräsidentschaft der Gesellschaft gehörte Paul Heyse, sowohl Lingg als auch Weltrich galten als Gründungsmitglieder, Otto Julius Bierbaum und Max Halbe waren ordentliche Mitglieder. Die Vertreter der Hofkultur sowie des Naturalismus, zusammen mit anderen Prominenten, hätten einem breiten Publikum durch Lesungen, Vorträge und Theateraufführungen künstlerische Neuorientierungen darbieten sollen, ohne dabei den kommerziellen, unterhaltsamen Aspekt des Projekts zu berück‐ sichtigen. Bemerkenswerterweise wandelte sich die elitäre Kunstidee von Ernst von Wolzogen in Richtung einer Travestie sowohl des Klassizismus als auch des Naturalismus, sie verwandelte sich ins Kabarett. Diesbezüglich muss hier ergänzt werden, dass der Gedankenaustausch über die Konturen moderner Theaterästhetik und über die Notwendigkeit einer The‐ aterreform um 1900 eine der bedeutendsten Thematiken für fast alle Proto-Lern‐ gemeinschaften darstellte und von verschiedenen Ausgangspunkten getrieben wurde. In jeder kulturellen Gruppierung Münchens spielte das Theater, oder die Teil II. Potentialphase 80 <?page no="81"?> 15 Der in der Prinzregentenzeit vom Zensursystem praktizierte Kunst-Kampf war im Sinne der wilhelminischen Lex Heinze konzipiert, also aus Angst vor Obszönität, die Scham‐ gefühl und Sittlichkeit verletzte. Vgl. dazu Kolbe 1987: 156 f. Theatralität als »Modell für Kultur und Leben« (Balme 1994: 22), ohnehin eine wichtige Rolle. Theaterveranstaltungen bildeten das Repertoire und die Haupt‐ aufgabe für die avantgardistischen Künstlerkreise. Darüber hinaus galt die the‐ atralische Aufführung als Kunstform par excellence, um das ganze Volk mit ein‐ zubeziehen und das Terrain für eine gesellschaftliche Veränderung zu ebnen. Berücksichtigt man jedoch dieses Element, so gelangt man zu der Feststellung, dass die Münchner Moderne nicht nur von einer »umfassenden Theatralisierung der Kultur« geprägt wurde (13), sondern auch von der Überlagerung von The‐ atralität und soziopolitischem Engagement, ein Keim der in jeder damaligen CoP steckte. Die wichtigsten Innovationen im Theaterbereich betrafen also einerseits populäre, volkstümliche Theaterformen wie das Kabarett, das Schattenspiel, das Laientheater, die Bauernstücke oder die Passionsspiele, das Naturtheater und den Zirkus, andererseits entdeckten die Theatermenschen die empathische und physische Nähe zum Publikum, ohne auf das Wort zurückgreifen zu müssen, die Stärke des handelnden Körpers, des Raums, der Empfindungskraft, des Gemein‐ schaftserlebnisses. Um es kurz ausdrücken, die Theaterleute suchten am Anfang des 20. Jahrhunderts nach »Lockerung und Überwindung der überlieferten Formen« der Theatralität, in Richtung einer offeneren, direkteren Konfrontation mit dem Publikum« (Rühle 2007: 154). Das prägnanteste Beispiel der Beziehung zwischen Kulturengagement und ästhetischer Reform, die das Münchner Theater außerhalb Bayerns bekannt machte und trotzdem nur kurzlebig war, ist das literarisch-künstlerische Kaba‐ rett „Die Elf Scharfrichter“, das nach dem Vorbild des Pariser „Chat Noir“ ge‐ gründet wurde. Das Vorbild zeigt sowohl den internationalen Anspruch des Vorhabens als auch die intendierte Popularisierung des Theaterprojekts. Otto Falckenberg nennt das Schwabinger Kabarett »ein Faschingskind«, da das Pro‐ jekt eigentlich im Karneval zu datieren sei, in dem Künstler und Denker gegen die Lex Heinze kämpften. 15 Die erste Libertinage-Welle, die eine massive Mobi‐ lisierung von Münchnern in Sachen Kunst sah, ist auf Anfang 1900 datierbar: Dreitausend Menschen, darunter Bierbaum, Conrad, Falckenberg, Halbe, Schaumberger, Hirth, Lenbach, Lips und Ruederer, versammelten sich zum Pro‐ test im Bürgerlichen Bräuhaus. „Der Akademisch-Dramatische Verein“ setzte eine Prozession Schwabinger Künstler und Studenten durch die Hauptstraßen und -plätze der Stadt in Bewegung, mit einem satirischen Plakat gegen das Ge‐ München, der kulturelle Pol 81 <?page no="82"?> 16 Siehe auch Falckenbergs Erinnerung an jenen »jugendlichen Sturmtrupp« (1944: 105 f.). 17 Auf dieses Ereignis hat auch Gerdi Huber (1973: 91) hingewiesen. 18 Die Veränderung im Zensursystem war eigentlich minimal und erst 1908 wurde bei der Polizeidirektion Münchens ein Zensurbeirat gegründet, der bis 1918 bestand. Mitglieder waren Prominente der Stadt wie die Schriftsteller Josef Hofmiller und Josef Ruederer, der Gutbesitzer und Schriftsteller Karl Alexander Frhr. von Gleichen-Rußwurm, der Generalintendant Ernst Ritter von Possart, der Maler Anton Stadler und, ab 1913, Thomas Mann (an Stelle von Max Halbe, der im September 1911 unter Protest aus dem Beirat ausgeschieden war). setz und mit einem Chor: »Das Lied 16 wurde in hektographierten Blättern ver‐ kauft. Damals erschien auch Das Buch von der Lex Heinze. Ein Kulturdokument aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts« (Kutscher 1952: 113 f.). Kurz danach gründeten Halbe und Hirth den „Goethebund“ zum Schutze freier Kunst und Wissenschaft, der sechstausend Münchner am 22. März 1900 gegen die Lex Heinze im Münchener Kindl-Keller aufbrachte. Im „Goethebund“ schlossen sich nicht nur Künstler und Publizisten, sondern auch Akademiker zusammen. Am 5. April 1900 luden die Liberalen ins Kreuzbräu ein. Am 7. April sprach Suder‐ mann im Münchener Kindl-Keller vor viertausend Zuhörern, die dort vom „Goethebund“ eingeladen worden waren, und schließlich, am 1. Juli, forderte der Bund die gesamte Bevölkerung Münchens zum Eintreten gegen das missliebige Gesetz auf. Was sich in der Stadt ergab, war das Resultat aller Bemühungen seitens künstlerischer Gesellschaften, das Interesse für Kunstproduktion und Kunstfreiheit im Volk hervorzurufen, um dadurch eine erhöhte Aufnahmebe‐ reitschaft für ihre Werke zu erreichen. 17 Im Reichstag wurde die Änderung des Gesetzes im März 1900 dank einer hinter-den-Kulissen-Arbeit möglich: Die Lex Heinze wurde nur geringfügig gemildert, 18 nichtsdestotrotz glaubten Künstler und Intellektuelle, sie hätten durch ihren liberalen Protest politische Entschei‐ dungen beeinflusst und sich mit der Masse in Kontakt gesetzt. An diesem Punkt, erzählt Falckenberg, suchten auch wir, die Jugend dieser Kämpfe, unserer Kraft und Leidenschaft eine dauernde, fortwirkende Form zu geben. Der Gedanke des literarischen Kabaretts lag damals in der Luft: […] Stilpe, der Held von Bierbaums Roman, hatte die Idee eines künstlerischen Tingeltangels verkündet; Panizza und andere sie diskutiert; so saßen auch wir, Zeichner und Schriftsteller des „Simplicissimus“, Studenten und Schau‐ spieler vom Akademisch-Dramatischen Verein, junge Maler der Sezession, die Münchner Avantgarde auf allen künstlerischen Gebieten in der „Dichtelei“ zusammen, einer Künstlerkneipe in der Türkenstraße, und berieten, wie ein solches Unternehmen wohl anzufangen wäre. (1944: 106) Teil II. Potentialphase 82 <?page no="83"?> 19 Bezüglich der Geschichte des Deutschen Theaters siehe Jelavich 1985: 115-125. 20 Wegführend wirkte auch die winzige Bretterbühne im Café Luitpold bei Papa José Benz, die sich im Frühjahr 1900 als engagiertes Kabarett präsentierte. Vgl. Huber 1973: 138. Die Bezeichnung ‚Faschingskind‘ führt ferner die Erwartungen vor Augen, die die Künstler der Schwabinger Bohème gegenüber einem Theater hatten, das Unterhaltungsformen wie Vaudeville oder Singspiel als Köder für eine ange‐ messene Rezeption der modernen Kunst in der Gesellschaft benutzen konnte. Diese Erwartungen hatten sich früher auf das Deutsche Theater konzentriert, das am 26. September 1896 eröffnet worden war: »Das ganze offizielle, künst‐ lerische und literarische München war versammelt und harrte der kommenden Dingen. […] Alle Welt betrachtete die Einweihung des Deutschen Theaters unter der Direktion Meßthaler gleichsam als die Inthronisation der „Moderne“ in München. Aber es sollte anders kommen. Der Verlauf des Abends zeigte, daß Meßthaler höchstens vielleicht ein Johannes war, keinesfalls aber der erwartete Messias selbst« (Halbe 1976: 231). Das Programm war tatsächlich ein Misch‐ masch, der offensichtlich unter der Idee litt, dass man jeder Art von Zuschauer etwas zur Vergnügung geben musste. Halbe verurteilt: »Die Vielheit und Zwie‐ spältigkeit dieser Genüsse verwirrte und ermüdete das Publikum (die Vorstel‐ lung endete erst lange nach Mitternacht) und offenbarte zugleich die mangelnde Eignung des neuen Hauses für das gesprochene Wort« (231 f.). Das katastrophale Unternehmen des Deutschen Theaters wurde in kurzer Zeit ins Münchner Mekka der Varietés verwandelt. 19 Die Mitglieder des Kollektivs der „Elf Scharf‐ richter“ nahmen sich daher der Thematik des Kulturengagements durch die Re‐ formierung des Vaudevilles an 20 und wählten als Spielort einen kleinen Fechtraum im rückwärtigen Teil des Gasthauses „Zum Goldenen Hirschen“ (Türkenstraße 28). Max Langheinrich entwarf die Innenarchitektur des Theatersaales und stattete den Raum mit einer Guckkastenbühne aus, wobei er danach strebte, eine Intimität zwischen Zuschauern und Darstellern herzustellen: »Mehr als achtzig hatten nicht Platz. Aber etwas mehr als hundert waren immer da« (Blei 2004: 314). Neben der Bühne befand sich ein versenktes Orchester, wie im Festspiel‐ haus Bayreuth und im Prinzregententheater. An den Wänden bemerkte man vor München, der kulturelle Pol 83 <?page no="84"?> 21 Die Elf Scharfrichter waren Otto Falckenberg (Peter Luft), Frank Wedekind (als einziger ohne Pseudonym), Marc Henry (Balthasar Starr), Robert Kothe (Frigidus Strang), Hans Richard Weinhöppel (Hannes Ruch), Leo Greiner (Dionysius Tod), Willy Rath (Willi‐ baldus Rost), Max Langheinrich (Max Knax), Wilhelm Hüsgen (Till Blut), Viktor Frisch (Gottfried Still), Willi Oertel (Serapion Grab) und Ernst Neumann (Kaspar Beil). Hüsgen war Bildhauer, Frisch und Oertel waren Kunstmaler, während Neumann als Graphiker tätig war. Über die Elf hinaus gab es der junge Schriftsteller Heinrich Lautensack (der unbeachtete Faktotum) und die Diva Marya Delvard (alias Marie Biller), Frau von Marc Henry, die den ersten Vamp-Typ verkörperte und »die Dirnensentimentalitäten jener Zeit« sang (Blei 2004: 314). allem die von Wilhelm Hüsgen modellierten Masken der „Elf Scharfrichter“ 21 . Die Eröffnung des Kabaretts fand am 13. April 1901 statt. Die „Elf Scharfrichter“ in München, zusammen mit Ernst von Wolzogens „Überbrettl“ und Max Rein‐ hardts „Schall und Rauch“ in Berlin, machte die Kabarettform in Deutschland bekannt. Die „Elf Scharfrichter“ beschränkten sich »keineswegs auf Parodie und Amüsement« wie die Berliner „Überbrettl“ und „Schall und Rauch“ (Falckenberg 1944: 114) und waren jedenfalls wenig bieder und angepasst an den einschlä‐ gigen Publikumsgeschmack, deshalb mussten sie sich stets mit Problemen der Zensur herumschlagen. Man spielte dreimal in der Woche, dann vermutlich all‐ abendlich, und jeden Monat wurde ein neues Programm vorgestellt, zu dessen Premiere regelmäßig auch die Kunstprominenz im Publikum saß. Zuständig für die Auswahl der Texte waren Marc Henry, Leo Greiner, Willy Rath und Otto Falckenberg; Hans Richard war eher als „Kapellmeister“ tätig. Nach dem von Leo Greiner gedichteten und von Weinhöppel komponierten Eröffnungslied bzw. Scharfrichtermarsch folgten Nummern unterschiedlicher Natur aufei‐ nander: Satiren und Parodien, vor allem aus Hanns von Gumppenbergs Teut‐ schem Dichterroß, Sketsche, Gedichte, klassische Lyrik, Lieder, die „erotisch-ver‐ ruchten“ Chansons und Balladen Wedekinds, Musikstücke, Tanzgroteske, „automatisches Zeichnen“, Einakter und Ein-Satz-Theaterstücke von Bernard, Courteline, Paul Schlesinger, Keyserling, Falckenberg und von Marc Henri selbst, Ausschnitte aus dem zeitgenössischen Avantgardetheater, Schatten‐ spiele, Puppenspiele. Am Ende sangen alle Zuschauer den Schlager Schwalang‐ scher. Der riesige Erfolg des Kabaretts führte zu hochfliegenden Plänen, zu Kämpfen mit der Münchner Zensur, aber auch zu Streitereien unter den En‐ semblemitgliedern wegen des Honorars der Stars. Schon im November 1903 spielten die „Elf Scharfrichter“ zum letzten Mal zusammen. Falckenberg be‐ hauptet: Für mich und die meisten anderen hatte die Sache ihren eigentümlichen romantischen Reiz, ihre innere künstlerische Fruchtbarkeit verloren. […] Zum ersten Male war ich nicht nur sympathisierender Zuschauer und bescheidener Helfer gewesen, sondern Teil II. Potentialphase 84 <?page no="85"?> 22 Littmann profilierte sich im frühen 20. Jahrhundert als Theaterreformer und wurde sogar zum „Münchner Theaterbaumeister“. Seine wichtigsten Projekte waren das als Richard-Wagner-Festspielhaus und Bühne für Klassikerinszenierungen konzipierte Prinzregententheater und der Entwurf für das Münchner Künstlertheater als „hierar‐ chieloses“ Amphitheater, als Aufführungsstätte für experimentelle Schauspielinszenie‐ rungen und Spielopern. Mitspieler und Mitleiter an der Spitze einer gemeinschaftlichen künstlerischen Arbeit lauter junger begabter Menschen, einer Arbeit, die ihren Lohn in sich selbst trug. Denn es wird der Ruhm der „Elf Scharfrichter“ bleiben, daß diese Kleinkunstbühne - im Unterschied zu so vielen späteren, unliterarischen oder angeblich literarischen Kaba‐ retts und auch zu den zahlreichen Berliner „Überbretteln“ der Zeit -, daß unsere Kleinkunstbühne wirklich nur aus einer echten künstlerischen und kunstpolitischen Leidenschaft und Begeisterung heraus lebte und schuf […]. (1944: 137 f.) (Herv. v. V.) Man könnte auch sagen, das Kabarett habe sich aufgelöst, weil die Gemeinschaft von Künstlern als Innovationsknotenpunkt zunehmend an Gewicht verloren hatte: Andere Unterhaltungstheaterformen waren in München entstanden, die über andere Quellen und Ressourcen verfügten, um die Utopie sozialer Re‐ formen weiter durch die Kunst voranzutreiben. Schon am 20. April 1901 war das Schauspielhaus in der Maximilianstraße, nach zehnmonatiger Bauzeit, mit Jo‐ hannes von Hermann Sudermann eröffnet worden. Die Intendanz übernahm Ignaz Georg Stollberg, für den die Teilnahme an dem „Akademisch-Dramati‐ schen Verein“ der Einstieg in seine große Karriere war. Das Schauspielhaus wurde blitzschnell zum Forum der Avantgarde, das aber ein Repertoire von schon etablierten modernen Dramen mit einer Vielfalt deutscher und französi‐ scher Possen verband. Das vom Architekt Littmann und vom Künstler des Ju‐ gendstils Riemerschmid errichtete Gebäude selbst war das Ergebnis einer mo‐ dernen Theaterarchitektur, die gegen das sogenannte ‚Luxustheater‘ mehrere Versuche unternahm, das Auditorium einzubinden. Max Littmann 22 erkannte gerade in der Einheit von Bühne und Publikum neue Wahrnehmungsmöglich‐ keiten: Er plädierte »entschieden gegen das Rangtheater zugunsten eines Am‐ phitheaters, das sich durch eine weitgehende Gleichwertigkeit seiner Plätze auszeichnen würde« (Brauneck 1999: 638). Ab 1903 wurde auch ein Volkstheater ( Josephspitalstraße, Stadtteil Altstadt-Lehel) tätig: Als Eröffnungsvorstellung wurde Schillers Kabale und Liebe geboten. Das Repertoire bestand aber nicht nur aus Klassikern, sondern auch aus Schwänken, Possen und Farcen. München, der kulturelle Pol 85 <?page no="86"?> 23 Vgl. Jelavich 1985: 53 und 289 f. 24 Gunter Martens (1974: 117) vermutet, die rebellische Jugend sei an Nietzsches Gedanken so fasziniert, gerade weil es von alten Akademikern, Erziehern und Schulautoren de‐ zidiert abgelehnt wurde. 25 Zur Nietzsche-Rezeption in der Moderne siehe Valk: 2009. Eine künstlerische und gesellschaftliche Neugeburt Im frühen 20. Jahrhundert wurde das Theater allmählich als notwendige, soziale, ja kulturelle Praxis betrachtet, um die Kluft zwischen Kunst und gesellschaft‐ lichem Leben zu überbrücken. Jelavich’ These einer Karnevalisierung von The‐ aterformen, im Sinne einer Überwindung von binarischen Gedanken wie gut / böse, Seele / Körper oder Sein / Schein 23 , gewinnt in dieser Hinsicht an Bedeu‐ tung, wenn man sie als eine ästhetische Verdoppelung kultureller Aufführungen ansieht. Theaterformen und -stile, die sich mit der Theatralität im breitesten Sinn bekannt machen, produzieren eine kondensierte, gesteigerte Inszenierung einer sich selbst wahrnehmenden Öffentlichkeit, durch die sich das Publikum, mitsamt den Akteuren, seines Zustandes bewusst wird. Weitere Aufschlüsse über die abgezielte Transgression jedes ästhetischen sowie ethischen Wertsys‐ tems einer unfruchtbaren Vergangenheit, die das Volk als Quintessenz der Ge‐ sellschaft vergessen hatte, bringt die damalige Nietzsche-Rezeption. Nach dem Tod Nietzsches wurde sein Gesamtwerk als auch seine Person zum Gegenstand öffentlicher Debatten und opponierender Positionen: Es war ein Pflichtpensum, sich mit ihm auseinanderzusetzen 24 . Neben dem visionären Philosophen, der ein neues vom selbstschöpferischen Übermenschen beherrschtes Zeitalter prophe‐ zeite, zog man auch den Gesellschaftskritiker in Betracht, der das bürgerliche Vakuum demaskierte. 25 Dieter Borchmeyer (2009) betont zu Recht, dass sich Nietzsche über die Moderne, bzw. über die Ästhetik und Kunst seiner Epoche, nie positiv geäußert hatte, und trotzdem wurde er zur Schlüsselfigur für viele künstlerisch und geistig Schaffende um die Jahrhundertwende. Das enthält je‐ doch kein Paradox, weil die heranwachsenden Künstler der Moderne sie nie als Endstation verstanden, sondern als Durchgangsstation. Wenn bei Nietzsche die moderne Kunst mit den Begriffen ‚Romantik‘ und ‚Dekadenz‘ verbunden ist, und daher die gegenwärtige Krankheit, Geistesschwäche und Identitätszersplit‐ terung veranschaulicht, ist sie auch ein notwendiger Schritt in Richtung einer Neugeburt - der Kultur eben wie der Menschheit. Eines steht für Nietzsche fest: Auch wer die Décadence überwinden will, muss sie an sich selbst erfahren haben, muss sich ihr stellen und sie bis auf den Grund durch‐ schauen. […] Nietzsches eigenes Ideal der dionysischen als einer Kunst des aufstei‐ Teil II. Potentialphase 86 <?page no="87"?> 26 Häufige Gäste waren u. a. Behrens, Kandinsky, Kubin, Thomas Mann, Rilke, Wölfflin und Stefan Zweig. 27 Eine kommentierte Auflistung der Kosmiker-Feste findet man in Faber 1994: 165 f. genden Lebens entspricht demgegenüber der Selbsterfahrung des Décadent und bleibt dialektisch auf sie bezogen. (Borchmeyer 2009: 37) Die dekadente Moderne war für Maler, Schriftsteller, Theatermenschen und Denker um 1900 der Rahmen einer neuen Kreativität, eines reformstrebenden Debattierens und Experimentierens, der sich jenseits der Kunst ausdehnte und die Lebensführung selbst hineinzog. Kunst und Kultur galten somit als kräftige Re-Aktion auf eine heuchlerische, lästerliche, passive Zeit. »Persönlich konnten wir Älteren uns mit den Jüngsten im Allgemeinen recht gut verständigen. Sie gehörten fast alle zu der Boheme, die ja auch wir als Durchgangsstation passiert hatten, waren der Parteipolitik erfreulicherweise ziemlich fremd, der kommu‐ nistischen Utopie nur vereinzelt zugetan« (Martens 1924: 155). Was alle, sogar die exklusivsten Gesellschaften und Vereine der Schwabinger Bohème be‐ stimmte, war eine Regenerationsbewegung, die nach einer allgemeinen gesell‐ schaftlichen Erneuerung strebte. Die Erwartung und zugleich Vorbereitung dieser Neugeburt fand in der Münchner Faschingstradition ihre Spiegelung und die Teilnahme an beliebigen Karnevalsfesten übernahm für Künstler, Dichter und Denker eine wichtige Funktion: die Erzeugung der geistigen Atmosphäre, die die neue Kunst inspirieren sollte. Selbst unter einem präzisen Reglement besteht das Festliche gerade darin, »bestimmte Regeln, nämlich die Beschrän‐ kungen des Alltags zu überschreiten - etwa zugunsten einer rauschhaften Ver‐ ausgabung oder einer intensiven Gemeinschaftserfahrung« (Warstat 2005: 104). Emblematisch wirkt hierzu die Haltung der dem George-Kreis naheliegenden Gemeinschaft der „Kosmiker“. Um den ‚Meister‘ George gravitierten die ‚Enormen‘ Karl Wolfskehl, Ludwig Klages, Alfred Schuler und, bis 1901, Ludwig Derleth: Seit 1899 trafen sich die Freunde in der Wohnung Wolfskehls 26 - Inbe‐ griff des ‚Wahnmochings‘ -, im Café Luitpold oder in anderen Schwabinger Lokalen, um über Kultur, Mystizismus, Erotik und Zivilisation zu diskutieren. Der Name ‚Die Kosmiker‘ stammte aus ihrem ideologischen Credo, da »ihr Denken das kosmische Leben über das Einzelleben stellte und in kosmischen Beziehungen das Vorbild für symbiotische Verbände unter den Menschen erb‐ lickt wurde« (Schneider 1999: 386). Der Einfluss Nietzsches und die Begeiste‐ rung für dessen Wiederentdeckung des Heidentums und der Urnatur war nicht nur in der theoretischen Position der Kosmiker sichtbar, sondern auch in deren maßloser Leidenschaft für Feste, Bälle und Maskeraden. 27 Die „heidnischen Feste“ der Kosmiker-Runde fanden vorwiegend während des Münchner Fa‐ München, der kulturelle Pol 87 <?page no="88"?> 28 Auch Otto Falckenberg beschäftigte sich mit der traditionellen Kunst des Krippen- und Weihnachtsspiels. Im Herbst 1914 bot Erich Ziegel, Oberspielleiter und Dramaturg der Kammerspiele, einem jungen Falckenberg an, sein erfolgreiches Deutsches Weihnachts‐ spiel zu inszenieren. Gerade jene Inszenierung verhalf Falckenberg zum Durchbruch in der Theaterwelt: Nach einem Jahr wurde Falckenbergs Krippenspiel Der Stern von Beth‐ lehem im Deutschen Theater Berlin von Max Reinhardt uraufgeführt. 29 1907 schlossen die „Schwabinger Schattenspiele“ zum ersten Mal ihre Tore auf. Nach dem unerwartet großen Erfolg wurde ein eigener Theaterbau 1908 im neu entstandenen Ausstellungspark errichtet. schings statt und richteten sich an die Wiederbelebung einer heidnischen, reinen Lebensform. Sie bezogen daher Maskenumzüge mit historischen, mythologi‐ schen oder allegorischen Kostümen, Prozessionen mit Gesangbegleitung, sa‐ turnalische Tänze, bacchantische Betätigungen, Vorlesungen angemessener Werke, einen Rauschzustand und die Dionysos-Identifikation der (kosmischen) Beteiligten ein: Das Ganze konstituierte ein Ritual, eine kultische Feier mit steifem Zeremoniell. Die durch die Faschingsatmosphäre übermittelte Selbstin‐ szenierung diente zur Belebung einer verkehrten, alternativen, geistigen Welt, in der eine gereinigte, regenerierte Menschheit erwachen konnte. Außer den privaten Feierpraktiken beteiligten sich die Kosmiker und andere Künstler mithin an der Wiederentdeckung von urtümlichen öffentlichen Theaterformen, wie die Krippenspiele 28 oder die unter der Leitung des Literaten Frhr. Alexander von Bernus stehende Bühne „Schwabinger Schattenspiele“. 29 Der moderne Mys‐ tiker Bernus - so wie er sich selbst konzipierte - verstand sein Unternehmen als ästhetisches Experiment, das sich von den naturalistischen Konventionen der zeitgenössischen Theaterpraxis löste: Das erneuerte Schattentheater sollte die Flächenkunst des Jugendstils zur szenischen Bühne des lyrischen Ausdrucks transformieren. Die Aufführungen zielten darauf hin, die »entmaterialisierte Welt der wachen Träume« als Ausdrucksform der neuromantischen Dichtkunst sichtbar zu machen (zit. nach Wilhelm 1993: 165). Neben Stücken des romanti‐ schen Schattenspielrepertoires kamen bald neue Dichtungen zur Aufführung, wie Karl Wolfskehls Thors Hammer, die der vom Symbolismus beeinflussten Sprachmagie Georges nahestanden. Die magische Qualität des Schattenspiels ermöglichte die Entdeckung einer mystischen Dimension jenseits der Grenzen der konventionellen Wahrnehmung, was auch Georg Fuchs ständig hervorhob. Die Popularisierung und Karnevalisierung des Theaters sind ihrerseits Zei‐ chen dafür, dass die Münchner Theaterszene zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Gruppierungen multipler Mitgliedschaft charakterisiert war, die darauf ab‐ zielten, durch eine moderne - sprich: reformierte - Bühnenkunst auf den sozi‐ alpolitischen Kurs Einfluss zu haben. Die Bewusstmachung der Realität durch die verkehrte Welt des Theaters ebenso wie die Formation einer freien Öffent‐ Teil II. Potentialphase 88 <?page no="89"?> 30 Darauf hat Fischer-Lichte (2010: 163-171) nachdrücklich hingewiesen. 31 Brauneck nimmt ferner an, Fuchs habe Einfluss auch auf das Programm des „Vereins für Münchner Künstler-Theater“ genommen, den er 1907 mitbegründet hatte. Nach dessen Auflösung im Jahr 1909 beschäftigte sich Fuchs mit der Gründung einer neuen Gruppierung: der „Verein Münchner Volksfestspiele“. lichkeit wurden auch von der Volksbühnenbewegung propagiert, doch mit an‐ deren Mitteln. Festspieltheateridee, Festspielprojekte und Volkstheater suchten im festlichen, zeremoniellen Rahmen der Aufführung eine Gemeinschaftsbin‐ dung von Darstellern und Zuschauern, die das Volk als utopische Einheit er‐ scheinen ließ und daher zur Begegnung mit sich selbst bringen konnte. Die Orientierung an einer atavistischen, von Raumbewegungen, Gebärden, Tänzen, Ritualen dominierten Festkultur revolutionierte nicht nur die Vorstellung des Theaters als eine Kunst sui generis, 30 die anders als die Literatur funktioniert, sondern auch die Rolle des Zuschauers, der zum mitschaffenden Bestandteil der Aufführung, des Kunstwerkes wurde. Georg Fuchs stellte fest, die Künstler‐ theaterbewegung sei ein Kampf gegen die Literatur gewesen, um »de[n] Orgi‐ asmus, de[n] erhobene[n] Rauschzustand der schauenden Menge« als das We‐ sentliche anzuerkennen, woraus erst die Aufführung hervorgeht, um das Bühnenbild, die Schauspielkunst und das Drama als gleichberechtigte Elemente des Theaters zu würdigen (1909: 11). Bezüglich Georg Fuchs’ Essay Die Revolu‐ tion des Theaters bemerkt Manfred Brauneck, seine moderne Theatervision habe sich in einer Art von »Massentheater, das bei den Beteiligten ein rauschhaftes Gemeinschaftserlebnis im Sinne einer „Volksgemeinschaft“ bewirken sollte« enthüllt 31 (1999: 638). Fuchs war für die Entwicklung des Theaters in München besonders wichtig, weil er geistiger Urheber sowie Direktor und Dramaturg des „Münchner Künstlertheaters“ war und langjährig versuchte, ein Theater für das neue, große Publikum, bzw. für das ganze Volk, zu fördern. Wenn sich die sog. Bühnenreform - wie in den Versuchen der Shakespearebühne oder der Dreh‐ bühne - nur auf die Bühne konzentrierte, verlangte die Theaterreform Fuchs’ noch mehr: »das ganze räumliche Verhältnis, das Drama und Zuschauer um‐ faßt,« zu reformieren (Fuchs 1909: 109). Es muss aber hinzugefügt werden, dass Fuchs’ Idee eines reformierten Theaters schon mit Peter Behrens ihren ersten Ausdruck gefunden hatte. Auch er hatte für eine Revolution in der Theaterar‐ München, der kulturelle Pol 89 <?page no="90"?> 32 »Wir wollen erhoben werden durch die Kunst, durch die der Dichtung wie der Dar‐ stellung, über die rohe Natur hinaus! […] Die Kunst starker Seelen will nur dies Eine: das Erheben. Dann werden uns Thränen kommen vor Begeisterung, wir werden er‐ schüttert sein durch die Gewalt der Phantasie und der Rhythmus, uns wird vielleicht grauen vor unsrer eignen Entrücktheit, aber mit den Motiven sind wir versöhnt. […] Durch unsre Begeisterung sind wir Mitkünstler geworden, wir sind nicht abwartende Zuschauer mehr, wir sind von der Schwelle an Teilnehmer an einer Offenbarung des Lebens. Der Raum für diese Teilnehmer liegt in amphitheatralischer Anordnung um eine flache Bühne herum, eine Bühne für reliefartige Wirkung, mit vorspringendem Proscenium. Hiervor, ähnlich der griechischen Orchestra, ist der vertiefte Platz für die Musik […].« (Behrens 1900: 16-17). 33 Man wählte den Faust, nicht nur weil Goethes Drama »das größte dramatische Kunst‐ werk deutscher Sprache ist, sondern vor allem auch weil dieser Tragödie I. Teil in seiner scheinbar chaotischen Unform mehr dramatische Formelemente, mehr Möglichkeiten zur Entwicklung eines von den antikisch-lateinischen Schablonen befreiten, dramati‐ schen Stiles birgt, als jedes andere klassische Werk« (Fuchs 1909: 191). Hier sei nur die Beziehung zwischen der künstlerischen Erneuerung und dem (nationalen) dramati‐ schen Kanon hervorgehoben, in welcher die Legitimationsversuche der Avantgarde lesbar sind. 34 Siehe dazu Hugo Balls »prinzipielle Beleuchtung« über das „Münchner Künstlerthe‐ ater“ (1914). chitektur plädiert, um ein Gesamtkunstwerk mystisch-symbolischer Natur zu erzeugen, 32 um die »Kunst der Geisteskultur« zu verwirklichen (1900: 25). Angeregt von Franz von Stuck, Max von Schillings, Friedrich August von Kaulbach, Fritz von Uhde, Fritz Erler, Ferdinand von Miller, Frhr. von Speidel (Generalintendant der Königlichen Bühnen) und selbstverständlich Georg Fuchs wurde das Künstlertheater am 17. Mai 1908 mit Goethes Faust eröffnet 33 (R: Al‐ bert Heine). Kurz davor hatte der Georg-Müller-Verlag eine kleine Broschüre mit drei Beiträgen veröffentlicht, welche die Mission des Münchner Künstler‐ theaters und seine Gründung erklärten - darunter befand sich auch Georg Fuchs Die Ziele des Münchner Künstlertheaters. Das als problematisch empfundene Hauptmerkmal des damaligen deutschen Theaters war der sog. „Barbarismus“ seiner Ausstattung, die eine künstlerische Armut erzeugte. 34 Nach Ansicht der Theaterreformer war das deutsche Theater von der aus dem 16. und 17. Jahr‐ hundert übernommenen Oper-, Ballett-, und Guckkastenbühne beherrscht. Weder die Guckkastenbühne noch die „erhabene Bühne“ des Naturalismus hätten einen direkten Kontakt zum Publikum ermöglicht. Die vorgeschlagene Theaterreform betraf daher in erster Linie die Architektur, im Sinne von Spiel‐ raum und Dekoration. Der Grund dafür war die Annahme, dass der Kunstcha‐ rakter des Theaters nicht im Drama liegt, sondern in der Aufführung. Mit an‐ deren Worten umfasste die Bestrebung nach der „Retheatralisierung des Theaters“ nicht nur eine neue Ästhetik des Mediums, sondern auch ein inno‐ Teil II. Potentialphase 90 <?page no="91"?> 35 »[W]ie es heute noch bei den Japanern erhalten und auf das die ungeheure Wirkung der Truppe der Sada Yacco zurückzuführen ist, bei der alle Bewegungen direkt an ägyptische und persische Reliefs erinnerten« (Littmann 1908: 9). 36 Vgl. Ball 1914. vatives, experimentelles Theaterverständnis: Man musste eine wirksame theat‐ rale Sprache entwickeln und die konstruktive Interaktion Darsteller-Publikum fördern. Sehr bald bildete sich eine starke Interessentengruppe, die eine Reform der „dekorativen Ausstattung“, im Gegensatz zu Kulissen, Kitsch, falscher Per‐ spektive und zauberhafter Bühnenausstattung verlangte. Das Ziel war dement‐ sprechend, die räumliche Trennung zwischen Publikum und Darstellern zu überwinden und somit das Illusionsprinzip des naturalistischen Theaters zu vermeiden. Das Gebäude wurde von Max Littmann realisiert, der sich über den Bau des Bühnenraums und des Zuschauerraums wie folgt äußerte: Man braucht sich noch nicht auf den Standpunkt Gabriele d’Annunzios zu stellen, der vom Drama sagt, daß es nichts anders sein könne als ein „Gottesdienst“ oder eine „Botschaft“, die Überzeugung ist aber jetzt schon allgemein, daß wir im Drama ein nicht genug zu schätzendes ästhetisches Mittel zur Erhebung für unser Volk haben, das in möglichst vollkommener Form dargeboten werden muß. In dem Logenhaus ist aber das Verhältnis der Besucher zu einander die Hauptsache, und das Verhältnis des Zuschauers zu der Bühne, von der die erhebende Wirkung ausgeht, durch die er‐ wähnten Mängel so gestört, daß unmöglich durch die Musik, durch das gesungene und gesprochen Wort jene ernste, weihevolle Stimmung erzielt werden kann, welche die feinsten Empfindungen der menschlichen Seele auszulösen vermag. (1908: 18 f.) Malerische Hauptfiguren des Münchner Künstlertheaters waren Thomas The‐ odor Heine, Wilhelm Schultz und Hans Beatus Wieland. Die vier neuen Vor‐ schläge waren die Verkürzung der Szene und das reliefartig ausgestaltete Büh‐ nenbild 35 , die Reduzierung der szenischen Mittel durch Anwendung stilistisch vereinfachter Dekorationen und Hintergrundmalerei nach dem Muster der ju‐ gendstilischen Flächenkunst, die strengste Unterordnung unter den Gesetzen des dramatischen Stils und die ausgiebige Zuziehung der „angewandten Kunst“. 36 Trotz des klaren Projekts verfehlte das Münchner Künstlertheater ge‐ rade in seinen entscheidenden Neuerungen, so dass es sich am 29. Januar 1909, infolge ökonomischer und künstlerischer Schwierigkeiten, kapitulierte. Der erste Pächter war bemerkenswerterweise Max Reinhardt: Der Regisseur brachte nach München acht eigene Inszenierungen aus Berlin mit (Sommernachts‐ traum, Was ihr wollt, Der Kaufmann von Venedig, Faust I, Die Räuber, Lysistrata, Gespenster und Revolution in Krähwinkel). Er begann dagegen die Berliner Fest‐ spiele im Künstlertheater mit einer neuen Inszenierung: Hamlet. Es folgten an‐ dere Münchner Premieren: Die Braut von Messina, Judith und Hauptmanns München, der kulturelle Pol 91 <?page no="92"?> 37 Für eine umfassende Beschreibung der Spielzeit 1909-1911 (Gastspiel Max Reinhardts) siehe Grohmann 1934: 64-108. Grohmanns Dissertation wurde von Kutscher begut‐ achtet. 38 Die Wichtigkeit der Münchner künstlerischen Umgebung für Kandinsky wird von Weiss (1979) eindringlich geschildert, bes. S. 57-103. Die Autorin betitelt sogar den zweiten Teil ihrer Veröffentlichung »The impulse to artistic activism«, der die Antwort Kandinskys auf den Tätigkeitsdrang der damaligen Künstlerkreise in München dar‐ stellt. Hanneles Himmelfahrt. Was Reinhardt in München für zwei Saisons (1909 und 1910) neu inszenierte, brachte er später nach Berlin. 37 Reinhardt erschöpfte die Kunstidee des „Münchner Künstlertheaters“ völlig und übertrug sogar dessen künstlerische Prinzipien auf die Operette: Die Grundidee eines Festspieltheaters der Stilbühne, einer kritischen Öffentlichkeit für das gesamte Volk war mit dem Triumph eines dem Profit gewidmeten Geschäfts endgültig ausgelaugt. Doch Fuchs’ Forderung eines re-theatralisierten Theaters, das sich von der zerdrück‐ enden Übermacht des Dramas befreien konnte, wirkte in der Kunst- und The‐ atergeschichte der Moderne weiter, wie etwa auf das von Paul Brann aufgestellte „Marionettentheater Münchner Künstler“ oder auf Wassily Kandinskys künst‐ lerische Versuche. 38 Seine auf der Bühne zu übertragende Synästhesie von Farbe, Klang und raum-zeitlicher Bewegung auf Kosten der naturalistischen Genau‐ igkeit war nämlich mit der Suche nach einer sinnlichen, vollkommenen Wahr‐ nehmung verbunden, die jahrelang von künstlerischen Zirkeln der Münchner Moderne betrieben wurde. Alle Maler, Architekten, Theatermenschen, Publi‐ zisten und Wissenschaftler, die an der Reform des „Münchner Künstlertheaters“ teilgenommen hatten, wollten einfach ihre Arbeit »nicht anders als einen „Ver‐ such“ eingeschätzt wissen, ein Versuch, der seinen Zweck vollauf erfüllt, wenn er anderen Anregung gibt, auf der betretenen Bahn weiter zu arbeiten« (Litt‐ mann 1908: 39). „Schwabingertum“ und Aktivismus Im Kutscherkreis blieb ein Keim Schwabingertum immer virulent. Nicht jedes billige Schwabingertum einer impotenten museumsreifen Bohème, aus zweiter Hand - son‐ dern ein Schwabing der freien Geister, der starken Sinne, oft krauser, überschäum‐ ender, aber immer schöpferischer Naturen - ein Schwabingertum, das noch immer die Erinnerung an Franziska von Reventlow, an die Mysterien des George-Kreises und an die Elf Scharfrichter heilig hielt. (Hartung 1948: 128) Als Artur Kutscher um 1909 die ersten theaterwissenschaftlichen Vorlesungen zu halten begann, wurde der Übergang in seinen Tätigkeiten und Studien fast Teil II. Potentialphase 92 <?page no="93"?> 39 Ein Jahresbericht des „Akademisch-Dramatischen Vereins“ vom Oktober 1899 befindet sich im Nachlass Kutschers (Monacensia, n. k.). Im Vereinsregister taucht der Name Kutscher dreimal auf, und zwar ab SoSe 1901 bis SoSe 1902. Das erste Mal, als das Vereinslokal noch das Café Kaiser Franz Josef am Maximiliansplatz war, galt Kutscher als Vorsitzender des Vereins. Das zweite und das dritte Mal ist er als ordentliches Mit‐ glied eingetragen. Das Vereinscafé befand sich damals im Café Minerva, Akademiestr. 9, und dann im Café Putscher, Hofgarten, Odeonsplatz. Vgl. StAM, Pol. Dir. München 2739; Laufzeit: 1891-1937 / Akademisch-Dramatischer Verein. spontan. Sein Leben in München hatte sich immer durch das soziokulturelle Engagement charakterisiert und durch seine jahrzehntelange Erfahrung als Mitglied von Gemeinschaften. Kutschers Mitarbeit in verschiedenen Redakti‐ onen, seine Rolle als Koordinator der „Intimen Abende“ und seine Teilnahme an zahlreichen Vereinen bildeten also die wichtigste Basis für die Umsetzung der Münchner Theaterwissenschaft. Schon 1899, als 21-jähriger Student, war Kutscher dem „Akademisch-Dra‐ matischen Verein“ beigetreten und kurz danach sogar dessen Vorsitzender ge‐ worden, 39 weil er »Kameradschaft und Kunst« brauchte und an Vorträgen und Aufführungen teilhaben wollte: »Der Universität nahte ich erfüllt im Drange nach Wissen in Literatur, bildender Kunst, Archäologie und Philosophie. Die Stadt München mit ihrem künstlerischen Leben hatte einen frühen Ehrgeiz in mir verstärkt, mich selbst schöpferisch zu betätigen in dramatischer Dichtung und Schauspielkunst« (1952: 111). In Kutschers Erinnerung klingt noch der da‐ mals empfundene Abstand zwischen dem an der Universität vermittelten Wissen und dem praxisbezogenen Theater. Doch nicht nur lernte Kutscher in diesem Verein die bedeutendsten Künstler und Intellektuellen seiner Zeit kennen, sondern er begriff auch die Wichtigkeit des aufgeführten Theaters für die kulturelle Entwicklung der deutschen Gesellschaft. Im ersten Tätigkeitsjahr kam der Verein täglich von 2 bis 3 Uhr im Café Gisela zusammen, dazu gehörten eine junge Schar von Studenten, die sich für die Bühne interessierten, wie der spätere Direktor des Burgtheaters Franz Herterich, Otto Falckenberg, Kurt Stieler oder Kutschers Hannoverscher Klassenfreund Bernhard von Jacobi, sowie ältere Angehörige, darunter auch Friedrich Kayßler, den Otto Brahm ge‐ rade in jenem Kreis spielen sah und schleunigst am Deutschen Theater Berlin verpflichtete. Die inszenierten Stücke waren in der Regel von den Mitgliedern selbst ausgewählt und gespielt, allerdings kam es auch vor, dass sich professio‐ nelle Schauspieler oder Schauspielschüler an den Aufführungen beteiligten. Der „Akademisch-Dramatische Verein“ wurde rasch zur skandalträchtigen Laien-Bühne, auf der immerhin vielversprechende Künstler agierten. Der Verein brachte eine »große Anzahl dramatisch wertvoller älterer und neuerer Stücke, die von Hof- und Stadt- und Privattheatern aus ästhetischen oder sittlichen „Schwabingertum“ und Aktivismus 93 <?page no="94"?> 40 Vgl. Kutscher 1960: 29. Über Kutschers Versuche in der dramatischen Dichtung sei noch erwähnt, dass er 1899 Herrn Edgar Steiger, damals Theaterkritiker der „Münchener Neuesten Nachrichten“, seine auf einem Kinderheft geschriebene Arbeit Ein Stück Leben in einem Aufzuge geschickt hatte (Monacensia, ES M 192). Kutscher richtete auch ein Stück, Nebelluft, an das Komitee des Deutschen Theaters Berlin, in der Hoffnung, es aufgeführt zu sehen. Das Komitee lehnte es aber im September 1901 ab (DLA, A: Kut‐ scher 57.4320). 41 Nach dem von Fräulein Schneider gesprochenen und von Georg Artaval verfassten Prolog, sah das Programm des Abends »ein Märchenspiel [vor], das Herrn Artur Kut‐ scher zum Verfasser hatte und von den Damen Kistler, Piastowska und Mehrer auf einer der Naivität des Märchenstils entsprechenden Bühne vorzüglich zum Vortrag gebracht wurde«. Schließlich boten die Veranstalter lebende Bilder an, denen ein Märchen von Hans Christian Andersen zu Grunde gelegt war (Das deutsche Märchenfest 1900: 2). Gründen nicht gegeben werden durften« auf die Bühne, was seine Mitglieder zu »Vorkämpfern einer neuen Richtung« werden ließ (112). In der Zeitspanne 1899-1901 führte Otto Falckenberg seine ersten Regien in den Aufführungen des Vereins, noch mehr: »Er führte die künstlerischen und wirtschaftlichen Ver‐ handlungen, unter anderen mit Possart, Stollberg, Schmederer wegen Mitwir‐ kung von Schauspielern, Überlassung von Bühne, Garderobe usw.« (113). Wie Otto Falckenberg war Kutscher vor allem als Autor und Mithelfer im Verein tätig 40 und schrieb sogar ein Festspiel zum deutschen Märchenfest am 15. Feb‐ ruar 1900. 41 Durch den Verein lernte Kutscher Frank Wedekind kennen, nachdem dieser seine Festungshaft infolge des Palästina-Skandals verbüßt hatte. Der junge Student gab Wedekind sein Stück David zu lesen, um die Meinung des Dichters darüber zu hören. Trotz Wedekinds Kritik an das Drama schlossen Teil II. Potentialphase 94 <?page no="95"?> 42 Ariane Martin betont, Wedekinds Freundschaft mit Kutscher sei erst ab 1909 belegt, und verweist dabei auf Wedekinds Tagebücher (2015: 44). Sie fügt noch hinzu, Kutscher wolle dagegen Wedekind fast zehn Jahre früher kennengelernt haben (Ebd. Anm. 23), als ob Kutschers Erzählung frei erfunden wäre. Auch wenn Wedekind vor dem 14. Dezember 1908 in seinem Tagebuch den Namen Kutscher nicht erwähnt, gibt es meh‐ rere Argumente, die für eine frühere Bekanntschaft beider Männer sprechen. Die erste Begegnung zwischen Kutscher und Wedekind, also die Episode des jungen Studenten, der sich mit einem selbstgeschriebenen Drama einen bekannten Dichter besucht und ihm ein eigenes Drama vorlegt, wird zuerst von Herbert Günther (1938: 19; 1953: 12) und dann von Kutscher erzählt (1960: 37). Selbst wenn man davon ausgeht, dass sowohl Kutscher als auch sein ehemaliger Schüler und Freund Günther das Datum falsch an‐ gegeben haben - wobei man sich auch fragt, warum sie es überhaupt hätten machen sollen -, kann man zwei Umstände nicht ignorieren: Erstens erschöpften sich Kutschers dramatische Bestrebungen tatsächlich um 1900 und zweitens waren sowohl Kutscher als auch Wedekind in der Zeitspanne 1901-1902 am „Akademisch-Dramatischen Verein“ tätig. Dort hielt Wedekind damals zwei Vorträge und wurde sogar Ehrenmit‐ glied des Vereins. Auch das Projekt der „Elf Scharfrichter“ fand anscheinend in einer Sitzung des Vereins seinen Auftakt; als Kutscher von Kiel zurückkam, kam er mit jenem Kabarett in Kontakt. Darüber hinaus veranstaltete der „Akademisch-Dramatische Verein“ am 22. Februar 1902 die Uraufführung von So ist das Leben: In der Inszenierung, an der Kutscher mitgewirkt hatte, spielte Wedekind eine kleine Rolle. Falls sich Kutscher und sein Landesmann Wedekind vor 1906 weder im „Akademisch-Dramatischen Verein“ noch in einem der benachbarten Künstlerkreise der Stadt München noch in einer Demonstration gegen das Lex Heinze betroffen hätten, sind für jenes Jahr zwei Ereignisse zu verzeichnen, die eine Bekanntschaft zwischen dem späteren Theaterpro‐ fessor und dem Dichter voraussetzen: 1906 fing Kutscher damit an, sich mit der Ge‐ samtausgabe von Schillers Werken für das Deutsche Verlagshaus Bong & Co. zu be‐ schäftigen; in Kutschers Erinnerung, war es gerade Wedekind, der ihm einen sachkundigen und wertvollen Rat gab: »Glauben Sie denn, daß es heute einen Schrift‐ steller von dem dramatischen Genie gibt, das aus der Apfelschußszene im Tell spricht? Ich sehe in Schiller immer noch einen unserer größten schöpferischen Geister; freilich darf man ihn nicht nach fremden Gesetzen beurteilen, auch nicht nach denen Shakes‐ peares oder Goethes; aber ob nur nach eigenen, das müssen Sie als Schillerherausgeber bestimmen.« (1960: 50). Die in Kutschers Autobiographie wiedergegebene direkte Rede weist die Sie-Form auf, mit der Wedekind eine gewisse Distanz zu Kutscher gehalten haben soll. Da sie noch nicht enge Freunde waren, scheint dieser Bericht wahrheitsge‐ treu. Schließlich entschied sich der „Neue Verein“, in dessen künstlerischem Beirat sich Kutscher befand, noch 1906 für die Aufführung von Frühlings Erwachen, die dann am 28. Januar 1907 stattfand. die beiden eine lebenslange Freundschaft. 42 Häufige Gäste des Vereins waren Prominente der Münchner Moderne wie Conrad, Dauthendey, Halbe, Henckell, Hirschfeld, Ruederer, Scharf, von Scholz und Schauspieler wie Fritz Basil, Wil‐ helm Schneider und Emil Lind. Durch private Theateraufführungen und Rezi‐ tationen von aus Zensurgründen extrem brisanten Dramen engagierte sich der Verein für die freie Kunst, für die Moderne: »Man spielte die Moderne aus Prinzip, und wollte in einer Zeit etwas heißen, als ihr die Pforten der Theater „Schwabingertum“ und Aktivismus 95 <?page no="96"?> 43 Vgl. Wenig 1954: 22. 44 Die konkurrierende Kegelgesellschaft Münchens war die von Josef Ruederer. Vgl. dazu Mühsam 1977: 173. noch verschlossen waren; in mancher Beziehung hat der Akademisch-Drama‐ tische Verein Grund, auch davon prinzipiell abzustehen und alle Kräfte für die literarische Kultur einzusetzen« (Kutscher 1912: 288 f.). Das Ziel war dement‐ sprechend nicht die Darstellung von tadellosen, den bürgerlichen Geschmack befriedigenden Stücken, sondern die Provokation des Bewusstseins, die Anre‐ gung des Denkens: »Man wollte aufklären, Problemstellungen bewußt machen und man wollte Diskussionen auslösen« (Hartl 1976: 68). Noch mehr, sowohl in der Stückauswahl als auch in der Veranstaltung von Vortragsabenden stellte der Verein die internationale Orientierung des damaligen deutschen Theaters dar: Kitasato hielt beispielsweise am 23. Februar 1899 einen Vortrag über „Das japa‐ nische Theater“, Ruederer referierte am 13. November 1901 über „Mont Saint-Michel in der Normandie und seine Wunder“, Georg Polonski sprach am 11. März 1903 über Maxim Gorki; auch unkonventionelle transnationale theat‐ ralische Themen waren dabei berücksichtigt, wie „Das künstlerische Varieté“, „Pornographie, Kunstbetrachtungen im Nachtcafé“ oder „Hexen- und Zauber‐ künste“. Der Verein schloss sich der Bühnenreformbewegung begeistert an, wobei er - wie aufgezeigt - öffentliche Gespräche von Fuchs, Hagemann, Kilian und Wilhelm von Scholz in seinen Lokalen ermöglichte und auf einem prakti‐ schen Niveau durch eigene Theateraufführungen mitwirkte. Das Kulturenga‐ gement des Vereins im gesellschaftlichen Leben war also ein notwendiger Be‐ standteil seiner Praxis, die Kutscher durchaus teilte und weiterführte. Er nahm an allen Faschingsfesten, Fastnachtstreiben und am Kampf gegen die damals vorgesehene Lex Heinze teil. Was die Uraufführung der drei Szenen aus Schnitz‐ lers Reigen betrifft, war sich Kutscher des schlüpfrigen Stoffes des Stückes wohl bewusst und warnte vergeblich den Verein vor einer Aufführung. 43 In derselben Zeit wurde Kutscher, vermutlich von Wedekind, auch in der „Gesellschaft für modernes Leben“ und in der berühmtesten literarischen Kegelgesellschaft der Stadt eingeführt: in Max Halbes „Unterströmung“ 44 . Wie sich Kutscher selbst erinnert, hatten sich »auch andere Organisationen der Geselligkeit in Mün‐ chen […] künstlerische Ziele gesetzt, selbst Stammtischrunden und Kegelklubs« (1960: 63 f.). Die Kegelabende, nur für Männer, fanden in der Privatkegelbahn Halbes statt; dort wurde nicht nur gespielt, sondern auch über literarische Themen debattiert. Treue Mitglieder dieser Gesellschaft waren, neben Kutscher und Wedekind, Korfiz Holm, von Keyserling, Langheinrich, Mühsam, Panizza, Scharf, Edgar Steiger, Weinhöppel, Weisberger, Hubert Wilm und später auch Roda Roda. Häufige Gäste aus der Theaterwelt waren Messthaler, Peppler, Stoll‐ Teil II. Potentialphase 96 <?page no="97"?> 45 Halbe war auch Veranstalter und Darsteller des sogenannten „Intimen Theaters“, das am 24. April 1985, in Juliane Derys Privatwohnung, die erste Strindberg-Aufführung (bzw. Der Gläubiger) in München vor ungefähr 40 / 50 geladenen Zuschauern veran‐ staltete und am 31. Mai, während eines Festabends in einem damals noch außerhalb der Stadt gelegenen Park Schwabings, Büchners Leonce und Lena zur Uraufführung brachte. Vgl. dazu Steiger 1915: 8 f.; Halbe 1976: 148 ff.; Schmitz 1990: 350-355; Rühle 1996: 275. 46 Kutschers Doktorarbeit wurde aus dem Seminarvortrag von Franz Muncker über das Naturgefühl in Goethes Jugendlyrik im Sommer 1901 entwickelt. Kutscher fuhr sogar zu Erich Schmidt, um die Meinung des viel verehrten Meisters zu hören: Der Berliner Philologe zeigte sich vom Thema begeistert. Die mit „Magna cum laude“ bewertete Dissertation wurde 1904 unter dem Titel Das Naturgefühl in Goethes Lyrik. Straßburg - Frankfurter Lieder im Verlag Eberlein teilgedruckt. Die vollständige Ausgabe, Das Na‐ turgefühl in Goethes Lyrik bis zur Ausgabe der Schriften 1789, erschien erst 1906 bei Max Hesses Verlag in Leipzig, in der Reihe der Breslauer Beiträge zur Literaturgeschichte. 47 In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass Kutschers Lyrikbegriff sehr weit gefasst ist: Als Dichtungsgattung stelle die Lyrik das reine »Bild vom innersten Wesen des Dichters«, den »Ausfluß eines Seelenzustandes« dar, der auch in Briefen, Prosa‐ werken oder Dramen zu finden sei (1906: X). Das Naturgefühl sei also »die Fähigkeit des Menschen, sich in die Natur ‚einzufühlen‘. Es liegt in uns ein Drang, uns alles Sein und Werden menschlich verständlich zu machen, d. h. in Formen und Farben und Le‐ bensäußerung unser eigenes Wesen ganz oder teilweise hineinzutragen« (VII). Nach Kutschers Einschätzung seien also Goethes Vorstellung der Natur in der Geniezeit und die in der Reifephase ab 1775 auch für seine dramatische Produktion von großer Be‐ deutung: Das Bild der Natur »als liebevoll sorgender Mutter« habe beispielsweise den Faust geprägt (65), denn »[e]s ist dies auch das Glühendste, Heißeste, Überschwäng‐ lichste, was Goethes Naturgefühl je in der Lyrik hervorgebracht hat« (88); gleicherweise hätte Goethes reifer Eindruck der Erhabenheit von Naturerscheinungen und, folglich, der menschlichen Grenzen im pessimistischen Torquato Tasso Anklänge gefunden, so dass sich der Mensch im Drama durchaus als »Objekt der Natur und des Schicksals« zeige (146). berg und Weigert. Damals fungierte Halbe als Katalysator der Münchner Künst‐ lerschaft 45 , so dass Kutschers enge Freundschaft mit dem viel älteren Dramatiker das Sprungbrett für sein breites Engagement an kulturellen und gesellschaftli‐ chen Kämpfen darstellte. Weder in Kiel noch in Berlin verband sich Kutscher mit Künstlergruppen und, als er nach München zurückkam, suchte er den Kon‐ takt zum „Akademisch-Dramatischen Verein“ und zu den dort lebenden Künst‐ lern wiederherzustellen. Wenn Kutscher Das Naturgefühl in Goethes Lyrik als Thema seiner Dissertation auswählte, 46 in der die dramatische Tätigkeit des Dichters nur flüchtig erwähnt wurde, 47 und wenn er vorwiegend mit einem philologischen Instrumentarium arbeitete, dienten seine Beteiligung am „Aka‐ demisch-Dramatischen Verein“ und das Miterlebnis des „Elf Scharfrichter“-Un‐ ternehmens dazu, den jungen Wissenschaftler an die Bühnenkunst anzunähern. Im letzten Lebensjahr des „Akademisch-Dramatischen Vereins“ fanden die zwei später berühmten Uraufführungen von Kleists Robert Guiscard und Hebbels „Schwabingertum“ und Aktivismus 97 <?page no="98"?> Diamant unter Falckenbergs Regie statt. Kutscher besuchte regelmäßig auch das Münchner Schauspielhaus und am 22. Februar 1902, nach seinem Studienauf‐ enthalt in Berlin, war er an der Uraufführung von Wedekinds So ist das Leben beteiligt: »Hier haben wir alle wichtigen Aufführungen besucht im Kampf um die Moderne, der damals noch höchst persönlich ausgefochten wurde« (1960: 37). Kutscher musste seine Verwurzelung in der Schwabinger Bohème allerdings aufgeben, als er 1903-1904 seine Militärdienstpflicht erfüllte. Ende März 1904 wurde er entlassen und, von der Perspektive einer akademischen Laufbahn fas‐ ziniert, kehrte er nach München zurück. Ihm wurde trotzdem klar, »wie schwierig es sein würde, ohne jede Protektion, ja, ohne überhaupt im Bayern‐ land irgendeinen Menschen von Einfluß zu kennen, Universitätslehrer zu werden« (1960: 45). Der kürzeste Weg führte ihn nach Hannover, wo seine Mutter noch lebte und wo jemand seine wissenschaftliche Tätigkeit hätte brau‐ chen können: Vor Januar 1905 hatte er schon viermal einen Vortrag über Goethes literarische Entwicklung bis zu seiner Zusammenarbeit mit Friedrich Schiller gehalten. Kutscher blieb in dieser Zeit der Lyrik treu und besuchte seinen Landsmann Hermann Löns, Journalist und seit drei Jahren auch produktiver Dichter. Dieses Treffen zeigt nicht nur Kutschers „zeitgemäße“ Intuition, sich an journalistischen Arbeiten zu erproben, um an Sichtbarkeit zu gewinnen, sondern auch seine Vorliebe für Gegenwartsliteratur. Löns erkannte das Poten‐ tial des Jungen und bot ihm das Feuilleton der von ihm geleiteten Zeitung „Han‐ noverschen Tageblatt“ und dessen Beilagen „Heimat“ und „Kunst und Literatur“. Trotz seines anfänglichen Mangels an Erfahrung entwickelte Kutscher in knapp einem Jahr - und zwar vom Herbst 1905 bis zum Oktober 1906 - eine bemer‐ kenswerte Fähigkeit als Kritiker, die ihm auch in literarischen Kreisen Mün‐ chens eine höhere Stellung zuwies: Er war nicht mehr ein literaturbegeisterter Student, sondern ein wissenschaftlicher Könner. Kutschers Erfahrung in und zwischen kulturellen Gemeinschaften Wenn man Kutschers Tätigkeit bis zu seiner Habilitation inmitten unterschied‐ licher Lerngemeinschaften analysiert, dann erscheinen drei Aspekte als beson‐ ders relevant: erstens seine Beziehung zu einigen der berühmtesten Dichtern seiner Zeit, zweitens die kollektiv bearbeitete Vorstellung von Heimat und drit‐ tens die Suche nach den „eigenen Gesetzen“ der Kunst und der Kritik in einem dynamischen Wissenssystem. Als Abhandlung über literarische Kritik im „Ta‐ geblatt“ wurde eine Reihe von Aufsätzen über niedersächsische Autoren veröf‐ fentlicht - eigentlich nach einer Idee Kutschers selbst -, die Autoren wie Busch, Teil II. Potentialphase 98 <?page no="99"?> 48 Eigentlich stammten Detlev von Liliencron und Thomas Mann aus Schleswig-Holstein. In Kutschers Vorstellung gehörten ihre Werke aber, wie die der Niedersachsen, zum norddeutschen Schrifttum. 49 Ein anderes Beispiel dafür bietet der Artikel Ein vergessener hannoverscher Dichter, der Kutscher 1909 für „Altsachsenland. Zeitschrift für den Heimatbund Niedersachsen“ verfasste. Kutscher beschäftigte sich mit den Gedichten von Paul Gottlieb Werlhof (1699-1767), um damit zu zeigen, dass »eine solche Formkraft und vereinzelt auch schon ein dichterisches Können« noch vor der Reformation der Kunst im 18. Jahrhun‐ dert »in Hannover zu Hause war.« (4). 50 Grundlegend zum Begriff: Ludger Pries (1996). 51 Patel 2008: 77 f. Hartleben, Henkell, von Liliencron, Th. Mann, Münchhausen, Sohnrey und von Strauss und Torney als Sujet hatten. 48 Diese zeigten sich durchaus dankbar und Kutscher führte diese Richtung fort, indem er in die Zeitung regelmäßige Be‐ sprechungen von Neuerscheinungen brachte. Er übersandte dann dem jeweils betreffenden Schriftsteller seine Artikel, wie Kutscher selbst bezüglich des Falls Liliencron erzählte (1960: 53). Die systematische Veröffentlichung der Aufsätze ermöglichte ihm zum einen, einen Erwartungshorizont bei seinem Publikum zu bilden, zum anderen sein Verhältnis zu den Dichtern der Gegenwart immer enger zu gestalten. Die Tatsache, dass sich Kutscher mit der Heimatdichtung beschäftigte, 49 darf nicht dazu führen ihn anzuschuldigen, er habe die Aussaat für die Verbreitung einer völkisch-idyllischen Literatur gelegt. Eine heimatbe‐ zogene Kunstproduktion war für ihn künstlerisch wertvoll und folglich lobens‐ wert, nur wenn sie Erlebnisausdrücke des Dichters in sich trug, wenn sie die Anschauungswelt des Autors sichtbar machte. Er war dementsprechend von irgendeiner außerästhetischen Mythisierung des bodenständigen Dichtertums oder der mundartlichen Lyrik weit entfernt. Diese Konzeption von Heimat, Hei‐ matliteratur und Kulturnation war weder ein Korrelat des Zeitgeistes des Fin-de-siècle noch eine bloße Widerspiegelung seiner Ausbildung in einer Groß‐ stadt wie München; sie war vielmehr das Ergebnis eines Bedeutungsaushand‐ lungsprozesses zwischen zwei wirksamen Prägekräften: der nationalstaatlichen Perspektive und den „transnationalen sozialen Räumen“ 50 der künstlerischen Moderne. Neben dem sozialpolitischen Raum der Nationalgesellschaft, in dem alle Akteure die unmittelbare lokale Wirkungskraft und Nützlichkeit ihrer Praxis für das Volk beachteten und förderten, entstand eine transnationale Ge‐ sellschaftsgeschichte bzw. eine übernationale Räumlichkeit des Denkens und des Handelns, wo »Interaktionen, Verbindungen, Zirkulation, Überschrei‐ tungen und Verflechtungen von Menschen, materiellen Gegenständen und In‐ stitutionen jeder Art« stattfanden, »sei es in Form von sozialen Praktiken, Sym‐ bolsystemen oder Artefakten« 51 . In der Moderne kreuzen sich also „Schwabingertum“ und Aktivismus 99 <?page no="100"?> 52 Vgl. dazu Kutschers Erinnerung an ein Gespräch mit Wedekind über Schillers Dramatik (1960: 50). Wedekind betonte die Wichtigkeit der Apfelschussszene im Wilhelm Tell für die Entwicklung jeglicher dramatischen Schöpfung und forderte Kutscher auf, Schiller nicht nach »fremden Gesetzen« zu beurteilen. Als Herausgeber hätte er bestimmen müssen, ob Schiller überhaupt nach »eigenen« Gesetzen beurteilt werden konnte. Nationalismus und transnationale Konstellationen. Kutschers Verständnis von Heimatliteratur und Volkskunst war zweifelsohne ein Nebenprodukt der Nati‐ onalstaatsbildung und der Entwicklung einer liberalen deutschen Bourgeoisie, nichtsdestoweniger war sie von einer Kunstauffassung bzw. Ästhetik beein‐ flusst, die ihre Definition sowie ihren Entfaltungsraum über die nationalen Grenzen hinaus und ihre Wichtigkeit für die Menschheit erst durch die Verbin‐ dung zu anderen Kulturen und Wissensbereichen erkannte. Der Aushandlungs‐ prozess vom Konstrukt „Heimat-Literatur“ hinterließ in Artur Kutschers Kunst‐ betrachtung und -kritik deutliche Spuren: Er war der Auffassung, dass für jedes Genre und jede Umsetzung wesenseigene Regeln gefunden werden sollten. In dieser Hinsicht konzentrierte sich Kutscher schon vor seiner akademischen Karriere auf die Bestimmung einer Stilkunde, die nur der Kunst diente und daher nur aus der Kunst heraus bestimmt werden konnte. Die ersten Versuche einer stilkritischen Untersuchung führte Artur Kutscher als Journalist und Heraus‐ geber fort. Anfang des Jahres 1906 erhielt er den Auftrag vom Deutschen Verlagshaus Bong & Co., die Gesamtausgabe von Schillers Werken der alten Hempel-Ausgabe zu erneuern. Das erste Problem für den Herausgeber war es, »das eigene Gesetz Schillers zu finden« (1960: 50). Und hier kam es zur ersten Konfrontation Kut‐ schers mit einem Dramatiker - sprich: mit dem damals repräsentativsten The‐ aterautor der deutschen Nation. Auch wenn Kutscher an Schillers dramatisches Können durchaus zweifelte, 52 versuchte er, mit akribischer Präzision alle Be‐ standteile seines Oeuvres mit einem potenziell breiten Lesepublikum in Verbin‐ dung zu bringen und hierdurch die Art und Weise hervorzuheben, wie Schiller seine Werke erzeugte. Auf die Schillerausgabe zurückblickend stellte Kutscher fest, er habe sich als Herausgeber die Aufgabe gegeben, zu beweisen, dass Schiller weder ein »eigentlicher Dramatiker« noch ein »eigentlicher Lyriker« sei, sondern ein »Dichter fürs Theater« (51). Der Unterschied zwischen Dra‐ matiker und Theaterdichter wurde also gerade in jenen Jahren, im Zusammen‐ hang mit Kutschers Suche nach den Gesetzen der Kunst und der Kritik, heraus‐ gearbeitet. Die Untersuchungsobjekte Theaterkunst und Kritik des Theaters sind auch in Kutschers Habilitationsschrift Friedrich Hebbel als Kritiker des Teil II. Potentialphase 100 <?page no="101"?> 53 Das Werk wurde 1907 als erste Nummer der von R. M. Werner und W. Bloch-Wunsch‐ mann herausgegebenen „Hebbel-Forschungen“ gedruckt. Das Colloquium hatte am 2. Mai desselben Jahres stattgefunden. Dramas. Seine Kritik und ihre Bedeutung zu finden. 53 Die wissenschaftliche Ar‐ beit an Schillers Werk und die Enge der journalistischen Beschäftigung mit Ge‐ genwartsliteratur hatten Kutschers Wunsch nach einer akademischen Karriere wiedererweckt, so dass er Franz Muncker und Hermann Paul in München ein Thema für seine Habilitation vorschlug, das seine damaligen Interessen, d. h. einen Heimatdichter, die Stilkunde und das Theater, vereinigte. Die Untersu‐ chung der dramatischen Kritik Hebbels konzentrierte sich auf die programma‐ tischen Fragen: »Wie macht sich Hebbels Kritik und Ästhetik aus im Vergleich mit der Kunstbetrachtung der ganzen Zeit? Was fördert und bringt sie? Was ist das eigene an ihr? Ist sie ein Fortschritt? Und was ist die deutliche Ästhetik, wie ist ihre Entwicklung ohne sie? « (1907: VIII ). Hier ist es schon deutlich, dass sich Kutscher an eine historische Kontextualisierung sowohl der ästhetischen An‐ sichten als auch der Weltanschauung Hebbels interessierte, denn ohne Schel‐ lings, Hegels und Solgers philosophische Systeme und ohne den Einfluss der jungdeutschen Schriftsteller sei Hebbels Kritik undenkbar. Kutscher strebte somit nach einem Bild mit »Hintergrund und Größenverhältnisse[n]« (Ebd.). In seiner Betrachtung der dramatischen Kunst erwähnte der Wissenschaftler alle Elemente, die mit dieser Art des poetischen Äußerns untrennbar seien: das The‐ ater, die Schauspielkunst und die Theaterkritik als Theorie. Was er unter diesen Begriffen meinte, ist aus dem Text her herauszufinden. In Anlehnung an Hebbels späte Vorstellung verstand Kutscher das Theater sowohl als das Darstellbare als auch als die Darstellung selbst, in denen die Dichtung nur eine Rolle spielt. Doch in diesem frühen Begriff von Theater findet man schon die Einbeziehung von Bühne, Publikum und Theaterkritikern, was einer genauen Überlegung über das Verhältnis zwischen Theatererfahrung und Volksbildung bedurfte. Der Bezie‐ hung Hebbel - Schauspielkunst widmete Kutscher ein ganzes Kapitel, auch wenn der Dichter nur selten auf die Schauspielkunst eingegangen war: »Im Gegensatz zu Rötscher, der große Charakterentwicklungen eigens für darstel‐ lende Künstler schrieb, gehört das Interesse Hebbels fast ausschließlich der Dichtung. So weiß denn auch Hebbel nichts von einer selbstschöpferischen Kunst des Schauspielers« (169). Die Verfassung dieses Kapitels sagt also viel‐ mehr über Kutschers theaterwissenschaftliche Perspektive aus, weil die Schau‐ spielkunst, als Bestandteil des Theaters, nicht unbeachtet bleiben dürfte. Schließlich werden die Bemerkungen Hebbels über die Theaterkritik seiner Zeit zum metaliterarischen Moment: Kutscher skizzierte am Beispiel Hebbels die Grundzüge einer echten, nützlichen Kritik. Diese solle ernst, bzw. im Dienst der „Schwabingertum“ und Aktivismus 101 <?page no="102"?> 54 Dazu unterschieden Kutscher wie Hebbel zwischen Naturtreue, die in Details liegt und also unerreichbar bleibt, und Naturwahrheit, die im Ganzen liegt und daher in der Kunst gefordert werden muss (110). menschlichen Kultur, nicht einseitig und praxisbezogen sein (180-182). Noch mehr, sie müsse die Entstehung eigentlicher Dramatik erkennen und fördern, indem sie die dramatische Produktion eines Dichters nach den Gesetzen des Theaters prüfe. Nach Kutschers Meinung betreffen die eigenen Gesetze des Theaters einerseits die Aufführung, andererseits die Ästhetik des Dramas, die mit seinem Dichter sowie mit seiner Zeit zusammenhänge. So etwa beschrieb er Hebbels Kritik an die angebliche »völlige Ideenlosigkeit« von Schillers Wal‐ lenstein: Hier haben wir ein Prachtexemplar Hebbelscher Kritik. Schiller dachte gar nicht daran, ein solches Problem zur Darstellung zu bringen, ihn interessierte der Charakter dieses Mannes in seiner unheimlichen Unabhängigkeit von Schicksalsmächten, das schritt‐ weise Versinken-Müssen. Hebbel aber schiebt ihm ein ganz anderes, sein eigenes Schema unter, und siehe da, das Stück paßt gar nicht darauf. Hebbel hat Recht, wenn er sagt, Schiller habe das Problem noch nicht einmal rein ausgesprochen, Schiller wollte überhaupt von dem Hebbelschen Problem nichts wissen. (100) Es sei nämlich die Stilkunde, die Hebbel missachtet habe, wobei er fremde Ge‐ setze für sein Urteil des Wallensteins anwende. Er lasse Schillers Werk nicht in der Sprache des Dichters sprechen, sondern zwinge es in ein Denkmuster, in einen Lebensprozess, der Schiller völlig fremd war. Der Stil der dramatischen Dichtung sei nämlich die Sprache: In der Sprachbildung wiederhole sich das Mysterium der Schöpfung. In dieser Hinsicht ist die Sprache, besonders die po‐ etische, sinnlich, weil sie den Sinn überliefert: »Sie umfaßt den ganzen Men‐ schen in seinem Verhältnis zur Welt und zu sich selbst« (142). Da die Sprache nach Kutschers Erachten als Mittel zur Verkörperung der Dichtung gilt, muss sie denselben Individualisierungsgesetzen unterworfen werden. In jedem Wort auf der Bühne muss man Volk, Land, Bildungsstufe, momentane Situation des Sprechers erkennen. Ein solches Ereignis erreicht nur der Künstler, der das Uni‐ versum in sich aufgenommen hat, so dass er es dann in seinen Schöpfungen wiedergeben kann, wie bei Goethe und Shakespeare. Dem echten Dramatiker soll es an dieser Naturwahrheit 54 nicht mangeln, wie es bei Schiller und teilweise bei Hebbel der Fall ist (114). Kutschers Angriff auf die Tragik der Hebbelschen Stücke ist daher konsequent: Der Dichter habe die Freiheit der Persönlichkeit in seinen Dramen missachtet. Im Menschlichen allein, im Verstoß gegen die Gesetze menschlicher Individualität liegt die echte Tragik, nicht in einem Verstoß gegen die sogenannten Naturgesetze, Teil II. Potentialphase 102 <?page no="103"?> gegen die Idee. […] Schuld als solche, Tragik im Absoluten ist unmöglich, künstlerisch wertlos. Wir stehen heute auf einem ganz anderen Standpunkte als Hebbel; wir kon‐ struieren keine Schuld, wir glauben nicht an einen Konflikt in der Idee, menschlich soll die Schuld sein, schlicht menschlich. (186) Dazu kam noch ein Kapitel über die Wirkung Hebbelscher Ästhetik auf die ge‐ genwärtige Bühnendichtung, was Kutschers Interesse nochmals verdeutlicht. Völlig in der geisteswissenschaftlichen Strömung der Ideen- und Einflussge‐ schichte zeigte Kutscher zuerst Hebbels Einfluss auf Ibsens Dramatik. Ibsen hatte nämlich mit Bewunderung zu Hebbels Dramen geblickt, schon als er in Nordeuropa lebte. Die gewaltigen Bilder Hebbels waren auch in Ibsens Stücke wieder zu erkennen, aber nun kamen sie in einem kleineren Format und mit intimeren Stoffen vor. Gerade die Intimität der Lebensdarstellung bei Ibsen stand im Gegensatz zum abstrakten Konflikt der Idee bei Hebbel. Eine weitere Spur des Einflusses Hebbels auf Ibsen zeige sich in der Ausübung der Kritik, ein Grundzug im Wesen beider Dramatiker: Sie bohrten sich tief in die menschliche Seele ein und glaubten nicht einmal an die Möglichkeit einer menschlichen Selbstbestimmung. Gemeinsam war ihnen auch die Symbolik: »Sie schildern einen ganz individuellen Fall und lassen dabei das Typische durchleuchten« (221). Darüber hinaus hatte Ibsen »wie Hebbel in seinen Dramen eine strenge Folgerichtigkeit der Entwicklung, eine unbedingte Notwendigkeit« erfordert (222). Eine Wiederaufnahme Hebbelscher Tragik sah Kutscher zuletzt in ein‐ zelnen modernen Stücken, wie etwa bei Hartleben, Schnitzler, Sudermann oder sogar bei Hauptmann und Maeterlinck. Doch hier handelte es sich nur um Mo‐ tive oder dichterische Anregungen für die Erzeugung dramatischer Texte. Die Schlussfolgerungen des Habilitierenden kondensierten in einem Satz den wich‐ tigsten Punkt seiner Analyse, und zwar die „reine Kritik“, die der Kunst jeder Zeit sowie einem unhistorischen Volk zum Nutzen ist: Mit Freude aber würden wir sehen, wenn an Stelle des journalistischen Geplauders Hebbels eherner Ernst tritt, wenn die Kritik mit Strenge sowohl auch mit Demut der Kunst dient, wenn sie dringt auf Bedeutsamkeit des Gehalts, wenn sie sich nicht be‐ gnügt mit einer banalen Versöhnung, sondern einen tieferen, menschlich wahren Ab‐ schluß verlangt, einen Abschluß, der eine Erhebung im Hebbelschen Sinne ist, und wenn sie uns erhaben über aller Disharmonie das stille Walten ewiger Vernunft auf‐ weist, welche die Notwendigkeit und die Sittlichkeit selber ist. Daß wir dies wünschen, ist das Große was Hebbels Kritik uns erworben hat. (226) Am 17. Juni 1907 wurde Artur Kutscher vom Prinzregenten Luitpold als Privat‐ dozent für neuere deutsche Literatur bestätigt und im Wintersemester 1907 / 08 kündigte er zwei Vorlesungen über Literaturgeschichte an der Universität zu „Schwabingertum“ und Aktivismus 103 <?page no="104"?> 55 Vgl. Kutscher 1960: 56. Bernt Rothert bemerkte hinzu, schon in dem Thema seiner An‐ trittsvorlesung offenbare sich ein Wesenszug Kutschers: »Literatur war ihm nie ein bloß historischer Gegenstand. Wie kaum ein anderer versuchte er schon früh, Brücken aus der Vergangenheit in unsere Welt zu schlagen.« (1961: 285). 56 Siehe dazu die zwei Briefe, die Kutscher an Müller am 17. August und am 3. September 1908 schickte (Monacensia, HCM B 22). 57 Mittlerweile war die vierbändige Volksausgabe von Schillers Werken 1907 erschienen, die ebenso von Kutscher neu herausgegeben und eingeleitet war. 58 Im Beitrag Begegnungen mit Paul Heyse (1955) erinnert sich Kutscher an seine Besuche in Heyses Villa. Der Beitrag wurde dann in Kutschers Autobiographie wieder abge‐ druckt (1960: 58-60). 59 Nach Reders Tod im Jahr 1909 stellte Kutscher eine zweibändige Auswahl aus den ge‐ druckten Büchern und dem handschriftlichen Nachlass des Dichters zusammen, aber kein Verlag hatte Interesse an der Veröffentlichung. Schließlich erschien ein einziger Band, mit einer Einleitung von Kutscher, im Verlag Die Lese (1910). München an. Die erste zweistündige Vorlesung behandelte „Schillers Leben und Werke mit besonderer Berücksichtigung seiner Ästhetik und Kritik“, die zweite die „Deutsche Lyrik von Heine bis zur Gegenwart“. 55 Als Dozent fand er einen Mitarbeiter für seine Schillerausgabe, nämlich den damals 18-jährigen Stu‐ denten Hans Carl Müller. 56 Dank ihm konnte Kutscher schon Ende 1908 die 15 Bände zusammenzustellen und sie 1912, nach der zweiten Korrektur, veröffent‐ lichen 57 . Neben dieser Arbeit bemühte sich Kutscher, eine aktive Rolle unter den Münchner Literaten und Künstler einzunehmen. Schon seit Januar 1907 arbeitete er für die „Münchner Neuesten Nachrichten“ und für die „Münchner- Augsburger Allgemeinen Zeitung“, denen er Beiträge über die Gegenwartslyrik lieferte: Seine literarisch-kritische Aufgabe war es, ältere Münchner Dichter aufzusuchen und sie über ihre Kunst zu befragen. Auch ohne die leitende Figur Löns’ knüpfte Kutscher immer mehr Verbindungen zu Dichtern erster Größe. Im März 1907 schrieb er einen Artikel über Detlev von Liliencrons Balladenchronik. Er übersandte dem Dichter sowie seinem poeti‐ schen Antipode Münchhausen einen Abdruck des Aufsatzes und bekam von Ersterem »eine leicht verschnupfte, doch vornehme Antwort«, die mit dem Satz endete, sollte Kutscher durch Hamburg kommen, dann könnte er ihn gerne be‐ suchen (1955: 247; 1960: 53). Wenige Tage später erhielt der Kritiker auch eine Nachricht von Münchhausen, der Kutschers Mut lobte, an Liliencron einen Fehler aufgedeckt zu haben. Zur Reihe gehörten auch Hermann von Lingg, Paul Heyse, 58 Martin Greif und der damals 83-jährige Heinrich von Reder. 59 Die Ten‐ denz zur Vernetzung mit anderen Intellektuellen führte Kutscher zur Mitglied‐ schaft im „Werdandi-Bund“. Der nach der germanischen Norne der Gegenwart benannte „Bund für deutsche Würde und deutsches Wesen“ wurde im Mai 1907 auf Initiative Friedrich Seeßelbergs, Professor für Baukunst an der Technischen Teil II. Potentialphase 104 <?page no="105"?> 60 Rolf Parr hat das Thema „Werdandi-Bund“ in drei Publikationen ausführlich behandelt (1996; 1998: 485-495; 2000: 47 ff.). 61 Vgl. Werdandi, 2. Jahrgang, Heft 7, Rückseite. 62 Und zwar im II. und III. Jahrgang der Zeitschrift im Fritz Eckart Verlag, Leipzig. In demselben Verlag erschien Kutschers Aufsatz Schiller und wir (1909) als einzelnes „Wer‐ dandi“-Heft der Schriftenreihe „Wertung“, die programmatische Beiträge sonderte. Hochschule Berlin-Charlottenburg, in Berlin gegründet. 60 Schon das Programm des Bundes verkündete das feste Ziel, »den Künstlern, deren Kunst auf gesunder deutscher Gemütsgrundlage beruht, größeren und unmittelbareren Einfluß auf die Kultur« zu verschaffen und gleichzeitig »die Seelenkraft des deutschen Volkes durch das Mittel der Kunst zu erhalten und zu stärken« (Seeßelberg 1909: o. S.). Im ideologischen Projekt waren also das individuelle Künstlertum, die determinierende Rolle einer aktiven, neuen Gemeinschaft und das Volk als Grundlage und Ziel aller künstlerischen Bereiche eng aufeinander bezogen. Die interne Dichotomie zwischen dem zu erfordernden Modern-Avantgardistischen und der zu bewahrenden deutschen Seele wurde zum Hauptproblem des Vereins, der sich offiziell 1914 auflöste. Die Notwendigkeit einer Aushandlung von Werkzeugen - wie Zeitschriften, monographische Veröffentlichungen oder Vor‐ tragsabende - und von Ressourcen, d. h. der Kunsttypologie, die man veran‐ schaulichen wollte, war unvereinbar mit den Mitgliedern, die in der Gruppie‐ rung mitwirkten. Die halb formelle Organisationsstruktur des Vereins bestand nämlich aus einer extrem heterogenen Mitgliedschaft, deren Ehrenbeirat gerade Wilhelm Busch, Detlev von Liliencron und Wilhelm Raabe angehörten, die den Kontrast zwischen Modernität und idealisierter bodennaher Tradition emble‐ matisch verkörperten. Außerdem entwickelten sich einzelne „Werdandi“-Kreise auf lokaler Ebene, wie in München, Hamburg und Wien, deren partikularistische Interessen sie vom Berliner Mutterverein allmählich trennten. Kutscher war schon in der Anfangszeit Mitglied des „Werdandi-Bundes“ und sicherlich ab Juli 1909 auch Mitglied des Schriftausschusses des Werdandi-Bundes. 61 Seine Betä‐ tigung im Bund betraf vorwiegend die Zeitschrift „Werdandi: Monatsschrift für deutsche Kunst und Wesensart“, was für die Zeitspanne 1909-1910 gut nach‐ weisbar ist. 62 Diese erste unbeständige CoP, die sich jedenfalls für die Kultivie‐ rung eines gemeinsamen Wissens bemühte, zeigte zumindest vier Grundzüge, die Kutscher in seiner späteren theaterwissenschaftlichen Tätigkeit ausarbeitete und verbesserte. In erster Linie war die Kooperation mit anderen Verbänden für die Mitglieder des „Werdandi-Bundes“ besonders wichtig, weil sie dadurch die Möglichkeit des Austausches nutzen konnten, um ihr Wissen zu bereichern. Doch die vielen „multiplen Mitgliedschaften“ führten nicht zur Transformation des Wissens, das wieder angewandt werden sollte, sondern dazu, dass konkur‐ „Schwabingertum“ und Aktivismus 105 <?page no="106"?> rierende Gemeinschaften von der geleisteten Arbeit profitierten und letztend‐ lich den Mutterverein überflüssig machten. Zweitens wurde immer deutlicher klargestellt, dass ästhetisch-theoretische Debatten und wissenschaftliche Ver‐ öffentlichungen nur als Teil einer breiteren Praxis zum Nutzen der Gesellschaft sein konnte. Bezüglich der soziologischen Ausrichtung der „Werdandi“-Zeit‐ schrift im zweiten Jahrgang erklärte Seeßelberg nämlich: […] wir haben aus unserer Wirksamkeit im ersten Jahre gelernt, daß zur Durchfüh‐ rung ebendieses Planes das Nur-Künstlerische weder möglich noch ausreichend ist. Der Begriff „Kunst“ ist heute innerhalb der geistigen Strömungen gegenüber den Auffassungen der vorigen Jahrzehnte ein anderer, ein immerfort in die soziologischen, philosophischen und anthropologischen Gesichtspunkte hinausweisender geworden: in der Geschichte, in der Naturwissenschaft, im Staatsleben, in den Religionen. So zeigt sich diese höher und größer angesehene Kunst auch mit allen Umständen des Wirtschaftlichen und Innerpolitischen in so unlösbarer Verschränkung, daß das An‐ fassen des Einen ohne das Mitgreifen des Anderen überhaupt nicht denkbar und durchführbar ist. Der Kampf gegen die »Unkultur« der Zeit verbreitete sich demzufolge über die Grenzen des rein Künstlerischen hinaus und schloss Bereiche des alltäglichen Lebens, der Lehrtätigkeit, der pädagogischen Erziehung, der sozialen Gebräuche sowie ethische Gesichtspunkte ein. Drittens spielte das Geselligkeitselement in der Vereinsarbeit eine primäre Rolle: Um einen Lernregelkreis zu erzeugen, wurden unterschiedliche Aktivitäten in die Praxis eingefügt. Ausstellungen, Atelierbesuche, Führungen, Lesungen sowie „Werdandi-Feste“ ermöglichten die Interaktion zwischen Mitgliedern und die Debatte über das gemeinsame Vor‐ haben. Diese Vereinsaktivitäten fanden jedoch kaum Resonanz außer der Ge‐ meinschaft, die hierzu den Kontakt zur dynamischen Außenwelt verlor und ihre internen Widersprüche nicht aufzulösen wusste. Letztens war es die Wider‐ sprüchlichkeit der Projekte selbst, die die Weiterentwicklung der gemeinsamen Praxis blockierte: »Das Problem, gleichzeitig die modernen Fortschrittskonzepte negieren, aber doch eine Form von Entwicklung hin zu einem „neuen“ Deutschtum aufzeigen zu wollen« (Parr 2000: 71), traf auf so starke Kritiken und praktische Probleme, dass einzelne Mitglieder einen Weg aus der Sackgasse als unabhängige Künstler oder als Mitwirkende anderer Gemeinschaften suchten, deren Wissensbereich weniger widersprüchlich war und deren Struktur mehr Raum für individuelle Anregungen ließ. Kutschers Stellung im Bund muss im Licht seiner frühen Tätigkeit als Dozent betrachtet werden. Zunächst sei betont, dass der Münchner Kreis des „Wer‐ dandi-Bundes“ eine größere Unabhängigkeit von der Führungsposition Seeßel‐ bergs und des Vorstandes genoss und dass der Fokus hier nicht auf der Archi‐ Teil II. Potentialphase 106 <?page no="107"?> 63 Wenn man die genaue Auflistung der „Werdandi“-Mitglieder und der Mitarbeiter der „Werdandi“-Zeitschrift in Parr 2000: 321-362 durchliest, findet man in München fast ein Gleichgewicht zwischen Schriftstellern und Germanisten einerseits und Malern, Zeichnern und Graphikern andererseits. 64 «The community coordinator is a community member who helps the community focus on its domain, maintain relationships, and develop its practice» (Wenger / McDer‐ mott / Snyder 2002: 80). Im „Werdandi-Bund“ hatte Kutscher keine offizielle Führungs‐ rolle, daher wurde der Begriff ‚Nebenkoordinator‘ angesichts seiner Entscheidungspo‐ sition in den „Werdandi“-Zeitschriftveröffentlichungen bevorzugt. 65 Vgl. Günther 1938: 20; Kutscher 1943: 60. tektur lag, sondern gleichermaßen auf der Literatur und der bildenden Kunst. 63 Kutscher benutzte den Bund als trait d’union zwischen erhabenen Vertretern der modernen Kunst und einer Jugend, die bereitwillig beim sozialen Wissensaus‐ tausch mitspielen wollte. Er stellte sich als Nebenkoordinator 64 im Ausschuss für das Schrifttum des Bundes vor, wobei er die Außengrenzen der CoP über‐ schritt, um die Vernetzung von Prozeßabläufen zwischen ähnlichen Lernge‐ meinschaften zu verstärken und um neue Mitglieder auszubilden. In seiner täg‐ lichen Arbeit nutzte Kutscher seine Bekanntschaften zur Bereicherung des Wissensbereiches und der Mitgliedschaft der „Werdandi“-Lerngemeinschaft; auf diese Weise entwickelte er das Wissen der Mitarbeitenden und förderte zu guter Letzt das Lernen. Diese Tätigkeit wurde in zwei Richtungen ausgeübt: nach außen, damit der Bund durch neue prominente Mitarbeiter seine Resonanz in der Öffentlichkeit bestätigen konnte, und nach innen, um junge Interessierte in der Praxis zu beteiligen. Ein schlagendes Beispiel für die erste Tätigkeitsrichtung bietet Löns’ und Conrads Beitritt zum „Werdandi-Bund“. 1909 lobte Hermann Löns die Herausgeberarbeit Kutschers für die Beilagen „Heimat“ und „Kunst und Literatur“ und, nach Anregung Kutschers, bewarb er sich um Mitarbeit bei der „Werdandi“-Zeitschrift. 65 Im März desselben Jahres schrieb Seeßelberg an Mi‐ chael Georg Conrad: Abgesehen von Ihren mir großenteils bekannten Werken, sind Sie uns lebhaft emp‐ fohlen worden durch mehrere Münchner Persönlichkeiten, namentlich auch durch Herrn Privatdozenten Dr. Arthur Kutscher von der dortigen Universität. […] Da ich nun erfreut sein würde, dauernd zu Ihnen in Beziehung zu kommen, möchte ich mir zunächst erlauben, Ihnen nahe zu legen, Mitglied bei uns zu werden. (zit. nach Parr 2000: 262) Die Beziehung zwischen Kutscher und Conrad war fester geworden, nachdem der junge Wissenschaftler Conrad am 30. Juli 1906 darum gebeten hatte, »ein paar Wörtlein« über seine veröffentlichte Dissertation zu schreiben, da es sich »um etwas Neues, Lebenswertes, dem Künstlerischen Verwandtes« handelte, „Schwabingertum“ und Aktivismus 107 <?page no="108"?> 66 Georg Kunkel war vom WiSe 1907 / 08 bis zum SoSe 1911 an der LMU immatrikuliert, Johann Faerber nur im WiSe 1908 / 09 und Hans (Karl) Müller vom SoSe 1911 bis zum WiSe 1911 / 12. Sie alle gehörten zum Kutscher-Kreis. und da Kutscher durchaus glaubte, »durch das Wort eines schaffenden Künst‐ lers« werde mehr »als durch 100 Rezensionen in gelehrten Zeitschriften« getan (Monacensia, MGC B 558). Kutscher bekam tatsächlich die Begutachtung von Conrad und ihm verdankte er auch sein Prestige in literarischen Kreisen als der neue Wissenschaftler, der die alte Schul-Philologie getötet hatte, wie es in Oskar Garvens’ Zeichnung Kutscher tötet Düntzer veranschaulicht wird (Günther 1938: Abb. 2). Als Akademiker und Leiter von Seminaren ab 1908 hatte dann Kutscher die Gelegenheit, seine Verbindung zu talentierten Jungen zu stärken, und ließ einige von seinen Schülern verfassten Artikel oder Gedichte in der „Werdandi“-Zeit‐ schrift erscheinen. Wenn man beispielsweise den Jahrgang 1909 betrachtet, er‐ kennt man sofort im 3. Heft drei Artikel über die Münchner Bühnenwelt, welche die Unterschriften von Georg Kunkel (56 f.), Hanns Faerber (57 f.) und Hans Müller (58-61) tragen. 66 Alle drei kommentierten neuen Aufführungen, die unter dem Stichwort „Experiment“ subsumiert werden könnten. Kunkel analy‐ sierte die von Dilettanten gegebene Aufführung im „Neuen Verein“ von Mae‐ terlincks Stück Die Blinden, die »ein interessantes Experiment« war: Trotz der guten Inszenierung sei es nämlich deutlich gewesen, das Werk sei auf bloßes Lesen angewiesen und nur so könne es künstlerisch wirken. Der junge Kritiker ging aber weiter und erwähnte die vom „Literarischen Verein Phoebus“ insze‐ nierte Uraufführung von Der komische Prinz von Ewald Silvester. Nach dem Muster seines Dozenten verurteilte Kunkel die mangelnde »Gestaltungkraft« des Stückes, die jedwede Inszenierung ruiniert. Faerber skizzierte hingegen die Aufführung von Ein Bruderzwist in Habsburg im Hoftheater, zu Grillparzers 118. Geburtstag. Der Versuch des Regisseurs Eugen Kilian war von einer ärm‐ lichen Ausstattung sowie einer unsicheren Regie geprägt, doch es sollte ihm der Verdienst gebühren, das Stück ins Repertoire zurückgebracht zu haben. Noch mehr im Einklang mit Kutschers Kunstbetrachtung scheint aber Müllers Über‐ tragung der Künstlerbühne in das Münchener Residenztheater zu sein, worin er Kilians Inszenierung von Maß für Maß, nach Entwürfen von Julius Diez, kom‐ mentierte. Da Shakespeares Dramatik von Natur aus gegen die alte Illusions‐ bühne sei, müsse »die wahre Phantasie des Zuschauers im unterbindenden Bühnenkrame untergehen«. Darüber hinaus lasse »sodann die Stilisierung der Shakespeareschen Gestalten, eine Tätigkeit, die nie Wirklichkeitsmenschen, sondern stets nur […] Typen im besten Sinne des Wortes auf die Bretter stellt, ihre geeignete Heimat in der Bühne des Künstlertheaters erkennen«. In Kilians Teil II. Potentialphase 108 <?page no="109"?> 67 Kutscher selbst hielt Die Braut von Messina für »Schillers größtes Stilkunstwerk, das Meisterstück dieses genialen Dichterarchitekten« (Schiller und wir 12). S. u. 68 Auch Willy Brandl und Karl Pfort gehörten damals zum Kutscher-Kreis: Brandl war vom WiSe 1908 / 09 bis zum SoSe 1912 an der Universität zu München immatrikuliert, Pfort vom SoSe 1908 bis zum WiSe 1908 / 1909. 69 Am 10. April 1909 sandte er beispielsweise Magda Janssen eine Postkarte zu, in der er seiner Studentin und Familienfreundin versicherte: »Ihre Kritik über den Karl [Hen‐ ckell, C. M. B.] ist gut und in den Händen des Werdandi« (Monacensia, MJ B 48 2023 / 76). Inszenierung habe sich eine durchaus positive Neuschöpfung erwiesen, die man auch mit anderen Dramen wiederholen sollte, z. B. mit Die Braut von Messina 67 oder Torquato Tasso. Im 5. Heft der Zeitschrift begegnet man als nächstes einem Gedicht von Georg Kunkel, Kritik, einem Artikel von Willy Brandl, Gobineau: Die Renaissance (54), eine Aufführung des „Neuen Vereins“ - also nochmals ein »Experiment« - und einem Artikel von Karl Pfort über Gerhart Hauptmanns Griselda als »Verkörperung der deutschen Volksseele, wie sie in unseren Volks‐ liedern ihren reinsten, ihren dichterischen Ausdruck findet« (56). 68 Im 6. Heft sind dann zwei Artikel von Georg Kunkel über die Uraufführung von J. Heijer‐ mans’ Seltsame Jagd (57 f.) und über die Coriolan-Aufführung auf einer neuen Shakespearebühne in München (59) zu lesen, sowie Magda Janssens Beitrag „Über eine Kritik von Ricarda Huchs Risorgimento“ (59-61). Im 7. Heft wurden zwei Gedichte von Kutschers erster Ehefrau Gertrud Schaper veröffentlicht, im 10. und 11. / 12. jeweils die Gedichte Herbst und Winter von Karl Pfort. Da die „Werdandi“-Zeitschrift eine Vergütung für alle Beiträge zahlte, die dem Projekt des Bundes nahelagen, förderte Kutscher bei seinen Schülern kritische Studien über moderne Themen, die tief im deutschen - meistens im Münchner - Cha‐ rakter verwurzelt waren und die daher für einen angemessenen Lohn veröf‐ fentlicht werden konnte. 69 Die einflussreiche Rolle des Literaturdozenten wurde aber schnell zum Angriffsziel in anderen Zeitschriften. Diesbezüglich ist der Streit zwischen Kutscher und der Redaktion der „Münchner Neuesten Nach‐ richten“ besonders relevant, denn Ersterer musste seine Tätigkeit öffentlich verteidigen. Anlass dieser Kontroverse waren die Bemerkungen, die sich ein Rezensent bezüglich des von Magda Janssen im Dezember 1909 veröffentlichten Artikels erlaubte. In einem Brief an Janssen gab Kutscher die Erklärung wieder, die er an die Redaktion gesandt hatte: Die Begründung Ihrer Ablehnung meiner letzten Zuschrift stützt sich auf mein Inte‐ ressiertsein an kritischen Studien. Dies Interessiertsein an Schülerarbeiten und ihrer Drucklegung ist nun weder im Allgemeinen noch in der besonderen Formulierung meiner Rezensenten irgendwie als ein Vorwurf möglich. Sie können doch nicht ver‐ gessen haben, daß der Vorwurf sich gegen die Herausgabe von qualitativ schlechten „Schwabingertum“ und Aktivismus 109 <?page no="110"?> 70 Vgl. Kutscher 1911: 153. kritischen Studien richtete? Der Ausdruck Interessiertsein ist von mir in meiner „Ab‐ wehr“ benutzt und so unvorsichtig gewählt worden, daß er mißverstanden werden muß, wenn man ihn loslöst von der Herausgabe und verantwortlichen Redaktion kri‐ tischer Studien. Ihrer Erklärung gegenüber bleibt die Tatsache bestehen, die ich Ihnen inbetreff des Gerhart Hauptmannheftes mitgeteilt habe. Ich ersuche Sie nochmals, abzudrucken, was von meiner Erklärung das Hauptmannheft angeht, und folgendes hinzuzufügen: Was meine Anregung im Werdandi betrifft, so habe ich jene Zeitschrift nie zu Verfügung gestellt, da dieses Recht die Redaktion in Berlin besessen hätte. Was aber dort an Einzelarbeiten, deren ich manche empfahl wenn sie mir gut schienen, abgedruckt wurde, kann kein Mensch als von mir herausgegebene kritische Studien bezeichnen, genau so wenig wie das, was von Frl. Janssen in den Münchner N. N. abgedruckt wurde. Daß die von mir so vertretenen Arbeiten ihren Wert haben, dafür stehen außer mir auch die Redaktionen ein; ich verwahre mich aber dagegen, daß aus ihnen als aus „kritischen Studien“ von Unbeteiligten ein summarisches Urteil über meine Übrigen und ihre Ergebnisse gebildet werden könnte. (Monacensia, MJ B 48 1025 / 1962) Eine dieser angeklagten „kritischen Studien“ war beispielsweise das Referat über das Künstlertheater, das Kutscher schon im April desselben Jahres Hans Carl Müller vorgeschlagen hatte: »Sollte ich durchaus ein Referat für Künstlertheater finden, so denke ich gern an Sie. Für den Werdandi müßen wir da ja gemeinsam arbeiten« (Monacensia, HCM B 22). Zugleich wies er den Studenten darauf hin, einen Artikel im „Hannoverschen Anzeiger“ zu publizieren: »Fragen Sie bitte in meinem Namen bei der Redaktion des Hannoverschen Anzeigers noch bei Herrn Direktor Madsack, ob Sie ihm als Mitarbeiter meines Seminars Berichte schreiben dürfen über Kunstbewegungen in München« (Ebd.). Müller erzählte Jahre später über die damalige Gewohnheit des Professors: In seiner Bogenhausener Wohnung hörte man sich sein klares Urteil über die ersten lyrischen Gedichte an, welches nicht so ermunternd ausfiel, daß man unbedingt wei‐ terschreiben mußte - man tat es natürlich doch! - und wurde als Trost zu kritischen Studien herangezogen, die man dann stolz in der Zeitschrift „Werdandi“ gedruckt lesen konnte! Es waren Besprechungen über die Auswirkungen des Münchener Künstler‐ theaters, das uns alle als kühner Reformversuch damals sehr begeisterte. (Günther 1938: 296 f.) Noch Ende 1910 musste Kutscher die Angriffe abwehren, er habe kritische Stu‐ dien herausgegeben und sei für sie durchaus verantwortlich gewesen. 70 Was ohnehin in Kutschers Beteiligung an der „Werdandi“-Zeitschrift auffällt, ist die Tatsache, dass er sich nicht nur darum bemühte, Grenzen zwischen Or‐ ganisationseinheiten zu überschreiten und neuen Mitgliedern Informationen zu Teil II. Potentialphase 110 <?page no="111"?> 71 Er schrieb die Artikel Wilhelm Buschs Kunst (Februar-März 1908) und Ein neuer Balla‐ dendichter (April 1909), d. h. Friedrich Volland, der eben seine Balladen der Liebe veröf‐ fentlicht hatte. 72 Als Band der Werdandi-Bücherei wurde auch Kutschers Beitrag „Literarische Kritik“ angekündigt, der aber nicht erschien (Parr 2000: 100). 73 In diesen Worten kann man unschwer Goethes Rezitationsvorstellung erkennen, wie der Dichter in seinen Regeln für Schauspieler (1803) erläutert hatte: »Der Zuhörer fühle immer, daß hier von einem dritten Objekte die Rede sei. […] Es wird daher gefordert, daß man auf die zu rezitierenden Stellen zwar den angemessenen Ausdruck lege und sie mit der Empfindung und dem Gefühl vortrage, welche das Gedicht durch seinen Inhalt dem Leser einflößt […]. Der Rezitierende folgt zwar mit der Stimme den Ideen des Dichters und dem Eindruck, der durch den sanften oder schrecklichen, angenehmen oder unangenehmen Gegenstand auf ihn gemacht wird« (1987: 864 f.). vermitteln; er entwickelte auch, durch eigene schriftliche Beiträge, die Praxis der Gemeinschaft. Neben kritischen Skizzen von Dichtern und dessen neuen Werken 71 verfasste er im Frühjahr 1909 zwei längere Beiträge mit dem Titel Literarische Kritik 72 und Zur Reform der Vortragskunst. Der erste, in der Rubrik „Lebendige Fragen“ erschienene Beitrag antizipiert Kutschers Einsatz für die Reform der Kritik, den er später in anderen Studien vertiefte. Betonenswert ist hier die Willenserklärung des jungen Dozenten: Er bekundete nämlich seine Absicht, an der Münchner Universität »eine Zentral- und Pflegestätte der lite‐ rarischen Kritik« zu schaffen, »eine Stätte, an der über die Lebensfragen der Kritik verhandelt wird, Stellung genommen wird zu den Zuständen der Gegen‐ wart« (58). In seinem Plädoyer für die Reform der Vortragskunst verteidigte Kutscher dagegen den besonderen Vorzug einiger literarischen Gattungen, die ihre höchste Intensität, ihre ganze Bedeutung für den Leser erst bei öffentlicher Wiedergabe erreichen. Solche Gattungen seien zuallererst die Lyrik und die Ballade, aber auch manche Novellen und Erzählungen kämen in Betracht. Damit sich die volle Wirkungskraft dieser Werke entfalte, müsse die Kunst der Rezi‐ tation gepflegt, ja sogar ausgebildet werden. Solange die Vortragskunst außer Acht bleibe, finde der Untergang der Dichtung selbst kein Ende. Kutschers Re‐ form der Rezitationskunst sah nicht nur die Schulung der Stimme, der Aus‐ sprache und des Sich-Verständlich-Machens vor, sondern auch die Fähigkeit, die Bedingungen und Richtungslinien zu erkennen, die dem Vortragenden von der Dichtung selbst gegeben sind. Kutscher schrieb: »Gut und künstlerisch ist der Vortrag, wenn in den Lauten des Vortragenden der Dichter und sein Wollen und Können ersteht und ganz fühlbar, gegenwärtig wird« (20). 73 Eine Rezitation solle daher keine dem Dichter fremde Intention hinzufügen. Hierzu veröffentlichte Kutscher auch einen Kommentar über Ernst von Possart als Rezitator und einen Bericht über eine Matinee des Wort- und Tonbundes, in der Volkslieder zum Vortrag kamen. Der späte Theaterwissenschaftler wurde hier mit einer Art von „Schwabingertum“ und Aktivismus 111 <?page no="112"?> 74 Auch in der Ausdruckskunst der Bühne findet man Kutschers Verurteilung einer Wal‐ lensteins Lager-Inszenierung Possarts am Hoftheater: »Je vollkommener die Inszenie‐ rung dieser Art war, um so mehr bedeutete sie eine grobe, aufdringliche Inanspruch‐ nahme der Sinne. Was ein Spiel sein soll, was eine Phantasiewelt bedeutet, das wurde Wirklichkeit mit allem sorgfältigen beschafftem Milieu, und die Dichtung ging darin unter, […] ihre Erhebung ein Philisterium« (60 f.). 75 Diese Vorstellung hat mit dem Theateraufführungskonzept des späteren Theaterpro‐ fessors mehrere Berührungspunkte, insbesondere die Beziehung der gesamten Auffüh‐ rung zum Autor und zum Text. Analyse konfrontiert, für die man noch keine semiotische Sprache zur Verfü‐ gung hatte und die normalerweise den Feuilletonisten oder Theaterkritikern überlassen wurde. Possarts Stil und Sprachtechnik waren nie von Kutscher be‐ sonders gepriesen worden 74 und bezüglich der Rezitation von Schillers Ge‐ dichten, die eigentlich das anwesende Publikum begeisterten, hob der Privat‐ dozent hervor, kein einziges Gedicht sei vom Rezitator »so gesprochen worden, wie es dessen Stil und Anlage verlangten« (62). In diesem Satz steckt Kutschers Konzeption vom Rezitieren, das den Charakter der dichterischen Vorlage, wie sie vom Dichter erzeugt wurde, beachten muss: 75 Überhaupt trat keine Linie Schillers heraus, sondern überall nur die weichlich-weib‐ liche, süßlich-sentimentalische Auffassung Possarts. Die Kunst des Vortragenden sollte doch die Silhouette des Dichters hinter jedem Gedichte sichtbar zu machen verstehen! Nirgend Schillers männliche Kraft und helle ideale Begeisterung; nirgend auch nur der Ausdruck in Vers und Strophe und Bau; alles zerpflückt und zerstückt in Pointen und Einzelheiten ohne Linie und Zusammenhang; überall Prätention, Künstlichkeit, Unnatur. Mit musikalischen Arabesken wußte seine melodiöse Stimme die Worte zu verzieren. (Ebd.) Possarts Schillerinterpretation zeigte sich also den Gedichten selbst ungünstig, weil sie ihre ursprüngliche, artistische Natur deformierte und ein nicht-künst‐ lerisches Monstrum schaffte. Ganz anders wirkte der vom Schriftsteller Willy Rath abgehaltene Vortrag von Volksliedern, der als eindringlich und wertvoll beurteilt wurde. Kutscher beschrieb detailreich was auf der Bühne zu sehen, hören und spüren war, von der anfänglichen Hebung des Vorhangs bis zu dessen Fall. Nach der koloristischen Beschreibung schloss Kutscher den Artikel mit der Anmerkung: »Die Idee ließe sich köstlich variieren und ist fruchtbar genug, um verschiedenen Stimmungen gerecht zu werden. Es gehörte allerdings der Fein‐ sinn eines Willy Rath und die bescheidene, künstlerisch großzügige Ausführung des Akademischen Gesangvereins dazu, um so reine Eindrücke zu erzielen« (48). Was Rath erzeugt hatte, war nämlich eine stilisierte - sprich: evokative - Rah‐ menskizze, in der sich das Volkslied in seinem Stil enthüllte, weil es von keiner externen Künstlichkeit gedrängt war. Teil II. Potentialphase 112 <?page no="113"?> Kutschers Beitrag zur literarischen bzw. kulturellen Bereicherung bestand weiter in der Produktion und Veröffentlichung eigener Gedichte, wie Leben, Aphrodite, Die Mänade und Jugend, die alle in der „Werdandi“-Zeitschrift er‐ schienen. Ab April 1910 kam es auch zu einer engen Mitarbeit Kutschers mit dem Verein „Die Lese“ E. V., der »[i]n Übereinstimmung mit den volkstümlichen Zielen, welche die Herausgeber der „Lese“ sich gestellt haben, und zur Unter‐ stützung ihr kulturfördernden Aufgaben« gegründet wurde (Mitteilung des Ver‐ eins „Die Lese“ E. V. 1910: 39). Theodor Etzel und Georg Muschner hatten eine Woche vorher die erste Nummer von „Die Lese. Literarische Zeitschrift für das deutsche Volk“ herausgegeben, auf deren ersten Seite sie die Mission der wö‐ chentlichen Zeitung klar ausdruckten: An das Deutsche Volk! Viele Millionen Mark jährlich stiehlt die Schundliteratur dem deutschen Volke aus der Tasche und vergiftet ihm dafür mit ekler Nahrung Herz und Geist. Besonders das junge Geschlecht und das einfache Volk, die beide unser Heiligstes sein sollen: der fruchtbare Acker der deutschen Zukunft - die leiden am schwersten. Die Lese geht von dem Glauben aus, daß eine gute Literatur zum Ersatz der Schund‐ literatur nicht erst geschaffen, sondern nur herbeigeschafft zu werden braucht. […] Die Lese will die guten Werke einer früheren Ernte als billige und gute Kost bieten; sie will vor allem aber auch die lebenden Dichter, Denker und Volksbildner popula‐ risieren. […] Die Lese wird die tägliche Produktion aller Geistesgebiete verfolgen und wird das Beste vor der Vergessenheit bewahren, auf daß es weiter fruchte im breitesten Volke. Die Lese wird sich freihalten von ästhetischen, religiösen, moralischen, politischen Tendenzen; sie hat nur die eine Tendenz: die der geistigen Selbständigkeit und poeti‐ schen Freiheit. Die Lese geht von dem Glauben aus, daß die Zeit gekommen ist, da das deutsche Volk reif genug ist, um durch eine großzügige einheitliche Organisation auch die Verwal‐ tung seiner Geistesschätze in die eigene Hand zu nehmen. Die Lese will eine Organisation darstellen von Freunden einer guten Literatur, weit verstreut, wo deutsche Zunge klingt, und doch vereint und verbunden durch dieses eine ideelle und praktische Ziel. (Etzel / Muschner 1910: 1) Das Engagement für das Volk und die Jugend geht auch im Fall dieses Unter‐ nehmens durch die Kunst hindurch, ohne sich in die Politik einzumischen. Die Idee, eine Vereinigung aus einer Zeitung heraus zu bilden, basierte bemerkens‐ werterweise auf dem »ideelle[n] und praktische[n] Ziel«, die »gute« Literatur als den unmittelbarsten Weg zu präsentieren, den man gehen musste, um die Geisteswerte der Nation zu bewahren und das Volk ebenso wie die Zukunft der deutschen Gesellschaft zu bilden. Die Zeitung und ihr Verein blieben aber von jedwedem Chauvinismus weit entfernt und machten auch ausländische Schrift‐ „Schwabingertum“ und Aktivismus 113 <?page no="114"?> 76 Ab dem II. Jahrgang findet man zum Beispiel Berichte über rumänische Hochzeitsge‐ bräuche, türkische Frauen, marokkanisches Postwesen, Londoner Straßenleben oder über den Dschungel von Siam. 77 Die Rubrik „Orientalische Weisheit“ war bemerkenswerterweise von Roda Roda be‐ treut, der selbst die Sprichwörter sammelte und übersetzte. 78 In einem Brief an Hans Brandenburg vom 24. Dezember 1909 lobte Kutscher die von ihm veröffentlichte Schillerbriefauswahl und drückte sich wie folgt aus: »Sie haben wirklich das Zeug, etwas zu sagen. Ich freue mich von Herzen darüber und will Ihr Werkchen stets nennen wo ich kann. Ich freue mich in Ihnen einen Wesensverwandten auf dem großen Ackerfelde zu begrüßen« (Monacensia, A I / 9). Kaum fünf Monate später wurde der „Autorenspiegel“ des 8. Heftes der „Lese“ Friedrich Hebbel gewidmet (1910: 157); dort wies der Verfasser an das von Brandenburg zusammengestellte Buch Der heilige Krieg hin. Wenn auch das Porträt nicht von Kutscher selbst verfasst wurde, ist seine Teilnahme daran durchaus evident: Das Werk Brandenburgs wurde, wie ver‐ sprochen, tatsächlich genannt. 79 Sein Kürzel „Dr. A. K.“ taucht auf den folgenden Seiten auf: (2. Jg.) 624, 656, 672, 720, 735, 830; (3. Jg.) 32, 320. steller bekannt, wie de Balzac, Baudelaire, Chaim Nachman Bialik, Björnson, D’Annunzio, Dickens, Gautier, R. W. Emerson, Gorki, W. Irving, Maeterlinck, Ada Negri, Przerwa-Tetmajer, Pu Sung Ling, Poe, Ruskin, Thoureau, L. Tolstoi, Turgenev, Twain, W. Whitman oder Wilde; außerdem wurden dort Reisebe‐ schreibungen über Argentinien, Brasilien, Südindien, Montenegro, Ceylon, Me‐ xico, Amerika, Kanada und deutsche Afrikakolonien sowie Beiträge über Länder- und Völkerkunde veröffentlicht; 76 schließlich wurden altjapanische Märchen, orientalische und japanische Sprichwörter 77 übersetzt und provenza‐ lische, jüdische, bretonische und indische Legenden erzählt. Noch wichtiger scheinen hier die Nachrichten über die Deutschen und die deutschen Gruppie‐ rungen zu sein, die sich im Ausland befanden: Das Informiert-Sein und Infor‐ miert-Werden über transnationale Phänomene, über die Verflechtungen zwi‐ schen der deutschen und der jeweils ausländischen Kultur fand jede Woche in „Die Lese“ einen breiten Raum und füllte fast die ganze Rubrik „Nachrichten“. Kutscher war unter den ersten 22 ordentlichen Mitgliedern, die dem Verein bei‐ traten, zusammen mit Rosenthal, Hubert Wilm, Karl Henckell, Etzel, Muschner und dem Generalsekretär Gustav Mendelsohn Bartholdy. Am 1. Oktober 1910 wurden in der Zeitung die Mitglieder des Ausschusses bekannt gemacht: Kut‐ scher war auch dabei. Er selbst lieferte kleine Artikel für die Zeitung, wie die Charakteristik des Dichters Freiligrath Zu Ferdinand Freiligraths hundertstem Geburtstage und vermutlich das Autorporträt von Hebbel, 78 antwortete auf die Leserpost als Mitglied der Redaktion 79 und empfahl die Publikation von Bei‐ Teil II. Potentialphase 114 <?page no="115"?> 80 Das bekannteste Beispiel dafür ist die Veröffentlichung von Magda Janssens Karl Hen‐ ckell, ein Dichterbild (1911). Vgl. dazu den Briefwechsel Kutscher - Janssen vom 26. Juli bis zum 6. September 1910 (Monacensia, MJ B 48 1025 / 1962). Im Oktober 1910 trat auch Janssen dem Verein „Die Lese“ bei. Vgl. Die Lese 1910: 548. 81 Als erstes Vereinsbuch im Jahr 1910 wurde gerade Heinrich von Reders Gedichte. Aus den Werken und dem Nachlaß ausgewählt und eingeleitet von Artur Kutscher bestimmt. Das bedeutete eine kostenlose Überlieferung des Werkes an alle Jahresmitglieder des Vereins. Ende Oktober gelang die Versendung; in der Zeitung wurde sogar ein kleiner Abschnitt aus dem Buch veröffentlicht (1910: 681). 82 Der Band enthält Schiller Der Verbrecher aus verlorener Ehre und Kleists Michael Kohl‐ haas. trägen, die von seinen begabten Schülern geschrieben wurden; 80 demnach könnte man annehmen, dass er Hermann Lönsa für einige Artikel in der Zeitung gewann, wie es schon vorher für die „Werdandi“-Zeitschrift passiert war. Schließlich gelang es Kutscher, zwei von ihm herausgegebene Werke im Lese-Verlag zu veröffentlichen: die schon erwähnte Sammlung der Gedichte Reders 81 und Klassische Verbrechergeschichten 82 . Beteiligung an der Münchner Moderne und Unterrichtstätigkeit Bereits in Kutschers Beteiligung am „Werdandi“-Schrifttum, am Verein „Die Lese“ und an unterschiedlichen Zeitschriften ist die Überlappung von Akti‐ vismus, kritischer Arbeit, Interesse fürs Gegenwartstheater - Drama sowie Auf‐ führung - und Unterrichtstätigkeit zu erkennen. Im Sommersemester 1908 gab der Schriftsteller Hans Harbeck die Anregung, ein Seminar zu gründen, in dem sich sowohl Schüler als auch Literaten über aktuelle Werke und brisante künst‐ lerische Themen auseinandersetzen konnten. Das Projekt entwickelte sich rasch in einer Dimension, welche die akademischen Räumlichkeiten und Gebräuche sprengte. Die Unterrichtsübungen beschränkten sich nicht auf das Universi‐ tätsgebäude, sondern schlossen Theaterbesuche, Gespräche in Kutschers Woh‐ nung und Autorenabende des „Neuen Vereins“ ein. Aus der Strukturierung des ersten Kutscher-Seminars stellt sich also heraus, dass sowohl Studenten als auch Künstler und Intellektuelle im Lernprozess artistischer sowie gesellschaftlicher Praktiken gleichermaßen engagiert waren. Aus diesem Grund unterschied Kut‐ scher nie deutlich zwischen seiner Lehrerrolle und seiner aktiven Teilnahme an der Münchner Moderne: »Die Dozentur brachte mit sich, daß meine literari‐ schen Beziehungen sich bedeutend vergrößerten« (1955: 249). 1908 wurde Kut‐ scher in den künstlerischen Beirat des „Neuen Vereins“ gewählt. Hier bekam Kutscher auch „Schwabingertum“ und Aktivismus 115 <?page no="116"?> 83 Der erste Autorenabend fand eigentlich im Jahr 1910 statt. die besondere Aufgabe, die Leitung der „Intimen Abende“ zu übernehmen, die alle acht bis vierzehn Tage stattfanden 83 , und jüngere, vor allem Münchener, aber auch auswärtige Dichter, Komponisten, Rezitatoren, Sänger einem empfänglichen Kreise vorzuführen. […] Große Vortragsabende wuchsen sich zu kulturellen Ereignissen aus und konnten bald Honorare ansetzen von 500 Mark und darüber. (Ebd.) Bevorzugte Gäste waren hierbei Dichter, die aus ihren neuesten Werken vor‐ lasen und mithin Anlass zur Diskussion mit Kutschers Studenten und Freunden gaben. In Kutschers Erinnerungen tauchen an einigen „Intimen Abenden“ unter anderem die Namen Richard Dehmel, Max Halbe, Liliencron, Carl Spitteler und sogar der Physiker Wilhelm Ostwald auf. Aus dem Brief vom 27. Oktober 1909 an den „Neuen Verein“ kann man die Art und Weise entnehmen, wie Kutscher die Autorenabende veranstaltete (Monacensia, NV B 79): Werter Herr Doktor! Ich möchte an den kleinen literarischen Abenden gerne sprechen lassen Lulu v. Strauß u. Torney, Gustav Meyrink, Friedrich Huch und dann den russischen Anarchisten. Dies als vorläufiges Programm. Kann der Verein für den Fall, daß Honorar gefordert wird, etwas auswerfen und wieviel im Höchstfalle? Selbstverständlich bemühe ich mich, möglichst kostenlos zu arbeiten. Bitte um Antwort. Auf Wiedersehen! Ihr / Dr. Artur Kutscher Bemerkenswert ist Herbert Günthers Behauptung, die Autorenabende hätten sich nicht programmatisch, sondern spontan entwickelt (1938: 21). Das könnte auch stimmen, wenn man Kutschers Erfahrung in der Konstellation der Münchner Gesellschaften bis zu diesem Zeitpunkt in Erwägung zieht. Als Ver‐ anstalter der „Intimen Abende“ nutzte er die Möglichkeit, ästhetische Würdi‐ gung, Geselligkeit und Erziehung junger Wissenschaftler oder Literaten zu ver‐ einbaren und somit eine mentale transnationale Voraussetzung für die Aufnahme moderner Werke zu schaffen, wodurch erst ein kooperatives Lernen ablaufen konnte. Mit kooperativem Lernen ist eine Lernsituation gemeint, welche die von jedem Akteur erlebte Überwindung der Diskrepanz zwischen einem aktuellen Ist- und einem intendierten Soll-Zustand durch die Interaktion aller an der Ziel‐ setzung beteiligten Personen ermöglicht (Wehner / Clases / Endres 1996: 75 f.). Kutscher schlug Aktivitäten vor, die eine Brücke zwischen der alten Künstler‐ generation und den Nachwuchskräften bildeten. Ein klares Beispiel dieses Or‐ ganisationsmusters liefert eine auf den 20. Dezember 1909 datierte Postkarte an Rosenthal, Rechtsanwalt des „Neuen Vereins“ (Monacensia, NV B 79): Teil II. Potentialphase 116 <?page no="117"?> 84 Kaufmann war der kommerzielle Direktor des Vereins, dessen Beschlüsse von Josef Ruederer stark kritisiert wurden und im Juni 1911 zum endgültigen Rücktritt des Dich‐ ters vom Verein führten. Lieber Herr Doktor! Wenn der Neue Verein zu Paul Heyses 80. Geburtstage am 15. März kein größeres Fest à la Martin Greif veranstalten will, dann möchte ich einen intimen Abend für Anfang März ankündigen. Darüber müßte ich bald Sicherheit haben, die Sie mir gütigst ver‐ schaffen wollen. Ergebenst Ihr / Dr. Artur Kutscher Andersrum nahm Kutscher Impulse auf, die von anderen Mitgliedern herkamen, wie eine andere Mitteilung am 5. Februar 1910 beweist (Ebd.): Lieber Herr Doktor! Das Angebot des Herrn Putscher ist nicht unwillkommen; ein Liliencronabend als eine Art Gedenkfeier, bei welcher etwa Henckell oder Conrad Erinnerungsworte spräche, eine Solche in etwas größerem Stile, allerdings müßte dazu auch Frau Paula Dehmel- Regensburg hinzugezogen werden, etwa für die Lyrik, da ja ihr Angebot das ältere ist. Ende April wäre wohl als Semestereinleitung ein günstiger Termin. Ich möchte das begrüßworten. Bitte äußern Sie sich recht bald dazu, dann wende ich mich an Direktor Kaufmann. 84 Besten Grüß Ihr / Dr. Artur Kutscher In diesem Brief sieht man auch Kutschers aufmerksamen Blick auf das Zusam‐ mentreffen von festen Gesellschaftsmitgliedern, namhaften Autoren und Neu‐ lingen im Kreis der Literaten seiner Kollegs. Darüber hinaus muss man die Ty‐ pologie der vorgeschlagenen Autorenabende genau betrachten, weil Geburtstags- und Gedenkfeiern sowohl eine Kanonisierung der jeweils betrof‐ fenen Schriftsteller als auch eine Ritualisierung der „Intimen Abende“ in Gang setzte. Der Prozess der Kanonisierung entspricht der Wissenskultivierung sei‐ tens der CoP, die ihr gemeinsames Projekt auf paradigmatische Figuren und deren Erfolg projiziert und in ihnen ihre Referenzmodelle erkennt; die Rituali‐ sierung hingegen dient der Aushandlung von gemeinsamen Ressourcen, welche kollektive sowie individuelle Identitäten entwickelt: »In einem gewissen Sinne ist jede Art der kulturellen Darstellung […] Erklärung und Entfaltung des Lebens selbst, wie Dilthey oft sagte« (Turner 1989: 17). Anders formuliert: Der rituelle Rahmen, d. h. die geregelte und doch zur Grenzüberschreitung konzipierte Selbstdarstellung, verstärkt die Abgrenzung einer CoP, weil diese einerseits durch die Reproduktion von Erfahrung und Wissen eine Art Kontinuität erzeugt und andererseits dank des Auftretens von Brüchen und Verschiebungen Verän‐ „Schwabingertum“ und Aktivismus 117 <?page no="118"?> 85 28. Januar 1907: Frühlingserwachen (Schauspielhaus); 8. November 1910: Die Büchse der Pandora (Künstlertheater); 20. Dezember 1911: Oaha (Künstlertheater). Wedekind war der meistgespielte Autor des Vereins. Alle Aufführungen des „Neuen Vereins“ sind in Wenig 1954: 137-139 aufgelistet. 86 Damit meinte Kutscher alle Kräfte, die zu einer Theateraufführung bringen, also das Vermögen von Schauspielern, Regisseuren, Dramaturgen, Bühnenbildnern usw. 87 Günthers Mutmaßung lautet, Kutscher habe sich fünfzigmal als Darsteller betätigt (1938: 17). derungsprozesse durchgeht. Jedes Mitglied ist in der Praxis seiner Gemeinschaft als Individuum situiert, doch auch als Teil eines sozialen Tätigkeits- und Wis‐ senssystems: Er bringt Praktiken hervor und muss zugleich ständig mit diesen konfrontiert werden, was zu ihrer Überprüfung, Änderung und Fortsetzung führt. Zur kulturellen Darstellung des Vereins gehörten auch die Theaterauffüh‐ rungen, »obgleich die Spielplangestaltung allgemein freier geworden war« (1960: 63). Der schwächeren Theaterbetätigung des „Neuen Vereins“ stellte Kut‐ scher dann seine zeremoniellen Autorenabende entgegen. Er lud Bühnendichter an „Intimen Abenden“ ein; der entstehende Kutscher-Kreis erklärte sich immer bereit, auch die Aufführungen zu besuchen; weiterhin teilte Kutscher mit dem Verein das öffentliche Eintreten für Frank Wedekind, von dem drei Stücke auf‐ geführt wurden. 85 Trotz alldem sah Kutscher noch zur goldenen Zeit des Vereins die Bühnenwelt nur als eines der brauchbaren Hilfsmittel für die Modernisie‐ rung der Kultur, nicht als das wirkungsvollste. Bezüglich des Anfangs der the‐ aterwissenschaftlichen Bemühungen Kutschers ist also eine innere Wider‐ sprüchlichkeit zwischen seinen wissenschaftlichen Publikationen und seinem zunehmenden Engagement für das lebendige Theater hervorzuheben. Zum einen unterschied Kutscher die sogenannten „dramatischen Kräfte“ 86 kaum von der Dichtkunst und hielt die Ausdruckskunst der Bühne noch für eine repro‐ duktive Kunst, die vom Spielleiter hervorgebracht sei; zum anderen verdankte er dem Werdegang des „Münchner Künstlertheaters“ und des „Neuen Vereins“ einen neuen Gesichtspunkt hinsichtlich des Theaters. Er selbst betätigte sich darstellerisch im Verein, 87 wobei er einen Einblick in das gespielte Theater ge‐ wann und sich mit der Bühnenpraxis vertraut machte, und versuchte eine enge Fühlung zwischen Studentenschaft und gegenwärtiger Bühne aufrechtzuhalten. Gerade um 1909 / 1910 bemerkt man in den Universitätsvorlesungen und -übungen Kutschers die progressive Trennung zwischen der sogenannten neu‐ eren deutschen Literatur und der kritischen Analyse von Theaterstücken und Inszenierungen. Diese Transition vervollkommnete sich nur innerhalb des Kut‐ scher-Kreises und durch die Beziehung zwischen dem Lehrer, den Schülern und den Künstlern. Mit anderen Worten verwirklichte sich die Abgrenzung der pra‐ Teil II. Potentialphase 118 <?page no="119"?> 88 Die Herausgeber der Wochenschrift „Das Blaubuch“ gaben Kutschers Ausführungen wieder, »weil sie die Grundlage zu einer Entgegnung sein sollen« (712). xisorientierten Theaterwissenschaft von der Germanistik erst durch die Ein‐ satzbereitschaft der Mitglieder, in den Vorstellungen und Instrumenten, die Subjekte teilten, in der Praxis, im kollektiv erarbeiteten Wissen, und nur später fand sie eine entsprechende theoretische Formulierung bzw. die Bestimmung ihres Wissensbereichs und dessen Ausdehnung. Um diese Entwicklung zu ver‐ stehen, muss man zunächst die in der Zeitspanne 1908-1910 von Kutscher ver‐ öffentlichten Schriften und der Aufbau seines theatergeschichtlichen Seminars gegenüberstellen. Kutschers Forschungsprojekte zwischen 1908 und 1910 In diesen extrem produktiven drei Jahren arbeitete Kutscher parallel an zwei Projekten: an der Darlegung der Wichtigkeit der wissenschaftlichen Reflexion über künstlerische Ausdrucksformen und an der Beschreibung des gegenwär‐ tigen Theaters, wie es sich allmählich durch unterschiedliche Reformbewe‐ gungen bestimmte. Zum ersten Forschungsprojekt gehören die Beiträge Kunst als Wissenschaft und Schiller und wir sowie die Monographie Die Kunst und unser Leben. Grundstein zu einer Kritik, zum zweiten Die Ausdruckskunst der Bühne. Eine Zwischenstellung nimmt dann der Aufsatz Über den Naturalismus und Ger‐ hart Hauptmanns Entwicklung ein, nicht nur wegen seines Inhalts, sondern auch wegen der Publikationsumstände des gesamten Hauptmannheftes: Auf den Seiten der neuen Halbmonatsschrift „Der Spiegel“ (München) diskutierte Kut‐ scher über die Hauptfragen, welche Rolle spiele die Persönlichkeit des Kritikers in der Kunstkritik und welche Eigenschaften besitze die wissenschaftliche Kritik. 88 Als notwendige Vorbemerkung stellte er zuerst fest, der höchste Zweck der Kritik sei es, das Wesen und die Stellung des Kunstwerkes zu werten und zu zeigen. Doch sei der Anspruch auf die Objektivität der Kritik paradoxal, denn »[i]m übrigen wird das Wertniveau der Kritik stark durch die Individualität des Kritikers bestimmt« (712). Jeder Kritiker projiziere nämlich eine Art Lichtreflex auf das Kunstwerk und gebe der Leserschaft sein eigenes Kunstverständnis. Um dann die Gefahr zu vermeiden, die wahre Natur des Kunstwerkes zu verkennen, müssten nur große, tiefe, freie Individualitäten die Kunst interpretieren, weil einfache Menschen bloß naturnahe Eindrücke geben könnten, die ihrem Ge‐ schmack, ihrer zufälligen Veranlagung entsprechen. Da die Kunst »die höchsten Potenzen des Lebens« verkörpert, könne nur ein hochstehender Mensch »das „Schwabingertum“ und Aktivismus 119 <?page no="120"?> 89 In Kutschers Worten hallt Nietzsches Kunst- und Kritikvorstellung wider, welche der Philosoph besonders im vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft dargelegt hat. Vgl. die Aphorismen Nr. 299, Was man den Künstlern ablernen soll (1973: 218), und Nr. 307, Zu Gunsten der Kritik (224 f.). Jahre später, in Elemente des Theaters, bezog sich der Thea‐ terprofessor dann explizit auf jene Schrift Nietzsches (1932: 65). 90 Mit diesem Thema beschäftigte sich Kutscher weiter im Kritiker und Kunstwerk (1911). Vgl. bes. S. 551. Recht und die Kraft« haben, sich darüber zu äußern (716). 89 Der Wert der Kritik liege also sowohl in der Kunsterkenntnis als auch in der Bedeutung der kriti‐ schen Persönlichkeit. Nur durch die beiden könne eine wissenschaftliche Kritik existieren. Hier erkennt man Kutschers elitäre Vision des Kritikers, der nicht nur, wie der Künstler selbst, »Psychologie und Ästhetik lebendig in sich« trägt (715), sondern auch imstande ist, sich jeweils in das Wesen des Kunstwerkes einzufühlen und dessen innere Gesetze zu abstrahieren und zu beurteilen. Trotz dieser Kunst- und Kritikbetrachtung, die deutliche Spuren von Diltheys Erleb‐ nistheorie enthält, ist Kutschers Anerkennung und Würdigung der Subjektivität in der kritischen Untersuchung von entscheidender Wichtigkeit nicht nur für die Entwicklung seines Stilkunde-Begriffs, sondern auch für die spätere Orga‐ nisation der theaterwissenschaftlichen Praxis. Der Kritiker hat nach Kutschers Meinung eine aktive Rolle in der Entwicklung der Kunst, weil er alle Arten künstlerischen Ausdrucks umfasst und ihre Bedeutung im Zusammenhang mit dem Leben selbst aufzeigt. 90 Wie Kutscher 1911 noch präziser formulierte: »Die Untersuchung [des Kritikers, C. M. B.] geht auf die Vollendung des Kunstwerkes in sich selbst, auf die Frage, wie sehr ein Gebilde in seiner Organisation seinen Zwecken und Mitteln entspricht« (552). Die Rezeption von Diltheys Lehre wurde erst in Die Kunst und unser Leben von Kutscher explizit genannt. Der Ausgangspunkt ist hier die Definition von Einzelkunst, im Gegensatz zum allgemeinen Begriff ‚Kunst‘, und folglich die Hervorhebung der jeweiligen ästhetischen Ausdrucksformen. Jede Kunst hat ihre Sonderbedingungen, die der Kritiker analysieren soll, um die Grenzmög‐ lichkeiten der Gestaltung und den Stil des Künstlers zu unterscheiden. Kutscher gibt darauf folgend eine klare Definition von Stil: Er sei das Ergebnis der Ver‐ trautheit des Künstlers mit dem Handwerkszeug seiner Kunst, der Reinheit in der »Anwendung der natürlichen Mittel und Kräfte« und der absoluten Kon‐ zentration (6). Was den Wissenschaftler aber besonders interessiert, ist die Be‐ ziehung zwischen Kunst und menschlichem Leben; diese sei in ihrer Wechsel‐ wirkung zu finden, weil die Kunst eben im Leben ihre Wurzel habe und sich Teil II. Potentialphase 120 <?page no="121"?> 91 Auch diese Konzeption stammt aus Diltheys Dichtungstheorie, welche voraussetzte, die Kunst komme als Artikulation des Lebens hervor, weil das Leben selbst ins Ästhe‐ tische fortschiebe. Vgl. Dilthey 1883: 87-89. gleichzeitig als Lebensfaktor ergebe. 91 Diesbezüglich gilt Diltheys Das Erlebnis und die Dichtung (1906) als prononcierte theoretische Grundlage für Kutschers Kunst-Auffassung. Es muss trotzdem noch präzisiert werden, dass Wilhelm Dil‐ they auch in früheren Schriften die Aufgabe der Literaturwissenschaft schon beschrieben und, noch wichtiger, den Grund für eine neue Poetik angegeben hatte - Schriften, die Kutscher gleichwohl rezipiert zu haben scheint. 1878 hatte Dilthey in der „Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft“ den Artikel Über die Einbildungskraft der Dichter veröffentlicht und zehn Jahre später seine Ideen in dem Essay Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik überarbeitet, dessen Grundelemente bereits 1883 im ersten Buch seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften untersucht worden waren. Was in Dil‐ theys Kunsttheorie besonders auffällt, ist der von ihm gewiesene Mittelweg im prokreativen Vorstellungskomplex, und zwar zwischen dem romantischen Glauben an eine autopoietische Genialität, welche ihre Werke und zugleich ihr selbst als schöpferische Kraft erzeugt, und der These moderner Diätetik, nur eine regulierte, gesunde Wirtschaft der Lebensenergien könne die Kunstpro‐ duktion aufbauen. Dilthey stellt den künstlerischen Schaffensprozess in Ana‐ logie zu biologischen Vorgängen vor, und zwar als ständige »Metamorphose des Wirklichen« (Dilthey 1887: 138). Der Ausgangspunkt der Literaturtheorie Dil‐ theys liegt bekanntlich in der dichterischen Phantasie oder, besser gesagt, in »ihrer Stellung zur Welt der Erfahrung« (Dilthey 1877: 57), weil die Einbil‐ dungskraft des Künstlers jede Art von Lebensvorstellung transformiert. Phan‐ tasie sei also eine im menschlichen Leib tief verwurzelte Zusammensetzung seelischer Leistungen; der Unterschied zwischen Dichtern und gewöhnlichen Menschen bestehe also in einer mehr oder minder strukturierten Fähigkeit, Vorstellungen und Bilder zu häufen und aus deren Fülle Situationen, Motive, Charaktere, Fabel und Handlungen zu erzeugen, welche die ursprüngliche Wirklichkeit der Erfahrung überschreiten, ohne sie völlig auszulöschen. Auch Kutscher hielt die gestaltende Phantasie für den Hauptfaktor der Kunst und teilte Diltheys Erlebnis-Gedanken: Gegenstand aller Kunst sei das Erlebnis, und zwar die lebendige Erfahrung, demzufolge sei jedes Kunstwerk ein Lebensaus‐ druck, eine fixierte, geregelte Form des Erlebnisses. Da das unmittelbare Erlebnis keine objektivierte Struktur hat, ist es dem Menschen unverständlich; erst durch eine Ausdrucksgestalt kann es erfasst werden. In der Kunsterzeugung, und vor allem in der Dichtung, offenbart sich die natürliche Beziehung zwischen selbst- und weltbezüglichen Erlebnissen und den Gestaltungsmöglichkeiten, mit denen „Schwabingertum“ und Aktivismus 121 <?page no="122"?> der handelnde Mensch die Innenansicht der Lebensvorgänge ausdrückt. Von diesen Prämissen ausgehend, stellte Kutscher fest, die Annahme „das Wesent‐ liche der Kunst ist die Form“ sei irrtümlich: »Lebensfülle und Kraftüberschüsse geben, genauer betrachtet, sowohl die Möglichkeit zum Erlebnis […] als auch andererseits erst die Nötigung zur Erzeugung« (14). Es sei erst der Ausdrucks‐ zwang, im Sinne von Genuss oder Qual, der den Künstler bezeugt. Kutscher argumentierte weiter: »Kunst lässt sich definieren als zum selbstständigen, rein aus sich verständlichen Ausdruck gekommenes Lebensgefühl« (16). Unter sol‐ chen Bedingungen ist die Kunst schön, bzw. wertvoll. Die Schönheit an sich sei nämlich im Kunstwerk nicht erkennbar, weil entweder dort ein Wert vorhanden ist oder nicht: »Schön ist das Ästhetisch-Wertvolle schlechthin« (19). Diese Konzeption von Schönheit und Wertvollem begleitete Kutschers Aktivität auch im Bereich der Theaterwissenschaft, wo er sich auf Wirkung und Bewegung konzentrierte. Er wiederholte noch deutlicher: »Das ist das Erkennungszeichen der Kunst: Sie wirkt, wirkt auf unser ganzes Wesen und erzeugt Bewegung, Betätigung, Wechselwirkung aller unserer Kräfte in gesteigertem Masse […]; wir erleben unser eigenes Ideal! « (23 f.). Wiederum im Einklang mit Diltheys Poetik ist Kutschers Definition vom Künstler als »Kulturprodukt«, in welcher der Privatdozent das In-der-Zeit-Sein des Künstlers und dessen Betätigung an der kollektiven sowie individualen Bewusstseins- und Identitätsentwicklung hervorhob. Der Dichter denkt wohl in Bildern und Gestalten, in seinem Denken erreicht die Phantasie eine neue Freiheit und schöpft eine poetische Welt, aber das Ganze wäre unmöglich, wenn er aus seinem Verhalten zur Wirklichkeit die Regel zur Kunsterzeugung nicht herausziehen würde. Eben das Spiel der Wech‐ selwirkung zwischen den von der Natur herkommenden Eindrücken, sowie Er‐ fahrungen, und der freien, in der Kunstschöpfung tätigen Phantasie wahrt die ständige genetische Verwandlung der Kunst. Der Dichter kann daher aus der objektiven Realität nicht herausgelöst werden. Einen weiteren Schritt in diese Richtung machte Kutscher freilich mit der Betonung der Wichtigkeit der Kunst‐ erziehung. Hier ging er auf Friedrich Nietzsche ein, der mit seiner „Umwertung aller Werte“ die Erkennungszeichen von Kunst und Nicht-Kunst abgegeben hatte. Nach Kutscher sei die Kunst in ihrer Bedeutung für das Leben notwendig, deshalb sollte man eine angemessene Kritik entwickeln, welche »die Kunst‐ werke richtig zu werten und einzuordnen weiß« (43). Nochmals unterstrich der Wissenschaftler den subjektiven Charakter der Kritik, die immer von einer be‐ stimmten Persönlichkeit ausgeübt wird, was sich irgendwelchem Anspruch ge‐ genüberstellte, die Kunst rein objektiv zu untersuchen. Die Anwendung seines ganzen kritischen Modells erprobte Kutscher in der Beschreibung der Sonderstellung Hauptmanns gegenüber dem sogenannten Teil II. Potentialphase 122 <?page no="123"?> 92 Pongs blieb an der Universität zu München vom WiSe 1911 / 12 bis zum darauffolgenden SoSe. In jener Zeit besuchte er auch Kutschers Kolleg. Schulnaturalismus. Aufschlussreich in diesem Versuch ist zunächst die Tatsache, dass sich Kutscher zum ersten Mal mit einem noch tätigen Dramatiker beschäf‐ tigte. In vieler Hinsicht hatte Gerhart Hauptmanns dramatische Produktion den Anfang der theatralischen Moderne in Deutschland markiert und, wie Hermann Pongs treffend bemerkte, 92 Kutscher selbst »kam aus dem Naturalismus, manchmal brach ein handfester Materialismus in ihm auf, er konnte nichts dafür, so sehr war er Zeitinstrument« (in Günther 1938: 203). Daher muss man in Kut‐ schers Beitrag über Hauptmann auch betrachten, ob und inwieweit er einen kritischen Abstand zur naturalistischen Strömung schaffte. Ganz am Anfang beschrieb Kutscher den Naturalismus als »ein Kunsttypus, der den kulturellen Zuständen und Bestrebungen der vergangenen achtziger und neunziger Jahre notwendig parallel lief« (1909a: 1). Weiter berief er sich auf die Beziehung zwi‐ schen Naturalismus und damaliger Modeliteratur, was die ersten naturalisti‐ schen Theaterversuche als Gegenentwürfe zu »Feuilleton-Dramen« und Kon‐ versationsstücken darstellt: »Entstanden ist der Naturalismus aus Wirklichkeits- und Gegenwartslust, oder […] aus Achtung vor dem Leben« (2). Gerade weil das Leben in seinen minimalen Details und Umständen hierdurch an Bedeutung gewann, schien der naturalistische Stil dem Theater günstig zu sein: Seine Technik gab »den gegenwärtigen Vorgängen, die das Drama vor‐ führt, Lebenssicherheit«, und zwar die innere Anknüpfung ans Leben. Nichts‐ destotrotz führten die Exzesse des Naturalismus zur Ablehnung der theatrali‐ schen Form, die der Spielbarkeit, der Aufführung dienen muss. Die Figur Hauptmann sah Kutscher als Kontrast zur »Beeinflussung und Mode« des schon kristallisierten Schulnaturalismus. Es sei nämlich durch eine natürliche Veran‐ lagung, bzw. durch seine Beobachtungsfähigkeit und sein »feinentwickeltes Sinnenleben«, dass Hauptmann zum Naturalismus kam (3). Dementsprechend sei Hauptmann nie »ein konsequenter Naturalist« gewesen, wie der schon in seiner Frühproduktion charakteristische Zwiespalt zwischen Bedarf an Moti‐ vierung und Gefühl, Ethos, Menschenliebe beweise: »Hier wird Persönlich‐ keitsstil und Zeitstil von selber Natur eins, und der Begriff Mode fällt weg« (4). In dem Urteil ist Kutschers Angriff auf das Konzept ‚Mode‘ ablesbar, die jede freie Entwicklung der Kunst behindert, kein eigenartiges Kunstwerk von Tiefe und Lebensnähe schafft und letzten Endes das bewusst kritische Spiel zwischen realer Gegenwart und Fantasiereich abbricht. Trotz Hauptmanns originellem, künstlerischem Weg zeigte Kutscher dennoch seine Bühnendichtung als unthe‐ atralisch an, als kein Drama stricto senso. Gerade an dieser Stelle kommt Kut‐ „Schwabingertum“ und Aktivismus 123 <?page no="124"?> 93 Hierzu muss auch Kutschers Kritik an Otto Brahm erwähnt werden. Der spätere The‐ aterwissenschaftler drückte sich ganz offen aus: In Brahms Inszenierungen am Deut‐ schen Theater Berlin und dann am Lessing-Theater habe man »keinen Stil der Auffüh‐ rung als den einen bestimmten naturalistischen, für den man nur eine Reihe von Nuancen kannte. Man merkte sogar die langsame Wandlung der modernen Dramatik gar nicht und spielte deshalb auch den späteren Gerhard [sic! ] Hauptmann nicht, wie es ihm gebührte. Es wäre zu viel gesagt, wollte man behaupten, daß Brahm Gerhard [sic! ] Hauptmann in Berlin zugrunde gespielt hat, aber geschadet hat er ihm außeror‐ dentlich« (1910: 39 f.). schers explizite Definition von Drama hervor: Das Dramatische ist nicht einfach der »Ausdruck ursprünglicher Denktätigkeit«, es muss vielmehr die Merkmale der Darstellbarkeit in sich tragen (5). Wenn also die Hauptmannschen Stücke auf der Bühne immer lebendig bleiben sollen, weil sie von Anfang an »nie Ab‐ klatsch und Wirklichkeit geboten [haben, C. M. B.], sondern einen Extrakt aus den Begebenheiten und Zeiten, eine energische Zusammenziehung«, dann werden neue Darstellungsprinzipien gebraucht, weil die naturalistischen der modernen Bühne schon fremd geworden sind: 93 Es sei unmöglich, Hauptmanns Stücke als Naturalisten herunterzuspielen (6). Den klaren Unterschied zwischen literarischer Vorlage und Aufführung erkannte Kutscher bereits im Jahr 1909, doch fehlte ihm noch damals die Eindringlichkeit des Blicks in Beziehung auf das Wesen des Theaters und auf dessen Kernelemente. In Bezug auf die gegenwärtigen Versuche, die Klassiker der Literaturge‐ schichte zu modernisieren, untersuchte Kutscher weiter das Problem des Man‐ gels an Stilgefühl. In seinem Aufsatz Schiller und wir ging er von der erstaunli‐ chen Vielfalt an Kritiken aus, die Schillers Werke entweder verherrlichen oder verwerfen. Als Grund für die bei den Vertretern anderer Zeitstile verbreitete Verachtung führte Kutscher die Tatsache an, dass Dichter wie die Gebrüder Schlegel, Bleibtreu, Alberti, Otto Ludwig oder Hebbel die Notwendigkeit fühlten, ihr eigenes ästhetisches Programm zu verteidigen und daher den Vater der klassischen deutschen Dramatik sozusagen zu töten. Wegen des breiten thematischen Spektrums seiner Werke, anhand dessen man »Mythologie, Sage, Geschichte, Kulturgeschichte, Philosophie, Ästhetik und Ethik« behandeln konnte, sei Schiller dann der deutsche Schuldichter par excellence geworden, was seine Kunst aber dogmatisiert hatte (1909b: 5). Um der Vergöttlichung willen hatte man sogar wahrheitswidrig behauptet, Schiller sei ein Volksdichter ge‐ wesen. Diese Annahme lehnte Kutscher dezidiert ab: »Das eigentliche Dichteri‐ sche und Große an seiner Kunst bleibt gerade dem Volke fremd« (7). Nicht nur habe Schiller das Volk nie geschätzt, sondern habe auch öfters erklärt, die Auf‐ gabe der Volksdichtung solle ausschließlich die Ausbildung und Erhöhung des Individuums zum wahren Menschen sein. Kutscher kommentierte also lapidar: Teil II. Potentialphase 124 <?page no="125"?> 94 Am Beispiel eines Chors von Die Braut von Messina verwarf Gerhart Hauptmann hin‐ gegen in seiner am 13. Januar 1911 uraufgeführten Tragikomödie Die Ratten die alt‐ überlieferte klassizistische Theater-Konzeption und deren Beziehung zur Gesellschaft. Das Trauerspiel Schillers war damals tatsächlich im Mittelpunkt einer heftigen Debatte über die Erneuerung des Theaters. 95 Kutscher selbst verwandte in diesem Zusammenhang den starken Ausdruck »Verge‐ waltigung« (1909: 13). 96 Siehe dazu Parnes 2005: 249-251. »Volkstümlich im allgemeinen Sinne ist an Schiller nur das bunte Gewand; das Wesen seiner Kunst aber ist hoch darüber erhaben und wird nie vom Volk erfaßt und begriffen werden, wird ihm auch niemals vertraut werden können« (Ebd.). Das Schädlichste für die Schiller-Rezeption beobachtete Kutscher allerdings im Verhalten mancher angeblichen Literaturhistoriker, die Schiller verleugneten und nur Goethe anerkannten. Der Begriff „Literaturgeschichte“ einige eigentlich zwei Konzepte: einerseits die Literatur bzw. die edelste Erfüllung des Lebendigen seitens eines Künstlers, andererseits die jeweiligen persönlichen und geschicht‐ lichen Bedingtheiten der Kunsterzeugung. Sie solle sich dementsprechend darum bemühen, »das stilistisch oder historisch Spezifische an Schillers Ge‐ dichten« zu zeigen und zu preisen. Abgesehen von Kutschers Beschreibung der Schillerschen „Ideendichtung“ und Hochschätzung der Tragödie Die Braut von Messina 94 , muss man immerhin auf die Schlussfolgerungen des Aufsatzes über Schiller aufmerksam machen. Dort lieferte Kutscher seinen Kommentar zum Modernisierungsdrang und zur Vergewaltigung des ursprünglichen Charakters von alten Werken - wie denen von Schiller. 95 Solche Lektüren seien kommuni‐ kationsunfähig, unproduktiv, kurzum Fehlgeburten, weil sie dem originellen Beitrag der einzelnen Künstler zur Menschheitsentwicklung nicht beachten. In diesem Zusammenhang profiliert sich noch zusätzlich Kutschers Genera‐ tion-Gedanke, welcher historische sowie kulturelle Veränderungen erklärte. Wie Dilthey schon klar festgestellt hatte, enthalte jede Generation sowohl das Erbe der vergangenen Generationen als auch die Keime des kommenden Wer‐ degangs. 96 Also, nur die Anerkennung und Wiedergabe der Eroberungen sowie das Versagen vorheriger Künstler könne der jungen Generation dabei helfen, den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess fortzuführen. Kutschers Worte klingen sonderlich einleuchtend: »Wir streben gerade jetzt wieder kraftvoller zu den Zielen deutscher Kultur; nicht von Schiller weg, sondern zu Schiller hin führt uns dabei naturnotwendig der Gang der Entwicklung, weil Schillers Reichtum und Fülle erst ganz nutzbar gemacht werden muß.« (14). Die wahre Poetik allein - ebenso gut wie die wahre Kritik - ist in der Lage, die Kraft, die Bewegung, die Gefühle der Dichter und dessen Epoche immer aktuell zu machen und dadurch am Fortschritt der Geschichte teilzuhaben. Insofern fühlte sich „Schwabingertum“ und Aktivismus 125 <?page no="126"?> 97 Vgl. Kutschers Mitteilung vom 1. September 1909 an Magda Janssen (Monacensia, MJ B 1025 / 1962). Artur Kutscher als ein selbstbewusster Bestandteil der neuen Generation und, als Wissenschaftler, übernahm er die Aufgabe, eine neue Poetik zu fundieren, welche mit Hilfe anderer ästhetischen Einzelwissenschaften eine allgemeine Ästhetik entfalten könnte. Auffällig ist, dass er mit der Bühnenwelt anfing. Der programmatische Untertitel seiner ersten wissenschaftlichen Auseinan‐ dersetzung mit dem gegenwärtigen Theater, Die Ausdruckskunst der Bühne. Grundriß und Bausteine zum neuen Theater, entsprach nicht dem tatsächlichen Inhalt des Werks. Kutscher verfasste das kleine Buch im Jahr 1909, so dass es schon im September abgeliefert werden konnte. 97 Trotzdem erschien es erst im August 1910 und wurde wegen der unsystematischen Methodik öffentlich kri‐ tisiert. Friedrich von den Leyen machte nämlich im Novemberheft der „Süd‐ deutschen Monatshefte“ klar, Kutscher habe im gesamten Werk keine klare De‐ finition von Ausdruckskunst gegeben. Kutscher ließ aber seine Abwehr nicht fallen und auf den Seiten derselben Zeitschrift erwiderte er: »Zur Definition dessen, was für mich Ausdruckskunst der Bühne heißt, dient mir das ganze Buch, vor allem aber das sechste Kapitel« (152). Fast dreißig Jahre später stellte Herbert Günther hinwieder fest, dieses erste Theaterbuch habe Kutscher den »Rang als Kritiker des Theaters« gegeben (1938: 36). Um die anfängliche Missbilligung und den späteren Erfolg des Werks zu kon‐ textualisieren, sowie um Kutschers zunehmendes Interesse für die Bühnenwelt vor Augen zu führen, ist es zuerst notwendig, den Aufbau und die Methodologie der Untersuchung zu analysieren. In Kutschers Aufsatz geht es um eine Ausei‐ nandersetzung mit den unterschiedlichsten Versuchen, das Theater und die Bühnendichtung zu reformieren. Dabei beschäftigte sich der Theaterforscher maßgeblich mit der Shakespeare-Bühnenreform, mit Max Reinhardt und mit dem Münchener Künstlertheater. Das sechste, zentrale Kapitel war der Stilisie‐ rung gewidmet, welche der letzte Zweck der theatralischen Darstellung sei und die zum ersten Mal auf der Bühne des Künstlertheaters bestrebt wurde. Die Rolle des „Münchner Künstlertheaters“ darf daher für die Entwicklung des theater‐ wissenschaftlichen Ansatzes Kutschers nicht unterschätzt werden. Der Autor bereitete das Hauptkapitel seines Theaterbuchs mit zwei theoretischen Prä‐ missen und einer kurzen Geschichte jeder Typologie von Theaterreformbewe‐ gung vor. Ganz am Anfang erklärte er den Begriff Theater und die Eigenschaften der Theaterkritik. Nach Kutschers Meinung waren die intensivsten Bestre‐ bungen nach einer Reformierung des Theaters erst Anfang des 20. Jahrhunderts aufgetaucht, weil sich das Theater den Menschen wieder als ein »Kulturfaktor« Teil II. Potentialphase 126 <?page no="127"?> 98 Hier unterschied Kutscher nochmals zwischen Geschmack, und zwar etwas Zufälligem, was von Sachen und Verhältnissen nichts weiß, und vorurteilsfreier »Liebe zur Kunst«, welche die Besonderheiten jedes Kunstwerkes erkennt und darstellt (7). gezeigt hatte (1910a: 1). Alle anderen Künste hatten schon einen Prozess innerer Wandlung durchgemacht, deren würdigstes Ergebnis die Verständigung über das Wesen, die Sonderbedingungen und die Grenzen jeder Kunst war. Nun war das Theater mit einer gewissen Verspätung nachgekommen, denn um die The‐ aterkunst zu erneuern, war es zuerst nötig, dass die anderen Künste „mit sich im Reinen“ waren (3). Die geförderten Reformen brachten aber sowohl würdige Einsätze als auch Verwirrungen, wie beispielsweise die öffentliche Wirkung des Theaters und die einzigartige Stellung der Theaterkritik. 98 Das Sujet der Unter‐ suchung war also die »Aufführung als ein[] Kunstwerk« (7), eine Offenlegung, die schon in den Gängen der Theaterwissenschaft widerhallte. Doch ging Kut‐ scher noch weiter: Es ist klar, daß eine nur literarische Beurteilung der Ausdruckskunst der Bühne nicht imstande sein kann, das Problem zu erschöpfen oder auch nur die richtige Stellung zu ihm zu finden. Dieser häufig gemachte Fehler ist ein Zeichen mangelnder Kultur. Selbstverständlich gibt es aber auch nicht rein malerische, architektonische, oder auch rein schauspielerische Beurteilungsmöglichkeiten dieser Frage. Es handelt sich um eine Ausdruckskunst, die mehr Mittel gebraucht wie jede andere, um eine reproduk‐ tive Kunst, die eine Fülle anderer Künste zu einer Harmonie, zu einer Einheit und Neuheit zusammenfaßt. Die Beurteilung dieser Kunst ist möglich von einem univer‐ sellen Kunst- und Stilgefühl, und Spezialkenntnisse auf den Gebieten der Einzelkünste können nicht in den Mittelpunkt gehören, so wichtig sie auch zum Verständnisse überhaupt sind. (7 f.) Diese Äußerung liefert mindestens drei Denkanstöße: Zuerst erwähnte Kut‐ scher den Mangel an einem methodischen Instrumentarium, das der Analyse des Theaterwesens zum Nutzen sein konnte. Da in der Aufführung mehrere Künste beteiligt sind und zusammenwirken, ist es unmöglich, mit den einzelnen „Beurteilungsmöglichkeiten“ jeweiliger Kunstwissenschaft die Komplexität des Gegenstandes Theater zu erforschen und zu ergreifen. Der theaterwissenschaft‐ lichen Erforschung scheint daher schon eine Art Interdisziplinarität innezu‐ wohnen. Wenn das Theater die Kunst der Gesamtdarstellung sei, dann werden »Fachleute aus den Einzelgebieten« zusammenarbeiten müssen, um »wieder eine nähere Berührung der Künste untereinander, eine gegenseitige Befruch‐ tung und Vollendung« zu ermöglichen (122). Dann bezeichnete der Autor das Theater als eine „reproduktive Kunst“, die keine unabhängige schöpferische „Schwabingertum“ und Aktivismus 127 <?page no="128"?> 99 Diesen Knotenpunkt erklärte er noch weiter: »Eine Ausdruckskunst also ist die Kunst des Theaters, […] sie ist reproduktiv. Das Wort „reproduktiv“ bedeutet keine Herabset‐ zung, sondern will nur besagen, daß ein fertiges Kunstwerk ihr zum Anlaß der jedes‐ maligen Betätigung wird, und daß dieses Kunstwerk mit seiner Art die besondere Rich‐ tung und Verwendung der gesamten Ausdrucksmittel bestimmt, - nicht etwa beschränkt an Entfaltung« (115 f.). Eine reproduktive Kunst existiere nur dazu, ihren Stoff, bzw. das Kunstwerk, zu stilisieren, weil »künstlerisch Schaffen heißt, in Welt und Leben die Symbole gestalten, Welt und Leben stilisieren« (153). 100 Einen Vergleich zwischen Kutschers und Manns theatertheoretischen Positionen führt Andrea Bartl (2008) durch: Siehe bes. S. 81-83. Kraft habe, da sie nur das Resultat der Harmonisierung anderer Künste sei 99 . Schließlich taucht auch Diltheys Theorie wieder auf, als Kutscher die Wichtig‐ keit eines „universellen Kunst- und Stilgefühls“ unterstrich, und zwar die Fä‐ higkeit, das partikuläre Ereignis der Aufführung in seiner Individualität wahr‐ zunehmen und zu verstehen. Es sei also für den Wissenschaftler notwendig geworden, die Beziehung des Theaters zur Literatur, bzw. zur Dichtung, zu klären. Der Ausgangspunkt war eigentlich Th. Manns Versuch über das Theater und dessen These, Theater und Dichtung seien unvereinbar, weil der Dichter entweder Lesedramen erzeuge oder lasse, dass sich auf der Bühne nur die mi‐ mische, improvisatorische Kunst entfalte 100 . Kutschers Stellung dazu war hin‐ gegen, dass das »improvisatorisch-natürliche« Theater nur ein früheres Sta‐ dium war, welches immer noch im Bauerntheater oder in Dialektstücken lebte, und dass „ein Theater, das mit der Dichtung steht und fällt, ein Theater, das der Ort der Darstellung von Dichtung ist“ dessen Entwicklung war (12). Mit anderen Worten, im alten Theater war nicht die Bühnendichtung wichtig, sondern das Theaterstück schlechthin, bzw. das Mimische. Die Bühnendichtung unter‐ scheide sich doch von anderen Dichtungen: Diese sei » - um mich eines Wortes von Edward Gordon Craig zu bedienen - unmittelbare Handlung, Ausstattung, Stimme« (13). Die Handlung habe innere künstlerische Bedingungen, das Drama trage in sich die Spuren der Darstellbarkeit, welche der Bühnendichter immer beachten müsse. Feinde der Bühnendichtung seien dementsprechend sowohl Umgestaltungsversuche epischer Vorlagen, wie bei Paul Lindau, Kolportage und jede Art von »Unterhaltungsroman in dramatischer Form« (25), wie Max Dreyers Siebzehnjährige, als auch die Pseudo-Bühnendichtung, die die Bühne nicht berücksichtigt: Durch Flucht aus der Wirklichkeit und Zufälligkeit des Tages, durch Symbolisierung und Filtrierung der Verhältnisse, durch Verlegung der Vorgänge in die Vergangenheit und Ferne, in die Fabel, in das Märchen verlor man schließlich das Leben aus den Händen und schuf einer Theorie zuliebe Gebilde ohne Blut und Wärme. (26) Teil II. Potentialphase 128 <?page no="129"?> 101 Kutscher konzentrierte sich auf die bedeutendsten »Versuche der Vervollkommnung der alten Theaterart«, doch erwähnte er auch andere wichtige Beiträge, wie die von Alfred Freiherr v. Berger in Hamburg, von Luise Dumont in Düsseldorf, von Hagemann in Karlsruhe und von Mahler und Roller an der Wiener Hofoper (53). 102 Kutscher hat nie das Wort „Werktreue“ benutzt, doch seine Auffassung von Aufführung liegt dem Konzept, im Sinne einer künstlerischen Auseinandersetzung mit einer dra‐ matischen Vorlage, sehr nahe. Wenn er zum Beispiel Reinhardts Regieleistung kriti‐ sierte, hob er immer hervor, der Regisseur habe einigen Stücken viel mehr geben wollen, als es nötig war, wobei er seine künstlerische Tätigkeit nicht im Dienst des Dramas gesetzt habe. Darüber hinaus erklärte Kutscher in seiner Stilkunde, das Drama sei ein bildsamer Stoff, der durch die Inszenierung ins Mimische des Bühnenspiels übertragen werden müsse. Fast am Ende seiner Ausdruckskunst sagte er noch bezüglich der his‐ torisch „treuen“ Darstellung, es sei »völlig ausgeschlossen, mit allem historischen Kram zu arbeiten und die Peinlichkeit, die Pedanterie und Schulgelehrsamkeit anzuwenden, die man mit dem Namen „Treue“ so gern beschönigt. Dabei käme eine Art von Aus‐ stattungsstück heraus, und dadurch würden die menschlichen und symbolischen Werte umhüllt und verdeckt. Das Historische muß streng stilisiert werden […].« (173). Als Beispiel führte Kutscher Vollmöllers Dramen sowie Liliencrons und Falkes Dichtungen für das Theater an: Ihnen fehlte die Berücksichtigung der Gesetze der dramatischen Form, die »aus dem Wesen des Dramas«, also aus der Bühne, stammen (27). Solche künstlichen, lebensfremden Mischungen produzieren keine Kunst, denn das Kunsttheater sei »Stil und Ausdruck unseres Lebens« (31). Nach diesen methodisch-erkenntnistheoretischen Vorbemerkungen näherte sich Kutscher der Gegenwart: Eine Reformierung des Theaters hätte sich nicht von der Dichtung aus entwickeln können, weil das dichterische Werk immer isoliert bleibe. Die Reformen bewegten sich also - seit den Meiningern, durch Otto Brahm bis zu Max Reinhardt 101 - in einer einzigen Richtung: »große dra‐ matische Dichtungen mit allen Mitteln der Bühne zu einheitlicher, lebendiger Wirkung zu bringen« (35). Und gerade in den letzten Jahrzehnten hatten sich rein mimische Theaterformen neben werktreuen Aufführungen 102 moderner Dramatik erneuert. Was Reinhardts Tätigkeit betrifft, erkannte Kutscher durchaus richtig, keine habe »soviel zur Reform des älteren Theaters in unserer Zeit getan als Max Reinhardt« (42), allerdings erblickte er zwei Defekte in den Leistungen des Meisters: Oftmals nähere sich Reinhardt »den Grenzen des Mög‐ lichen«, wobei manche Stücke »unter der Last des Aufwands« (48), unter den »barocken Lyrismen« (49) erstickten. In diesem Urteil ist Kutschers Ablehnung jeglicher Exzesse des Regietheaters deutlich spürbar. Außerdem habe Reinhardt in der letzten Zeit das Ensemble-Spielen vernachlässigt: Die schauspielerische Einheit seiner Inszenierungen sei wegen des unkontrollierten Virtuosentums der Stars nicht mehr vorhanden. Das Münchener Künstlertheater unterschied sich doch von den schon erwähnten Reformen, indem es radikaler war; trotzdem „Schwabingertum“ und Aktivismus 129 <?page no="130"?> hing es mit allen früheren und gleichzeitigen Reformversuchen zusammen. Kutscher skizzierte dann kurz die Geschichte der nahestehenden Bestrebungen und erwähnte Behrens und Fuchs’ Versuche in Darmstadt, die zunehmende Ab‐ neigung gegen Exzesse und die Förderung nach Stilreinheit und szenischer Ein‐ fachheit - was mit sich brachte, dass »Wagner mit seinem barocken Prunk […] so schwer verdaulich wie der Geschmack Ludwigs II . in seinen Schlössern« wurde und dass man sich an die Naturbühne wandte (63) -, Ernst Wachlers Naturtheater in Thale am Harz, Reinhardts Experimente nach Appias und Craigs Muster und schließlich die Shakespearebühne von Geneé, Lautenschläger und Savits. Die Hauptleistung des Künstlertheaters sah Kutscher demnach in der Einrichtung einer Phantasiebühne, die der »Phantasie wieder Recht und Raum« gibt (79), die das dramatische Wort nicht belastet und wiederholt, sondern »der Phantasie des Zuschauers einen Unterstützungspunkt« gibt (93), wobei sie mit allen ihren Mitteln den Zweck erfüllt, „anzudeuten, ein Zeichen für die Bedeu‐ tung zu geben“ (84). Diese Phantasiebühne wurde von Kutscher als Gegenbegriff für die Illusionsbühne der Historienstücke der Meinigen, des Naturalismus Brahms und der Sommernachtstraum-Inszenierung Reinhardts benutzt, welche die menschlichen Sinne ständig enttäuschte. Nur die auf der und durch die Phantasiebühne erreichte Stilisierung konnte also der Polysemie und Polyfunk‐ tionalität des theatralischen Zeichens gerecht werden: »Ist die Bühne des Künst‐ lertheaters für eine stilisierte Darstellung sinn- und zweckgemäß, dann ist sie auch dadurch für unsere Bühnendichtung die langersehnte Pflegestätte, dann ist sie das Theater für unsere Tragödie und unsere Komödie« (89). Über den von Fuchs gerne gebrauchten Begriff Reliefbühne äußerte sich Kutscher insoweit skeptisch: Relief bedeute nämlich nicht dasselbe von Stilisierung, »sondern nur eine besondere, intensive, strenge Richtung des Stilisierens. Das Künstlertheater darauf festnageln wollen, heißt mit ihm Prinzipien reiten; aber die Bühnenver‐ hältnisse erlauben dort Gott sei Dank mehr, sie erlauben eine Stilisierung über‐ haupt« (90). Die Lobrede Kutschers auf das Künstlertheater blieb aber nicht ohne Kritik, da er die Schwäche des Unternehmens Fuchs’ gleichwohl hervorhob: die Regie in einiger Hinsicht und die Schauspielkunst im Allgemeinen. Eben mit der Spielleitung und der Schauspielkunst beschäftigte sich Kutscher in den letzten Kapiteln seines Werkes, wobei er einerseits den Spielleiter als eigentlichen Schöpfer des Theaters bezeichnete, der alle Künste in Harmonie bringe, und andererseits die Hegemonie der Schauspielkunst verurteilte, die nicht Zweck des Theaters sei, sondern nur ein Mittel zur einheitlichen, harmonischen und stilreinen Darstellung. Was man bezüglich des Beitrags von Kutscher noch be‐ tonen muss, ist seine Positionierung in der Debatte über den Nationalismus in der Kunst. Dreimal äußerte sich der Wissenschaftler gegen einen unmotivierten Teil II. Potentialphase 130 <?page no="131"?> und sterilen »Teutonismus«: In Wachlers Tendenz zur Züchtung und Populari‐ sierung von Hausdichtern fand Kutscher »die Gefahr, daß die Herren vom Teu‐ tonismus mit aufdringlicher und unkünstlerischer Art dies Feld erobern und es damit der freien Kultur entziehen« (69); weiterhin erschien ihm »lächerlich […] das Geschwätz vom Nationalstil«, weil nur das reine Kunstwerk zu reden habe. Am Ende musste er auch seine Bezeichnung „deutsches Theater“ erklären: »Ich nenne unser Theater nicht das germanische, denn das griechische hatte ja den‐ selben Charakterzug, und mir liegt nichts ferner, als auf dem universellen Boden der Kunst dem Teutonentum zu huldigen« (115). Das deutsche Theater habe mithin keine absolute Selbständigkeit, folge dennoch eigenen Gesetzen und Aufgaben und daher könne man von einem „deutschen Theater“ sprechen. Kut‐ schers Anerkennung der „universellen“ bzw. transnationalen und transkultu‐ rellen Basis des Theaters verbindet sich sofort mit der Notwendigkeit, die zeit- und raumbedingten Entfaltungen dieser Ausdruckskunst zu untersuchen. Man hätte das komplizierte, flüchtige Wesen des Theaters erst erfassen können, wenn man es an lokale verkörperte Aufführungen gebunden hätte. Eben dank der experimentellen Versuche des Münchner Künstlertheaters be‐ gannen die theaterwissenschaftlichen Interessen Kutschers präzisere Konturen anzunehmen: Neben der Behandlung und Klarstellung theaterhistorischer Tat‐ sachen musste die Wissenschaft Erkenntnisse für die Behandlung von Dramen auf der Bühne vermitteln und ihren Beitrag zur Theaterreform leisten. Im Som‐ mersemester 1909 hielt Kutscher die erste theaterwissenschaftliche Vorlesung mit dem Titel „Schillerprobleme: Dramatische Pläne und Fragmente“, in der er auch Friedrich Hebbel behandelte. Die thematische Kontinuität mit seinen ger‐ manistischen Seminaren ist hier noch durchaus erkennbar; schon im nächstfol‐ genden Wintersemester betitelte Kutscher aber sein theaterwissenschaftliches Kolleg „Schauspielkunst und Regie“, wobei er den Fokus von Drama und Dra‐ matikern auf die gesamte Aufführung verschob. Als 1908 das „Münchener Künstlertheater“ eröffnet wurde, schloss sich nicht nur der „Neue Verein“ dieser Szenenreform an, sondern auch der entstehende Kutscher-Kreis. Der Privatdo‐ zent veranstaltete die ersten kurzen Exkursionen mit seiner Seminargruppe, um die Inszenierungsbedingungen in der Wirklichkeit, an Ort und Stelle der theat‐ ralischen Tätigkeit zu untersuchen. Er nahm bereits im Frühling 1908 Kontakt mit Littmann und Fuchs auf, um den Wissensdurst wie auch den Enthusiasmus seiner Schüler für das gegenwärtige Theater zu entfachen. Am 18. Mai erklärte sich Max Littmann bereit, Kutscher und seinen Hörern die Bühne des Münchner Künstlertheaters zu zeigen, doch bat er um ein Hinausschieben des Besuches wegen intensiver Proben. Kaum einen Monat später schrieb er Kutscher: »Unter Bezugnahme auf unsere kürzliche Unterredung teile ich Ihnen mit, dass das „Schwabingertum“ und Aktivismus 131 <?page no="132"?> 103 Vgl. DLA, A: Kutscher 57.5283. 104 Siehe dazu die im Branns Brief von 26. November 1925 enthaltenen Hinweise auf die »besseren Zeiten« (DLA, A: Kutscher 57.4337). M. K.Th. Ihnen nächsten Sonntag Vormittags 10 Uhr und an späteren Sonntagen Vormittags 9 Uhr zur Verfügung gestellt werden konnte« ( DLA , A: Kutscher 57.4874). Noch im Jahr 1910 ist Kutschers Beziehung zum Künstlertheater nach‐ weisbar, denn am 26. Januar findet man in einem Brief von Georg Fuchs an Artur Kutscher die folgenden Sätze: Der Besichtigung des Künstlertheaters am 9. Februar dürfte, so weit ich jetzt sehen kann, keine Bedenken entgegenstehen. […] Bei diesem Anlasse danke ich Ihnen wie‐ derholt wärmstens für das lebhafte Interesse, welches Sie den Bestrebungen des Künstlertheaters entgegenbringen […]. (DLA, A: Kutscher 57.4510) Die Tagesausflüge oder Führungen des neugeborenen theaterwissenschaftli‐ chen Kurses beschränkten sich aber nicht auf das Künstlertheater: Kutscher setzte sich gleichwohl mit dem Generalintendanten Freiherr von Speidel in Ver‐ bindung, um im November 1908 das königliche Hoftheater und das Prinzregen‐ theater besuchen zu können. 103 Es ist ferner höchstwahrscheinlich, dass sich Kutschers Kontakt mit Paul Brann - seit 1905 Gesamtleiter des von ihm selbst begründeten Marionetten-Theaters „Münchner Künstler“ - in die Frühphase der Münchner Theaterwissenschaft datieren lässt. 104 Die Auswahl der Theaterar‐ chitekturen und Theaterformen für die konkrete Feldforschung enthüllt eine größtmögliche Vielfalt von Interessen und veranschaulicht darüber hinaus die Vorherrschaft der Praxis gegenüber der Theorie. Teil II. Potentialphase 132 <?page no="133"?> 1 Kutscher benutzte den Begriff ‚Stilkunde‘, um eine wissenschaftliche Stilkritik zu be‐ zeichnen, eine theoretische und ästhetische Untersuchung der formalen Eigenart künst‐ lerischer Äußerung. Man könnte in der von Kutscher propagierten Stilkunde eine Art „deskriptive Stilistik“ erkennen, d. h. eine »Analyse und Beschreibung synchron wie diachron beobachtbarer Stile«. Solche Stilistik untersucht »anhand von Musterbei‐ spielen den Stil einer Epoche, eines Genres, eines Werkes oder eines Dichters systema‐ tisch in seinen sprachlichen Mitteln, Ausdruckswerten und ästhetischen Wirkungen«. Dabei bezog Kutschers Stilkunde Wertungen ein (Czapla 2007: 515). Teil III. Erste Entwicklungsphase Das Problem einer umfassenden Theorie Das Lebensgefühl, das in unserer Stilkunde 1 die größte Rolle spielt, der Stempel künst‐ lerischer Gültigkeit, hat schöpferische Geister - wie hundert Namen beweisen - immer wieder angezogen und in ihrem Wirken bestimmt. Ich bin sicher, wer die so basierte Stilkunde beherrscht und anzuwenden weiß, wird Ungewöhnliches erreichen. Das war mir als Dozent immer Ziel für meine besten Studenten. Ich mühte mich darum, daß sie etwas Außerordentliches erreichten. Und auch heute noch […] wün‐ sche ich meinen Schülern, allen Schwierigkeiten zum Trotz, daß sie es zu etwas Au‐ ßerordentlichem bringen. (Kutscher 1958: 258) Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts profilierte sich eine neue Disziplin, die von der Tätigkeit einer Lerngemeinschaft gefördert wurde. Um der Praxis des Münchner theaterwissenschaftlichen Kurses eine bestimmte „Trajektorie“ sowie feste Grenzen zu verleihen, verschaffte Kutscher der Theaterwissenschaft eine umfassende Theorie, welche den Modus Operandi der wissenschaftlichen Untersuchung vorschlagen sollte. Zum einen verdeutlichte Kutscher die Bezie‐ hung zwischen der Literaturwissenschaft und der Wissenschaft des Theaters, wobei er den Untersuchungsgegenstand des neuen Wissensgebiets detailliert beschrieb, zum anderen führte er - zusammen mit den anderen Mitgliedern seines „Wirkungskreises“ - die Forschungspraxis im theaterwissenschaftlichen Bereich weiter. Überdies erweiterte der Theaterprofessor die organisierten Ak‐ tivitäten und den Wissensaustausch inmitten seiner Arbeitsgruppe, und etab‐ lierte neue Rituale ebenso wie neue Beziehungen, sodass unterschiedliche Stufen der Partizipation an der gemeinsamen Praxis festgelegt werden konnten. Nicht zuletzt unternahm Kutscher vielerlei Anstrengungen, um in der Öffent‐ lichkeit bzw. vor der deutschen Intelligenz den Wert seiner Lerngemeinschaft zu beweisen. Diese Popularisierung der Theaterwissenschaft zielte auch darauf <?page no="134"?> ab, neue Mitglieder zu gewinnen, welche durch ihre Erfahrung und Interessen die geteilte Praxis hätte bereichern können. Als Kutscher die ersten theaterwissenschaftlichen Kollegs ins Vorlesungs‐ verzeichnis der Münchner Universität einführte, bekam er sofort den Wider‐ stand der Philosophischen Fakultät zu spüren. Dafür gab es vor allem zwei Gründe: Sicherlich handelte es sich zunächst, wie an anderen deutschen Uni‐ versitäten, um die unterschiedliche Betrachtung des Forschungsgegenstands ‚Theater‘. In München trat aber auch die Methodik der von Kutscher geprägten Theaterwissenschaft sehr schnell in den Vordergrund: Eine auf der Praxis ba‐ sierte Forschung wurde als einen Affront gegen die historisch-philologische Tradition der Germanistik empfunden. Da die sog. „Theatermethode“ der Münchner Theaterwissenschaft in der allgemeinen Stilkundevorstellung des Theaterprofessors ihren Ursprung hat, wird im Folgenden an erster Stelle der wissenschaftliche Ansatz Kutschers erläutert und an zweiter Stelle die Unter‐ schiede zwischen Literatur und Theater gezeigt, welche die Lerngemeinschaft um Kutscher herausarbeitete. Zunächst beschäftigte sich Kutscher mit der Definition einer grundlegenden Theorie für die Bestrebungen seiner theaterwissenschaftlichen CoP: Erst die Begrenzung des Wissensbereiches kann zu einem produktiven gemeinsamen Projekt führen und daher zur Entwicklung der Lernstruktur beitragen. Schon am Anfang seiner Unterrichtstätigkeit und publizistischen Arbeit sprach Kut‐ scher von einer subjektiven Kritik des Theaters, die zu einer angeblich objek‐ tiven Quellenforschung im Gegensatz stand. Bezeichnenderweise betitelte er den zweiten und abschließenden Band seines Handbuches der Theaterwissen‐ schaft Stilkunde des Theaters (1936) und sein Lebenswerk Stilkunde der deutschen Dichtung (1951 / 52), mit einer Wiederkehr des Wortes „Stilkunde“, welche die fundamentale Rolle der Kritikausübung in der wissenschaftlichen Beschäfti‐ gung Kutschers überdeutlich signalisiert. Die Begriffe ‚Kritik‘ und ‚Wissen‐ schaft‘ wurden ja im Beitrag Die Kunst und unser Leben zum ersten Mal bespro‐ chen, doch fanden sie erst im Artikel Kritiker und Kunstwerk (1911) eine bedeutsame Erweiterung. Kutschers Einsatz für die Herausarbeitung stilkund‐ licher Konzepte und anwendbarer Maßstäbe für die Kritikausübung konnte nur in den 1950er Jahren seinen Abschluss finden, als er dem sog. „Problem der Kritik“ zwei Bände widmete. In dem 1914 verfassten Artikel bekräftigte Kutscher den Stichpunkt, die Kritik habe nicht die Aufgabe, »den Idealkünstler und das wahre Kunstwerk zu züchten«, sondern »ein bestimmtes Kunstwerk und seinen Schöpfer zu werten« (551). In Adjektiven wie „ideal“ oder „wahr“ steckten nur Abstraktionen, die keinen Kontakt zu einverleibten Erlebnissen bzw. mit dem Leben hatten, deswegen musste die Kritik nur das konkrete Kunstschaffen be‐ Teil III. Erste Entwicklungsphase 134 <?page no="135"?> 2 Rückblickend resümierte Herbert Günther, das Lebensgefühl sei Kutscher »zum Haupt‐ kriterium aller Kunst geworden« (Günther 1953: 58). 3 Kutschers Neubegründung der Kunst im Mystischen und gleichzeitig im Organischen enthält viele Anklänge an Shaftesbury, Goethe und Dilthey. Ein expliziter Bezug auf Shaftesbury findet man zuerst in Kutscher 1951: 25 f.; 40 und dann in seiner Autobio‐ graphie 1960: 255. Insbesondere zog Kutscher Shaftesburys The Moralists in Betracht: In jenem Dialog fordere der englische Philosoph von jedem Kunstwerk bzw. von der sinnlich genialen Kunstschöpfung eine organische Gestalt. Shaftesbury betrachtete die Kunst als ein Abbild des Lebens und gerade diese Betrachtung war der Ausgangspunkt von Kutschers Begriff von Stilkunde. 4 Die Stilkunde »will nicht Wissenschaft als Selbstzweck sein, sie will Vermittlerin von Kunst und Leben sein, Dienerin an der Kunst und ebenso auch Dienerin an dem Leben« (Kutscher 1960: 75). Dazu sei es bemerkt, dass der aktive Charakter der Wissenschaft in Kutschers Vorstellung jedes Mal nachdrücklich betont wird. rücksichtigen. Diesbezüglich muss man aber Kutschers Kunstvorstellung näher erklären: Ein Kunstwerk sei das Ergebnis des Schöpfungsprozesses der Phan‐ tasie, die aus der Fülle des Erlebens Existenzen mit selbstständiger Kraft erzeuge. Dank seiner autonomen Phantasiekraft könne der Mensch die Kunst in jeder Form spüren und genießen. Nur die Seele sei eigentlich das schöpferische Ele‐ ment dieser „kunstbetätigten Phantasie“, deren Stärke aus zwei Teilen bestehe: Intuition, im Sinne von Phantasieanschauung, Blick für Dinge, Menschen oder Verhältnisse, und Gestaltungstrieb, und zwar der Drang, neues Leben fassbar zu machen (1951: 24 f.). Da Kutscher also das Kunstwerk als ein Lebensgefühl be‐ trachtete, das zum selbständigen Ausdruck gekommen war, 2 erkannte er in ihm ein mystisches und zugleich »lebendiges, organisches Lebewesen« (39), welches das Individuum unmittelbar dazu fördere, sein ganzes Leben zu intensivieren und sich selbst zu vervollkommnen. 3 Immer wieder versicherte Kutscher seiner Hörerschaft, die Kunst habe ein unmissverständliches Erkennungszeichen: [S]ie wirkt, sie erzeugt Bewegung, befruchtende Erschütterung, Betätigung, Aktivie‐ rung. Wir lernen uns selber und unsere Kräfte kennen, rühren. Schönheit ist überhaupt nicht da, wo nicht Wirkung ist auf unser Leben in Breite und Tiefe. Kunst ist un‐ trennbar von Menschsein. Kunst war da, als der erste Mensch da war. Kunst ist noch da, wenn der letzte Mensch sich in die erkaltende Erdenkruste vergräbt. Kunst ist gesetzt mit dem Leben, mit dem Wesen des Menschen. Die höchste Aufgabe der Kunst ist, uns reicher zu machen in dem Gefühle, ein Mensch zu sein. (zit. nach Günther 1957: 61) Die Kritik prägte sich also als ein mächtiges Mittel aus, um die Kunst zu pflegen und durch diese der gesellschaftlichen Entwicklung zu dienen. 4 Konkret solle die Kritik aus dem Besonderen eines bestimmten Kunstwerks das Allgemein‐ gültige finden, was allein die menschliche Existenz in jeder Zeit und in jedem Ort nützt: »Wenn nämlich die Kritik einen Zweck haben soll, so muß sie das All Das Problem einer umfassenden Theorie 135 <?page no="136"?> 5 Das „Fremde“ bzw. die Andersartigkeit, die man in Berührung mit anderen Sprachen, Kulturen, Menschen erfährt, war für Humboldt die schriftlich zu bewahrende Form einer Beziehung, welche die eigene Sprache und Kultur bereichern und die künstleri‐ sche Ausdrucksfähigkeit stärken konnte. Die Auseinandersetzung zwischen dem Kul‐ tureigenen und dem „Fremden“ hatte also positive Wirkungen auf die geistige Ausbil‐ dung des Menschen. Mit „Fremdheit“ bezeichnete er hingegen die Kommunikationsunfähigkeit zwischen der eigenen Identität und der Identität des An‐ deren (1981: 140 f.). Zur Übersetzung bei Humboldt als geistiger und zugleich moral‐ ischer Tätigkeit vgl. Ferron 2011, bes. 125 ff. der künstlerischen Organe umfassen und deren Natur und Bedeutung im Zu‐ sammenhang allen Lebens und Seins aufzeigen« (1911: 551). In einem Textab‐ schnitt, der an den von Wilhelm v. Humboldt herausgearbeiteten Unterschied zwischen „Fremde“ und „Fremdheit“ denken lässt, 5 betonte Kutscher weiterhin das Verhältnis des Kritikers zum Fremden, zu „dem Anderen“ im Werk, das er auf jeden Fall erkennen und bewahren müsse. Die Begegnung zwischen dem interpretierenden Wissenschaftler und dem erzeugten Kunstwerk sei die Zu‐ sammenkunft von zwei unterschiedlichen Kunst-, Stil- und Lebensgefühlen, die erst in der Kritik eine produktive Umgestaltung finden. Angesichts der Tatsache, dass jedes Kunstwerk aus der schöpferischen Seele seines Künstlers stamme und dass jede Bewertung von einer Persönlichkeit ausgeübt werde, sei die Kritik von Natur aus subjektiv (551 f.). Unter ‚Kritikausübung‘ oder ‚Stilkunde‘ verstand Kutscher demzufolge die Erkenntnis des stilistisch Entscheidenden in den verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen. Da jedes Kunstwerk auf ein Lebensgesetz antworte, und zwar auf eine »innere Notwendigkeit«, die man nur erkennen, verstehen und ver‐ treten könne, wenn man mit dem Leben selbst vertraut sei (553), erfüllte die Stilkunde in Kutschers Theorie die Aufgabe, »die innere Form, den inneren Stil des Kunstwerkes deutlich zu machen, sein Lebensmoment aufzuzeigen« (Ebd.) ebenso wie »die Vollendung in sich fest[zu]stellen und das Verhältnis dieses Gesamtgebildes zum Leben« (554). Ab den 1950er Jahren definierte Kutscher die Stilkunde als »Wissenschaft vom künstlerischen Ausdruck« (1951: 13) und als »Lehre der Wertung« (1960: 255), wobei er klarstellte, die Stilkunde sei eine umfassende Lehre, welche der Subjektivität der Kritik Einhalt gebiete, indem sie durch eine vierfache Analyse den Wert eines Kunstwerkes erkenne. Erst durch die Berücksichtigung der vier stilbildenden Faktoren - die schöpferische Per‐ sönlichkeit, die Zeit oder die Kultur, die Gattung und zuletzt das Material oder die jeweiligen Ausdrucksmittel - könne der Forscher über ein Kunstwerk wis‐ senschaftlich urteilen. Teil III. Erste Entwicklungsphase 136 <?page no="137"?> 6 Nebenbei muss man auch anmerken, dass sich Kutscher gerne der Erfindung des Na‐ mens „Theaterwissenschaft“ für das neue Lehrfach rühmte. 7 Vgl. Petersens Brief vom 7. Februar 1909 an Artur Kutscher (DLA, A: Kutscher 57.5070 / 2). Aus den Berichten von Kutscher selbst über die erste Phase der deutschen Theaterwissenschaft entdeckt man den Kernpunkt seiner Forschungstheorie, die in der Stilkunde ihre Wurzel hat: Mich mit dem Theater wissenschaftlich zu beschäftigen, gab es zu meiner Studienzeit nur eine Gelegenheit in Übungen des Privatdozenten Roman Woerner über den Spiel‐ plan, ernstere Auseinandersetzungen in Berlin bei Max Herrmann oder in Kiel bei Eugen Wolff. Eine Methode der Theaterwissenschaft führte ich 1909 / 1910 gleichzeitig mit Julius Petersen in den Lehrbetrieb der deutschen Universität ein. (1956: 346) Zuerst sei angemerkt, dass Kutscher den anderen Begründer der Theaterwis‐ senschaft Max Herrmann in die ältere Generation vermeintlicher Lehrer ein‐ fügte, was nicht ganz stimmt. Wenngleich Herrmann 13 Jahre älter als Kutscher war, hatte er sich erst ab 1900 mit der Theaterforschung beschäftigt, also unge‐ fähr 9 Jahre früher als sein Münchner Kollege - die Beiden gehören so zur selben Generation der Gründungsväter. Für die Tatsache, dass Kutscher eine Affinität zwischen seiner Untersuchungsmethode und derjenigen von Julius Petersen fand, wobei er sich von Herrmanns Forschungsansatz distanzierte, könnte es zwei unterschiedliche Erklärungen geben. Die erste liegt in den persönlichen Beziehungen zwischen Kutscher einerseits und Herrmann und Petersen ande‐ rerseits: Im umfangreichen Nachlass Kutschers befindet sich ein einziger Brief von Max Herrmann, in dem sich der Berliner Wissenschaftler 1926 bei Kutscher über das Verhalten eines Studenten aus München beschwerte ( DLA , A: Kutscher 57.4701). Daher kann man nur vermuten, dass sich Kutscher und Herrmann kannten, ohne weder gute Bekannte noch Freunde zu sein. Darüber hinaus hatte Kutscher die theaterwissenschaftliche Praxis seines Kreises immer als gegen‐ läufige Tendenz zur Berliner Schule Max Herrmanns vorgezeigt, was an eine Art Rivalität zwischen den damaligen Hauptvertretern der Disziplin denken lässt 6 . Dahingegen schätzte Kutscher schon seit 1909 den Kollegen Petersen, weil sich beide Literaturwissenschaftler mit Schiller intensiv beschäftigt hatten und weil Petersen den Theaterprofessor schriftlich einlud, die Neuherausgabe der Anthologie Deutscher Dichterwald zu übernehmen. 7 Die zweite Erklärung liegt aber in Kutschers Vorstellung einer wissenschaft‐ lichen Praxis, die äußerst produktiv sein sollte, um mithin das gemeinsame Lernen zu unterstützen. Wie bereits dargelegt, sollte diese Praxis sowohl eine Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand Theater, bzw. die direkte Das Problem einer umfassenden Theorie 137 <?page no="138"?> 8 Knudsen schrieb sogar, dass, als Petersen Direktor des Berliner theaterwissenschaftli‐ chen Instituts wurde, sich »die sehr merkwürdige Situation [ergab], daß der offizielle Vertreter der Theaterwissenschaft diese Wissenschaft selbst geradezu in Zweifel zog.« (1950: 70). Petersen sei auch der Erweiterung der Theaterwissenschaft immer »mit der ausgesprochenen Skepsis der Philologen« gegenübergestanden (Ebd.). 9 Diese geistige Verbindung war auch von einem anderen Aspekt verstärkt, und zwar von Petersens ständiger Hervorhebung des interdisziplinären Charakters der Theater‐ wissenschaft. 10 Siehe dazu Günther 1953: 54 f. Erfahrung der Erzeugung theatralischer Kunstwerke, als auch eine kritische Reflexion darüber miteinbeziehen. Nur die Stilkunde hätte dem Überlegen, dem Nachdenken eine Struktur geben können, durch die man Bedeutungen in der Kunst sowie im Leben erkennt. Die angeregte theaterwissenschaftliche Ausei‐ nandersetzung schloss sowohl die Entwicklung von Wissen - ausgehend von der Untersuchung des mimischen Ausdrucks - als auch die Anwendung dieses Wissens in der Verbreitung der deutschen Kunst und Kultur ein. Während sich Max Herrmann fast ausschließlich der Ausbreitung theatergeschichtlicher Stu‐ dien und Quellen widmete, verfolgte Petersen ein anspruchsvolles Projekt in Richtung Stilkunde: Unter dem Titel Die Wissenschaft von der Dichtung verfasste er zwischen 1939 und 1944 »eine reine Methodenlehre der Literaturwissenschaft mit Abgrenzung ihres Gegenstandes und ihrer Mittel« (Kutscher zit. nach Gün‐ ther 1953: 54). Die Systematik blieb immer ein Schwerpunkt seiner Forschung, und auch wenn er überhaupt kein Theaterwissenschaftler war, 8 blieb Petersen für Kutscher ein überaus wichtiger Bezugspunkt, der zäh um den Zusammen‐ hang der Elemente der Stilbildung rang. 9 Nach Kutschers Auffassung fiel die Dichtung aber mit dem höchsten Ausdruck des Lebensgefühls zusammen, also eher mit der Kunst im breitesten Sinne als mit der Literatur schlechthin. Die Dichtung mache das Ewige einer Zeit unmittelbar anschaulich und werde zu einer immerwährenden Gestalt, was sich sowohl den transitorischen Tendenzen der Literatur als auch der Flüchtigkeit der theatralen Aufführung entgegen‐ setzte. Der dichterische Wert, den die Stilkunde erkennen sollte, liege demzu‐ folge nicht nur in der »Macht der dichterischen Sprache«, mit welcher der Künstler das bestimmte Werk gestaltet hatte, sondern auch in der »Kraft des Lebensgefühls«, aus dem es entstand (Günther 1957: 62). Daraus folgte, dass man die systematische Grundlegung kritischer Maßstäbe erst vom Standpunkt der konkreten, erlebten Kunst aus leisten sollte, und nicht auf der Basis einer kunstfernen Theorie. 10 Diese von Kutscher als kunstfeindlich betrachtete The‐ orie, die eine unbestechliche Objektivität und die Zurücknahme der Persönlich‐ keit des Forschers hinter den Untersuchungsgegenstand verfolgte, war eigent‐ lich das, was die historisch-philologische Tradition an deutschen Hochschulen Teil III. Erste Entwicklungsphase 138 <?page no="139"?> 11 Nach lateinischen Vorlesungsverzeichnissen aus dem 16. und 17. Jahrhundert wurde die Theatergeschichte im Seminarraum lediglich gelesen. Siehe dazu Kutscher 1960: 77. kennzeichnete. Und wenn nahezu alle Lehrstühle der deutschen Germanistik um die Jahrhundertwende mit Schülern von Wilhelm Scherer wie Erich Schmidt, Gustav Roethe, Max Herrmann oder Julius Petersen, und Schülern von Michael Bernays, wie Franz Muncker oder Carl von Kraus, besetzt waren (König / Müller / Röcke 2000: 176), dann konnte Kutschers Theorie und Methodik der Theaterforschung keine Chance haben, eine akademische Anerkennung zu finden. Die „Theatermethode“ entsprach für Kutscher einer Brücke zur aktiven Teilnahme am künstlerischen Erzeugungsprozess, in der jedes Individuum seine eigene Erfahrung mitbrachte und dank dieser die Bedeutung des Kunstwerkes zu preisen wusste. Im Bereich der Theaterwissenschaft war die Persönlichkeit derjenigen, die das theatralische Phänomen miterlebten, bzw. die Subjektivität der Interpretierenden eine Vorbedingung jedweder Analyse. Erst die Beteiligung des ganzen Menschen, mit Körper und Seele, hätte nach Kutschers Meinung zur Würdigung, Vermittlung und letztendlich Weiterführung des mimischen Cha‐ rakters des Theaters geführt. Der mimische Charakter stellte in Kutschers Theatertheorie die innere Form des Theaters dar, das Spezifikum der Aufführung im Gegensatz zum literari‐ schen Werk. Die Philosophische Fakultät der Münchner Universität vertrat die These, das Drama sei wesentlich literarisch und man solle daher das Theater aus einer rein philologischen Perspektive betrachten. 11 Kutscher entgegnete be‐ kanntlich, »es komme im Theater nicht nur auf das sprachlich Poetische an, sondern mehr noch auf das stilistisch Lebendige und auf das innerlich Formale seiner dramatischen Gestaltung« (1958: 261). Die Theaterwissenschaft stellte dementsprechend für Artur Kutscher das Gebiet der Auseinandersetzung zwi‐ schen dem vorgeführten »Ausdruck von Spannungen, Gefühlen und Lebenszu‐ sammenhängen« in mimischer Form (Kutscher 1932: 8) und den Menschen dar, die Kunst- und Lebensgefühl in sich haben. Karl Hans Böhm erinnerte sich an die Hauptthese von Kutschers theaterwissenschaftlichen Vorlesungen um 1910: »Die Dichtung ist das Eine und die Bühnenform ist ein Anderes« (in Gün‐ ther 1938: 266). Um diesen Unterschied zu markieren, nahm Kutscher wiederholt Das Problem einer umfassenden Theorie 139 <?page no="140"?> 12 Vgl. Kutschers Zitate nach Lessings Laokoon: »Das Drama [ist] für die lebendige Malerei des Schauspielers bestimmt.«; nach Schillers Brief an Goethe vom 26. Dezember 1797: »[I]ch wüßte nicht, was einen bei einer dramatischen Ausarbeitung so streng in den Grenzen der Dichtart hielt, und wenn man daraus getreten, so sicher darein zurück‐ führte, als eine möglichst lebhafte Vorstellung der wirklichen Repräsentation der Bretter, eines angefüllten und bunt gemischten Hauses, wodurch die affektvolle unru‐ hige Erwartung, mithin das Gesetz des intensiven und rastlosen Fortschreitens und Bewegens einem so nahe gebracht wird.«; nach Hebbels Vorwort zu Maria Magda‐ lena: »Die mimische Darstellbarkeit ist das allein untrügliche Kriterium einer poeti‐ schen Darstellung.« (Kutscher 1952: 311). auf repräsentative Vertreter der deutschen Dramatik Bezug - so etwa auf Les‐ sing, Schiller, Hebbel und Otto Ludwig. 12 Die moderne Debatte über die Unabhängigkeit der dramatischen Kunst von der Literatur fing aber für Kutscher mit Hugo Dingers Dramaturgie als Wissen‐ schaft (1904 / 5) an. Dingers Werk bildet den Ausgangspunkt von Kutschers Stel‐ lungnahme zum Thema, die im Artikel Theater und Literatur (1914) prägnant formuliert wurde. Sowohl das Drama als auch der literarische Text verfügen über den Logos. Die Literatur sei die Kunst des sprachlichen Ausdrucks und deshalb falle sie mit dem Wort zusammen. Im Gegensatz dazu sei die Sprache nur ein nebensächliches Element des Dramas, das seine Vollendung erst in der unmittelbaren Handlung, in der Bewegung und Gestik sowie in der szenischen Ausstattung finde. Wenn man den künstlerischen Wert eines lyrischen oder epischen Werkes beim Lesen entdecke, entfalte sich hingegen die dramatische Kunst erst in der Aufführung. In Anlehnung an Hugo Dingers These, kontras‐ tierte Kutscher die schriftliche Form des Manuskripts mit der tatsächlichen Darstellung. Der ersten entsprach »im besten Falle die abstrakte Konzeption, die vorauskonstruierte und gedachte Erscheinung und Wirkung des Dramati‐ schen«, der zweiten das konkrete Spiel (1914: 1). In der dramatischen Aus‐ druckskunst seien der literarisch-schriftliche Teil und das schauspielerische Element gleichwertig. Wenn Dinger aber das Wort ‚Darstellung‘ benutzte, um die Dramatik von der sonstigen Literatur zu unterscheiden, bevorzugte Kutscher in der ersten Phase seiner theaterwissenschaftlichen Bemühungen den Begriff ‚Pantomime‘: Das Drama kann künstlerische Werte haben auch ohne Sprache, sei es nun, daß es seinem eigentlichen Ursprunge gemäß ganz Pantomime ist, sei es, daß es besondere, rein mimische Szenen enthält. Die Sprache bedeutet für das Drama im Verhältnis zur Pantomime eine stoffliche, inhaltliche Bereicherung und eine Erhöhung des Aus‐ drucks. (3) Teil III. Erste Entwicklungsphase 140 <?page no="141"?> 13 »Gerade das Dramatische wird bei der Lektüre Shakespeares nicht so stark wirken wie von der Bühne, - das Poetische in ihm gewiß« (1914: 4). Besonders lobenswert fand er demnach das »literaturrein[e]« Theater, in dem das Dichterische und die »Ausdrucksmittel der Bühne« dem Drama »ganze Entfaltung, letzte Form« einhauchen (4). Was über den dramatischen Aspekt eines Werkes entscheide sei daher sein Stil. Die innere Form eines Kunstwerkes könne lyrisch, episch oder dramatisch sein - Lyrik, Epik und Dramatik seien jeweils die unmittelbare, mittelbare und mimisch-spielerische Art des dichteri‐ schen Äußerns. Im letzten Fall beweise sich die dichterische Kraft im Dienste der Gestaltung und Vorführung von Situationen, Verhältnissen und Charak‐ teren. Als Beispiel für die höchste Dramatik, die das Mimische und das Dich‐ terische verband, zog Kutscher Shakespeare heran, 13 während Schnitzlers Der einsame Weg als Lesedrama zur Literatur eingeordnet wurde. Die poetische Dichtung übertraf hier die Pantomime, das Dramatische an sich: »Bei guter Darstellung in intimem Raume […] wird dies Schauspiel auch von der Bühne herab seine große Wirkung nicht verfehlen. Aber die letzten Schönheiten der Dichtung erschließen sich erst beim Lesen im stillen Kämmerlein« (5). Eine ähnliche Unterscheidung findet man schon in Kutschers Studie Hebbel und Grabbe (1913): Am Ende der Gegenüberstellung der zwei niedersächsischen Dramatiker, die danach strebte, die Stellung der Beiden in der Theatergeschichte zu klären ebenso wie ihre Leistungen zu würdigen, fasste Kutscher die Diffe‐ renzen zusammen, die Hebbels und Grabbes Produktion prägten. Die stilistische Differenz scheint hierzu die wesentliche zu sein: »Dramatisch ist der Stil Heb‐ bels« (153) und »Grabbes Stil ist epischer Art« (154). Was Kutscher damit meinte, sei anhand zweier Zitate erklärt. In der synthetischen Beschreibung von Hebbels Stil behauptete Kutscher: [e]ine lyrische Unterströmung lässt sich feststellen, die zwar so gross war, dass sie ihm künstlerisch dienen wurde, die aber doch eben als Unterströmung ihn nicht be‐ irren konnte in der Führung der Handlung, im Ausbau der Situationen, im Formen der Charaktere und ihres Ausdruckes. […] Er achtete darauf, dass das Räderwerk der Seele genau arbeitete und die Bewegung der Handlung mit zwingender Notwendigkeit betrieb. […] So kommt es, dass das Ganze seines Dramas sich klar und bedeutsam vor Augen stellt. (153) Grabbe sei umgekehrt unfähig, dem Geschehen und den Figuren seiner Stücke die innere Notwendigkeit zu verleihen, welche seine Kunstwerke durchgängig, lebendig und darstellbar machen würde: Sein Drama ist von starker Unmittelbarkeit, von poetischer Magie und dichterischem Schwunge, aber doch nur da, wo es eine Resonanz seiner Instinkte gibt. Grabbes Seele Das Problem einer umfassenden Theorie 141 <?page no="142"?> ist gedrückt, zerrissen, es mangelt ihm die Kraft zu dramatischer Durchbildung seiner Intuitionen. […] Diesem Schöpfer konnte das Ganze nur uneinheitlich geraten, und nur die Einzelheit wurde ihm lebendig. Seine Menschen kann er nicht verselbststän‐ digen und aus sich selbst heraus naturnotwendig handeln lassen. (Ebd.) Kutscher verwandte den Begriff ‚Mimus‘ erst nach dem Ersten Weltkrieg, was eindeutig beweist, dass die Ausdifferenzierung der theaterwissenschaftlichen Forschung zuerst von praktischen Aktivitäten sowie gewachsenen Gewohn‐ heiten und nur später von theoretischen Formulierungen vorangetrieben wurde. Die Forschungspraxis Das theatergeschichtliche Kolleg und die daran angeschlossenen Führungen und Aus‐ flüge gaben mir sehr viel und ich denke mit Freude und großer Dankbarkeit an die anregenden Stunden zurück, die ich dabei erlebte. Einen großen Teil meiner theatra‐ lischen Bildung verdanke ich jenem Kolleg und den klaren, übersichtlichen, mit zahl‐ reichem Anschauungsmaterial belegten und darum höchst überzeugenden Ausfüh‐ rungen Kutschers. ( Janaki Arnaudoff in Günther 1938: 191) Die ersten theaterwissenschaftlichen Vorlesungen fielen in Kutschers Karriere mit dem Start und der Durchführung paralleler Projekte zusammen. Diese um‐ fassten sowohl die Förderung der gegenwärtigen Literatur - oder Kunst im All‐ gemeinen - als auch das Experimentieren mit der mimischen und szenischen Gestaltung, mit der Schauspielkunst und mit der Regie. Das Ziel war die Wie‐ derentdeckung des künstlerischen Werts jeder dichterischen Form und, im Fall des Theaters, die Reformierung und Entwicklung der lebendigsten, uralten Aus‐ druckskunst, welche unterschiedliche Ausdrucksmittel harmonisieren sollte. Ein solches Vorhaben ergab sich als Produkt der Interaktion und des Gedan‐ kenaustausches vieler Künstler und Studenten, die mit Artur Kutscher in Mün‐ chen daran beteiligt waren, aus ihrer Epoche etwas „Außerordentliches“ zu er‐ schaffen. Andrea Bartl (2008) behandelt ausführlich den Dialog über das reformsüchtige Theater, den Kutscher mit Thomas Mann führte. Doch an diesem Dialog hatten fast alle Intellektuellen der Zeit teil und sie begrenzten sich nicht auf das Theater: Sie besprachen, modernisierten und rehabilitierten alle Kunst‐ gattungen, sogar die primitivsten wie die Passionsspiele und die vermeintlich niedrigsten wie der Zirkus, um damit die ganze Gesellschaft zu erneuern. Statt die Urheberschaft einzelner Ideen oder Vorschläge zu analysieren, scheint es also wichtiger, das Lernsystem zu betrachten, welches eine derartige Zirkulation und Verbreitung von Kenntnissen, Vorstellungen, Wahrnehmungsschemata und Teil III. Erste Entwicklungsphase 142 <?page no="143"?> 14 Hermann Wilhelm (1993) skizziert überzeugend die künstlerische Struktur der Stadt und erwähnt u. a. die „Gesellschaft für modernes Leben“, den „Akademisch-Dramati‐ schen Verein“ und später den „Neuen Verein“, „Die Dramatische Gesellschaft“, die Gruppen um die Zeitschriften Die Insel und Simplicissimus, den George-Kreis, die Stammtische am Café Größenwahn bzw. Wiener Café Stefanie, am Café Leopold, am Café Luitpold, an Der bunte Vogel, am Gasthaus Zum Goldenen Hirschen und in der Torggelstube, die Kegelgesellschaft „Unterströmung“, den „Münchner Bühnenklub“ (dazu gab es auch den „Verein süddeutscher Bühnenkünstler“), das theaterwissen‐ schaftliche Seminar Kutschers, die Künstlergesellschaft „Nebenregierung“, die Kultur‐ gemeinschaft „Das junge Krokodil“ und die „Gesellschaft der Münchner Bibliophilen“. Interpretationsmustern ermöglichte. In der kulturellen Geschichte Münchens vor dem ersten Weltkrieg erkennt man unterschiedliche Persönlichkeiten, Be‐ wegungen und Ansatzpunkte, die sich in Kreisen gruppieren lassen, welche ih‐ rerseits mehrere Überlappungen aufweisen. 14 Artur Kutscher wuchs in dieser gesellschaftlichen Wissensstruktur und war einer der bedeutendsten Wissen‐ schaftler, der ein Lernsystem einsetzen konnte, um das gemeinsame Wissen maßgeblich zu erweitern und effektiv anzuwenden. Seine theaterwissenschaft‐ liche Lerngemeinschaft nutzte die in anderen Vereinen schon vorhandenen Me‐ chanismen der Aufgabenerfüllung, der intellektuellen Auseinandersetzung, der Arbeitsverteilung sowie der Differenzierung der Mitgliedschaft aus und modi‐ fizierte sie gemäß ihrem Wissensgebiet, im Dienst ihres Vorhabens. Charakte‐ ristisch für die erste Phase des Kutscher-Kreises ist nämlich die enge Verknüp‐ fung von Literatur und Theater in der Tätigkeit seiner Mitglieder: Wenn das einerseits gegen die Begrenzung des Wissensbereiches und gegen die Trennung zwischen der CoP und anderen Gruppierungen wirkte, erprobte das andererseits verschiedene Forschungsmethoden, Inhalte und Repräsentationsmittel. Auf diese Weise bauten alle Mitglieder eine gemeinsame Basis für die Praxis aus, die sie mit ihrem Spezialwissen produktiv verknüpfen konnten. Kutscher übernahm offensichtlich die Verantwortung für die Erarbeitung der gemeinsamen Praxis, indem er die wissenschaftliche Beschäftigung seines Kreises um drei Entwick‐ lungslinien herum organisierte. Erstens verband der Theaterprofessor die the‐ oretische Untersuchung mit praktischer Arbeit; zweitens richtete er Gesell‐ schaften und Organisationen ein, die als Satelliten zur Theaterwissenschaft wirkten und geeignete Austauschmethoden für die Gemeinschaftsmitglieder festlegten; drittens etablierte er das Prinzip der Gegenseitigkeit: Die Reziprozität ließ Beziehungen zwischen Theatermenschen, Dichtern und Studenten ent‐ stehen, unterschiedliche Generationen und Vorstellungen begegnen und ge‐ genseitiges Vertrauen aufbauen. Dadurch konnte das zusammen angehäufte Wissen neu definiert werden. Die Forschungspraxis 143 <?page no="144"?> 15 Insbesondere Bühnenmodelle, Kunstblätter, Büsten, Abbildungen, Diapositive und Sprechplatten. 16 Die Clara-Ziegler-Stiftung trat erst am 19. Juni 1910 durch königliches Dekret in Kraft, das Museum wurde am 24. Juni eröffnet. Der erste wissenschaftliche Leiter war Franz Rapp, der im Museum seine eigenen Seminare und Vorlesungen hielt. Nach dem ersten Weltkrieg waren es Bühnenvereine und -genossenschaften, welche dem Museum erste Hilfe leisteten. Am 1. August 1922 übernahm der bayerische Staat die Verwaltung des Museums. Wegen seiner jüdischen Herkunft wurde Franz Rapp im Oktober 1935 amts‐ enthoben. Vgl. Hollweck 1980: 93. Im Seminarraum und im Theatermuseum Die erste Strategie der theaterwissenschaftlichen Forschungspraxis betraf also die Verbindung von theatergeschichtlicher sowie stilkundlicher Lehre und di‐ rekter Anwendung der erworbenen Kenntnisse. Im Unterricht verwandte Kut‐ scher alle Materialen und Instrumente, die damals für die Veranschaulichung von theaterhistorischen Gegebenheiten, Tendenzen, Techniken oder Problemen zur Verfügung standen. 15 Auch in seiner Einführung in die Theaterwissenschaft erwähnte Kutscher die Wichtigkeit von Lichtbildern und episkopischen Vor‐ führungen, preiste die Modell- und Bildmaterialsammlungen sowie die »Museen für Anschauungs- und Erinnerungsgegenstände« und förderte den Besuch von deutschen und ausländischen Theatermuseen (1936: 180). Das erste deutsche Theatermuseum im Haus Clara Zieglers bot aber der Münchner Theaterwis‐ senschaft offensichtlich den größten Vorteil. Das gerade 1910 durch Clara Zieg‐ lers Testament gegründete Museum wurde direkt von Kutscher und seinen Stu‐ denten genutzt: Die Lerngemeinschaft besuchte sowohl die vierräumige Bibliothek mit etwa 30 000 Bänden als auch die sieben Räume voll von Abbil‐ dungen (ca. 2 000), Originalszenen-Entwürfen, graphischen Szenenbildern und Figurinen (ca. 1 000), fotografischen Szenenbildern (ca. 1 000) und Bildnissen (ca. 3 000). Dazu befanden sich auch ein Lichtbilderapparat, etwa 300 Bühnenmo‐ delle, ein Kinoprojektor sowie etwa 300 Diapositive. 16 Aus einem Bericht vom Jahr 1925 erfährt man, dass das Münchner Theatermuseum jedes Semester aus‐ schließlich von Theaterpraktikern bzw. Dramaturgen, Regisseuren und Büh‐ nentechnikern benutzt wurde, »um die Vorlesungen der Universitätslehrer zu ergänzen«. Die Vorlesungen hielten Kutscher und Borcherdt - ab 1926 Leiter des Münchner „Instituts für Theatergeschichte“ - im Großen Saal (100 Sitz‐ plätze), die Übungen fanden hingegen im Lesezimmer der Bibliothek statt (Pfeiffer Belli 1925: 3). Die theoretisch-spekulative Vorbereitung brachte den Mitgliedern des thea‐ terwissenschaftlichen Kurses ein gemeinsames Verständnis der Grundbegriffe und der Probleme der Disziplin bei: Auf diese Weise konnte man die interne Teil III. Erste Entwicklungsphase 144 <?page no="145"?> Debatte immer unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchten, eine kompe‐ tente Kunstbeurteilung erstellen und die direkte, bewusste Mitwirkung am the‐ atralischen Leben sicherstellen. Anders gesagt diente die Unterrichtstätigkeit primär dem Zweck, in den Kursteilnehmern das Bewusstsein zu entwickeln, Mitglieder einer Kerngruppe zu sein, die ein gemeinsames Wissen bewahrte. Diese Gemeinschaft hätte sich dann zu einem größeren Netzwerk entwickeln und somit das Theater, ja die Kunst selbst an die Bedürfnisse, an die Wünsche der modernen Gesellschaft anpassen können. Umgekehrt hätte sich die Gesell‐ schaft von der reformierten Kunst leiten lassen, um neue Anregungen zu finden. Die „moderne Gesellschaft“ war selbstverständlich ein Konstrukt, ein embryo‐ nales Weltbild, das den Brennpunkt der ästhetischen und theaterwissenschaft‐ lichen Auseinandersetzungen bzw. der gemeinsamen Vision der CoP bildete. Kutscher bemühte sich also darum, noch vor der effektiven Beteiligung den Partizipationsmechanismus der Vorstellung zu verstärken. Wengers Theorie besagt, die Vorstellung benötige die Fähigkeit zum Erforschern, also eine Art Offenheit gegenüber dem direkten Engagement, wenn man sie in Bezug auf die Partizipation betrachtet. Hinsichtlich der Verdinglichung benötige sie indessen Materialien, mit denen sie schaffen kann: »Reification can provide tools of ima‐ gination - maps, visualization, stories, simulations - tools to see patterns in time and space that are not perceivable through local engagement. It can also provide a language: new words to talk about one’s place in the world« (Wenger 1998: 186). Diese neue Sprache musste dann alsbald durch empirische Feldarbeit an‐ gewandt werden. Aus den Büchern sowie aus den Bildern könne man wider‐ sprechende Anschauungen gewinnen oder wirklichkeitsferne Bilder gestalten, die erst durch Betrachtung und unmittelbare Partizipation zu ersetzen seien. Die theaterwissenschaftlichen Veranstaltungen boten demzufolge Beurteilungs- und Handlungsschemata dar, die in Kontakt mit dem gegenwärtigen, konkreten Theater überprüft werden sollten. Wie Wehner, Clases und Endres erörtern: Die eingesetzten Medien und Werkzeuge sind als Orte des Wissens zu verstehen, die keineswegs selbsterklärenden Charakter haben, sondern selbst wiederum interpreta‐ tionsbedürftig sind. So entstehen im Kontext von Praxisgemeinschaften Interpretati‐ onsmuster, die für die an ihr Beteiligten eine orientierungsleitende Funktion über‐ nehmen. (1996: 79) Kutscher erkannte die Bedeutung des Studiums der Geschichte - sei es Thea‐ tergeschichte, Kunstgeschichte, Kulturgeschichte oder Geschichte im Allge‐ meinen - und der Ästhetik, weil beide den Forschern »im Grunde zu einer hö‐ heren Lebendigkeit und Gegenwärtigkeit« verhelfen (1936: 202 f.). Doch 1924 erklärte er öffentlich, die Theaterwissenschaft habe nicht vor, durch das Wissen Die Forschungspraxis 145 <?page no="146"?> 17 Siehe dazu Niessen 1924, Satori-Neumann 1925a. 18 Die angekündigte Vorlesung war „Einführung in die Bühnenkunde“. die praktische Erfahrung zu ersetzen, sondern sie zu bereichern. Die wissen‐ schaftliche Disziplin solle einen soliden Sachverstand vermitteln, der aus einem theatergeschichtlichen und stilkundlichen Teil wie aus einem technischen und praktischen Teil bestehe. Als Stellungnahme zu Knudsens Aufsatz Die Aufgaben des Theaterwissenschaftlichen Universitäts-Institutes und seine Bedeutung für das lebendige Theater verfasste Kutscher einen kleinen Artikel, in dem die folgende Darlegung des von ihm geleiteten theaterwissenschaftlichen Lehrgangs zu lesen ist: Zum Lehrbetrieb gehört Bühnenkunde, Besuch von Proben, Ansetzen spezieller Lehr‐ proben in verschiedenen Theatern, Veranstaltung eigener Aufführungen zur Erörte‐ rung des Mimischen und zu Zwecken stilistischer Klärung, möglichst auch einer ei‐ genen Probebühne, gehört das Vorhandensein einer Modellbühne zur Vorführung von Beleuchtungs- und Dekorationsproblemen in Miniatur, die Anregung zu Zeichnungen und Entwürfen für die Bühne, endlich Vorträge von Fachleuten des Schauspieltums, Dramaturgie, Regie, Technik, Kritik, bildende Kunst, Architektur, Theaterleitung und Organisation, Erörterung auch juristischer und sozialer Theaterfragen. (1924 in Baden-Badener Bühnenblatt) Als erstes Bindeglied zwischen der Universität und dem aufgeführten Theater galten also sowohl die fachmännischen Mitarbeiter als auch die „Übungen in dramatischer Kritik“. Die Struktur des theaterwissenschaftlichen Kurses Wegen des Umfangs des Gebietes ‚Theater‘ und wegen des starken Verlangens nach technischer Expertise bediente sich Kutscher verschiedener Fachleute - ein Gebrauch, der auch an anderen theaterwissenschaftlichen Instituten be‐ stand 17 . Die ersten Nachweise der von Theaterleuten abgehaltenen Vorträge oder geleiteten Übungen stammen aus den 1920er Jahren. In Eduard Gudenraths Übersicht über die Tätigkeit von Kutschers Seminar im Wintersemester 1924 / 25 liest man: »Vorträge außer der Reihe gaben: 18 Oberregierungsrat Heydel „Künstlerische Theaterleitung“; Oberregisseur Stieler „Regie“; Prof. Adolf Lin‐ nebach und Leo Pasetti hatten wiederholt Originalentwürfe zur Verfügung ge‐ stellt« (1925: 56). Als Wolfgang Hoffmann-Harnisch, damals Oberspielleiter in Stuttgart, im Winter 1925 nach München zu drei Vorstellungen eingeladen wurde, verabredete er sich mit Kutscher für einen Vortrag vor den Studenten der Theaterwissenschaft. In einem Brief vom 23. November fragte Hoff‐ Teil III. Erste Entwicklungsphase 146 <?page no="147"?> 19 Im März 1926 versuchte Kutscher zum Beispiel, den ungarischen Politiker und Univer‐ sitätsprofessor Josef Bleyer für einen Vortrag in seinem theaterwissenschaftlichen Kolleg zu gewinnen. Wegen akademischen Verpflichtungen konnte Bleyer aber nicht kommen und empfahl indessen Dr. Gaki für das Kolleg - ein Literaturhistoriker, der über das ausländische Theater gut berichten konnte. Vgl. DLA, A: Kutscher 57.4297. 20 Der Leiter des Seminars für Englische Philologie hatte Kutscher schon 1926 öffentlich angeklagt, wie es im Folgenden beschrieben wird. mann-Harnisch nach dem von Kutscher gewünschten Thema und nach der Höhe seines Honorars. Dazu schrieb er: Vielleicht könnten Sie mich, um meine Anwesenheit recht auszunutzen, auch am Vormittage zweimal zwei Stunden über die Entstehung einer Inszenierung mit prak‐ tischen Beispielen sprechen lassen. Ich würde vorschlagen, dass Ihre Schüler bis zu diesem Tage jeder Heinrich der Vierten von Shakespeare gelesen haben und dass ich nun in zweimal zweistündigen Vortrag entwickele, wie zuerst der Aufführungsplan, dann die Dekoration, dann das Regiebuch und schliesslich die Inszenierung selber entsteht. Ich könnte mit Kreide an der Tafel und Rezitation und Vorspielen geeigneter Stellen den Schülern recht viele Einblicke gewähren. Sie würden mich dann gewis‐ sermassen viermal auftreten lassen und dadurch meine Anwesenheit ausgiebiger aus‐ nutzen als wenn das sonst der Fall wäre. Der von Ihnen gewünschte leichtere Vortrag könnte vielleicht „Spielplangestaltung und Personalpolitik“ lauten, der schwerere und grössere dann „die Ästhetik der Regie“. (DLA, A: Kutscher 57.4761 / 3) Also waren es manchmal die Fachexperten selbst, die sich für einen oder meh‐ rere Vorträge anboten - und der Theaterprofessor wusste die Gelegenheit zu nutzen. Manchmal war es hingegen Kutscher, der berühmte Theaterforscher oder -praktiker in sein Seminar einlud. 19 Auch wenn die Mitarbeit von Fach‐ leuten erst nach dem Krieg nachgewiesen ist, kann man gleichwohl vermuten, dass diese Kooperation schon um 1910 zu den theaterwissenschaftlichen Vor‐ lesungen Kutschers gehörte. Es ist Kutscher selbst, der einen Beleg dafür bringt: Im Wintersemester 1929 / 30 hielt Oberregisseur Kurt Stieler praktische Regie-Übungen ab, was Max Förster dem Theaterprofessor nicht verzeihen wollte. 20 Am 25. Oktober 1929 bat er den Dekan der Philosophischen Fakultät darum zu verifizieren, ob Kutscher die Genehmigung der Fakultät erhalten habe, um einen nicht-habilitierten Mitarbeiter als Lehrkraft zum Unterricht heranzu‐ ziehen ( UAM , O- XIV -508). Kutscher erwiderte darauf: Ich habe schon seit über zehn Jahren Herren wie Oberregierungsrat Heydel, Akade‐ miedirektor v. Waltershausen, Oberregisseur Stieler, Staatsschauspieler Ulmer, Prof. Emil Pretorius, Prof. Fritz Erler, Prof. Ferdinand Gregori, die Intendanten Martersteig und Stury zu Übungen, Vorträgen und Referaten herangezogen, was seitdem alle the‐ aterwissenschaftlichen Institute aus Gründen der ergänzenden fachmännischen Be‐ Die Forschungspraxis 147 <?page no="148"?> 21 Am 25. Juni 1917 schlug Kutscher beispielsweise Magdalena Janssen vor, eine Sonder‐ aufführung im Theater der Sollner Puppenspiele für sein Seminar zu veranstalten (Mo‐ nacensia, MJ B 48 2023 / 76). Am 26. November 1925 bekam er hingegen von Paul Brann, Begründer und Gesamtleiter des Marionetten-Theaters Münchner Künstler, den fol‐ genden Vorschlag: »Ich würde für Ihre Studenten evtl. eine Abendvorstellung geben und zwar wäre ich bereit den 11. Dezember dafür anzusetzen, wenn es sich ermöglichen liesse ehestens die Teilnehmerzahl festzustellen. Den Eintrittspreis würde ich für Sitz‐ plätze einheitlich auf Mk. 1.- ermässigen« (DLA, A: Kutscher 57.4337). lehrung für notwendig finden. Beanstandet ist bislang dieser Brauch nie. (1. November 1929 an den Dekan der Philosophischen Fakultät I. Sektion, Ebd.) Die Genehmigung wurde dann am 18. November offiziell erteilt. Ein Jahr später organisierte Kutscher zum ersten Mal die Oberkursübung „Die Elemente des Theaters“, die er zusammen mit Stieler und dem Obermaschinendirektor Fried‐ rich Kranich leitete. Die von Kutscher im theaterwissenschaftlichen Lehrgang gehaltenen Übungen trugen unterschiedliche Namen, wie z. B. „Übungen über Theater- und Bühnenprobleme unserer Zeit“ (1911) oder „Übungen über moderne Theater‐ probleme an Hand des Spielplans unserer Münchener Bühnen“ (1912), doch handelte es sich immer um „praktische Theaterkritik“, die an gegenwärtigen Theateraufführungen ausgeübt wurde. Eine solche Tätigkeit brauchte einerseits Kontakte zu Intendanten und Regisseuren, die ermäßigte Theaterkarten für die Kursmitglieder zur Verfügung stellten oder sogar Sonderaufführungen für Kut‐ schers Seminar veranstalten, 21 andererseits eine Gruppe anhänglicher Theater‐ interessierten, die bei der Diskussion über Aufführungen unterschiedlicher Art bereitwillig mitmachte. Dazu erklärte Kutscher selbst, die Übungen in prakti‐ scher Theaterkritik seien »für einen größeren Kreis von Interessenten be‐ stimmt« (1923 / 24: 145). Der Ablauf dieser Übungen war immer derselbe: Nach dem gemeinsamen Premierenbesuch mussten die Studenten des Oberkurses noch vor Mitternacht - jeder für sich - ihre an den Professor adressierten Re‐ zensionen in den Briefkasten werfen, um nicht irgendwelcher Beeinflussung durch die Morgenzeitung zu erliegen. Am darauffolgenden Morgen las der The‐ aterprofessor im Seminar die eingegangenen Kritiken als Anlass zum Mei‐ nungsaustausch. Die Bewertungen der jeweiligen Referenten wurden immer durch ein Koreferat ergänzt und am Ende der Unterrichtsstunde fügte Kutscher eine Schlussbetrachtung an. Hugo Hartung konnte sich an seiner ersten Nacht‐ kritik »in einer späten Oktobernacht des Jahres 1924« gut erinnern. Er hatte die Premiere von Strindbergs Karl XII in der Inszenierung Falckenbergs an den Kammerspielen gesehen und in derselben Nacht seine Rezension verfasst, ohne professionelle Kritiken gelesen zu haben: »Schon im nächsten Oberkurs wurde Teil III. Erste Entwicklungsphase 148 <?page no="149"?> 22 Als Schluss dieser Episode von Reinkings Leben muss man erwähnen, dass Stahl nach jener zufälligen Begegnung Reinking dem Intendanten der Bayerischen Landesbühne, H. K. Strohm, empfahl. Der Theaterstudent bekam dadurch seine erste Arbeit. sie den noch kritischeren Mitkutscherianern zum Fraße und zur Diskussion vorgeworfen. Das Verfahren war hart, aber wirksam« (1966: 165). In Kutschers Worten war das Ziel solcher Übungen nicht das persönliche Kunsturteil der Studenten, sondern »die Einweihung in die Voraussetzungen und Möglichkeiten des Theaters« (1936: 207). Schon seit dem Wintersemester 1910 / 11 veranstaltete Kutscher auch Übungen zu Dramaturgie und Regie, in denen die Studierenden eigene Ent‐ würfe - so etwa Zeichnungen, graphische Darstellungen und Skizzen - schaffen mussten (Ebd.). Eine eingehende Erzählung über solche Übungen verdankt man Wilhelm Reinking: Kutscher hielt in diesem Semester [WiSe 1922 / 23, C. M. B.] unter großer Beteiligung im Auditorium maximum Übungen in praktischer Theaterkritik ab. Eine äußerst amüsante Veranstaltung für junge und alte Theaterfreunde. Man mußte schon früh‐ zeitig kommen, wenn man einen Sitzplatz haben wollte. Viele saßen auf den Stufen des Auditoriums oder standen an den Wänden. Kutscher sprach sehr anregend, poin‐ tiert und witzig. Hier lernte ich eine Reihe von Studenten der Theaterwissenschaft und der Germanistik kennen. Ich begann, durch viele Diskussionen angeregt, mich mit Theaterbau und dem praktischen Theater ernsthaft zu beschäftigen, besonders auch mit der Oper. (1979: 41) In dieser Zeit übernahm eine Freundin, die mich in den Kutscherkreis eingeführt hatte, ein Referat über das Kaffeehaus von Goldoni, das in den Kammerspielen […] aufge‐ führt wurde. Ich hörte es mir natürlich an, und als Kutscher am Ende der Vorlesung neue Referate verteilte, hob ich, fast gegen meinen Willen, den Finger und erhielt das Co-Referat über die Aufführungen des Russisch-Romantischen Theaters von Boris Romanoff, einer hervorragenden Balletttruppe, die jeden Abend im Deutschen The‐ ater auftrat. Ich verstand von Ballett damals noch herzlich wenig, und das Referat, das ich einige Wochen später im Auditorium maximum hielt, kann nicht anders als prä‐ potent gewesen sein; ich hatte aber über die Hälfte der mir zur Verfügung gestellten Zeit über die Dekoration gesprochen, von der ich etwas mehr zu verstehen glaubte. […] Der Beifall war gewaltig, Kutscher schmunzelte, viele gratulierten mich, darunter der Dramaturg des Staatstheaters, Ernst Leopold Stahl. (1979: 42 f.) Aus der Erzählung erfährt man, dass Kutschers Seminar nicht nur quantitativ gut belegt war: Zu den Anwesenden gehörten auch Prominente des Theater‐ betriebs und der Münchner Bohème. 22 Diese Eigenschaft teilten die theaterwis‐ senschaftlichen Übungen Kutschers mit dessen Übungen für literarische Kritik. Bevor man sich aber mit Kutschers literarischem Seminar beschäftigt, welches Die Forschungspraxis 149 <?page no="150"?> 23 Unter „Kunstwissenschaft“ verstand Kutscher das historische, stilkundliche und prak‐ tische Studium der Archäologie, der Bildkünste und der Architektur. 24 Als 1926 die Theaterwissenschaft in München nicht ganz selbständig auftreten konnte, forderte Kutscher eine Angliederung der Disziplin an die Kunstwissenschaften. Noch heute gehört der Studiengang Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Uni‐ versität zum Department Kunstwissenschaften. das theaterwissenschaftliche ständig überschnitt, muss man die weiteren di‐ rekten Verbindungspunkte berücksichtigen, welche die Lerngemeinschaft mit dem konkreten Theater schuf. Außerhalb des Universitätsgebäudes Als „Feldarbeit“ in der Münchner Theaterwissenschaft kann man Führungen vor Ort, Exkursionen und Theateraufführungen der Studierenden bezeichnen. Der theaterwissenschaftliche Kurs Kutschers besichtigte regelmäßig nicht nur Theater und Opernhäuser, sondern auch Museen unterschiedlicher Ausrich‐ tung, graphische Sammlungen, Gemäldegalerien, Glyptotheken und Kupfer‐ stichkabinette. Der Veranschaulichung diente auch »die Besichtigung von Ate‐ liers, Industrien, Fabriken, von Schulen für Tanz und Schauspiel mit Erklärungen und praktischen Vorführungen« (Kutscher 1936: 205). Kutschers präzise Be‐ schreibung solcher Führungen bringt die Rolle zum Vorschein, die der Theater‐ professor der Kunstwissenschaft 23 und der Musikwissenschaft zuschrieb. Er war der Überzeugung, die Forschung über bildende Kunst, Musik und Theater solle parallel betrieben werden, weil diese Kunstformen vielfältige Beziehungen und Berührungspunkte haben. Kunstwissenschaft und Musikwissenschaft stellten für Kutscher die Hilfdisziplinen der Theaterwissenschaft dar. 24 Die Führungen konnten nur einige Stunden dauern oder Bestandteil mehrtägiger Exkursionen sein. Studienfahrten gehörten für Kutscher zum Lehrgang der Theaterwissen‐ schaft und wurden bald zur bevorzugten Aktivität im Prozess des gemeinsamen Lernens. Am 1. Mai 1910 wurde die erste Lehrfahrt für den theaterwissenschaft‐ lichen Oberkurs organisiert, um dem Passionsspiel in Oberammergau beizu‐ wohnen. Kutschers Gruppe hätte es auch in einem einzigen Tag geschafft, die Aufführung zu sehen, doch ein oberflächiger, flüchtiger Besuch mit erschöpften Studenten entsprach keineswegs Kutschers Vorstellung. Nach der intensiven Vorbereitung zur Passion im Seminarraum aus einer historischen und kulturellen Perspektive, fuhr der Oberkurs am Vortag nach Oberammergau, um Zeit genug zu haben, »den Ort und seine nähere Umgebung anzusehen und auf den Straßen die langhaarigen Männer und Knaben zu bewundern« (Kutscher 1960: 87). Während der Mittagspause mitten im Spiel hatte Kutschers Gruppe Teil III. Erste Entwicklungsphase 150 <?page no="151"?> 25 Wie z. B. die Leonhardifahrt in Bad Tölz, die Kutschers Studenten zum ersten Mal am 6. November 1912 besuchten. Eine vollständige Liste der Exkursionen des theaterwis‐ senschaftlichen Oberkurses bis zum SoSe 1938 befindet sich in Günther 1938: 324- 328. 26 Nach Günther Erzählung deuteten Kutschers Schülern »de[m] Meister immer wieder Ursprung und Wesen des Theaters aus dem Mimus« (1957: 67). die Erlaubnis, »unter fachmännischer Führung« alles zu beobachten, was hinter der Aufführung stand (88). Nach der Aufführung gab der Theaterprofessor eine abschließende Bemerkung; die Debatte über die besuchte Aufführung ging dann in den danach folgenden Übungen an der Universität weiter. Häufige Ziele der theaterwissenschaftlichen Exkursionen, die jährlich zweimal oder dreimal durchgeführt wurden, waren Passionsspiele in Bayern und Tirol - etwa in Erl, Brixlegg, Waal, Vorderthiersee oder Sankt Radegund. Dazu wurden noch dörf‐ ische Spiele, Prozessionen, 25 Schäferspiele, Bauernstücke, Ritterschauspiele, Volks- und Tänzelfeste in Betracht gezogen. Neben den Ausflügen in die Um‐ gebung Münchens nahm die theaterwissenschaftliche Lerngemeinschaft an Lehrfahrten in größere Theaterstädte des deutschsprachigen Gebiets teil. Die erste fuhr im Dezember 1910 nach Berlin, wo der Oberkurs die Theaterausstel‐ lung besichtigte. Berlin blieb ein beliebtes Ziel der Kutscher-Exkursionen, weil die Gruppe der Studierenden dort immer die Möglichkeit hatte, Reinhardts und Jessners Regiearbeit aus der Nähe zu betrachten sowie das „Theaterwissen‐ schaftliche Institut an der Universität Berlin“, die vielen Museen der Stadt und seit den 1920er Jahren die Ateliers der UFA anzusehen. Fast jedes Semester or‐ ganisierte Kutscher eine Exkursion nach Salzburg, wo seine Studenten eigene Theaterspiele veranstalteten, oder eine Exkursion nach Stuttgart - eine Stadt, die immer »etwas Neues zu sehen« anbot, wie die von Max Littmann erbauten Häuser der zwei Landestheater, das Ludwigsburger Schloss mit seinem kleinen Theater oder das Völkerkundemuseum (98). Auch andere Studienreisen hatten für Kutscher-Schüler eine besondere Bedeutung, weil die Gruppe dadurch pro‐ minente Persönlichkeiten der deutschen Theaterszene kennen lernte und sich von diesen belehren ließ. In Bayreuth kamen die Exkursionsteilnehmer anläss‐ lich der Besichtigung des Festspielhauses mit Siegfried Wagner in Kontakt und beobachteten ihn auch in Karlsruhe bei der Probe zu einer Oper. In Frankfurt begegneten sie Richard Weichert, der als Intendant und Regisseur über seine Auffassung des Theaterstils der Zeit redete, in Düsseldorf wurden sie Louise Dumont vorgestellt, die Kutscher schon im Jahr 1917 kennengelernt hatte. In Mannheim kam es zum Austausch mit Carl Zuckmayer, 26 in Wiesbaden zeigte Carl Hagemann selbst Kutschers Oberkurs die Maschinerie des Staatstheaters Die Forschungspraxis 151 <?page no="152"?> 27 Über die Beziehung zwischen Hagemann und Kutscher sei es nur angemerkt, dass Ha‐ gemanns Neffe, Hans-Jürgen Bengsch, 1951 mit der Arbeit Carl Hagemann und die Sze‐ nenreform der Schauspielbühne bei Kutscher promovierte. vor 27 . In Köln konnte der Theaterprofessor stets über die Hilfe Carl Niessens verfügen, der die Münchner Studenten durch seine Theatersammlung be‐ gleitete. Da Kutschers Gruppe 1925 in Weimar wegen Verspätungen im Brief‐ wechsel mit Oskar Schlemmer das Bauhaus nicht besichtigen konnte ( DLA , A: Kutscher 57.5203/ 1), versuchte es der Professor 1927 wieder, dieses Mal in Dessau. In einem Brief vom 21. Februar 1927 an Artur Kutscher schrieb Schlemmer: Sehr verehrter Herr Professor, / besten Dank für Ihre schätzenswerten Mitteilungen. / Ihr geplantes Programm wird sich, so wie Sie es sich wünschen, hier durchführen lassen. Mit Herrn Dramaturg Gressieker werde ich in Verbindung bleiben. Leider haben Sie keinen Abend frei, ich hoffe aber, dass es sich ermöglichen lässt, doch auf der kleinen Bühne unseres Hauses Ihnen und Ihren Herren Studenten einen freilich knapp gefassten Einblick in unsere Bühnenbestrebungen zu geben. Wir sind hier noch ganz am Anfang, haben aber immerhin, was wir in Weimar nicht hatten, eine wenn auch kleine, bescheiden eingerichtete Bühne. Mein triadisches Ballett wird jedoch leider nicht zu sehen sein. Ich hoffe also, Ihnen den Besuch bei uns lohnend und anregend zu gestalten. Die gewünschte Führung am Vormittag übernehme ich mit Vergnügen. / Ich begrüsse Sie unterdessen, sehr verehrter Herr Professor, mit bester Empfehlung als Ihr sehr ergebener / Oskar Schlemmer. Die Exkursion nach Dessau war durchaus erfolgreich und Herbert Günther er‐ innerte sich daran, dass Oskar Schlemmer den Schülern »seine konstruktiven Bühnenversuche mit Marionettentheater und Ballett« vorführte (1957: 131). Bis zum Jahr 1924 traute sich das theaterwissenschaftliche Seminar Kutschers al‐ lerdings nicht, ins Ausland zu fahren. Die Theaterstudienfahrten hatten eine doppelte wissenschaftliche Relevanz: Zum einen dienten sie, wie gerade gesehen, der Annäherung an unterschiedliche kulturelle Aufführungen, die sich nicht in der Inszenierung eines Textes oder einer Choreografie erschöpften, sondern mehrere künstlerische sowie kulturelle Elemente umfassten. Zum anderen förderten die Exkursionen das Beisammen‐ sein und das gemeinsame Lernen. Sie profilierten sich als der Motor der Lern‐ struktur der theaterwissenschaftlichen CoP, weil sie den Koordinator und die Mitglieder zusammen zum Mitmachen zwangen, um aus der geteilten Praxis das Beste bzw. das Nützlichste zu gewinnen. Das Nützlichste war in dem Fall eine Art Tuchfühlung mit dem breiten Phänomen ‚Theater‘, die innere Verbunden‐ heit mit den anderen Mitgliedern und letztlich die Fähigkeit, die eigene Beteili‐ gung an der Kunst, ja an der Welt als bedeutungsvoll wahrzunehmen. Diese Teil III. Erste Entwicklungsphase 152 <?page no="153"?> Eigenschaften verbanden sich dann mit der Entwicklung der Einzelidentität der Teilnehmer. In Wengers Lerntheorie ist die Einzelidentität »a way of talking about how learning changes who we are and creates personal histories of be‐ coming in the context of our communities« (1998: 4). In den Exkursionen wie in den theaterkritischen Übungen kamen also alle vier Bestandteile vor, die das Lernen als einen Vorgang sozialer Partizipation charakterisieren. Da die Kunst‐ pflege für Kutscher der Kameradschaftspflege beigesellt war, sah er ein Konti‐ nuum zwischen der wissenschaftlichen Forschung und dem Aufbau oder der Intensivierung persönlicher Beziehungen. Während der Studienreisen blieb immer Zeit für das gemeinsame Essen und Trinken sowie für die Unterhaltung mit alten Freunden, Bekannten oder ehemaligen Schülern. Abends saß der the‐ aterwissenschaftliche Oberkurs in Berlin oft mit Walter von Molo und Hermann Reich zusammen, in Köln mit Max Martensteig, Carl Niessen und Ernst Martin. Im Winter ging der Kutscher-Kreis Skilaufen nach Ehrwald (Günther 1957: 70) und jeden Sommer wurde eine Exkursion in die Berge organisiert, die nicht unbedingt mit Theateruntersuchungen zu tun hatte. Aus einer Rippe des wan‐ dernden theaterwissenschaftlichen Oberkurses wurde die „Wanderbühne Mün‐ chener Akademiker“ 1920 erschaffen. Die Mitglieder waren fast dieselben und das Vorhaben war auch ähnlich: durch praktische Arbeit und Theaterfahrten dem Theater näher zu kommen - so in der Erinnerung von Ines Schmid-Jürgens, Frau des Intendanten Egon Schmid, beide Kutscher-Schüler (in Günther 1938: 301). Immer wieder wurde Hans Sachs von den Studenten Kutschers gespielt und 1922 begründete Egon Schmid die Volksfestspiele auf der Festung Hohen‐ twiel. Zunächst konzentrierte sich die Aktivität der Wanderbühne in Bayern, dann wurde sie in den 1930er Jahren auch auf Norddeutschland erweitert. Auch in der Wahl der besuchten Orte glich die Wanderbühne den Theaterexkursionen Kutschers und die Teilnehmer beider Gruppen waren eng verbunden. Ein Gefühl von Zusammengehörigkeit konnten die Kommilitonen und später Kollegen, die einmal zum Kutscher-Kreis gehört hatten, lebenslang spüren. Die Aufführungen des Kutscher-Kreises Die Erkenntnis, dass die Jugend unmittelbar künstlerisch betätigt werden sollte, um an der soziokulturellen Erneuerung maßgebend mitzuwirken, hatte sich in Kutschers Bewusstsein schon seit der Zeit seiner Teilnahme am „Akade‐ misch-Dramatischen Verein“ festgesetzt. Demzufolge förderte der Theaterpro‐ fessor seine Schüler, eigene Theateraufführungen zu realisieren. Mit der Insze‐ nierung beliebiger Stücke hätten die Studenten die Ausdruckskunst der Bühne direkt erfahren und dazu die gemeinsame Praxis bereichert. Das ständige Ex‐ Die Forschungspraxis 153 <?page no="154"?> 28 Schon 1925 betonte Kutscher, dass die Lehraufführungen »im Dienste stilkritischer Er‐ örterungen« standen (58). 29 Der Ort der Aufführung ist besonders bemerkenswert, weil gerade das Hotel Union der Treffpunkt der Autorenabende des literarischen Seminars von Artur Kutscher war. Schon hier erkennt man eine Überlappung der Aktivitäten und Örtlichkeiten der Teil‐ gruppen der Münchner theaterwissenschaftlichen Lerngemeinschaft. 30 Bezüglich der Theaterexperimente des Kutscher-Kreises betont Andrea Bartl zu Recht, der Theaterprofessor nehme »programmatisch ältere, vergessene Dramen auf den Spielplan« und stelle sie »versuchsweise in einen naturnahen Bühnenraum« (2008: 73). perimentieren mit den Elementen des Theaters brachte tatsächlich in der thea‐ terwissenschaftlichen Lerngemeinschaft immer neue Diskurse, Perspektiven, Artefakte, Problematiken und Lösungen hervor, welche durch eine intensive Bedeutungsaushandlung den kollektiven Lernprozess genauso wie die indivi‐ duelle Identitätsentwicklung unterstützten. Ab 1911 gehörten studentische Auf‐ führungen zur Tradition des Kutscher-Kreises, und zwar gehörten sie zum ge‐ pflegten Repertoire der CoP. Mit dem Professor wurde nur die Auswahl des Stückes besprochen, während die ganze Organisation und Durchführung des theatralischen Experiments in den Händen der Studenten lag. In seiner Auto‐ biographie behauptete Kutscher, er selbst habe ab 1912 die Regie der Studen‐ tenaufführungen geführt (1960: 85), aber Eduard Gudenrath präzisierte, der Professor habe trotz der Oberleitung »im ganzen […] den regieführenden Stu‐ denten größtmögliche Freiheit gewährt« (1925: 57). Ziel solcher Aufführungen war es erstens, durch die prononcierte Betonung ihres stilkundlichen Experi‐ ment-Charakters »die darstellerischen Forderungen gewisser Rollen, Szenen, Stücke, Bühnenformen - Spiel im Freilicht - zu erkennen« (Kutscher 1936: 209); 28 zweitens bezweckten die studentischen Laienspiele die Wiederentde‐ ckung älterer dramatischer Werke, die Entdeckung noch nicht aufgeführter Stücke oder die Erfindung neuer Dramaturgien. Kutscher selbst erzählte, dass der theaterwissenschaftliche Kurs in München weder eine Probebühne noch Berufskräfte für die Inszenierung zur Verfügung hatte (Ebd.). Die erste Se‐ mester-Lehraufführung des Kutscher-Kreises war eine scherzhafte Panto‐ mime - Die Krokodile betitelt - über das theaterwissenschaftliche Kolleg, die von einem Schüler verfasst wurde und zum Faschingsfest im Hotel Union mit Hans Carl Müller und Oskar Gluth als Hauptdarsteller gegeben wurde. 29 Andere nennenswerte Studentenaufführungen, die Beispiele für das Experimentieren mit alternativen Bühnenformen bieten, 30 waren 1912 Goethes Lustspiel Die Mit‐ schuldigen in seiner ersten Fassung als Einakter, für welches eine Reformbühne erbaut wurde; 1913 und 1921 Goethes Satyros oder der vergötterte Waldteufel in Teil III. Erste Entwicklungsphase 154 <?page no="155"?> 31 Im Hellbrunner Steintheater wurden auch Euripides Der Kyklop im SoSe 1914 und 1922 sowie Grillparzers Gastfreund im SoSe 1921 aufgeführt. 32 Dort wurden auch Gellerts Lustspiele Das Band, Das Orakel (SoSe 1919) und Sylvia (SoSe 1925) und Gärtners Schäferspiel Die geprüfte Treue (SoSe 1920) aufgeführt. 33 Herbert Günther (1938: 329 f.) überreicht eine vollständige Liste der Aufführungen des Kutscher-Kreises. 34 Man liest in Kutschers Autobiographie, dass das erste Faschingsfest seiner Gruppe 1919 stattfand (1960: 136). 35 Im Sommerfest der „Zirkusleute“ am 15. Juli 1931 gaben „Die vier Nachrichter“ die Ur‐ aufführung von Die Wahlfahrt des Mannes Orge nach der Stadt Mahagonny, eine Parodie von George Fusin aus Brechts und Weills Oper. Der Erfolg kam aber 1932 mit der für das Faschingsfest verfassten Operettenparodie Hier irrt Goethe! . Kutschers Bearbeitung auf der Freilichtbühne in Salzburg-Hellbrunn; 31 im Som‐ mersemester 1913 / 14 Hebbels Mirandola auf einer Marionettenbühne; 1922 Goethes Laune des Verliebten in der Treppenhalle des Schleißheimer Schlosses; 1926 Büchners Leonce und Lena vor dem Schloß Amalienburg im Nymphen‐ burger Park. 32 Selbstverständlich inszenierten die Kutscher-Schüler auch Stücke, die von Freunden ihres Theaterprofessors verfasst wurden, etwa 1914 die Ur‐ aufführung von Wedekinds Felix und Galathea, 1918 die Uraufführung von Johsts Der junge Mensch, 1920 Wedekinds Eine Scene aus dem Orient - nach dem Tod des Dichters wurde dieser Jugendversuch aus dem Manuskript aufge‐ führt. 33 Im Publikum der Lehraufführungen des Münchner theaterwissenschaft‐ lichen Kurses saßen nicht nur Studierende, sondern gelegentlich auch Künstler und Persönlichkeiten ersten Ranges, wie die Mitglieder der von Stefan Zweig geleiteten Salzburger literarischen Gesellschaft, Hermann Bahr oder Frank We‐ dekind. Wie üblich in der für den Kutscher-Kreis charakteristischen Praxis ent‐ wickelten sich aus der Haupttätigkeit Nebenaktivitäten und Nebengruppen - in diesem Fall Maskenbälle und Feste. Stets am Fasching wurde ein traditioneller Ball veranstaltet, wo Kutscher selbst in rotem Stallmeisterkostüm und Zylinder erschien (Günther 1957: 64), sowie ein Kabarett-Abend der „Zirkusleute“. 34 Aus dem Kreis jener Spieler und Parodisten ging im Januar 1931 das literarische Kabarett „Die vier Nachrichter“ hervor. Anfangs als Studentenkabarett von den Kutscher-Schülern Helmut Käutner, Bobby Todd, Kurt E. Heyne und Werner Kleine gegründet, machte es sich bald als professionelles Kabarett selbst‐ ständig. 35 Die „Zirkusleute“ organisierten auch die Abschlussfeier des Som‐ mersemesters, welche von jugendlichem Leichtsinn geprägt waren. In Verbin‐ dung mit dem Kutscher-Kreis stand noch die studentische „Nibelungen-Spielschar“, die im Februar 1926 mit Hebbels Nibelungendrama in Die Forschungspraxis 155 <?page no="156"?> 36 Siehe dazu Liebeneiner (1927 / 28), der sich explizit auf die Tradition des „Akade‐ misch-Dramatischen Vereins“ beruft. der von German Bestelmeyer errichteten Zentralhalle der Universität debü‐ tierte. 36 Wenn man alle Strategien der theaterwissenschaftlichen Forschungspraxis be‐ rücksichtigt, die in Kutschers Seminaren mit fachkundiger Hilfslehrkraft, in seinen stilkritischen Übungen, Führungen, Exkursionen sowie in den Lehrauf‐ führungen seiner Schüler angewandt wurden, gelangt man schließlich zu der These, dass der Kutscher-Kreis den transitorischen Charakter des Untersu‐ chungsgegenstandes ‚Theater‘ nicht durch die Veranschaulichung - also durch die Benutzung von Artefakten und Medien - zu blockieren versuchte, sondern durch die Dynamik des Wissens, der Disziplin und, selbstverständlich, der Ge‐ meinschaft selbst bewältigte. Mit dem Aleatorischen und Flüchtigen im Theater konnten Studenten, Lehrer und Theaterliebhaber erst vertraut sein, wenn sie selbst mit dieser Kunstform experimentierten und sich als Mitglieder einer Gruppe erkannten, die um der Renovierung der Ausdruckskunst der Bühne willen arbeitete. Das gemeinsame Unterfangen der Münchner theaterwissen‐ schaftlichen CoP fügte sich zunächst in das breitere, vielstimmige Projekt der künstlerischen Moderne ein, doch entwickelte sie schon vor dem ersten Welt‐ krieg eine eigene, gut strukturierte Praxis, die den Unterschied zu anderen Gruppierungen markierte und unabhängige Mechanismen, Aktivitäten, Rituale etablierte. Ein System verknüpfter Gruppierungen und Organisationen Mit dem leidenschaftslosen Amt eines nüchternen Betrachters konnte er sich nie identifizieren, er verstand seinen Lehrauftrag in einem umfassenderen, mäeutischen Sinn. Unbequem wie er war, vom Katheder herab verwegen zu Tagesfragen Stellung nehmend, gegen jede Uniformierung des Geistes mit einem heißen Herzen wetternd, scheute er es nicht, sich zu engagieren. Das hat ihm manche Feindschaft eingebracht. Seine Kollegen mokierten sich über ihn, doch auf den ersten Bänken im Hörsaal sam‐ melten sich die zeitgenössischen Autoren. (Rhotert 1961: 286) Die theatralische Praxis stellte für Kutscher nur eine Seite der größeren kulturellen Praxis dar, an die er seine Schüler heranbringen wollte. Der Ansatz, jede Art theatralischer Aufführung bringe das Lebensgefühl eines bestimmten Volkes zum Ausdruck und könne somit ohne die anderen Aspekte bzw. Bedeu‐ Teil III. Erste Entwicklungsphase 156 <?page no="157"?> tungen von dessen Kultur nicht ergreifen, verband sich in Kutschers theater‐ wissenschaftlichem Selbstverständnis mit der Bestrebung, die theatralische Praxis in der Gesellschaft zu verwurzeln. Aus seiner Forschungsperspektive be‐ deutete dies, die Untersuchung der Ausdruckskunst der Bühne solle sich nicht auf die sog. „Elemente des Theaters“ beschränken, sondern ihre Anwendung im Alltagsleben und in bedeutungsvollen, einflussreichen Kulturgesellschaften finden. Die praktische bzw. nützliche Anwendung der Theaterforschung war aber erst mit der Anerkennung ihrer Unabhängigkeit verbunden. Demzufolge verschaffte Kutscher seiner Lerngemeinschaft immer mehr Gelegenheiten, sich mit Künstlern und Fachexperten aller Wissensbereiche auseinanderzusetzen und dadurch den Wert ihres eigenen Unterfangens zu erfassen. Der Wert der theaterwissenschaftlichen Lerngemeinschaft hätte weiterhin durch diejenige ständige Aushandlung von Artefakten, Geschichten, Kritiken oder Interpreta‐ tionen erhöht werden können, die von externen Impulsen oder Herausforde‐ rungen getrieben war. Da die Etablierung der neugeborenen Disziplin an der Münchner Alma Mater wegen Eigendynamik und Machtspielen unmöglich er‐ schien, bemühte sich Kutscher redlich, das Unternehmen der Theaterwissen‐ schaft in kulturellen Kreisen, bei Forschern und Intellektuellen, in der öffentli‐ chen Meinung zu legitimieren. Zum einen musste der Kutscher-Kreis beweisen, dass er im Umgang mit künstlerischen Debatten und Reformen kompetent sowie gründlich war, dass er also zur artistischen Avantgarde gehörte, auch wenn er eine akademische Ausbildung hatte. Zum anderen hatte er das Ziel, seine Spe‐ zialisierung auf das Theater in der soziokulturellen Entwicklung nachdrücklich geltend zu machen. Die theaterwissenschaftliche Lerngemeinschaft bediente sich demzufolge schon vorhandener Gruppierungen, um in erster Linie die Münchner Intelligenz und Künstlerschaft der Tätigkeit seiner Mitglieder anzu‐ nähern. Zu diesem Zweck etablierte Kutscher auch neue Treffpunkte und Mög‐ lichkeiten zum Meinungsaustausch sowie zur kooperativen Arbeit. Alle diese Organisationen und Gesellschaften wirkten also als Satelliten zur theaterwis‐ senschaftlichen CoP, um die Wirksamkeit ihrer Wissensstruktur auch in an‐ deren Bereichen zu markieren. Um Kutscher und seinen Kreis entstanden also verschiedene Gruppierungen, die eine Überlappung von Tätigkeiten und Beteiligungsformen nachweisen. Der Theaterprofessor führte literarische, ästhetische und theatralische Untersu‐ chungen parallel durch und pflegte die Beziehungen zur gegenwärtigen Künst‐ lerszene. Hierzu wusste er seine Rolle als älterer, berühmter Förderer dichteri‐ scher Erneuerung - wie er durch seine Veröffentlichungen und seine Mitwirkung am „Akademisch-Dramatischen Verein“ und dann am „Neuen Verein“ bewiesen hatte - und zugleich als »geistiger Kristallisationspunkt ei‐ Ein System verknüpfter Gruppierungen und Organisationen 157 <?page no="158"?> 37 Die Bühnenwirkung entsprach in Kutschers Theatervorstellung dem Zweck jeder Auf‐ führung (1936: 10); der Dramaturg war folglich das künstlerische Gewissen des Theaters (13). niger Generationen dem Theater verbundener Menschen« ausnützen (Baer 1960). Jede von Kutscher organisierte Zusammenkunft rechnete mit der mass‐ iven Beteiligung von Dichtern, Fachexperten sowie von jungen Studenten, so‐ dass er von schon etablierten Treffpunkten, Stammtischen oder Gruppierungen die wichtigsten Aspekte ableitete und auf diesen das Fundament für andere legte, die dem Vorhaben seiner CoP dienen konnten. Die letzte Phase des „Neuen Vereins“ Um 1910 war Kutscher noch Mitglied des „Neuen Vereins“ und in dessen Vor‐ standschaft ab 1911 veranstaltete er die Intimen Abende und schlug weiterhin Stücke vor, die man im Verein aufführen konnte. Am 14. Juni 1911 schrieb der Theaterprofessor an Wilhelm Rosenthal, Syndikus des Vereins, an Vorschlägen für das Programm der folgenden Saison habe er »ziemlich viel«, darunter eine Bearbeitung von Die Soldaten Lenzens und ein Drama von Josef Schanderl, ver‐ mutlich Nachtrab (Monacensia, NV B 79). Nach vielen Jahren Tätigkeit im „Neuen Verein“ entdeckte Kutscher aber eine neue Herausforderung, gerade als er mit seinen Schülern die Theaterkunst erforschte: die Verantwortung für die „Bühnenwirkung“ eines von ihm vorgeschlagenen Stückes. 37 Die Bearbeitung der Tragikomödie von Lenz übernahm er selbst. Kutschers rein theatralische Beschäftigung hätte aber ohne eine literaturwissenschaftliche Nebenarbeit kri‐ tisiert werden können, so schrieb er zur Aufführung der Soldaten im Künstler‐ theater München einen Artikel über das Verhältnis von Eduard von Bauernfelds Manuskript Soldatenliebchen zum Stück von J. M. R Lenz. Dabei handelte es sich um eine kaum bekannte Bearbeitung des österreichischen Dichters, die in der k. k. Hofbibliothek in Wien aufbewahrt war und die sich zu einer stilgeschicht‐ lichen Vergleichung »von höchstem Interesse« anbot (1911: 121). Mehr als der kritische Vergleich zwischen den Stücken - der sich hauptsächlich auf von Bau‐ ernfelds inhaltliche Veränderungen am Original in Richtung eines »roman‐ haft-rührenden Theaterfabrikat[s]« konzentriert (Ebd.) - ist Kutschers The‐ menauswahl erwägenswert. Er hatte sich noch nicht mit einem für die Aufführung konzipierten Werk wissenschaftlich beschäftigt und die Entde‐ Teil III. Erste Entwicklungsphase 158 <?page no="159"?> 38 Die Entdeckung könnte sowohl auf die Dokumentationsarbeit Kutschers für seine ei‐ gene Bearbeitung des Stückes als auch auf den Umstand zurückgeführt werden, dass die Schauspielerin Christine Hebbel bei der Aufführung 1863 am Wiener Burgtheater auftrat. Da Kutscher bekanntlich Hebbel intensiv erforschte, hätte er auch vor 1911 von jenem Wiener Lustspiel Kenntnis haben können. 39 Die Uraufführung fand am 26. November 1911 als geschlossene Veranstaltung des „Neuen Vereins“ statt. Das Stück wurde dann am Staatstheater Stuttgart unter der Regie von Wilhelm von Scholz aufgeführt und höchstwahrscheinlich auch an anderen Thea‐ tern. Siehe dazu das Verzeichnis von Kutschers Veröffentlichungen und die Liste seiner außeruniversitären Tätigkeiten, die Kutscher 1938 im Antrag auf seine Ernennung zum Ordinarius lieferte (UAM, O-XIV-508). ckung jenes Manuskripts 38 diente ihm nur als Vorwand, seine eigene Bearbei‐ tung zu erklären. Der Schluss des Beitrags scheint nämlich vom Inhalt isoliert. Nachdem Kutscher die Besetzung der Uraufführung des Stückes im Dezember 1863 behandelt hatte, begann er einen neuen, letzten Absatz: In meiner Bearbeitung, die Ende November im Künstlertheater zur Aufführung kommt, habe ich mich bemüht, so wenig wie möglich am Wortlaute des Dichters zu verändern. In bezug auf die Bühne war das aber nur denkbar durch energischste Sze‐ nenzusammenfassung. Daß das Problem bei der Eigenart Lenzens nicht absolut zu lösen ist, weiß ich sehr wohl; aber wenn das Werk auch nur in seinen Hauptzügen sichtbar wird, ist doch die Hoffnung vorhanden, daß unsere Bühne es ihrem Repertoir [sic! ] endlich eingliedert. (124) Meisterhaft beendete Kutscher seinen Artikel über einen nur scheinbar wich‐ tigen stilistischen Vergleich: Er machte die kultivierten Leser der Zeitung mit der kommenden Aufführung des Stückes in seiner Bearbeitung bekannt, zeigte die Schwerpunkte seiner dramaturgischen Arbeit auf, wobei er auf die schwie‐ rige Aufgabe des Dramaturgen hinwies, und drückte schließlich aus, welche Bedeutung der Einsatz eines fachkundigen Theaterwissenschaftlers für die kul‐ turelle Bereicherung des theatralischen Repertoires haben könnte. Der Artikel sowie die Aufführung der Soldaten in Kutschers Bearbeitung 39 erweisen sich als Eigenwerbung der Theaterwissenschaft, indem sie die wissenschaftliche Erfor‐ schung vor, während und möglicherweise auch nach einer Aufführung als Prä‐ misse für das Verständnis und die Entwicklung der Theaterkunst hervorhoben. Kutschers Unternehmen fand bei Erich Mühsam Widerhall, sodass er am 29. November 1911 in seinem Tagebuch die Eindrücke der Aufführung nieder schrieb: Das Experiment war ungeheuer interessant. 16 Szenen wurden vorgeführt, in denen sich die Tragödie des Soldatenliebchens, die durch Umstellung der letzten Bilder zur Tragödie des Tuchhändlers Stolzius gemacht war, abspielte. Der Inhalt war belanglos, so, daß ich nachher, als ich gefragt wurde, mein Urteil dahin zusammenfassen konnte: Ein System verknüpfter Gruppierungen und Organisationen 159 <?page no="160"?> 40 Im „Neuen Verein“ entwarf Leo Pasetti die Bühnendekorationen für mehr als fünf Auf‐ führungen. »Sein Bühnenbild für Artur Kutschers Bearbeitung der „Soldaten“ von Lenz fand wie alle seine Dekorationen grosse Anerkennung: „Leo Pasetti hatte mit seiner nach den Prinzipien des Künstlertheaters entworfenen Dekoration dem Werk einen stimmungsvollen Rahmen geschaffen“.« - das behauptete Heribert Wenig (1954: 49) mit einem Zitat von Georg Schaumberg aus den Seiten von „Bühne und Welt“. 41 Die Münchner Erstaufführung von Hugo von Hofmannsthals Das alte Spiel von Jeder‐ mann fand am 30. Mai 1912 unter der Regie von Albert Steinrück statt. Steinrück war ein Freund Frank Wedekinds und galt damals als Vertreter der modernen Kunst. „Wenn es nicht so riesig interessant wäre, wäre das Stück langweilig.“ - Übrigens sind die Einzelheiten ganz herrlich und einzelne Worte und Sätze zeigen die ganze große Genialität des alten Stürmers. v. Jacobis Regieleistung war sehr respektabel - eine sehr schwere Aufgabe, das Publikum in Spannung zu erhalten, während 15mal der Vorhang niedergeht. Noch mehr lobe ich Herrn Leo Pasetti, der die Ausstattung besorgt hatte. Auf dieser kümmerlichen Bühne wurden Prospekte gezeigt, die prachtvoll waren. Noch keiner von den Künstlern, die sich unter Reinhardt darum bemüht hatten, hat die Schwierigkeit, mit der Reliefbühne fertig zu werden, so gut bewältigt wie Pa‐ setti. 40 Von den Einzelleistungen ist nicht sehr viel zu sagen. Sie waren zu unter‐ schiedlich. […] Im Theater war wieder alles versammelt, was überhaupt in München Geltung hat. Alle Genies und alle Esel, alle sezessionistischen Waschweiber und alle süßen Schwabingerinnen. Man hatte vor lauter Verbeugungen ein verkrümmtes Rückgrat. (2012: 63 f.) Die Bearbeitung von Die Soldaten war angeblich die erste und einzige Theater‐ bearbeitung Kutschers, die auf mehreren Bühnen aufgeführt wurde. Von jener Arbeit an fuhr der Theaterprofessor aber damit fort, Schriften von theaterwis‐ senschaftlichem Interesse zu veröffentlichen. 1912 verfasste er einen Beitrag zur Aufführung von Hofmannsthals Jeder‐ mann am Münchner Hof- und Nationaltheater, 41 der den vielsagenden Titel Über Zweck und Stil des alten Spiels von „Jedermann“ trägt. Auch in diesem Fall kam zuerst eine theaterhistorische Einleitung vor, in der Kutscher die Entstehung der Moralitäten gegen Ende des 15. Jahrhunderts in England, die englische und deutsche Rezeptionsgeschichte vom Jedermann sowie Hugo von Hofmannsthals Erneuerung des alten Spiels kürzlich erklärte. Dann fokussierte sich Kutscher auf »Zweck und Wirkung« der Moralitäten (6). Obwohl sie mit den Mysterien‐ spielen etwas Gemeinsames haben, erheben sich die Moralitäten über diese hin‐ sichtlich einer Eigenschaft: [S]ie zeigen uns menschliches Wesen als Mittelpunkt der Handlung, sie zeigen die Seele im Zwiespalt zwischen Gott und dem Teufel, zwischen Himmel und Erde; wir erleben die heftigsten Gegensätze einer Innenwelt, einer Psyche, wir erleben ihre Be‐ weglichkeit, ihre Menschlichkeit, wir sehen sie in Versuchungen und Kämpfen, was alles beim Mysterium im Prinzip ausgeschlossen ist. In den Handlungen der Moral‐ Teil III. Erste Entwicklungsphase 160 <?page no="161"?> itäten herrscht im Gegensatz zum Mysterium Freiheit des Verfassers in der Gestaltung, hier ist der schöpferischen Phantasie ein ganz anderer Spielraum gegeben. (7) An dieser Stelle kündigte Kutscher die erstaunliche Aktualität der Gattung an: »Die Moralität ist entwicklungsgeschichtlich betrachtet der Ansatzpunkt zur Ausbildung des neueren Dramas, während das Mysterium, besonders das Pas‐ sionsspiel davon am weitesten entfernt ist« (Ebd.). Wie der Theaterprofessor schon in Bezug auf die dramaturgische Bearbeitung des Lenzschen Stückes her‐ vorgehoben hatte, behandelte er auch in diesem Beitrag die Gefahren für die Dramaturgen. Da die Figuren in den Moralitäten fast immer allegorisch sind, könnten die Verfasser die Allegorien in einer nicht-künstlerischen Weise ver‐ wenden bzw. das Stück zu »ledern und lehrhaft, abstraktisch« gestalten (Ebd.). Kutscher zog zudem gelungene Bearbeitungen von Moralitäten in Betracht, wie Henry Medwalls Nature, oder die künstlerische Verwendung von Allegorien, wie in einigen Szenen von Goethes Faust oder in Hebbels Charakteren, welche die Idee bzw. das Allgemein-Menschliche in sich tragen. Zuletzt kam Kutscher auf das Gegenwartstheater und auf die Münchner Aufführung von Jedermann zurück, wobei er die Aufnahme des Spiels in das Repertoire des deutschen The‐ aters konsequent förderte: Der Naturalismus brachte unserer Menschengestaltung in der Dichtung eine Über‐ spitzung des Individualismus, eine fast wissenschaftlich exakte Psychologie; es ist eine in der Stilbewegung verständliche Reaktion, wenn uns jetzt die Freiheit und Reinheit dieser phantastischen Kräfte in ihren Bann zwingt. Abgesehen ganz von dem, was Hofmannsthal in seiner Erneuerung von »Jedermann« Selbstständiges schuf an in‐ neren Momenten und theatralisch-festlichen Gebärden, ist deshalb die Aufnahme des Spiels in das Repertoir [sic! ] unseres Theaters mehr als ein historisches Experiment. (8) Kutscher sah in der Rückkehr zur Phantasie und zum »Ringen der Seele« seitens aktiver Charaktere (7) eine erste Überwindung des Naturalismus, eine erstre‐ benswerte Erneuerung des Theaters in der mimisch-dramatischen Richtung. Als entschiedener Bekämpfer des als undramatisch betrachteten Spätnatura‐ lismus erschien Kutscher sein Freund Frank Wedekind, dessen Dramatik und Erfolg der Theaterprofessor seit 1911 unterschiedliche Zeitungsartikel und Buchbeiträge widmete. Kutscher stellte 1915 explizit fest, Wedekind habe »weder mit dem Naturalismus noch auch mit der Neuromantik im Sinne der 80er und 90er Jahre irgend etwas zu tun«. Er stehe vielmehr zu beiden »in aus‐ gesprochenem Gegensatze« und sei »von Anfang an eine künstlerische Er‐ Ein System verknüpfter Gruppierungen und Organisationen 161 <?page no="162"?> 42 Um die Beziehung zwischen Wedekind und seiner Zeit ging auch ein anonym verfasster Beitrag im „Programm. Blätter der Münchener Kammerspiele“ (Frank Wedekind und unsere Zeit 1916). Dort wurde der Unterschied zwischen Wedekind und den Naturalisten eingehend dargelegt: Die Naturalisten erlebten zum ersten Male das Volk als »ein sozial gestuftes Ganze. Sie erlebten den Unterschied von Arbeit und Genuß, von Herrschen und Beherrschtwerden als eine sozial-nationale Angelegenheit und verloren dabei ihren Blick und ihre Liebe an die Spaltungen des Volkes und der Welt überhaupt. Sie gerieten ins Fahrwasser einer politischen und wissenschaftlichen Strömung, die als solche tief begründet und berechtigt war, ohne aber eine Umsetzung ins Ästhetische fähig zu sein«. Wedekind hingegen sah und fühlte »sein Volk, seine Zeit, seine Welt anders. […]. Er fühlte ihr Problematisches, ihr Abgelöstes und Ungelöstes, ihr Interimistisches und Provisorisches. Er sah, wo andere Glut sahen, schon wieder den tristen Aschenrest und fühlte daher die Notwendigkeit, dieser Zeit andere Feuer anzufachen. Er wurde ein Versucher der Zeit, ein Experimentator ihrer Gefühle, ein Formulierer dessen, was noch nicht und überhaupt nicht da war, ein Vorläufer also anderer Zeiten, anderer Menschen, anderer Künstler« (12). 43 Das Lustspielhaus in der Augustenstraße 89 war gerade am 10. Januar 1911 eröffnet worden. Bereits 1912 wurde die Bühne von Eugen Robert, Gründer und erster Direktor des Hauses, in „Kammerspiele“ umbenannt - nach dem Vorbild Max Reinhardts. Siehe dazu das Kapitel Kammerspiele für München in Rühle 2007: 232-235. scheinung für sich« (55). Als dichterischer Außenseiter 42 wurde Wedekind in die »Geistesfamilie der Lenz, Grabbe, Büchner« eingereiht (Frank Wedekind. Sein Leben und seine Werke 1931: 278). Wiederholt lobte Kutscher sowohl den her‐ vorragenden dramatischen Talent Wedekinds als auch dessen soziales Engage‐ ment: »Wedekind rüttelte das Gewissen seiner Generation auf«, indem er sich mit aktuellen Fragen befasste und indem er gegen die Heuchelei und die Schwä‐ chen des Bürgertums kämpfte. Mit Wedekinds Produktion beschäftigte sich der Theaterprofessor jedoch nicht nur in seinen Veröffentlichungen, sondern auch im „Neuen Verein“ und in seinen Kollegs. Als Veranstaltung des „Neuen Vereins“ wurde nämlich Wedekinds Oaha am 20. Dezember 1911 im Lustspielhaus ur‐ aufgeführt. 43 Auch nach dem Umsturz an der Spitze des Vereins, der zur neuen Teil III. Erste Entwicklungsphase 162 <?page no="163"?> 44 Im Herbst 1913 kam es zu einer Auseinandersetzung innerhalb des Vereins wegen der sog. „Sem-Benelli-Krise“. Darunter versteht man die hitzigen Debatten über die Auf‐ führung von Sem Benellis Mahl der Spötter. Direktor Robert hatte dem Vorstand das Stück vorgeschlagen und es wurde unverzüglich ins Programm aufgenommen. Plötzlich entdeckte man aber, das Stück sei längst von den Münchner Kammerspielen erworben worden. Erich Mühsam sprach »in scharfen Worten diesem Stück jeden literarischen Wert ab und stellte die Frage, ob lediglich dem Direktor Robert die Auswahl des Stückes überlassen worden war, und was den Neuen Verein gerade zur Aufführung dieses Werkes bestimmt hatte. […] Herr Dr. Kutscher und Rechtsanwalt Dr. Rosenthal vertei‐ digten noch den Standpunkt der Vorstandschaft.« (Kleines Feuilleton [Der Neue Verein] 1913). Die jüngste Generation beschuldigte die ältere, den Sinn und Zweck des Vereins verraten zu haben, um diesen auf den Markt zu bringen. In einer zweiten außerordent‐ lichen Mitgliedversammlung gab Rosenthal die Erklärung ab, der Vorstand und der literarische Beirat hätten die Aufführung des Stückes nachträglich als einen Missgriff erkannt und bedauerten es sehr. Nach jener Sitzung intensivierten sich die Neuorga‐ nisationsgedanken: Der literarische Beirat, Vertreter der alten Richtung des Literatur‐ professors Emil Sulger-Gebing, stand den »etliche[n] rebellische[n] Kollegen der letzten Generation« gegenüber (Rosenthal 1925 / 26: 48). Infolge der neuen Wahl wurde Erich Mühsam erster Vorsitzender des Vereins. 45 Siehe dazu die Korrespondenz zwischen Josef Ruederer und Artur Kutscher vom 10. bis zum 30. Juli 1914: zwei Briefe von Ruederer (JR B 839, Nachl. Josef Ruederer / Briefe) und ein Brief von Kutscher (JR B 272, Nachl. Josef Ruederer / Briefe). 46 Vgl. Erich Mühsams Tagebucheintrag vom 11. Juni 1912 (2012: 350 f.). Wahl der Vorsitzenden im Juli 1914 führte, 44 verlor Wedekind die Unterstützung des „Neuen Vereins“ nicht, wie die Mobilisierung von dessen Mitgliedern im Juli 1914 gegen das polizeiliche Verbot von Simson beweist. 45 Bereits im Sommerse‐ mester 1911 hielt Kutscher eine Vorlesung über Wedekind ab - die erste an einer deutschen Universität überhaupt. Gerade jene Vorlesung stieß auf den Protest der Fakultät und im Juni 1912 erzählte Kutscher seinem Freundeskreis aufgeregt, welche Schwierigkeiten er mit seiner vorgesetzten Behörde hatte: Man habe ihm verboten, über Wedekind zu lesen. 46 Nichtsdestotrotz blieb Wedekind im Pro‐ gramm von Kutschers theaterwissenschaftlichen und literarischen Seminaren. Das letzte gewann in weniger als fünf Jahren eine eigene Kontur, die so viele Ähnlichkeiten zum theaterwissenschaftlichen Kurs zeigt, dass man von der be‐ absichtigten Reproduktion eines bestimmten Lernmodells sprechen kann. Mit anderen Worten fanden die Münchner Studenten dieselben Eigenschaften des theaterwissenschaftlichen Kollegs auch im von Kutscher geleiteten Literatur‐ seminar - so etwa die Förderung zur Kritikausübung und zur Auseinanderset‐ zung in- und außerhalb der Seminarräume, die direkte Beziehung zu Gegen‐ wartsdichtern, die Geselligkeitspflege, die Zusammenkunft unterschiedlicher Generationen durch gemeinsame Projekte ebenso wie die Bereitwilligkeit zum Einsatz im kulturellen Leben. Kutschers Gestaltung seines literarischen Semi‐ nars war darauf gerichtet, in einem anderen kunstgebundenen Fachgebiet die Ein System verknüpfter Gruppierungen und Organisationen 163 <?page no="164"?> 47 Wedekind war am 26. Februar 1909 im Kolleg Kutschers, wie er in seinem Tagebuch notierte. Siehe dazu die online-Veröffentlichung der Tagebuchaufzeichnungen Wede‐ kinds aus den Jahren 1904-1918. 48 Erich Mühsam erinnert sich mit Biss und Ironie an Kutschers Autorenabende: »Der brave Dr. Kutscher, der ernst erfüllt war von seiner Mission, seinen Schülern den Genius der Musen in gefälligen Formen einzuflößen, wird wohl selbst nicht empfunden haben, was seine Lehrmethode den mitgenießenden Gast, die Daseinsfreude belebend, gelehrt hat: daß die schöne Literatur, genossen zwischen schönen Hörerinnen, in pädagogischer Absicht dargebracht, das philologische Interesse manchmal weniger beschwingt als das erotische.« (1977: 172). Lernstruktur zu festigen, welche durch die Verzahnung zwischen Theorie und Praxis charakterisiert war. Es war ein Verdienst dieser Lernstruktur, wie man schon im theaterwissenschaftlichen Bereich beobachtet hatte, dass die Lern‐ enden aus dem gemeinsamen Experimentieren und Debattieren ihre eigenen Wissensgehalte und ihr eigenes Handeln in- und außerhalb der CoP bestimmen konnten. Das „literarische Seminar“ Artur Kutschers Das auf Hans Harbecks Anregung gegründete literarische Seminar profilierte sich zwischen 1910 und 1911 als ein »kameradschaftlich verbundene[r] Kreis« (Kutscher 1960: 72), in dem oft berühmte Künstler auftauchten - der Erste war angeblich Karl Henckell, der sogar ein Referat hielt. Einmal besuchte auch Frank Wedekind einen Unterricht Kutschers, wie ein Vers in seinem Stein der Weisen nachweist (Ebd.). 47 Sehr früh setzte Kutscher seine Idee in die Praxis um, per‐ sönliche Beziehungen zu lebenden Dichtern zu fördern. Höchstwahrscheinlich nach dem Modell der für viele Jahre von ihm koordinierten „Intimen Abende“ des „Neuen Vereins“ veranstalte Kutscher 1910 den ersten Autorenabend seines Oberkurses. Der Anfang war improvisiert: Kutscher fragte Lulu von Strauß und Torney, die sich damals in München befand, ob sie bereit sei, vor dem kleinen Kreis seiner älteren Schüler einige Gedichte vorzulesen (81). Der Erfolg war so groß, dass Kutschers Autorenabende dann jede Woche im Hotel Union, Barer‐ straße 7, stattfanden; die Teilnehmerzahl konnte 40, manchmal sogar 50 Stu‐ dierende erreichen. Da die Atmosphäre trotz der kulturellen Relevanz durchaus entspannt war, wurden die Autorenabende als „Kutscherkneipe“ bekannt 48 und Kutscher selbst begann gerade um 1910, populär zu werden (Günther 1957: 60). Im Laufe der Zeit fanden die als Kutscherkneipe bekannten Abende in unter‐ schiedlichen Räumlichkeiten statt: Sie fanden zuerst im „Hirschen“, dann im Nebenzimmer des Schwabinger Bierlokals „Großer Wirt“ und zuletzt in der Universitätsreitschule statt. In Bezug auf Kutschers Autorendabende sind be‐ Teil III. Erste Entwicklungsphase 164 <?page no="165"?> 49 Diesbezüglich muss allerdings erwähnt werden, dass Kutscher seinerseits keine hohe Meinung von Mühsams Œuvre hatte. Mitte September 1911 schrieb er nämlich Mühsam, er halte Die Freivermählten für »Mist« und deshalb komme eine Aufführung im „Neuen Verein“ nicht in Betracht. Vgl. Mühsams Tagebucheintrag vom 18. September 1911 (2011: 301). sonders zwei Aspekte hervorzuheben: die Rolle des Theaterprofessors, der jah‐ relang unterschiedliche Generationen der Schwabinger Bohème katalysierte, und die Funktion des strukturierten, regulären Zusammentreffens. Die Frage, wie Kutscher im Zimmer eines Hotels oder eines Bierlokals min‐ destens zwei Generationen der künstlerischen Avantgarde binden konnte, führt zur Untersuchung der Konzeption und Realisierung der Autorenabende. Kut‐ scher sah die Notwendigkeit ein, immer mehr begabte und interessierte Leute an die Kunst der Gegenwart heranzurücken und zugleich schon berühmte oder vielversprechende Künstler einem breiteren Publikum vorzustellen. Beide Ka‐ tegorien, also Produzenten und Rezipienten, hatten daran Interesse, an Kut‐ schers Projekt mitzuwirken. Doch wenn der Professor die Mitglieder seines Wirkungskreises nur zur Schau hätte stellen lassen oder sich selbst in den Vor‐ dergrund gestellt hätte, wären die Abende keine nützliche Praxis für die Lern‐ gemeinschaft gewesen und daher kein dauerhaftes Phänomen in einer von Stammtischen und Vereinen durchdrungenen Stadt. Wie es bei charismatischen Persönlichkeiten oft der Fall ist, gab es Dichter der Schwabinger Bohème, die Kutscher gering oder gar nicht schätzten. Mühsam nahm beispielsweise an, Kutscher sei anfangs unfähig, »über Wedekinds und Unruhs Dramatik hinaus noch weitere Entwicklungsmöglichkeiten der modernen Literatur anzuer‐ kennen« (1977: 171) und in seinem Tagebuch äußerte er sich am 21. Mai 1911 noch ausdrücklicher: Bei den verschiedenen Besuchen in Kutschers Kolleg habe er nicht den Eindruck gewonnen, »als ob dort ergiebige Kulturarbeit geleistet würde. Kutschers Absichten sind gewiß gute, aber er selbst ist beschränkt, und bei den Versuchen, schon jetzt Stellung zu gewinnen zu den Literaturströ‐ mungen der Gegenwart, kommt kein Erleben der fließenden Wirklichkeit he‐ raus, sondern ein philologisches Einschachteln von Dingen, die noch garnicht fertig sind« (2011: 123). 49 Trotz alledem war Erich Mühsam häufiger Gast in Kutschers Seminar und an dessen Autorenabenden. Kutscher verlieh nämlich solchen Abenden eine grobe, doch wirksame Struktur, welche die Aufmerk‐ samkeit der Mitglieder auf das Wissen, das sie zusammen erworben hatten und das sie weiter entwickeln konnten, sowie auf gemeinsame Bestrebungen für die ästhetische Erneuerung der Kunstformen lenkte. Indem er allen Mitgliedern den Wert einer gemeinsamen Tätigkeit in Aussicht stellte, gewährleistete Kutscher die Stabilität sowie die Entwicklung der Autorenabende. Er betonte ständig die Ein System verknüpfter Gruppierungen und Organisationen 165 <?page no="166"?> 50 Hierzu berichtet Günther von einem Autorenabend im Jahr 1910, als es fast zu einem Streit zwischen Kutscher und Josef Ponten wegen der maßlosen Ruhmbegierde des Letzteren kam (1957: 98-100). 51 Vgl. Mühsam 1977: 172. 52 Siehe dazu Toller 2002: 55; Heißerer 1993: 279. 53 Entweder mit einer mündlichen Einladung oder mit einem »überrumpelnden Eilbrief« (Schmidtbonn zit. nach Kutscher 1960: 81). Nützlichkeit solcher Zusammenkünfte für die Jugend - tatsächlich erzählte er detailliert von den Dichtern, die er für seine Studenten »zu gewinnen wußte« (1960: 81) - und konnte folgerichtig die Künstler kaum ertragen, die zu ruhm‐ süchtig waren. 50 Den Studenten war es also eine Ehre, in einen bedeutenden Künstlerkreis eingeführt zu werden, während Dichter, Maler, Theaterleute und Intellektuelle mehrmals im Vorlesungsraum als Gäste anwesend waren, weil sie ihre Kollegen vorlesen hören wollten oder einfach beabsichtigten, neue Kon‐ takte aufzubauen. An einem Autorenabend lernte Mühsam zum Beispiel Georg Kaiser kennen 51 und der damalige Student Ernst Toller machte die Bekanntschaft von Thomas Mann, Karl Henckell und Max Halbe. 52 Überall galt die von Schalom Ben-Chorin beschriebene Regel: Ein junger Mensch, der damals in München von praktischer Beschäftigung, Selbstproduktion und systematischer Erfassung der Literatur getragen »seinen Weg suchte, mußte zu Artur Kutscher finden, dem „Theaterprofessor“ der Universität« (in v. Bruch / Müller 1986: 337). Teilnehmer der Autorenabende waren Dichter und Studenten, die Kutscher persönlich eingeladen hatte, 53 einige lasen mit dem Professor schon vereinbarten Passagen aus ihren Werken vor. Nach dem Vorlesen gab Kutscher »jedesmal seine Dankworte in Form eines Kommentars zu Persönlichkeit und Werk des betreffenden Dichters, wobei seine Äußerungen über die soeben gehörte Schaf‐ fensprobe oft Meisterstücke improvisierter Stilanalyse waren« (Günther 1957: 99). Anschließend eröffnete sich eine gemeinsame Diskussion über den Text, die dann im Seminarraum weitergeführt wurde. In den folgenden Übungen knüpfte Kutscher nämlich an den Inhalt der Vorlesung sowie an die Persönlichkeit und an die literarische Produktion des Vortragenden an. Im Fall namhafter Dichter konnten diese die Abschnitte zur Vorlesung aus ihren beliebigsten Werken aus‐ wählen und sogar die Struktur der Autorenabende modifizieren. Im Winter 1919 teilte z. B. Franz Blei Kutscher mit, er akzeptiere wohlwollend Kutschers Einla‐ dung zu einem Autorenabend Anfang Dezember, er wolle allerdings nicht vor‐ lesen. Schon in Berlin und in Wien hatte er ein System gefunden, das die Zuhörer nicht langweilte - der sog. „Fragenkasten“. Wer im Auditorium Lust hatte, der schrieb auf einen Zettel, worüber er die Meinung oder die Anschauung Bleis hören möchte. Dann wählte der Dichter nach »Disposition und Einigung« ei‐ Teil III. Erste Entwicklungsphase 166 <?page no="167"?> 54 U. a. Johannes R. Becher, Richard Billinger, Rudolf G. Binding, Walter Bloem, Hans Friedrich Blunck, Waldemar Bonsels, Hans Brandenburg, Theodor Däubler, Herbert Eulenberg, Bruno Frank, Leonhard Frank, Alexander Moritz Frey, Ludwig Ganghofer, Catherina Godwin, Hans von Gumppenberg, Heinrich und Thomas Mann, Kurt Mar‐ tens, Walter von Molo, Erich Mühsam, Ernst Penzoldt, Josef Ponten, Joachim Ringelnatz, Alexander Roda Roda, Eugen Roth, Josef Ruederer, Albrecht Schaeffer, Wilhelm Schmidtbonn, Wilhelm von Scholz, Willy Seidel, Carl Spitteler, Josef Magnus Wehner, Wilhelm Weigand, Stefan Zweig und, selbstverständlich, die engen Freunde Max Halbe, Karl Henckell und Frank Wedekind. nige Zettel und redete über die betreffenden Argumente ( DLA , A: Kutscher 57.4293). Auch wenn Kutschers Antwort nicht aufbewahrt ist, lässt sich jedoch annehmen, dass er Bleis Vorschlag aufnahm, nicht nur weil die Beziehung zwi‐ schen den Beiden gut war und blieb, sondern auch weil Kutscher die Spektaku‐ larisierung seiner Autorenabende hochschätzte. Beispiele für die Spektakulari‐ sierung der Abende stellten der »Lautenschlag und Gesang von Frank Wedekind« (Mühsam 1977: 172) oder die Vorlesung von Wilhelm Schmidtbonn dar. Da dieser kein guter Vorleser war - so zumindest erklärte er es Kut‐ scher -, fand er sich im Vorlesungsraum mit einer jungen, hübschen Schau‐ spielerin ein, die die späteren Stücke des Programms übernahm (in Kutscher 1960: 82). Resümierend lässt sich mit Hugo Hartung feststellen: Es gab keinen »Poet[en] der großen Münchner Dichterkolonie, der hier nicht einmal - meist aber zu wiederholten Malen - gelesen hätte« (1966: 165 f.). Noch mehr als die Liste der Dichter und Künstler, die bei jenen Gelegenheiten eine Kostprobe ihrer Kunst gaben, 54 verdient die persönlich-professionelle Be‐ ziehung Aufmerksamkeit, die sich zwischen dem Professor und den Künstlern herstellte. Kutscher profilierte sich allmählich als ein Literatur- und Theaterex‐ perte, als ein »Kampfgenosse« in den die Kunst modernisierenden Bestre‐ bungen, dessen Einschätzung und Interesse zu suchen war. Indem er immer mehr Kontakte mit repräsentativen Künstlern der nahen Vergangenheit ausge‐ baut hatte und dazu eine anerkannte Lerngemeinschaft belebt hatte, bemühten sich Dichter, Theaterleute und Intellektuelle, durch ihn und durch seinen Wir‐ kungskreis eine breite und fast offizielle Anerkennung zu bekommen. Sie schickten ihm folglich ihre neuen Werke und warteten auf eine - hoffentlich positive - Kritik, die sich entweder in einen Zeitungsartikel oder in eine Einla‐ dung zu einem Vortragabend hätte umsetzen können. Johannes Robert Becher übersandte Kutscher im April 1917, vor der Veröffentlichung des Auswahlbands seiner Lyrik Das neue Gedicht, die Gedichtsammlungen An Europa und Verbrü‐ derung. Daneben machte er den Theaterprofessor auf einen anderen, bald zu erscheinenden Band aufmerksam, Päan gegen die Zeit, der für seine »Stil-Ent‐ wicklung« besonders wichtig war. Der Briefschluss besteht aus zwei Sätzen: Ein System verknüpfter Gruppierungen und Organisationen 167 <?page no="168"?> 55 Siehe dazu DLA, A: Kutscher 57.4302 / 1-9. Besonders erhellend ist hierzu Blumes Brief vom 14. Dezember 1922, in dem er Kutscher schrieb: »Sollte das Stück, was freilich meine Erwartung übertreffen würde, für die Bühne in Frage kommen, so wäre mir ein Rat in dieser Hinsicht ausserordentlich wertvoll, weil ich von diesen Dingen garnichts verstehe, schon weil ich bisher nie mit dieser Möglichkeit gerechnet habe.« (DLA, A: Kutscher 57.4302-3). 56 1933 erbat Max Dreyer Kutschers Teilnahme für sein »Gottfried August Bürger-Stück« und bekam fernerhin eine positive Kritik seines Romans Die tapfere kleine Renate. Vgl. DLA, A: Kutscher 57.4433. »Sollten Sie gewisse Aufklärungen oder Essais über meine Bücher benötigen, so bitte ich teilen Sie mir dies mit! « und dann »Sehr interessierte mich Ihre Äußerung: könnten Sie mir diese nicht seinerzeit übermitteln lassen« ( DLA , A: Kutscher 57.4262). Einerseits stellte sich der Schriftsteller zur Verfügung, um Erklärungen über seine literarische Produktion zu geben, andererseits bat er indirekt Kutscher darum, seine Gedichte zu lesen und zu kommentieren. In ähnlicher Weise verhielt sich Lion Feuchtwanger, der am 22. Februar 1920, mut‐ maßlich Artur Kutscher bezüglich seines Thomas Wendt. Ein dramatischer Roman, schrieb: »Sehr geehrter Herr Professor, / ich schicke Ihnen durch Georg Müller mein neues Buch und würde mich sehr freuen, wenn Sie was mehr da‐ hinter finden sollten als ein Theaterstück« ( DLA , A: Kutscher 57.4485). Auch der um 1922 debütierende Dramatiker Bernhard Blume suchte Kutschers Begüns‐ tigung. Im regelmäßigen Briefverkehr zwischen Blume und Kutscher erblickt man den Versuch des Jungen, eine sachkundige Kritik seiner Stücke zu erhalten, um zu verstehen, ob sie bühnenfertig waren und was er eventuell verbessern konnte. Kutscher erklärte sich seinerseits bereit, Blume zu helfen, und schrieb ihm immer wieder Ermutigungszeilen. 55 Kutschers Urteil in literarischen und theatralischen Belangen blieb bis zu den ersten Jahren nach der Machtergreifung Hitlers von besonderer Relevanz. 56 Man könnte deshalb zusammenfassen, dass Kutscher in der Schwabinger „Dichterkolonie“ meistens ein hohes Ansehen als unbeirrbarer Pfleger der modernen Kunst genoss. Aus dieser Überzeugung heraus bat ihn Heinrich Mann schriftlich darum, seine Novelle Pippo Spano zu begutachten, die 1917 wegen Unsittlichkeit angeklagt worden war. Kutscher gab dem Schriftsteller seine Hilfe. Neben bekannten Dichtern trugen auch begabte Studenten ihre Erstlings‐ werke vor. Das Vorlesen aus solchen Werken fand fast regelmäßig einmal im Semester statt: Zwei oder drei »dichterische Talente« besetzten allein einen Abend und gewannen dadurch Sichtbarkeit (Kutscher 1960: 80). Vor den 1920ern traten u. a. Paul Alverdes, Hanns Braun, Erich Ebermayer, Georg Hartmann, Hans Harbeck, Manfred Hausmann, Klabund, Edlef Köppen, Erich Pabst, Erwin Piscator, Ernst Toller und Georg Gustav Wieszner unter Kutschers Unterstüt‐ Teil III. Erste Entwicklungsphase 168 <?page no="169"?> 57 Diese These wird zumindest in Berg / Jeske 1998: 6 vertreten. Die Münchner Erstauf‐ führung von Der Einsame fand am 30. März 1918 unter Falckenbergs Regie im Rahmen des Zyklus „Das jüngste Deutschland“ statt. Kurz davor, am 30. Januar, hatte das thea‐ terwissenschaftliche Seminar Kutschers Johsts Der junge Mensch im Steinicke-Saal ur‐ aufgeführt. Vgl. Wagner 1961: 117. 58 Tatsächlich vom WiSe 1917 / 18 bis zum SoSe 1921. Im WiSe 1918 / 19 diente Brecht im Heer. 59 Siehe dazu Schmidt 1965: 62. zung in das Rampenlicht. Die zwei berühmtesten Kutscher-Studenten der Zeit, welche den Autorenabenden gewöhnlich beiwohnten, waren aber Hanns Johst und Bertolt Brecht. Der Erste galt als Kutschers Lieblingsschüler, dessen Tätig‐ keit als Dramatiker vom Theaterprofessor massiv gefördert wurde; der Zweite trat eben durch seine heftige Ablehnung von Johsts Dramatik hervor. Johst war im Wintersemester 1911 / 12 und im Sommersemester 1912 an der Ludwig-Ma‐ ximilians-Universität immatrikuliert und kam angeblich sofort mit dem Leiter des theaterwissenschaftlichen Kurses in Kontakt. Im Frühling 1917 begann der Briefwechsel zwischen dem ehemaligen Schüler und Kutscher, der ihn sogar ins Hotel Union einlud, und am 20. Juli las Johst aus Der Einsame. Ein Menschenun‐ tergang vor ( DLA , A: Kutscher 57.4761/ 1-2). Die Verbindung wurde bald enger und Hanns Johst kam »mit einem ganz glücklichen Vorschlag« zum Theater‐ professor: Nachdem er die ersten Proben seines Einsamen in Düsseldorf gesehen hatte, war Johst »persönlich so von der Intensität der Aufführung überzeugt«, dass er Kutscher »dringend« einlud, mit ihm die Uraufführung zu besuchen ( DLA , A: Kutscher 57.4761/ 4). Kutscher verfasste dann für das „Berliner Tage‐ blatt“ den Artikel, der 1988 von Günther Rühle zum Teil wiederabgedruckt wurde (1988: 87 f.). Dort sprach der Professor vom »einmütigen, rauschenden Erfolg« des Stückes, das seinen Autor als Nachfolger von Lenz, Grabbe und Büchner vorstellte. Was er im Drama als höchst achtenswert anerkannte, waren die bühnenmäßigen, sinnlichen Leidensstationen des Genius, sein »grausames Ringen« durch die »jugendsättig[en]« Bilder und Johsts Fähigkeit, »das We‐ senhafte und Geistige zu packen und dadurch besonders herauszuheben, daß alles Überflüssige, Epische, bloß Überleitende, Entwickelnde fortbleibt« (3). Kutschers Begeisterung für das Stück war so ehrlich, dass vermutet wurde, er selbst habe Johst das Debüt an den Münchner Kammerspielen verschafft. 57 Da‐ mals befand sich Brecht unter den Immatrikulierten an der Münchner Univer‐ sität 58 und belegte regelmäßig Kutschers Vorlesungen und Seminare. Da er Johsts dichterische Produktion für besonders schlecht hielt, 59 reagierte Brecht »nicht ohne Neid« auf dessen Erfolg (Berg/ Jeske 1998: 6) und kam sehr schnell zu einer direkten Auseinandersetzung mit dem Theaterprofessor: Brecht »hielt als erstes Semester ein so unmögliches, von schiefer Grundauffassung und Ein System verknüpfter Gruppierungen und Organisationen 169 <?page no="170"?> 60 In Fritz Gerathewohls Erinnerungen sei Brechts Vortrag über Johsts ersten Roman eine »zynische Entgegnung« auf sein eigenes begeistertes Referat gewesen. Gerathewohl erwähnt auch die Abfuhr, »die Artur Kutscher Brecht zuteil werden ließ, denn so auf‐ geschlossen er gegenüber allem irgendwie Wesentlichen in der Dichtung war und so bestimmt wehrte er sich Kutscher in jener Zeit des völkischen Niedergangs gegen alles, was das Empfinden eines deutschblutigen Menschen verletzen mußte« (in Günther 1938: 194). Hier sei kurz angemerkt, dass Gerathewohls Wortwahl eine gewisse Affinität zur völkischen Bewegung und zur nationalsozialistischen Ideologie verrät. Hedda Kuhn erinnerte sich noch daran, der Theaterprofessor sei »außer sich«: »Es kam zu einem totalen Bruch zwischen Kutscher und Brecht. Kutscher warf Brecht im ersten Zorn einfach hinaus und nannte ihn einen Flagellanten und Proleten.« (zit. nach Frisch / Obermeier 1976: 119). 61 Baal wurde als Gegenstück zu Johsts Der Einsame konzipiert, den Brecht am 30. März 1918 in den Kammerspielen besucht hatte (Hecht 1997: 54). 62 Von dieser Meinung scheint auch Münsterer zu sein, weil er die »abfällige Beurteilung Brechts« in Kutschers Vorlesungen mit der Anmerkung entschuldigt, sie sei »allerdings im Dritten Reich und daher möglicherweise aus Notwehr« gewesen (1963: 90 f.). beißender Kritik strotzendes Referat über Johsts Roman Der Anfang«, 60 dass Kutscher ihm pikiert entgegnete, »wenn man seine Behauptungen umkehre […] könnte man vielleicht darüber verhandeln; so aber seien sie stilkritische Monstra« (Kutscher 1960: 73). Obwohl Kutscher seinem draufgängerischen Schüler keine Begabung anerkannte, solle Brecht mindestens noch ein Referat über Goerings Seeschlacht gehalten haben (Münsterer 1963: 91). Darüber hinaus nahm er weiter am Kutscher-Kreis teil, um in dessen Kollegs, Autorenabenden und Feiern mit namhaften Künstlern und kunstinteressierten Jugendlichen zu‐ sammenzutreffen. Einen letzten Beweis für die Bedeutung von Kutschers kriti‐ schem Urteil für seine Schüler lieferte Brecht Ende Juli 1918: Nachdem er seinen Baal abgeschlossen hatte, 61 legte er Kutscher die Reinschrift des Stückes zur Begutachtung vor. Die Kritik des Dozenten war augenscheinlich negativ, sodass Brecht im August 1918 enttäuscht kommentierte: »Er hat mir etwas über den Baal geschrieben. Zum Speien! Es ist der flachste Kumpan, der mir je vorge‐ kommen ist« (1998: 66). Die tradierte Version der belasteten, durchaus schlechten Beziehung zwischen Brecht und Kutscher, zu der Ernst Schumacher (2006) maßgeblich beigetragen hat, basiert mehr auf Anekdoten als auf kon‐ kreten Umständen, deshalb scheint sie übertrieben. 62 Sicherlich waren beide Persönlichkeiten äußerst charismatisch und in ihren Meinungen hartnäckig, was vor und nach Brechts Karriere zu stilistischen und politischen Reibungen führte. Jedenfalls erinnerte sich der alte Kutscher an seinen früheren Schüler mit einem nostalgischen Gefühl, wie ein Brief vom 3. August 1950 an Bernhard Dörries, Anfänger im Seminar „Stilkunde der deutschen Lyrik“, beweist. Der Schüler hatte sich in einem vorherigen Brief beschwert, weil sein Referat vom Teil III. Erste Entwicklungsphase 170 <?page no="171"?> 63 Vgl. A: Bach 94.141.8 / 1. 64 Der ehemalige Schüler Hermann Gressieker half Kutscher dabei: In einem Brief vom 11. März 1952 skizzierte er einige Konzepte über die offene Dramaturgie, erwähnte un‐ terschiedliche Stücke mit der Illusionsdurchbrechung und machte Kutscher darauf auf‐ merksam, dass sich Vorbilder der Brecht’schen Dramaturgie im amerikanischen The‐ ater, im französischen Surrealismus der 1920er Jahre sowie im sowjetischen Theater - insbesondere in der Agitprop-Arbeit - hätte finden können (DLA, A: Kutscher 57.4555). Theaterprofessor heftig kritisiert worden war. Doch er habe nur seine Meinung geäußert und der Professor hätte das selbständige Denken und Meinen des Re‐ ferenten fördern sollen, nicht frustrieren. Nach einer Einleitung schrieb Kut‐ scher: Ich habe schon recht schwierige Schüler gehabt wie Toller, Brecht, aber sie sind durch längere Mitarbeit für meine wissenschaftliche Grundanschauung gewonnen und mir auch persönlich nahegerückt. […] Ich durfte die Zeit nicht ausfüllen mit einem Re‐ ferate äußerst individuellen Geschmacks und stellenweise saloppen Ausdrucks, ge‐ ringer stilkundlicher Begründung, einer Arbeit, die nicht auf wissenschaftliche Grundsätze, sondern auf „Meinung“ ausgeht […]. (DLA, A: Kutscher 57.4431) Und tatsächlich hatte Kutscher 1946 versucht, auch Brechts Unterschrift für die Erklärung für seine Entlastung zu gewinnen. 63 Der Name Brecht wurde zu wie‐ derholten Malen in Kutschers Kollegs erwähnt - und dies wurde meistens von einem theatralischen Wutausbruch des humorvollen Professors begleitet: Der berühmteste seiner Schüler habe ja „das epische Theater“ entwickelt, das in Kutschers Kunstkategorisierung eine lexikalische sowie künstlerische Missge‐ burt von epischer und dramatischer Form sei. In seiner Stilkunde der deutschen Dichtung analysierte der Theaterprofessor das epische Theater Brechts umfas‐ send, nachdem er sich darüber dokumentiert hatte. 64 Trotz der stilistischen Ferne zwischen Brechts und Kutschers Theatervorstellung gab der Theaterprofessor das dramatische Können des Augsburgers zu: Der Dichter Brecht sei »in hohem Grade Dramatiker« (1952: 351 f.). Als weiteres Zeichen der Anerkennung ge‐ stand Kutscher: »Wir bewundern Brechts Durchdringen zur Vertretung reiner Menschlichkeit, und daß er gestalterisch immer Bild und Sinnbild zugleich gibt. Wir sind überzeugt, daß er sich in dieser Richtung weiter entwickeln wird«, seine Betrachtung schließt er aber mit den Worten ab: »In größeren Zusam‐ menhängen ist er nur verständlich als eine Übergangserscheinung. Wir brau‐ chen ein anderes Drama, ein Drama, das vor allem nicht Lehrstück ist, ein Drama ohne Brechts fatale Politik« (353). Auch in Kutschers Autobiographie fand Brecht einen Platz. Seinerseits hörte Brecht auch nach der ablehnenden Ein System verknüpfter Gruppierungen und Organisationen 171 <?page no="172"?> 65 Am 3. Mai 1920 hielt Kutscher z. B. im Augsburger Börsensaal einen Vortrag mit dem Titel „Die Stilbewegung der jüngsten Literatur. Impressionismus und Expressionismus“, den Brecht besuchte. Der Student besuchte auch den Vortrag über die Entwicklung des Theaters von der Antike bis zur Gegenwart, den Kutscher am 11. November desselben Jahres am gleichen Ort abhielt. Bei jenem Anlass bezeichnete Kutscher den Stil »als Reinheit und Kraft des Ausdrucks« (in Hecht 1997: 103). 66 Leider ist kein Beleg für Kutschers Reaktion erhalten. 67 Als eine schmale Elite oder als einen Orden auserwählter »Priester vom Geiste« sahen sich z. B. die Mitglieder des George-Kreises, welche die Massenwirkung verachteten. Baal-Kritik die Vorträge des Theaterprofessors 65 und Jahrzehnte später interes‐ sierte er sich noch für Kutschers Studien im theaterwissenschaftlichen Feld: Im Oktober 1952 bestellte er aus dem Verlagsangebot von Kurt Desch den Grundriß der Theaterwissenschaft (Hecht 1997: 1031). Am 3. Juli 1956 schickte er dann seinem alten Professor einen Brief, den er schon an den Deutschen Bundestag gerichtet hatte, um gegen die erneute Einführung der allgemeinen Wehrpflicht zu protestieren. Brecht schlug eine Volksbefragung vor und rechnete scheinbar mit dem Einsatz seiner Freunde und Bekannten. Nach vielen Jahren hielt er also Kutscher noch immer für einflussreich 66 . Kutschers Autorenabende förderten also das Zusammentreffen von Künst‐ lern und Studenten, was allen Teilnehmern durch bestimmte ausgehandelte Ge‐ wohnheiten und Werkzeuge eine kollektive Lernerfahrung ermöglichte. Die Autorenabende konnten, anders gesagt, als eine Aktivität der größeren thea‐ terwissenschaftlichen Lerngemeinschaft um Kutscher hervortreten, weil sie den ursprünglichen Netzwerkkreis verstärkten und die gemeinsame Praxis durch die Zirkulation von Mitgliedern und die Bedeutungsaushandlung von Kon‐ zepten sowie Projekten regenerierten. Die klare, vom Theaterprofessor regu‐ lierte Struktur der Zusammenkünfte stellte das Gegenteil von den spontanen, kurzlebigen Gruppierungen dar, die in München hin und wieder entstanden; andererseits wahrte sie den halbinformellen, entspannten Charakter der Be‐ gegnungen im Kutscher-Kreis, der diese von elitären, gesellschaftsfeindlichen Cliquen deutlich unterschied. 67 Das angestrebte Gleichgewicht zwischen einer gewissen wissenschaftlichen Strenge und der modernen, revolutionären For‐ schungsperspektive, welche durch die freudige Mitarbeit einer CoP das indivi‐ duelle und das gesellschaftliche Leben zu verbessern beabsichtigte, war das Kennzeichnen der kulturellen Organisationen, die Kutscher um und für seine Arbeitsgruppe bildete. Das System verknüpfter Gesellschaften erlaubte den Ge‐ meinschaftsmitgliedern, die notwendige Komplizenschaft herzustellen, um einen anspruchsvollen, konstruktiven Dialog über den Wert und die Bedeutung voranzubringen, die man der Kunst, dem kollektiven Lernen, der CoP, deren Teilnehmern sowie Nicht-Teilnehmern beimessen sollte. Darüber hinaus stärkte Teil III. Erste Entwicklungsphase 172 <?page no="173"?> 68 Anfangs trafen sich die Konviven am Dienstag. Vgl. Kutscher 1960: 68. 69 Aus diesem Grund bezeichnete Günther „Das junge Krokodil“ als »ein Münchner Kind«. Er fügte hinzu: »[ J]ede Stadt von Charakter hat ihre eigene Form geselligen und künst‐ lerischen Beisammenseins: Wien seine Kaffeehäuser, Berlin seine Bünde, München seine Stammtischrunden und Kegelbahnen.« (1938: 41). 70 Und zwar in der Nähe der bedeutendsten Theaterhäuser Münchens. diese Cluster-Struktur das Ansehen der Praxis des Kutscher-Kreises in jedem kulturellen Bereich, weil sie die Prinzipien der noch jungen Lerngemeinschaft in allen Subgruppen demonstrativ vorführte. Ein anschauliches Beispiel des Re‐ produktionsmechanismus von Lernmustern und Beteiligungsstrategien, den die von Kutscher koordinierte CoP vor dem ersten Weltkrieg in Gang setzte, bringt „Das Junge Krokodil“. Die Gesellschaft „Das Junge Krokodil“ Im April 1911 gründete Artur Kutscher, zusammen mit Karl Henckell und Hu‐ bert Wilm, die Kulturgemeinschaft „Das Junge Krokodil“. Der Stammtisch tagte montagabends im Ratskeller 68 und die ständigen Tischgenossen wurden als Mit‐ glieder der Gemeinschaft betrachtet. Darunter findet man Dauthendey, Halbe, Wedekind und später Klabund. Die Gründung der neuen Schwabinger Kultur‐ gemeinschaft hat eine bemerkenswerte Vorgeschichte, die Erich Mühsam 1977 zum Teil erzählte. Damals richtete sich Kutschers Forschung an die literarischen Gesellschaften Münchens »in der Zeit der Blüte des Neuklassizismus« (185). Die Faszination für die im Jahr 1856 von Paul Heyse, Emanuel Geibel, Moriz Carrière u. a. gegründete freie Vereinigung „Das Krokodil“ war so groß, dass sich der Professor bald dafür entschied, eine ähnliche kulturelle Institution einzu‐ richten. 69 Mühsam sprach von Kutschers »unabweisbare[m] Bedürfnis« hinter der Einrichtung des „Jungen Krokodils“ - ein Ausdruck, der zwar Mühsams Humor enthüllt, zugleich aber Kutschers Stellung gegenüber jenem modernen Dichterkreis verrät. Wie der Vollname zeigt, war „Das Junge Krokodil“ eine „Gesellschaft zur Pflege und Züchtung junger Krokodile“, und zwar diente sie der Kunstförderung und -erneurung, ebenso wie allen anderen Unterneh‐ mungen Kutschers. „Das Junge Krokodil“ war selbstverständlich nicht der ein‐ zige Stammtisch, den Kutschers Freunde und Bekannte besuchten, doch unter‐ schied er sich stark von allen anderen, besonders von Wedekinds Stammtisch in der Torggelstube. Ungefähr ab 1910 wurde ein Nebenzimmer jener Stube, neben dem Hofbräuhaus am Platzl, 70 zum geistigen Mittelpunkt für diejenigen, die beabsichtigten, eine gerade erlebte Aufführung zu besprechen, Frank We‐ dekind zu begegnen, Schauspieler und Theaterleute kennenzulernen oder sich Ein System verknüpfter Gruppierungen und Organisationen 173 <?page no="174"?> 71 Außer Kutscher fand man dort regelmäßig Feuchtwanger, von Gumppenberg, den Ver‐ leger Georg Hirth, Kokoschka, Mühsam, das Mitglied des Münchener Schauspielhauses Friedrich Carl Peppler, Roda Roda, Steinrück, Werfel und manchmal sogar Halbe, trotz seiner häufigen Streitereien mit Wedekind. 72 Natürlich gab es nicht immer zahlreiche Personen am Rundtisch, manchmal befanden sich dort nur zwei oder drei Tischgenossen. Vgl. Kutscher 1960: 68. 73 Dem „Jungen Krokodil“ gehörten u. a. die Vorständer des Vereins „Die Lese“ Muschner Etzel und Jodocus Schmitz, Friedrich Huch, Bernhard von Jacobi, der Reichsfinanzrat Koch, C. G. von Maaßen, Kurt Martens, Gustav Meyrink, Erich Mühsam, Bernhard Rehse, Roda Roda, Ludwig Scharf, Wilhelm C. Stücklen, der sozialdemokratische Mi‐ nister Johannes Timm, Hans von Weber, Albert Weisgerber und Walter Ziersch an. 74 Kutscher behauptete, Damen seien »nur ausnahmeweise geduldet« (1960: 69), jedoch erinnerte sich Mühsam daran, dass sich der Kreis des „Jungen Krokodils“ von dem der „Torggelstube“ hauptsächlich dadurch unterschied, »daß dieselben Männer, mit denen man sich sonst dort oder auf der Kegelbahn traf, hier mit ihren Frauen einzukehren pflegten.« (1977: 186). Die Wahrheit liegt höchstwahrscheinlich in der Mitte, weil es stimmt, dass die Frauen der Tischgenossen manchmal dort auftauchten, doch konnte es in einer männlichen Kulturgesellschaft keine Gewohnheit sein. einfach mit Anhängern der Schwabinger Intellektuellen- und Künstlerkreise zu unterhalten. 71 Das Hauptmerkmal dieses Stammtisches war freilich, dass es weder einen festen Tag noch eine feste Stunde für die Zusammenkunft gab. Die Tischrunde um Wedekind war also eher für eine Gruppe älterer und enger Freunde geeignet als für eine heterogene Gesellschaft, zu der auch Studierende und ausländische Besucher gehörten. Zudem hätte eine lose, anarchische Struktur die Anziehungskraft der Abende verringern können, weil es unmöglich gewesen wäre, solche Zusammenkünfte als eine geteilte Praxis im Kut‐ scher-Kreis zu etablieren. Die Torggelstube war das Hauptquartier Wedekinds, im Ratskeller traf sich hingegen eine breite Gemeinschaft. 72 Dementsprechend entschied sich Kutscher dafür, den Zusammenkünften des „Jungen Krokodils“ Planmäßigkeit zu verleihen und keine Beschränkung bezüglich des Tätigkeits‐ bereichs der Mitglieder aufzuerlegen. Von 8.30 Uhr abends »saßen Männer der Justiz, der Politik, der Finanzwirtschaft, der Medizin, der Philosophie, der Technik und Industrie zusammen mit Männern der verschiedenen Künste« (Kutscher 1960: 69). 73 Man sprach dann nicht nur über Literatur oder Theater, sondern über Tagesfragen, wichtige Ereignisse und Persönlichkeiten aus un‐ terschiedlichsten Bereichen. Das war allerdings nur der feste Kern der Ver‐ sammlungen, weil die Begründer der Kulturgemeinschaft auch Abende nach einem behandelten Thema nannten - wie »Theaterabend« oder »Spießerabend« (68) -, Erfolge sowie Geburtstage miteinander feierten, der Toten gedachten, Feste veranstalteten, Damenabende organisierten, 74 neue Talente zum Vortrag einluden und dann in die Gruppe mitnahmen. Befähigte Studenten hatten näm‐ lich die Erlaubnis, sich an einer Tafelrunde teilzunehmen und somit berühmten Teil III. Erste Entwicklungsphase 174 <?page no="175"?> 75 »Wir kultivierten nicht unsere Engen, sondern suchten und fanden Erfrischung von der Berufsarbeit im Austausch, wobei immer ein offener, männlicher Geist das Wort führte.« (Kutscher 1960: 70). Künstlern sowie einflussreichen Personen ihr Können zu zeigen. Die amüsante Anekdote über Klabunds literarisches Debüt im Kutscher-Kreis durch „Das Junge Krokodil“ um 1912 / 1913 zeigt Artur Kutschers Haltung als Koordinator der CoP ebenso wie als Professor vor seinen Studenten: Eines Tages brachte Kutscher einen neuen Gedichtband „Morgenrot! Klabund! Die Tage dämmern! “ zu dem Stammtisch mit und referierte enthusiastisch über diesen vulkanhaften Ausbruch echter Lyrik. Kutscher las Verse von Klabund und analysierte sie. / Da meldete sich ein Student aus dem ersten oder zweiten Semester, Alfred Henschke, zu Wort und widersprach dieser Deutung. Kutscher erklärte dem jungen Mann, daß er diese bedeutende Dichtung nicht verstünde. / Kleinmütig wandte Alfred Henschke ein, daß er selbst Klabund sei und dieses Pseudonym aus Klabautermann und Vagabund zusammengesetzt habe. / Als sich Kutscher vom ersten Schreck dieser Enthüllung erholt hatte, dekretierte er aus wiedergewonnener olympischer Höhe: „Das besagt nichts. Interpretation ist nicht Sache des Dichters, sondern des Kritikers.“ (Ben-Chorin in v. Bruch / Müller 1986: 338 f.) Nach jenem Abend veränderte sich die Beziehung zwischen Kutscher und seinem Schüler nicht, vielmehr förderte der Theaterprofessor die literarische Produktion Klabunds weiter. Neben Klabund suchte auch der Kutscher-Schüler Fritz Gerathewohl „Das Junge Krokodil“ regelmäßig auf und, wie Erich Mühsam schrieb, »mancher literarische Neuling roch dort zum erstenmal die Ausdüns‐ tung angesammelter Berühmtheit, die uns allen einmal als Ozon aus dem Ge‐ nienparadies erschienen war, bis wir der philiströsen Ranzigkeit auch dieser Atmosphäre gewahr wurden« (1977: 186). Kutschers Studenten nahmen fer‐ nerhin an den Feiern teil, die mit dem „Jungen Krokodil“ verbunden waren. Nochmals liefert Mühsam einen Beweis dafür: Am 8. Juni 1912 veranstalte „Das Junge Krokodil“ ein Fest in Gern. Er selbst traf sich mit Halbe und mit dem Ehepaar Roda Roda, um Gern zu erreichen. »Das Fest fand in der Kegelbahn des Gerner Bads statt, die ganz mit roten Lampions erleuchtet war. Es nahmen etwa 30 Personen teil, darunter eine Menge Kutscher-Schüler und -Schülerinnen« (2012: 348). Der Erfolg des Stammtisches im Ratskeller war mithin die Verbin‐ dung von mannigfaltigen Elementen: die breite Basis der Teilnehmer, die Vielfalt der dargebotenen Veranstaltungen, die Bereicherung durch junge Studenten und Kunstbegabte des „alten“ Schwabinger Künstlerkreises, die Meinungsäu‐ ßerung über aktuelle Fragen 75 und nicht zuletzt die Gestaltung einer neuen Ge‐ meinschaft, die nicht nur in der wissenschaftlichen Forschung oder in der Kunstschaffung, sondern auch im Alltagsleben verankert war. Vor dem Kriegs‐ Ein System verknüpfter Gruppierungen und Organisationen 175 <?page no="176"?> 76 Nur von Annette v. Droste-Hülshoff, Friedrich Hebbel, Detlev v. Liliencron, Eduard Mörike und Theodor Storm findet man sieben Gedichte. Von Gottfried Keller und von Konrad Ferdinand Meyer wurden indessen zehn kurze Gedichte ausgewählt. 77 Als Beispiel hierfür könnte man den Briefwechsel zwischen Richard Dehmel und Kut‐ scher anführen. In der Anthologie Deutscher Dichterwald befinden sich 6 Gedichte von Dehmel, der Kutscher die genaue Reihenfolge für die Veröffentlichung zeigte. Kutscher bewahrte auch einige Korrekturbogen mit den Gedichten Dehmels. (DLA, A: Kutscher 57.4406 / -08). ausbruch und noch während der Schlachten wurde der Stammtisch des „Jungen Krokodils“ ein Ort für die Auseinandersetzung über den Wert oder Unwert des Krieges, ein Ort, wo man die Normalität der glücklichen Tage suchte. Aus der Liste der Namen, die damals am Stammtisch zusammenkamen, »entstand, wie der Professor zuweilen augenzwinkernd eingestand, eine Lawine, eine Art My‐ thos: Kutscher-Schüler zu heißen bekam einen eigenen, guten Klang - viele freilich schmückten sich in der Zukunft mit Federn, die sie nie erworben hatten.« (Rhotert 1961: 286). Wissenschaftliche Tätigkeit und soziales Engagement Kutschers Freundschaft und Mitarbeit mit Künstlern der Avantgarde wirkte sich auf die wissenschaftliche Tätigkeit aus. Der Theaterprofessor bezweckte, einen neuen dichterischen Kanon herzustellen, der das Künstlerische aller Zeiten, einschließlich der Gegenwart, umfassen konnte. Bezüglich der Lyrik akzeptierte er 1910, wie schon erwähnt, das Angebot Julius Petersens, Vorstand der Deut‐ schen Verlagsanhalt in Stuttgart, die 1853 von Georg Scherer gegründete und 1901 zuletzt bearbeitete lyrische Anthologie zu erneuern. Als Auswahlgesetz galt für Kutscher, das Charakteristische für jeden einzelnen Dichter und dessen Epoche, also diejenigen »Silhouetten, Umrisse«, die eine bestimmte Produktion prägen, mit dem künstlerischen Wert im Allgemeinen zu verbinden. Nur auf diese Weise könnte sich »ein reines Bild« ergeben, »das - im besten Sinne des Wortes - historische Bedeutung hat« (Kutscher 1911). Trotz der Beschränkung auf das Hauptsächliche bzw. auf maximal sechs Gedichte pro Dichter 76 erkannte Kutscher seine literaturkritische Mission in der Gesamtdarstellung einer Pe‐ riode. Daher fügte er viele Dichter aus dem 19. und 20. Jahrhundert hinzu - wie Wilhelm Busch, Ferdinand Freiligrath, Stefan George, Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal, Arno Holz, Ricarda Huch, Friedrich Nietzsche, Richard von Schaukal oder Stefan Zweig - und wählte zusammen mit den noch lebenden Dichtern die beste Fassung ihrer Werke aus. 77 In einer gewissen Kontinuität zu seiner Pressearbeit im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ließ sich Kutscher von einer kleinen Studentengruppe helfen, und zwar von Willy Brandl, Magda Teil III. Erste Entwicklungsphase 176 <?page no="177"?> 78 Hierzu erklärte Kutscher: »Man beschwert sich mit Recht über die Kritiker, die einen Schöpfer festnageln auf eine Note, Karl Henckell auf den Sozialdemokraten, Sohnrey auf die Dorferzählung. Warum soll der Dichter nicht etwas bis zu einem gewissen Grade Antipodisches schaffen können? « (1913: 1398). 79 Die Tatsache, dass eine vollkommene Erzählung der Entstehung, Entwicklung und Krise des Künstlertheaters dort zu lesen war (Ball 1914: 68-74), ist ein eindeutiger Be‐ weis dafür. 80 Erwähnt sei es hier nur, dass Pfemfert am Ende des ersten Weltkrieges zum Unterstützer des Spartakusbundes wurde und seine Zeitschrift in „AKTION, Wochenschrift für re‐ volutionären Sozialismus“ umbenannte. Janssen, Walter Kühn, Georg Kunkel, Hans Schauer und Robert Ulrich, die dank der Vermittlung des Theaterprofessors Artikel für kulturell-literarische Zeit‐ schriften veröffentlichten. Hinsichtlich der „neuen“ Lyrik muss man schließlich bemerken, dass sich Kutscher jedweder pseudoliterarischen Etikettierung wi‐ dersetzte. Im Februar 1912 schrieb er als Vorbemerkung zu seinen Rezensionen: »Es tut nicht gut, das Werdende in eine Formel zu zwingen. […] Wir dürfen nur auf Regungen hinweisen, auf Bewegungen deuten, wenn wir von der Gegenwart im Sinn der Entwicklung sprechen, und nur so wollen wir von ihr sprechen, da wir nicht die Aufgabe haben, alles Vorhandene zu registrieren« (617). Jeder dichterische Ausdruck des Lebensgefühls galt für Kutscher als künstlerische Leistung, unabhängig von jedem Versuch der Kategorisierung. 78 Kutschers Beschäftigung mit der neuen Lyrik vereinte sich harmonisch mit seiner Wertschätzung der Heimatdichtung, wie die Rezension von Löns Das zweite Gesicht für die Zeitschrift „Aktion“ zeigt. Der Kommentar des Professors wies vor allem auf das »Urmenschenempfinden« hin, das aus jener Liebesge‐ schichte herauskomme. Das Problem eines »tiefwurzelnden, mächtigen Manne[s] im Kampf um Vollendung seines Lebens, im unbeirrten Triebe, das Rätsel Weib zu lösen und aufgehen zu lassen in sich selbst und seine Entwick‐ lung« sowie »die Kühnheit« des poetischen Ausdrucks erinnern an die beste Produktion des Sturm und Dranges (1911: 1364). Das Werk eines Dichters, der mit seinem Opus samt seinem Leben die konservative Heimatkunst vertrat, wurde von Kutscher auf den Seiten einer Zeitschrift rezensiert, welche der Schwabinger Avantgarde Stimme verlieh und deren künstlerische Experimente öffentlich unterstützte, 79 ohne damit ihrer politischen Vokation untreu zu werden. In Bezug auf die „Aktion: Zeitschrift für freiheitliche Politik und Lite‐ ratur“ muss man die Beziehung zwischen der künstlerischen und der soziopo‐ litischen Sphäre hervorheben. Die Zeitschrift erschien zum ersten Mal 1911, unter der Leitung von Franz Pfemfert, 80 als Organ der literarischen Linken, der »ständig den faulen Kompromiß der deutschen Sozialdemokratie bespöttelt[e], verhöhnt[e], angeklagt[e]« und der jungen Künstlern und Intellektuellen die Ein System verknüpfter Gruppierungen und Organisationen 177 <?page no="178"?> 81 Die vollständige Liste der Unterzeichner enthält Hugo Ball, Johannes R. Becher, Heinz Eckenroth, Richard Elchinger, Friedrich Eisenlohr, Efraim Frisch, Robert Forster-Larri‐ naga, W. Fred (Alfred Wechsler), Joachim Friedenthal, Max Halbe, Hans Harbeck, Wil‐ helm Hausenstein, Georg Hecht, Hans Ludwig Held, Karl Henckell, Wilhelm Herzog, Friedrich M. Huebner, Wassily Kandinsky, Klabund, Gottfried Kölwel, Walter Kühn, Artur Kutscher, Heinrich und Thomas Mann, Kurt Martens, Nadja Strasser, Friedrich W. Wagner, Hans von Weber, Frank Wedekind. Möglichkeit bat, sich »in die Front des Fortschrittes zu begeben« (Drei Jahre Aktions-Arbeit 1914: 86). Wie „Der Sturm“ und Alfred Kerrs „Pan“ vertrat die „Aktion“ sowohl jüngste Literatur und Kunst als auch Politik, um eine aktive Teilnahme ihrer Leser zu fördern. Um die Zeitschrift gruppierte sich schnell eine Literaturbewegung, die mit verschiedenen Ländern Beziehungen hatte und Kenntnisse über ausländische Werke oder Strebungen vermittelte. In den Worten ihrer Mitarbeiter war die Ausnahmestellung der Zeitschrift: »Bekennen, Wirklichsein, unmittelbares Wollen und Erreichen« (Ebd.). 1914 inkriminierte die Zensur sieben Beiträge, drei Nummern der „Aktion“ wurden beschlagnahmt. Kurzum, der Staatsanwalt versuchte, die Zeitschrift zu unterdrücken, was Denker und Künstler jeder Art empörte. Eine Protest-Note gegen die Beschlag‐ nahmung unterzeichneten viele Persönlichkeiten, darunter auch Kutscher. 81 Alle zeigten dadurch, dass »die ästhetische und moralische Ernsthaftigkeit der Zeitschrift über jede Diskussion« stand (Für die „Aktion“ 1914: 87). Kutscher ergriff also für »die Tendenz der Zeitschrift« und für ihre Leitung Partei (Ebd.), auch wenn er die politische Orientierung der „Aktion“ bekanntlich nicht teilte. Der Aktivismus der Zeitschrift bzw. die Förderung junger Künstler und Wis‐ senschaftler war vermutlich in Kutschers Vorstellung die bedeutendste wert‐ volle Eigenschaft, die man verteidigen sollte. Vor dem ersten Weltkrieg waren die meisten Intellektuellen an der kulturellen Entwicklung der Gesellschaft be‐ teiligt und die parteipolitischen Gegensätze spielten in jenem Tätigkeitsdrang kaum eine Rolle: Kutschers Hochschätzung der heimatgebundenen Lyrik hätte in jeder literarischen Zeitschrift veröffentlicht werden können. Werke, die von regionalen Eigenarten und heimatlicher Landschaft geprägt waren, erweckten die Aufmerksamkeit Kutschers, sodass er Autoren wie Heinrich Sohnrey und Fritz Stavenhagen zum Gegenstand seiner Untersuchung machte. Zuletzt ver‐ fasste er zwischen 1910 und 1916 eine Reihe Zeitungsartikel über die nieder‐ sächsische Dichtung. Der neue Literaturkanon Kutschers schloss demgemäß sowohl Werke jüngster avantgardistischer Dichter als auch Werke älterer volkstümlicher Schriftsteller ein, was ein immer größeres Interesse des Theaterprofessors für die Volkskunde zeigt. Während des Krieges vertiefte sich seine „germanische“ Teil III. Erste Entwicklungsphase 178 <?page no="179"?> 82 So bezeichnete Kutscher z. B. die vaterländische Grundeinstellung Hermann Löns’ (1943: 60). Grundeinstellung 82 wesentlich: Kutscher diente ab dem ersten Kriegsjahr im Heer und unterbrach folglich seine Unterrichtstätigkeit vom Wintersemester 1914 / 15 bis zum Sommersemester 1916. Von seinen Kriegstagebüchern als Leutnant der Landwehr und zugleich als Universitätsprofessor erschienen zwei Bände und dazu noch einige Abschnitte in Zeitschriften. Obwohl Kutscher von seinem Kreis in München entfernt war, blieb er mit Freunden und Schülern in Verbindung. Von der Front teilte er beispielsweise am 1. Januar 1915 Hubert Wilm mit, bereits in jenen Tagen seien einige hundert Seiten seines Tagebuches in Maschinenschrift fertig. Dazu schlug er vor, dass sich Wilm einmal mit Karl Henckell zusammensetzte, um das Tagebuch durchzulesen ( HW B 272 Nachl. Hubert Wilm / Briefe). In München waren Wedekind und Hans Carl Müller damit beauftragt, über die Veröffentlichung des ersten Bandes zu verhandeln. Der zum Militär gegangene Professor behielt die Zügel der Münchner Ver‐ sammlungen um seine CoP fest in der Hand. Als Kutscher dann Anfang März 1915 auf Fronturlaub nach München zurückkehrte, besuchte er, wie gewöhnlich, seine Schüler und seinen alten Stammtisch: »Nun wird Fühlung genommen mit den alten Kreisen, d. h. mit dem, was jetzt noch davon da ist. Ein paar Schüler und Schülerinnen finden sich noch im Hotel Union zusammen und denken der Seminarstunden und Reisen, der zerstreuten „Genossen“. Die Universität ist recht leer geworden […]« (1916: 5). Und weiter noch: »Im Ratskeller in der rechten Ecke hinten sitzt Montags [sic! ] noch Henckell und Wilm, Mühsam und Wedekind vom „Jungen Krokodil“. Mittwochs sammelt sich noch die „Unter‐ strömung“ um Halbe und kegelt ganz im alten Tone weiter« (6). Im „Jungen Krokodil“ las Kutscher seinen in München gebliebenen Tischgenossen Textpas‐ sagen aus seinem Tagebuch vor. Trotz des Krieges gelang es dem Theaterpro‐ fessor, seine kulturstrategische und wissenschaftliche Rolle weiterzuspielen. Wenn die Tagebücher eher seiner Popularität im Künstlerkreis gedient hatten, entsprach Kutschers Sammelband von 172 Soldatenliedern, die er selbst in den Jahren 1914-1916 aufgeschrieben hatte, einer erneuten Bestätigung seiner Ver‐ pflichtung auf die Durchführung wissenschaftlich relevanter Projekte. Gerade der Titel des Sammelbandes, Das richtige Soldatenlied. Verse und Singweisen, im Felde gesammelt, hob das Ziel des Verfassers hervor, und zwar »das „richtige“ Soldatenlied in seiner volkstümlichen Einfachheit und derben Natürlichkeit freizulegen von allem Literarischen, Gemachten, Künstlichen (auch im besseren Sinne) und so seine charakteristische Schönheit herauszustellen in Wort und Ton« (1917: o. S.). Das Literarisch-künstliche wurde als Gegensatz zum spon‐ Ein System verknüpfter Gruppierungen und Organisationen 179 <?page no="180"?> tanen Ausdruck des Volkes betrachtet - in Kutschers Kompagnie befanden sich vorwiegend Bauern und Kleinstädter - und die Aufgabe des Forschers war es, den reinen Ursprung des Lebensausdrucks zu finden, um dadurch die innerlich zerrissene Menschheit wieder zu sich selbst zu bringen. Koordination und Partizipationsstufen Die Bedeutung Kutschers […] lag weniger in seiner beachtlichen wissenschaftlichen Arbeit, sie lag vielmehr in seiner persönlichen Ausstrahlung. Er war seinen Studenten Freund und Vater, Lehrer und Wegbereiter zum Beruf. (Baer 1960) Weiß Gott, wir waren damals zum überwiegend größten Teil keine wohlversorgten Muttersöhnchen, keine Söhne großer Väter, sondern junge Menschen, die aus Passion versuchten, sich Berufswege zu schaffen und sich ehrlich mit den verrückten Toll‐ heiten einer Inflation herumschlugen. (Caracciola-Delbrück in Günther 1938: 219) Jede kollektiv ausgehandelte Praxis entfaltet sich in einer Gemeinschaft und jede CoP gestaltet eine Sozialstruktur, in der sich jeder Teilnehmer durch eine be‐ stimmte Partizipationsform definiert. Im Geflecht von sozialen Interaktionen und Beziehungen benötigt die Arbeitsgruppe dann eine Differenzierung der Partizipationsstufen, um unterschiedliche Erfahrungen und Kompetenzen in die CoP einzubringen bzw. um neues Wissen anzuhäufen. Wie Wenger deutlich erklärt, »[i]t is by its very practice - not by other criteria - that a community establishes what is to be a component participant, an outsider, or somewhat in between. In this regard, the community of practice acts as a locally negotiated regime of competence« (1998: 137) (Herv. im Originaltext). Da dieses System mit verschiedenen Partizipationsformen nicht starr, sondern äußerst dynamisch ist, enthält es selbst die Impulse zur Reproduktion, Erneuerung, Vermittlung und Anwendung von Wissen. In Communities of Practice unterscheidet man vier Partizipationskategorien, welche die Einzelidentität der Mitglieder prägen: die vollständige Mitgliedschaft, in der man weiterhin einen Koordinator erkennt, die Peripherikalität, die Marginalität und letztlich die Nicht-Mitgliedschaft. Im Fall der Peripherikalität stellt die unvollständige Mitgliedschaft keine Hemmung für die Mitwirkung an der gemeinsamen Praxis dar, im Fall der Marginalität wird der Spielraum hingegen durch die Nicht-Beteiligung der jeweiligen Mitglieder sehr beengt. Man könnte ja behaupten, dass die Partizipationsstufe lediglich von individuellen Entscheidungen oder Haltungen abhängt, die Verbindung von Partizipation und Nicht-Partizipation schließt indessen auch Vorgänge der Ge‐ meinschaftsbildung mit ein. Sowohl die Individuen als auch ihre Lerngemein‐ Teil III. Erste Entwicklungsphase 180 <?page no="181"?> 83 Diesbezüglich betont Wenger, jede CoP müsse die Art der Aktivitäten und deren Rhythmus bzw. Häufigkeit und Gestaltung auswählen, die ihr am meisten nützen: »formal or informal meetings, problem-solving sessions, or guest speakers« (2000: 231). schaft(en) bestimmen die Anteilnahme der Lernenden am Praxisfeld »trotz und aufgrund ihrer Position der Peripherikalität in bezug auf die zentralen Prozeßab‐ läufe« der Lerngemeinschaft bestimmen (Wehner / Clases / Endres 1996: 82). Wenn man von diesen Betrachtungen ausgeht, dann heißt es natürlich, dass die Münchner theaterwissenschaftliche Lerngemeinschaft schon in der ersten Entwicklungsphase unterschiedliche Partizipationsstufen aufwies und bewusst kultivierte. Kutscher galt als Koordinator der CoP, und zwar spielte er eine Rolle von entscheidender Bedeutung auch in der Etablierung von Regeln und Ge‐ bräuchen, die zu einer mehr oder weniger peripheren Partizipation an der ständig ausgehandelten Praxis führten. Aus diesem Grund muss man zunächst die Funktionen des Lerngemeinschaftskoordinators analysieren und dann die Art und Weise in Betracht ziehen, wie Kutscher zusammen mit den ersten An‐ gehörigen des theaterwissenschaftlichen Wissensbereichs die Partizipations‐ formen etablierte. Die Leitfigur einer praxisorientierten Gemeinschaft Wenger, McDermott und Snyder listen die wichtigsten Funktionen genau auf, die ein kraftvoller Koordinator ausüben muss (2002: 80). Vorausgesetzt, dass er gute Kenntnisse über das Sachgebiet der CoP sowie eine Leidenschaft für das gemeinsame Vorhaben hat, muss er Kernthemen und -probleme im Wissens‐ zweig erkennen bzw. hervorheben und die Konstruktion der Praxis fördern - immer durch die Bewirtschaftung von Grundkenntnissen, Einsichten, beliebten Tätigkeiten, Werkzeugen, Methoden, Strategien der Analyse und Reflexion, wichtigen Ereignissen im Lernprozess. Daneben beschäftigt sich der Koordi‐ nator mit der Beziehung zu und zwischen den Mitgliedern, indem er alle Mit‐ wirkenden zwanglos verbindet - z. B. durch Veranstaltungen oder informelle Zusammenkünfte. 83 Der Leiter einer CoP überquert weiterhin die Grenzen zwi‐ schen den unterschiedlichen verknüpften Organisationen und vermehrt das Wissensvermögen durch direkte Kontakte mit anderen Gemeinschaften, d. h. er dient als Knotenpunkt in der Konstellation vernetzter Praktiken. Er pflegt ferner die Identitätsentwicklung der einzelnen Mitglieder und schätzt den Zustand des Lernprozesses ein; anders gesagt bewertet er die Leistungsfähigkeit der CoP für die Mitglieder und für externe Organisationen. Um solche Aufgaben erfüllen zu können, gehören bestimmte Eigenschaften zur Persönlichkeit des Koordinators: Koordination und Partizipationsstufen 181 <?page no="182"?> »Effective community leaders typically are well respected, knowledgeable about the community’s domain, well connected to other community members […], keen to help develop the community’s practice, relatively good communicators, and personally interested in community leadership« (80 f.). Im spezifischen Fall der Münchner Theaterwissenschaft um 1910 erscheint es folglich als notwendig zu untersuchen, wie Artur Kutscher zur Leitfigur eines Kreises von Lernenden wurde. Er war zweifelsohne mit den Mechanismen, Ak‐ tivitäten und Ritualen gut vertraut, die damals alle Gruppierungen in der Kul‐ turstadt an der Isar regulierten und prägten, und hatte sich schon mit der Theorie und Praxis des Theaters auseinandergesetzt. Solche Merkmale wären allerdings ohne die Beziehung Kutschers zur Avantgarde sowie zu den akademischen Au‐ toritäten hinsichtlich der Koordination einer CoP kaum von Bedeutung ge‐ wesen. Er wusste die Spannung zwischen einer neuen Generation von Künst‐ lern, Intellektuellen und Gelehrten einerseits und dem veralteten, an den deutschen Hochschulen vertretenen wissenschaftlichen Lehr- und Lernsystem andererseits nicht nur zu erkennen, sondern auch auszunutzen. Als die Kunst ins Alltagsleben drang und die Wissenschaft eine aktive Rolle in der Gesellschaft beanspruchte, trieb Kutscher einerseits Kunstinteressierte und künftige For‐ scher dazu, sich an der konkreten Kunstpraxis zu nähern, und andererseits Künstler dazu, sich für die universitäre Forschungspraxis zu interessieren. Er unterstützte also die Aushandlung einer Praxis, die beiden Kategorien dienen konnte im Sinne einer gemeinsamen, wirksamen Wissenserzeugung. Um sich durchsetzen zu können, brauchte die kollektive Bedeutungsaushandlung von Ressourcen und Artefakten dennoch eine Theorie, welche auf die paradigmati‐ schen, zu verkörpernden Trajektorien der Lerngemeinschaft zeigte. Die mögli‐ chen Trajektorien verleihen dann jedem Mitglied das Material zur Entfaltung seiner Identität durch eine Gemeinschaft und jenseits dieser Gemeinschaft. Theorie und Praxis als Produkte der Beteiligung vieler Subjekte am individuellen sowie gesellschaftlichen Entwicklungsprozess standen offenkundig im Gegen‐ satz zur akademischen Forschungstradition. Als Wissensgebiet, auf dem Lern‐ ende mit demselben Vorhaben miteinander interagieren konnten, identifizierte Kutscher die Theaterwissenschaft, weil das in der Gesellschaft wachsende In‐ teresse am Theater noch keine Antwort in den Universitäten gefunden hatte. Er setzte daher seine Tätigkeit im Freiraum zwischen der Theaterkunst und der Wissenschaft des Theaters ein und übernahm dadurch die Verantwortung für die Etablierung einer Arbeitsgruppe, die diesen Raum füllen wollte. In den Augen seiner Zeitgenossen trat Kutscher als revolutionärer Professor und Teil III. Erste Entwicklungsphase 182 <?page no="183"?> 84 Vgl. beispielsweise den Artikel Züchtung junger Krokodile (1950: 41). Nicht-Nur-Wissenschaftler hervor, 84 der die Mitwirkung aller Bereitwilligen an der kulturellen und sozialen Erneuerung pries und förderte. Diese Überlegung wird von vielen Zeugen bestätigt, wie z. B. von Janaki Arnaudoff, der über seinen ehemaligen Professor erzählte: »Kutscher galt in jenen Jahren als ein Führer der fortschrittlichen akademischen Jugend, welche literarische und künstlerische Interessen hatte und außerdem oppositionell und revolutionär gestimmt war« (in Günther 1938: 190 f.). Eine einleuchtende Interpretation von Kutschers re‐ volutionärem Charakter lieferte Erich Mühsam: Dr. Kutscher war gewiß kein übertrieben revolutionärer Mann. Aber er wagte ein Unternehmen, das ihn in den Augen der zünftigen Literarhistoriker dazu machte. Er etablierte sich als Privatdozent an der Münchener Universität und kündigte ein Kolleg an über modernste deutsche Literatur und speziell über das dichterische Werk Frank Wedekinds. Den alten Professoren Franz Muncker, Sulber-Gebing usw. standen die Haare zu Berge, und Kutscher hatte eine schwierige Position, die er aber wacker ver‐ teidigte. (1977: 171) Die unorthodoxe Lehrweise Kutschers verursachte offensichtlich große Aufre‐ gung und Empörung, die Herbert Günther mit dem folgenden Satz zusammen‐ fasste: »Es war etwas Unerhörtes, daß ein Literarhistoriker vom Katheder herab Werke von Autoren behandelte, die um die Ecke wohnten oder im Kolleg zu‐ hörten« (1957: 50). Doch war vielmehr seine Hochschätzung der Praxis auch im akademischen Kontext und sein Ansatz, eine Aufführung könne mit den In‐ strumenten der Literaturwissenschaft allein weder analysiert noch verstanden werden, die ihn zum repräsentativen Leiter einer neuen Lerngemeinschaft machten, die um die Anerkennung der „Ausdruckskunst der Bühne“ und deren Experten kämpfte. Indem Kutscher verschiedene Partizipationsstufen innerhalb der theaterwissenschaftlichen Wissensstruktur ermöglichte, konnten die Mit‐ glieder unterschiedliche Verwertungsinteressen kultivieren und zugleich der Gemeinschaft ihre Kompetenzen zur Verfügung stellen. Erfahrung und Exper‐ tise der Mitwirkenden erweiterten sich somit parallel und sicherten die Bewirt‐ schaftung gemeinsamer Praxis und gemeinsamen Wissens. Vollständige, periphere und randständige Mitgliedschaft Die Partizipation an einer CoP umfasst drei Kompetenzen: erstens die Fähigkeit, das gemeinsame Unternehmen zu verstehen, um sich daran beteiligen zu können, zweitens die Fähigkeit, sich als zuverlässiger Mitwirkender innerhalb der Gemeinschaft vorzustellen, und drittens die Fähigkeit, zum geteilten Reper‐ Koordination und Partizipationsstufen 183 <?page no="184"?> toire gemeinsamer Ressourcen Zugang zu haben und dieses in geeigneter Weise zu benutzen. Dem Besitzgrad dieser Kompetenzen entspricht eine vollständige, periphere oder randständige Mitgliedschaft. Da alle Partizipationsstufen für die Tradierung und Reproduktion von Handlungssegmenten sowie für die Identi‐ tätsbildung der Teilnehmer notwendig sind, versuchte Kutscher unterschied‐ liche Stufen der Partizipation an der theaterwissenschaftlichen Praxis festzu‐ legen. In der Lerngemeinschaft wurden verschiedene Grade von Einsatzintensität akzeptiert, ja sogar gefördert, doch jeder Anhänger hatte prin‐ zipiell die Möglichkeit, die vollständige Mitgliedshaft und die leitende Funktion der Kerngruppe zu erreichen. In Bezug auf die Exkursionen des theaterwissenschaftlichen Kollegs gab Kut‐ scher fast nie eine Anzahlbegrenzung der Mitglieder, damit jeder Interessierte die Möglichkeit haben konnte, der Lerngemeinschaft ‚Theaterwissenschaft‘ näher zu kommen und seine aktive Mitarbeit daran zu beginnen. Dasselbe galt für die Teilnahme an den Übungen und Vorlesungen in den ersten Semestern. Am 12. Februar 1926 wurde der Theaterprofessor vom Kollegen Max Förster aufgefordert, eine Besprechung mit den Vertretern der Philosophischen Fakultät zu führen, weil die Ausführung der von ihm im Namen der Universität orga‐ nisierten Veranstaltungen zu weit von den akademischen Kriterien entfernt war. Der Anlass zu einem giftigen Brief Försters an den Dekan Schermann war eine ungefähr drei Wochen davor in den „Münchner Neuesten Nachrichten“ erschie‐ nene Mitteilung, das »Kutscherseminar« veranstalte eine karnevalistische Ball‐ festlichkeit und die Eintrittskarten zu dem sogenannten Zirkusfest seien da und dort zu haben. Gegen Kutscher wurden zwei Anklagen gerichtet: In erster Linie handele es sich um kein Seminar, sondern um »Universitätsübungen zur Büh‐ nenkunde«, was Försters Stellung gegenüber der neugeborenen Disziplin und deren Rolle in der Fakultät klarstellte. Dann betonte der Anglist, dass Kutscher ein »öffentliches karnevalistisches Tanzfest veranstalte, zu dem jedermann Zu‐ tritt habe. Das gleiche Bedenken richtet sich gegen die von Prof. Kutscher im Anschluss an seine Theater-Übungen veranstalteten Exkursionen zu auswär‐ tigen Bühnen«. Da man unter den Teilnehmern wirklich jedermann finden konnte, sogar die Freundinnen der Studierenden und noch deren Freundinnen, bezweifelte Förster den wissenschaftlichen Zweck solcher Tätigkeiten ( UAM , O- XIV -508). Die Reaktion Kutschers fand in einem Brief Ausdruck, den er am 15. Februar an den Dekan der Philosophischen Fakultät adressierte: 1. Den Ausdruck Seminar habe ich nun schon seit 1907 / 08 zu Beginn jedes Semesters aufs neue zurückgewiesen und erklärt, meine Übungen seien Kurse; aber der Name bürgert sich nicht ein, weder in der Universität noch ausser ihr. […] Teil III. Erste Entwicklungsphase 184 <?page no="185"?> 2. Die Teilnahme an Exkursionen und Führungen, die nun einmal unser wichtigstes Anschauungsmittel sind, da wir unseren Stoff nur z. T. im Hörsaal beibringen können, wird von jeher nur eingeschriebenen Studenten und Hörer der Kurse gestattet. […] Die Kontrolle und Verantwortung übernahme [sic! ] ich bei der Kartenausgabe, die ich ausnahmslos persönlich besorge. […] Wenn sich Leute angeschlossen haben, die aus‐ serhalb der Universität stehen, meine Frau, die stets dabei ist schon der Damen wegen, ferner Freunde, ältere Schüler u. Gönner meiner Kurse, so haben sie nicht nur keinen Anteil an den Vergünstigungen der Studenten, sondern haben ausserdem Stif‐ tungen vorgenommen, welche vielen wirtschaftlich schwächen Studenten erst die Teilnahme an den Lehrausflügen ermöglichten. […] 4. Schuldig bekennen muss ich mich in dem Falle, dass Pfingsten 1925 fünf Teilnehmer der volkstümlichen Hochschulkursen, von denen ich demselben Gegenstand behan‐ delte wie in der Universität, mitgenommen wurden zu studentischen Bedingungen; aber ich mochte in diesem Falle den armen Teufel, kleinen Bürobeamten, aus sozialen Gründen nicht den vollen Preis abverlangen. Das war eine Ausnahme. Das wird nicht wieder geschehen. […] 5. Nachdrücklich aber muss ich die Vorwürfe der Unbescheidenheit und des heraus‐ fordernden Geldwegwerfens seitens meiner Studenten zurückweisen, Vorwürfe, die schon 1924 laut wurden und von mir bereits vor der Studentenschaft widerlegt sind. […] Ich kann aus Gründen meiner Wissenschaft und ihrer klar erkannten Me‐ thode, mit welcher zu stehen und zu fallen ich bereit bin, meine Exkursionen und Führungen weder ausschränken noch aufgeben. (Ebd.) (Herv. im Originaltext) Die Antwort des Theaterprofessors, die Punkt für Punkt jede offene sowie stumme Anklage durchging, verdient eine nähere Betrachtung. Ganz am Anfang markierte er die Diskrepanz zwischen einer von den Universitätsbehörden vor‐ geschriebenen Nomenklatur, welche dem Gleichgewicht der einzelnen Lehrfä‐ cher innerhalb der Universität entsprach, und der effektiven Rezeption seitens der Studierenden und der Öffentlichkeit. Die Theaterwissenschaft hatte in der Gesellschaft ihre Legitimation schon gefunden - eine Legitimation, der die Phi‐ lologische Fakultät nichts entgegenstellen konnte. In den darauffolgenden Punkten erklärte Kutscher detailreich, wie er die Teilnahme an Führungen und Lehrfahrten konzipierte. Mitglieder der theaterwissenschaftlichen Lerngemein‐ schaft waren nicht nur Studenten, welche Ermäßigungen genossen, sondern auch ehemalige Kutscher-Schüler, Freunde und „Gönner“ seiner Kurse, die be‐ reitwillig Geld dafür bezahlten, um anderen Interessenten die Teilhabe an Lern‐ aktivitäten zu ermöglichen. Solche Aktivitäten stellten für alle Teilnehmer der theaterwissenschaftlichen Lerngemeinschaft das „wichtigste Anschauungs‐ mittel“ dar, d. h. sie gehörten zur geteilten Praxis und waren somit für den ge‐ meinsamen Lern- und Wissensprozess eine unerlässliche Voraussetzung. Erst durch die Mitwirkung an den zahlreichen Gemeinschaftsveranstaltungen Koordination und Partizipationsstufen 185 <?page no="186"?> 85 Die anderen Identitätsdimensionen bzw. Eigenschaften sind »local connectedness« und »global expansiveness« (Wenger 2000: 241). 86 Schon in der Entstehungsphase der theaterwissenschaftlichen Lerngemeinschaft un‐ terstützte Kutscher also den Versuch der Mitglieder, eine vollkommene „lokale Ver‐ bundenheit“ innerhalb der Gruppe zu erreichen, während ihre Fähigkeit zur „globalen Ausdehnung“ erst in den späten 1920er Jahren an Bedeutung gewann. wurden Newcomer dazu berechtigt, Zugang zum Praxisfeld zu erhalten. Als periphere Mitglieder traten daher alle Theaterinteressenten hervor, die dank der direkten, dauerhaften Auseinandersetzung mit dem Objekt ‚Theater‘ und mit dem Wissensbereich ‚Theaterwissenschaft‘ Grundkenntnisse über das gemein‐ same Vorhaben sowie über die geteilte Reihe von Praxisressourcen erworben hatten. Novizen sowie Gelegenheitsmitglieder erkannten in der theaterwissen‐ schaftlichen Arbeitsgruppe den Ausgangspunkt ihres lokalen Engagements, eine Art »home base«, dank welcher sie sich an unterschiedlichen Projekten und in Verbindung mit anderen Gemeinschaften beteiligen konnten, ohne ent‐ wurzelt zu werden (Wenger 2000: 241). Wenn sie dann einen Sinn für das Vor‐ haben und die Praxis des theaterwissenschaftlichen Unternehmens bewiesen und sich weiterhin zur vollen Verfügung der Gruppe stellten, konnten sie als vollständige Mitglieder betrachtet werden. Zur Reproduktion und Tradierung des theaterwissenschaftlichen Tätigkeits‐ systems trugen erst vollständige Mitglieder bei, die sich zusammen mit der Ent‐ wicklung der Wissensstruktur persönlich verändert hatten. Die Tatsache, dass sich die individuelle Trajektorie eines Mitglieds mit der Trajektorie der CoP dergestalt verbunden hatte, dass beide von dieser Verkoppelung bereichert wurden, war für Kutscher ein Kennzeichen der Leistungsfähigkeit jenes betei‐ ligten Akteurs. Laut Etienne Wenger ist »social Effectiveness« eine der drei Identitätsdimensionen, die ein gesundes Sozialindividuum dazu bringen, in un‐ terschiedlichen Praxisfeldern wirksam zu handeln, 85 und zwar durch die Parti‐ zipation an etablierten Praktiken Sozialkompetenzen zu entwickeln und zu‐ gleich die eigene Erfahrung in diese Praktiken einfließen zu lassen (2000: 240). Was der Theaterprofessor von solchen wirksamen Akteuren erwartete, war eine gewisse Hingabe an die Praxis der Lerngemeinschaft, die sie durch immer tiefere Verbindungen zu anderen Mitgliedern sowie zu geteilten Parcours, Artefakten und Erlebnissen erreichten. 86 Nur ältere Schüler durften beispielsweise an Gast‐ vorträgen teilnehmen, während andere Studierende eine Genehmigung benö‐ tigten, die aber nach Kutschers Prüfung der Motivation so gut wie immer erteilt werden konnte. Allwöchentlich traf Kutscher sich mit seinen älteren Studenten Teil III. Erste Entwicklungsphase 186 <?page no="187"?> 87 Das Privatissimum war nur den »fortgeschrittenen« Schülern zugänglich, »die sich berufsmäßig dem Theater widmen woll[t]en« (Kutscher 1924: 145). Auch in der Anlage dieser Lehrveranstaltung hob Kutscher die Beziehung zwischen universitären Vorle‐ sungen und Theaterpraxis hervor: »Hier werden historische und theoretische Sonder‐ fragen behandelt […], hier werde Spezialübungen in Bewertung von Bühnenleistungen abgehalten, Proben an Münchener Theatern für Lehrzwecke besucht, in welchen uns Szenen mit verschiedenen Besetzungen, Stellungen, Auffassungen wiederholt vorge‐ spielt werden, hier werden kleine Aufgaben aus der Dramaturgie und Regie gestellt, und seit langen Semestern regelmäßig auch Aufführungen veranstaltet […].« (Ebd.). 88 Meyer war auch als Sekretär Kutschers in der Sommerfrische tätig, indem er sich vom Theaterprofessor Teile von dessen Grundriß der Theaterwissenschaft diktieren ließ. Zu Kutschers 60. Geburtstag bat Meyer dann den Staatsminister Gauleiter Adolf Wagner darum, Kutschers theaterwissenschaftliche Bemühungen mit einer Ernennung zum Ordinarius für Neuere Deutsche Literaturgeschichte offiziell anzuerkennen, was aber nicht geschah (DLA, A: Kutscher 57.4972). sowohl in einem Privatissimum 87 als auch »zu kameradschaftlichem Beisam‐ mensein im Nebenzimmer des Schwabinger Bierlokals „Großer Wirt“« (Günther 1957: 63), was für die kleine Schar ein Zeichen der Auserwähltheit darstellte. Darüber hinaus nannte Kutscher innerhalb des Oberkurses einen Senior, und zwar einen Studenten, der Kutschers besonderes Vertrauen besaß und ihm bei der Veranstaltungsorganisation half. Als Kutschers früherer Schüler und Freund Rudolf Meyer, Regisseur und Intendant u. a. der Städtischen Bühne Heidelberg, 50 Jahre alt wurde, übermittelte ihm der Theaterprofessor seine Glückwünsche und erwähnte Meyers Tätigkeit in der theaterwissenschaftlichen Lerngemein‐ schaft: 88 Der damalige Student erleichterte mir die vielen harten Kämpfe um die Berechtigung des neuen Faches zum Theater aller Zeiten und Völker. Seine Hilfe, aus eigenem Bedürfnis geboten, unter‐ stütze mich in der Begründung der Theaterwissenschaft wie auch der eng damit ver‐ bundenen Stilkunde der deutschen Dichtung. Er setze sich ein für meine Kamerad‐ schaftspflege auf den Autorenabenden, in den Aufführungen und festlichen Veranstaltungen des engeren Kreises, dessen Senior er bald wurde. Er begriff, dass unsere Studienfahrten neben der Kenntnis des Geschichtlichen von Theater- und Bühnenbau, Orchestra, Zuschauerraum, mimischen Tanz und Spiel auch der Füh‐ lungnahme mit der fremden Jugend, der Völkerverbrüderung dienen wollten. Meyer hat deshalb wohl über 30 Exkursionen mitgemacht und organisieren helfen […]. (Mo‐ nacensia, n. k.) Zu den Aufgaben des Seniors gehörte auch die Organisation der Autorenabende, zumal er dafür sorgen musste, dass an jedem Mittwoch ein Dichter für den Vor‐ trag erschien - und »Kutscher ließ sich überraschen« (Günther 1957: 75). Der Seniorschüler hatte fernerhin die Verantwortung, große Veranstaltungen und Koordination und Partizipationsstufen 187 <?page no="188"?> 89 Siehe z. B. das Programm des Feierabends zu Kutschers 50. Geburtstag, wo neben Max Halbe und Hubert Wilm auch der Senior Hermann Frieß eine Ansprache hielt (Mona‐ censia, n. k.), oder die vom Senior Hanns Kübler unterschriebene offizielle Mitteilung, dass die Theaterwissenschaftler der Münchner Universität Kutscher zu seinem 65. Ge‐ burtstag einen Ehrentag widmeten (ein Exemplar befindet sich im Literaturarchiv der Monacensia, GoK B 382). 90 Vgl. die Karte, die Kutscher am 9. April 1934 nach einer Afrikareise an Hans Ruederer sendete (Monacensia, JR B 679). 91 Günther kommentierte hierzu: »Dennoch war ein Besuch des Seniors, der ihn aus‐ drücklich darum bat, eine Anstandspflicht, die er erwartete« (1957: 81). 92 Weitere Ehrenmitglieder waren Ludwig Miedhauner, Max Halbe, Hanns Johst, Hanns Braun, Alfred Bofinger, Hugo Sachs (Königl. Norwegischer Konsul), K. A. Lange (Kom‐ merzienrat), Wilhelm Weigand, Georg Zurhellen, Walter von Molo, Hans Carossa und Hans Schlenk (Monacensia, n. k.). Feste in Gang zu setzen 89 sowie Vorträge oder Aufführungen zu besuchen, wenn Kutscher nicht dabei sein konnte. Dann erhielt der Professor einen ausführli‐ chen Bericht darüber. 90 Fast alle Senioren Kutschers promovierten bei ihm und wurden im Laufe der Zeit sogar enge Freunde des Professors. Neben Rudolf Meyer und Herbert Günther muss man zumindest auch Günther Caracciola-Del‐ brück, der am 29. April 1945 als Mitglied der Bayerischen Widerstandsgruppe erschossen wurde, Werner Cahn-Bieker, der obwohl „Halbjude“ Senior des Kut‐ scher-Kreises im Nationalsozialismus war, und zuletzt Karl Brotze erwähnen, der bis 1979 die „Akademischen Studienreisen Prof. Artur Kutscher“ fortsetzte. Brotze war darüber hinaus Vorstandmitglied der „Gesellschaft der Freunde Artur Kutschers“, zusammen mit Hans Schweikart und Herbert Hohenemser, zwei andere treue Kutscher-Schüler. Die interne Gestaltung der CoP erlaubte ein breites Spektrum der Zugehö‐ rigkeit, angefangen bei Newcomern und Gelegenheitsmitgliedern, über die Teil‐ nehmer des theaterwissenschaftlichen Oberkurses bis hin zu den Seniorschülern und Ehrenmitgliedern, die sich der Kernposition Kutschers näherten. Ehren‐ mitglieder des Kutscher-Kreises konnten sowohl repräsentative Künstler sein, wie Max Halbe, dessen Vorlesung zum Programm jedes Semesters gehörte, 91 oder Wissenschaftler, die durch großherzige Gesten ihre wichtige Mitwirkung an der Bewahrung ritualisierter und habitualisierter Handlungsweisen versi‐ cherten. Franz Schneider, Kutschers Freund und Kollege an der University of California, Berkeley, wurde tatsächlich zum ersten Ehrenmitglied des Kut‐ scher-Kreises ernannt, weil er im Februar 1923, inmitten der deutschen Inflation, den Zug für die Studienfahrt nach Stuttgart bezahlte, wodurch er die Exkursion überhaupt rettete. Ein anderes Ehrenmitglied des Kreises war beispielsweise der Reichsfinanzrat Fritz Koch, der an 40 Exkursionen teilnahm und angeblich als Stifter der Studienreise galt (Kutscher 1960: 138). 92 Der Theaterprofessor übersah Teil III. Erste Entwicklungsphase 188 <?page no="189"?> 93 Vgl. Fritz Kochs Erinnerung an die Exkursionen des Kutscher-Kreises in Günther 1938: 182. 94 Siehe dazu das nächste Kapitel. die Wichtigkeit solcher Mitglieder nicht und schon 1925 erklärte er: »Daß in jüngster Zeit größere Ausflüge stattfinden konnten, verdanken wir neben dem Entgegenkommen der örtlichen Organisationen, öffentlichen und privaten Ver‐ waltungen den reichen Unterstützungen durch ausländische, aber auch einhei‐ mische Freunde der Theaterwissenschaft« (147). In dieser Struktur fanden also auch andere Dozenten, Intellektuelle und Forscher Platz. Entweder nahmen sie an Reisen und Abenden teil oder hielten fachbezogene Vorträge während des Semesters für die Teilnehmer der theaterwissenschaftlichen Gemeinschaft. Es war demgemäß der renommierte Archäologe Wilhelm Dörpfeld, der, wenn möglich, den Kutscher-Kreis durch Griechenland begleitete, und ein anderer Archäologe, Ludwig Michael Curtius, stellte sich für ein paar Stunden im römi‐ schen Thermenmuseum, Rom, während der Italienreise 1950 zur Verfügung. Der Kunsthistoriker Erwin Hensler kam mit Kutschers Reisegefährten nach Russ‐ land mit, während Hugo L. Kehrer und Fritz Weege in Paris jeweils Bilder in seltenen Sammlungen und Werke der Alten erklärten. 93 Den Intendanten des Süddeutschen Rundfunks Alfred Bofinger, ein alter Kutscher-Schüler, bezeich‐ nete der Theaterprofessor als »Mäzen armer Studenten«, weil er manchen von ihnen »gegen gute Belohnung in eine als Mikrophon täuschend nachgebildete, lackierte Zigarrenkiste rezitieren oder singen« ließ (1960: 98). August Gallinger war hingegen ein ständiger Tischgenosse am „Jungen Krokodil“, Robert F. Ar‐ nold und Adolf Linnebach wurden 1926 am Projekt der „Gesellschaft für das Süddeutsche Theater“ beteiligt. 94 Die interdisziplinäre Kooperation spielte mithin bereits in Kutschers Forschungspraxis eine wesentliche Rolle, lange bevor die Orientierung des Faches zur Theatralitätsforschung und zu transkul‐ turellen Studien führte. Partizipation und Nicht-Partizipation Ein letzter Aspekt der inneren Struktur der Münchner Theaterwissenschaft be‐ trifft die Nicht-Mitgliedschaft. Abgesehen von den Individuen und Gruppie‐ rungen, die von der von Kutscher geleiteten Lerngemeinschaft einen bewussten Abstand hielten, muss man jene Form von Nicht-Mitgliedschaft näher untersu‐ chen, die in Wengers Auffassung strategisch wirkt (1998: 171). Diese wird näm‐ lich zum Bestandteil der Praxis selbst, weil sie gerade durch die Bewahrung nichtpartizipatorischer Haltungen gegenüber gewissen Gemeinschaften das Gefühl verstärkt, zur eigenen Lerngemeinschaft als aktives Mitglied zu gehören. Koordination und Partizipationsstufen 189 <?page no="190"?> Daher spricht Wenger von der »subtle cultivation of non-participation« als »a tacitly shared understanding«, wobei er die Nützlichkeit der Wechselwirkung zwischen Partizipation und Nicht-Partizipation in einem System vernetzter Praktiken hervorhebt. Diese produktive Korrelation sei auch bezüglich der Be‐ teiligten an der theaterwissenschaftlichen Praxis und der Vertreter der dama‐ ligen Bühnenwelt nachweisbar. Mit den Bemühungen seiner Gruppe strebte Kutscher danach, die Jugendlichen an den Theaterbetrieb anzuschließen und umgekehrt den Theaterbetrieb durch einen hoch kompetenten und engagierten Nachwuchs zu bereichern. Eine weitere Strategie dieser Annäherung an kon‐ kretes Theater war die Einrichtung eines stillschweigenden Systems, in dem sich Theaterleute und Kutschers Schüler aus Freundlichkeit und Gemeinschaftsge‐ fühl immer bereit erklärten, an jeweiligen Projekten als Komparsen, Drama‐ turgen, Assistenten oder einfach Zuschauer teilzunehmen. Der Theaterpro‐ fessor war gewiss der Kontaktpunkt zwischen jenen beiden Kategorien bühnentätiger Menschen. Die persönlichen Kontakte mit Intendanten und Spiel‐ leitern stellten den Raum für gemeinsame Erfahrungs- und Wissensaustausche her, wie im Nachlass Kutschers ausführlich dokumentiert ist. Als Heinrich Mann am 21. Januar 1917 gerade dabei war, die Proben für seine Mme Legros an den Kammerspielen zu beginnen, erfuhr er, dass es an männlicher Komparserie fehlte. In dem Moment fiel ihm eine Gruppe junger Leute ein, die gleichzeitig theaterbesessen, kompetent und vertrauenswürdig sein konnten und die zudem von einem wohl bekannten Professor ausgewählt worden waren. Ein Tag vor dem Beginn der Proben fragte er Kutscher: »Sollten in Ihrem Se‐ minar etwa sieben junge Herren geeignet und geneigt sein, „Volk“ und Soldaten zu spielen? « ( DLA , A: Kutscher 57.4905). Auch Otto Falckenberg, der Kutscher seit der Jugendzeit gut kannte, nutzte oft seine Bekanntschaft mit dem Thea‐ terprofessor, um studentische Hilfe zu erhalten. Vice versa kann man auch be‐ haupten, Kutscher pflegte seine Beziehung zu Falckenberg und zu den Kam‐ merspielen, um somit für seine Gruppe größtmöglichen Nutzen davonzutragen. Nachdem Falckenberg in der Wintersaison 1917 / 18 die Direktion und künst‐ lerische Leitung der Kammerspiele übernommen hatte, schrieb er an Artur Kut‐ scher am 11. September: »Dass du die Freundlichkeit hast, uns Deine Studenten für den kommenden Winter zur Mitwirkung in Aussicht zu stellen, dafür bin ich Dir ganz besondere dankbar, da wir ja leider über keine geschulte Kompar‐ serie verfügen«, und schloss den Brief mit dem Satz: »Selbstverständlich sind uns Deine Schüler jederzeit als Gäste in unserem Theater willkommen« ( DLA , A: Kutscher 57.4480). Die Basis für ein Gefälligkeitssystem, ein do ut des, zwi‐ schen Falckenberg bzw. den Kammerspielen und dem Kutscher-Kreis war da‐ durch gelegt. Dieses System funktionierte auch im Nationalsozialismus bis hin Teil III. Erste Entwicklungsphase 190 <?page no="191"?> zu den letzten Lebensjahren Falckenbergs, sodass der Intendant am 21. März 1939 Kutscher zwei Ehrenkarten für einen Tanzabend mit Hilde Schewior sen‐ dete und dazu den Wunsch äußerte, im theaterwissenschaftlichen Schülerkreis darauf aufmerksam zu machen (Ebd.). Am 14. April 1947, nach der Gründung der Städtischen Schauspielschule in München, schrieb er Kutscher hingegen: »Solltest Du in der großen Anzahl von ehemaligen oder gegenwärtigen Schülern einige wirkliche Begabungen haben, die sich für die Sache interessieren, so sei doch so freundlich, sie mir zu schicken […]« - die Fachakademie versuchte da‐ durch, einen Kontakt zur Universität herzustellen. An Kutscher wandte sich auch ein anderer Theaterdirektor, der aus dem theaterwissenschaftlichen Kreis potentielle Schauspieler herausfinden wollte. Wilhelm Janssen lud am 21. No‐ vember 1949 den Professor und dessen Frau zur kommenden Aufführung in seinem Ateliertheater ein und bei jenem Anlass sprach er seine Bitte aus: Wir haben an unser kleines Theater ein Schauspielstudio angeschlossen, das unter der Leitung von Prof. N. Gortschakoff, einem langjährigen Mitarbeiter von Stanislawski, steht. Vielleicht sind gerade unter Ihren Schülern manche, die ein Interesse haben neben den Vorlesungen praktische Bühnenarbeit kennen zu lernen und vor allem Einblick in das System Stanislawski zu erhalten. Im Namen auch von Prof. Gortscha‐ koff wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie, verehrter Herr Professor, in einem Ihrer nächsten Referate auf dieses Studio hinweisen würden. (DLA, A: Kutscher 57.4755) Die dramaturgische Tätigkeit stellte aber schon in den ersten Jahrzehnten der Disziplin eine der beliebtesten Anschlusspunkte zwischen Theaterwissenschaft und konkreter Theaterkunst dar. Vor und nach dem zweiten Weltkrieg war Artur Kutscher die Bezugsperson des Intendanten Georg Hartmann, um begabte Stu‐ denten als Dramaturgen in seinen Theaterhäusern anzustellen. Am 23. Mai 1927 liest man in einem von ihm an Kutscher adressierten Brief: »Im Anschluss hieran möchte ich Sie höflichst bitten, wie wir bereits besprochen haben, mir einen Ihrer Schüler, den Sie für besonders geeignet halten, als Dramaturgen für die nächste Spielzeit zur Verfügung zu stellen« ( DLA , A: Kutscher 57.4634/ 1). Zwanzig Jahre später, als Hartmann die Leitung der Bayerischen Staatsoper übernahm, erhielt der Theaterprofessor eine ähnliche Bitte: »Wissen Sie aus Ihrem Schülerkreis einen begabten, wendigen, jungen Dramaturgen, der für eine derartige Position an der Staatsoper evt. infrage käme? Wir brauchen ihn als Verbindungsmann zur Presse. Er muss auch feuilletonistisch versiert sein, le‐ bendig, […]« ( DLA , A: Kutscher 57.4634/ 5). Auch der frühere Kutscher-Schüler Hermann Gressieker hatte eine klare Idee von dem begabten Talent, den der Theaterprofessor ihm vorstellen sollte. Ende Juni 1934 fragte er Kutscher offen: Wissen Sie nicht ein gutes Stück für uns? Haben Sie nicht unter Ihren Schülern und unter den Gästen Ihrer Autoren-Abenden jemand, der ein Werk zustande gebracht Koordination und Partizipationsstufen 191 <?page no="192"?> 95 Am 9. April 1936 schrieb Alexander Schum an Kutscher: »Da ich annehme, dass einige Ihrer Schüler im Sommersemester das Examen machen werden, und dann den Wunsch haben, als Volontär an eine gute geleitete Bühne zu gehen, so wäre ich Ihnen zu grossem Dank verpflichtet, wenn Sie die betreffenden Herren auf das Braunschweigische Lan‐ destheater aufmerksam machen wollten« (DLA, A: Kutscher 57.5251 / 3). hat, für das man sich einsetzen kann? Es müsste allerdings seinem ganzen Format nach wirklich für das Deutsche Theater passen, das seinen früheren repräsentativen Charakter zurückgewinnen soll. Es müsste passen in einen Spielplan mit Shakespeare, Kleist, Shaw und Gerhart Hauptmann. Ich wäre Ihnen sehr, sehr dankbar, wenn Sie mir einen Kerl, um den es sich wirklich lohnt, zutreiben würden. (DLA, A: Kutscher 57.4548) Wenige Monate danach wiederholte er halb im Scherz, halb im Ernst: »Taucht denn bei Ihnen nicht einmal ein neues dramatisches Talent auf, lieber Herr Pro‐ fessor? Haben Sie nicht einen jungen Ziersch oder Gressieker in ihrem Se‐ minar? « ( DLA , A: Kutscher 57.4549). Während der nationalsozialistischen Herr‐ schaft hatte Kutscher auch Kontakte mit dem Braunschweigischen Landestheater, dessen Leiter Volontäre im dramaturgischen Büro der Oper und des Schauspieles suchte, 95 und mit dem städtischen Kulturamt der „Gauhaupt‐ stadt“ Posen (Poznań), der Kutscher mehrmals um Hilfe bat. Anlässlich der Ein‐ richtung eines Theaterarchivs für das Reichsgautheater Posen brauchte Herr Houben einen Rat: Ich habe dem Bürgermeister der Gauhauptstadt, Herrn Dr. Trautwein, vorgeschlagen, einen jungen Theaterwissenschaftler(-rin) mit dieser Aufgabe zu betrauen. Ein Ab‐ schluß des Studiums ist nicht erforderlich. Ich kann mir im Gegenteil sehr gut vor‐ stellen, daß der Aufbau des erwähnten Theater-Archivs und -Museums zum Gegen‐ stand einer theaterwissenschaftlichen Arbeit gemacht werden könnte. Auf Wunsch des Studenten könnte von einer Dauerverpflichtung abgesehen und zunächst nur eine Zeit von 1-1 ½ Jahren in Aussucht genommen werden. Bezahlung würde voraus‐ sichtlich nach Gruppe V b der TO.A erfolgen. In den eingegliederten Ostgebieten wird zudem eine besondere steuerliche Vergünstigung gewährt. Vielleicht erklärt sich aus dem Kreise Ihrer Studenten oder Studentinnen jemand bereit, die gewiß interessante und lehrreiche Aufgabe anzupacken. Für einen Theaterwissenschaftler mit abge‐ schlossener Hochschulbildung käme die Gruppe III der TO.A in Frage. Er fragte Kutscher weiter, ob der Professor Gast in Posen sein möchte, um einen Vortrag über das deutsche Theater der Gegenwart anzubieten (Monacensia, n. k.). Kutscher erklärte sich dann bereit, im November 1942 einen Vortrag über Die Entwicklung des deutschen Bühnenbildes in den letzten hundert Jahren an Hand der Aufführungen des Goethe’schen Faust zu halten (Ebd.). Der Vortrag fand tatsächlich am 20. November statt. Es konnte auch umgekehrt passieren, dass Teil III. Erste Entwicklungsphase 192 <?page no="193"?> sich ein ehemaliger Student der Theaterwissenschaft von Kutscher empfehlen ließ. Im Juli 1949 erzählte Werner Gillner beispielsweise in einem Brief, er möchte sich als Regieassistent bewerben, um den praktischen Bühnenbetrieb zu studieren und um sich über seine Befähigung als Regisseur klar zu werden. Was er sich vom alten Professor erhoffte, war eine dementsprechende Empfehlung, die ihm »sicher viele Schwierigkeiten [zu] überwinden helfen« würde (Mona‐ censia, n. k.). Die angeführten Beispiele zeigen deutlich, dass sich der potentielle Nutzen der Theaterwissenschaft als CoP für ihre Mitglieder sowie Nicht-Mitglieder im Laufe der Zeit, und zwar durch verschiedene Kontexte und dynamische Inter‐ aktionen, veränderte. Die Flexibilität der Wissensstruktur ermöglichte daher die ständige Aushandlung und Regeneration von Lernstrategien und -inhalten, so‐ dass die Partizipation immer an die Erfüllung neuer Aufgaben gerichtet werden konnte. In anderen Worten, das regulierte System unterschiedlicher Einsatzin‐ tensitäten und Mitgliedsformen gestaltete die theaterwissenschaftliche Lernge‐ meinschaft derart, dass sie den Teilnehmern vielfältige Bewegungsräume anbot und deren Identität - sprich: Erfahrung und Kompetenz - ausnutzte, um für das gesammelte Wissen stets neue Anwendungen zu finden und um dies demzufolge neu zu bestimmen und weiterzuentwickeln. Koordination und Partizipationsstufen 193 <?page no="194"?> 1 In diesem Kapitel tauchen Begriffe wie ‚Volk‘, ‚volkseigen‘ und sogar ‚völkisch‘ häufig auf, weil sie von Kutscher, von Herrmann Reich sowie von vielen anderen Geisteswis‐ senschaftlern der Zeit gern benutzt wurden. Solche Termini, die in anderen historischen und ideologischen Kontexten - etwa in der langen Geschichte nationaler bzw. natio‐ nalistischer Bestrebungen bis zur nationalsozialistischer Verzerrung - unterschiedlich stark politisiert und kompromittiert wurden, verwiesen im theaterwissenschaftlichen, anthropologischen und literarischen Diskurs der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts vorwiegend auf den Boden, in dem eine gewisse künstlerische oder vorkünstlerische Darstellungsform wurzelte, also nicht auf die Nation oder auf die biologische Abstam‐ mung. 2 Diese Passage, in der sich Kutscher selbst über das Verhältnis zwischen Krieg und Kunst äußerte, wurde bemerkenswert von Günther in seinen Lebensabriss des Lehrers für die Festschrift für Artur Kutscher zu seinem 75. Geburtstage (1953) nicht aufgenommen. Vielleicht betrachtete der frühere Schüler rückschauend in den Worten Kutschers eine zumindest missverständliche Kriegsverherrlichung. Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten Der Ursprung des Theaters Die wichtigste Folge des Krieges für unsere Kunst ist diese. Der Sinn des Schaffenden und Genießenden war im steigenden Maße beängstigend ästhetisch und formalistisch geworden. Um den Gegensatz zu früheren Zeiten ja recht scharf zu betonen, hatte sich die Kunst vom äußeren Leben abgewandt und nach innen gekehrt; sie war aber auf diesem Wege zu einer blassen, kalten und schwachen Geistigkeit gekommen. […] Der Krieg heilt diese Krankheit gründlich. Er bringt das Erlebnis wieder zu Ehren. Ich meine nicht die Fülle und den Reichtum der Kriegsmotive, sondern er erschließt uns überhaupt wieder die bewegte Welt der Geschehnisse, er führt uns wieder in die blühenden Weiten der Umwelt. Der Stoff gewinnt Bedeutung. Wir werden abgekehrt von der Seelenminiatur und der krassen Ausdrucksmanie. Wir sahen den Nebenmen‐ schen wieder, wir kriegen wieder Fühlung mit dem Volk, über alle Schichten hinweg - nicht sozial nur, das ist selbstverständlich geworden - rein als Nachbarwesen und Bruder, mit dem man Luft und Leben teilt, mit dem man steht und fällt, und der einem wert ist. 1 Und die reine Verständigung, das Einfache erscheint wichtiger als der ab‐ sonderlichste ganz individuelle Schnörkel. (Kutscher in Günther 1938: 49 f.) 2 In der Reifephase der Münchner Theaterwissenschaft, ungefähr in der Zeit‐ spanne 1918-1933, beobachtete man die Expansion der Aktivität des Kut‐ scher-Kreises, der sich mit der Bewertung von Aufgaben und Zielen sowie mit der Identifizierung ungelöster Probleme in der Durchführung der gemeinsamen <?page no="195"?> 3 Um die Inflation der Nachkriegszeit zu überleben, unterrichtete Kutscher auch an der Mercedes-Filmschule und an der Schauspielschule König. Dazu hielt er mehrere Vor‐ träge und verfasste »mehr als zuvor Aufsätze für Zeitungen und Zeitschriften« (Kut‐ scher 1960: 130). 4 Hierzu betont Wenger die Parallelität zwischen Praxis als Grenze und Landschaft und Identität als Verknüpfung verschiedener Zugehörigkeiten (1998: 215). Praxis befasste. Nach den Erfahrungen als Soldat an der Front und später als verwundeter Lehrer in einem Münchner Gymnasium 3 konnte Kutscher erst im Wintersemester 1916 / 17 seine universitäre Unterrichtstätigkeit wiederauf‐ nehmen und seine Veranstaltungen wie früher an das lebendige Theater an‐ knüpfen. Das Projekt der theaterwissenschaftlichen Arbeitsgruppe musste in der neuen historischen und sozialen Lage notwendigerweise redefiniert werden. Diese Neubestimmung fiel mit dem Bemühen zusammen, die Grenzen der Lern‐ gemeinschaft zu erweitern, ohne jedoch an Zusammenhang zu verlieren. Die „soziale Landschaft“ der Münchner Theaterwissenschaft wurde mithin durch Diskussionsrunden, kollektive Begegnungen und externe Impulsen belebt, welche die Beteiligung der Mitglieder an der gemeinsamen Praxis aus einer in‐ neren sowie aus einer äußeren Perspektive betrachten ließen. Der Blick nach innen ermöglichte allen Beteiligten, den Nutzen der Lernstruktur für die eigene Identitätsentfaltung zu erkennen, und zwar das aktive Engagement und die ständige Aushandlung als Bausteine der Wissensproduktion zu verstehen. Der Blick von außen, d. h. durch die Augen eines Außenstehenden, war hingegen die Voraussetzung für das Begreifen der Identität als »nexus of multimember‐ ship« - eine Kennzeichnung, die den Lernprozess auch außerhalb einer ein‐ zelnen Lerngemeinschaft fortwähren lässt. 4 Diese Entwicklungsstufe der von Kutscher koordinierten Theaterwissenschaft wurde von der intensiven Beschäf‐ tigung mit dem Ursprung des Theaters geprägt, was insbesondere angesichts der Tatsache, dass immer mehr Mitglieder vom gleichen Ziel überzeugt waren und dass eine stärkere Beteiligung an der kulturellen Praxis stattfand, Relevanz bekam. Das Referenzmodell der Münchner Theaterwissenschaft Mit dem mimischen Ursprung des Theaters wies Kutscher auf ein Referenzmo‐ dell hin, das lokale Interessen und Traditionen mit einem über die nationale Dimension hinausweisenden Austausch und Einsatz verband. Nur durch einen kollektiv verfestigten Wissensbereich und ein globales Beziehungsgeflecht konnte die damals noch nicht institutionalisierte theaterwissenschaftliche Lern‐ gemeinschaft an Bedeutung gewinnen. Obgleich Kutschers Lehrtätigkeit und Der Ursprung des Theaters 195 <?page no="196"?> 5 Magdalena Bonk interpretiert die heftigen Abwehrreaktionen der Germanisten als »ty‐ pische Reaktionen der Vertreter eines etablierten Fachs, die in neuen Fächern keine Bereicherung des Lehrangebotes, sondern nur zusätzliche Konkurrenz sehen« (1995: 74). 6 Vgl. Klier 1979: 330 f. Forschungspraxis schon seit 1909 die Selbständigkeit der Theaterwissenschaft voraussetzten, hatte seine Lerngruppe vor den 1920er Jahren noch kein festes Bezugssystem für das gemeinsame Unternehmen gebildet, das ihre Praxis von derjenigen der Germanistik emanzipieren konnte. Erst die Rezeption der Mi‐ musgeschichte Hermann Reichs und die Überarbeitung des Konzepts ‚Mimus‘ als lebendige Urquelle des Theaters machte es möglich, das nicht-philologische Herzstück der Theaterwissenschaft hervorzuheben und deren praxisbasierte Untersuchungsmethoden von denen der Literaturwissenschaft zu unter‐ scheiden. Gerade nach dem Ersten Weltkrieg begann die harte Auseinandersetzung in‐ nerhalb der Philosophischen Fakultät der Universität zu München über die mögliche Existenz einer unabhängigen Wissenschaft des Theaters. Alle Germa‐ nisten lehnten das neue Fachgebiet bzw. dessen methodologische Ansprüche und Praxisnähe ab, 5 wie die Stellungnahme des Ordinarius Franz Muncker im März 1918 beweist, als er sich auf Anregung der Münchner Alma Mater über das dortige „theaterwissenschaftliche Seminar“ äußerte: Die Fakultät in aller Form mit diesem „theatergeschichtlichen Seminar“ zu behelligen geht am Ende doch etwas weit. Denn die Antwort an das Sekretariat, daß es ein solches Seminar nicht gibt und der Name widerrechtlich von den Studenten bei jener Auf‐ führung gebraucht wird, haben Sie ja wohl schon erteilt. Etwas andres wäre es, wenn Sie als Dekan den Kollegen Kutscher zu sich kommen ließen und ihm die Ungebühr‐ lichkeit dieses Namens, die er mindestens geschehen ließ, wenn nicht gar veranlaßt, ernst vorstellten, auch darauf verweisen, daß es bei Besprechung in einer Fakultäts‐ sitzung nicht ohne schweren Tadel für ihn ablaufen würde. Ich würde ein solches Vorgehen von Ihrer Seite sehr begrüßen; in die Sitzung brauchte dann die Sache wohl gar nicht zu kommen. Ich persönlich möchte nicht gern deshalb mit Kutscher spre‐ chen. Das weckt bei ihm höchstens die falsche Vorstellung, als ärgerte ich mich über den Namensmißbrauch, der mich doch schließlich ganz kalt läßt. Andererseits hat eine solche Rüge vom Dekan eine ganz andere Wirkung. (zit. nach Bonk 1995: 73 f.) (Herv. im Originaltext) Nach der Eröffnung des „Theaterwissenschaftlichen Instituts an der Universität Berlin“ im Jahr 1923 und nach der Etablierung der „Theaterwissenschaftlichen Abteilung des Germanischen Seminars der Universität Frankfurt“ sowie des Kölner „Instituts für Theaterwissenschaft“ 1925, 6 versuchte der Kutscher-Kreis Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 196 <?page no="197"?> 7 Bonk 1995: 74. 8 1933 versuchte Kutscher sogar, einen Lehrstuhl in einer anderen Universität zu über‐ nehmen. Er dachte sofort an Berlin, weil Max Herrmann damals entlassen worden war, aber, da er dort keine Chance hatte, empfahl man ihm, Kiel in den Blick zu nehmen. Siehe dazu die zwei vom November 1933 datierten Briefe von Walter von Molo an Artur Kutscher (DLA, A: Kutscher, 57.4986). dann erneut, eine Anerkennung der eigenen Forschungs- und Lehrpraxis an der LMU zu finden. Doch auch für den damaligen Geheimrat Carl von Kraus waren alle die »von Theatertheoretikern längst diskutierten Ansichten unakzeptabel« (Passow 1990: 103). Demzufolge sagte er ganz offen, dass »es eine Theater-Wis‐ senschaft im Sinne der Universität überhaupt nicht gebe und nicht geben könne« (Kutscher 1960: 152) (Herv. im Originaltext). Dem Beschluss der Philosophischen Fakultät zu Trotz wurde ein „Institut für Theaterkunde“ 1926 gegründet, das aber fortan „Theaterhistorisches Institut“ genannt wurde. Der Literaturwissen‐ schaftler Hans Heinrich Borcherdt, der seit dem Wintersemester 1921 / 22 einen Lehrauftrag für Theaterwesen innehatte, 7 wurde mit der Institutsleitung be‐ traut, während Kutscher nicht einmal in die Organisation hineingezogen wurde. Die Spannung zwischen Kutscher und der Fakultät blieb weiterhin unlösbar 8 und, wie Hanns Braun 1928 treffend konstatierte, auch wenn man in den späten 1920er Jahren »nicht mehr so steif auf den Kathedern« bezüglich der Begriffe ‚Exaktheit‘ und ‚Wissenschaftlichkeit‘ in den Geisteswissenschaften sei, sei man Kutscher, der in das akademische Reglement nicht passte und der als Erster eine praxisbezogene Forschung betrieben hatte, immer noch gram (2). Der ehemalige Kutscher-Schüler bemerkte ferner, an deutschen Hochschulen müsse sich jeder Lehrer ständig »als Forscher und Bücherschreiber ausweisen«, um als Wissen‐ schaftler überhaupt zu gelten, weil »die stille Entdecker- und Beschreibe-Lust« in jenem Wissenssystem überwiege; »und daß Artur Kutscher zu den viel ra‐ reren Leuten gehört, die im persönlichen Gegenüber, durch Heranbringen an die lebendigen Kunstfragen durch pädagogisches Aufeinanderhetzen der jungen Literaturbeflissenen ihre große Wirkung tun, daß hat man ihm nicht gedankt, sondern stets von neuem angekreidet« (Ebd.). Die Fokussierung auf den Ursprung des Theaters diente allerdings nicht nur der Bestrebung, das Wissensgebiet als autochthone Disziplin an die Münchner Universität zu etablieren, wie Stefan Corssen behauptet (1992b: 26), sondern auch dem Aufbau einer gemeinschaftlichen Vorstellung, die aus der direkten Erfahrung der Mitwirkenden neue Weltbilder, neue konkrete sowie virtuelle Verbindungen erschließen konnten. Über alle kulturellen und epochenspezifi‐ schen Unterschiede hinaus suchte der Kutscher-Kreis eine künstlerische, ja anthropologische Konstante, die als Orientierungshilfe im Lernregelkreis Der Ursprung des Theaters 197 <?page no="198"?> 9 Ein Lernregelkreis ist das Ergebnis der Zusammenkunft zwischen der Teilhabe der Mitglieder an einzigen Communities of Practice und deren Teilhabe an größeren for‐ malen Organisationen, wie die Universität, das Theaterhaus oder die Redaktion einer Zeitschrift. wirkte, der sich aus multiplen Mitgliedschaften bzw. aus der Teilnahme der Mit‐ glieder an unterschiedlichen Lerngemeinschaften sowie Konstellationen ver‐ netzter Praktiken generierte. 9 Das Denken durch die Kultur(en) ermöglichte das Treffen vom Partizipationsmodus der Beteiligung und dem der Vorstellung, so‐ dass die Erzeugung eines lokalen Regime of Competence mit der Selbstidentifi‐ zierung korrespondierte, die sich durch die Vorstellung einstellte: Die Mitglieder der Münchner Theaterwissenschaft fühlten eine gewisse Affinität mit allen, die sich in jedem Land und in jeder Epoche der Theaterforschung und -praxis wid‐ meten. Wenger spricht diesbezüglich von nachempfundenen Erfahrungen durch Parcours oder Diskurse hindurch, die auch wenn in absentia zur Aushandlung von Kriterien, Repertorien und Handlungssegmenten führen (1998: 190). Es sei gerade der kreative Prozess der Vorstellung, der durch translokale und trans‐ zeitliche Verflechtungen die Lernenden zwinge, ihr in den eigenen Lerngemein‐ schaften routiniertes Wissen zu überarbeiten und mithin neue Umstände zu adaptieren. Da das Wissen aus der reflexiven Interaktion zwischen Individuen, Objekten und Räumlichkeiten entstehe, musste die basale Erschütterung der Theaterforschung, d. h. die Hinterfragung des historiographischen Modells und die Hochschätzung kultureller Aufführungen und theaterwissenschaftlicher Reflexionen darüber als zwei unterschiedliche, doch komplementäre Praxen, welche den gemeinsamen Lernprozess samt der Entwicklung der Identität steuern können, einen Fixpunkt finden. Die Forschungsgruppe um Artur Kut‐ scher fand ihn im Mimus, also im Menschlich-Universalen, das jegliche Art the‐ atralischer Ausdrucksform präge. Ohne die Erkennung einer kunstspezifischen gleichbleibenden Eigenschaft wäre nicht nur der wissenschaftliche Status der Theaterwissenschaft in Zweifel gezogen worden, sondern hätten Lernende auch ihre Partizipation an der Sozialwelt entweder für unmöglich oder für nutzlos erachtet. Die Münchner Theaterwissenschaft kultivierte demgemäß sowohl einen direkten Umgang mit volkstümlichen, bodenständigen, primitiven Thea‐ terformen als auch intensive Beziehungen zum Ausland, damit man den Mimus - sprich: das leibliche performative Moment - in jeder Erscheinung des globalen Phänomens ‚Theater‘ wiedererkennen konnte. Eine solche Ausweitung und Vermittlung der verhandelten Deutungsansprüche ist sowohl in Kutschers akademischer Tätigkeit, d. h. in seinen Veröffentlichungen und Vorlesungen, als auch in den kulturellen Unternehmen zu verzeichnen, die der Theaterprofessor mit Freunden und Studenten führte. Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 198 <?page no="199"?> 10 Unter „mimischer Hypothese“ verstand Reich ein Mimus bzw. ein mimisches Schau‐ spiel, das beide Eigenarten der Mimologie und Mimodie enthielt, d. h. prosaische und lyrisch-gesungene Partien. Die Mimustheorie Hermann Reichs Kutschers theaterwissenschaftliches Interesse wurde höchstwahrscheinlich nach der Lektüre von Hermann Reichs Der Mimus. Ein litterar-historischer Ver‐ such (1903) auf den Ursprung des Theaters gelenkt - ein Werk, das der Thea‐ terprofessor »eine unschätzbare Untersuchung« nannte (nach Günther 1957: 244). Das aus zwei Bänden bestehende Werk versuchte zum ersten Mal die Ent‐ wicklungslinien einer Darstellungsweise zu identifizieren, die vom Mimus aus‐ gehen, etwa von den primitiven Anfängen über das antike klassische Drama, über das mimische Schauspiel des alexandrinischen Zeitalters - die sogenannte „mimische Hypothese“ 10 - bis hin zur dramatischen mittelalterlichen Literatur und zum Gegenwartsdrama. Hermann Reich, der sich mehr auf Sitten und Ge‐ bräuche als auf regelrechte Theatererscheinungen konzentrierte, bot in seiner Untersuchung sowohl eine theoretische Analyse des Mimus als auch dessen Entwicklungsgeschichte dar. Der vom Verfasser beschriebene Weg der mimi‐ schen Hypothese im Altertum muss zumindest resümiert werden, um die mi‐ misch-pantomimischen Wurzeln der Theatervorstellung Kutschers in ihrem Zusammenhang zu verstehen. Nach dem Forschungsbericht von Reich bildete sich das mimische Schauspiel unter Alexander dem Großen im griechischen Orient und, nachdem die Römer im 2. Jahrhundert v. Chr. auch diesen Weltteil eingenommen hatten, kam es nach Rom. Es lebte im Römischen Reich weiter bis zu dessen durch die Germanen und Türken verursachten Untergang. Von dem Moment an zersplitterte sich die Geschichte der mimischen Hypothese in eine westliche und in eine östliche Entwicklungslinie. Im Westen überlebte der alte Mimus als »echte Volkspoesie von Uranfang« (1903: 14), im Mittelalter wurde er von Jongleuren und Narren gerettet, sodass man auch noch heute Mimen findet: die heutigen Schauspieler. Im Osten verband sich die mimische Kunst dagegen mit dem Hellenismus byzantinischer Prägung. Nach der türki‐ schen Eroberung von Byzanz zeigte der Mimus wieder seine »unzerstörbare Kraft« (15) und generierte in der Türkei die noch existierende Form des Ka‐ ragöz-Spiels. Eine genau datierbare mimische „Urschöpfung“ hätte somit die Entfaltung aller theatralischen Ausdrucksformen der Weltliteratur zumindest beeinflusst, wenn nicht sogar bestimmt. Die theaterwissenschaftliche Bedeutung von Reichs Untersuchung lag also in der These, der Mimus bzw. die dramatische Volkspoesie sei älter als die Ko‐ mödie und als jedes Theaterspiel (18). Der springende Punkt des Mimus war für Der Ursprung des Theaters 199 <?page no="200"?> 11 Aus diesem Grund nannte Hermann Reich die Mimen »Wirklichkeitsbilder« (1903: 27). 12 Die ganze Geschichte des Mimus war in den Augen Reichs ein Beweis für die Konti‐ nuität der menschlichen Geistesentwicklung (1903: 45). Reich das Bedürfnis des niederen Volks auf dem Land - also der unterdrückten ackerbautreibenden Masse - sich zu unterhalten. Die »Freude an dem Selbst‐ zufriedenen, Unzerstörbaren in den niedrigen menschlichen Verhältnissen« sollte daher einen Ausgang in die künstlerische Selbstdarstellung des Volkes finden (23). Da der einfache Mensch einen praktischen, nüchternen Blick auf die Lebensverhältnisse habe, befolge er unwillkürlich das Prinzip der Naturtreue, des Realismus, also die Darstellung des gewöhnlichen Menschlichen. Erst im Anschauen dieser realistischen Typen fühle er sich vom Zwang seines Lebens befreit: Er verspotte die burlesken, humoristischen Figuren, die sich in seinem selben Zustand befinden, die aber naiver und blödsinniger sind. Im Spott über‐ winde er sie. Im Gegensatz zum literarischen Realismus enthalte der Mimus keine Weltidealisierung, d. h. er bezeichne eine ganz besondere Art von Mimesis, von Realistik: Sie stelle das reale, wirkliche Leben dar, wie es ist. 11 Die ursprüng‐ liche Ausdrucksform des Mimus falle mit dem (mimischen) Tanz zusammen, so stellte Reich fest: »Bei allen Primitiven ist der Tanz ganz anders als bei den Modernen das wichtigste Mittel ästhetischer Lebensäußerung« (476). Der Ber‐ liner klassische Philologe ging weiterhin daran, den Zusammenhang zwischen antiken und modernen Volkskomödien zu untersuchen. Sein Argument besagte, die Charakteristika der bedeutendsten burlesken Volksdramen der neuen Zeit - sprich: die französischen Sottie und Farce, das deutsche Fastnachtsspiel, die spanischen Entremesas, die Commedia dell’Arte, die Wiener Posse, das Kas‐ perlspiel, das Kölner Hänneschenspiel, der türkische Karagöz und die japanische Posse - zeigen eine gewisse Kontinuität mit der antiken Burleske: 12 »Wie der mimische Tanz allen primitiven Völkern gemein ist, so ist eben seine höhere Stufe, der Mimus, die burleske, dramatische Volkspoesie, allen höher entwi‐ ckelten Völkern gemeinsam, ohne daß eins von dem anderen lernte« (45). Die Ursache läge im Genre der Volkspoesie selbst, die immer nur einfache Naturen schildere, und gerade darum »wäre eine japanische Burleske dem Publikum in Paris, und eine Pariser dem in Tokio verständlich und ergötzlich, wie schon Humbert bemerkte. […] Das nieder reale Leben ist eben überall sehr ähnlich« (46). Das Theater als mimisch-pantomimische Ausdruckskunst Reichs Überlegungen über den Tanz als Vorstufe des Mimus, seinerseits Ur‐ sprung des Theaters, und über das geistig-künstlerische Kontinuum aller Auf‐ Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 200 <?page no="201"?> 13 Vgl. Kutschers Brief an Magdalena Janssen vom 16. Januar 1917 (Monacensia, MJ B 48 1025 / 1962). 14 Um einen weiteren Blick darüber zu bekommen, siehe das chronologische Verzeichnis der theaterwissenschaftlichen Vorlesungen Kutschers im Anhang. führungsformen auf der Welt regten die theaterwissenschaftliche Debatte in der Münchner CoP an. Herbert Günther fasste die wissenschaftliche Beziehung zwischen Reich und Kutscher mit dem Satz zusammen: »Im wesentlichen waren sie einig, daneben blieb es unerheblich, ob Reich geschichtliche Einflüsse sah, wo Kutscher Verwandtschaft ohne Abhängigkeit annimmt« (1957: 251) - und tatsächlich war es erst vor dem Hintergrund der Mimustheorie Hermann Reichs, dass die Münchner Theaterwissenschaft der Bestimmung und Ausdehnung ihres Wissensbereichs festen Aufbau geben konnte. Der mimische Ansatz zum Theater schaffte dem Kutscher-Kreis die Möglichkeit dafür, weit über die »völ‐ kischen und sprachlichen Grenzen« der traditionellen, nationalbezogenen The‐ atergeschichte wissenschaftlich hinauszugehen (1936: 200 f.). Exemplarisch für die Anerkennung seitens der Münchner theaterwissenschaftlichen Gruppe von einer Lücke im gesammelten Wissen und für den darauffolgenden Versuch, diese durch neue umfassende Kenntnisse auszufüllen, ist eine Veränderung in Kut‐ schers Vorlesungen, die nun beschrieben wird. Vor dem Ersten Weltkrieg nannte der Theaterprofessor seine theatergeschichtliche Lehrveranstaltung noch „Ge‐ schichte der Bühne, des Theaters und der Schauspielkunst von den Naturvölkern bis zu den Problemen des Künstlertheaters“ - und dabei behandelte er auch außereuropäische Theatererscheinungen, wie die japanischen; 13 nach dem Krieg wurde seine Vorlesung unter dem Titel „Allgemeine Theatergeschichte“ ange‐ kündigt. Im Sommersemester 1924 widmete er sich hingegen „Volkstheater und Volkskunde“, im Wintersemester 1924 / 25 der „Allgemeinen Theatergeschichte der Griechen, Römer, der asiatischen Völker und des europäischen Mittelalters“ und im Wintersemester 1933 tauchte der Vorlesungstitel „Volksbräuche, Feste, Tänze“ auf. 14 Der Akzent wurde also allmählich auf den gemeinsamen Aus‐ gangspunkt des Theaters, auf eine ideelle Verbrüderung aller Theaterkulturen der Welt sowie auf die Öffnung der Disziplin zu kulturellen Aufführungen un‐ terschiedlicher Art verschoben. Einerseits zielte Kutschers Lerngruppe darauf, heimatgebundene Traditionen zu bewahren und den Wert der heimischen Kunst hervorzuheben, wie in den Vorlesungen über das süddeutsche Volkstheater oder über Volksbräuche und Tänze zu erkennen ist; andererseits führte sie die pra‐ xisorientierte Theaterforschung in einen transkulturellen Rahmen ein, um lokal gebundene Erscheinungen mit einer nicht-gebundenen kollektiven Wissen‐ schaft zu erfassen, welche dazu die Wechselwirkung mit ausländischen Kunst‐ ausdrücken ausnutzte. Als Folge dieses gemeinsamen Ausverhandelns von ak‐ Der Ursprung des Theaters 201 <?page no="202"?> 15 Vor allem die publizistische Arbeit in der Zeitspanne 1924-1926, mit Berichte der thea‐ terwissenschaftlichen Institute an den deutschen Universitäten: München (1924), Die Ent‐ wicklung der Theaterwissenschaften (1924), Das Salzburger Barocktheater (1924), Univer‐ sitätsprofessor Dr. Artur Kutscher in München (1925), Das Naturtheater. Seine Geschichte und sein Stil (1926) und Mission der theaterwissenschaftlichen Lehre an der Münchner Universität (1926 / 27). 16 Das von Kutscher angeführte Beispiel ist das Kinderspiel, weil man dort am auffälligsten die Fantasiebetätigung und die Belebung des Selbstbewusstseins der persönlichen schöpferischen Macht erkennen könne (1932: 11 f.). zeptierten Deutungen und Prinzipien für den Umgang mit dem Objekt Theater veröffentlichte Kutscher nicht nur eine Reihe von Buchbeiträgen und Zeitungs‐ artikeln, die das Vorhaben der Theaterwissenschaft deutlich aufzeigten, 15 son‐ dern auch Werke für die wissenschaftliche Einrahmung des Untersuchungs‐ feldes. Gerade darauf deutete Kutscher in seiner Autobiographie, als er von der Systematisierung der Theaterforschung sprach, die sich erst »in den beginnenden 20er Jahren« ergab (1960: 149). De facto ist eine Zunahme der Ver‐ öffentlichungen Kutschers im theaterwissenschaftlichen Bereich deutlich nach‐ weisbar: Mit Ausnahme von Rezensionen lyrischer Werke und von literaturkri‐ tischen Betrachtungen über ihm befreundete Dichter wie Löns, Henckell oder Liliencron verfasste Kutscher bis hin zu den 1950er Jahren nur theaterbezogene Texte. Die zwei Teile des Grundriß der Theaterwissenschaft (1932 und 1936) behan‐ delten die theoretischen Grundlagen des von Kutscher geleiteten Fachgebietes, die dann in Drama und Theater (1946) und in der neuen Auflage des theater‐ wissenschaftlichen Handbuchs (1949) wieder aufgenommen wurden. Der The‐ aterprofessor hielt die Mimik für die Ausdruckskunst des Körpers, welche die primitivste Kraft, ja die Voraussetzung selbst des Theaters war. Da die mimische Äußerung eine Gabe der menschlichen Natur sei, könne sich die Theaterwis‐ senschaft nicht mit jeder Form von Mimik beschäftigen: Sie solle ausschließlich »die künstliche Mimik, die beabsichtige Vorführung« untersuchen, was unter den Begriff „Spiel“ falle (1932: 9). Der Spieltrieb als »Urtrieb der Menschheit« stellte konsequenterweise den Keim jeder kulturellen Aufführung dar (Ebd.). 16 Naturmenschen bzw. primitive Völker haben laut Kutscher mit den naiven Kin‐ dern die meisten Affinitäten, sodass man aus einer kulturtheoretischen Per‐ spektive ihre darstellerischen mimischen Bewegungsarten als Urzelle des Dramas und des Theaters betrachten könne (13). Zuerst der Volkstanz und dann die Pantomime seien also als einfachste und älteste mimische Ausdrucksformen dramatisch: »Dramatisch ist mimisch schlechthin« (38). Kutscher lieferte für die überragende Bedeutung des Tanzes im Theater folgende Beispiele: das griechi‐ sche Drama, die pantomimischen Darstellungskünste Indiens, für die »nur einen Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 202 <?page no="203"?> 17 Siehe dazu Kutscher 1932: 91 f. 18 Noch im Gegensatz zu Reichs Theorie erklärte Kutscher, Realismus könne nicht der Stil des Mimus sein, weil dieser öfter Verzerrungen, Groteske, Burleske, Travestie, Phan‐ tastik und Märchenhaftes hervortreten lasse. Als eine auf Improvisation beruhende Volkskunst sei der Mimus stets »vielseitig und gemischt, also komisch und ernst, rea‐ listisch und phantastisch« (1946: 9). Wortstamm zur Bezeichnung des Mimischen, nämlich nat - Tanz, nata - Schau‐ spieler, nataka - Drama« existiere (1946: 5), die japanischen Aufführungen, die italienischen sowie spanischen Spiele, die „tänzerische“ Schauspielkunst der Russen, das Hans-Sachs-Spiel, Shakespeares Dramatik, die Oper sowie das Volksstück jeder Kultur und jedes Zeitalters. In Kutschers Vorstellung war das Mimische Urbestand der dramatischen Ausdrucksform, jedoch auch deren künstlerisches Minimum: »Eine Steigerung und Bereicherung - über Tanz und Pantomime hinaus - erfährt es im Mimus«, der sich somit als die älteste über‐ lieferte aus Körpersprache und gesprochenem Wort bestehende Bühnenhand‐ lung profilierte (1932: 81). Der Mimus allein, dessen zwei Grundelemente also die Schauspielkunst und der Spieltext seien, brachte eine ganze Reihe von Spiel‐ arten hervor, die sich bis hin zum mehrartigen Theaterstück ausbildeten. Mit dieser Entstehungsgeschichte des Theaters klärte Kutscher seine Stellung ge‐ genüber zwei unterschiedlichen Ansätzen, die in den 1920er Jahren die beiden wichtigsten Traditionen in der Theaterbetrachtung und in der Theaterpraxis darstellten: Zum einen dementierte er die These, die Urquelle des Theaters liege im Kultus, 17 zum anderen beurteilte er die un-mimische dramatische Gestal‐ tungskraft seiner Zeit. Er opponierte gegen die »Waschlappigkeit« und den langweiligen Psychologismus des Impressionismus sowie gegen die »kalte und schwache Geistigkeit«, die das Extrem von Ästhetizismus und Formalismus der Vorkriegszeit in die Kunst brachte (nach Günther 1938: 34). Gleichermaßen stellte er sich der Pathetik, Humorlosigkeit und der »programmatisch übertrie‐ benen, kleinlichen Psychologie« des Naturalismus gegenüber (Kutscher 1932: 129). Mit großer Nachdrücklichkeit verteidigte er wiederum das Theater Wede‐ kinds, das sich immer als bloßes Spiel vorgestellt hatte, ohne Illusion oder Ide‐ alismus aufzubringen. In Wedekind erblicke der Theaterprofessor die Bestäti‐ gung seiner Theorie: Wedekind »wußte, daß Mimik das A und O des Dramas ist, er suchte ihm Bewegung zu geben, Handlung, Willen, Leidenschaft, Tempo, straffen Bau; er nützte alle Reize der Bühne aus« (1960: 143). Wenn der Mimus ein primitives Drama sei und das Drama bzw. das klas‐ sisch-dramatische Theater einer Verfeinerung des Mimus entspräche, dann gehöre der Mimus zum Typus des Volksstücks und nicht zum Typus des klas‐ sischen Dramas (1932: 93), wie Hermann Reich tatsächlich meinte 18 . Da Kutscher Der Ursprung des Theaters 203 <?page no="204"?> 19 „Volkstümlich“ nannte der Theaterprofessor eigentlich alles, was auf der Bühne durch Handlung und Wort mimisch dargestellt werden konnte, allerdings näherte sich die Typik des einfacheren Mimus zur ureigensten dramatischen Möglichkeit der Menschen. 20 Hierzu sei angemerkt, dass gerade diese von Kutscher isolierten Elemente als wieder‐ kehrende Motive in der Charakterisierung der dramatis personae und in der Gestaltung der Handlung in den gesellschaftskritischen Theaterstücken der Weimarer Republik erschienen. Sogar die Herrschaft der Kolportage auf den Brettern wurde vom Theater‐ professor nicht übersehen und als eine treffende Lösung begrüßt (1932: 89). 21 Es heißt ganz deutlich: »Die Sprache des Dramas muß in erster Linie Raum und Bewe‐ gung haben, mimischen Charakter« (1946: 18) und noch weiter: »Meisterung des dich‐ terischen Wortes auf mimischer Basis schafft hier nicht nur ganz allgemein Verleben‐ digung des Ausdrucks durch seine Einfügung in einen Verlauf, durch seine Mitbetätigung in Richtung auf ein Ziel, sie gibt den Vorgängen Bedeutsamkeit und Tiefe, hilft auch durch Charakterverzeichnung, Situationsgabe, Deutung des Seelischen tätig mit an der dramatischen Bewegung und Handlung.« (20 f.). im Mimus den Typus des Volksstücks erkannte, rettete er jene Gattung vor der Verachtung vieler Kritiker und pries ihre volkstümliche Ursprünglichkeit 19 . Au‐ ßerdem betonte der Theaterprofessor die für das Genre Volksstück kenn‐ zeichnenden Bestandteile: Übertreibung und Rhythmus. Der erste war eher eine Stilisierung, die Darstellung psychologischer oder verhaltensbedingter Wesens‐ züge, oft in Richtung der Groteske und der Burleske; der zweite bezog sich da‐ gegen auf das mit dem Körper verbundene innere Tempo des Bühnenspiels 20 . Der Mimus der Gegenwart war für Kutscher das sog. „Theaterstück“, das einen Gegensatz zum Drama bedeutete. Theaterstück-Variationen seien z. B. Bluette, Burleske, Farce, Groteske, Lustspiel, Posse, Revue, Schauspiel, Schwank, Sketsch, Trauerspiel, Vaudeville und Volksstück. Trotz des Versuchs, zwei ent‐ gegensetzte Kategorien zu erarbeiten, erkannte Kutscher offenbar, dass es Gat‐ tungen gab, die keine klare Kategorisierung duldeten - wie das Lustspiel oder das Volksstück. Als verfeinerter Mimus sei die größte Art tragischer und komi‐ scher Formgebung, d. h. das Drama, »aller Zeiten und Völker stilistisch eins« (95). Im Drama identifizierte Kutscher vier wesenseigene Gesetze: Erstens müsse die Sprache einen mimischen Charakter haben, und zwar Raum und Bewegung, ja die Spielbarkeit als grundsätzliche Möglichkeit der Aufführung berücksichtigen; 21 zweitens müsse auch die Handlung der Mimik günstig sein. Das dritte Prinzip betraf die Figurencharakterisierung, weil nur aktive Charaktere Träger der dramatischen Handlung sein können - hierzu ist Kutschers Kritik an den passiven, leidenden Figuren des Naturalismus deutlich spürbar. Als letztes Gesetz betrachtete der Theaterprofessor auch die Meisterung der Technik: Das Drama trachte nämlich danach, durch eine strenge bühnen‐ wirksame Formgebung eine künstliche Intensivierung der Spannung zu errei‐ chen. Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 204 <?page no="205"?> 22 In Kutschers Grundriß galten Dramaturgie und Regie als verbundene Elemente bzw. Hilfskünste des Theaters. 23 Also aus dem Kutscher-Kreis, zu dem er auch in den 1930er Jahren gehörte. 24 Piscator selbst war noch vor dem zweiten Weltkrieg ein Kutscher-Schüler gewesen. In der Ausarbeitung dieser „Gesetze“ kann man das Systematisieren einiger Tendenzen der Münchner Theaterwissenschaft sowie die Verankerung der the‐ oretischen Spekulation in der Theaterpraxis erkennen: Zunächst bahnte die Identifizierung des eigenen mimischen Gepräges des Dramas den Weg für die experimentelle Auseinandersetzung mit dem Inszenierungstext. Kutscher äu‐ ßerte sich mehrmals über Dramaturgie und Regie 22 und, indem er auf die wich‐ tigen Aufgaben der stilistischen Durcharbeitung und der Bearbeitung insistierte, bestimmte er den Ausgangspunkt aller theatralischen Tätigkeiten: die Leben‐ digkeit des Stücks in der Gegenwart, im hic et nunc der Aufführung. Da kein Drama »ewige Gedanken in ewiger Form« darstelle (1936: 11), müsse jede ge‐ schichtliche, nationale und volkseigene Bedingtheit des Texts in Einklang mit dem Lebensgefühl der konkreten Zuschauer gebracht werden. Das Drama war für Kutscher kein musealer Begriff, sondern ein bildsamer Stoff. Konsequenter‐ maßen müsse auch eine anspruchsvolle Regie die Gegenwart ins Mimische des Bühnenspiels schöpferisch übertragen, weil es im Drama keinen objektiven Charakter, kein Absolutes gebe. Obwohl Kutscher unzweideutig formulierte, das Theater habe nicht die Aufgabe, eine rücksichtslose Aktualisierung des drama‐ tischen Repertoires durchzuführen, reagierte er auf die Monotonie des Stückan‐ gebots mit der Feststellung, es sei eine Pflicht der Theaterleute, etwas Neues und Unerwartetes zu wagen. Die praxisbasierte Theaterforschung, oder der wissenschaftliche Aktivismus, hätte sich nicht mit kristallisierten, ahistori‐ schen, abstrakten Theaterkonventionen begnügen können; die Aufgabenstel‐ lung der Münchner Theaterwissenschaft lässt sich demnach unter Gustav Fabers Satz subsumieren: »Beim Fabrizieren von Theaterstücken fühle ich die Befruch‐ tung, die von Schwabing kam; 23 ständig den Mimus zu fühlen und immerzu lebendiges Theater vor Augen zu haben« (in Günther 1938: 223). In zweiter Linie fanden sowohl die Theatertechnik als auch das Laientheater in Kutschers The‐ ater-Mimus-Theorie eine intensive Beachtung und ihre Rolle wurde dadurch verstärkt. Kutscher bekämpfte die Technikfeindschaft, die er vor allem dem Ex‐ pressionismus zuschrieb, damit immer neue künstlerische Möglichkeiten auf der Bühne ausgeschöpft werden konnten. Andererseits, da jede „Hilfekunst“ der Aufführung dienen musste, verdammte der Theaterprofessor den unschöpferi‐ schen Technikkult, der die Lebendigkeit des Theaters bedrohte, wie zum Beispiel in neusachlichen Stücken oder in Erwin Piscators Aufführungen. 24 Die Darstel‐ lung der Gesellschaft müsse durch ein funktionales Gleichgewicht zwischen Der Ursprung des Theaters 205 <?page no="206"?> 25 Vgl. Kutscher 1932: 48-50. technischen Elementen und mimischen, ursprünglich menschlich-natürlichen Wesenszügen erfolgen. Wenn auch dem Laientheater »die Meisterung aller be‐ sonderen Ausdrucksmittel« fehlte (1932: 40), dann stellte es eine »naturge‐ wachsene«, primitive Aufführungsform dar, die als vorkünstliche, instinktive Stufe der mimischen Darstellung gelte (41). Im Bauern- und Laienspiel sah Kut‐ scher »Vor- und Frühstufen einer Kunst, die doch bis Ende des 16. Jahrhunderts« die Bühnen im deutschsprachigen Raum beherrscht hatte (1960: 146). Man könne deshalb den Theaterkritikern vorwerfen, sie haben stets das Laientheater mit der Kunst der Berufsschauspieler und -theaterleute verglichen. Das Laien‐ theater habe jedoch einen Wert für sich und müsse nach spezifischen Kriterien bewertet werden. Einen besonderen, edleren Typ vom Laienspiel assoziierte Kutscher dann mit den von Jugendbewegungen, Schulgemeinden oder Univer‐ sitätsstudenten gespielten und geleiteten Aufführungen - wie etwa die Lehr‐ aufführungen seines Kreises. 25 Mitten im Meinungsaustausch mit seiner Lerngruppe formulierte Kutscher 1924 das neu bewertete gemeinsame Unternehmen der Theaterwissenschaft: »Gemäß unserem Wahlspruch „Non scholae sed vitae discimus“ suchen wir die Theaterkultur selbst nach Kräften zu fördern, die wir sehen in dem engen Ver‐ hältnis von Volk und Kultur zum Theater« (143). Die Anwendung des Begriffs ‚Theaterkultur‘ ist besonders relevant, weil erst die Verbindung zwischen the‐ atralischer Ausdruckskunst und dem sich entwickelnden Volk für Kutscher einen sinnvollen Wissenserwerb ermöglichen konnte, der durch die individuelle Erfahrung und Interpretation der Welt geprägt war. Der theaterwissenschaft‐ liche Kreis bestimmte also erneut das eigene Wissensgebiet und die Grenzen des eigenen Wirkungsraums: »Es handle sich […] nicht um Philologie, sondern um die Stilkunde mit dem Mittelpunkt der Mimik, natürlich aller Zeiten und Völker« ( 1956: 346). Die Münchner theaterwissenschaftlichen Forscher bekräftigten somit ihre schon durch die Praxis aufgezeigte Ansicht, eine Bewertung des Dramas vom philologischen Standpunkt aus könne nur die literarisch-dichteri‐ sche Leistung berücksichtigen, also dem mimisch-dramaturgischen Gepräge durchaus ungemäß sein. Die Theaterwissenschaft sei vielmehr an den Fragen interessiert: »Inwiefern ist das Drama dramatisch? Was gibt der Wortlaut für die Aufführung her? Welche Darstellungsmöglichkeiten bestehen für dieses Stück? Entspricht die textliche Form der szenischen? Die äußere der inneren? Wo sind Deckungen? Brüche? Das Gemäße? Das Ungemäße? « (1946: 21). Dazu kommentierte Kutscher weiter: »Diese Dinge sind gar nicht leicht zu beur‐ teilen. […] Mit sinnlicher Einfühlungskraft muß man Gestalten vor sich sehen, Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 206 <?page no="207"?> sie sprechen und sie bewegen lassen. Immer wieder wird es nötig sein, laut zu lesen. Lesen in Gruppen ist zweifellos nützlich. Dramen zeigen auch hier schon eine gemeinschaftsbildende, tätigkeitsfördernde, erregende Kraft« (1946: 21 f.). Die Interpretation dieser Randbemerkung bringt Aufschlüsse über die Legiti‐ mationsstrategie der praxisorientierten Münchner Theaterwissenschaft: Es sei das Wissensgebiet der CoP selbst, das die direkte, kollektive Beteiligung sowie das Vorstellungsvermögen deren Mitglieder benötige und befördere. Doch die von der Lerngruppe gewonnenen Erkenntnisse sollten in neuen Kontexten oder Lebensbedingungen geprüft werden. Es wurden demzufolge neue Begegnungs- und Spielräume entwickelt, um durch den Partizipationsmodus der Vorstellung die reflexive Praxis der Gemeinschaft effektiv zu gestalten. Das Beziehungsgeflecht des Kutscher-Kreises Wenn das deutsche Theater seit einiger Zeit einen hohen Stand einnimmt und die offene Bewunderung auch anderer Nationen findet, so hat daran nicht allein unser Theater, sondern auch die deutsche Forschung ihren Anteil: die Theaterwissenschaft. Unsere Theaterwissenschaft hat es unternommen, Klarheit in die künstlerischen Grundbegriffe des Theaters zu bringen, sie hat eine Stilkunde des Theaters geschaffen, während andere Völker sich wissenschaftlich nur mit Einzelheiten des Theaters be‐ schäftigt haben […]. Die Verdienste unserer Theaterwissenschaft beruhen in einer Zusammenfassung und Freilegung aller besonderen Kräfte des Theaters, wie bei allen Künsten im Hinblick auf das Leben, im unermüdlichen Geltendmachen höchster For‐ derungen, und dadurch im bewußten Mittun an der Theaterschöpfung. (Kutscher 1955: 230) Etienne Wenger spricht von der Partizipation an Lernsystemen als ein doppeltes Bemühen seitens der Communities of Practice. Einerseits brauchen sie, sich selbst als effizientes Lernsystem intern zu strukturieren, wobei die Fokussierung auf der Beteiligung der Mitglieder, auf dem Nutzen für die Identitätsbildung der Einzelnen sowie auf der Bestimmung und Bewältigung der Grenzen liegt. An‐ dererseits müssen die CoP ihre Rolle als beteiligte Strukturen in einem breiteren Lernsystem erkennen (2000: 243 f.). Dieser letzte Schritt markiert die Effizienz der CoP, weil sie dadurch den Mitwirkenden deutlich macht, dass jede situierte Lernerfahrung bedeutsam und lebenslang wiederholbar ist. Die Beziehung zwi‐ schen den Gestaltungsdimensionen der einzelnen CoP und den Lernmecha‐ nismen der Wissenssysteme, mit denen sie in Kontakt kommt, muss stufenweise reguliert werden. Um Berührungsstellen zu erzeugen, bedarf die Lerngruppe geteilter Diskurse, Prozesse und Ansätze, durch welche lokale Formen von In‐ Das Beziehungsgeflecht des Kutscher-Kreises 207 <?page no="208"?> formiertheit globale Verkopplungen und Auswirkungen haben können. Jede reife CoP gewährleistet also die Koordination aller involvierten Praxen »to create complex knowledge beyond the purview of any practice« (244). Die Beschäftigung des Kutscher-Kreises mit den primitiven dramatischen Ausdrucksformen und mit den zeitlichen und räumlichen, ja anthropologischen Konstanten der Theaterkunst öffnete intermediäre Räume für die gemeinsame Praxis, die sowohl zu einer dichten Vernetzung von Wissensressourcen und Mitgliedern sowie zu einer produktiven intellektuellen Kooperation mit unter‐ schiedlichen Wissensfeldern führte. Die Praxis der theaterwissenschaftlichen Gruppe entwickelte sich dann entlang verbundener Spielräume und die Mit‐ glieder setzten ihre Bezugspunkte zuerst in München, dann in Süddeutschland, in Europa und schließlich in der ganzen Welt. Der Gefahr, die Grenzen der „so‐ zialen Landschaft“ der CoP exzessiv zu erweitern und somit die Identifizierung von den Mitwirkenden mit der gemeinsamen Leistung zu verlieren, entging die Münchner Theaterwissenschaft weitgehend: Ihre Mitglieder stellten den glo‐ balen Verknüpfungen des eigenen Untersuchungsgegenstandes ein starkes lo‐ kales Engagement als Pendant gegenüber. Der Kutscher-Kreis bediente sich demnach seiner Beteiligung an der lokal gebundenen praxisbezogenen Thea‐ terforschung, um die gesammelten Kenntnisse innerhalb eines größeren Kon‐ textes aktiv zu überprüfen und anzuwenden; und umgekehrt benutzte er das globale Beziehungsgeflecht seiner Lerngemeinschaft, um aus einer nationalen Perspektive die deutsche Kultur und Gesellschaft zu bekräftigen. Der Theater‐ professor gab nämlich zu: Ganz besondere Interesse wandte ich, gerade um dem internationalen Theater und der Theatergeschichte gegenüber mich im Boden zu verwurzeln, dem Süddeutschen Volks- und Bauerntheater, der Liebhaberbühne zu, sowie den Zusammenhängen des Theaters mit Tanz, Nationaltanz und Volkskunde. Von hier aus gibt es auf die Frage nach dem Ursprung des Theaters eine ganz andere Antwort als die bekannte: Der Kult. Die nächsten Monate schon sollen der Forschung über die Themen ganz neue Mittel und Kräfte schaffen, eine Organisation, über welche in Kürze öffentlich gesprochen wird (1925: 58). Bevor man aber diese 1925 von Kutscher angekündigte Organisation analysieren kann, muss man andere Aktivitäten und Instrumente berücksichtigen, welche die Lernenden mit der unmittelbaren Umgebung ihrer Praxis immer fester zu binden versuchten. Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 208 <?page no="209"?> 26 Vgl. Kutscher 1960: 99. 27 Im November 1925 bekam Kutscher beispielsweise von Paul Brann, seit 1905 Gesamt‐ leiter vom „Marionetten-Theater Münchner Künstler“, die Einladung, mit seiner Gruppe eine Abendvorstellung vom Mysterium von der Geburt des Heilands zu besuchen, das nach alten Weihnachtsspielen und -liedern von Brann selbst zusammengestellt wurde. Der Marionettenspieler fügte hinzu: »Es würde mich freuen, wenn bei diesem Anlass wieder einmal ein Kutscher-Studenten-Vorstellung, wie in besseren Zeiten, zustande käme. Deren wurde ich übrigens neulich erinnert, als ich in Nürnberg 14 Tage spielte und einer Ihrer damaligen Schüler, jetzt Dozent an der Volkshochschule, Dr. Gg. Wies‐ zener, auf der Bildfläche erschien«. Der Schluss des Briefes stellt dann einen Beweis für die Interessen und die öffentliche Wirkungskraft des Kutscher-Kreises dar: »Um auf das besagte Krippenspiel zurückzukommen: Ich sende Ihnen anbei ein Textbuch und einige Abbildungen der Figuren, die Prof. J. Wackerle dafür geschaffen hat […]. Die Sache hat für Sie, bzw. Ihre Studenten einen literarisch-historischen Sinn und einen theaterwissenschaftlichen, was die Marionettensache als solche anbelangt« (DLA, A: Kutscher 57.4337). 28 An dieser Stelle bezog sich Kutscher auf Bayern, wie man aus einer fast identischen Passage in seiner Autobiographie erfährt (1960: 145). Natur, Volk und Laientheater Die theaterwissenschaftliche Lerngruppe intensivierte schon nach Kriegsende die Theaterfahrten durch ganz Deutschland, die von landschaftlichen und kunst‐ historischen Studien in loco begleitet wurden, und führte die sogenannten „Heimreisen“ zum Semesterschluss in die Praxis ein. Diese waren (theater)wis‐ senschaftlich nutzbringende Heimreisen der Studenten aus Mittel- oder Nord‐ deutschland, die mit dem Kutscher-Kreis bis zu ihrem Heimatort fuhren und die bedeutendsten Theater auf dem Weg kennenlernen konnten. 26 Die theoretische Hervorhebung der Bedeutung des Laientheaters für das Verständnis älterer Darstellungsweisen entsprach der Intensivierung der Besuche von dörfischen Spielen, Krippenspielen 27 sowie von Freilichttheater- und Naturtheaterauffüh‐ rungen. In den 1920er Jahren setzte sich Kutscher verstärkt für das süddeutsche Volks- und Bauerntheater ein, sodass er im Jahr 1923 erklärte: Ganz unlösbar ist bei uns das Theater mit dem Volkstum verwachsen, mit seiner Rasse, seinem Temperament, seinem künstlerischen Sinn, seinem geistigen und seinem ge‐ sellschaftlichen und politischen Leben. Nirgendwo gibt es so viel dramatische Vereine wie hier 28 […]. Dabei handelt es sich keineswegs um eine modische Bewegung von heute: das Theater der Laien stützt sich auf eine jahrhundertalte Tradition. Die reiche und leidenschaftlich gepflegte Theaterkultur des Landes war schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts in eine Komödienepidemie ausgeartet, in eine Hochflut, die gewisse Abwehrmittel der Behörden erforderlich machte. (nach Günther 1953: 39) Im Volk steckte also »eine Fülle von ausgesprochenen mimischen Talenten« (Ebd.). Die Nähe zwischen dem Theaterprofessor und dem pantomimischen, Das Beziehungsgeflecht des Kutscher-Kreises 209 <?page no="210"?> 29 Der einzige von Kutscher für diese Zeitschrift verfasste Artikel ist Liliencron als Balla‐ dendichter (1925), in dem er behauptete, Liliencrons Kunst sei »echt und notwendig […] also innerlich wahr«, weil sich ihre Bedeutung nicht nur als Entwicklungsfaktor, als »treibende Kraft in der künstlerischen Bewegung« ihrer Entstehungszeit erwiesen habe, sondern auch als unvergängliches »Dokument einer ungewöhnlich begnadeten starken Natur« zu betrachten sei (39 f.). Die Zeitschrift war 1925-1933 von der Löns-Ge‐ dächtnis-Stiftung herausgegeben: Jedes Heft war einem Thema gewidmet und, wenn auch sie am Anfang zweimonatlich erschien, wurden die Publikationen bald unregel‐ mäßig. Bemerkenswert ist hier die Tatsache, dass auch Eduard Gudenrath, der 1924 bei Kutscher promoviert hatte, ab 1926 zur Redaktion gehörte. 30 Kutscher 1956: 349. Die hier gemeinten Theaterwissenschaftler sind Max Herrmann und Eugen Wolff, wie Kutscher dann 1960 offen sagte (146). 31 Kutscher selbst lieferte diese Erklärung im Vorwort zu seiner Studie (7). 32 An solchen Entdeckungen sei nur flüchtig erinnert: Erstens bewies der Theaterpro‐ fessor, die älteste Opernaufführung im deutschsprachigen Raum habe nicht 1627 im Schloß Hartenfels bei Torgau, sondern bereits 1618 dank der Tätigkeit von Erzbischof Marx Sittich in Salzburg stattgefunden. Zweitens belegte er, Marx Sittich habe mit dem Hellbrunner Steintheater das älteste Naturtheater Deutschlands geschaffen und ver‐ mutlich als Erster die italienische Verwandlungsbühne übernommen. Insgesamt erwies sich Salzburg als Pforte, durch welche die südlich-romanische Theaterkultur nach Deutschland kam. nicht-literarischen Volkstheater zeigte sich auch in der Teilnahme Kutschers an der Münchner Volksbühne ebenso wie am Verband Bayerischer Theatervereine „Volksspielkunst“. Von 1924 bis 1933 war Kutscher Präsident der „Kulturge‐ meinschaft für Volkskunst und Volksbildung“ und ab 1925 wirkte er in der Re‐ daktion von Markwart: Blätter für die Verwirklichung des deutschen Volkslite‐ ratur-Gedankens mit. 29 Im Gegensatz zu anderen Theaterwissenschaftlern vernachlässigte Kutscher das alte Schul- und Volkstheater nicht 30 und im Zeit‐ raum von zwei Jahren verfasste er zwei Beiträge zur »völkischen Theaterkunst«, die ihren »Zusammenhang mit Tanz, Maskenspiel, Pantomime und Volks‐ kunde« eindrücklich aufzeigte (Kutscher 1960: 145). Die Studie Das Salzburger Barocktheater erschien 1924 und widmete sich dem Barocktheater, und zwar dem protestantischen Akademietheater des 17. und 18. Jahrhunderts sowie dem Schuldrama, das mit den „gelehrten Schulen“ um die katholischen Erzbischöfe verbunden war, weil eine theaterwissenschaftliche Darstellung von jener Salz‐ burger Blütezeit noch fehlte. 31 Schon im Vorwort zu seiner Studie bekannte Kutscher, das Interesse am Thema teile er mit seinen Münchner Studenten: Durch die zahlreichen Lehraufführungen in Salzburg gewännen sie »aus le‐ bendiger Theaterfreude immer engere Fühlung mit der großen Kultur des alten Salzburg und stiegen unter ihrem Eindruck zu den Schätzen der Museen, Bibliotheken und Archive hinab« (8). Die im Buch präsentierten Entde‐ ckungen 32 gingen von einer theaterwissenschaftlichen Prämisse aus, die Maß‐ Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 210 <?page no="211"?> 33 Zu den verschiedenen unter freiem Himmel gespielten Theaterformen arbeitete der Kutscher-Kreis in den Jahren darauf und in der Nazi-Zeit weiter: 1932 promovierte Rudolf Meyer bei Kutscher mit einer Studie über das Hecken- und Gartentheater in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert, die erst 1934 veröffentlicht wurde. Am 6. Ok‐ tober 1934, 18 Uhr, führte der Theaterprofessor ein Zwiegespräch mit der Redaktion der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft (Reichssender Stuttgart), das in 30 Minuten das Thema Naturtheater - Freilichttheater - Landschaftstheater - Thingspiele. Eine Schilde‐ rung von Wesen und Aufgaben mit typischen Szenen erörterte. Im SoSe 1935 bot Kutscher seinem theaterwissenschaftlichen Oberkurs ein Seminar über „Freilichttheater, Natur‐ theater, Thingspiel“ an. Die Probleme der Freilichtbühne wurden dann in Stilkunde des Theaters eingehend behandelt (1936: 61-71), während Kutscher in einem Beitrag von 1937 seine Ansichten und Erfahrungen über den Stil und das Repertorium der Frei‐ lichtbühne äußerte. Im SoSe 1938 hielt er dann theaterwissenschaftliche Übungen zum Thema „Theater im Freien“ ab. stäbe für die »Beurteilung einer Theaterkultur« lieferte (9): Die Anfänge des Dramatisch-Pantomimischen waren auch im Fall Salzburg in den »zahlreichen verschiedenen Tänzen und Umzügen in Maske und Verkleidung, die […] auf uralte, zu allen Zeiten und bei allen Völkern nachweisbare Jahreszeitenfeiern zurückgehen« zu finden (10). Die Kirche habe manche Bräuche übernommen, vielleicht sogar verändert, aber andere weltliche Feier mit Tänzen und Umzügen lebten gleichzeitig weiter, vor allem weil der Salzburger »einen unverwüstlichen Frohsinn, eine heitere Überlegenheit« ebenso wie eine eingeborene Freude an Musik, Gesang und Spiel besitze (9). Es sei denn diese sorgsam und intensiv gepflegte Theaterkultur, die den Humus für die Entwicklung eines geistlichen und eines säkularen Theaters in der Barockzeit bildete. Das Naturtheater, dem Kutscher auch in Das Salzburger Barocktheater Aufmerksamkeit schenkte, wurde aber zum Hauptthema erst im Aufsatz Das Naturtheater. Seine Geschichte und sein Stil, der 1926 in der Festschrift zu Franz Munckers 70. Geburtstag er‐ schien. Was Kutschers theaterwissenschaftliche Neugier reizte, war die beson‐ dere Beziehung dieses Theaters zur Natur, die an der Aufführungsgestaltung grundsätzlich mitwirkte. 33 Damals handelte es sich um »eine[n] der ersten Ver‐ suche auf diesem abgelegenen Gebiet der Theatergeschichte«, wie Walter Ben‐ jamin feststellte (1934: 432). Die „Gesellschaft für das süddeutsche Theater“ Kutscher suchte dann ab Ende 1925 »die Bedeutung der Volkskunde und des Laienspiels in einer Gesellschaft für das süddeutsche Theater zu erweisen« (Kutscher 1956: 349). Die Gesellschaft sollte sich nach dem Projekt Kutschers als eine Organisation konfigurieren, welche die Tätigkeit seiner Lerngruppe an der Schnittstelle zwischen akademischer Forschung und konkreter Praxis für den Das Beziehungsgeflecht des Kutscher-Kreises 211 <?page no="212"?> 34 Die ganze Dokumentation über die „Gesellschaft für das süddeutsche Theater und seine Auswirkungen“ befindet sich in StAM, Pol. Dir. München 3593; Laufzeit: 1926-1937. Gesellschaft für das süddeutsche Theater. volkstümlichen Belang des Theaters ergänzte und zugleich eine Antwort auf die Berliner „Gesellschaft für Theatergeschichte“ darstellte. Kutscher hatte nämlich wiederholt bemerkt, dass Max Herrmanns Unternehmen nicht nur das süddeut‐ sche Theater außer Betracht ließ, sondern auch dass es »auf fast allen Gebieten der volkstümlichen Kunstäußerung« versagte (1960: 146). Deshalb hatte Kut‐ scher die Führung des Kollegen ganz offen kritisiert. Ebenfalls wurde Herrmann zum Vorwurf gemacht, dass von der „Gesellschaft für Theatergeschichte“ nur rein literarische Studien gedruckt worden waren, während Abhandlungen über Bühnentechnik, Musik, Kostüm oder Dekoration bis 1927 noch keine Publika‐ tionsmöglichkeit gefunden hatten. Der Münchner Theaterprofessor strebte also danach, die norddeutsch-orientierte wissenschaftliche Arbeit der Berliner Ge‐ sellschaft zu vervollkommnen und dadurch dem komplexen Phänomen ‚The‐ ater‘ eine Forschungspraxis zu widmen, die gleichwohl mimisch-pantomimi‐ sche Betätigungen aller Art umfassen konnte. Kutscher und die Anhänger seines Kreises trieben demgemäß die Fokussierung der neugegründeten Gesellschaft auf den Mimus voran: »Einer solchen Einstellung auf den Mimus liegt es nahe, mit der Einrichtung eines wissenschaftlichen Teilgebäudes dort zu beginnen, wo die Quellen des Mimischen besonders ursprünglich und rein fließen und geflossen sind, und das ist das bayerisch-österreichische Stammesgebiet« (Ge‐ sellschaft für das süddeutsche Theater MNN 1926: 15). 34 Hierzu muss man näher erklären, dass Kutscher mit dem Begriff ‚süddeutsches Theater‘ das Theater »der Bayern, Schwaben, Alemannen, Hessen, Franken, Österreich mit Tirol, Steier‐ mark, Kärnten und der westlich, südlich und östlich angrenzenden deutsch‐ sprachigen Gebiete der Nachbarländer Frankreich, Schweiz, Italien, der Tsche‐ choslowakei, Ungarn und Rumänien« meinte (Kutscher 1960: 147). Das Interessengebiet war das eigentliche Volkstheater, mit Liebhaberbühnen, Volks- und Nationaltänzen sowie Marionetten- und Schattenspielen. Darüber hinaus unterstrich Kutscher ausdrücklich, die Forschung müsse auch die mit solchen mimischen Formen verknüpften Volksbräuche beachten, »wie sich entweder zu Jahreszeitfeiern regelmäßig wiederkehren und sich an die Allgemeinheit wenden oder bei Geburt, Hochzeit, Tod geboten werden« (Ebd.). Die Erweite‐ rung des Wissenschaftsfeldes zu kulturübergreifenden Aspekten, Themenkom‐ plexen und Beziehungen ist hier evident. Die 1925 von Kutscher ins Leben ge‐ rufene „Gesellschaft für das süddeutsche Theater und seine Auswirkungen“ muss daher als Verknüpfungspunkt zwischen der deutsch-volkstümlichen The‐ aterkunst und dem mimischen Ausdruck betrachtet werden, der als Urform jeder Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 212 <?page no="213"?> 35 Beispiele von Monografien mit Abbildungen waren Das Isartor-Theater in München oder Das deutsche Theater in Budapest. 36 Das Projekt sah schon die Stellung solcher Arbeitszentren vor, und zwar südlich des Mains, in Zürich und Basel, in Wien, Graz und Klagenfurt sowie in Budapest. Dramatik weder national noch kulturell bedingt ist. Die Hauptaufgaben, welche sich die Gesellschaft stellte, reproduzierten die Struktur der längst etablierten Praxis der Münchner Theaterwissenschaft: Die Gesellschaft sollte zunächst Ex‐ kursionen zu Stätten alter Theaterkultur organisieren, dann Bauerntheater, Krippenspiele, historische Kostümstücke, Passionsspiele, Legenden, Ritter‐ stücke, Schattenspiele, Puppenspiele, Volkstänze, Maskenspiele, Umzüge und Kinderfeste erforschen, welche die Mitglieder durch direkte Erfahrung als Zu‐ schauer oder als Darsteller kennengelernt hatten. Diese Untersuchungen sollten dann in einem der Inventarisation dienenden Jahrbuch und jährlich in einer oder zwei Monografien mit Abbildungen veröffentlicht werden. 35 Neben der Veröf‐ fentlichung solcher Texte zielte die Gesellschaft auf die Publikation von biogra‐ phischen oder kritischen Aufsätzen über einzelne Autoren und Theater, von alten Handschriften mit Hirtenspielen oder Passionsspielen, von Statistiken und laufenden Berichten ab. Dabei waren auch Bilder und »das gefährdete Gut« in Form von Prospekten, Grundrissen oder Dekorationen abzudrucken. Als wei‐ tere für die Gesellschaft zu erfüllende Anforderung findet man die Bildung grö‐ ßerer Arbeitszentren mit Bibliotheken, Museen und Archiven, um die lokale Forschung zu unterstützen. 36 Schließlich wurde die Einrichtung einer Sammel‐ stelle für die gemeinsam geplanten Aufführungen auf das Programm gesetzt (Gesellschaft für das süddeutsche Theater MNN 1926: 15). In Herbert Günthers Erinnerung sei der Zweck der Gesellschaft gewesen, »alle Freunde des süddeut‐ schen Theaters zu einer Gemeinschaft zusammenzuschließen, die es systema‐ tisch zu erforschen und zu fördern hätte« (1938: 55). Die von Kutscher beab‐ sichtigte Organisationsstruktur der Gesellschaft sollte mehr Ortsgruppen enthalten, die dem Zweck dienten, ihre jeweils spezifischen Formen mimischer und theatralischer Kunst zu erkennen, erhalten und übermitteln. Dieses Modell kooperierender Gruppen ähnelt dem inneren Aufbau des „Werdandi-Bunds“, wo lokale Kreise ihre ortsgebundenen Unternehmungen betrieben und nur an zweiter Stelle mit der translokalen Vorstandschaft in Kommunikation traten. Der Theaterprofessor hatte ja Kenntnis von den Gründen, die zur zunehmenden Reduktion der Aktivitäten des „Werdandi-Bundes“ und zu dessen endgültigen Ende im Jahr 1914 führten, deshalb versuchte er, einerseits die Zentralität Mün‐ chens unter den vielen Ortsgruppen hervorzuheben, andererseits die Tätigkeit der Mitwirkenden in den unterschiedlichen Untergruppierungen mit dem Nutzen für die gesamte Organisation eng zu verbinden. Das Beziehungsgeflecht des Kutscher-Kreises 213 <?page no="214"?> 37 Vgl. DLA, A: Kutscher 57.4869. 38 »Die Tätigkeit der Gesellschaft stützt sich - wie Prof. Kutscher […] ausführte - auf die Kultusministerien, auf die Orts-Theater und Vereine mit verwandtem Wirkungskreis, vor allem auf die Berliner „Gesellschaft für Theatergeschichte“, ferner auf Lehrerschaft und Geistlichkeit, und wird ihre Arbeit in Orts-Zentren verlegen, um überall die Ar‐ chive, Museen und Bibliotheken der Aufgabe dienstbar zu machen« - so liest man in der „Augsburger Abendzeitung“ (Gesellschaft für das süddeutsche Theater 1926: 5). 39 Siehe dazu den MNN-Artikel Gesellschaft für das süddeutsche Theater. Gründung der Ortsgruppe München 1926: 3. In diesem Zusammenhang muss man anmerken, dass die „Münchner Neuesten Nachrichten“ im Februar 1926 eine Artikelreihe über die von Kutscher gegründete Gesellschaft begannen. 40 Kutscher hatte auf die Anwesenheit und Mitarbeit von Borcherdt anscheinend nicht verzichten können. Die Vorbereitungen für die Zusammenkunft der „Freunde des süddeutschen Theaters“ zeigen deutlich das zwiefache Bemühen Kutschers. Schon im No‐ vember 1925 wurde Adolf Linnebach von Kutscher als Mitarbeiter aufgefor‐ dert 37 - ein weltberühmter Bühnensachverständiger für Theater- und Büh‐ nenbau, der ab 1923 seine Karriere mit München verband und dort mit einer Ehrenprofessur belohnt wurde. Ende Februar 1926 kam es endlich zur Gründung der Ortsgruppe München. Kutscher hatte im Bayerischen Automobilklub im Preysing-Palais renommierte Gelehrte, Künstler und Politiker eingeladen und ihnen die Absichten der Gesellschaft präsentiert. 38 Versammelt waren u. a. der damalige Bürgermeister Küfner, Max Halbe, Kurt Martens, Alfons Pape und Ernst Leopold Stahl. Unter allgemeinem Beifall wurde Berthold Litzmann zum neuen Vorsitzenden gewählt. 39 Diese Entscheidung war nicht zufällig, weil Litz‐ mann nicht nur als langjähriger Theatergeschichtsforscher, sondern auch als Geheimrat an der Universität Bonn bekannt war. Das akademische Wissens‐ system war in der „Gesellschaft für das Süddeutsche Theater“ weiterhin von Hans Heinrich Borcherdt vertreten. 40 Neben Litzmann und Borcherdt hielten auch der Generaldirektor des Nationalmuseums Halm und Franz Rapp vom Münchner Theatermuseum beglückwünschende Ansprachen: In der Organisa‐ tion fanden also nicht nur Universitätsprofessoren ihren Platz, sondern auch Vertreter staatlicher und städtischer Kunstinstitutionen. Bei jener ersten Ver‐ sammlung in München wurden auch die Ortsgruppen Stuttgart, Wien, Buda‐ pest, Innsbruck, Salzburg und Zürich ins Leben berufen und die eigentliche Gründung der Gesellschaft für Mai 1926 geplant. Ende März 1926 fand die erste Sitzung der Ortsgruppe München statt. Als erster Vorsitzender fungierte Gün‐ ther Caracciola-Delbrück, als zweiter Philipp Maria Halm, während der Reich‐ finanzrat Koch zum Schatzmeister der Gesellschaft wurde. Kutscher sprach hierauf über das Salzburger Barocktheater und half sich mit Lichtbildern. In seinem Überblick wies Kutscher auf die mittelbaren und unmittelbaren Wir‐ Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 214 <?page no="215"?> kungen jenes Theaters, auf die geistliche sowie weltliche Bühnenkunst Süd‐ deutschlands hin und behauptete, selbst Mozarts Werk sei noch von dessen Charakteristika beeinflusst. Im April 1926 wurde dem Generalintendanten des Hessischen Landestheaters Ernst Legal angeboten, in den Gesamtvorstand der Gesellschaft als Vorstandsmitglied einzutreten. Er nahm das Angebot wahr ( DLA , A: Kutscher 57.4843). Auch Bernhardt Blume, der, wie im vorherigen Ka‐ pitel gezeigt, von Kutschers Unterstützung viel profitiert hatte, wurde zur Mit‐ wirkung eingeladen ( DLA , A: Kutscher 57.4302 / 9). Vom 7. bis 9. Mai 1926 tagte die Gründungsversammlung in München; man feierte die offizielle Entstehung der Gesellschaft. Als Gäste tauchten Hunderte von Vertretern der süddeutschen Theaterkunst und -wissenschaft auf, sodass ein begeisterter Kurt Martens berichten konnte: Zum ersten Male werden die Süddeutschen, ohne Ansehung der politischen Grenzen, aber auch ohne politische Hintergedanken, lediglich auf Grund ihrer Sprach- und Kulturgemeinschaft und zu rein wissenschaftlich-kulturellen Zwecken, öffentlich als Einheit auftreten. Persönliche Fühlung wird gewonnen werden im Austausch der Ge‐ danken und Erfahrungen, die für die Bühnenkunst ihrer engeren Heimat von Belang sind, und diese Fühlung wird sich auswirken in einem Gemeinschaftsgefühl, vertieft und verstärkt durch das Wirken der verschiedenen Arbeitszentren, laufende Korres‐ pondenzen und Publikationen, wechselseitige Besuche und künftige Tagungen. (1926: 3) Die Wahl von München als Stadt der ersten Ortsgruppe und der Gründungsfeier hatte selbstverständlich eine gesellschaftlich-kulturelle Bedeutung. Derselbe Martens stellte ausdrücklich fest: »So hat sich München, bald nach der Grün‐ dung der „Deutschen Akademie“, einen neuen Mittelpunkt geistigen Lebens ge‐ schaffen und wieder einen Schritt vorwärts getan, seinen neuerdings umstrit‐ tenen Ruf als Kunststadt zu wahren« (Ebd.). Martens’ Wiederaufnahme des Ausdrucks ‚Kunststadt‘ nach dem Ende der Blütezeit Münchens in der Prinzre‐ gentenzeit war mit dem sogenannten „Kampf um München“ gedanklich ver‐ knüpft, der 1926-1927 alle Münchner Intellektuellen interessierte. Kurt Martens meinte, wieder eine Kunststadt zu sein heiße für München »auch, seiner histo‐ rischen Sendung eingedenk, als ein geistiger Brennpunkt strahlenförmig in die Weite [zu] wirken und den Sinn der Bürger mit eindrucksvollem Hinweis auf die Leistungen der Vergangenheit künstlerisch [zu] beleben« (Ebd.) - und ge‐ rade das geistige Sich-Wiederfinden Münchens stand damals im Mittelpunkt der Diskussion über das kulturelle Ergehen der bayerischen Hauptstadt. Einige Kri‐ tiker der „Münchener Post“ hatten sogar geschrieben: »München war vor dem Kriege ein europäisches Zentrum; es ist im Begriffe, eine deutsche Provinzstadt zu werden«, was zu einer Gegenbewegung von neuen Gruppierungen, Ver‐ Das Beziehungsgeflecht des Kutscher-Kreises 215 <?page no="216"?> 41 Einen ausführlichen Bericht über die Gründungsversammlung der Gesellschaft gab der MNN-Artikel vom 7. Mai 1926 (3). 42 Erster Vorsitzender war der Generaldirektor Halm, sein Stellvertreter Kutscher. Der zweite Vorsitzende für Österreich wurde offengelassen, aber man nahm Hugo von Hof‐ mannsthal hierfür in Aussicht. Am 20. Juli 1926 antwortete Hofmannsthal auf Kutschers Anregung, an der „Gesellschaft für das süddeutsche Theater“ teilzunehmen: Er akzep‐ tierte wohlwollend (DLA, A: Kutscher 57.4721). Die Verbindung München-Wien wurde auf diese Weise, durch die zwei ersten Vorsitzenden, gefestigt. Die Bedeutung Öster‐ reichs für die Gesellschaft wurde dann endgültig markiert, nachdem man Salzburg als Gaststadt für die Hauptversammlung 1927 ausgewählt hatte. 43 Kutscher bekannte sich in der programmatischen Rede als Vater des Gedankens und »dankte allen Mitarbeitern, besonders den Schülern der theaterwissenschaftlichen Kurse«. »Dr. C. Nießen von der Universität Köln meldete den Beitritt zweier rheinischer Institute an: der „Rheinischen Gesellschaft für Theatergeschichte und Theaterkultur“ und des „Instituts für Theaterwissenschaft an der Universität Köln“. Er hob als beson‐ ders erfreulich hervor die Betonung des Volks, des nicht literarischen und intellektu‐ ellen Volkstheaters durch die neue Gesellschaft.« (Gesellschaft für das Süddeutsche The‐ ater. Die Gründungsfeier in München 1926: 7). bänden und Gesellschaften führte (nach Mann 1926: 2). Als Reaktion hierauf wurde beispielsweise im Oktober 1926 ein Verein zur Förderung der zeitgenös‐ sischen Dichtung gegründet, dessen Mitglieder sich „Die Argonauten“ nannten, und der Buchhändler Georg Steinicke baute im November desselben Monats die „Münchner Gesellschaft 1926“ auf, um die wertvolle künstlerische und literari‐ sche »Frömmigkeit« der Stadt zu pflegen (Mann 1926: 4-6). Um auf die „Gesellschaft für das süddeutsche Theater und seine Auswir‐ kungen“ zurückzukommen, muss man ihre Gründungsfeier sowie ihre ersten Unternehmungen kurz analysieren, um die Elemente aufzuzeigen, die alle von Kutscher beförderten und koordinierten Aktivitäten charakterisieren: 41 die pro‐ grammatische Verbindung von theoretischer Untersuchung und aktiver Praxis, die Veranstaltung von Theaterausflügen und -besuchen, die Verflechtung zwi‐ schen Theaterkunst und anderen Künsten, die Pflege der Geselligkeit, die un‐ terschiedlichen Partizipationsniveaus, die Anerkennung und Vermittlung alt‐ überlieferter Volksbräuche sowie die Erweiterung gemeinsamer Kenntnisse und Traditionen durch eine stete Aushandlung von Ressourcen und Werkzeugen. Am Freitag, den 7. Mai 1926, wurden die Gäste und Ortsgruppenvertreter 20 Uhr im Hofbräuhaus unter Mitwirkung von Karl Valentin und August Weigert begrüßt. Am folgenden Vormittag gestalten sich die Gründungsverhand‐ lungen, 42 dann begann die offizielle Gründungsfeier mit dem gemeinsamen Mit‐ tagessen im Preysing-Palais. 43 Um 16 Uhr besuchten alle Mitglieder die Pocci-Ausstellung in der bayerischen Staatsbibliothek unter Führung des Grafen Pocci und später das Theatermuseum unter Rapps Führung. Am Abend wohnten sie der Festvorstellung von Anzengrubers Der Meineidbauer im Prinzregenten‐ Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 216 <?page no="217"?> 44 Die besuchten Aufführungen umfassten das Volksstück des Bauerntheaters Die Wirts‐ zenzl, dann Gesänge und bayerische Volkstänze des Trachtenvereins. 45 Die Jahresgabe der Gesellschaft vom Jahr 1927 über süddeutsche Theaterdekorationen wurde von Franz Rapp selbst herausgegeben. 46 Siehe dazu Horst 1972: 572. Selbstverständlich überschnitten sich die Interessen der „Gesellschaft für das süddeutsche Theater“ teilweise mit denen der Salzburger Fest‐ spiele, deren Gemeinde - nach Ansicht des Theaterprofessors - gleichfalls in den 1920er Jahren die Bewirtschaftung der »deutsch-österreichische[n] Volkskultur« be‐ zweckte (1939: 137). theater bei. Die Gäste wurden am Sonntag zu volkstümlichen Aufführungen nach Marquartstein geführt - eine Exkursion, die im Einklang mit den Inte‐ ressen und Zielen der Gesellschaft stand. 44 Wie man in den „Münchner Neuesten Nachrichten“ zum Ausdruck brachte: »Der zweite Tag des Süddeutschen The‐ aterkongresses führte mitten ins praktische Arbeitsgebiet hinein« (Gesellschaft für das Süddeutsche Theater. Das Arbeitsgebiet auf dem Lande 1926: 3). Nach den Aufführungen betonten Halm und Pater Expeditus Schmidt mit vollem Humor die Verbrüderung zwischen den Münchnern und den Marquartsteinern. Die vorgeschlagenen Themen für die erste, bis Ende 1926 noch herauszugebende Monografie - und zwar „Das Ludwigsburger Schlosstheater“ und „Das Deutsche Theater in Budapest“ - wurden vorläufig zurückgestellt. Als Thema wurden hingegen Quaglios Dekorationsentwürfe zur ersten Aufführung der Zauberflöte in München aufgenommen, weil das Münchner Theatermuseum sie neulich er‐ worben hatte. 45 Das Projekt eines Jahrbuchs und einer Zeitschrift wurde nicht realisiert. Stattdessen wurde ein Korrespondenzblatt geplant (Gesellschaft für das Süddeutsche Theater. Die Gründungsfeier in München 1926: 7). In ihrem ersten Lebensjahr veranstaltete die Gesellschaft einige Theateraus‐ flüge, wie der am 18. Juli 1926 nach Kiefersfelden am Inn, wo sich das älteste süddeutsche Dorftheater befand, unter Führung von Artur Kutscher. Dabei waren u. a. Halm, Borcherdt, Hille und höchstwahrscheinlich auch Rapp: »[I]n einem herrlichen alten Holztheater [sahen sie] Angelika oder Kindesliebe sprengt des Vaters Fesseln, ein anonymes Stück aus dem 18. Jahrhundert« (Hille 1977: 29). Eine Exkursion zur Leonhardifahrt in Tölz wurde hinterher organisiert. Mitte September 1926 erschien die erste Nummer von „Das süddeutsche Theater: Korrespondenzblatt der Gesellschaft für das süddeutsche Theater und seine Auswirkungen“, deren Schriftleitung Borcherdt, Kutscher und Litzmann über‐ nommen hatten. Unter den Beiträgen befanden sich auch ein Aufsatz von Stahl über die deutsche Theatersituation 1925 / 26, ein Beitrag von Hofmannsthal über das Salzburger Programm 46 und die Festrede des Germanisten Richard Csaki Das Beziehungsgeflecht des Kutscher-Kreises 217 <?page no="218"?> 47 Csaki war der Leiter des deutschen Kulturamtes in Hermannstadt. Kutscher hatte auch viele Jahre später den Taufspruch Csakis nicht vergessen können: »Er traf mit seinen Ausführungen ins Herz unserer Bestrebungen. […] Er sagte z. B. im Hinblick auf die Banater Schwaben und von der Stadt Temesvar, deren Kulturbewußtsein verschwunden war: „Es hat nichts so sehr dazu beigetragen, die deutsche Bürgerschaft dem deutschen Kulturkreis wieder anzunähern wie das deutsche Berufstheater. So sehr ist in unseren gemischtsprachigen Gegenden das Theater Maßstab und Inbegriff der verschiedenen Kulturkreise in ihrer Wirkung bei der großen Öffentlichkeit, daß an dem Besuch des ungarischen, rumänischen, jiddischen oder deutschen Theaters die Kulturrichtung einer Stadt erkannt werden kann“.« (1960: 148) (Herv. im Originaltext). anlässlich der Gründungsfeier. 47 Gertrud Hille erinnerte sich lebhaft an jenes erste doppelte Heft des Korrespondenzblattes, in dem Günther Caracciola-Del‐ brück schrieb, »dass die Gesellschaft beabsichtige, gegen die expressionistischen Abwege des deutschen Theaters vorzugehen, auf denen sich Künstler und Pub‐ likum von einander getrennt hätten. Aus den Wurzeln des Volkstheaters solle eine Erneuerung des Theaters hervorgehen« (1977: 27 f.). Immer im November kam die Versammlung der Ortsgruppe München zur zweiten Sitzung im Hotel Union zusammen, das schon das berühmte Hauptquartier von Kutschers Auto‐ renabenden war. Am 15. Februar 1927 wurde ein Alt-Wiener Komödienabend im Steineckesaal an Stelle einer Faschingsunterhaltung angeboten. Nach den Komödienliedern des 18. und 19. Jahrhunderts fand die Aufführung des alten Hanswurstspiels Odoardo, oder die lächerlichen Schwestern von Prag von Philipp Hafner statt, bearbeitet und inszeniert von Max See. Nachträglich bemerkte Hille, Kutscher habe schon im ersten Heft des Kor‐ respondenzblattes »auf „das stammlich, volks- und rassenmässig basierte The‐ ater, das seiner typischen, blutbedingten Eigenarten wegen das ursprünglichste und damit unsterbliche ist“« zurückgegriffen. Dazu kommentierte die Mitar‐ beiterin von Franz Rapp, in den 1970er Jahren könne man besser als damals erkennen, worum es wirklich ging (28). Hille versteckte ihre Widerwärtigkeit gegenüber den völkischen Neigungen Kutschers nicht und rückblickend glaubte sie in ihnen denselben konservativen, rassistischen und reaktionären Boden zu erkennen, aus dem auch der Nationalsozialismus entstanden war. Allerdings scheint nun diese Gleichstellung durchaus oberflächlich: Es stimmt zwar, dass Kutscher die völkische und nationale Bedeutung der mimisch-pantomimischen Ausdruckskunst im kulturellen Sinn würdigte, trotzdem betrachtete er immer die Forschung über das süddeutsche Theater oder über primitive Theaterformen und Volksbräuche als eine Wiederbestätigung der Rolle Deutschlands in trans‐ nationalen kooperativen Lernen und Handeln. Nur dieses kooperative Handeln hätte zur künstlerischen und gesellschaftlichen Entwicklung führen können. Zum volkstümlichen Interesse des Kutscher-Kreises bildete die Kultivierung des Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 218 <?page no="219"?> Zwischenraums zwischen Orten, Epochen, Kulturen und Disziplinen bzw. die Kultivierung des offenen, freien, wandelbaren Charakters des Theaters und dessen Wissenschaft eine Art strukturelles Korrelat. Als Antwort auf eine Rund‐ frage der Zeitschrift Der Zwiebelfisch über München, die Persönlichkeiten nach Vorschlägen oder Hinweisen fragte, welche zur geistigen Hebung der Stadt bei‐ tragen konnten, brachte Kutscher nur die »Mission der theaterwissenschaftli‐ chen Lehre« vor (1926a: 25). Der Gegenstand der Theaterwissenschaft sei näm‐ lich »urmenschlich und allgemeinverständlich«, was sie jeder »Erstarrung des Lebens«, jedem künstlerischen, gesellschaftspolitischen oder religiösen Dog‐ matismus und jeder Feindlichkeit gegenüber anderen Völkern entgegensetzte (1926b: 57). Auch in Bezug auf den Konservativismus seiner Wahlheimat hatte Kutscher eine ganz genaue Auffassung: Während des ersten Weltkrieges und der ersten Nachkriegszeit war die junge Generation in ihrem Kampf gegen den kulturfeindlichen Konservativismus Münchens weitgehend »gelähmt, zer‐ streut, an Zeit, Mitteln, Kräften ausgenützt« geworden. Daher konnte sich eine Widerstandsbewegung bzw. eine Gegenbewegung von »Künstlern und Kämp‐ fern, klein und groß, einzeln und organisiert, von lokaler, von deutscher, von internationaler Bedeutung« nicht entwickeln (Ebd.). Die Funktion der älteren Generation von Intellektuellen war daher, neue Mitwirkende in Vereinigungen, Gesellschaften oder Bündnissen zu sammeln, damit alle zusammen eine zweite geistige Blütezeit der Stadt in Gang setzen konnten. Nachdrücklich plädierte der Theaterprofessor für die Beteiligung der künstlerischen und wissenschaftlichen Intelligenz sowie der Jugend am Prozess der Wissenserzeugung: Die kulturtragende Generation hat sich heute wiedergefunden und auf sich selbst besonnen, auf ihre Pflicht. Es gilt München zu vertreten, unsere unglückliche Liebe. Münchens Bedeutung liegt in dem herzustellenden Gleichgewicht gegen seinen ein‐ geborenen Konservativismus, liegt im Kampf seiner Jugend. Sie muß sich durchsetzen wie ihre Vorgänger. Die Zeit ist da, die Verbündeten sind da. Was wollt ihr mehr! (58) Keineswegs ist daher die besondere Aufmerksamkeit der theaterwissenschaft‐ lichen Lerngemeinschaft Münchens auf volkstümliche Elemente als einen ein‐ deutig prä- oder gar faschistischen Zug anzusehen. Wenn sich Thomas Mann über die Sehnsucht der Münchner »nach dem Reineren, Höheren, Edleren« po‐ sitiv äußerte (1926: 5), wenn er den tiefen Sinn der „Münchner Gesellschaft 1926“ als »Blutentgiftung, Erhebung, Befreiung, Genesung am Geiste und zum Geist« preiste (6), dann benutzte Kutscher nur verwandte Ausdrücke und erar‐ beitete ähnliche Konzepte, um die günstigen Auswirkungen einzelner Arbeits‐ gruppen der Stadt in einer historischen und gesellschaftlichen Übergangsphase zu preisen. Die Theaterwissenschaft als Forschung über das Theater und über Das Beziehungsgeflecht des Kutscher-Kreises 219 <?page no="220"?> 48 Lipphardt und Patel benutzen den Begriff ‚Wissensfeld‘, um einen »Kommunikations‐ zusammenhang zu einem bestimmten Wissensinhalt« zu bezeichnen, »der über die Grenzen der Wissenschaft hinausreicht und somit auch nicht wissenschaftliche Ak‐ teure mit einschließen kann« (2008: 431). 49 Endgültig aufgelöst wurde sie erst im Frühjahr 1927. das Erlebnis von Theater, als Wissensfeld im Sinne von Lipphardt und Patel, 48 sollte zuerst das Spezialgebiet ‚süddeutsches Volkstheater‘ berücksichtigen, um dort die Spuren der mimischen, allen Kulturen gemeinsamen Ausdruckskunst zu ergreifen, und hinterher die stete, transnationale Verwandlung solcher mi‐ mischen Basis durch die »Meisterung des dichterischen Wortes« und durch die Verflechtung unterschiedlicher gesellschaftsspezifischer Elemente untersu‐ chen. Obgleich die Tätigkeit der „Gesellschaft für das süddeutsche Theater“ binnen einem Jahr zu Ende kam 49 - höchstwahrscheinlich wegen der Unfähig‐ keit der Kerngruppe und des Koordinators, die Interessen sowie Aktivitäten der vielen Mitglieder in eine einzige, gemeinsame Richtung zu steuern und eine identifizierbare, kollektiv ausgehandelte Praxis zu etablieren -, beschäftigte sich der Kutscher-Kreis mit volkstümlichen Aufführungsarten weiter, ohne jedoch das transnationale und transdisziplinäre Gepräge des Theaterwesens zu ver‐ nachlässigen. 1928 widmete Kutscher beispielsweise dem bayerischen Volks- und Natio‐ naltanz einen Zeitungsartikel. Der Grund dafür war eine einfache Bemerkung: Da der Tanz mit der Schauspielkunst der großen Theaterepochen untrennbar verbunden sei, entspreche die Tatsache, dass die Meisten damals an die tiefe Zusammengehörigkeit beider Ausdrucksformen nur schwer glaubten, einer »Entartung« sowohl der Schauspielkunst als auch des Tanzes (1). Das theater‐ wissenschaftliche Problem wurde dann in einem internationalen Rahmen kon‐ textualisiert: Die italienische, spanische, französische, englische Theatergeschichte bezeigt gerade an ihren Höhenpunkten die feste Verknüpfung von Tanz und schauspielereischer Darstellung, sei es nun überhaupt als Institution des Theaters, sei es wenigstens als unerläßliche Bedingung ganzer Gattungen von Spielen. Der japanischere Schauspieler ist stets zugleich Tänzer und liebt Tänze in der Handlung als Gelegenheit zu möglichst unbeschwertem Spiel. Der Inder hat überhaupt nur einen Namen für Tänzer und Schauspieler. (Ebd.) Sogar der Gegenstand des Nationaltanzes, der sich auf der Tradition, auf dem »rassenhaften Empfinden« eines gewissen Volkes aufbaue (Ebd.), wurde vom Theaterprofessor auf die ursächliche, transkulturelle Bedeutung des Tanzes für das Theater zurückgeführt. Nach der ausführlichen Beschreibung der vier Gruppen vom Volks- und Naturtanz - also »Tänze, die aus dem Bereich der Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 220 <?page no="221"?> 50 Diese letzte Gruppe war für Kutscher die wichtigste, weil das Pantomimische dort be‐ sonders entwickelt sei und der Humor stark vertreten. modischen alten Gesellschaftstänze genommen sind, die […] auf Contretänze zurückgehen«, alte Figuren- und Reigentänze volkstümlicher Art, eigentliche Naturtänze und zuletzt »Tänze der Burschen unter sich, ohne Mädel, Tänze der Holzacker oder Senner, ausgeübt zur Unterhaltung an den langen Abenden nach grober Arbeit oder Feiertags« 50 (Ebd.) - bedachte Kutscher die große Lücke im Prozess der Kunstbewahrung und -erzeugung: Viele deutsche Stämme hatten nun ihre Volks- und Nationaltänze nicht mehr. Wenn auch die Bayern »traditi‐ onell genug« seien, um die Fortexistenz ältester Tänze zu sichern, sie der Ein‐ fluss »von persönlichen, örtlichen und zeitlichen Verhältnissen« nicht uner‐ heblich (2). Gerade deswegen sah Kutscher die Notwendigkeit ein, den »Freunde[n] volkstümlicher Kunst« einen Vorschlag vorzulegen: alle noch ausgeübten süddeutschen Volks- und Nationaltänze, auch die Gewerkschaft- und Kunsttänze, sowie die tänzerischen Jahreszeitenfeier und Maskenspiele, mit ihren Melodien phonographisch und ihren Bewegungen kinematographisch aufzunehmen und in einem öffentlichen Filmarchiv zu sammeln, um sie wenigstens so der Zukunft zu überliefern. (Ebd.) Der Vorschlag gewann an Kraft, nachdem Kutscher das Studium der Volks- und Nationaltänze an die junge Theaterwissenschaft verknüpften hatte: Eine solche Untersuchung sei nur auf jene Weise möglich, also mithilfe aller technologi‐ schen Mittel, denn anstatt einer verwirrenden, wirklichkeitsfernen Nomen‐ klatur sollte jeder Bestandteil der mimischen Aufführung tradiert werden, deren innerer Zusammenhang eben aus der Interaktion dieser Komponente resultiere (Ebd.). Wie gewöhnlich hatte Kutscher auch Unterstützer für seinen Plan ge‐ funden, u. a. das bayerische Kultusministerium, die Bürgermeister von Mün‐ chen, das Münchner Stadtarchiv und die Leitung der Emelka. Der Koordinator der theaterwissenschaftlichen CoP wollte anscheinend allen Verzweigungen des Fachgebietes eine funktionierende Struktur für die Pflege des Wissens im ge‐ meinsamen Unternehmen verleihen. Die Verästelungen der Theaterkunst be‐ rührten freilich auch andere wissenschaftliche Disziplinen. Lokale und globale Räume Das Verständnis eines Wissensfeldes und einer damit verbundenen Praxis, die sich in einem mit ausgehandelten Expertisen, Beziehungen, Artefakten und Methoden auszufüllenden Zwischenraum befinden und die daher eine Partizi‐ Das Beziehungsgeflecht des Kutscher-Kreises 221 <?page no="222"?> 51 Siehe dazu Kutscher 1925: 144. 52 Einen allgemeinen Überblick über die zwei Ansätze der frühen Theaterwissenschaft bietet Balme in seiner Relektüre von Carl Niessens Handbuch der Theater-Wissenschaft (2009: 185 f.). pationsart am Zusammentreffen mehrerer Communities of Practice benötigen, musste zur Herstellung unterschiedlicher jedoch zusammenhängender Örtlich‐ keiten führen. Unter ‚Örtlichkeit‘ kann man eine imaginäre Region verstehen, die jenseits physischer Orte als Interaktionsrahmen fungiert. Die Ausrichtung der Theaterwissenschaft auf effektiv-lokale und vorgestellt-globale Räume setzte sich in drei Momenten durch: Sie ging zunächst die Disziplin an, und zwar in ihrer Beziehung zu anderen Wissensgebieten und in ihrer Offenheit zu neuen Ansätzen und Untersuchungsgegenständen; dann sorgte sie dafür, dass ihr uni‐ verseller Charakter eine Wiederspiegelung in der Theaterkunst, die stets mimi‐ sche und dramatische Elemente in einer transkulturellen Dimension verknüpft, finden konnte; schließlich betraf sie die Lernenden, die an der gemeinsamen Praxis mitwirkten, besonders in ihrer Rolle als Traditionsträger, als Kulturver‐ mittler sowie als Auslöser für Innovationen. Im Folgenden sollen alle diese De‐ klinationen analysiert werden, die der Münchner Theaterwissenschaft ihr ei‐ genes globales Gepräge verliehen. In erster Linie muss der Blick auf die Positionierung der Theaterwissenschaft mit Bezug auf andere Lehrfächer gerichtet werden. Die interdisziplinären Be‐ ziehungen der Wissenschaft des Theaters wurden von Kutscher immer gepflegt. Er zielte nämlich darauf, die Theaterwissenschaft an die Kunstwissenschaften anzubinden; er empfahl z. B. seinen Doktoranden, Kunstgeschichte als erstes Nebenfach zu wählen. 51 Gerade 1924 führte der Theaterprofessor in aller Deut‐ lichkeit aus: Mit der Kunstwissenschaft teilen die Theaterwissenschaften die Internationalität des Gebietes. Von allen offiziellen Wissenschaften steht ihnen keine so nah als die Kunst‐ geschichte, die deshalb - mindestens als Nebenfach - unerläßlich ist. Doch muss auch die Verbindung mit anderen Wissenschaften erlaubt sein wie Volkskunde, Kulturge‐ schichte, Sozialwissenschaft u. a. m. (1) Der Kutscher-Kreis versuchte also systematisch, die Verflechtungen des Thea‐ ters mit anderen Kunstformen zu erfassen und ein Gleichgewicht zwischen dem kulturwissenschaftlichen bzw. ethnologischen Ansatz und dem ästhetischen Ansatz der Theaterwissenschaft zu finden. 52 Kutscher begrüßte ja die Gelegen‐ heit einer interdisziplinären Zusammenarbeit mit den neugeborenen Kultur‐ wissenschaften und ernannte die Volkskunde zur dritten Hilfswissenschaft der Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 222 <?page no="223"?> 53 Man brauche die Volkskunde samt der Psychologie, um die Volkskunst zu verstehen und zu pflegen, weil die textlichen Grundlagen dort zu »schwach« und unsicher seien und nur die wissenschaftlichen Mittel dieser Hilfswissenschaften die Untersuchung unterstützen können (Kutscher 1932: 87 f.). 54 Ulrich Lauterbach referierte beispielsweise in jenem Semester über 8 Mädels im Boot (DLA, A: Kutscher 57.4841). Ungefähr jedes Jahr von 1937 an stellte Gunter Groll dann eine Filmliste für Kutscher zusammen, welche die neuen zur Behandlung in der Uni‐ versitätsübung geeigneten Filme enthielt. Manchmal kommentierte er auch die von Kutscher vorgeschlagenen Titel. Dazu siehe noch Kutscher 1960: 153. 55 Kutscher sprach z. B. am 18. April 1932, 16.30 Uhr, über „Männer in Frauen-Rollen und Frauen in Männer-Rollen“, wie die Ankündigung des Vortrags im Stuttgarter Sender (Südd. Rundfunk) heißt, oder am 6. Oktober 1934, 18 Uhr, über „Naturtheater - Frei‐ lichttheater - Landschaftstheater - Thingspiele“ beim Reichssender Stuttgart oder noch, Jahre später, über „Theaterwissenschaft als Lebenswissenschaft“ beim Hessischen Rund‐ funk (1953). 56 Den aktuellsten Überblick über die Beziehungen zwischen deutscher Intelligenzija und Film liefert Zerovnik 2015. Theaterwissenschaft. 53 Gleichzeitig entfernte er aber das Theater, ein ästheti‐ sches Phänomen wie jede Kunstform, von den frühen Kulturwissenschaften: Bei den Völkern suchte Kutscher die künstlerische Selbstdarstellung allein, die Ge‐ staltung des Lebensgefühls, die Dichtung, die Meisterung der mimischen Aus‐ drucksformen sowie der theatralischen Technik, um Kunstwerke zu schaffen. Er koordinierte eine Forschung vom Standpunkt der Kunst, eine Art Arbeits‐ gruppe, die um die Erneuerung des Theaters rang. Die Münchner Lerngemein‐ schaft arbeitete, wie schon dargestellt, stilkundliche Begriffe und Maßstäbe heraus und war letztendlich mehr an künstlerischen Affinitäten als an kultur‐ ellen Unterschieden interessiert. In Relation zum Praxisfeld benachbarter Dis‐ zipline konnte sich die Theaterwissenschaft außerdem mit den neuen Kunst‐ formen beschäftigen, die andere Aufführungsformen erzeugten: das Hörspiel und den Film. Ende der 1920er Jahre hielt Kutscher nämlich als erster deutscher Dozent Vorlesungen über Hörfunk und Kino und ab Sommersemester 1932 kündigte er stilkundliche „Übungen über Bühne, Film und Funk“ an. 54 Er be‐ treute zwei Doktorarbeiten, von Gunter Groll (1937) und Hartwig v. Behr (1943), in denen das Wesen und der Stil der Filmkunst untersucht wurden, und seine Reden wurden auch durch den Rundfunk übertragen. 55 Während einige Intel‐ lektuelle noch heftig darüber diskutierten, ob Film überhaupt Kunst sei, 56 setzte sich Kutscher für die wissenschaftliche Behandlung der Filmkunst im Rahmen der Theaterwissenschaft ein. Er wurde in der Reihenfolge Lehrer an der Mer‐ cedes Filmschule München, Dozent an der Deutschen Filmakademie, Gastredner der Ufa in Babelsberg und zuletzt Mitglied des Kuratoriums des Münchner In‐ stituts für Filmrecht. Das Beziehungsgeflecht des Kutscher-Kreises 223 <?page no="224"?> 57 Ein Beispiel für die Sitten der Japaner, die Reich in seiner Studie erwähnte, stellt die Parade verlorener Dirnen in Kyōto dar. Diese Parade gehe auf ein Brauchtum der Römer zurück: »Alljährlich ziehen in Kioto [sic! ] und anderen Städten des japanischen Insel‐ reiches die schönsten „prostitutae publicae libidinis hostiae“ in großem Aufzuge eine hinter der anderen durch die Straßen«, mit dem einzigen Unterschied, dass die Prosti‐ tuierten »im blumigen Japan« weder nackt noch rücksichtlos seien. Ihnen voran komme der „Straßenzug der schönen Damen“, ein Wagen auf dem ein riesiger Blumenkorb stehe; das Volk sei auf der Straße, während die Vornehmen aus den offenen Häusern schauen (1903: 173). Der Theaterprofessor wiederholte dann öfters, die Theaterwissenschaft »dürfe wie Musik- und Kunstwissenschaft nur als internationale Wissenschaft betrieben werden« (1956: 347). Die Internationalität - oder besser: Transnatio‐ nalität - des Untersuchungsgegenstands, welche das primitive Brauchtum ebenso wie die gegenwärtigen Ausprägungen der Bühnenkunst nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Regionen berücksichtigte, wurde von Kutschers Lerngruppe kontinuierlich verfolgt: Erstens versuchte die Münchner Theaterwissenschaft, ausländische Theaterformen indirekt durch spezifischen Unterricht oder direkt durch Exkursionen kennenzulernen; zwei‐ tens präsentierte Kutscher in schriftlichen Beiträgen oder während seiner Vor‐ tragsreisen die geistige und künstlerische Lage des deutschen Theaters und der deutschen Theaterforschung, sodass die heimatgebundene Kunst und Wissen‐ schaft einen Platz im transnationalen Dialog über die kulturelle Entwicklung der Menschheit finden konnte; drittens betonte die von Kutscher geleitete CoP den Anschluss der lokalen mimischen oder dramatischen Darbietungen an aus‐ ländische kulturelle Aufführungen - und andersherum. Aus der Münchner the‐ aterwissenschaftlichen Perspektive gehörte die Analyse der Affinitäten und Unterschiede zwischen Kulturen und Künsten zur gemeinsamen Praxis, weil sie den weltumspannenden Spielraum von Theaterforschern und -künstlern markierte. Die theaterwissenschaftliche Praxis kultivierte dadurch ihren glo‐ balen Charakter, ihre kosmopolitische Mission. Kontakt zum ausländischen Theater und zu anderen Kulturen Die Wissbegier des Kutscher-Kreises, was das ausländische Theater betraf, richtete sich vor allem auf chinesische, französische, indische, italienische, ja‐ panische und russische Aufführungen. Die mimischen Ausdrücke der Japaner waren schon von Hermann Reich in Betracht gezogen worden: Der Philologe hatte sowohl auf japanische Sitten 57 als auch auf Tänze und Bühnenauffüh‐ rungen hingewiesen, wobei er sich an Aimé Humberts Le Japon illustré (1870) Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 224 <?page no="225"?> 58 Aimé Humbert-Drotz war als Schweizer Minister zwischen 1863 und 1864 in Japan tätig, aber arbeitete dort auch als Ethnograf: »To the Swiss ambassador Aimé Humbert […] goes the merit of pioneering, even ahead of his Japanese contemporaries, the process of critical recognition of basic facts about kabuki. He acknowledged that, although the literary value of kabuki plays is generally weak, the performance has the ability to create a powerful poetic atmosphere and the actors succeed in expressing deep human pas‐ sions« (Ortolani 1995: 283). Adolf Fischer war dagegen ein Theaterdirektor und Eth‐ nologe, der 1904 als Mitglied der kaiserlichen Gesandtschaft nach Peking reiste. Fischer forderte ein eigenes Museum für die Kunst Japans, Chinas und Koreas, das am 25. Oktober 1913 am Hansaring, Köln, eröffnet wurde. Fischers Sammlung befindet sich noch heute im Museum für Ostasiatische Kunst zu Köln. und an Adolf Fischers Tätigkeit orientierte. 58 Und tatsächlich war der Kunst und Kultur Japans bereits nach der Öffnung des Landes zur westlichen Welt in der Meiji-Ära (1868-1912) eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt worden: Die Kunst Ostasiens war in europäischen Museen für Völkerkunde und Kunstge‐ werbe eingegliedert worden, die Japanmode hatte sich allmählich entwickelt und die japanische Darstellungskunst hatte vorwiegend in Deutschland ein starkes Echo gefunden - man denke nur an die Aufführungen des Münchner Künstlertheaters, an die Gastspiele japanischer Schauspieler wie Sada Yacco oder an die Drehbühne Karl Lautenschlägers und an den Blumenweg Max Rein‐ hardts. Kutschers Kontakt zu den mimischen Darbietungen der Japaner lag in der Zeit des „Akademisch-Dramatischen Vereins“ und in der Zeit seiner ersten theaterwissenschaftlichen Vorlesungen zurück, wie in den früheren Kapiteln erörtert wurde. Doch kam er erst in den späten 1920er Jahren mit einem japa‐ nischen Studenten, Masayoshi Sugino, eng in Berührung, der bei ihm sogar wohnte und bald Freund der ganzen Familie Kutscher wurde. Dank der Hilfe Suginos konnte der Theaterprofessor seine Kenntnisse im Bereich der japani‐ schen Theaterkunst erweitern und in seinem Grundriß beweisen. Was das chi‐ nesische Theater betrifft, weiß man nur, dass die Schwestern Jannsen im Kut‐ scher-Seminar am 22. Januar 1917 in einer Sondervorstellung das altchinesische Singspiel Der Kreidekreis anboten, das zum ersten Mal in Deutschland aufgeführt wurde (Kutscher 1960: 136). Auch wenn es keinen weiteren Hinweis auf das chinesische Theater in Kutschers Dokumenten gibt, war es höchstwahrschein‐ lich nicht das einzige Mal, in dem sich der Kutscher-Kreis mit den mimischen Ausdrücken Chinas auseinandersetzte - zumal ein »Haus-Chinese«, Yi Fung, zur Münchner theaterwissenschaftlichen Gruppe gehörte, der an verschiedenen Gemeinschaftsaktivitäten aktiv teilnahm (Kutscher 1960: 203). Kutschers Inte‐ resse am indischen Theater ist dagegen eindeutig belegt. Am 12. Juni 1919 ant‐ wortete der Sanskritist Ernst Kulm auf einen Brief Kutschers mit den folgenden Worten: Das Beziehungsgeflecht des Kutscher-Kreises 225 <?page no="226"?> 59 Auf den Seiten des Münchner Merkur schrieb Rolf Flügel 1950 bezüglich der neulich unternommenen Italienreise des Kutscher-Kreises: »Von den 143 bisher durchgeführten Studienfahrten führten ein Drittel nach Italien. Das Land der deutschen Sehnsucht war auch das Ziel der ersten Unternehmung nach langen Jahren der Abschließung, der eine Art blockadebrechender Bedeutung zuzuerkennen nicht übertrieben ist.« (1950a: 4). 60 Man besichtigte Stettin, Leningrad und Moskau sowie die heutigen polnischen Städte von Chartów und Warszawa und das ukrainische Kiew. Vgl. Günther 1938: 327. Kutscher erzählte, er sei Ende April 1931, nach dem Besuch des Gastspiels Dybuk vom Moskauer Künstlertheater in München, zur Idee einer Studienfahrt nach Russland gekommen (1960: 181). 61 Kutschers Reisegesellschaft war im Mai 1955 wieder in Istanbul. Sehr geehrter Herr College, die von Ihnen angeführten Bücher sind freilich wenig geeignet, Ihnen einen Einblick in das indische Drama zu gewähren. Schroeders Buch ist von Anfang bis zu Ende Hypothese und meines Erachtens sehr zweifelhafte Hypothese, der Nicht-Sanskritist sollte sich von diesem Buche fern halten. Kitzels Schrift enthält wohl kaum etwas über das Drama. Mit Hillebrandts Abhandlung beginnt eine Kontroverse, die noch keinen Abschluss gefunden hat. Ich empfehle Ihnen eine Einführung, die 1827 ff. zuerst erschienene „Select Specimens of the Theatre of the Hindus, transl. by H. H. Wilson“ (später in seinen „Works“ wieder abgedruckt). Ferner: Sylvain Lévi, Le Théâtre Indien. Paris 1891, No. 83 der Biblio‐ thèque de l’Ecole des Hautes Etudes; den längeren Artikel von E. Windisch „Der grie‐ chische Einfluss im indischen Drama“ in den Verhandlungen des V. Orienta‐ listen-Congresses (Berlin) 2, 2, S. 3-106; endlich die Berner Rektoratsrede von E. Müller „Die Entstehung des indischen Dramas“, die erst vor einigen Jahren erschienen ist. (DLA, A: Kutscher 57.4823) (Herv. im Originaltext) Da es damals für die Münchner Theaterwissenschaftler unmöglich war, Indien zu besuchen, versuchten sie zumindest Texte über die indische Kultur zu lesen. Ab 1924 begannen dann die akademischen Reisen des Kutscher-Kreises ins Aus‐ land: zuerst nach Österreich, Ungarn, Italien, 59 Griechenland und Frankreich, nachher nach außereuropäische Länder. Im August 1932 fand die Russlandfahrt statt, 60 im September 1933 erreichte eine Exkursion des theaterwissenschaftli‐ chen Seminars die marokkanischen Küsten und im Zeitraum 1934-38 besich‐ tigten Kutschers Studenten und Freunde dreimal Tripolis. Nach Kriegsende plante Kutscher sogar eine Lehrfahrt in die USA , die anscheinend nicht ver‐ wirklicht wurde, während er im Herbst 1953 mit seiner Gruppe nach Ägypten reiste. Im Mai 1954 war die Lerngemeinschaft des Theaterprofessors in der Türkei, 61 zwischen Juli und August desselben Jahres in Dänemark, Schweden, Finnland und Lappland, 1955 in England und 1957 in Jugoslawien. Wenn auch Kutscher erklärte, er sei vor allem an den Spuren der größten Theater des Al‐ tertums interessiert, machte er erstens mit Prominenten seiner Zeit Bekannt‐ Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 226 <?page no="227"?> 62 In seiner Autobiographie erzählte Kutscher mit feiner Selbstironie auch vom Empfang seiner Gruppe beim Papst Pius XI im März 1929 (1960: 161 f.). 63 Diesbezüglich erzählten Karl und Käthe Brotze: »Theateraufführungen in Wien und Paris, in Moskau und in Rom wechselten ab mit dem Besuch von Puppenspielen in Palermo und Acireale, Stierkämpfen in Nîmes und Madrid, Volkskunstveranstaltungen bei den Zigeunern in Granada und bei den Flössern [sic! ] in Lenggries. Wir sahen den Schemenlauf in Imst, Perchtenumzüge im Salzburger Land, die Bauerntheater […] und die Passionsspiele […].« (in Günther 1953: 197). schaft, u. a. Emile Fabre, Gaston Baty, Charles Dullin, Pitoëff, Pirandello, Marie Rolland - Frau des Schriftstellers Romain Rolland -, D’Annunzio und Eleonora Duse, Meyerhold und Stanislawski; 62 zweitens ließ er seiner Gruppe wichtige Theateraufführungen und charakteristische kulturelle Veranstaltungen am Ort der Exkursion besuchen. 63 Neben Theateraufführungen und Museumsbesuchen war auch das lokale „Volksleben“ von besonderer Bedeutung - gemeint waren Geselligkeitsformen, Tänze, Freizeitaktivitäten oder Küche. Mitte Juni 1932 stellte Kutscher das vollkommene Programm der Theaterexkursion nach Russ‐ land mit dem Satz vor: »Zweck unserer Studienfahrt ist Erkenntnis des sowje‐ tischen Kunstwillens in Theater und Film; es sollen aber auch die kunsthistori‐ schen, volkskundlichen, allgemeinkulturellen Verhältnisse gezeigt, besonders auch das Erziehungs-, Universitäts-, Pressewesen einbezogen werden« (Kut‐ scher 1960: 182). Die Grundidee solcher Exkursionen war nämlich jede lokale Entwicklung des Theaters an den transnationalen mimischen Ursprung sowie an die kulturellen Spezifika anzuknüpfen und fernerhin eine fruchtbare Begeg‐ nung zwischen der Jugend und den Theaterbegeisterten aus unterschiedlichen Ländern zu vermitteln. Von »véritable coopération intellectuelle« sprach man auch am Ende des Pariser Aufenthalts des Kutscher-Kreises 1928 (170). Die sys‐ tematische Organisation von theatralischen Auslandsfahrten verfolgte in Kut‐ schers Vorstellung einem ganz bestimmten Ziel: die »Würdigung aller verschie‐ denen darstellerischen, technischen, architektonischen Eigentümlichkeiten der größeren Theater und ihrer Haltung zum Publikum« (155). Gerade durch solche Theaterfahrten gewann die Münchner Theaterwissen‐ schaft an innerer Kohäsion und gleichzeitig an internationaler Anerkennung. Anders gesagt, fand der dynamische und andauernde Identifikationsprozess der Gemeinschaftsmitglieder sowohl mit der ausgeübten Praxis als auch mit ihrem Mitwirken an jener Praxis im Netzwerk verknüpfter Gemeinschaften einen weiteren Antrieb für den Einsatz im kollektiven Handeln: Beteiligung und Vor‐ stellung wurden in einem breiten Framework bzw. Designrahmen organisiert, der die gesamte Lernstruktur aufrechthält. Wengers Theorie zählt vier in einer Wechselbeziehung stehende Grunddimensionen der Lernstruktur: Partizipation und Verdinglichung; das bereits Gestaltete und das neu zu Bildende; Identifika‐ Das Beziehungsgeflecht des Kutscher-Kreises 227 <?page no="228"?> 64 Siehe dazu Wengers schematischen Epilog über die Art und Weise, wie sich die Kom‐ ponenten der Lernstruktur und deren vier Grunddimensionen gliedern (1998: 240). tion und Aushandlung; das Lokale und das Globale (1998: 232-235). Besonders die letzte Dimension scheint notwendig, um die Spielräume im Wissenssystem aufzuschließen und die betroffenen Aufgaben und Fragestellungen in unter‐ schiedlichen Örtlichkeiten zu trennen: »From this standpoint design will create relations, not between the local and the global, but among localities in their construction of the global« (234). Als Koordinator der theaterwissenschaftlichen Lerngemeinschaft in München versuchte Kutscher daher, die zugleich lokale und globale Ausdehnung des gemeinsamen Lernens durch Führungen und Be‐ suche, durch Kontakte mit anderen Gesellschaften und Praxen, durch mehrere Räume und Kulturen einbeziehende Konzepte, Standards und Werkzeuge zu entfalten. 64 Über die Grenzen hinaus Als natürliche Folge dieses Versuchs beschäftigte sich Kutscher intensiv mit Theaterleuten und -initiativen, welche die Grenzen zwischen Gemeinschaften, Kulturen und / oder Konventionen überwanden. Als ersten Beleg dafür könnte man den schon im Jahr 1919 verfassten Artikel über den in Warschau geborenen Schauspieler Bogumil Dawison anführen, der in der Zeitspanne 1847-1867 nicht nur eine deutsche, sondern auch eine internationale Bekanntheit erreichte. Der erste Anstoß zum Zeitungsartikel des Theaterprofessors war die Schenkung des Tagebuchs Dawisons an das Münchner Theatermuseum, der Kutscher eine hohe theatergeschichtliche Bedeutung zumaß, weil die Literatur über den pol‐ nisch-deutschen Charakterdarsteller noch »recht dürftig« war (106). Dawisons künstlerisches Schaffen erstreckte sich auf Polen, Deutschland, Amerika und noch andere Länder, die er durch seine Gastspiele besuchte. Nicht nur die Ein‐ satzorte von Dawisons Tätigkeit waren aber für Kutscher beachtenswert, son‐ dern auch sein vielfältiges Repertoire, das »nur ein Mann von großem Fleiß, starker Willenskraft und hoher Elastizität des Geistes« anbieten konnte (107), und seine Mitarbeit mit erstrangigen Künstlern - von Charlotte Birch-Pfeiffer über Edwin Booth und Emil Devrient bis hin zu Adolph L’Arronge. Der Schau‐ spieler, der von Martersteig als ein »Gastspielvirtuose« bezeichnet worden war (1904: 450 ff.), unterlag letztendlich seinem »Exponiertsein«, seiner Vermitt‐ lungsrolle zwischen Ausdrucksformen, Menschen, und Kulturen (Kutscher 1919: 108), was seine weltweite Auswirkung in Kutschers Augen noch relevanter machte. Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 228 <?page no="229"?> 65 Laut Roda Rodas Informationen sei jene Theatertruppe »seit 1811 in Österreich doku‐ mentarisch belegt und von etwa 1790 bis 1918 in Niederösterreich, Mähren und Ober‐ ungarn tätig gewesen« (Đorđević 1996: 73). 66 Vgl. DLA, A: Kutscher 57.5141; Đorđević 1996: 73. Neben internationalen Schauspielstars waren außerdem Theatertruppen und Wanderbühnen, die eine Hybridisierung der Darstellungsweisen unterschiedli‐ cher Völker begünstigten, und als Roda Roda im April 1929 Spuren einer uralten wandernden Theatertruppe namens „Siege“ fand, 65 beschloss er, die von ihm gesammelten Dokumente und Informationen Kutscher zu übergeben. 66 Der Theaterprofessor und sein Kreis befassten sich aber am meisten mit der Com‐ media dell’arte - wie eine Vortragsreise und eine wissenschaftliche Veröffent‐ lichung Kutschers nachweisen -, weil jene volksnahe, spontane, von Amateuren ausgeführte Theaterform eine der fruchtbarsten Traditionen der Theaterge‐ schichte darstellte: Die Aufführungen, die Typen sowie die Spielweise der Com‐ media dell’arte seien in ihrem internationalen Lebensweg weder lediglich itali‐ enisch, noch französisch, noch europäisch: Sie seien von transkulturellem Zuschnitt. Mitte Oktober 1942 reiste Kutscher beispielsweise nach Hamburg, um in einer Vormittagsveranstaltung der hansestädtischen Theatersammlung über den großen Einfluss der italienischen, nur im Entwurf festgelegten Volks‐ posse auf Deutschland zu sprechen: Der Vortragende zeigte an einer stattlichen Zahl von Bildern das Vorkommen dieses Theaters in Süddeutschland, das keinerlei dichterische Elemente enthält, sondern reiner Mimus ist. Er entwarf dabei ein lebhaftes Gesamtbild, soweit unsere bisherigen Kenntnisse es ermöglichen, und ließ besonders eindrucksvoll die Entwicklungslinie der komischen Figuren heraustreten, die mit dem Zanne und Pantalone oder auch dem Pulcinelli [sic! ] beginnen, in Frankreich zum Harlekin führen und in Deutschland zum Typ des Hanswurst, die sich aber fortsetzen bis in unsere Zeit, bis zu den großen Clowns und Artisten. Darin wird zugleich deutlich, daß für diese Rollen neben den eigentlichen schauspielerischen Fähigkeiten, der Wiedergabe des Wortes, die artisti‐ schen Künste, bis hin zum Feuer-schlucken, eine große Rolle für diesen reinen Mimus spielen. (Baumann 1942: 2) Kutscher betrachtete die Commedia dell’arte als eigentliche »Schöpfung des Schauspielers«, die als Theaterform unterging, als sich das Drama gegen die Vitalität, die Kraft der Narren und der Masken richtete (Kutscher 1955: 38). Die bedeutendsten Bühnendichter der Neuzeit, die alle nach Kutschers Meinung aus dem Mimus Inspiration zogen, hätten die Schlüsselmerkmale der auf dem Gestus und auf der Körperbewegung beruhenden Commedia dell’arte in einer lokal-na‐ tionalen »Handlungs- und Charakterkomik« dekliniert: Das sei der Fall von Das Beziehungsgeflecht des Kutscher-Kreises 229 <?page no="230"?> 67 Zu Carlo Goldonis 150. Todestag am 6. Februar 1943 verfasste Kutscher einen Zeitungs‐ artikel für das Hamburger Tageblatt. Der »Überwinder der Comédia dell arte, der Schöpfer des italienischen Lustspiels« wurde von Hagedorn, Lessing und Goethe be‐ sonders geschätzt, »Iffland und Kotzebue waren von ihm abhängig und später Raymund [sic! ] und Nestroy, ja noch das „Weiße Rößl“ unserer Tage war nicht möglich ohne seine Mirandolina, die übrigens noch die Duse spielte« - Goldoni selbst war daher für den Theaterprofessor Emblem des Hybridisiert-Seins und Hybridisiert-Werdens des Thea‐ ters. 68 In Kutschers Vorstellung der Beziehungen zwischen der Commedia dell’arte und Deutschland waren die Nachwirkungen der ursprünglich italienischen Volkskomödie noch bei Raimund, Nestroy, Mozart, E. T. A. Hoffmann, Richard Strauß, Goethe, Tieck, Brentano, sowie bei den Zeitgenossen Paul Ernst und Friedrich Bethge zu verspüren (1955: 39 f.). Die Narrentypen lebten dann »im Puppentheater, im Handpuppenwie im Marionettentheater« und fernerhin im Zirkus als August und dummer August weiter (41). Shakespeare, Molière, Holberg, Goldoni 67 und Stranitzky gewesen (38). Die Be‐ deutung solcher Überlegungen zur Commedia dell’arte besteht in der Legiti‐ mierung der transnationalen Begabung der Theaterwissenschaft: Wenn die of‐ fene, elastische, wandelbare Aufführungsweise der Commedia dell’arte ursprünglich so ausgestattet war, dass sie über nationalpolitische Kontexte hinaus dem Bedürfnis des Volkes entsprechen konnte und zugleich in jedem Land unterschiedliche Entwicklungen hatte, 68 dann bedeutete es, jede große Theaterkunst nehme einerseits Elemente auf, die dem lokalen Volksgeschmack nahe seien, andererseits bilde sie einen transkulturellen imaginierten Horizont, durch den die Zuschauer aus ihren auferlegten und selbst gezogenen Grenzen herausgelockt werden. Die Wissenschaft des Theaters sollte daher in Theorie und Praxis ein Abbild ihres Gegenstands sein: Aus ihren heimatgebundenen Wurzeln müsse sie eine Verbrüderung mit allen Kulturen anstreben und somit der Menschheit Gewinn bringen. Das transkulturelle Bewusstsein der Münchner Theaterwissenschaft wurde durch die Gegenwartstendenzen des Theaters weiter verstärkt. Der Theater‐ professor glaubte zuerst, in der allmählichen Überwindung des naturalistisch-il‐ lusionistischen Theaters eine beabsichtigte Verbindung von mimisch-globalen und theatralisch-lokalen Elementen zu erblicken. Die große Theaterkultur bzw. das Theater der großen dramatischgeschichtlichen Epochen sei nämlich von der künstlerischen »Verknüpfung von Bühne und Zuschauerraum« geprägt, d. h. von dem Zusammenwirken von Drama und dramatischer Darstellung einerseits und vom Publikum andererseits (1926 / 27: o. S.). Kutscher ging von der Prämisse aus, das Drama sei »in seinem Grundcharakter unveränderlich zu allen Zeiten und bei allen Völkern«, weil es auf dem Mimus basiere. Demgegenüber sei die Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 230 <?page no="231"?> Bühne im Sinne vom Schauplatz und deren Apparat »vielen modischen, zeit‐ stilistischen Besonderheiten zugänglich […], wandelbar nach herrschenden Ge‐ sellschaftsschichten, nach Zonen und Rassen« (Ebd.). Eine künstlerisch an‐ spruchsvolle Aufführung könne daher nicht auf eine Bühne verzichten, die dem Drama in seiner Struktur und in seinem Stil diene. Eine dem Drama feindlich gegenüberstehende Bühne hätte folglich nur eine schwache Dramatik entwi‐ ckeln können. Eine Bühne, die dagegen den Anforderungen des Dramas ent‐ spreche, schaffe Theaterkunst in reinster Form: Die Bühne Shakespeares wie die Bühnen anderer großen Theaterkulturen, etwa der griechischen klassischen Zeit, der Commedia dell’arte, des spanischen, französischen, deutschen und flä‐ mischen Volkstheaters und des japanischen Nô-Spiels, seien durch eine höhere Einheit zwischen Darstellern und Zuschauern gekennzeichnet gewesen, weil der Bühnenraum bereits im Zuschauerraum beginne, also nicht erst hinter dem Proszenium oder dem Vorhang. Wenn das 19. Jahrhundert, das »Jahrhundert der Naturwissenschaften, Technik und Maschinen« die Bühne bloß als ein mecha‐ nisches und maschinelles Problem betrachtete und die traditionelle Guckkas‐ tenbühne des Barocktheaters erbte, ohne irgendwelche Umgestaltung zu ver‐ suchen, dann wurde es in jenem Jahrhundert durch das Panorama und das Panoptikum, »durch die unbedingte Dienstfertigkeit des Apparats« die Schöp‐ fung eines dem Mimischen ablenkenden Theaters unterstützt (Ebd.). Das Streben »nach Echtheit, nach Vollständigkeit des Bildes, nach Täuschung«, also die Anstrengung, in der Inszenierung die Wirklichkeit vorzutäuschen, wurde erst um die Jahrhundertwende in Frage gestellt: Die Kunst und vor allem die Theaterkunst sollen als Spiel und Phantasie präsentiert werden, um den Spiel‐ trieb und die Phantasie der Zuschauer anzuregen (Ebd.). Noch vor der Blüte des Reinhardtschen Theaters erkannte Kutscher die Leistung von zwei „Auslän‐ dern“: Den ersten schöpferischen Ausdruck fand der Franzose Adolphe Appia, besonders in seinen Entwürfen zu den Werken Richard Wagners. Der Engländer Edward Gordon Craig arbeitete in seinen Entwürfen mit neuen Mitteln den Stimmungsgehalt, die geistige Atmosphäre heraus. Ohne diese beiden ist Max Reinhardt nicht zu denken. Er arbeitete mit Vorhängen und Treppen, um neutrale, unrealistische Schauplätze zu gewinnen, dankbar der Bewegung und wechselnden Verteilung sowie besonders der Massenregie. Er gewann der alten Drehbühne, einer japanischen Erfindung des 17. Jahrhunderts, neue Wirkungen ab. […] Seine Szene hat veristischen Charakter. Er zieht das Publikum unmittelbar in die Darstellung durch Sprengung des Proszeniums, Vorbauten in das Parkett und indem er die Darsteller zwischen, unter und hinter die Zuschauer schiebt. (Ebd.). Das Beziehungsgeflecht des Kutscher-Kreises 231 <?page no="232"?> 69 Der ursprüngliche deutsche Titel war Bilanz unseres deutschen Theaters. Der an Herma de Sanchez versprochene Artikel wurde höchstwahrscheinlich erst in Buenos Aires übersetzt. Vgl. den Brief von Kutscher an Herma de Sanchez, 23. September 1932 (Mo‐ nacensia, WB B 385). In Kutschers theaterhistorischer Analyse der Bühnenreform waren die Künstler der jüngsten Zeit, besonders die Expressionisten, daran beteiligt, durch die sym‐ bolische Steigerung der Szene als Raum und durch eine Bühnengestaltung, die die Bilder auflockerte, die Wirklichkeit des Bühnengeschehens als fiktiv zu ent‐ larven. Eine der interessantesten Lösungen bezüglich des Raumproblems im Theater stellte für Kutscher das Projekt von Wilhelm Teichlinger und Fritz Ro‐ senbaum dar, dessen Hauptmerkmale dem theaterwissenschaftlichen Ver‐ ständnis Kutschers entsprachen: Die Bühne ist eingerichtet für körperliche Dekorationen, die nicht selbstständig da sind, sondern nur, soweit sie die Handlung unterstützen. Denselben Zweck dient auch die durch Einsätze veränderliche Rückwand, die eine flache Hinterbühne abscheidet. Diese bietet nur Auftritt- und Abgangsmöglichkeiten. Die Vorführung der Handlung konzentriert sich also auf den vorspringenden Spielplatz, welcher eine Reihe von Zu‐ gängen hat, den Fortschritten der Technik entsprechend größte Beweglichkeit und Verwandelbarkeit zeigt und wirksam von verschiedenen Seiten aus beleuchtet werden kann. Werke von ausgesprochen dramatischem Charakter müssen auf dieser Bühne zu starker Wirkung gelangen, und so wird es wieder eintreten, was in den Zeiten großer Theaterkultur selbstverständlich war, daß Theater und Drama sich befruchten und weiterbilden. (Ebd.) Die Kunstform genauso wie die Wissenschaft des Theaters als transkulturell und transnational zu betrachten, kollidierte für Kutscher jedoch nicht mit der Vorstellung, jede Aufführung müsse einen engen Kontakt zu ihrem Publikum und zur unmittelbaren Umwelt, in der sie sich entfaltet, aufrechterhalten. Be‐ merkenswert ist in dieser Hinsicht Kutschers vollständigster Beitrag zum deut‐ schen Gegenwartstheater überhaupt, den man in einer argentinischen Zeit‐ schrift lesen kann. Der auf Spanisch geschriebene Artikel Balance del Teatro Aleman 69 erschien 1932 in „ SUR “ - eine Kulturzeitschrift, die Victoria Ocampo ein Jahr davor gegründet hatte. Nach der üblichen Vorbemerkung über die Schwierigkeit, ein Urteil über das Theater zu sprechen, ohne die Kunstform so‐ wohl in ihrer Geschichte, Entwicklung und Leistungsfähigkeit als auch in ihrer aktuellen Lage genau zu kennen, befasste sich Kutscher dort mit der Umwand‐ Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 232 <?page no="233"?> 70 Diesbezüglich zog Kutscher auch die Beziehung zwischen Aufführung und Zuschauern in Betracht: Vor dem Naturalismus versuchte man bei Theateraufführungen, sich beim bürgerlichen Publikum beliebt zu machen, indem man beschönigte Versionen des bür‐ gerlichen Lebens repräsentierte. Der Naturalismus erzeugte dagegen eine Spannung zwischen Theater und großem Publikum, weil sich dessen Inszenierungen nur an eine geringe Zuschauerzahl wandten, die dem Ästhetisch-Formalistischen zuneigte. Rein‐ hardt setzte sich dann dem sog. „literarischen Theater“ Brahms entgegen: »Mit ihm beginnt die Vorherrschaft des Theaters über das geschriebene Drama; mit ihm beginnt das Theater um dem Theater willen« (1932: 133) (Übers. v. V.). 71 Übersetzungen aus dem Spanischen sind v. V. lung von Theaterkonzepten, -techniken und -praktiken. 70 Er betrachtete auch seine eigene Zeit als eine Übergangsepoche: Max Reinhardt hatte durch die Bühnenreform sowie durch die Aufwertung von Zirkus und Varieté seiner be‐ sonderen Vorliebe für die Commedia dell’arte und die Pantomime Ausdruck verliehen, hatte den Schauspielern vollkommen kreative Freiheit gelassen und den Aufführungsmodi keine Grenzen gesetzt. In der ersten Schaffungsphase Reinhardts »verschwand das Sprechtheater« und Anfang der 1930er »herrscht[e] das visuelle Theater. Der optische Eindruck hat[te] seinen höchsten Wert erreicht« (1932: 133). 71 Da Reinhardt aber in erster Linie auf das Sensatio‐ nelle, auf die sofortige Wirkung gezielt habe, habe er das Theater als Illusions‐ theater erstarren lassen, wo nur die Inszenierung Bedeutung habe und wo das Drama und die Ensemble-Arbeit nebensächlich erscheinen. Reinhardt sei nun »ein Hindernis für die Entwicklung des neuen Theaters« geworden (135). Ei‐ nerseits erlebte also das deutsche Theatersystem der Weimarer Republik die Folgen der beabsichtigten Fokussierung auf das Spektakuläre: »Heute ist die kommerzielle Auswertung des Theaters amerikanisiert, sie befindet sich in den Händen des Trusts. Die Theater werden wie große Geschäfte verwaltet: durch Aktiengesellschaft und Handelsunternehmen« (136). Stadt- und Staatstheater sowie kleinere Bühnen konnten deshalb nicht ohne ein breites Publikum finan‐ ziell überleben: Ohne Geld waren dann auch die artistischen Ressourcen be‐ grenzt. Die Theaterhäuser mussten fernerhin die Konkurrenz billigerer Unter‐ haltungsformen bekämpfen: des Rundfunks und des Kinos (137). Andererseits erblickte Kutscher im Theater der frühen 1930er Jahre auch die Möglichkeit, die künstlerische und kulturelle Stagnation zu überwinden: Nur wenige Male hat unser Theater einen derartigen Unternehmensgeist gezeigt, einen so großen Mut und eine solche Hochachtung hinsichtlich neuer und de‐ bütierender Autoren. Überall kommen Studios und Experimentaltheater auf. Es gibt kleine Provinztheater, welche die Leidenschaft des Debüts besitzen. […] Das Interesse an den „Theaterwochen“ wächst. […] In dieser künstlerischen Regung fühlen sich die offiziellen Theater im Vergleich dazu immer mehr verantwortlich und die kleinen und Das Beziehungsgeflecht des Kutscher-Kreises 233 <?page no="234"?> 72 Der Theaterprofessor kritisierte heftig das „sozialistische“ Theater Jessners und das „kommunistische“ Theater Piscators, die alle Dramen, einschließlich der Klassiker, ide‐ ologisch verfälschten und diese als Instrumente der linken Propaganda benutzt haben sollen (1932: 139 f.). 73 Die von Kutscher wiederholt betonte Bildungsfunktion des Theaters war mit der ge‐ sellschaftskritischen Absicht der Weimarer dramatischen Dichtkunst im Einklang - man denke nur an das Schaffen von drei berühmten Kutscher-Schülern, Brecht, Fleißer und Horváth, das auf unterschiedliche Weisen im Publikum eine gesellschaftskritische Reflexion weckte. privaten Theater werden gefördert, immer neue Anstrengungen zu unternehmen. (138) Hauptmerkmal der künstlerischen Übergangsphase Deutschlands sei für Kut‐ scher die Entwicklung der Tendenzkunst: »Heutzutage ist das Tendenziöse der erste Schritt zur Überwindung der bloßen Unterhaltung, zu deren Umgestaltung in geistigen Stoff, zu deren Annährung ans Künstlerische« (139). Der Leiter der Münchner Theaterwissenschaft hatte wohl eine präzise Vorstellung von ‚Ten‐ denz‘ gemeint: Tendenz heiße »Epochenbewusstsein«. Jede Tendenz, besonders jede politische, betreffe die höchsten Ziele der Menschheit, übertrage unsere Situiertheit in der Welt und verleihe folglich die einzige solide Basis für den Lebensausdruck in der Kunst: »Das lebendigste deutsche Theater ist notge‐ drungen politisches Forum, wie das Theater der Jugend Schillers« (Ebd.). Selbst‐ verständlich präzisierte Kutscher dahingehend, das Tendenztheater solle nicht lediglich als Forum der Ideale der Linksparteien verstanden werden, sondern aller ernsthaften politischen Bestrebungen der (deutschen) Gesellschaft. 72 Das Ende der theatralischen Übergangsepoche falle demnach mit der Verwandlung der tendenziösen und parteipolitischen Beklemmung in einem universalisti‐ schen Kunstanspruch zusammen. Das Theater musste für Kutscher seine globale Ethik sowie seine Bildungsfunktion wieder entdecken. 73 Jeder heimatgebun‐ dene, partikulare Ausdruck der Bühne war daher ohne die weltumspannende kulturelle Mission des Theaters nicht zu denken. Die theaterwissenschaftliche Lerngruppe um Kutscher erkannte, dass die Theaterkunst einen transnationalen und transkulturellen Charakter hat, und versuchte somit die direkte theoreti‐ sche und praktische Beteiligung am lokalen Theater aus einer erweiterten Per‐ spektive zu betrachten. Wenn man die theaterwissenschaftliche Lerngemeinschaft als einen Berüh‐ rungspunkt unterschiedlicher Örtlichkeiten betrachtet, die lokal an gewissen Praxen beteiligt ist und translokal an die Produktion von Wissensgegenständen partizipiert, dann profilieren sich die von Kutscher ausgebildeten Theaterwis‐ Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 234 <?page no="235"?> 74 Wenger nennt vier Formen von Vermittlungstätigkeit - sprich: boundary spanners, roamers, outposts und pairs -, die allerdings miteinander eng verbunden sind (2000: 235). 75 Seit 1910 lehrte Jaffé Volkswirtschaft in München und verkehrte mit der dortigen Bo‐ hème. 76 Edgar Jaffé und Claire Schmid-Romberg waren gut befreundet, weil beide zum Heidel‐ berger Personenkreis um Max Weber und Frau gehört hatten. senschaftler als Brokers zwischen Gemeinschaften. Mit ‚Brokers‘ bezeichnet Wenger Individuen, die eine Vorliebe für die Bildung von Verflechtungen haben und an Ein- und Ausfuhr von Instrumenten, Images, Begriffen sowie Konzepten teilnehmen (2000: 235). Aus diesem Grund bleiben sie lieber an der Grenze vieler Lerngruppen und „transportieren“ ständig das gesammelte Wissen von der einen Gemeinschaft zur anderen. Es entstehen daher persönliche - konkrete wie virtuelle - Beziehungen zwischen Subjekten, die diese Vermittlungstätigkeit meistens ausführen. 74 Im Lebenslauf des Theaterprofessors und in dessen Schriftverkehr mit vielen Prominenten ist die wichtige Rolle der Kulturvermittler zwischen benachbarten Gemeinschaften bereits in den 1910er Jahren erkennbar, als Kutscher noch Vor‐ standsmitglied des „Neuen Vereins“ war. Ein erstes Beispiel dafür bietet Edgar Jaffé, Nationalökonom und Universitätsprofessor, der Kutscher nicht persönlich kannte, 75 ihm aber nichtsdestotrotz am 20. Januar 1912 schrieb, Frau Claire Schmid-Romberg, eine frühere Schauspielerin, die in letzter Zeit Rezitationen gab, hätte sehr gern auch in München sprechen wollen. 76 Die Bitte an den The‐ aterprofessor war ausdrücklich: »Wäre es möglich, dass der „Neue Verein“ einen Abend […] veranstaltet? « ( DLA , A: Kutscher 57.4752). Der Vorschlag wurde vom Theaterprofessor angenommen und der Rezitationsabend fand im selben Jahr statt. Am 29. November 1912 erhielt Kutscher ein Schreiben von seinem Freund Josef Ruederer, der ihn seinerseits »mit einer Belästigung« stören musste: Ein junger Schriftsteller, früher sächsischer Offizier, namens Walter Netto, auf den mich mein alter Freund Professor Graeser in Neapel aufmerksam machte, hat ein wir‐ klichgutes [sic! ] Buch geschrieben „Die Augen der Angeline Perza“. Sie brauchen es weder zu lesen noch zu kritisieren, Sie sollen aber - darum bitte ich Sie wenigstens herzlich - dem angehenden Künstler baldmöglichst eine Förderung durch die ja von Ihnen geleiteten Vortragsabende des Neuen Vereins bieten. Vielleicht ergibt sich im Laufe des Winters oder Frühlings Gelegenheit, einige der neuen Dichtungen dieses Mannes vor ein breiteres Publikum zu bringen. / Herr Walter Netto wird sich dieser Tage gestatten, Sie zu besuchen und Ihnen einige neue Proben seines Talents zur Prüfung zu unterbreiten. Ich habe ihm erlaubt, sich bei dieser Gelegenheit auf mich zu berufen - das Weiter muss ich ganz Ihnen überlassen. (Monacensia, JR B 839) Das Beziehungsgeflecht des Kutscher-Kreises 235 <?page no="236"?> 77 Der Roman Maria von Burgund in Brügge erschien im Jahr 1913, Cristoforo, oder der Aufstand in Neapel im Jahr 1914. 78 Übers. v. V. Hierzu sei angemerkt, dass Giuseppe Boglione in Italien fast ausschließlich für seine Studien über Leonardo und Eleonora Duse sowie für seine Freundschaft und Mitarbeit mit dem Maler Federico von Rieger bekannt ist. Als Theaterdichter verfasste er lediglich historische Dramen, die von schnellen, lebendigen Szenen voll von Cha‐ rakteren geprägt sind. Der Dichter betonte im Vorwort zum Sammelband seiner The‐ aterstücke explizit, er habe seiner Einbildungskraft keine Grenzen gesetzt, weil sein Vertrauen in die Entwicklung der Theatertechnik gleichfalls unbegrenzt sei (1972: o. S.). Ruederer war mehr als ein Jahr davor wegen Meinungsverschiedenheit aus dem „Neuen Verein“ ausgetreten, allerdings konnte er auf Kutscher und dessen Kreis zählen, um neue Talente an die intellektuelle Öffentlichkeit zu bringen und da‐ durch in der Künstlerszene weiter aktiv zu sein. Aus Kutschers Perspektive fun‐ gierte Ruederer andererseits als notwendiges Bindeglied zwischen einer älteren, angesehenen Künstlergeneration und einer sich formierenden Gruppe junger Kunstschaffenden und Forscher, deshalb organisierte der Theaterprofessor den gewünschten Vortragsabend für Walter Netto, der in der Folgezeit seine Werke gerade bei Georg Müller, München, veröffentlichen sollte. 77 Erst ab den 1930er Jahren sind aber bemerkenswerte transnationale Kontakte zu verzeichnen, die Kutscher ausnutzte, um seiner Lerngruppe neue Impulse zum kollektiven Lernen und Handeln im theaterwissenschaftlichen Bereich zu verleihen. Solche Beziehungen bestanden sowohl mit Theaterleuten, die Kut‐ scher persönlich kennengelernt hatten, oder mit Fachleuten, die den Namen des Münchner Professors auch nur gehört hatten und dennoch eine gewisse Ver‐ wandtschaft mit ihm empfanden und beweisen wollten. Dies war der Fall bei einem italienischen Dramatiker, Giuseppe Boglione, der Kutscher 1934 ein Exemplar seines Dramas Silla (1927) schickte, das gerade in jener Zeit ins Deut‐ sche übersetzt wurde, und ein Gutachten erbat ( DLA , A: Kutscher 57.4305). Trotz der schwierigen finanziellen und politischen Lage beider Länder beabsichtigte Boglione eine Inszenierung seines Dramas in Deutschland, deshalb brauchte er Kutschers Hilfe. Die beiden kannten sich nicht und Boglione verfasste den Be‐ gleitbrief von Silla sogar auf Italienisch, eine Sprache, die Kutscher nur man‐ gelhaft beherrschte. Nichtsdestotrotz war der piemontesische Dichter sicher, dass Kutscher in Silla die Keimzelle des »modernen Theaters« wiedererkennen würde, d. h. eines »auf die Handlung gestützten Theaters, die von einer gewissen Zahl von Charakteren und mit der direkten und intimen Partizipation der Masse […] ausgeführt wird, welche die Atmosphäre beinahe erzeugt, in der sich das Drama entwickelt« (Ebd.). 78 Zwei Monate später schrieb Kutscher tatsäch‐ lich sein Gutachten, in dem es ausdrücklich heißt: Silla »hat eine Anzahl dich‐ Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 236 <?page no="237"?> 79 In Wien am Deutschen Volkstheater, dann in London, wo er 1936 Professor Bernhardi am Embassy Theater aufführte, und schließlich in Belgien vor dem Anschluss. terischer und dramatischer Qualitäten und zeichnet sich aus durch Kraft der Anschauung und Lebendigkeit der Bewegung«. Er bemerkte weiter, einige Szenen »haben einen stark wirkenden Abschluss«, während für andere »eine dramaturgische Überarbeitung notwendig [sei], besonders Streichung von Er‐ zählungen und Berichten« (Ebd.). Der Theaterprofessor erhoffte schließlich für das Drama Silla gute Annahme und Erfolg. Nach dem zweiten Weltkrieg, Ende 1947, bekam Kutscher einen Brief aus Berkeley, Kalifornien, der mit dem Satz anfing: Sehr verehrter Herr Professor, Sie werden es hoffentlich verzeihen, wenn ein Ihnen persönlich Unbekannter sich an Sie wendet um Ihnen einen herzlichen Gruss und einen ebenso herzlichen Dank zu senden. Der Gruss gilt dem mir seit Jahren durch seine Bücher bekannten Forscher; der Dank dem kleinen Büchlein „Drama und Theater“, das im vergangenen Jahr in München erschien. Es wird Sie vielleicht in Erstaunen versetzen, wieso ich zu diesem Büchlein gelangt bin? Die Erklärung ist einfach: Professor Franz Schneider gab es mir - wie er mir schon vorher des Oefteren von Ihnen und Ihren Schicksalen gesprochen hatte. (Mo‐ nacensia, n. k.) Verfasser jenes Briefes war Henry Schnitzler, der Sohn Arthur Schnitzlers und Neffe Albert Steinrücks. Nach einer Schauspielkarriere in Wien und in Berlin und nach einer europäischen Tätigkeit als Regisseur, 79 war er im Herbst 1938 mit seiner Familie in die USA emigriert. Dort hatte er am Broadway und in mehreren Summer Theatres Stücke inszeniert, an Hochschulen unterrichtet und an Universitäten sowie an Colleges Vorlesungen gehalten. Anfang 1942 war seine Berufung an die University of California, Department of Dramatic Art erfolgt, dank welcher er Franz Schneider kennengelernt hatte. Schnitzlers Lehr‐ fächer waren Regie und Schauspielkunst, die er auch mit praktischen Auffüh‐ rungen am University Theatre verknüpfte. Die eigentliche Triebfeder zum schriftlichen Kontakt mit Kutscher erörterte Schnitzler wie folgt: Als ich die letzten Seiten Ihrer Broschüre las, war ich nicht nur bewegt, sondern auch beruhigt. Dass es Menschen in Deutschland gibt, die wie Sie, verehrter Herr Professor, ganz einfach „anständige Menschen“ geblieben sind, und die ehrlichst bemüht sind an der Rehabilitierung des Deutschen Volkes mitzuarbeiten - das ist tröstlich zu wissen. Und es ist beruhigend zu wissen, dass solche Menschen eine neue Jugend heranziehen werden, die hoffentlich das organisierte Verbrechertum der letzten schmachvollen Jahre vergessen wird. Das Beziehungsgeflecht des Kutscher-Kreises 237 <?page no="238"?> 80 Schnitzler befasste sich u. a. mit der Konzentration des Berufstheaters in einer einzigen Stadt, New York City, mit der Abwesenheit von Staats- und Stadttheatern sowie vom Begriff „Kulturtheater“, mit dem auf den Geldgewinn gerichteten Hauptziel des Broad‐ ways, mit der darauffolgenden großen Bedeutung des „Amateur-Theaters“, das von Universitätstheatern und „Community-Theatres“ betrieben wurde - in den sog. „Com‐ munity-Theatres“ traten nicht Studenten, sondern Erwachsene aus allen Berufskreisen auf. Dazu äußerte Schnitzler auch den verbreiteten Wunsch nach Dezentralisierung des Theaters, was die Einrichtung ständiger Repertoiretheater in größeren Städten mitein‐ beziehen sollte. 81 Kutscher benutzte einige Abschnitte dieses Briefes für die knappe Darstellung der nordamerikanischen Abteilungen „Department of Drama“ in seinem Grundriß (1949: 471-473, Anm. 2), was nachher Schnitzlers Enttäuschung verursachte: Seine amerika‐ nischen Kollegen und er selbst sahen die von Kutscher angewandten Informationen als zu alt und unzureichend an. Vgl. Schnitzlers Brief an Kutscher vom 22. Oktober 1949 (Monacensia, n. k.). Kutscher war nicht nur über die Worte Schnitzlers hoch erfreut, sondern er begriff auch die Wichtigkeit eines wissenschaftlichen Verhältnisses zu einem amerikanischen Theaterexperten, der sich mit der Theorie und Praxis des The‐ aters beschäftigte. Deshalb antwortete er Schnitzler und bat ihn darum, die von ihm im ersten Brief erwähnte problematische Situation des amerikanischen Theaters näher zu beschreiben. Schnitzler skizzierte dann am 20. Februar 1948 einen Überblick sowohl über die theaterwissenschaftliche Forschung in den USA , die in jüngster Zeit einige bedeutende Veröffentlichungen zu Theater‐ problemen der Gegenwart und Zukunft sowie zu Fragen praktischer Art her‐ vorgebracht hatte, als auch über den aktuellen Zustand des amerikanischen Theaters. 80 Das schlüssige Gesamtbild des Theatersystems in Schnitzlers Be‐ schreibung beinhaltete eine Zweiteilung: »auf der einen Seite das kommerzielle Berufstheater, das in New York konzentriert ist - auf der anderen Seite das übers ganze Land verbreitete Theater der Studenten, ohne „Stars“, und ohne Rücksicht aufs „box-office“« (Monacensia, n. k.). 81 Kutschers Reaktion auf solche Aus‐ künfte ist hinsichtlich seiner Vorstellung der Theaterwissenschaft besonders relevant. Mit dem roten Bleistift annotierte er neben Schnitzlers Schilderung der Universitätstheater, die allabendlich spielten und die sogar Wandertruppen hatten, eine Frage, welche implizit schon ein Urteil enthielt: »Wann studieren diese Leute? « (Ebd.). Der Theaterprofessor strebte sein Leben lang nach der Verflechtung von Theorie und Praxis, doch fand er die äußerst praxisbezogene Deklination der Disziplin in den USA mit einer ernsthaften akademisch-wis‐ senschaftlichen Bildung unvereinbar. Die Theaterwissenschaft als Universitäts‐ lehrfach sollte das theoretische Wissen und die praktische Erfahrung verbinden, also historische und stilkundliche Kenntnisse anwenden, um die Praxis zu be‐ reichern und, umgekehrt, die direkte Beteiligung am lebendigen Theater als Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 238 <?page no="239"?> Korrelat zur seminaristischen Arbeit betrachten. Das von Schnitzler beschrie‐ bene Modell mangele also an einem wesentlichen Bestandteil der Wissenschaft: an der theoretischen Ausbildung. Im Jahr 1948 nahm Kutscher den Verkehr mit einem anderen Kontinent auf: Im November empfing er die Bühnen-Almanache der Freien Deutschen Bühnen - Teatro Aleman Independiente in Buenos Aires. Der Professor be‐ dankte sich schriftlich beim Absender, P. Walter Jacob, Direktor der seit 1939 spielenden deutschen Auslandsbühne, und bekam kurz danach einen langen Brief, in dem Jacob erzählte, er bereite für das kommende Jahr eine Europareise vor. Er möchte wieder einen lebendigen Kontakt mit dem deutschen Theater herstellen und, wenn möglich, einen Ensemble-Austausch mit autochthonen Schauspielhäusern organisieren. Die anfänglichen Absichten Jacobs werden im Briefverkehr allmählich klar, bis es endlich heißt: Auf meiner Reise werde ich an verschiedenen Stellen in halboffiziellem Auftrag der hiesigen staatlichen Kulturkommission Vorträge über ARGENTINISCHES THE‐ ATER halten. Und ich wollte an Sie, sehr verehrter Herr Professor, nun die Frage richten, ob ein derartiger Vortrag sich evtl. auch unter den Sonderveranstaltungen Ihres Seminars bzw. Ihres Institutes unterbringen liesse. Es würde sich um einen zum Teil historischen, die Entwicklung und die Herkunft des südamerikanischen und des speziell argentinischen Theaters behandeln, zum Teil auch aktuellen, die heutige Si‐ tuation und die jetzt agierenden Hauptgestalten des hiesigen Theaters schildernden Vortrag handeln. Ich möchte annehmen, insbesondere mir offizielles Material von hier zur Verfügung gestellt wird, dass ein derartiger Bericht auch für die Studenten und Hörer Ihrer Universität und speziell Ihres Institutes interessierend sein könnte […]. (DLA, A: Kutscher 57.4748 / 1) Die Vorlesung fand tatsächlich am 17. Mai 1949 statt; es handelte sich um den allerersten Vortrag in München über „Argentinisches Theater“. 1951 stellte sich auch das Teatro de habla alemana von Santiago de Chile schriftlich vor, ein kleines deutsches Theater in der chilenischen Hauptstadt, das Reinhold K. Ols‐ zewski seit einer Saison eröffnet hatte. Olszewski war ein ehemaliger Kut‐ scher-Schüler, der auf die Segnung seines alten Meisters nicht verzichten wollte: Die Direktion des Theaters zielte darauf hin, zum Beginn der Spielzeit ein Pro‐ grammheft herauszugeben, sodass er Kutscher schrieb: »[E]s wäre unvoll‐ ständig für mich, wenn Sie mir nicht die grosse Freude machen würden, mir einige kurze Zeilen dafür zuzuschicken, als einem Ihrer vielen treuen Schüler im Auslande« (Monacensia, n. k.). Infolge des ersten Besuchs der Münchner theaterwissenschaftlichen Gruppe in Istanbul bekam Kutscher am 16. April 1954 einen Brief von Max Meinecke, einem deutschen Spielleiter und Intendant der Städtischen Bühne in Istanbul. Das Beziehungsgeflecht des Kutscher-Kreises 239 <?page no="240"?> 82 Da Kutscher über Meinecke schrieb: »Seine künstlerische Gesinnung konnte ich bei verschiedenen Vorträgen, die er in der Falckenbergschule und vor meinen Schülern in München gehalten hat, genauer auch in Planenden kennenlernen«, kann man mit Si‐ cherheit behaupten, dass Meinecke mehrmals Gastvorträge im Kutschers Kolleg hielt (DLA, A: Kutscher 57.4961). 83 Siehe z. B. den Artikel Big Audience For Play In German über die allererste Aufführung in deutscher Sprache, die man in der Hauptstadt Australiens veranstaltete - d. h. die vom Kleinen Wiener Theater von Sydney inszenierte Antigone unter Kurt Hommels Regie (1957: 5) - sowie eine Nachricht im Canberra Diary von The Canberra Times über zwei von Hommel geleitete Studentenaufführungen (1958: 5). Meinecke teilte dem Theaterprofessor darin mit, es sei möglich, daß er »ab Herbst an der Universität Istanbul Vorlesungen über Theaterkunst halten« werde. Er fügte ferner hinzu: »Möglich auch, daß sich aus diesen Vorlesungen später eine theaterwissenschaftliche Abteilung entwickelt. Dann würde ich mich natürlich um Ihren Rat und Ihre Hilfe für den Aufbau eines Instituts be‐ mühen« ( DLA , A: Kutscher 57.4961). Als Meinecke dann im Frühling 1956 eine Reise nach Deutschland plante, wandte er sich erneut an Kutscher: »Für eine kleine „Plauderei“ in Ihrem Kreise stehe ich natürlich zur Verfügung«; am 3. Juni 1957, vor seiner zweiten Reise nach München, legte er dem Theaterpro‐ fessor nochmals eine Bereiterklärung vor: »Wie immer […] eine „Plauderei“ über meine Arbeit in Istanbul, besonders über die Nachwuchspflege zu sprechen, aber auch meine Pläne zur Entwicklung eines FESTIVAL ISTANBUL in Ihrem Kreise vorzutragen« (Ebd.). 82 Der Kutscher-Mythos und der Ruhm seines Kreises erreichte in den 1960er Jahren sogar Australien, wie ein Schreiben von Kurt Hommel belegt. Der frühere Schüler hatte nach der Dissertation bei Kutscher (1955) an der Universität Sydney und an vielen lokalen Theatern mitgearbeitet. Er hatte sich ferner darum bemüht, ein deutsches Theater in Australien zu entwickeln, 83 und 1957 / 58 hatte er dort das erste deutschsprachige Krippenspiel zur Aufführung gebracht. Am 21. Januar 1960 teilte er »der Freude wegen« Kutscher mit, dass seine Kollegen von der Universität Sydney »außerordentliches und wohlwollendes Interesse zeigten« als er ihnen eine Auswahl von Kutschers theaterwissenschaftlichen Werken vorlegte. Sie übertrugen ihm dann die Bestellung vieler Bücher. Kurt Hommel konnte daher nur den folgenden Schluss ziehen: »Der Name Professor Kutscher hat auch hier längst seinen gebührenden Klang! « (Monacensia, n. k.). Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 240 <?page no="241"?> Letzte Entwicklungsphase - was weiterlebt Kutschers Zukunft - das ist unsere Gegenwart. Daß uns diese Gegenwart gehört, wird man nicht behaupten dürfen. Aber die inzwischen nicht nur älter, sondern auch reifer gewordene Disziplin hat in den vergangenen Jahren mehr erreicht als der Theater‐ professor je zu träumen gewagt hätte. Ich konstatiere das mit Stolz, aber ohne Über‐ heblichkeit. Denn meine Mitarbeiter und ich wissen genau, daß wir alle in Artur Kut‐ schers Schuld stehen. Ohne die beharrlichen Bemühungen dieses streitbaren Pioniers um die akademische Anerkennung der Theaterwissenschaft hätten sich das Kultus‐ ministerium und die Universität in den sechziger Jahren schwerlich zur Errichtung eines Ordinariates und zur außerordentlich kostspieligen Instituts-Neugründung be‐ reitgefunden. (Lazarowicz 1978: 46) Die letzte Entwicklungsphase der theaterwissenschaftlichen Lerngemeinschaft um Artur Kutscher bzw. ihre definitive Transformation in eine andere Wissens‐ struktur entspricht einem Stillstand in der Bereicherung und Erneuerung der Praxis sowie einer Zerstreuung der Mitglieder, deren keiner nach Kutscher die Koordination der Gruppe übernahm. Auch wenn Wenger und andere Theore‐ tiker des situierten Lernens in Communities of Practice deutlich behaupten, ein Ende gehöre zu allen lebendigen Prozessen (2002: 42), kann man in Essays und Beiträgen über Communities of Practice leicht herausfinden, dass Ausdrücke wie ‚Schattenseite‘ und ‚Erbe‘ gegenüber dem Wort ‚Ende‘ maßgeblich vorgezogen werden. Die Umwandlung einer bestimmten Lerngemeinschaft lässt sich an zwei Praxismerkmalen erkennen: das Auseinandertreiben und das Gemahnen (Wenger 1998b). Die Lernenden engagieren sich immer weniger für die gemein‐ same Praxis und reduzieren somit ihre Aktivitäten, obgleich sie die Gemein‐ schaft noch als Informationsknotenpunkt betrachten; allmählich verliert die Gemeinschaft dann ihre Bedeutung für die Wissenserzeugung und für die Iden‐ titätsentwicklung, bis sie nur als Erinnerung bei den ehemaligen Mitgliedern bleibt, die das angehäufte Wissen und die gesammelten Erfahrungen in andere Lernstrukturen einsetzen. Nach der Auflösung der ursprünglichen Lerngemein‐ schaft ist gerade dieses Erbe, das alle Menschen lebenslang eng verbindet, die am kooperativen Handeln beteiligt waren. Nach dem zweiten Weltkrieg lassen sich einige kritische Punkte im Wissens‐ system der Münchner Theaterwissenschaft beobachten: Zum einen erlitt die Lerngruppe den Verlust der Harmonie zwischen der Lokalität der Beschäftigung und der bestrebten Globalität der Partizipation. Der kosmopolitische Charakter des Wissensbereichs sowie der theaterwissenschaftlichen Forschungspraxis war mit dem Nationalsozialismus in Frage gestellt worden, sodass die Koope‐ ration der Mitglieder für die Erreichung der gemeinsamen Ziele an Wert ver‐ Letzte Entwicklungsphase - was weiterlebt 241 <?page no="242"?> 84 Um einen Überblick über die Tätigkeit des Kutscher-Kreises in der Zeitspanne 1933- 1944 zu erhalten vgl. den Exkurs „Die Theaterwissenschaft und Artur Kutscher im Na‐ tionalsozialismus“. 85 In diesem Hinblick muss man den Unterschied zwischen Kreis und Schule klar vor Augen führen. loren hatte. 84 Zum anderen behinderte die Struktur der Gemeinschaft selbst, eine neue Führung zu entwickeln. Kutscher hatte sich von Anfang an als Koordinator der Lerngruppe vorgestellt und hatte die Aushandlung von Konzepten und Ma‐ terialien unterstützt, wobei er sich jedoch mehr auf die Identitätsentfaltung seiner Mitwirkenden als auf die Ausbildung von Nachfolgern an der Universität konzentriert hatte. 85 Solch eine komplizierte Situation führte dazu, eine offene Debatte über die Rolle der Theaterwissenschaft sowie über die Wirksamkeit deren Praxis zu vermeiden; der Zufluss an neuen Themen hatte sich auch ver‐ ringert. Die Lerngemeinschaft war nicht mehr in der Lage, neue Ideen, Instru‐ mente und Handlungen in Bezug auf den veränderten globalen Kontext zu ent‐ werfen. Dass die von Kutscher jahrelang geleitete theaterwissenschaftliche Gruppe mit dem Untergang der Weimarer Republik zum letzten Entwicklungs‐ stadium gekommen war, erkennt man auch an einem Detail in der Autobiogra‐ phie des Theaterprofessors: Kutschers Lebenserinnerungen gliedern sich in sechs Kapitel, wobei jeder einen bestimmten Lebensabschnitt beschreibt. Das vorletzte Kapitel, das Kutschers schlüssigem Kommentar über die späte Aner‐ kennung seiner Tätigkeit folgt, trägt den vielsagenden Titel Im Dritten Reich und danach (1933-1960), als ob der Theaterprofessor keine Trennung zwischen seinen theaterwissenschaftlichen Bemühungen während der nationalsozialisti‐ schen Herrschaft und denen nach dem Krieg wahrnehme. Tatsächlich erfuhr die Praxis seiner Lerngemeinschaft kaum Veränderungen und Kutscher beharrte auf seiner Absicht, die Theaterwissenschaft an der LMU durch die Gründung eines unabhängigen Institutes endgültig zu etablieren und dazu eine offizielle Ehrung für seine Leistungen zu erhalten. Im Folgenden seien die Faktoren un‐ tersucht, die die frühtheaterwissenschaftliche Lerngemeinschaft ausgelöst haben. Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 242 <?page no="243"?> 86 Kutschers außeruniversitäre Tätigkeit wurde 1944 wegen der schwierigen Lage Deutschlands unterbrochen. Am 12. Juli war seine Wohnung in der Antonienstraße endgültig ausgebrannt und eingestürzt, wobei 1500 Bücher seiner Privatbibliothek ver‐ brannt und noch mehr Bücher durch Wasserschaden total beschädigt wurden. Vgl. den Brief von Kutscher an Plunien, 28. Juli 1944 (DLA, A: Kutscher 07. 133.2/ 9) sowie Laks‐ berg 2000: 158. Der Theaterprofessor und seine Tochter Kriemhilde, die mit ihm in München geblieben war, fanden in der Villa einer ihrer Freundinnen Unterkunft und Verpflegung. Da der Unterricht an der Universität noch im zerstörten Gebäude statt‐ fand, fuhr Kutscher fast jeden Tag von Unterwössen am Chiemsee, wo seine Frau mitt‐ lerweile lebte, in die Stadt. Bereits im September 1943 hatte Kutscher Gottfried Kölwel über seine partielle Umsiedlung berichtet: »[I]ch bin natürlich an die Universität ge‐ bunden und muss dort sein, wo meine Studenten sind« (Monacensia, A I / 14 ). Erst 1956 gelang es der Familie Kutscher, wieder eine Wohnung in München zu erhalten. Schon Anfang 1949 hatte der Dozent versucht, zuerst durch das Studentenwerk München und dann durch private Kontakte eine 4-Zimmerwohnung in der Stadt zu finden. Da aber sogar planmäßige Professoren in der Zeit wegen »der äußerst ungünstigen Wohnungs‐ lage« weit außerhalb Münchens wohnten, musste Kutscher 7 Jahre auf seine Wohnung warten. Vgl. den Brief von Walther Gerlach, Rektor der Universität München, an Kut‐ scher, 8. März 1949 (DLA, A: Kutscher 57.4523). Die Münchner Theaterwissenschaft »im Dritten Reich und danach« In der Zeitspanne 1939-1943 86 versuchte Kutscher trotz der kulturellen Erstar‐ rung im Nationalsozialismus und trotz der vielen persönlichen Schwierigkeiten an der Universität seine Fühlung mit dem aufgeführten Theater nicht zu ver‐ lieren. Er veröffentlichte zwei Beiträge, die nicht nur einen bestimmten Spiel‐ plan oder gewisse Inszenierungsprobleme behandelten, sondern auch die Rolle von Künstlern betonten, die sich am lokalen Theater beteiligten oder beteiligt hatten: Anmerkungen über Anzengrubers ‚Doppelselbstmord‘ im Programmheft des Bayerischen Staatsschauspiels (1939) und Mozart-Inszenierungen anlässlich der Reichs-Mozart-Woche 1941. Die Tatsache, dass das Bayerische Staatsschau‐ spiel »aus Gründen der Stammesbeziehungen« auch Dramen von österreichi‐ schen und tirolischen Dramatikern inszenierte, schätzte Kutscher sehr: Anzen‐ gruber habe endlich nach vielen Jahren seinen Platz im Spielplan deutschsprachiger Theater wieder gefunden (1939: 7). Der österreichische Büh‐ nendichter, der auch Wanderschauspieler gewesen war, verdiente die große Wertschätzung des Theaterprofessors, nicht nur weil er seine künstlerische Tä‐ tigkeit als »Mission im Dienste der Menschenliebe« konzipiert (Ebd.), sondern auch weil seine dramatische Produktion immer die konkrete Darstellbarkeit auf der Bühne bedacht habe (7 f.). Die Tradition des österreichischen Volksstücks habe Anzengrubers Dramen am meisten geprägt, doch habe der Dramatiker auch die Neuerungen verspürt, die das „moderne“ Theater erregen, vor allem im Hinblick auf die Sprache und auf das Milieu: »Seine Sprache ist nicht realis‐ Letzte Entwicklungsphase - was weiterlebt 243 <?page no="244"?> 87 Ein besonderes Verdienst wurde hier Adolphe Appia zugeschrieben. In seinen Überle‐ gungen stellte er fest, jede Musik verlange vom Darsteller einen eigenen Stil (1941: 78). tisch im dialektischen Laut - sie wird nirgends in Oberösterreich so gespro‐ chen - aber sie ist derb und frisch, von bäuerlicher Struktur, besonders im Di‐ alog. Am wenigsten realistisch ist das Milieu: es ist Theater« (8). Und in der Tat hatte sich diese Spannung zwischen „realistisch“ und „theatralisch“ in der Dra‐ matik des neuen Volksstücks als besonders produktiv erwiesen: Von den 1920er Jahren an hatten Theaterautoren mit einem Duktus gearbeitet, in welchem sich die dargestellte Gesellschaft widerspiegeln konnte und welcher umgekehrt den gesellschaftlichen Zustand der Figuren zu charakterisieren vermag. In Kutschers Anzengruber-Artikel wird das im Staatsschauspiel aufgeführte Drama nicht einmal erwähnt, nur die stilistischen Hauptmerkmale von Anzengrubers Stü‐ cken werden hervorgehoben, so als zeichne der Theaterprofessor eine Art Ent‐ wicklungslinie, die Ludwig Anzengruber mit den späteren Volksstückautoren verbindet. Man gelangt außerdem zum Eindruck, dass Kutscher auch während der (und in Opposition zur) Nazi-Herrschaft die lokale Betätigung der Deutschen an mimisch-pantomimischer Ausdrucksform unterstützen wollte, wobei er die Leistungen einzelner Theatermenschen oder die Fortschritte in der Inszenierung darlegte. Bezüglich dieses letzten Aspekts beschrieb Kutscher die Inszenie‐ rungen von Mozarts Opern sorgfältig, also analysierte er, wie man im Laufe der Zeit - vom späten 18. Jahrhundert bis zu Rudolf Hartmanns Zauberflöte-Insze‐ nierung vom November 1937 an der Staatsoper München - versucht hatte, aus dem musikalischen Rhythmus die angemessene Bühnenform zu gewinnen. 87 Für jede Operninszenierung gelte nämlich das Prinzip: »Dem rhythmischen Grundzug der Musik entsprechend, müssen die Bewegungen, die Charaktere, Situationen gestaltet werden« (1941: 78). Wie im Fall der Doppelselbstmord-Auf‐ führung im Bayerischen Staatsschauspiel diente auch die Mozart-Woche dem Theaterprofessor nur als Vorwand, sich über die Wichtigkeit einer intensiven Beschäftigung mit der Theaterkunst bzw. mit einer besonders wirksamen Form der menschlichen Selbstdarstellung zu äußern. Nach dem Krieg nahm Kutscher seine publizistische Tätigkeit wieder auf, in dem Versuch, das theaterwissenschaftliche Gespräch in Deutschland weiterzu‐ führen: 1946 erschien das im III . Kapitel schon behandelte Büchlein Drama und Theater, zwischen 1947 und 1948 kamen vier Aufsätze heraus, die jeweils Frank Wedekind, dem deutschen Theater im Allgemeinen, Kutschers noch unveröf‐ fentlichtem „Lebenswerk“ Deutsche Stilkunde und den Bemühungen des Thea‐ Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 244 <?page no="245"?> 88 Es handelt sich dabei um die Artikel: Eine unbekannte französische Quelle zu Frank We‐ dekinds „Erdgeist“ und „Büchse der Pandora“ (1947), Die deutsche Bühne (1948), Geist und Seele in der Kunst (1948), Zwischen Kunst und Wissenschaft. Selbstbildnis eines Professors (1948). 89 Im Gegensatz z. B. zum spontanen, naiveren Theaterstück, das von den Franzosen und Italienern am meisten gepflegt worden sei. terprofessors gewidmet wurden. 88 Kutschers Augenmerk richtete sich also nicht auf konkrete Aufführungen oder auf neue Stücke, sondern auf die hohen Ver‐ dienste des vergangenen deutschsprachigen Theaters und der Wissenschaft vom Theater. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die im Karussell veröffentlichte Antwort Kutschers auf Hermann Sinsheimers Essay Das deut‐ sche Volk im Spiegel seiner Bühne. Bei der Eröffnung seines Artikels schrieb Kut‐ scher: »Der aufsehenerregende Aufsatz ist theaterwissenschaftlich und stil‐ kundlich unhaltbar. Es tut mir leid, das dem verehrten Theaterkritiker sagen zu müssen. Bühnenkunst ist keine Raumkunst wie Architektur und Plastik, son‐ dern eine Kunst der Bewegung, der Mimik« (1948a: 55). Von dieser Prämisse ausgehend bewies der Theaterprofessor erstens, dass die überpersönliche, öf‐ fentliche Kennzeichnung des Mimus »in Unterhaltung mit den primitiveren Mitteln einer ernsten oder komischen Darstellung einfachster allge‐ mein-menschlicher Beziehungen« besteht, und zweitens, dass dieses »Mensch‐ heitliche« und das Triebhafte »für jeden Zuschauer einen anderen Sinn hat« (Ebd.). Nichtsdestotrotz besitze das auf Mimus beruhende Drama auch nationale Eigentümlichkeiten, deshalb konnte man nach Kutschers Meinung nicht be‐ haupten, das deutsche Drama habe nicht in Deutschland seinen Ursprung. Wäh‐ rend Sinsheimer für die These argumentiert hatte, dass die einzigen eigentüm‐ lichen Ausdrucksformen der deutschen Tradition das Gedicht und das Märchen seien, betrachtete Kutscher das Drama als eine ursprünglich deutsche Art des dichterischen Äußerns, die mindestens seit dem 14. Jahrhundert gepflegt worden sei. 89 Anstelle einer abschließenden Betrachtung bildet eine Aufforde‐ rung an seine Mitbürger zur erneuten Beteiligung an der Theaterkunst den Schlussteil von Kutschers Überlegungen: »Die dramatische Gestaltungskraft der Deutschen wird sich wieder regen, überall - aus dem Erlebnis tiefster Erschüt‐ terung« (57). Eine Sonderstellung in dieser Enthaltung Kutschers, was die Besprechung gegenwärtiger Theateraufführungen betraf, nahm ein Zeitungsartikel vom 5. Juni 1948 ein, der über die szenische Uraufführung des Faust-Balletts Abraxas von Werner Egk im Münchner Prinzregententheater berichtete. Dort würdigte Kutscher sowohl die textliche Vorlage als auch den Darstellungsstil Egks, wel‐ cher allerdings »nur der unmittelbaren magisch-sinnlichen Beeindruckung« Letzte Entwicklungsphase - was weiterlebt 245 <?page no="246"?> 90 In Verbindung mit Artur Kutscher wurden die Bände 10 (1935) - 55 (1960) herausge‐ geben. 91 Kutscher verfasste ein theaterwissenschaftliches Vorwort, Mathias Insam schrieb die sprachgeschichtliche Einführung zum Stück, während Anton Dörrer über die Verfas‐ sung und Übertragung der Manuskripte berichtete. hätte dienen können (5). Der Theaterprofessor ging wieder auf alle von ihm genannten „Elemente“ und „Hilfskünste“ des Theaters ein, und es ist kein Zufall, dass er gerade im Tanz einen günstigen Ansatzpunkt für seine theaterwissen‐ schaftlichen Überlegungen in dieser späten Zeit fand. Kutscher kehrte zum Ur‐ sprung des Theaters zurück, um die Eigenart der Theaterkunst sowie die Leis‐ tungen der Theaterwissenschaft nochmals zu markieren. In dieser Bestrebung suchte Kutscher eine Anknüpfung an ähnliche Bemühungen in Köln und Wien. In der von Carl Niessen und von ihm selbst herausgegebenen Reihe „Die Schau‐ bühne. Quellen und Forschungen zur Theatergeschichte“ 90 veröffentlichte Kut‐ scher sowohl die Untersuchung Die Comédia dell’arte und Deutschland (1953), wo er sich auf die ältesten Abbildungen der Commedia dell’arte und dadurch auf die erste Form jener Spielgattung konzentrierte, als auch die Edition Ein altes deutsches Josephspiel: Von den zwölf Söhnen Jakobs des Patriarchen (1954), einen kommentierten Abdruck des Tiroler Josefsspiels von 1677, dessen Handschrift sich damals in Kutschers Besitz befand. 91 Dabei handelt es sich um die letzten theaterwissenschaftlichen Veröffent‐ lichungen des Münchner Theaterprofessors. Dem damals über 75 Jahre alten Kutscher mangelte die Kraft dazu, die von seiner Lerngemeinschaft jahrzehn‐ telang gesammelten Kenntnisse und Erfahrungen, geteilten Ressourcen und Vi‐ sionen neu auszuhandeln und diese mithin in eine neue Trajektorie zu steuern. Das wissenschaftlich generierte Wissen verblasste zunehmend und der Kut‐ scher-Kreis existierte nur noch in der Beziehung zwischen dem Dozenten und seinen Schülern oder Freunden, die sich gegenseitig im kulturellen Bereich un‐ terstützten. Die Mitglieder der Münchner theaterwissenschaftlichen Gruppe betrachteten also ihre Lerngemeinschaft nicht mehr als privilegierten Locus des Wissenserwerbes und der Wissenserzeugung, sondern als eine geistige Brücke sowohl zu den erfolgreichen Künstlergenerationen der vergangenen Jahrzehnte als auch zu den aufstrebenden Jugendlichen, für welche (Theater)Kunst und Wissenschaft keine Abstrakta waren, sondern direkte Wege zum gesellschaft‐ lichen Aktivismus. Man könnte sogar behaupten, es seien manche zur Gewohn‐ heit gewordene Aktivitäten, Verhaltensweisen und Handlungen, welche die letzte Phase der von Kutscher geförderten Theaterwissenschaft prägten, wäh‐ rend die theoretische Reflexion über die Praxis selbst vernachlässigt wurde. Einen Beweis dafür liefert die Tätigkeit des Theaterprofessors in den 1950er Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 246 <?page no="247"?> Jahren: Kutscher verfasste vor allem kurze Aufsätze oder persönliche Erinne‐ rungen, die sozusagen als historisches Gedächtnis bzw. Gewissen des theater‐ wissenschaftlichen Unternehmens gelten können. Auch im Namen seiner Stu‐ denten lobte er z. B. das Kunstschaffen von Kasimir Edschmid (in Schab 1950: 19) und von Otto Falckenberg (1952), rief die alten Zeiten des „Akademisch-Dra‐ matischen Vereins“ (Ebd.), seine jugendlichen Begegnungen mit berühmten Dichtern (1951; 1955b) und seine theaterwissenschaftlichen Bemühungen (1955a; 1956) wieder wach. Dort zollte der Professor alten Kampfgenossen seinen Dank und half zugleich ehemaligen Studenten bei ihrer Karriere. Er be‐ trachtete sich noch im hohen Alter als ein Bindeglied zwischen Generationen; es lassen sich dennoch zwei Orientierungen seines Handelns eindeutig er‐ kennen: Zum einen blickte er auf die zwei „goldenen Epochen“ der deutschen Kunst und Kultur zurück - d. h. die Jahrhundertwende und die Weimarer Re‐ publik -, zum anderen versammelte er wieder viele junge Wissenschaftlern, Kunstbegeisterten und Kritikern, die seinen Kreis erweiterten. Als ihn sein frü‐ herer Schüler Alois Johannes Lippl, Intendant des Münchner Residenztheaters, beispielsweise darum bat, einige Zeilen zur Widereröffnung des Theaters am 28. Januar 1951 zu verfassen, gab er seinen Erinnerungen über drei Generationen von Schauspielern Ausdruck und schloss mit den ermahnenden Worten ab: Zum Ruhme Münchens um und nach der Jahrhundertwende muß gesagt werden, daß das Publikum sich an den Darbietungen der Bühne höchst aktiv beteiligte. Das alte Residenztheater war der Ort leidenschaftlicher Bekenntnisse, ja unerbittlicher Schlachten im Zuschauerraum um Drama, Schauspielkunst, Regie und Szene. Und diese Kämpfe wurden nach Schluß der Vorstellung oft bis lang nach Mitternacht fort‐ gesetzt in dem gegenüberliegenden Spatenbräu oder der benachbarten Torggel‐ stube. […] Möge das neue Haus in einer glücklicheren Zeit solche Stunden wiederbringen! (40) Auf ähnliche Weise verfasste Kutscher einen Brief, der im Almanach Aus der Romanstraße anlässlich des 5-jährigen Bestehens des Kurt-Desch-Verlages (1953) veröffentlich wurde, dessen Gründer und Leiter ein ehemaliger Schüler von ihm war, und schrieb das Geleitwort zu einem Buch, das von zwei seinen früheren Studenten und Freunden herausgegeben wurde: Rhodos. Porträt einer Insel (1959). Der Theaterprofessor hatte sogar an der Entstehung jenes fotogra‐ fischen Buchs mitgewirkt: Er selbst erzählte im Geleitwort, wie der Fotograf Hannes Kilian eines Tages an ihm mit der Bitte herantrat, den Text zu einem Bildbuch über Rhodos zu schreiben. 1958 / 59 war Kutscher aber mit der Verfas‐ sung seiner Autobiographie beschäftigt und verwies Kilian an seine Schülerin Käthe Brotze. Was die neue Studierendengeneration der 1950er Jahre betraf, bekam auch diese die konkrete, wertvolle Hilfe des Theaterprofessors: Als Edgar Letzte Entwicklungsphase - was weiterlebt 247 <?page no="248"?> 92 Joseph Gregor wurde beim Aufbau der Theatersammlung der Wiener Nationalbiblio‐ thek vom damals jungen Schauspieler Henry Schnitzler geholfen. Zu der Beziehung zwischen Gregor und Schnitzler siehe den Brief vom 14. Dezember 1947, den Schnitzler an Kutscher sandte (Monacensia, n. k.). Reitz z. B. seinem Dozenten enthüllte, er wollte mit der Theaterwelt in Berüh‐ rung kommen, rief Kutscher seinen alten Schüler Hans Schweikart, Intendant der Münchner Kammerspiele, an. So begann Reitz seine Karriere als Regieas‐ sistent (Reitz 2015). Die größte Bestrebung Kutschers war aber damals der Kampf um die Ein‐ richtung eines selbstständigen theaterwissenschaftlichen Institutes in Mün‐ chen. Das wäre nicht nur eine öffentliche Anerkennung der Leistungen seiner Lerngemeinschaft gewesen, sondern auch die Grundlage für die Weiterent‐ wicklung dieser Lernstruktur. Erst ein eigenständiges durch die Universität fi‐ nanziertes Institut hätte durch Projekte, Experimente, Tagungen, zwischenuni‐ versitäre Partnerschaften und globale Beziehungen die transkulturelle Theaterkunst und -forschung pflegen können. Besonders relevant in diesem Zusammenhang ist Kutschers angespanntes Verhältnis zur Münchner Univer‐ sität, das einerseits zu wiederholten Demütigungen und Niederlagen bezüglich der Etablierung eines Instituts und der Emeritierung des Theaterprofessors führte, und das andererseits die Mitglieder des Kutscher-Kreises zum letzten Mal in der Verehrung des „Außerordentlichen“ zusammenschweißte. Das Verhältnis zur LMU hatte sich bereits zwischen 1925 und 1926 verschlechtert und Kutscher hatte anscheinend auch an eine theaterwissenschaftliche Achse München-Wien gedacht, welche die Lernstruktur der eigenen Gemeinschaft durch die Verbin‐ dung mit einer anderen Universität hätte schützen können. Im März 1925 wurde eine Art Mobilität von Materialien und Dozenten zwischen Wien und München vorgesehen, um aus den Städten die größte Zentrale der europäischen Theater‐ wissenschaft zu machen. Der Vorschlag kam von Joseph Gregor, der 1922 die Theatersammlung in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien be‐ gründet hatte. 92 Damals befand sich die Sammlung Hugo Thimigs in Wien, während die heiß umstrittene Sammlung Albert Kösters neulich von der baye‐ rischen Staatsbibliothek erworben wurde. Gregor sah in Kutscher den zukünftig möglichen Verwalter der Sammlung, deshalb weihte er ihn in seine Idee ein, die Gemeinsamkeiten der Wiener und der Münchner Sammlungen »so innig [zu] gestalten«, dass es dadurch »eine einzige süddeutsche Sammlung« entstehen konnte ( DLA , A: Kutscher 57.4540 / 3) (Herv. im Originaltext). Wenngleich Gre‐ Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 248 <?page no="249"?> 93 Die Gründe sind vielmehr darin zu suchen, dass Kutschers Lage an der Münchner Uni‐ versität zwischen 1925 und 1926 besonders angespannt war. Außerdem gehörte Gregor scheinbar nicht zur Gruppe der von Kutscher hochgeschätzten Wissenschaftler: Ob‐ wohl Gregor als einer der führenden Theaterwissenschaftler seiner Zeit galt, wurde er nur einmal in Kutschers Arbeiten erwähnt - gerade in Bezug auf seine Theatersamm‐ lung (1936: 181). 94 Siehe dazu Kutschers Brief an Hans Knudsen vom 18. Januar 1945 (DLA, A: Knudsen 74.495 / 2). gors Plan nicht ausgeführt wurde, 93 blieben die Wiener Institutionen die ersten Verbündeten des Kutscher-Kreises im Kampf um die Würdigung der Theater‐ wissenschaft. Fast zwanzig Jahre nach jenem Brief von Joseph Gregor, in den letzten Monaten des zweiten Weltkriegs, teilte Kutscher dem Dekan der Uni‐ versität München mit, er schicke seine Studenten im letzten Semester zur Prü‐ fung nach Wien, weil sich die Theaterwissenschaft dort als selbständiges Prü‐ fungsfach hatte etablieren können. Kindermann hatte sich seit Langem bereit erklärt, Kutschers Doktorarbeiten anzunehmen - er hatte dem Münchner Kol‐ legen umgehend versichert: »Ihren Schülern im höheren Semester steh ich selbstverständlich jederzeit gerne zur Verfügung. Wir müssen in diesen Dingen fest zusammenhalten und einander helfen, wo wir nur können. Jedenfalls dürfen Sie immer auf mich und mein Institut rechnen« ( DLA , A: Kutscher 57.4791 / 6). Daraufhin hatte der Dekan bereits einem von Kutschers Doktoranden gestattet, im Nebenfach Theaterwissenschaft in Wien geprüft zu werden und in den üb‐ rigen Fächern in München. 94 Wegen des anhaltenden Krieges musste aber die Interaktion zwischen Kutscher und Kindermann unterbrochen werden; erst Ende Dezember 1948 sandte der Wiener Dozent einen Brief nach München, um den Kontakt zu Kutscher wieder aufzunehmen ( DLA , A: Kutscher 57.4791 / 9). Auf Kindermanns Anregung verfasste der Theaterprofessor ein kleines Selbst‐ porträt von ihm selbst, das 1956 mit dem Titel Meine theaterwissenschaftlichen Bemühungen in der Fachzeitung des Wiener Instituts „Maske und Kothurn“ ver‐ öffentlicht wurde. Kindermann fragte Kutscher auch, ob er die Redaktion »auf Bringenswertes« aufmerksam machen könnte, »sei es auf hochbegabte Arbeiten dortiger Doktoranden oder Privatforscher, sei es auf Abdruckenswertes« für die sog. „Schatztruhe“ der Zeitung ( DLA , A: Kutscher 57.4791 / 10). Als Kindermann aber vor der Veröffentlichung das Selbstporträt Kutschers las, fühlte er sich ge‐ zwungen, dem älteren Kollegen den folgenden Brief zu schicken: Im Interesse unserer sonst so gutnachbarlichen Beziehungen zur Münchner Univer‐ sität möchte ich Sie herzlich bitten, mit der kleinen, mit Bleistift vorgeschlagenen Streichung bzw. Korrektur einverstanden zu sein. / Vielleicht schaffen wir so besser das Terrain für eine Besserung der Zustände pro futuro. Ich wünschte es jedenfalls im Interesse der Theaterwissenschaft von Herzen. (DLA, A: Kutscher 57.4791 / 14) Letzte Entwicklungsphase - was weiterlebt 249 <?page no="250"?> 95 Siehe dazu die Einladungskarte im Nachlass Gottfried Kölwels (Monacensia, GoK B 382). Auch wenn die erste Fassung von Kutschers Beitrag nicht bekannt ist, erfährt man aus diesem Brief nicht nur, dass Kindermann offensichtlich diplomatische Vorsicht wahrte, sondern auch, dass sich Kutschers Kampf um das theaterwis‐ senschaftliche Institut verschärft hatte. Die Kluft zwischen öffentlicher Ehre und akademischer Verachtung wurde kurz vor Kutschers Pensionierung noch tiefer: Zu Ehren des Theaterprofessors wurde z. B. ein geselliger Empfang am 17. Juli 1957, anlässlich der Vollendung seines 100. Semesters als Dozent, in der Len‐ bachgalerie bereitet 95 und ein Jahr später, zum 80. Geburtstag, wurde Kutscher mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet; die Münchner Alma Mater war indessen noch nicht bereit, ihm ein angemessenes Amt zu ver‐ schaffen. Bereits am 4. Juni 1958 hatte der Theaterprofessor an den Dekan der Philosophischen Fakultät Anton Spitaler ein Gesuch um Emeritierung gerichtet, am 1. August fügte er seinem Gesuch »noch zwei später erhaltene obrigkeitliche Stimmen von Wichtigkeit« hinzu: die Gluckwünsche voller Dankbarkeit von Seiten des Bayerischen Staatsministers für Unterricht und Kultus und den Te‐ legraph des Bundesministers des Inneren in Bonn, Gerhard Schröder (Bay HS tA, MK 43 931). Spitaler, der für die Umwandlung von Kutschers Pension in eine Emeritierung nichts tun konnte, übersandte dem Bayer. Staatsministerium für Unterricht und Kultus am 18. August beide Schreiben des Theaterprofessors »zur Kenntnisnahme und möglicherweise zur weiteren Veranlassung« (Ebd.). Im Nachlass Kutschers befindet sich ein Abdruck des Antwortbriefs vom Bayer. Staatsministerium: 29. August 1958, München Betreff: Gesuch des apl. Professors a. D. Dr. Artur Kutscher um Emeritierung Gem. Art. 11 Abs. 1 HSchlG können nur planmäßige o. und ao. Professoren von der Verpflichtung zur Abhaltung von Vorlesungen und Übungen entbunden, d. h. emeri‐ tiert werden. Prof. Dr. Kutscher ist […] Privatdozent mit Vergütung und außerplan‐ mäßiger Professor im außerplanmäßigen Beamtenverhältnis an der Universität Mün‐ chen gewesen. Die zwingenden gesetzlichen Voraussetzungen für eine Emeritierung sind deshalb bei ihm nicht gegeben. (Monacensia, n. k.) Am 30. Oktober 1958 schrieb Kutscher dem Staatsminister Maunz einen fast verzweifelten Brief, mit dem er »um gütiges Verständnis und Hilfe« bat (Bay HS tA, MK 43 931). Einerseits war Kutscher von wirtschaftlichen Sorgen Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 250 <?page no="251"?> 96 Hier sei nur erwähnt, dass Kutscher wegen wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Jahr 1957 ca. 3400 Autographen seiner Sammlung an das Deutsche Literaturarchiv Marbach verkaufte. 97 Kurz bevor Carl Niessens Emeritierung erhielt Kutscher bspw. einen Brief von der Uni‐ versität Köln, mit dem der Dekan der Philosophischen Fakultät ihn vertraulich darum bat, seine »persönliche Meinung über Persönlichkeiten, die für die Neubesetzung in Frage kommen, freundlichst mit[zu]teilen« (Monacensia, n. k.). 98 Zur Geschichte der Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilian-Universität bis zu den späten 1970er Jahren siehe Laksberg 1977: 44-48. geplagt, 96 andererseits erfreute er sich im Theaterbereich sowie im kulturellen Leben immer größer Wertschätzung: 97 Gegenüber diesen grossen Zeugen habe ich festzustellen, dass die Theaterwissen‐ schaft in der grössten philosophischen Fakultät missachtet, und sogar das Fach über‐ haupt nur im Zusammenhang mit einer Ergänzungswissenschaft zugelassen wird im Gegensatz zu Berlin, Wien, Köln und Mainz, wo sie als allen übrigen Wissenschaften gleichberechtigt gilt. Dass man dabei nicht vorrücken kann, ist klar. Briefe Vertrauter sprechen von einer weithin sichtbaren Ungerechtigkeit. […] Aber vielleicht wissen Sie ein Mittel zur Abhilfe solcher Bedrängnisse. (Ebd.) Maunz’ Antwort kam am 17. Dezember und erweckte in Kutscher die Hoffnung auf die Einrichtung eines Ordinariats für Theaterwissenschaft: Die Darlegungen Ihres freundlichen Schreibens vom 30. Okt. 1958, für das ich bestens danke, haben mir Veranlassung gegeben, mich mit Ihrem Anliegen eingehend zu be‐ fassen und nachzuprüfen, ob Ihren mir voll verständlichen Wünschen nicht wenigs‐ tens zum Teil entsprochen werden kann. Ich habe dies umso lieber getan, als Ihre entscheidenden Verdienste um den Aufbau und die Entwicklung der Theaterwissen‐ schaft an der Universität München mir genau bekannt sind. Ich weiss [sic! ], daß hier ein wertvolles Erbe zu verwalten ist. Nachdem an verschiedenen Universitäten des deutschen Sprachgebietes, so in Berlin, Köln und Wien, planmäßige Lehrstühle für Theaterwissenschaft bestehen, ist der von der Öffentlichkeit und den beteiligten wissenschaftlichen Kreisen wiederholt erho‐ bene Wunsch nach der Vertretung dieses Sachgebietes durch einen planmäßigen Lehrstuhl in München in jeder Weise berechtigt. Die Universität München hat in ihrer Denkschrift aus dem Jahre 1954 die Errichtung eines Extraordinariats für Theater‐ wissenschaft als eines ihrer wichtigsten Anliegen bezeichnet. Wenn die Schaffung des Lehrstuhls aus haushaltswirtschaftlichen Gründen bisher auch nicht möglich war, werde ich umso mehr bemüht sein, Anträgen der Universität, die in diesem Sinne anläßlich der Aufstellung der kommenden Haushalte vorgebracht werden, zu ent‐ sprechen. […] (Monacensia, n. k.) Allen Versuchen zum Trotz wurde ein „Ordinariat für Theatergeschichte“ erst 1963 eingerichtet. 98 Letzte Entwicklungsphase - was weiterlebt 251 <?page no="252"?> 99 Kutscher starb in der Schwabinger Privatklinik Dr. Decker infolge eines Schlaganfalls. Der Theaterprofessor befand sich in der Klinik, weil seine Frau wegen schwerster He‐ patitis dort behandelt werden musste und die Tochter Kriemhilde veranlasst hatte, dass er mit in die Klinik ziehen konnte (Laksberg 2000: 159). Auch wenn der Kutscher-Kreis seine üblichen Aktivitäten ab den späten 1940er Jahren aufgenommen hatte und auch wenn sich Kutscher nach dem zweiten Weltkrieg für die Bildung bzw. Ausbildung einer neuen Generation er‐ neut eingesetzt hatte, die für die Entwicklung des Theaters und für die akade‐ mische Anerkennung der Theaterwissenschaft kämpfen konnte, wurden keine neuen Lerninhalte oder -werkzeuge ausgehandelt und die Lücke im Wissens‐ system nicht gefüllt. Alte Mitglieder brachten die erworbenen Expertisen und Fertigkeiten in andere Lerngemeinschaften mit sich und die Newcomer fanden außerhalb der anfänglichen Lerngruppe mehr Spielraum. Die von Kutscher ko‐ ordinierte CoP bildete in den 1950er Jahren nur den Ansatzpunkt für die Mit‐ arbeit einiger Lernender oder für den Meinungsaustausch im künstlerischen Bereich. Sie lebte als Erbe weiter, sogar nach Artur Kutschers Tod am 27. August 1960. 99 In der Rede anlässlich des 100. Geburtstages des Theaterprofessors er‐ wähnte Lazarowicz die »lebendigen Erinnerungen« von Kutschers Freunden und Schülern und sprach diesbezüglich von »eine[r] Form von Präsenz, die das Präsens herausfordert« (1978: 44). Mehr noch als die viel verehrte und viel ge‐ hasste, fast legendäre Figur Artur Kutscher fordert die auf der wechselseitigen Beeinflussung von Theorie und Praxis basierende Lernstruktur der Münchner Frühtheaterwissenschaft die Disziplin der Gegenwart heraus. Teil IV. Reifephase - Orte und Örtlichkeiten 252 <?page no="253"?> Exkurs. Die NS-Zeit Mit der ökonomischen Krise geht einher die ideologische Verunsicherung großer Teile der Bourgeoise. […] Bürgerliches Theater und eine entsprechende Theaterwissen‐ schaft haben teil an der ideologischen Reidentifizierung, decken den gesellschaftlichen Bedarf an akzeptabler Ideologie, akzeptabel für das unmittelbare wie mittelbare Inte‐ resse des Kapitals. […] Daß eigentlich erst mit dem Faschismus die materielle Absi‐ cherung der Theaterwissenschaft erreicht wurde, ist nach unserer Meinung einzig angesichts der scharfen Krise der bürgerlichen Gesellschaft und der gewaltsamen ökonomischen wie ideologischen Rettungsmaßnahmen, derer sich die bürgerliche Klasse bediente, verständlich. Die Theaterwissenschaft bot die benötigte Legitimation für den Angriff des Faschismus auf das Theater der Weimarer Republik, indem sie den Faschismus als den Bewahrer vor dem kulturellen Untergang würdigte und bestätigte. (Haarmann 1974: 304 f.) 1974 beschäftigte sich Hermann Haarmann mit dem Verhältnis der damaligen Theaterwissenschaft zur deutschen Geschichte und im Kapitel Theaterwissen‐ schaft, Ausbildung und Kapital versuchte er, einen Ursprung für die „Tradition“ der Disziplin zu finden, deren Wirkung immer noch virulent war. In seinen Worten lässt sich ein breites, offenes Gebiet identifizieren, in dem zwei Ereig‐ nisse deutlich verknüpft sind: die materielle Absicherung des Lehrfaches wäh‐ rend der NS -Herrschaft und die Beziehung zwischen Theaterwissenschaftlern und Macht. Wenn man den Lebenslauf von den vier wichtigsten Vertretern der frühen Theaterwissenschaft auch nur kursorisch liest, erkennt man sofort die unselige nationalsozialistische Vergangenheit. Was Max Herrmann betrifft, wurde er 1923 zum Leiter des Theaterwissenschaftlichen Instituts an der Uni‐ versität zu Berlin - zusammen mit Julius Petersen - ernannt und 1930 erfolgte seine Berufung zum ordentlichen Professor. Aufgrund seiner jüdischen Ab‐ stammung wurde er 1933 in den Ruhestand erzwungen und 1942 ins KZ The‐ resienstadt deportiert. Ein Jahr später wurde Hans Knudsen mit einer theater‐ wissenschaftlichen Professur und Institutsleitung in Berlin betraut, auch wenn er nie habilitiert hatte. Knudsen, ehemaliger Schüler und Assistent Max Herr‐ manns, gab schon im Oktober 1933 eine Ergebenheitsadresse an Hitler ab und bekannte sich dadurch zum Nationalsozialismus. Bis 1938 arbeitete er für das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda und als Belohnung <?page no="254"?> 1 Siehe dazu Englhart 2008a: 884. 2 Die Gründung des „Zentralinstituts für Theaterwissenschaft“ in Wien wurde nach dem Anschluss durch Reichsstatthalter Baldur von Schirach forciert, da er sich aus einer kulturpolitischen Perspektive viel vom Lehrstuhl für Theaterwissenschaft erwartete. Die Wiener Universität hatte Kindermann auf ihrer Vorschlagsliste erst an 3. Stelle genannt (z. B. nach Carl Niessen), weil er sich bis dahin hauptsächlich mit Literatur‐ wissenschaft beschäftigt hatte. Doch letztendlich wurde Kindermann wegen seiner Fä‐ higkeit, populäre Wissenschaft und Propaganda zu kombinieren, von der Reichs‐ statthalterei bevorzugt. Kindermann verstand nämlich, dass die beste Chance für eine leitende Funktion im Bereich der Theaterwissenschaft bestand, und deshalb arbeitete er unaufhörlich daran, in Wien als Fachmann für Theatertheorie hervorzutreten. Kurz nach dem Anschluss veröffentlichte Kindermann den Band Die Commedia dell’Arte und das deutsche Volkstheater, in dem er die geopolitische und kulturelle Bedeutung der Theaterstadt Wien für das NS-Regime betonte - eine These, die er 1939 mit der Veröf‐ fentlichung von Burgtheater. Erbe und Sendung eines Nationaltheaters und Der Lebens‐ raum des Burgtheaters noch verstärkte. Dort war von der Notwendigkeit einer »rassis‐ tisch-volkshaft bedingte[n] Theaterschreibung« die Rede (1939: 26). Dann betrieb Kindermann die Diffamierung von nicht-deutschen oder jüdischen Theatermenschen (wie Bogumil Dawison) und führte den Raimund- und Grillparzer-Kult ein, wobei er der Entwicklung des österreichischen Theaters zu dienen versuchte. Die ideologische Kooperation mit Baldur von Schirach ist fernerhin nicht unerheblich, da dieser in Wien den strategischsten Ort für das Nationaltheater des „Großdeutschen Reichs“ sah und danach strebte, die besondere Stellung der Stadt durch die Theaterkultur und -for‐ schung zu festigen. Als letzter Schritt zur Institutsleitung kann der Brief an den Dekan der Wiener Universität erwähnt werden, in dem Kindermann klarstellte, nur Wien sei als Standort dieses neu einzurichtenden Zentralinstituts geeignet. Vgl. Haider 1993; Kirsch 1996; Peter 2008. dafür bekam er die Professur an der Friedrich-Wilhelm-Universität. 1 Erst im Jahr 1965 führten öffentliche Diskussionen über seine Rolle in der NS -Zeit zur teil‐ weisen Suspendierung. Der bereits 1915 zum außerordentlichen Professor er‐ nannte Kutscher trat 1942 der NSDAP bei. Nach einer zweimaligen Entlassung - zuerst im Winter 1945 und dann im November 1946 - wurde er rehabilitiert und lehrte an der Universität München bis zu seiner Pensionierung 1958. Das Jahr 1929 war für Carl Niessens Karriere emblematisch: Er wurde gleichzeitig als ordentlicher Professor und als Truppführer der SA berufen. Der Theoretiker des Thingspiels lehrte bis zu seiner Emeritierung 1959 in Köln, obwohl er nach dem Krieg als politisch „minderbelastet“ eingestuft worden war. Heinz Kindermanns Betätigung an der Universität folgte einem ähnlichen Weg: 1926 wurde er zum ordentlichen Professor ernannt, 1933 wurde er Parteigenosse, in der Zeitspanne 1933-1943 war Kindermann einer der am meisten publizierten deutschen Lite‐ raturwissenschaftler und 1943 versuchte er, mit der Anwendung von unter‐ schiedlichen Strategien zum Leiter des „Zentralinstituts für Theaterwissen‐ schaft“ in Wien zu werden. 2 Am 19. Januar 1943 wurde Kindermann tatsächlich Exkurs. Die NS-Zeit 254 <?page no="255"?> nach Wien berufen, um dort das Institut einzurichten, und kurz danach bezog er seine Räumlichkeiten in der Hofburg. Das Institut wurde am 25. Mai eröffnet; Kindermann blieb Direktor bis zum Ende des Krieges, dann wurde er suspen‐ diert. 1955 übernahm er wieder die Leitung des Instituts für Theaterwissenschaft und lehrte an der Wiener Universität bis zu seiner Emeritierung 1966. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, auf Foucaults Interview mit Gilles Deleuze über das Thema „Die Intellektuellen und die Macht“ (1972) zurückzu‐ greifen. Der französische Philosoph behauptet, die jüngsten Ereignisse des Weltkriegs und der großen totalitären Regimes hätten den Intellektuellen ge‐ zeigt, dass die Massen sie nicht mehr brauchen, um Zusammenhänge verstehen zu können. Die Massen haben nämlich ein vollkommeneres Wissen als die In‐ tellektuellen und können es auch gut aussprechen. In der Gesellschaft herrscht allerdings ein subtiles Machtsystem, welches zum einen das Wissen der Massen zurückhält und ihr Sprechen erschwert, zum anderen von den bürgerlichen In‐ tellektuellen fordert, dass sie sich als die Agenten, als die Subjekte des sozialen Bewusstseins benehmen (Foucault 1987: 107 f.). Infolgedessen wird jede Art kul‐ turelle Praxis zu einem »Kampf um die Unterwanderung und Übernahme der Macht, neben allen und mit allen, die um sie kämpfen« (108). In diesem Kampf sind die Beziehungen zwischen dem Interesse an der Macht, der Macht selbst und dem Verlangen nach Macht höchst komplex. Wenn man die dramatischen Auseinandersetzungen der gesellschaftlichen Gruppen und Generationen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachtet, erkennt man die Dynamik des Machtsystems und dessen interne Beziehungen: Im Faschismus sehnen sich die Massen danach, daß einige die Macht ausüben; sie sehnen sich nach Machthabern, die nicht mit ihnen verschmelzen, da die Macht ja gegen sie und zu ihrem Nachteil ausgeübt wird: bis zu ihrem Tod, ihrer Opferung, ihrem Massaker. Und dennoch sehnen sie sich nach dieser Macht. (114) Eine an Foucault orientierte Analyse der Verflechtung von Interesse, Macht und Begehren, die sich in der Tätigkeit der ersten Theaterwissenschaftler vor, wäh‐ rend und nach dem Nationalsozialismus erkennen lässt, enthülle das „positive Unbewusstsein“ der Theaterwissenschaft, und zwar »eine Ebene, die dem Be‐ wußtsein des Wissenschaftlers entgleitet und dennoch Teil des wissenschaftli‐ chen Diskurses ist«. Das „positive Unbewusstsein“ stellt also die Gesamtheit von Einflüssen, impliziten Denkweisen und unbeleuchteten Hindernissen dar, welche ein Fachgebiet ebenso bestimmen wie die sichtbaren Prozesse und Er‐ gebnisse (Foucault 1974: 12). Doch mit einer solchen Analyse würde man das Risiko eingehen, die individuellen Trajektorien zu übersehen und ein von Men‐ schen unabhängiges Ordnungsmuster zu finden, das jedes erdenkliche mensch‐ Exkurs. Die NS-Zeit 255 <?page no="256"?> 3 Vgl. Mosse 1993. liche Handeln festlegt und weder Ausnahmen noch Widerstandstendenzen er‐ laubt. Die von George L. Mosse gut beschriebene faschistische Nationalisierung der Massen 3 hätte somit sein Pendant in der Uniformierung bzw. Nivellierung der Intellektuellen - eine Interpretation, die die bewusste aktive Betätigung sowie die Verantwortung der Einzelindividuen gefährlich ignoriert. Noch einmal kommt die Struktur der Communities of Practice methodologisch zu Hilfe: Sie zieht nicht nur die Praxis als gemeinsame Bedeutungsgeschichte in Betracht, sondern berücksichtigt auch die Einzelidentität als individuelle Partizipations‐ geschichte, als „learning trajectory“. Das Konzept der CoP markiert erstens die Verflechtung des Forschungsgegenstands ‚Theater‘ mit dem kulturpolitischen Anspruch, ein Institut innerhalb der philosophischen Fakultät einzurichten, sowie die Abhängigkeit der Theaterforschung von ihrer gesellschaftlichen Um‐ welt. Sie ging tatsächlich mit der bürgerlichen Bestrebung um die Jahrhundert‐ wende in Deutschland einher, außerhalb der Naturwissenschaften und der in‐ stitutionalisierten Orte der Ausbildung neue Praxen zu etablieren, die gleichzeitig modernistische und völkische Ansätze verfolgen konnten, um auf den Notstand der neuen Nation zu antworten. Zweitens hebt der CoP-Begriff hervor, wie Einzelmitglieder - und insbesondere Koordinatoren - ihre Identität innerhalb und durch Lerngemeinschaften aushandelten und welche Rolle bzw. welche Folgen diese Aushandlung für die gesamte Gruppe hatte. Die NS -Dik‐ tatur erlaubte im wissenschaftlichen Bereich weder objektive Forschungser‐ gebnisse noch persönliche Einsätze, wodurch die Entwicklung der Einzeliden‐ tität widersetzt wurde. Einige Forscher kämpften also gegen die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik, um ihre eigene Persönlichkeit zu retten, wenngleich es ihnen Drohungen, Demütigungen und Strafen kostete. Mit der Kompromittierung der Theaterwissenschaft im Nationalsozialismus kann man sich also nur dann beschäftigen, wenn man die für die Disziplin prä‐ gende Geschichte von situiertem Lernen und Handeln nachgeht. Zu diesem Zweck werden im Folgenden Praktiken unterschiedlicher Natur sondiert, die einen Querschnitt durch die Frühphase des Fachgebietes darstellen. Die erste Praxis entsteht aus der sog. doppelten Sendung des Theaters sowie der Thea‐ terforschung: der Dienst für die eigene (groß)deutsche Nation und der Dienst für eine vorgestellte transnationale Gemeinschaft. Die zweite entsprang den freien Spielräumen, die im theaterwissenschaftlichen Bereich trotz des Drucks des totalitären NS -Regimes übrig blieben, während sich die dritte Praxis erst im Laufe des Entnazifizierungsprozesses entwickelte. Exkurs. Die NS-Zeit 256 <?page no="257"?> 4 Eine ganze Generation von Wissenschaftlern, die für eine deutsch-nationale bis völki‐ sche Ideologie eintraten, betonte unaufhörlich die nationale Sendung der akademischen Theaterforschung. Die 1920er Jahre waren durch die Gründung von Gesellschaften für die deutsche Theatergeschichte, für das süddeutsche Theater oder für die schweizerische Theaterkultur ebenso wie durch die Einrichtung von Theatersammlungen und die Veranstaltung von Theaterausstellungen in bedeutenden Städten geprägt. Diese Artefakte dienten zunächst dem Zweck, dem theaterwissenschaftlichen Institut und folglich der Stadt der einzelnen Veranstalter Glanz zu verleihen. Die gemeinsame Praxis antwortete daher auf die Notwendigkeit, einen präsuppo‐ nierten deutschen Nationalcharakter durch die Bewahrung und Propagierung der bodenständigen Theaterkultur zu sichern und darüber hinaus die soziopo‐ litische Bedeutung der Theaterwissenschaft herauszustellen. Das Ideal der Volksbildung, die Sympathie für nationalistische Bestrebungen 4 und der gesell‐ schaftliche Aktivismus waren also die Leitfäden der Tätigkeit der ersten Thea‐ terwissenschaftler schon lange vor der Entstehung der NS -Bewegung. Die sich wiederholenden Ideen, Diskurse und Stile dieses Beteiligungsprozesses - wie die Neigung zur völkischen Kunst, das Interesse am Ursprung des Theaters, der Rekonstruktionsdrang oder die Tendenz zur Musealisierung bzw. Kanonisie‐ rung - fanden ihre Verdinglichung gerade in der Publikation theaterhistorischer Quellen oder Beiträge, in Theatersammlungen, Theaterausstellungen und The‐ aterexkursionen, welche Gegenstand und Ansätze der neuen Disziplin popula‐ risieren konnten. Doch wäre es kurzsichtig, die soziogeographische Wirkung dieser Praxis nur im deutschsprachigen Kulturraum zu betrachten. Alle Thea‐ terwissenschaftler bemühten sich eifrig, die Rolle des eigenen Instituts und weithin der Disziplin auch im internationalen Bereich zu stärken. Ein erstes einleuchtendes Beispiel dafür liefern die Braunschweiger Faust-Ausstellungen im Goethe-Lessing-Jahr 1929, die von Carl Niessen koordiniert wurden und an denen Kutscher als Münchner Theaterprofessor teilnahm. Die Ausstellungen Faust auf der Bühne und Faust in der bildenden Kunst hatten eine große Resonanz auch im Ausland und die Veranstalter meinten damit zu beweisen, »daß es im wirtschaftlich schwerkämpfenden Deutschland, in dem scheinbar so arg zer‐ splitterten Volk noch etwas Großes, Einendes gibt: Die deutsche Geisteskultur« (Katalog 1929: 201). Der Stadtbaurat Karl Gebensleben erklärte noch deutlicher: Vergessen wir nicht, daß das Ausland, ich denke besonders an die nordischen Länder, aus deutscher Kultur schöpft. Es ist ein stummer, zäher Kampf, den das deutsche Geistesleben gegen eine verblaßte und uns wesensfremde Scheinkultur kämpft. Hier erwächst der deutschen Stadt eine Aufgabe, die des Schweißes der Edlen wert ist, in den Zeiten schwerer wirtschaftlicher Not der getreue Ekkehard der deutschen Geis‐ Exkurs. Die NS-Zeit 257 <?page no="258"?> 5 Vgl. Typoskript im Monacensia-Literaturarchiv, n. k. Kiste Familie und Ko. teskultur zu sein. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, viel weniger ein ganzes zum Licht und Aufstieg strebendes Volk. (202) Der Erfolg der Ausstellungen war Niessen recht von Nutzen, weil es ihm drei Jahre später gelang, das nachdrücklich angestrebte Theatermuseum im Stadt‐ zentrum Kölns zu eröffnen. Neben den Ausstellungen, die auch im Ausland Bei‐ fall fanden, könnte man die vielfältigen Vortragsreisen an deutschen und aus‐ ländischen Hochschulen als Erscheinungsformen dieser Praxis verstehen. Kutscher bekam beispielsweise im April 1941 die Erlaubnis, eine Vortragsreise nach Norwegen zu unternehmen. Im besetzten Oslo hielt er die Festrede für die Eröffnung des Deutschen Theaters. Der Gaupropagandaleiter und Leiter der Kulturabteilung in Norwegen, Wilhelm Müller-Scheld, hatte ihn eingeladen, einen Vortrag über die deutsche Stilkunde und zwei Vorträge über speziellere Themen zu halten. Der vielsagende Titel eines der Vorträge war Die Entwicklung des deutschen Theaters und die Beziehungen zwischen dem deutschen und norwe‐ gischen Theater; 5 hier berichtete Kutscher über die seit 1563 in Norwegen auf‐ getretenen »Überflutungen mit deutschen Schauspielern und Dramen« („Deut‐ sche Zeitung in Norwegen“ 1941: 24). Kutschers Absicht, die Bedeutung des deutschen Theaters für die Entwicklung anderer Nationaltheater zu beweisen, findet hier einen fast programmatischen Ausdruck. In der „sozialen Landschaft“ der frühen Theaterwissenschaft kann man also eine stete Wechselwirkung von lokalen Initiativen und ausländischen Kulturen und Institutionen identifizieren, die vor allem durch Sammlungen, Ausstel‐ lungen und Vortragsreisen dazu führte, eine öffentliche sowie wissenschaftliche Anerkennung für das Lehrfach zu bekommen und die deutsche Theaterkunst zu bereichern. Erwähnen muss man dabei auch, dass die besondere Aufmerk‐ samkeit für die Überreste von antiken und mittelalterlichen Theaterformen - sei es durch die Entwicklung des Mimuskonzeptes, durch die Anwendung der historischen Methode oder durch die Verteidigung des Verfahrens des wissen‐ schaftlichen Vergleichs - mit einer präfaschistischen Zivilisationskritik und mit der Nationalisierung der Kultur übereinstimmten. Die schon per se miteinander verknüpften Kerngedanken „Mimus“, „primitive Formen des Theaters“, „globale volkstümliche Kultur“ oder „deutsches Theater“ wurden in den späten 1920er Jahren in ein neues Praxissystem eingeordnet: Das Interesse für eine einheimi‐ sche Kultur verband sich mit Besitzimpulsen, Exotismus, rassistischen Vorur‐ Exkurs. Die NS-Zeit 258 <?page no="259"?> 6 In dem Tätigkeitsbericht 1927-28 des Instituts für Theaterwissenschaft an der Univer‐ sität Köln liest man zum Beispiel: »Der immer erneute Reiz organischen Wachsens und frischen Werdens aus eigener Kraft wog aber die vermehrte Mühe völlig auf und blieb Ansporn, für Westdeutschland etwas zu schaffen, das seinem unvergleichlichen ange‐ stammten Kulturbesitz noch fehlte. Daß es gelang, eine der größten Theatersamm‐ lungen der Welt mit verhältnismäßig geringen Mitteln aufzubauen, ist das Ereignis glücklicher Umstände und vielfältigen Entgegenkommens« (3). 7 »Die Teilnehmer werden in Gruppen von 20 Mann von französischen Studenten, die der deutschen Sprache mächtig sind, in Paris geführt«. So erzählte der damalige Rektor Vinzenz Schüpfer dem Staatsministerium für Unterricht und Kultus am 29. Februar 1928 (UAM, O-XIV-508). 8 Siehe dazu Kutscher 1928: 2. teilen und Legitimationsversuchen. 6 Nichtsdestotrotz können nicht alle Bezie‐ hungen zum Ausland als implizite Bestrebungen der Theaterwissenschaftler interpretiert werden, durch internationales Ansehen ihre akademische sowie politische Macht zu festigen oder zu erweitern. Aufschlussreich sind in dieser Hinsicht Artur Kutschers Lehrfahrten nach Frankreich. Zwischen Februar und März 1928 waren 181 Studenten mit Kutscher in Paris, vom 2. bis zum 16. März 1930 unternahmen 71 Kutscher-Schüler die „Theaterwissenschaftliche Exkur‐ sion nach Südfrankreich“, 1933 war wieder Paris das Ziel der Semester‐ schluss-Exkursion von Kutschers Kolleg, vom 5. bis zum 14. Juli 1937 fand schließlich die „Studienfahrt deutscher Akademiker. Paris Chartres Reims“ statt. Da die französische Kultur als Feind des germanischen Geistes im nationalisti‐ schen Deutschland betrachtet wurde, begegneten die von Kutscher or‐ ganisierten Forschungsreisen nicht nur Skepsis, sondern auch starkem Wider‐ stand. Der erste Lehrausflug wurde von der Universität völlig boykottiert: Um die Kosten zu reduzieren und sein Projekt des kulturellen Austausches zwischen jungen Leuten aus unterschiedlichen Ländern zu realisieren, verhandelte Kut‐ scher sowohl mit dem französischen Studentenwerk 7 als auch mit einem Reise‐ büro. Das entsprach der Vorstellung der philosophischen Fakultät überhaupt nicht, so dass sie sich gegen die Exkursion äußerte. Kutscher führte dann ohne die Unterstützung der Universität sein Vorhaben durch und reiste mit fast 200 Studenten nach Paris. 8 Am 3. März 1928 bekam Kutscher einen Brief vom Rektor der LMU : In der gestrigen Sitzung der philosophischen Fakultät wurde über Ihre Exkursion nach Paris verhandelt und ich teile Ihnen nachstehend folgendes mit: / Die philosophische Fakultät verlangt möglichst umgehende Heimkehr der Exkursion, für die Zwischen‐ zeit unbedingte Hervorhebung des rein privaten Charakters des Unternehmens an allen Stellen, der Sorbonne, den Theatern, Museen etc. Der Schein, als ob es sich um eine von einem Institut der Fakultät ausgehende, irgendwie mit ihr zusammenhän‐ gende wissenschaftliche Unternehmung handle, muss unbedingt vermieden werden. Exkurs. Die NS-Zeit 259 <?page no="260"?> 9 Die Feindseligkeit der Fakultät gegen Kutscher ging weiter: Im November 1928 befür‐ wortete sie nicht den von Kutscher geplanten Lehrausflug nach Süditalien und Sizilien. Das Bayer. Staatsministerium für Unterricht und Kultus drückte allerdings deutlich aus, dass Bedenken gegen die italienische Studienreise nicht bestehen (Ebd., Brief an das Rektorat der Universität München, 22. Dezember 1928). Sie missbilligt das Unternehmen ausdrücklich und wird jede Bezugnahme auf Fakultät und Universität als Missbrauch betrachten. / Ich kann den Unwillen der Fakultät ver‐ stehen, habe Ihnen mein Bedenken gegen Ihre Reise schon am 29. v. Mts. mitgeteilt und habe Ihnen nahegelegt, von Ausführung Ihres planes abzusehen. / Hochach‐ tungsvollst / Schüpfer (UAM, O-XIV-508) Kutscher antwortete am 9. März 1928 aus Paris: Magnifizenz! / Ich werde wunschgemäß möglichst umgehend die Heimkehr antreten und den hiesigen Aufenthalt abkürzen. Die Reise sofort abzubrechen ist leider un‐ möglich, weil alle Auslagen bereits gemacht sind und den Teilnehmern nicht zuge‐ mutet werden kann, dass alle ihre Aufwendungen verloren gehen. Das ist auch der Standpunkt der deutschen Botschaft, mit der ich alles eingehend beraten habe, was die Pariser Exkursion betrifft. Ich bedauere auf tiefste die Missbilligung der Fakultät, die aber doch wohl von der ganz falschen Annahme ausgeht, als sei die Studienfahrt als ein offizielles Unternehmen der Universität oder eines ihrer Institute ausgegeben worden. Es wird mir ein leichtes sein, das Gegenteil zu beweisen und Zeugen dafür anzugeben. / Hochachtend / gez. Artur Kutscher (Ebd.) Die Fakultät hielt das Verhalten des Theaterprofessors für unwürdig und erhob gegen Kutscher zwei Anklagen: die Organisation des Lehrausflugs nach Paris und die Erlaubnis, nicht eingeschriebene Hörer an seinen Vorlesungen teil‐ nehmen zu lassen. Der Rektor stellte aber am 27. Juni 1929 fest, »dass zu einem disziplinarischen Vorgehen gegen Herrn Professor Dr. Kutscher die vorhan‐ denen Grundlagen nicht ausreichen und wohl überhaupt kein Anlass vorliegt« (Ebd., Universität München Rektorat an die Philosophische Fakultät I. Sektion der Universität). 9 Im Juli desselben Jahres statteten etwa 50 kunsthistorische Studenten der Sorbonne einen Gegenbesuch in München ab. Kurz nach der Reichstagswahl fuhr Kutscher mit 133 Schüler nach Paris, wo Extrablätter »den Sieg der Nazis« verkündeten (Kutscher 1960: 217). Obwohl sich die Stimmung der französischen Studenten wegen dem nationalsozialistischen Sieg schon ver‐ ändert hatte, war die Exkursion insgesamt erfolgreich: Durch die Vermittlung von Gaston Baty, einen früheren Schüler Kutschers, besuchte die deutsche Exkurs. Die NS-Zeit 260 <?page no="261"?> 10 Am 4. März 1933 teilte das Sekretariat des Théatre Montparnasse Artur Kutscher schriftlich mit: »Après la représentation Gaston BATY vous priera de vous réunir tous au Foyer avec les membres de notre Compagnie et vous offrira, en même temps qu’une coupe de champagne, quelques remarques sur l’état actuel du Théâtre en France.« (DLA, A: Kutscher 57.4257/ 1). 11 Vgl. Hans W. Bergs eidesstattliche Erklärung für Artur Kutscher, 20. Januar 1947 (DLA, A: Kutscher 57.4267). Gruppe eine Nora-Aufführung am Théâtre Montparnasse, 10 lernte Luigi Piran‐ dello kennen - ebenfalls Besucher jener Aufführung - und bekam Kenntnis vom gegenwärtigen Theater der Franzosen. Während der NS -Herrschaft wurde die Verbindung zwischen Kutscher-Schülern und der Jugend „nicht befreundeter“ Nationen inakzeptabel, sodass die Auslandsreise nach Russland im Sommer 1933 verhindert wurde und die nach Paris im Juli 1937 von den NS -Organisationen mit größtem Argwohn bespitzelt wurde. 11 Zwei Jahre später brach Kutscher seine Exkursionen ab. Die Einrichtung des NS -Hauptamtes für Wissenschaft sowie der NS -Studen‐ tenschaft änderte den Charakter der deutschen Universität: Dadurch wurde die Universität zu einer nationalsozialistischen Festung umgebaut und die Wissen‐ schaft wurde durch die NS -Propaganda dogmatisiert. Die Aufgabe der Wissen‐ schaft war, so wurde propagiert, an der Zukunft des deutschen Volkes und an der „nationalen Ganzheitsidee“ mitzubauen. Kurzum, jede wissenschaftliche Disziplin musste zur Ideologieproduktion beitragen, auch wenn die Wissen‐ schaft für das herrschende System nur geringfügig relevant war. Darüber hinaus mussten alle Forscher, Lehrer und Studenten an einem Wissenschaftsbetrieb teilhaben, der von wechselseitigen Intrigen, Konkurrenz und Machtkämpfen besonders geprägt war (Grüttner 1998: 143 f.). Einem solchen Angriff auf die intellektuelle Unabhängigkeit der Forschung und der Universität stellten die Wissenschaftler die erzieherische Einwirkung gegenüber, die sie auf ihre Schüler hätten ausüben wollen. Die Auseinandersetzung zwischen den Wissen‐ schaftlern und den Praxen des Regimes war also unvermeidlich und die Forscher bewegten sich teilweise innerhalb, teilweise außerhalb des ihnen auferlegten Machtsystems. Wenn man heutzutage den Begriff ‚parteikonform‘ benutzt, um das Verhalten eines Individuums zu kennzeichnen, das mit den nationalsozia‐ listischen Richtlinien übereinstimmte, berücksichtigt man fast ausschließlich den Profit, der aus der Kompromittierung im Regime zu ziehen war. Was die Theaterwissenschaft angeht, versuchten tatsächlich alle führenden Dozenten, Exkurs. Die NS-Zeit 261 <?page no="262"?> 12 Grüttner betont, dass Anpassungsdruck und Anpassungsbereitschaft am stärksten in Fachrichtungen ausgeprägt waren, die ihre wissenschaftliche Etablierung dem Natio‐ nalsozialismus verdankten (1998: 146). Die Theaterwissenschaft war zweifelsohne eine dieser Disziplinen. vom Eintritt in die NSDAP zu profitieren. 12 Niessen, Knudsen und Kindermann übernahmen die Leitung eines Institutes, Kutscher durfte nach der Vollendung seines 65. Lebensjahres weiter unterrichten. Doch der Eintritt in die national‐ sozialistische Partei stellt die Frage nach den Grenzen eines nicht-konformen Verhaltens. Wenn auch die Grundgedanken und ersten ideologischen Kämpfe des Nationalsozialismus die Sympathie vieler Intellektuelle, einschließlich der ersten Theaterwissenschaftler, genossen, war Hitlers politisches System jedoch für parteiexterne Einflüsse und Hybridisierungen undurchlässig. Das bedeutet, dass die Koordinatoren der verschiedenen theaterwissenschaftlichen Institute die Entscheidung treffen mussten, ob sie lieber ihre Praxen der der NSDAP -Struktur unterwerfen oder eine gewisse intellektuelle Autonomie be‐ wahren wollten. Im ersten Fall hätten die Theaterwissenschaftler die Anforderungen, For‐ schungsmodalitäten, Lehr- und Arbeitsstrategien angenommen, die von An‐ hängern des NS -Regimes festgelegt wurden, und dieses Repertoire durch be‐ stimmte theaterwissenschaftliche Diskurse bereichert. Heinz Kindermanns Verhalten bietet ein markantes Beispiel dafür: Als Raster für die akademische Arbeit entwickelten die nationalsozialistischen Wissenschaftler Gegensatz‐ paare, und zwar inkompatible Elemente, die sich als Alternativen in einem Dis‐ kurs gegenüberstellen. Kindermann brachte diese Strategie in seiner For‐ schungs- und Publikationstätigkeit, so dass man in seinen Beiträgen zur Geschichte des deutsch-österreichischen Theaters stets die Gegensatzpaare „Dekadenz“ und „tief-gefühlte Echtheit“, „Rationalismus“ und „Seele“ oder „deutsch“ und „undeutsch“ findet. Darüber hinaus hob Kindermann unermüd‐ lich die Analogie zwischen Theatergeschichte und Volksgeschichte sowie die Komplementarität von Propaganda und Theater hervor und spielte das ganze Exkurs. Die NS-Zeit 262 <?page no="263"?> 13 Das zeigt sich am augenfälligsten an Kindermanns Theater und Nation von 1943. Schon auf den ersten Seiten liest man: »Das Drama aber, das wirkliche, vollblütige Drama, drängt nach seiner Verwirklichung im Theater! Es weiß sich nur unvollendet und in seiner Wirkungsmacht gehemmt, solange es lediglich vom Buch her seinen Weg in die Nation antreten darf.« (7); »Es gibt freilich, wie wir gleich sehen werden, auch gar manche Epoche, in denen das Theater […] zum Machtfaktor des Volkes, damit aber zur Wahrerin der deutschen Einheit und Eigenart jenseits aller vordergründig-politischen oder konfessionellen Aufspaltungen und Überfremdungen wird.« (8); »Keine andere Kunst kann sich ja, in solcher weithin nachhallenden Augenblickswirkung, mit der gemeinschaftsbildenden Kraft des Theaters messen. […] Immer vollendet sich der Kreis‐ lauf des theatralischen Geschehens erst in der Seele der Zuschauer.« (9); »So geht […] fast jeder Teilnehmer eines theatralischen Erlebnisses schließlich als ein Verwandelter nach Hause. Die Art der Verwandlung, ja Verzauberung […].«; »So kommt es, daß das Theater auch die verschiedenartigsten Geister für das gleiche Ideal zu entflammen vermag.«; »Das volksbewußt geführte Theater [gehört, C. M. B.] zu den in vorderster Linie der Kulturpolitik mitkämpfenden Kräften im ständigen Ringen um die Bewahrung der rassischen und völkischen Art.« (10). Der Abschluss von Kindermanns Betrachtungen ist eine weitere Huldigung an die nationalsozialistische Politik: Er schenkte der »he‐ roischen deutschen Stadt« Bromberg (Bydgoszcz) seine Aufmerksamkeit (56), dessen Stadttheater nach dem Versailler Vertrag zu einem polnischen Theater wurde. Die Bromberger Deutschen hatten jedoch verschiedene Ensembles gebildet und spielten Laientheater, so dass Kindermann entflammt behaupten konnte: »Der Spielplan wagte sich auch an höchstes Klassikergut - und er durfte es, dank guter Regisseure und Spieler. […] Als aber 1934 Schillers 175. Geburtstag gefeiert wurde, hatte Brombergs „Deutsche Bühne“ einen fast vollständigen Schillerzyklus zu bieten. Denn schon in der Zeit des Niedergangs, in der man in Berlin noch überheblich vom ‚Klassikertod‘ sprach, hatte man im bedrohten Land diese kommende Feier längst in stetiger künstlerischer Arbeit, freilich auch in der tiefen Erkenntnis der aufrichtenden völkischen Kraft, die von Schillers Wort und von seinem Theater des leidenschaftlichen Idealismus ausging, sorg‐ fältig vorbereitet. Und von Bromberg aus führten gar manche Gastspiele auch in die übrigen Städte des Korridors. So hat die Bromberger „Deutsche Bühne“ geholfen, das Deutschtum dieser Stadt und des Korridors wachzuerhalten, bis unsere Soldaten auch dieses Leid in Glück verwandeln konnten.« (56) (Herv. v. V.). Repertoire von nationalistischen Konzepten und Worten durch. 13 Im Fall der Autonomiebewahrung bemerkt man eine doppelte Tendenz: Einerseits be‐ mühten sich die Intellektuellen redlich, ihre Unabhängigkeit vor allem im Modus Operandi - hier im Sinne Pierre Bourdieus, und zwar als Erzeugung von Pra‐ xisformen sowie von Wahrnehmungs- und Denkschemata - zu schützen; an‐ dererseits forderten sie die »Überwindung der Autarkie auf wissenschaftlichem Gebiet durch Aufklärung über die ausländische Presse und persönliche Bezie‐ hungen zur ausländischen Wissenschaft«, so in den Worten des Zeitungswis‐ senschaftlers Karl d’Ester (in v. Bruch / Müller 1986: 268). Noch mehr als die ausländische Presse spielten das ausländische Theater und die Beziehung zur ausländischen Jugend eine tragende Rolle für die Erweiterung der deutschen Exkurs. Die NS-Zeit 263 <?page no="264"?> 14 Seine erste Anmeldung und Aufnahme in den „Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten E. V.“ traf am 5. Juli1929 ein. In der Enzyklopädie des Nationalsozialismus ist die folgende Beschreibung des Bundes zu lesen: »Der Helm besaß in der Weimarer Republik einen hohen symbolischen Wert. Namentlich innerhalb der politischen Rechten versinnbild‐ lichte er gleichermaßen das angeblich unbesiegte dt. Heer und den Mythos von der Frontgemeinschaft. […] Schon vor 1933 kam es dabei zu Annäherungen an die Nat.soz. […].« (Ulrich 1998: 745). Darüber hinaus gehörte Kutscher bis 1931 der deutsch‐ nationalen Partei, wie man aus der Ergänzung zum Fragebogen zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 (Reichsges. Blatt I Seite 175) im Besitz der LMU erfährt (UAM, E-II-2183). Theaterwissenschaft auch im Nationalsozialismus. Hierfür sei die Auseinan‐ dersetzung zwischen Artur Kutscher und der NS -Diktatur analysiert. In den 1920er Jahren hatte Kutscher zur nationalistischen Politik eine grund‐ sätzlich positive Einstellung 14 und Ende 1926 besuchte er sogar eine Rede Hitlers im Münchner „Kindl“-Keller. In seiner Autobiographie beschrieb der Theater‐ professor die »sozialistische[n] Neigungen«, die er schon als junger Mann ge‐ zeigt hatte und die Art und Weise, wie sich Hitler in die Strömung vorhandener Ideen, Sorgen und Erwartungen einfügen ließ (Kutscher 1960: 206). Der alte Leutnant der Landwehr fand in Hitlers Programm einige positive Punkte, in erster Linie die stark nationalen und sozialen Ziele, wie »Hitlers Kampf gegen die Selbstsucht wohlhabender Kreise«, die Anregung zur »deutschen Einheit unter Einbeziehung Österreichs«, »die Gedanken der Wehrertüchtigung, der Arbeitsdienstpflicht, der sportlichen Betätigung« (207). Was aber in Kutschers Worten besonders wichtig erscheint, ist die Betonung eines Faktors: Hitler ap‐ pellierte »an das Gemeinschaftsgefühl und -denken« (Ebd.). Kutschers Bestre‐ bungen für eine bedeutsame Lerngemeinschaft über die Grenzen der Theater‐ wissenschaft hinaus fanden also, so meinte er wenigstens in einer frühen Phase, in der nationalsozialistischen Bewegung eine mögliche soziale Erweiterung. Nichtsdestotrotz erblickte Kutscher unverzüglich die Fehler und Gefahren eines solchen Programms: Die Unterdrückung des Individuums, die Uniformierung der menschlichen Existenz, die im öffentlichen sowie im privaten Leben erdrü‐ ckende Übermacht der Partei soeben wie die präsupponierte Erziehung der Ju‐ gendlichen durch Hitler und dessen Anhänger waren alle Aspekte, die gegen die Kernprinzipien selbst einer CoP stießen. Die kollektive Generierung und Aushandlung von Bewertungsschemata, Interpretationen, Bedeutungen und Praxisressourcen wurde von den Parteirichtlinien verhindert und dem freien, offenen Meinungsaustausch, der Multimitgliedschaft sowie dem Aufbau eigener Identität wurde kein Wert beigemessen. Gerade deswegen war es Kutscher un‐ möglich, sich an der Universität und im Alltagsleben „parteikonform“ zu ver‐ halten - und er blieb immer für die Philosophische Fakultät sowie für das Regime Exkurs. Die NS-Zeit 264 <?page no="265"?> 15 Der Ausdruck »Alles in Allem: Keine eindeutige Persönlichkeit«, den der Dekan der Phil. Fakultät am 1. Juli 1939 benutzte, um dem Rektor der Universität zu München Artur Kutscher zu beschreiben und dessen Ernennung zum außerplanmäßigen Professor »in Anbracht des vorgeschrittenen Alters« zu befürworten, kehrt auch im Titel von And‐ reas Englharts wichtigen Beitrag über die Münchner Theaterwissenschaft im Dritten Reich wieder. Es lohnt sich, seine Schlussfolgerungen ausführlich zu zitieren: »Die un‐ freundlich gemeinte Bewertung des bei seinen Studenten beliebten und in Künstler‐ kreisen geachteten „Theaterprofessors“ bezog sich auf eine individualistische Persön‐ lichkeit, die sich nicht als wendiger Opportunist offenbarte, jahrelang in kleinem Kreis renitent verhielt und so bis zuletzt verdächtig blieb, sich also letztendlich doch auf ihre Art dem NS-System entzog.« (2008b: 61). »[k]eine eindeutige Persönlichkeit« ( UAM , E- II -2183). 15 Die starke, charisma‐ tische Persönlichkeit Artur Kutschers, die aus der Perspektive der Parteian‐ hänger eine Tellermine war, stieß auf zunehmenden Widerstand, der auch nach seinem erzwungenen Beitritt zur NSDAP unvermindert weiterging. Über den ersten formalen Zusammenstoß mit dem Nationalsozialismus erzählte Kutscher selbst: Während einer sog. Schulungstagung für die Lehrerschaft widersprach der Theaterprofessor offensichtlich den Parteireferenten, weil er mit deren Be‐ griffsdeutung von Heroismus nicht übereinstimmte. Die Hörerschaft stand in Kutschers Bann, doch seine Ideen und vor allem seine kritische Verhaltensweise konnte von Anhängern des Regimes nicht toleriert werden: Ein Schreiben der Partei erklärte ihm, »heute sei endlich der Liberalismus und Individualismus überwunden und an dessen Stelle der Gemeinschaftsgedanke gesetzt«, man müsse die Anschauungen der Partei durchaus gelten lassen (Kutscher 1960: 208). Die lebendige Praxis einer Lerngemeinschaft sah sich plötzlich in einem uniformierten und uniformierenden „Gemeinschaftsgedanken“ verwandelt. Die Münchner theaterwissenschaftliche Lerngemeinschaft rebellierte letztendlich gegen eine solche Herrschaft. Die stille Rebellion des Kutscher-Kreises fand sowohl in Seminarräumen als auch außerhalb des Universitätsgebäudes statt. Was Kutschers Kollegs betrifft, las der Professor über jüdische, emigrierte und missliebige Dichter wie Bruno Frank, Haarbeck, Hofmannstahl, Klabund, Oskar Maria Graf, die Gebrüder Mann, Mombert, Ringelnatz, Roda-Roda, Schnitzler, Werfel und manchmal sogar Brecht. Der Schriftsteller Georg Schwarz erklärte eidesstattlich, Kutscher habe ihn, der in der NS -Zeit als persona non grata galt, »vor Studenten zwei- oder dreimal rückhaltlos gewürdigt«. Schwarz konnte dabei aus seinem Buch Pferrer von Stetten vorlesen, »in dem Anspielungen auf die Gewaltherrschaft der Dummen und eine Parallele Goliath-David enthalten war, die den Nazis übel in die Nase stach« ( DLA , A: Kutscher 57.5255/ 2). Kutscher behandelte fernerhin Heinrich Heine, die Literatur sowie das Theater des Expressionismus und von Exkurs. Die NS-Zeit 265 <?page no="266"?> 16 Darin fand Kutscher besonders negativ die Tatsache, dass das rein Mimische durch statuarische Stellungen, große Geste, starre Regeln für Dramatiker, Bühnenbilder, Schauspieler und Regisseure unterdrückt war. Als Ergebnis ließ das Thingspiel »keine innere Bewegtheit zu« (Kutscher 1960: 212). Zu diesem Thema siehe auch Kutschers Brief vom 5. Mai 1936 an Schaar, wo der Münchner Theaterprofessor Robert Stumpfls Anschauung kritisierte. Stumpfls These besagte, das dramatische Theater allein, das aus dem Kult stamme, könne »ein „nordisches Theater“ als „metaphysisches Erleben“ und „raumbedingte Handlung“ ermöglichen« (Biccari 2001: 230, Anm. 42). Eine solche Trennung zwischen mimischem und dramatischem Theater existierte für Kutscher »ja nur im Gehirn eines Universitätsprofessors, sie ist nicht nur eine ganz falsche Formu‐ lierung, sondern auch ein Missverständnis, das seinen Höhepunkt erreicht, wenn man meint, auf das dramatische Theater, auf die kultische Feier allein komme es an. Damit schneidet man die heute noch treibende Wurzel ab und beraubt sich der Möglichkeit des Einflusses, den man doch gerade heute erstrebt, auf das Volk. Das Nationaltheater Stumpfls als Kultstätte der Nation, das Theater mit Drama ohne Mimus ist ein Homun‐ kulus. Es gab nie ein grosses nationales Theater ohne Mimus und Drama zusammen, und es gab nie einen grossen Dramatiker ohne Mimus und Drama. (Monacensia, n. k.). 17 Um einen Eindruck über die Ergebnisse des Kutscher-Tests im Laufe der Zeit zu be‐ kommen, siehe die Graphik im Spiegel-Artikel „Züchtung junger Krokodile“ (1950: 40). anderen als „Verfallskultur“ gebrandmarkten Strömungen; die Parteipoeten wurden indessen nicht verherrlicht und die Stücke für den Thingplatz als „un‐ theatralisch“ betrachtet. 16 Diese Freiheit in den Lehrinhalten und in der litera‐ rischen Bewertung verursachte wiederholte Angriffe auf Kutschers Lehrtätig‐ keit und auf seine Hörerschaft. Hans W. Berg erinnerte sich an die »Protestkundgebungen der Studenten des sogenannten N. S. Stammhauses, die sich gegen Prof. Kutscher ebenso wie gegen den engeren Kreis seiner Schüler richteten«. Im Wintersemester 1935 / 36 trat man sogar an ihn, als Hörer der von Kutscher geleiteten stilkritischen Übungen zum Thema „Bühne, Funk und Film“, mit dem Ersuchen heran, sich »an den Ausschreitungen zu beteiligen, mit der Begründung, man wolle einen Universitätsskandal inszenieren, um damit die Entlassung Prof. Kutschers zu erzwingen« ( DLA , A: Kutscher 57.4267). Was man Kutscher damals vorwarf, kann man heute von vier zwischen 1935-36 in der Reichszeitung des NS -Studentenbundes „Die Bewegung“ erschienenen Artikeln lesen. In den ersten drei - Wir feiern Auferstehung in „Dichterkreisen“. Gedanken zur diesjährigen Dichterwahl eines Kritiksalons an einer deutschen Hochschule, Kutscher und die Elefanten. Eine Vergleichsbetrachtung und Parlamentarische Dichterwahl. „Zeitgemäße“ Methoden in der literarischen Kritik - inkriminierte der NS -Studentenbund die Lehrmethoden Kutschers und die Ergebnisse seines berühmten Tests, der auf Anregung des Pen-Clubs jedes Jahr stattfand. Bei jenem Test fragte Kutscher seine Schüler nach den zwanzig bedeutendsten deutschen Schriftstellern der letzten 50 Jahre und die Öffentlichkeit wartete immer gespannt auf die Erkorenen jedes Jahres. 17 Exkurs. Die NS-Zeit 266 <?page no="267"?> Im Juni 1936 wurde die Dichterwahl im Kutscher-Kreis auf folgende Weise beschrieben und kommentiert: Zuerst wurden in einer „Vorabstimmung“ die 20 besten Dichter durch den bekannten Zählvorgang ausfindig gemacht. Das Ergebnis sah so aus: 1. Mann 11. H. Stehr 2. Carossa 12. Wedekind 3. Hauptmann 13. Hans Grimm 4. Rilke 14. Johst 5. Bindig 15. Blunck 6. George 16. Dehmel 7. Hofmannsthal 17. Hesse 8. Seidel 18. Morgenstern 9. Wiechert 19. Liliencron 10. R. Huch 20. Strauß Also, Thomas Mann mit dem unsicheren Lebensgefühl stand dabei an erster Stelle, der Jude Hofmannsthal an siebenter, der Sexualpsychopath Wedekind, über den eine schöne Gesamtausgabe erschienen sein soll, immerhin noch vor Grimm, Johst und Blunck. […] Diese obengenannten Dichter, als die zahlenmäßig Besten der Gegenwart, wurden nun der Hauptabstimmung für würdig erachtet, in der sie „richtig umgrup‐ piert“ werden sollten. Nun setzte sich wiederum das große Wählen ein, und das Ergebnis wurde in der nächsten „Stunde der literarischen Kritik“ nach einer würdigen Vorrede verkündet. 1. Rilke 11. Stehr 2. Carossa 12. Dehmel 3. George 13. R. Huch 4. Mann 14. Liliencron 5. Hauptmann 15. Grimm 6. Hofmannsthal 16. Morgenstern 7. Binding 17. Wedekind 8. Hesse 18. Blunck Exkurs. Die NS-Zeit 267 <?page no="268"?> 18 Diese Zeugenaussage gehört zur eidesstattlichen Erklärung, die Ende November 1946 von Falk Harnack, Georg Philipp, Herbert Günther, Alfred Dahlmann, Kurt Desch, Friedhelm Kemp, Georg Gustav Wieszner, Heinz Böhmler und Gunter Groll als ersten unterschrieben wurde (DLA, A: Kutscher 57. 4574). 9. Seidel 19. Strauß 10. Wiechert 20. Johst Thomas Mann, mit dem unsicheren Lebensgefühl war demnach „endgültig“, aber „zum erstenmal seit vielen Jahren“ von der allerersten Stelle der bedeutendsten deutschen Dichter „sicherheitshalber“ auf die 4. Stelle gerückt. […] Ganz still war’s im Hörsaal 331. Ganz still. Eingeweihte und Bodenseereisende hätten die warnende Stimme von Hugo von Hofmannsthal hören können, oder die von Frank Wedekind, über den eine schöne Gesamtausgabe erschienen sein soll. Aber man hörte sie nicht. Vielleicht machten sie auch deshalb keine zustimmend-höfliche Bewegung, weil ihre Hände noch so weh taten vom vorigen Mal, als die tapferen geheimen Wähler am Ende der Stunde fünf Minuten Generalmarsch auf den ehrwürdigen Bänken schlugen und der Professor sich bedankte „für das Vertrauen“. (14) Der „politisch unerwünschte“ Thomas Mann lag viele Jahre an der ersten Stelle der Liste, was sogar zu einer kollektiven „Thomas-Mann-Demonstration“ führte: Kutscher und seine Schüler demonstrierten öffentlich für Thomas Mann und gegen die nationalsozialistische Kulturpolitik. Als Folge darauf wurden Kut‐ schers Vorlesungen von Nazi-Studenten und SS -Männern weiterhin gestört. 18 Schließlich erschien der Artikel „Höchst fatal! Zum Fall Kutscher, München“, in dem man sich gegen Kutscher, gegen seine Übungen für literarische Kritik und gegen seine Lerngemeinschaft äußerte: »Falls in Zukunft nur im entferntesten ähnliche Vorfälle uns zu Ohren kommen sollten, werden wir rücksichtslos aus‐ kehren. Dies möge unsere letzte, eindringliche Warnung sein! Der Öffentlichkeit geben wir hiermit bekannt, daß der Kutscher-„Kreis“ aufgelöst ist« (4). Theodor Schierbel, der damalige Kutscher-Senior, wurde von der Gestapo eingesperrt und dazu »gab es in der Münchner Universität Unruhen und Schlägereien zwi‐ schen NS -Studenten und Kutscherschülern« (aus Gunter Grolls eidesstattliche Erklärung in DLA , A: Kutscher 57.4574). Nach jener Sitzung erzwang der Ver‐ treter der NS -Dozentenschaft Robert Spindler eine persönliche Aussprache mit Kutscher und am 25. August 1936 referierte er dem Dekan der Philosophischen Fakultät W. Wüst, Kutscher habe als Antwort auf das Geschehene nur seinen 20jährigen Kampf gegen das Judentum betonen können. Spindler hatte ihm je‐ doch nicht geglaubt: »Ich entgegnete ihm, dass ich das beim besten Willen nicht glauben könnte angesichts des nunmehr zutage liegenden traurigen, ja empör‐ Exkurs. Die NS-Zeit 268 <?page no="269"?> 19 Es stimmt, dass Kutscher 1939 Max Reinhardt in Vom Salzburger Barocktheater zu den Salzburger Festspielen diffamierte, doch dieser antisemitische Angriff war eher ein äu‐ ßeres Zeichen der Anpassung, um die Genehmigung zur Veröffentlichung des Werkes zu erhalten, als der Ausdruck einer Überzeugung. Max Reinhardt war schon mehrmals wegen seiner Regievorstellung von Kutscher kritisiert worden, doch der Theaterpro‐ fessor habe Reinhardts Bedeutung für die Entwicklung des Theaters nie angezweifelt. Die Diffamierung Reinhardts entsprach also dem Versuch, von der NSDAP wirtschaft‐ liche Hilfe zu bekommen, und aus demselben Grund sandte Kutscher Joseph Goebbels am 7. September 1939 seine Arbeit über Salzburg zu. Goebbels hatte aber angeblich zu viel zu tun, um sich mit dem Buch befassen zu können (vgl. DLA, A: Kutscher 57.4530 / 3). 20 Zwischen 1927 und 1930 waren die als „Halbjuden“ eingestuften Hans Nassauer, Edith Rosefeld, Werner Cahn-Bieker, Robert Rohrer (Bobby Todd) und Gerda Caspary »be‐ geisterte Anhänger« von Kutscher - so nach der eidesstattlichen Erklärung von Herbert Decker (DLA, A: Kutscher 57.4400). 21 Tremel-Eggert hätte aus ihrem neuen Roman Barb lesen sollen. enden Ergebnissen, und rügte gleichzeitig seine vor etlichen Jahren nach Sow‐ jetrussland unternommene theaterwissenschaftliche Exkursion. Ich bedeutete ihm, dass ich diese für reichlich überflüssig gehalten hätte« ( UAM , O- XIV -508). Was die 1932 unternommene Exkursion nach Russland durchaus verdächtig machte war nicht nur das Ziel, sondern auch der einzige Münchener Dozent, der Kutscher und seinen Schülern begleitete: August Gallinger, ein Jude. Trotz Kutschers Äußerung an Spindler, er habe ständig in seiner Hörerschaft gegen die Juden gekämpft, benahm sich der Theaterprofessor bekanntlich weder an‐ tisemitisch noch rassistisch: Er würdigte immer den künstlerischen Beitrag jü‐ discher Dichter oder Theaterleute 19 , pflegte einen internationalen Schülerkreis, hatte viele jüdische Freunde 20 , ermöglichte politisch und rassisch Verfolgten das Studium, wie z. B. Herbert Hohenemser und Georg Philipp, und akzeptierte als Gäste in seinen Vorlesungen diejenigen Schüler, die Mischlinge waren und daher keine regulären Hörer werden konnte, wie Wilhelm Hausensteins Tochter. In einem Brief an der fränkischen Dichterin Kuni Tremel-Eggert vom 13. Juni 1933 findet man einen weiteren Beweis für Kutschers Verhalten gegenüber jüdischen Studenten: Sehr geehrte, gnädige Frau! / Mein Senior Herr Hefter hat mir Ihre Bedingungen für den Autorenabend mitgeteilt. Ich muss dazu bemerken, dass sich unter meinen 500 Schülern 2 Juden befinden, die seit längeren Semestern bei mir an ihrer Dissertation arbeiten. Sie werden zwar vielleicht an jenem Abend garnicht erscheinen, aber sie auszuschliessen habe ich als Universitätsprofessor auch garkein Recht. Da ich Ihnen in Ihrem Verhältnis zum Bayerischen Rundfunk jedoch keinerlei Unannehmlichkeiten machen möchte, müssen wir leider auf den Abend, auf den wir uns schon gefreut hatten, verzichten 21 . An Ihrer Stelle wird der Hörspielregisseur unseres Bayerischen Exkurs. Die NS-Zeit 269 <?page no="270"?> 22 Über die Schwelle von 1935, als Goebbels die bedeutendsten Kabaretts Deutschlands verbot, musste auch die Tätigkeit des rein unpolitischen Kabaretts der „Vier Nach‐ richter“ unterbrochen werden, wegen »mangelnder Zuverlässigkeit und Eignung im Sinne der nationalsozialistischen Staatsführung« (Hippen 1978: 106). 23 Hans Heinzel erinnerte sich an die »ewige[n] Kämpfe« der Spielschar Kutschers, um ihre Aufführungen vor den Nazibehörden zu bewahren, wie z. B. die »intellektuelle[n] Szenen« zu Kutschers Geburtstag 1942 oder eine Molière-Aufführung im Jahr 1943 (eidesstaatliche Erklärung, SpkA K 2568 Kutscher Artur). Rundfunk Alois Johannes Lippl lesen. / Mit vorzüglicher Hochachtung […] (DLA, A: Kutscher 57.5350) Gerade die Autorenabende wurden von Hitlers Anhängern für unerträglich ge‐ halten, weil sich der Kutscher-Kreis durch solche periodischen, organisierten Zusammenkünfte verstärkte und weiterentwickelte. Die politisch unzuverläs‐ sige Lerngemeinschaft wurde von den Nazis als Gegenbeispiel zur Partei‐ struktur angesehen, wie Max Schreiber (2008) bezüglich des Altparteigenossen Max Pfundtner nachweist. Pfundtner wollte sich 1938 im Rigorosum von Kut‐ scher prüfen lassen, Wüst lehnte den Vorschlag allerdings ab und verwies auf Herbert Cysarz, den neuen ordentlichen Professor für Germanistik. Pfundtner erwähnte dann seine Verdienste um die NSDAP -Bewegung und konnte sich schließlich durchsetzen. Den Brief, den Pfundtner am 24. November 1938 an Wüst sandte, kommentierte Schreiber so: »Er [Pfundtner, C. M. B.] verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, daß der Dekan „einem alten Nazi zum Abschluß seiner akademischen Laufbahn“ nicht noch „formelle Schwierigkeiten“ in den Weg legen werde. Wüsts Misstrauen gegen ihn sei unberechtigt, da er nicht zu „jener liberalen ‚Schwabingclique‘ gehöre, die bekanntlich einen Teil der Schülerschaft von Prof. Dr. Kutscher ausmache“« (126 f.). Die Autorenabende der liberalen Clique, durch welche die jungen Theater- und Literaturwissenschaftler in per‐ sönliche Beziehung zu vielen vom Dritten Reich verbotenen Künstlern traten, wurden im Winter 1938 nach gewalttätigen Angriffen und tiefer Entmutigung unterbrochen (Kutscher 1960: 215). Dasselbe geschah mit der Tafelrunde „Das Junge Krokodil“, zu dessen Gästen auch Persönlichkeiten wie der sozialdemo‐ kratische Justizminister Johannes Timm gehörten. Da die NS -Kulturpolitik jede Theateraufführung kontrollieren wollte und da sie Humor, Ironie und Spott kaum ertrug, verbat sie die von Kutscher-Schülern begründete Theatertruppe der „Vier Nachrichter“ 22 und begrenzte maßgeblich die theaterpraktische Betä‐ tigung der jungen Gemeinschaft um Kutscher. 23 Bei Friedhelm Kemp heißt es diesbezüglich: Exkurs. Die NS-Zeit 270 <?page no="271"?> 24 »Mein lieber Hanns! / Vor über einem Jahre versprachst du mir wirtschaftliche Hilfe binnen Wochen durch Vermittlung beim Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Selbst wenn man abgelehnt hat, wäre mir Mitteilung lieber als Schweigen. Mir bleibt nur die Wahl zwischen einer halbtätigen Nebenbeschäftigung als rede- und schreibgewandter Universitätsprofessor oder einer Bewerbung im Ausland. Ich habe aber inzwischen meine Grundrisse der Theaterwissenschaft mit dem zweiten Bande abgeschlossen, […] und gehe jetzt an meine Deutsche Stilkunde. Dabei öffnet sich keine Pforte, obgleich doch die Häuser leer sind. Bitte sieh Dir doch mal die Ruine unserer Fakultät an! Ist es nicht erstaunlich, dass man sowas überhaupt druckt? « (DLA, A: Kut‐ scher 57.4761). 25 Nach Kutschers Erzählung (1960: 216). Der Briefwechsel zwischen Kutscher und Johst brach tatsächlich 1938 ab. Arthur Kutscher veranstaltete auch Faschingsfeste, die sich großer Beliebtheit er‐ freuten. Sie fanden meinst im Hotel „Bayerischer Hof “ statt. Auf dem Faschingsfest im Februar 1935 spielten wir einen frech-verwegenen musikalisch-literarischen Sketsch, der den Titel trug „Die Volksverstückler oder Scholle auf Taille“, ein kaba‐ rettistischer Ulk mit deutlichen ironischen Ausfällen gegen die in Schwabing gekom‐ menen Volksstücke. Das war allerdings unser letzter Streich. Zwei Jahre später war Arthur Kutscher so heftigen Angriffen ausgesetzt, daß er sich fluchtartig nach Berlin begab, um bei seinem ehemaligen Schüler und Freund Hanns Johst, dem Leiter der Reichsschrifttumskammer, Schutz zu suchen. Da gab es nur eines: Kutscher kam ge‐ schmückt mit dem Parteiabzeichen zurück und grüßte nun mit dem deutschen Gruß. Keiner seiner Schüler brauchte das ernst zu nehmen. Keiner hat es ihm verübelt. (1999: 140) Was darauf folgte, war eigentlich eine allmähliche Anpassung an das Partei‐ diktat: Nach einem verzweifelten Brief vom 9. Oktober 1937 an Hanns Johst, in dem sich Kutscher über seinen wirtschaftlichen Zustand beklagte und Johst um Hilfe bat, 24 und nach der lapidaren Antwort Johsts am 12. desselben Monats, er habe alles Mögliches getan, mehr könne er nicht ( DLA , A: Kutscher 57.4761 / 37), besuchte der Theaterprofessor den damaligen Präsident der Reichsschrift‐ tumskammer. Von dem früheren Lieblingsschüler Kutschers kam aber keine Hilfe und somit war eine jahrelange Freundschaft zu Ende. 25 Im Juni 1938 bewarb sich Kutscher vergebens um das Ordinariat für Germanistik, nachdem Walter Brecht aus politisch-rassistischen Gründen in den Ruhestand erzwungen wurde; am 7. September 1938 trat Kutscher in den NS -Reichskriegerbund ein und ar‐ beitete weiter an seinen Büchern. »Sein weiteres Verhalten gegenüber der Uni‐ versität und den NS -Vertretern der Dozenten- und Studentenschaft war von zunehmender Angst und Sorge um seine finanzielle Zukunft geprägt« - so re‐ sümiert Andreas Englhart treffend (2008a: 881). In den ersten Jahren des Krieges unternahm Kutscher mehrere Vortragsreisen, z. B. nach Frankfurt, Düsseldorf Exkurs. Die NS-Zeit 271 <?page no="272"?> 26 Kutscher hatte Ende 1941 bereits eine tiefe Trauer über die Ermordung seines kleinen peruanischen Enkels erlebt. Olaf Laksberg, der sowohl die Ehefrau als auch die jüngste Tochter Artur Kutschers kennenlernte, erzählt, dass der kleine Alfredo Acha mit vier anderen Kindern »in einem Kinderheim mit großer Wahrscheinlichkeit umgebracht« wurde (2000: 157). 27 Vgl. Englhart 2008a: 883, Anm. 127. Hamburg und Berlin, zur Filmakademie. Doch die Vortragstätigkeit reichte nicht aus, um seine große Familie zu ernähren und seiner ersten Frau Unterhalt zu zahlen: 1940 sprach Kutscher von unproduktiver Arbeit und einem Gefühl der Verlassenheit; wegen einer Quetschung der Wirbelsäule und einem dadurch verursachten schmerzhaften Nervenleiden wurde er für das Sommersemester 1941 entlastet und man ließ durchblicken, dass er bei längerem Aufschub der Parteimitgliedschaft Amt und Pension hätte verlieren können (Kutscher 1960: 229). Höchstwahrscheinlich auch auf Druck seiner Kinder fasste Kutscher den Entschluss, offiziell in die NSDAP einzutreten. 26 Am 5. Dezember 1941 bekam die NSDAP Ortsgruppe München-Biederstein Kutschers Aufnahmeantrag und am 10. August 1942 traf seine Mitgliedskarte ein. Was Kutscher dem Rektor der Universität München Anfang Oktober 1942 schrieb, und zwar dass er glaubte, seine Bewerbung um Mitgliedschaft sei schon seit ein Paar Jahren genehmigt worden, 27 aber dass die genehmigte Mitgliedschaft eigentlich die seines früher angemeldeten Sohnes war, scheint eher eine Ausrede zu sein. Der Sohn Hubert fiel am 5. September 1942 an der Ostfront, bei einem Vorstoß am Südhang des Kaukasus, und die Nachricht des Hinscheidens bekam Kutscher erst am 30. Sep‐ tember. Im Nachlass Kutschers befindet sich aber die Mitteilung der NSDAP -Ortsgruppe München-Biederstein, die feierliche Vereidigung Artur Kutschers finde am Freitag den 14. August 1942, um 20 statt (Monacensia, n. k.) - das bedeutet, Kutscher hatte vor 1941 / 1942 die Aufnahme in die NSDAP noch nicht beantragt. Im Sommersemester 1943 unternahm die Münchner Universität den Versuch einer sofortigen Entlassung Kutschers. Als Begründung dafür wurden seine liberale Haltung, seine andauernde Kritik am Nationalsozialismus in seinen Vorlesungen sowie seine Freundschaft mit politisch unerwünschten Künstlern genannt. Doch Hans Heinrich Borcherdt wurde nach Königsberg ge‐ rufen und die Münchner Theaterwissenschaft wäre fortan nicht mehr vertreten gewesen. Als Vollendung des Plans, in der „Hauptstadt der Bewegung“ ein Reichsinstitut für Theaterforschung und ein Reichstheatermuseum einzu‐ richten, hätte Carl Niessen im Mai 1943 als Honorarprofessor für Theaterwis‐ senschaft angestellt werden sollen. Ein regelrechter Kampf um die Spitzenstel‐ lung im theaterwissenschaftlichen Bereich brach aber aus - und zwar zwischen Niessen und Kindermann -, an dessen Ende die Pläne zur Gründung des Reichs‐ Exkurs. Die NS-Zeit 272 <?page no="273"?> 28 Siehe dazu Englhart 2008a: 884. 29 Eine fragmentarische Beschreibung der Ereignisse findet man in Gerd Simons Lebens‐ chronologie von Carl Niessen, die er mit den Quellen aus dem GIFT-Archiv zusam‐ menstellte (2005). instituts in München durch Führererlass blockiert wurden. In München hatte in der Zeit die Zerstörung durch Bombenangriffe begonnen, eine Honorarpro‐ fessur wäre für die Universität zu teuer gewesen und Niessen hatte fernerhin seine Unterrichtstätigkeit in Köln nicht aufgegeben: Um die Gelegenheit einer Weiterbeschäftigung an der Münchner Theaterwissenschaft nicht zu verpassen, bemühte sich Kutscher, dem Dekan der Philosophischen Fakultät und dem Rektor öffentlich zu zeigen, er habe sich schon immer antisemitisch verhalten. 28 Dirlmeier und Wüst lehnten tatsächlich Niessens Berufung zum Honorarpro‐ fessor ab und Kutscher konnte in München weiter arbeiten. 29 Als Schlussbe‐ merkung zum Thema sei nur hinzugefügt, dass Kutscher sicherlich vom Eintritt in die NSDAP profitiert hat, im Sinne einer hauptberuflichen Lehrtätigkeit auch während der NS -Diktatur und eines ausreichenden Unterhalts im Krieg; eine akademische Karriere konnte er aber nicht machen. Im Gegensatz zu anderen Münchner Kollegen und anderen Theaterwissenschaftlern wurde er immer von der Partei mit Abstand bzw. mit Verdacht behandelt und blieb akademischen sowie politischen Machtstellungen weit entfernt. Wie gerade dargelegt, nahmen die wichtigsten Persönlichkeiten der Theater‐ wissenschaft an unterschiedlichen Praxen teil, die sich entweder ins totalitäre System des Nationalsozialismus eingliederten oder sich als einzige mögliche Alternative dazu, als Lern- und Wissensstrukturen profilierten - andernfalls hätten sie sich ins Privatleben ziehen müssen oder ins Ausland emigrieren. Die Definition der eigenen Identität sowie der Partizipation an Gruppierungen ver‐ schiedener Arten und / oder an authentischen Lerngemeinschaften hing von der Beziehung zwischen Wissenschaft, Universität und gesellschaftlich-politischer Macht ab. Diese Verknüpfung wurde beim Ende des Krieges noch komplizierter und ging mit dem Entnazifizierungsdiskurs einher. Selbstverständlich traten neue Subjekte in den Vordergrund, wie die Besatzungsmächte oder die Entna‐ zifizierungskommission, doch die Intellektuellen strebte heftig danach, die Be‐ deutung, den Wert der eigenen Existenz zu finden und sich dadurch als Mitglied einer neuen oder einer alten Arbeitsgruppe vorzustellen, zu deren Entwicklung alle Mitglieder beitragen konnten. Wissenschaftler und Intellektuelle mussten daher ihre Beziehung denen gegenüber neu konfigurieren, die die Macht jetzt ausübten, ihre politische Vergangenheit und ihre individuellen Entscheidungen verarbeiten, ihre Verhaltensweise dem neuen Weltbild anpassen und die Rolle, Exkurs. Die NS-Zeit 273 <?page no="274"?> 30 Laut Schreiben vom 12. November 1946 vom Amt der Militärregierung für Bayern: Teaching Staff of Munich University. die sie zukünftig in der Gesellschaft innehaben wollten, neu bestimmen. Sie mussten auch Geschichte und Erzählungen erfinden, die dazu verhalfen, die Schande der nazistischen Vergangenheit zu überwinden, die Gegenwart zu be‐ wältigen und der Zukunft eine neue Richtung zu geben. Als Subjekte findet man immer leidende, reumütige Individuen, die das Vaterland nicht verlassen haben, um von dort aus das ganze Volk oder die Jugend angeblich zu unterstützen. Vor den ausländischen Besatzungsmächten oder vor den einigen, die das Land ver‐ lassen hatten, stellten sie in Frage, dass es eine absolute Wahrheit gebe, und zeigten hingegen die Erlebnisse auf, die sie erleiden mussten. Sie definierten explizit, aus welchen Gründen sie sich letztendlich der Diktatur Hitlers ange‐ passt hatten - z. B. um ihre Familie zu versorgen und / oder durch Annahme eines formellen Beitritts zur NS -Partei die Möglichkeit zu haben, auf einem so wichtigen Platz weiterhin in positivem Sinn auf die Gesellschaft einwirken zu können. Was die Theaterwissenschaft betrifft, versuchten die wichtigsten deut‐ schen Exponenten, sich persönlich zu rehabilitieren - wie im Fall Kutschers und Niessens - oder die eigenen Leistungen in der Zeit vor dem Nazi-Regime her‐ vorzuheben - wie Kindermann und Knudsen. Bei der Rehabilitation ihrer ei‐ genen Persönlichkeit übersahen sie aber die Notwendigkeit, die Theaterwis‐ senschaft von der offensichtlichen Verstrickung mit der NS -Kultuspolitik von Grund auf neu aufzubauen. Gerade in der Gesellschafts- und Wissensstruktur des Nationalsozialismus gelang es der Wissenschaft des Theaters, »eine gleich‐ berechtigte Aufnahme in den Kreis der Wissenschaften« zu erreichen, weil sie sich als Bildungswissen des deutschen Volkes deklarierte und zur Ideologiebil‐ dung des Nationalsozialismus beitrug (Haarmann 1974: 305). Wenn man den Entnazifizierungsprozess von Artur Kutscher verfolgt, geht deutlich hervor, wie die Theaterwissenschaftler nach 1945 weder die Forschungsmethoden noch die Grundkonzepte ihres Fachgebietes revidierten und weiterhin an der Universität unterrichteten, so als ob NS -Diktatur, -Propaganda und -Kriegsverbrechen nie existiert hätten und so als ob alles wie früher werden könnte. Im Winter 1945 / 46 wurde Kutscher des Dienstes enthoben; bereits am 26. Juni 1946 war er jedoch wieder in seinem Amt. Am 13. November 1946 wurde der Theaterprofessor erneut aus seiner Stellung an der Universität München entlassen, 30 die Nachricht las er in der Tagespresse: Am Samstag, 16. November 1946, unter der Rubrik „Die Entlassung an deutschen Hochschulen“, befand sich auch Kutschers Name. Die Begründung für die Dienstenthebung war, es fehlten diesen Dozenten »die politischen, liberalen und moralischen Qualitäten, die zur Exkurs. Die NS-Zeit 274 <?page no="275"?> 31 Die offizielle Mitteilung seiner Entlassung erhielt er erst am 30. November. 32 Die anderen waren Rudolf Bach, Alfred Dahlmann, Herbert Decker-Regensburg, Kurt Desch, Gunter Groll, Falk Harnack, Rudolf Meyer Ulm, Walter von Molo, Arnulf Schröder, Karl Ude und Georg Gustav Wieszner. Entwicklung der Demokratie in Deutschland notwendig sind«. In der Zeitung hieß es weiter, dass sich solche Dozenten eine Ehre daraus gemacht hätten, dem nationalsozialistischen Wissenschaftsbetrieb als Hörige zu dienen. Insgesamt wurden 33 Dozenten durch die Spruchkammer entlassen. Kutschers lapidare Eintragung in sein Tagebuch lautet: »Nun doch entlassen! « (Monacensia, n. k.). 31 An demselben Tag richtete Kutscher einen Notruf an seine Freunde, Kol‐ legen und ehemalige Schüler, wo er um Unterstützung für seine akademische Wiedereinsetzung bat und darauf hindeutete, dass er ansonsten keine andere Möglichkeit sehe, als nach Lima auszuwandern, um dort weiter lehren zu können. Hanns Braun, einer der Ersten, an den der Brief adressiert worden war, 32 empfahl Kutscher Folgendes: »Das erste, was es zu tun gäbe, falls Du es nicht schon getan, ist: die Spruchkammerentscheidung herbeiführen; es sollte Dir ja eigentlich nicht schwer fallen bei Deiner Vergangenheit und Deinen Schwierigkeiten im 3. Reich als Entlasteter herauszukommen. […] Daß Du in die Lage gebracht wirst, nach Peru auswandern zu sollen, ist ja grotesk.« ( DLA , A: Kutscher 57.4338). Gunter Groll, damals Lektor für den Zinnen-Verlag Kurt Desch, erklärte sich mit Falk Harnack und Rudolf Bach auch sofort dazu bereit, gegen Ende 1946 so viele Unterschriften wie möglich für die zu Kutschers Re‐ habilitierung verfasste Erklärung zu sammeln. Groll skizzierte die Stationen der sogenannten „Aktion-Kutscher“ in einem an Kutscher adressierten Brief vom 21. November 1946: Lieber, verehrter Herr Professor! Wir haben bis jetzt folgendes unternommen: 1. Ich habe beiliegende Erklärung, beziehungsweise Petition verfasst. Sie wird jetzt den in Frage kommenden Leute zur Unterschrift zugesandt (diesen Teil der Aktion führt Harnack durch) und geht dann an die Militärregierung, an das Kul‐ tusministerium, an das Sonderministerium für Denazifizierung (Minister Pfeiffer), das Rektorat und die Presse. Bitte verwenden auch Sie sie für die Spruchkammer. 2. Jeder von uns schreibt außerdem noch eine eidesstattliche Erklärung, bzw. Bürg‐ schaft. Diese Erklärungen werden in der Dramaturgie des Staatstheaters gemeinsam von Falck Harnack und Rudolf Bach gesammelt, bearbeitet und zu einem Entlastungsakt zusammengestellt. Dieser Akt geht dann ans Kultusministerium, und zwar an die „Kommission für Kul‐ turschaffende“, welche jeden Spruchkammerfall aus den Berufsgebieten des Kultur‐ Exkurs. Die NS-Zeit 275 <?page no="276"?> 33 Willi Cronauer, viele Jahre als Oberregierungsrat im Bayerischen Kultusministerium tätig. 34 Er war damals ein Kutscher-Schüler. Zusammen mit einem anderen aktiven Schüler, Heinz Böhmler, organisierte er eine Studentenaktion. 35 Höchstwahrscheinlich handelt es sich um den Journalisten Fritz Mellinger. schaffens vor der Behandlung durch die Spruchkammer zu prüfen und zu begutachten hat. Die Kommission leitet den Akt dann an die Spruchkammer und die übrigen zustän‐ digen Instanzen wieder. / Die Zentralstelle der „Aktion Kutscher“ ist also vorerst die Dramaturgie des Staatstheaters, wo Bach und Harnack zusammen mit mir die Ange‐ legenheit organisieren. 3. Ich habe mit Cronauer von Kultusministerium 33 gesprochen, der mir versprach, alles zu tun, was in seinen Kräften steht, um Sie zu unterstützen. 4. Ich habe durch meinen Bruder 34 Fühlung mit einigen seiner jetzigen Schüler und will sie nach Kräften beraten, damit sie noch eine eigene, studentische Sammel-Aktion durchführen. 5. Harnack wird noch einmal gesondert an Mellinger schreiben. 35 6. Desch wird gesondert mit den amerikanischen Stellen sprechen. 7. ich werde mit Schneider-Schelde, dem Präsidenten des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller, den ich gut kenne, sprechen. Vielleicht kann auch der Verband helfen. 8. Für die Presse konnte ich noch nichts unternehmen. Ich liege im Bett und konnte Dr. Schöningh, den Chefredakteur der „Süddeutschen“, noch nicht erreichen. Ich selber darf im Augenblicke, da ich selber „suspendiert“ bin und Schwierigkeiten habe, nicht schreiben oder doch jedenfalls nicht zeichnen. / Dies wird aber nachgeholt. Sie Selbst müssten nun durch einen guten und aktiven Rechtsanwalt, den das gesamte Material (auch unsere Aktion) vertraut sein muss, ihre Entlastung durch eine Spruch‐ kammer und dann die Wieder-Einsetzung ins Amt beantragen. […] Dass Ihre Rehabilitierung erfolgt, darüber kann es keinen Zweifel geben. Das Problem besteht lediglich darin, dies so schnell wie möglich zu erreichen. Die Bürokratie ar‐ beitet langsam und kompliziert. Es kommt darauf an, dass Ihr „Fall“ vordringlich behandelt wird, auch von der Spruchkammer. (Monacensia, n. k.) (Herv. im Original‐ text) Auf der Rückseite des Briefes standen zwei Listen von Namen, sortiert nach »Zur Unterschrift vorgesehen« und »Eventuell noch«, weil Groll die Absicht hatte, nur „brauchbare“ Unterschriften zu sammeln: Er gab nur Unterschriften von Prominenten bekannt, während Unterschriften von unbekannten Leuten oder von belasteten Intellektuellen nicht akzeptiert wurden. Was sich daraus ergab war also eine Menschengruppe, die sich daran beteiligte, dank der Erfah‐ rungen und Kompetenzen der Einzelmitglieder eine wirksame Praxis für die Rehabilitierung ihres „Meisters“ zu entwickeln - einen „Meister“, der die alte Exkurs. Die NS-Zeit 276 <?page no="277"?> 36 Vgl. das Protokoll der öffentlichen Sitzung zur mündlichen Verhandlung in dem Ver‐ fahren gegen Artur Kutscher (SpkA K 2568 Kutscher Artur). Alle Aussagen, die im Folgenden zitiert werden, stammen aus den Spruchkammerakten in Sachen Kutscher (Staatsarchiv München). 37 Im Fragebogen bekannte Kutscher u. a. die evangelisch-lutherische Religion und die Kenntnis der italienischen und französischen Sprache zur Verständigung (als Grad der Vollkommenheit). Er sei weiterhin Alter Herr der Burschenschaft Friesosaxonia, des Corps Guelfia, Präsident des bayer. Verbandes Volksspielkunst, Mitglied der Goethe‐ gesellschaft, der Gesellschaft für Theatergeschichte, des Alpenvereins und der Reise‐ mittler. Sein Schwager Georg Pachtner habe sich als Gruppenführer betätigt und ein anderer Schwager, Hans Pachtner, sei in der SA aktiv gewesen. Lerngemeinschaft symbolisierte, an der sie alle, auf unterschiedlichen Stufen und in unterschiedlichen Momenten, beteiligt gewesen waren. Die Beweisaufnahme fand am 23. Dezember 1946 statt. 36 Kutscher nahm auf seinen abgegebenen Melde- und Fragebogen 37 sowie auf die abgegebenen Er‐ klärungen zu seiner Entlastung Bezug. Als Zeuge wurde Friedrich Ulmer, bayeri‐ scher Staatschauspieler und Regisseur, angehört, der Kutscher 1908 durch den gemeinsamen Freund Franz Jacobi kennengelernt hatte und der während der NS -Diktatur aus seiner Stellung in München entlassen worden war. Nach der kurzen doch entscheidenden Erklärung: »Der Betroffene war ein Revolutionär des Theaters. Durch seine Lehre entstand ein Umbruch in den Ansichten. Sein Verdienst ist es die Theaterwissenschaft aus den philologischen Verstrickungen gelöst zu haben« nahm Ulmer auf seine Aussage Bezug, die in der Anlage schon protokolliert war. Dort skizzierte er zum einen die nationale, liberale und de‐ mokratische Gesinnung Kutschers sowie dessen internationales Prestige als Theaterwissenschaftler, zum anderen die Umstände, die zur formellen Partei‐ genossenschaft Kutschers geführt hatten. Einmal war der Professor recht bekümmert und bemerkte, er weiss gar nicht mehr, was er tun sollte, die Stu‐ denten würden so unverschämt und er beklagte sich, dass insbesondere ein Studen‐ tenführer ihm direkt vorschreiben wollte, was er zu lehren hätte. Besonders sollten sich die Studenten darüber aufgehalten haben, dass er rückhaltlos für Max Reinhardt eingetreten war. Sie haben ihm ein Programm aufgestellt, nachdem er sein Seminar einzurichten hätte. In dieser Verzweiflung entschloss er sich dann in die Partei ein‐ zutreten. / Im Jahre 1942 war ich bei ihm in einer Vorlesung. Er sprach wie früher auch in seiner geistigen Haltung hatte sich garnichts geändert. Er machte dem National‐ sozialismus gar keine Konzession. Unter den für den Prozess bedeutendsten Erklärungen und eidesstattlichen Ver‐ sicherungen bezüglich Kutschers Haltung zum Nationalsozialismus sind dieje‐ nigen von Heinz Böhmler, Heinz Coubier, Alfred Dahlmann, Hans Dellefant, Gunter Groll, Falk Harnack, Hanns Achim Kübler, Hans Heinzel und Georg Exkurs. Die NS-Zeit 277 <?page no="278"?> 38 Andere Mitbegründer waren Falk Harnack, dessen Bruder gehängt wurde, und Lambert Schomerus, Schüler und Assistent des später hingerichteten Prof. Hubers. Mitglieder dieser Gruppe waren hauptsächlich Schüler von Kutscher und Huber, die auch an der Scholl-Aktion 1943 teilnahmen - so nach Gunter Grolls Erklärung. 39 Im Protokoll der öffentlichen Sitzung kann man lesen: »Seine eigenen glaubhaften An‐ gaben nach wurde er [Kutscher, C. M. B.] im Februar 1943 gelegentlich der Schollaktion an der Universität München etwa fünf Mal zur Vernehmung vor die Gestapo geladen und es darf ihm geglaubt werden, wenn er behauptet, dass er jedes Mal in Bangen diesen Weg zur Gestapo antrat, weil er fürchten musste selbst verhaftet zu werden«. Die spä‐ teren Berichte über Kutscher verwandelten diese Vernehmungen in eine authentische Verhaftung. Siehe dazu den Artikel „Züchtung junger Krokodile“ (1950: 41) und Laks‐ berg (2000: 152). Philipp zu erwähnen. Groll, der 1934-1937 bei Kutscher hörte und promovierte, war Mitbegründer und Aktivist der ehemaligen illegalen Widerstandsgruppe „Münchner Studenten“ 38 und nahm am Aufstand der „Freiheitsaktion Bayern“ im Jahr 1945 teil. Grolls Hauptthese lautete, mit der NS -Mitgliedschaft konnte Kutscher nicht nur sich selbst, sondern auch zahlreiche seiner Schüler schützen, der Kutscher-Kreis habe sich dadurch als »Sammelpunkt der Opposition gegen das Regime« erwiesen. Noch nachdrücklicher heißt es weiter: »Zu den wirklich antinationalsozialistischen Professoren unserer Fakultät zählten wir damals nur sehr wenige, so etwa Professor Vossler, Prof. Huber und Prof. Kutscher. Kutscher und Huber waren die Offensten und Aktivsten unter ihnen«. Was die Beziehung zwischen Kutscher, Huber und der Scholl-Aktion betrifft, muss man zwei As‐ pekte berücksichtigen: Einerseits waren Kutschers Vernehmungen durch die Gestapo wegen seiner Kontakte zu Mitgliedern der Widerstandsgruppe um die Gebrüder Scholl in der Presse bekannt gegeben worden, 39 andererseits existiert ein Brief vom 9. Dezember 1946, in dem Groll auf einen bestimmten Korrektur‐ vorschlag Kutschers einging: Dass Du von der Scholl-Aktion oder von unseren Flugblättern gewußt hast, steht nicht im Text der Erklärung. Wenn dieser Eindruck entstehen sollte - umso besser. Aber es steht jedenfalls nicht drin. Du brauchst Dich nicht deswegen zu genieren: den Text haben ja wir verfaßt und selbst etwas schiefe Darstellungen würden nicht zu Deinen Lasten gehen. Denn nicht wahr: selbst wenn irgendjemand meinen sollte, Du hättest also davon gewußt und demnach auch mitnehmen sollen - aus diesem Text geht ja nicht hervor, ob Du es nicht vielleicht getan hast und nur nicht erwischt worden bist. Aber das ist ja nicht entscheidend - wichtig war mir nur der Punkt, daß einzelne Deiner Schüler an der Scholl-Huber-Aktion beteiligt waren und daß Dich diese Stu‐ denten jedenfalls ähnlich wie den Professor Huber einschätzen, ob Du nun aktiv be‐ teiligt warst oder nicht - und dass weiterhin Huber als Tarn-Pg ein ähnlicher Fall war wie Du. Exkurs. Die NS-Zeit 278 <?page no="279"?> 40 Auch Friedhelm Kemps Erklärung vertrat diese These: »Dass diese Bedrohungen ihn später zu grösserer Behutsamkeit in seinen öffentlichen Äusserungen und schliesslich zu einem erzwungenen Beitritt zu der nationalsozialistischen Partei veranlassten, wird jeder, der mit den Terrormethoden eines despotischen Regimes vertraut ist, als einen notwendigen Akt der Tarnung empfinden.« (DLA, A: Kutscher 57.4782). Ob der Kontakt zwischen der Weißen Rose und Kutscher lose oder intensiv war, ob Huber und Kutscher tatsächlich Freunde waren, ist also nicht erwiesen; was sich nichtsdestotrotz für den Entlastungsspruch als entscheidend erwies, war das Bild, das man sich von ihm gemacht hatte, und zwar, dass der Parteieintritt eine Tarnung gewesen sei, um Stellung und Freiheit nicht zu verlieren und wei‐ terhin durch die unermüdliche Erziehungsarbeit viele Jugendliche von Nazi-Ein‐ flüssen zu bewahren. 40 Diesbezüglich ist der Schluss der eidesstattlichen Erklä‐ rung Grolls ein eindrucksvolles Beispiel der narrativen Strategien im Entnazifizierungsdiskurs: Nur Männern wie Artur Kutscher sei es zu verdanken, dass der Geist der Wissenschaft, der Menschlichkeit und der deutschen Würde im Dritten Reich nicht ganz untergegangen war. Solche Männer hätten darüber hinaus die Jugend in diesem Geist erzogen und sie somit zum Widerstand gegen die nationalsozialistische Unmenschlichkeit gebracht. In diese Richtung ging auch die Aussage Heinzels, ein Kutscher-Schüler im Dritten Reich, die Vorle‐ sungen Kutschers seien damals »ein Sammelpunkt anti-nationalsozialistischer Studenten« gewesen, weil es ihnen dort ermöglicht wurde, öffentlich die NS -Kulturpolitik zu kritisieren. Daher fragte Heinzel seinen alten Meister halb rhetorisch, halb ernsthaft: Was wäre aus uns jungen Studenten geworden, wenn wir nicht in jeher trostlosen Zeit Sie gefunden hätten, und was wäre überhaupt aus der deutschen Intelligenz ge‐ worden, wenn sie nicht Männer gehabt hätte, wie Sie, Herr Professor, die die letzten Funkes des freiheitlichen und gegnerischen Geistes mit Ihrem Namen beschützt hätten, das, finde ich, sollte man sich höheren Orts überlegen, wenn man über Sie urteilt. Es wäre wahrscheinlich überhaupt kein Fundament geblieben, auf dem man nun aufbauen könnte. Der ehemalige Kutscher-Schüler und Schriftsteller Coubier berichtete ebenfalls, dass zahlreiche jüngere Studenten ihm versichert hatten, der Theaterprofessor sei immer ein Beweis dafür gewesen, »dass die Welt nicht so sein muss, wie sie damals war«. Und weiter: »Es scheint mir […] der Entwicklung der Freiheit und der Demokratie in Deutschland nicht zu dienen, wenn durch die Entlassung eines Mannes wie Professor Kutscher all die Begriffe, die er in den Augen der Studenten vertrat: Freiheit des Gedankens, Unabhängigkeit der Lehre, Huma‐ nität und Humanismus […] - jetzt kompromittiert werden«. Exkurs. Die NS-Zeit 279 <?page no="280"?> 41 Vgl. den Brief von Gunter Groll an Artur Kutscher, 12. Januar 1947 (Monacensia, n. k.). Trotz des Antrags des öffentlichen Klägers wurde Kutscher schließlich in die Gruppe der Entlasteten eingereiht. Damit war aber die „Kutscher-Aktion“ nicht zu Ende, weil sie sowohl auf die endgültige Entlastung als auch auf die akade‐ mische Wiedereinsetzung des Professors abzielte. Am 13. Januar 1947 wurde die Petition mit 62 Unterschriften und Grolls Begleitbrief an die Militärregierung, an den Kultusminister und an den Rektor der Universität München geschickt. Im Begleitbrief deutete Groll darauf hin, Kutscher habe sich »an emigrierte Freunde wie Thomas Mann und Heinrich Mann, Bert Brecht, Oskar Maria Graf oder Stefan Andres gewandt«, die aber noch nicht geantwortet hätten. Gleich‐ zeitig erreichte die Petition die Süddeutsche Zeitung (durch Dahlmann), den Münchner Mittag (durch Hohenemser), die Fränkische Landeszeitung (durch Schwarzbeck) und Radio München (durch Stein). Dem Rektor wurde dazu eine Studentenerklärung mit 40 Unterschriften übersandt 41 . In einem Brief an Kut‐ scher vom 12. Januar 1947 kommentierte der Stratege Groll den Erfolg seiner Aktion mit den folgenden Worten: Ist es für Dein 40jähriges Dozentenjubiläum nicht das schönste Geschenk, daß alle Deine alten Schüler zu Dir halten und Dir ihren Dank abstatten wollen und daß der „Fall Kutscher“ in diesen Denunzianten - und Halsabschneider-Epoche zu der meines Wissens ersten Solidaritäts-Aktion unter den deutschen Intellektuellen geführt hat -? Weder Furtwängler noch Gerhart Hauptmann noch Richard Strauß konnten, als sie in Schwierigkeiten gerieten, diese 62 Unterschriften und diese Fülle von Bürgschaften vorweisen - wohl aber eine Menge falscher Freunde, die sie im entscheidenden Mo‐ ment im Stich ließen. Das ist für mich der sozusagen historische Aspekt des „Falles Kutscher“ -: daß diese deutschen Intellektuellen, unter denen sich Vertreter aller Par‐ teien, Anschauungen und Auffassungen finden, von Emigranten (wie Becher) bis zu KZlern, von Kommunisten bis zu christlichen Konservativen, endlich einmal zusam‐ menhielten, statt sich, wie üblich, gegenseitig zu erwürgen […] - diese deutschen Intellektuellen haben damit nicht nur ihren großen Lehrer, sondern ein wenig auch sich selber rehabilitiert. Die kollektive Rehabilitierung erscheint mithin als gemeinsames Vorhaben der Gruppierung von Studenten und Intellektuellen, die sich um Kutscher küm‐ merten und durch ihn ein authentisches Bild des kulurellen Lebens unter dem NS -Regime vorführten und verteidigten. In der umfangreichen Korrespondenz zwischen Kutscher und Groll findet man auch einen doppelten schlagenden Beweis für die Beziehung der jüngeren Generation zur Generation ihrer geistigen Vorbilder, die sich allerdings dem Nationalsozialismus anpassten. Am 17. Januar erschien nämlich in der „Neuen Exkurs. Die NS-Zeit 280 <?page no="281"?> Zeitung“ der anonym verfasste Artikel Aktion für Artur Kutscher, in dem man behauptete, Kutscher sei Mitglied nicht nur der Partei, sondern auch von sechs NS -Gliederungen gewesen. Groll und die anderen Unterschreiber der „Kut‐ scher-Aktion“ waren außerordentlich überrascht und baten Kutscher um wei‐ tere Auskunft. Dahlmann versprach Groll dazu, in der folgenden Dienstags‐ nummer der „Süddeutschen Zeitung“ einen ausführlichen Bericht über den Fall zu bringen. Man kann sich Kutschers Antwort recht gut vorstellen, da er tat‐ sächlich durch die folgenden Mitgliedschaften nominell belastet war: NSD ozBd. 1933, NSV 1935, NSLB 1933, Luftsch.Bd. 1935, Reichsbd.d.Kind.Reich. 1933 und Reichskrieg.Bd. 1935. Die Tatsache, dass seine Freunde und Studenten von jenen Mitgliedschaften gar nichts wussten und sich darüber wunderten, zeigt die Zu‐ rückhaltung und Verschwiegenheit der älteren Generation, welche auf die nahe Vergangenheit lieber nicht eingehen wollte. Auch zehn Jahre nach dieser Epi‐ sode, zum Beispiel: Kutschers Autobiographie war fast fertig, doch Karl Brotze und Herbert Günther waren wegen des Manuskripts sehr bekümmert und baten Groll darum, es zu lesen. Er war aber schwer krank und schaffte es nicht. Der Verleger Kurt Desch teilte Kutscher am 15. Oktober mit, in jener Fassung könnten die Lebenserinnerungen nicht herausgegeben werden (Monacensia, n. k.). Als Groll ein zweites Mal das Manuskript bekam - nun direkt von Kurt Desch -, las er es. Am 17. November schrieb Groll seinem ehemaligen Professor, das Buch brauche eine grundsätzliche Überarbeitung. Der Grund, weshalb sich die Treuesten der Treuen, die echten Freunde Kutschers, gegen die Veröffentli‐ chung der Autobiographie in der damals vorliegenden Form stellten, findet man im letzten obengenannten Brief: Deine Lebenserinnerungen müssen Dich wirklich ausdrücken. Sie müssen so lebendig, so umfassend, so humorvoll, so stark und so bedeutend sein wie Du. […] Sie dürfen nicht schwach sein oder mißverständlich. […] Die Lebenserinnerungen in der vorlie‐ genden Form aber […] wirken teilweise allzu trocken, allzu aufzählend und manchmal auch allzu flüchtig. […] Übrigens - auch darüber waren wir uns alle einig - ist das Manuskript auch politisch sehr mißverständlich. Deine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zum Beispiel wirkt sehr matt und beiläufig. […] Es ist wenig von der Zeitatmosphäre der Nazijahre, wenig auch vom Chaos und der Bitterkeit der ersten Besatzungsjahre, zu wenig wohl auch vom Krieg und jenen großen und furchtbaren Erschütterungen und Entwicklungen spürbar, von denen Du zwar schreibst, aber sonderbar zurückhaltend und kühl und kurz. Dabei hätten sich doch aus der Nazizeit wie aus den Hungerjahren die aufregendsten Geschichten erzählen lassen! (Mona‐ censia, n. k.) Letzten Endes waren Brotze, Günther und Groll nicht gegen Kutschers Mein‐ ungen und Sympathie-Bekundungen an sich, etwa seine Vorliebe für den „Stahl‐ Exkurs. Die NS-Zeit 281 <?page no="282"?> 42 Diesbezüglich seien die Worten Michael Grüttners zitiert: »Tatsächlich lassen sich die meisten deutschen Wissenschaftler kaum als enthusiastische Nationalsozialsten be‐ schreiben. Es dominierte vielmehr - wie in der deutschen Bevölkerung insgesamt - ein ambivalentes Verhältnis zum NS-Regime.« (1998: 147). 43 Diese Professoren waren höchstwahrscheinlich Paul R. Pope, ehemaliger Kut‐ scher-Schüler, dann Chairman of German Department at Cornell University (Ithaca, New York) und schließlich Professor Emeritus of German, der Kutscher mehrmals Güter aus den U. S. A schickte, und Franz Schneider, alter Kutscher-Freund, der gleichfalls Liebespakete nach München schickte und Kutscher dabei half, Thomas Mann in Ame‐ rika zu kontaktieren. Vgl. DLA, A: Kutscher 57.5090 / 1-5 sowie A: Kutscher 57.5219 / 1- 4. helm“ oder seine Anerkennung von vermeintlich positiven Aspekten des Nati‐ onalsozialismus, sondern gegen seine missverständlichen Formulierungen. Diese Missverständlichkeit war jedoch das Kennzeichen eines Intellektuellen, der eine Rechtfertigung für sich selbst, für seine Haltung suchte, auch wenn er die NS -Herrschaft nie unterstützt hatte 42 . Die posthum veröffentlichte Version der Autobiographie enthält immer noch einige Kommentare oder Sätze, die zweideutig sind und jeweils anders gelesen werden können. Doch gerade durch diese aufs Papier gebrachte Ambiguität hinsichtlich einiger ideologischer An‐ sichten oder historischer Ereignisse, die höchstwahrscheinlich von Kutscher tatsächlich so empfunden worden waren, konnte jedwede Mystifizierung der Geschichte oder der Existenz des Theaterprofessors vermieden werden. Um auf den Entnazifizierungsprozess zurückzukommen: Kutscher wurde am 21. Januar 1947 von der Spruchkammer Traunstein entlastet. Am 24. Januar ad‐ ressierte Thomas Mann einen wirkungsvollen Brief in Sachen Kutscher an die Redaktion der „Süddeutschen Zeitung“. Wenige Tage später überreichten Groll und Harnack der Militärregierung von Bayern (Education and Religion Affairs) den Entlastungsbescheid der Spruchkammer sowie die Abschriften von zwei Briefen amerikanischer Professoren an Kutscher. 43 Am 22. Februar übersandten sie schließlich dem Bayerischen Kultusministerium den Brief von Thomas Mann. Kutschers akademische Wiedereinsetzung gewann also durch Bemü‐ hungen seiner Schüler und Freunde ebenso wie durch Thomas Manns promi‐ nente Unterstützung an Wahrscheinlichkeit: Im April 1947 hatten das Rektorat, der Kulturminister und die Militärregierung in Bayern Kutschers Einstellung bereits empfohlen, doch die endgültige Entscheidung konnte nur in Berlin ge‐ troffen werden. Im Wintersemester 1947-48 durfte Kutscher wieder als Privat‐ dozent für neuere deutsche Literaturgeschichte und als außerplanmäßiger Pro‐ fessor in München lesen. Die letzten Publikationen und das Verzeichnis seiner Vorlesungen nach dem Krieg dokumentieren jedenfalls, dass sich Kutschers wissenschaftliche Positionen nicht erneuert hatten und dass die Kernbegriffe Exkurs. Die NS-Zeit 282 <?page no="283"?> seiner Theaterauffassung immer noch Mimus, Volk und stilistische Reinhaltung waren - Begriffe, die nun das Stigma des Nationalsozialismus trugen. Kutscher versuchte des Öfteren, die Bedeutung seiner bisherigen Bestrebungen im Be‐ reich der Theaterwissenschaft zu betonen, ohne sich allerdings mit der Verbin‐ dung zwischen dem Lehrfach und dem Nazi-Wissenschaftsbetrieb zu befassen. Dasselbe galt, mutatis mutandis, für Niessen, Kindermann und Knudsen, was die etablierte Theaterwissenschaft in der Vorstellung nachfolgender Studenten- und Forschergenerationen mit gutem Grund als verdächtiges Söhnchen der Nazi-Diktatur erscheinen ließ. Exkurs. Die NS-Zeit 283 <?page no="284"?> Nachwort. Zur Aktualität der theaterwissenschaftlichen Beschäftigung Artur Kutschers Ich habe Sie immer aufrichtig bewundert, wie aufrecht Sie Ihren Weg weitergingen, obwohl Missgunst und Unverstand Ihr Wirken nicht so geehrt haben, wie es das ver‐ dient hätte. Es muss Ihnen eine große Genugtuung sein, dass Generationen von Schülern Ihrer in tiefer und echter Dankbarkeit gedenken! Das ist ja im Kern auch der schönste Lohn, den ein Lehrer gewinnen kann. (Brief von Carl Niessen an Kutscher, 18. Juli 1958, Monacensia, n. k.) Die Bedeutung Kutschers […] lag weniger in seiner beachtlichen wissenschaftlichen Arbeit, sie lag vielmehr in seiner persönlichen Ausstrahlung. Er war seinen Studenten Freund und Vater, Lehrer und Wegbereiter zum Beruf. (Baer 1960: 4) Die Erinnerungen von Kutschers Zeitgenossen und Studenten sowie die un‐ zähligen Briefe im Nachlass des Theaterprofessors, der teilweise im Deutschen Literaturarchiv Marbach und teilweise im Monacensia-Literaturarchiv der Stadt München aufbewahrt wird, verschaffen einen Gesamtüberblick über die Schüler, die im Laufe von 100 Semestern an der LMU bei Kutscher hörten, an dessen Veranstaltungen teilnahmen und zu dessen Kreis gehörten. Unter den Kutscher-Schülern findet man viele Namen von Schriftstellern und Dramati‐ kern, Malern, Schauspielern, Intendanten und Regisseuren, Filmemachern, Jour‐ nalisten und Theaterkritikern, die vom ersten Weltkrieg bis hin zur Gegenwart eine leitende Rolle sowohl in der Kunstdebatte als auch in der Gesellschaftsge‐ staltung gespielt haben - man denke nur an Hanns Braun, Bertolt Brecht, Willi Cronauer, Marieluise Fleißer, Henry Gowa, Gunter Groll, Herbert Günther, Hugo Hartung, Alfred Henschke / Klabund, Ödön von Horváth, Beate Kayser, Alois Johannes Lippl, Bernhard Minetti, Erich Pabst, Walter Panofsky, Erwin Piscator, Edgar Reitz, Hans Schweikart, Agnes Straub, Ernst Toller und Karl Ude. Auffällig ist, dass nur wenige Wissenschaftler aus dem Kutscher-Kreis ent‐ sprangen: Mit Ausnahme von Hans Heinrich Borcherdt, Hedgar Hederer und Carl Niessen, die zu den ersten Generationen von Kutscher-Schülern gehörten, von Friedhelm Kemp, der sich der Literaturwissenschaft widmete, und von For‐ <?page no="285"?> 1 Wie z. B. Paul R. Pope und Kurt Hommel. 2 Auch wenn Reitz’ Erinnerungen die 1950er Jahre betreffen, als Kutscher relativ alt war, kann man wohl annehmen, dass diese Praxis schon länger im Kutschers Kolleg geübt wurde. 3 Auch die Privatissima des theaterwissenschaftlichen Oberkurses fanden in Kutschers Wohnung statt, d. h. dass die Studenten bis 1956 Unterwössen am Chiemsee mit der Bahn erreichen sollten, um an den Vorlesungen teilzunehmen. Schon die lange und unbequeme Fahrt bot den Kutscher-Schülern die Möglichkeit, sich gut kennenzulernen und die Zusammenarbeit innerhalb der Arbeitsgruppe zu verstärken. 4 1955 übernahm Hermann Kunisch den Lehrstuhl für Neuere deutsche Philologie und Edgar Hederer, der von 1948 an in München theaterorientierte Veranstaltungen ge‐ halten hatte, wurde als Nachfolger Kutschers am Institut für Theatergeschichte be‐ trachtet. schern, die ins Ausland gingen, 1 blieben ehemalige Studenten des Theaterpro‐ fessors in der Kunstpraxis tätig und daher von der Universität weit entfernt. Diese Betrachtung erlaubt es insbesondere, Artur Kutschers Stellung zur thea‐ terwissenschaftlichen Ausbildung besser zu verstehen ebenso wie das Problem des Kutscher-Nachwuchses an der Münchner Alma Mater. Aus einem Interview mit Edgar Reitz (2015) erfährt man, dass die Prüfungen bei Kutscher nichts Anderes als private Gespräche waren, oft in der Wohnung des Dozenten, in welchen die Studenten über ihre Kunstvorstellung und Vor‐ haben erzählten und sich mit dem Lehrer darüber konfrontierten. 2 Kein Kut‐ scher-Schüler habe eigentlich ein einziges Wort von Kutschers Büchern gelesen und der Professor selbst habe sowohl in seinen Vorlesungen als auch bei den mündlichen Prüfungen die theoretische Spekulation außer Acht gelassen. 3 Man verehre den Theaterprofessor, aber, da er ein unakademischer Lehrer war, könne man von ihm nichts Wissenschaftliches lernen. Warum hätte man dann in den Vorlesungen und Seminaren Kutschers sitzen sollen? Er war nach wie vor eine Kontaktfigur, ein lebensbezogener Lehrer, der die Universität nicht als Endsta‐ tion, sondern als Durchgangsstation zum Leben betrachtete. Er förderte seine Studenten dazu, Projekte zu entwickeln, Erfahrungen, Erkenntnisse und Mein‐ ungen auszutauschen, für die Neugründung der Kunst und der Gesellschaft zu‐ sammenzuarbeiten. Kutschers Faszination lag in seiner »gemeinschaftsbild‐ enden Kraft« (Reitz 2015). Das theaterwissenschaftliche Universitätsstudium stellte für Kutscher nur eine Vorbereitung zum konkreten, außerakademischen Leben dar, zur direkten Beschäftigung mit dem Theater oder mit anderen Dra‐ matisierungsformen der menschlichen Selbsterfahrung. Kutschers Nachfolger an der LMU wurde zuerst Edgar Hederer, 4 der aber eine völlig andere Persön‐ lichkeit als der „Außerordentliche“ besaß. Reitz beschreibt ihn als einen schwär‐ merischen, romantischen Typ, während Kutscher ein humorvoller Realist und Pragmatiker war. Trotz des unterschiedlichen Charismas und der unterschied‐ Nachwort. Zur Aktualität der theaterwissenschaftlichen Beschäftigung Artur Kutschers 285 <?page no="286"?> 5 Hederer war z. B. an der Literatur und am Theater seiner Zeit nicht besonders interes‐ siert. 6 Vgl. S. 217, Anm. 37. Auf dem vom Dekan der Philosophischen Fakultät geschickten Brief befindet sich eine Anmerkung, die höchstwahrscheinlich von Kutscher ist: »Edgar Hederer Ostin b Gmund Tegernsee / Schüler« (Monacensia, n. k.). lichen Forschungsschwerpunkte 5 teilten Kutscher und Hederer gegenseitige Achtung: Kutscher hatte für die Neubesetzung des Lehrstuhls für Theaterwis‐ senschaft in Köln anscheinend den Namen Hederer genannt 6 und Hederer hatte seinerseits dem alten Lehrer immer wieder seine Dankbarkeit gezeigt. Schon in den 1940er Jahren übersandte er Kutscher sein Werk Ludwig Thoma »mit auf‐ richtiger Widmung« und fügte hinzu: »Meine erste Kutscherexkursion war ins Bauerntheater nach Marquartstein; seitdem weiß ich, was lebendige Volkskunde ist und bei Ihnen habe ich in manchanderen [sic! ] Exkursion und Vorlesung den Antrieb erhalten, mich selbst einmal ein wenig zu versuchen auf diesem Gebiet. Dies eine erste Frucht« ( DLA , A: Kutscher 57.4663 / 4). Am 8. September 1952 schrieb er dann an Kutscher: »Es vergeht kein Semester wo ich nicht wiederholt meinen Hörern gestehe, was ich alles von Ihnen empfangen habe, und was Ihnen die Theaterwissenschaft verdankt« (Ebd. / 1), und am 29. Juli 1957 gab er zu: »Ich selbst verdanke Ihnen seit den ersten Tagen meines Studiums mehr, als ich sagen kann« (Ebd. / 3). An dieser Stelle soll nochmals deutlich gemacht werden, was die Kutscher-Schüler ihrem Lehrer verdankten, auch wenn er kein Wissen‐ schaftler im engeren Sinn war. Große Bedeutung schrieben Studenten, Freunde, Intellektuelle und Künstler nicht nur Artur Kutschers Reflexionen über das Theater, das zum ersten Mal als selbstständiger Gegenstand einer neuen Disziplin empfunden wurde, sondern auch seinem Einsatz für die Überführung des Theaters ins Leben der Gesellschaft sowie in den Alltag der Einzelindividuen zu. Im Gegensatz zu anderen Bahn‐ brechern der Disziplin klammerte Kutscher die Praxisdimension der Theater‐ wissenschaft nicht aus. Seine Arbeitsgruppe beschäftigte sich mit Theaterauf‐ führungen und kulturellen Veranstaltungen der Gegenwart aus einer Perspektive, die nie rein theoretisch war. Da die Theorie selbst ein Teil der Praxis sei, blieben Theorie und Praxis in der Theater- und Theaterforschungsvorstel‐ lung Kutschers und dessen Kreis immer eng verbunden. Anfang des 20. Jahr‐ hunderts war man sich des Theaters wieder »als eines Kulturfaktors« bewusst geworden (Kutscher 1910: 1), und zwar hatte man die prägende Wirkung er‐ kannt, die das Theater auf die Wandlungen in der gesellschaftlichen Wirklich‐ keit ausüben konnte. Einem Theater, das seine Mission erst in der Begegnung und Auseinandersetzung mit seinem Publikum erfüllte, sollte eine Wissenschaft entsprechen, welche die praktische Anwendung der erworbenen und ge‐ Nachwort. Zur Aktualität der theaterwissenschaftlichen Beschäftigung Artur Kutschers 286 <?page no="287"?> meinsam erweiterten Kenntnisse mit einbezog. Kutschers Motto »Wir arbeiten nicht um des Wissens willen, wir arbeiten um des Wirkens willen« (in Ude 1943: 4) betonte nämlich die Bemühung der frühen Münchner Theaterwissenschaft darum, die Theaterkunst und -forschung als Grundelemente eines kollektiven und kreativen (Lern)Prozesses zu betrachten, der das Handeln der Lernenden instruieren konnte. Kutschers Lehrtätigkeit basierte auf der kooperativen In‐ teraktion der Studierenden: Sie verlangte die ständige Aushandlung von Be‐ deutungen, Ressourcen und Vorstellungen, damit die Mitglieder die gelernten Fertigkeiten mit der jeweiligen Situiertheit in der Arbeitsgruppe verknüpften und dadurch ihr Leben, die Welt und ihr Engagement in dieser als sinnvoll er‐ fahren konnten. Das war aber nur ein Aspekt der sich neuformierenden Thea‐ terwissenschaft. Kutschers Lerngemeinschaft identifizierte im Theater zwei Grundmerkmale, welche ebenfalls die Struktur der Theaterwissenschaft prägen sollten: Das Theater sei jeweils in einer unterschiedlichen Kultur tief verwurzelt und basiere jedoch in jedem Land, bei jedem Volk auf derselben (mimischen) Basis, auf denselben Mechanismen. Die Theaterforschung müsse daher einen lokalen Charakter haben, der mit dem Einsatz der Lernenden für die Überliefe‐ rung alter Ausdrucksformen und für die Erneuerung der heimatgebundenen Kultur einhergehe, und zeitgleich einen fächerübergreifenden und transkultu‐ rellen Zuschnitt besitzen. Die Forschung im Theatergebiet könne erst durch die kosmopolitische Einstellung der gemeinsamen Praxis ihre volle Bedeutung ge‐ winnen. Die lokale Beschäftigung mit dem Theater brachte mit sich die Auf‐ wertung der bodenständigen volkstümlichen Kultur und, zum Ausgleich, die Zusammenstellung eines dramatischen Kanons, der die edelste theatralische Form pflegen sollte. Der Kutscher-Kreis versuchte allerdings nie, die soziale Landschaft der von ihm durchgeführten Theaterforschung zu beschränken. Die gegenseitige Befruchtung zwischen akademisch-wissenschaftlicher Untersu‐ chung und betriebener Theaterpraxis konnte nämlich den einzelnen Lernenden bzw. Agierenden erst Nutzen bringen, wenn diese die angehäuften Erfahrungen und Kenntnisse in einem translokalen Spielraum, in einer imaginierten relatio‐ nalen Ordnungsvorstellung jenseits der Beschäftigungsgrenzen der eigenen Ge‐ meinschaft überprüften und anwandten. Sogar in einer Epoche, in der man das selbstständige Denken und Handeln sowie die Interaktion mit anderen Kulturen verhindern wollte wie im Nationalsozialismus, unterhielt die Lerngemeinschaft um Kutscher Beziehungen zu ausländischen Theatermenschen und Gruppie‐ rungen und ließ durch eine kontinuierliche kritische Auseinandersetzung mit den Diskursen der Zeit neues Wissen emergieren. Kutschers Lebens- und Lehrstil war es, seine Schüler durch Universitäts‐ übungen, Theaterbesuche, Exkursionen, Studentenaufführungen, Künstlera‐ Nachwort. Zur Aktualität der theaterwissenschaftlichen Beschäftigung Artur Kutschers 287 <?page no="288"?> bende, Veranstaltungen und Feste an die theatralische Praxis heranzubringen und, andersherum, durch die theatralische Praxis die Reflexion über die mensch‐ liche Existenz und über den Zustand der Gesellschaft anzuregen. Die veränderte Betrachtung der Bühnenkunst war also weniger im wissenschaftlichen Bereich als in der Kunstpraxis selbst sichtbar. Die Freude am Forschen und Lernen war gewiss Prämisse der theaterwissenschaftlichen Tätigkeit des Kutscher-Kreises, zugleich aber auch Ergebnis eines gemeinsamen Entwicklungs- und Lernprozesses. Hans Meissner kommentierte die Leistungen des Theaterpro‐ fessors wie folgt: Seine Absichten und seine Ideen hat er an seine Schüler weitergegeben, die sie ihrem Lehrmeister zu Ehren heute an ungezählten Theatern verwirklichen und in die Tat umsetzen. Darüber hinaus ist der Kutscher-Nachwuchs beim Film, Funk und an Klein‐ kunstbühnen zu finden, denn die Kunst ist an kein Institut gebunden, sie ist allge‐ genwärtig. Das Theater selbst ist Artur Kutscher zutiefst verpflichtet. Durch sein Wirken hat er nicht nur das Berufsethos des Bühnenkünstlers gehoben, sondern seine Erkenntnisse wurden Richtlinien für das Bühnenschaffen. (in Günther 1953: 176) Der Ausdruck „Ansichten und Ideen“ bleibt aber vage: Meissner machte nicht klar, wie man überhaupt sagen konnte, jemand sei ein Kutscher-Schüler und habe die „Ansichten und Ideen“ des Lehrers in die Tat umgesetzt. Der Zug, der die Mitglieder der theaterwissenschaftlichen CoP kennzeichnete, war das Ver‐ trauen in eine Lernstruktur, die zum einen durch die ständige Infragestellung und Aushandlung von fixierten und tradierten Artefakten, Konzepten, Dis‐ kursen und Bedeutungen, durch die Sammlung neuer Erfahrungen und die Er‐ zeugung neuen Wissens das Lernen garantierte, und die zum anderen auf die praktische Anwendbarkeit der theoretischen Ansätze abzielte. Die Münchner Theaterwissenschaft schuf somit mehrere Berührungszonen, wie etwa zwischen theoretischem und praktischem Wissen, zwischen lokalem Handlungskontext und translokalen Netzwerken, zwischen soziohistorischen Bedingtheiten und Trajektorien, die von Einzelindividuen ausgehandelt wurden, oder zwischen Wissenschaft und Kunst. Die von Kutscher koordinierte Lerngemeinschaft ge‐ staltete also die Theaterforschung als eine Forschung durch, über und für die Praxis: Die Praxisdimension wurde nicht nur hinsichtlich des Forschungsge‐ genstands untersucht, sondern auch im Untersuchungsverfahren berücksich‐ tigt, was sowohl das Objekt ‚Theater‘ als auch das Subjekt ‚Lernender‘ zu ent‐ scheidenden Akteuren in der Forschungsarbeit machte. Die Fokussierung des Kutscher-Kreises auf das verkörperte Wissen ließ jedenfalls die symbolische Dimension der Wissenserzeugung nicht aus, wie die kontinuierliche Arbeit an der Lernstruktur der CoP, an deren Grenzen und Peripherien sowie an deren Partizipationsformen beweist. Wichtiger noch als die Untersuchung der Thea‐ Nachwort. Zur Aktualität der theaterwissenschaftlichen Beschäftigung Artur Kutschers 288 <?page no="289"?> terkunst schien oftmals die Entwicklung eines Lernsystems, welches das Zu‐ sammenwirken und das Aneinanderlernen ermöglichte und förderte - nicht um eine Universitätsprüfung zu bestehen, sondern um eine bestimmte Fertigkeit zu erwerben: die Fertigkeit zum Mitwirken an einem kollektiven Lernprozess. Ein Mitwirken, das den Menschen selbst transformiert. Nachwort. Zur Aktualität der theaterwissenschaftlichen Beschäftigung Artur Kutschers 289 <?page no="290"?> Artur Kutschers Leben und Tätigkeit 1878 Artur Kutscher wird am 17. Juli in Hannover geboren (Vater: Carl A. Kutscher; Mutter: Eleonore W. E. Zieseniß). 1888-1899 Besuch des Lyzeums I in Hannover. Schauspielunterricht. 1899-1903 Studium der Germanistik, Philosophie, Geschichte, Ästhetik und Kunstgeschichte in München, Kiel (SoSe 1900) und Berlin (WiSe 1900 / 01). Promotion zum Dr. phil. mit dem Thema Das Naturgefühl in Goethes Lyrik bis zur Ausgabe der Schriften 1789 (LMU). Während dieser Zeit steht Kutscher in Kontakt zu Micheal Georg Conrad, Otto Falckenberg, Max Halbe und Frank Wedekind. Er ist Mitglied des „Akademisch-Dramatischen Vereins“ (Vorsitzender im SoSe 1901). 1907 Heirat mit Gertrud Schaper. Habilitation mit Hebbel als Kritiker des Dramas, seine Kritik und ihre Bedeutung. Am 17. Juni wird Kutscher vom Prinzregenten Luitpold als Privatdozent für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der LMU bestätigt. WiSe 1907 / 08 Erste zwei Vorlesungen über Literaturgeschichte. 1908 Geburt der Tochter Rotraud (14. Dezember). Erscheinen der Schiller-Werkausgabe. Kutscher wird in den künstlerischen Beirat des „Neuen Vereins“ gewählt. Leitung der „Intimen Abende“. 1909 Erste theaterwissenschaftliche Vorlesungen an der Universität Mün‐ chen. 1910 Die Ausdruckskunst der Bühne. Grundriß und Bausteine zum neuen Theater. Beginn der „Autorenabende“. WiSe 1910 / 11 Erste Aufführung des Kutscher-Kreises und Beginn der Feste der „Zirkusleute“. 1911 Im April gründen Artur Kutscher, Karl Henckell und Hubert Wilm die Kulturgemeinschaft „Das Junge Krokodil“. 1913 Scheidung von Gertrud Schaper. Schwere Depression Kutschers. 1914-1916 Kriegsdienst. 1915 Ernennung zum außerplanmäßigen Professor für NdL. 1916 Im April wird Kutscher wegen einer Knieverletzung ins Münchner Lazarett gebracht. Im Mai lernt er Babette (Betti) Karolina Pachtner, geb. am 6. Juni 1891 in München, kennen. Kriegstrauung am 10. Juni. Kurz nach seiner Rückkehr an die Front wird Kutscher als feld‐ dienstuntauglich entlassen. <?page no="291"?> 1917 Geburt der Tochter Ilse, die schwere Gesundheitsprobleme hat. Er‐ nennung zum Hauptmann der Landwehr. 1918 Tod Wedekinds. Kutscher ordnet den Nachlass und schreibt eine dreibändige Biographie. Geburt der Tochter Irmgard (27. September). 1920 Geburt der Tochter Gotlinde (25. September). 1922 Geburt des Sohnes Hubert (23. Februar). 1924 Beginn der akademischen Reisen des Kutscher-Kreises ins Ausland. 1925 Ilse stirbt mit 8 Jahren. 1926 Gründung des „Instituts für Theaterkunde“ an der Universität Mün‐ chen. Daran ist Kutscher offiziell nicht beteiligt. Gründung der „Ge‐ sellschaft für das süddeutsche Theater und seine Auswirkungen“. Geburt der Tochter Kriemhilde (eigentl. Elisabeth Helene) (20. Juni). 1928 Kutschers 50. Geburtstag. Fackelzug seiner Studenten durch die Le‐ opoldstraße. 1929 Erste Anmeldung und Aufnahme zum „Stahlhelm, Bund der Front‐ soldaten E. V.“. Linksseitige Gesichtslähmung und Nervenzusam‐ menbruch. 1932 Elemente des Theaters (Grundriß der Theaterwissenschaft I. Teil). Russ‐ landfahrt. 1936 Stilkunde des Theaters (Grundriß der Theaterwissenschaft II. Teil). Scharfe Angriffe durch das Zentralorgan des NS-Studentenbundes „Die Bewegung“. 1938 Eintritt in den NS-Reichskriegerbund. 1941 Vortragsreise nach Norwegen: Zum ersten Mal fährt Kutscher mit dem Flugzeug. Antrag Kutschers für die Aufnahme in die NSDAP (Anfang Dezember). 1942 Eintritt in die NSDAP. Am 5. September fällt Hubert an der Ostfront. 1944 Zerstörung seiner Wohnung (Antonienstr.) durch Bomben. 1945 Dienstenthebung (20. Dezember). 1946 Am 26. Juni ist Kutscher wieder in seinem Amt. Erneute Dienstent‐ hebung am 12. / 13. November. 1947 Wiedereinstellung als Priv. Dozent für NdL und apl. Professor (9. Oktober). 1950 Die „Studienfahrten deutscher Akademiker“ werden wieder aufge‐ nommen. 1951 Stilkunde der deutschen Dichtung. Bd. 1, Allgemeiner Teil (Das Kunst‐ werk, der Stil, die Künste, die Dichtung). Pensionierung. Artur Kutschers Leben und Tätigkeit 291 <?page no="292"?> 1952 Stilkunde der deutschen Dichtung. Bd. 2, Besonderer Teil (Lyrik, Epik, Dramatik). 1957 Ca. 3400 Autographen der Sammlung Kutschers gehen an das DLA Marbach. 1958 Kutscher wird mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. 1960 Am 27. August stribt Kutscher in der Schwabinger Privatklinik Dr. Decker infolge eines Schlaganfalls. Beisetzung am 31. August im Waldfriedhof. Artur Kutschers Leben und Tätigkeit 292 <?page no="293"?> 7 Falls vorhanden. Quellen: Vorlesungsverzeichnisse der Ludwig-Maximilians-Univer‐ sität München (http: / / epub.ub.uni-muenchen.de/ view/ lmu/ vlverz=5F04.html); UAM, Personalakten Artur Kutscher [E-II-2183]; Vorlesungsgebühren-Abrechnungen (Mo‐ nacensia, n. k.). Chronologisches Verzeichnis der Vorlesungen von A. Kutscher an der Universität München Studienjahr Bezeichnung der Vorlesungen und Übungen Besuchsziffer 7 SoSe 1909 Schillerprobleme: Dramatische Pläne und Frag‐ mente Friedrich Hebbel WiSe 1909 / 10 Grundsätze der praktischen literar. Kritik mit Erläuterungen an unserer Literatur seit Heine Übungen über Systeme und Probleme der literar. Kritik Vortragskunst, Schauspielkunst und Regie mit praktischen Versuchen in Bestimmung des stil‐ gerechten Ausdrucks und einer Einleitung über Sprechtechnik SoSe 1910 Geschichte der Bühne, des Theaters und der Schauspielkunst von den ältesten Zeiten bis zu dem Problem des Künstlertheaters Dt. Lyrik und Ballade von der Romantik bis zur Gegenwart Übungen in literar. Kritik Sprechtechnik mit Übungen im Rede- und Vor‐ tragsstil WiSe 1910 / 11 Geschichte der dt. Literatur des XIX. Jahrhun‐ derts von der Romantik bis zur Gegenwart Grundsätze der literar. Kritik Geschichte der Bühne, des Theaters und der Schauspielkunst von den ältesten Zeiten bis zu <?page no="294"?> Studienjahr Bezeichnung der Vorlesungen und Übungen Besuchsziffer dem Problem des Künstlertheaters (mit Lichtbil‐ dern und Führungen) Übungen zur Dramaturgie und Regie an Hand des Spielplans unserer Bühnen SoSe 1911 Goethes Leben und Werke mit besonderer Be‐ rücksichtigung des Faust Kleist, Grabbe, Hebbel, Wedekind Übungen über Theater- und Bühnenprobleme unserer Zeit Sprechtechnik mit Übungen im Rede- und Vor‐ tragsstil WiSe 1911 / 12 Geschichte der dt. Literatur von Gottfried Keller bis zur Gegenwart Geschichte der Bühne, des Theaters und der Schauspielkunst von den ältesten Zeiten bis zu dem Problem des Künstlertheaters (mit Lichtbil‐ dern und Führungen) Schillers Dramen und dramatische Fragmente Übungen in literar. Kritik: Die Methoden der Wertbestimmung aus Sprache, Stil und Gattung SoSe 1912 Lenz, Grabbe, Wedekind Die dt. Lyrik des XVIII. Jahrhunderts Goethes Faust Übungen zur Dramaturgie an Hand des Spiel‐ plans unserer Bühnen WiSe 1912 / 13 Einführung in die Literaturwissenschaft und ihre Methode Goethes Faust Goethe und Schiller, die Geburt des Klassizismus Übungen über moderne Theaterprobleme an Hand des Spielplans unserer Münchener Bühnen SoSe 1913 Fr. Hebbels Leben und Werke Verzeichnis der Vorlesungen von A. Kutscher an der Universität München 294 <?page no="295"?> Studienjahr Bezeichnung der Vorlesungen und Übungen Besuchsziffer Hauptströmungen der dt. Literatur seit 1880 Übungen in literar. Kritik Allgemeine Geschichte des Theaters, der Bühne und der Schauspielkunst (mit Lichtbildern) → Abteilung Bühnenkunst WiSe 1913 / 14 Goethes Lyrik Die dt. Literatur im 19. Jahrhundert von Heine bis zur Gegenwart Theater und Kirche in ihren Wechselwirkungen (mit Lichtbildern) Übungen über das neuere Drama an Hand des Spielplans SoSe 1914 Grundsätze der literarischen und dramatischen Kritik Goethes Faust Die dt. Literatur der letzten dreißig Jahre Die plattdeutsche Literatur von Klaus Groth bis zur Gegenwart Theatergeschichtliche Übungen, dramaturgi‐ sche und bühnentechnische Bemühungen um das Drama Shakespeares in Deutschland Kutschers Abwesenheit während des Krieges: WiSe 1914 / 15 - SoSe 1916 WiSe 1916 / 17 Die dt. Literatur von 1870 bis 1914 Dt. Soldatenlieder. Texte und Singweise Übungen zur Geschichte der Dramaturgie (im Bibliotheksraum des Theatermuseums) Übungen für literarische und dramatische Kritik Rhetorik und Vortragskunst SoSe 1917 Neuere, insbesondere deutsche Theaterge‐ schichte (mit Lichtbildern) Schillers Leben und Werke Verzeichnis der Vorlesungen von A. Kutscher an der Universität München 295 <?page no="296"?> Studienjahr Bezeichnung der Vorlesungen und Übungen Besuchsziffer Goethes Faust Niedersächsische Dichter Einführung in die Theaterwissenschaften; Dra‐ maturgie und Regie (Bibl. d. Theatermuseums) Praktische Übungen in literar. Kritik über die Zeit des Naturalismus und der Neuromantik WiSe 1917 / 18 Goethes Leben und Werke Das Drama der letzten dreißig Jahre Grundsätze literar. Kritik und dt. Stilkunde Praktische Theaterkritik mit Berücksichtigung des Spielplans SoSe 1918 Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts seit dem Befreiungskriege Theatergeschichte des Altertums und Mittelal‐ ters (mit Lichtbildern) Dt. Literatur und bildende Kunst im Zusammen‐ hang ihrer Stilentwicklung Praktische Übungen in literar. Kritik über die Li‐ teratur der Gegenwart WiSe 1918 / 19 Die dt. Literatur des XIX. Jahrhunderts von Hebbel bis auf unsere Zeit Allgemeine Theatergeschichte von der Renais‐ sance bis zur Gegenwart (mit Lichtbildern) Goethes Lyrik Übungen in praktischer Theaterkritik nach dem Spielplan unserer Bühnen SoSe 1919 Die dt. Literatur der letzten 40 Jahre, Impressio‐ nismus und Expressionismus Stilentwicklung der Literatur und bildenden Kunst, als Repertorium der dt. Literaturge‐ schichte Verzeichnis der Vorlesungen von A. Kutscher an der Universität München 296 <?page no="297"?> Studienjahr Bezeichnung der Vorlesungen und Übungen Besuchsziffer Allgemeine Theatergeschichte des Altertums, Mittelalters und der Renaissance (mit Lichtbil‐ dern und Exkursionen) Praktische Übungen in literar. Kritik über Gat‐ tungen und Stile unserer neueren Dichtung WiSe 1919 / 20 Die klassische Periode unserer dt. Literatur, Goethe und Schiller. Übungen über das dt. Theater und Drama der jüngsten Zeit an Hand des Spielplans unserer Bühnen SoSe 1920 Das dt. Drama und Theater unserer Zeit Die dt. Literatur der Romantik bis Heine Allgemeine Theatergeschichte von der Renais‐ sance bis zum XIX. Jahrhundert (privatiss.) WiSe 1920 / 21 Die dt. Literatur der Romantik bis Heine Grundsätze der literar. Kritik und dt. Stilkunde Übungen in praktischer Theaterkritik an Hand des Spielplanes unserer Bühnen Repetitorium der gesamten dt. Literatur SoSe 1921 Das dt. Drama und Theater unserer Zeit Die dt. Literatur der Romantik bis Heine Literarische Kritik. Praktischer Teil: Übungen über die dt. Literatur des Impressionismus und Expressionismus Allgemeine Theatergeschichte von der Renais‐ sance bis zum XIX. Jahrhundert WiSe 1921 / 22 Die dt. Literatur des Impressionismus und Ex‐ pressionismus Dt. Stilkunde als Grundlage der Literaturwis‐ senschaft und Kritik Repetitorium der gesamten dt. Literatur seit der Renaissance Verzeichnis der Vorlesungen von A. Kutscher an der Universität München 297 <?page no="298"?> Studienjahr Bezeichnung der Vorlesungen und Übungen Besuchsziffer Allgemeine Theatergeschichte des Altertums und des Mittelalters Übungen in praktischer Theaterkritik an Hand des Spielplanes unserer Bühnen SoSe 1922 Die dt. Drama und Theater des XIX. und XX. Jahrhdts. (mit Lichtbildern und Führungen) Theater und Kirche (mit Lichtbildern und Ex‐ kursionen zu den Passionsspielen) Goethes Lyrik Die dt. Literatur des Expressionismus im Über‐ blick WiSe 1922 / 23 Allgemeine Theatergeschichte der Renaissance und des Barock Übungen in praktischer Theaterkritik an Hand des Spielplanes unserer Bühnen Empfindsamkeit und Sturm und Drang in der dt. Literatur des XVIII. Jahrh. Dt. Stilkunde I. Teil: Grundsätze literar. Kritik Die dt. Literatur seit 1900 insbesondere des Ex‐ pressionismus SoSe 1923 Allgemeine Theatergeschichte des XVIII. und XIX. Jahrh. (mit Lichtbildern, Führungen und Exkursionen) Die dt. Literatur im Überblick. Ein Repetitorium nach zeitstilistischen Gesichtspunkten WiSe 1923 / 24 Besprechung theaterwissenschaftlicher Grund‐ fragen des XVIII. Jahrh. (nur für ältere Schüler) (privatiss.) Übungen in praktischer Theaterkritik an Hand des Spielplanes unserer Bühnen Dt. Stilkunde I. Teil: Das Sprachkunstwerk SoSe 1924 Volkstheater und Volkskunde (mit Lichtbildern und Exkursionen) Verzeichnis der Vorlesungen von A. Kutscher an der Universität München 298 <?page no="299"?> Studienjahr Bezeichnung der Vorlesungen und Übungen Besuchsziffer Dt. Stilkunde als Grundlage unserer Literatur‐ wissenschaft, I. Teil: Das Sprachkunstwerk WiSe 1924 / 25 Allgemeine Theatergeschichte der Griechen, Römer, der asiatischen Völker und des mittelal‐ terlichen Europa Übungen in praktischer Theaterkritik an Hand des Spielplanes unserer Bühnen, mit Einführung in die Bühnenkunde (privatiss.) Dt. Stilkunde: Die Dichtungsgattungen Dt. Literatur der Jüngeren (seit 1900) und des Expressionismus (privatiss.) SoSe 1925 Die klassische Zeit unserer Literatur von Goe‐ thes italienischer Reise bis zu Schillers Tode. 46 Das süddeutsche Volkstheater. Studien und Ex‐ kursionen (privatiss.) 100 Das europäische Theater der Renaissance bis Shakespeare 49 Übungen zur dt. Stilkunde über die Literatur des Expressionismus 43 WiSe 1925 / 26 Das dt. Drama und Theater von der Romantik bis zur Gegenwart 113 Übungen über theaterwissenschaftliche Grund‐ fragen 21 Repetitorium der dt. Literatur seit der Renais‐ sance 73 Übungen in praktischer Theaterkritik an Hand des Spielplans unserer Bühnen, mit Einführung in die Bühnenkunde 80 SoSe 1926 Übungen zur Theatergeschichte (Oberkurs) (pri‐ vatiss.) Geschichte der dt. Lyrik und Ballade von den Anfängen bis zur Romantik Goethes Faust Grundsätze literar. Kritik Verzeichnis der Vorlesungen von A. Kutscher an der Universität München 299 <?page no="300"?> Studienjahr Bezeichnung der Vorlesungen und Übungen Besuchsziffer WiSe 1926 / 27 Der Ursprung des Theaters, mit besond. Berück‐ sichtigung von Nationaltanz und Volkskunde Übungen in praktischer Theaterkritik an Hand des Spielplans unserer Bühnen, mit Einführung in die Bühnenkunde Tw. Übungen, Oberkurs: die Probleme der Schauspielkunst (privatiss.) Die dt. Literatur des letzten Menschensalters SoSe 1927 Tw. Oberkurs: Shakespeare auf der dt. Bühne (privatiss.) Dt. Literatur und dt. Theaters des Realismus von Heine bis auf unsere Zeit Goethes Lyrik Übungen in literar. Kritik und dt. Stilkunde über die Dichtung des Rokoko und der Aufklärung WiSe 1927 / 28 Das dt. Drama und Theater unserer Zeit Tw. Übungen, Oberkurs: Lessings Tätigkeit als Grundlage unserer Theaterwissenschaft (priva‐ tiss.) Die dt. Literatur der Romantik Grundsätze der literar. Kritik und deutschen Stil‐ kunde SoSe 1928 Das dt.e Theater des XVIII. und XIX. Jahrhun‐ derts mit Lichtbildern und Exkursionen Tw. Übung, Oberkurs: Charlotte Birch-Pfeiffer (privatiss.) Empfindsamkeit und Sturm und Drang in der dt. Literatur des XVIII. Jahrhunderts Übungen in literar. Kritik und dt. Stilkunde über die Literatur der Gegenwart WiSe 1928 / 29 Überblick über die dt. Literatur Tw. Oberkurs → verlegt SoSe 1929 Gesichte des dt. Theaters im XIX. und XX. Jahr‐ hundert Verzeichnis der Vorlesungen von A. Kutscher an der Universität München 300 <?page no="301"?> Studienjahr Bezeichnung der Vorlesungen und Übungen Besuchsziffer Tw. Oberkurs: Das Theater der Griechen und der Römer Grundsätze literar. Kritik und dt. Stilkunde Geschichte des dt. Dramas von den Anfängen bis zur Gegenwart WiSe 1929 / 30 Europäische Theatergeschichte des Barock, mit Lichtbildern, Führungen und Exkursionen Übungen in praktischer Theaterkritik an Hand des Spielplans unserer Bühnen Tw. Oberkurs: Gattungen des Dramas (privatiss.) Dt. Literatur der Romantik bis Heine Dt. Literatur der Gegenwart seit 1900 SoSe 1930 Theater und Kirche, speziell das geistliche The‐ ater (mit Lichtbildern, Führungen und Exkursi‐ onen) Tw. Oberkurs: Das System unserer Theaterwis‐ senschaft (privatiss.) Dt. Literatur des Realismus seit Heine Übungen in literar. Kritik und dt. Stilkunde über die Literatur unserer Zeit WiSe 1930 / 31 Goethes Faust mit bes. Berücksichtigung seiner Theatergeschichte und -problematik Übungen in praktischer Theaterkritik über Drama und Bühne unserer Zeit Tw. Oberkurs: Das Weimarer Theater unter Goethe und Schiller (privatiss.) Die dt. Literatur des Naturalismus und der Ro‐ mantik SoSe 1931 Schauspielkunst und Drama Tw. Oberkurs: Bühne, Film, Funk (privatiss.) Goethe und sein Gesamtwerk Geschichte der dt. Lyrik seit der Romantik Verzeichnis der Vorlesungen von A. Kutscher an der Universität München 301 <?page no="302"?> Studienjahr Bezeichnung der Vorlesungen und Übungen Besuchsziffer Übungen in literar. Kritik und dt. Stilkunde über die jüngsten Erscheinungen WiSe 1931 / 32 Geschichte des neueren europäischen Theaters vom Ende der Antike bis zum Ende der Renais‐ sance (Shakespeare) Übungen über Bühne, Film, Funk an Hand des Spielplans Tw. Oberkurs: Komik und Komödie, Tragik und Tragödie (privatiss.) Grundriß der literar. Kritik und deutschen Stil‐ kunde Die dt. Dichtung der Nachkriegszeit SoSe 1932 Dt. Drama und Theater von 1880 bis zur Gegen‐ wart Tw. Oberkurs: Die Weimarer Bühne der Klassik Literaturgeschichte der dt. Romantik Stil und Kunst der dt. Prosa Übungen in literar. Kritik und dt. Stilkunde über die jüngste Dichtung WiSe 1932 / 33 Das dt. Theater des XVIII. und XIX. Jahrhun‐ derts mit Lichtbildern und Führungen Übungen über Bühne, Film, Funk an Hand des Spielplans Tw. Oberkurs: Die Aufgaben der Dramaturgie und Regie (privatiss.) Die dt. Literatur der Renaissance und des Barock (XV.-VII. Jahrh.) im Überblick SoSe 1933 Tw. Oberkurs: Musik und bildende Kunst in ihrem Verhältnis zur Bühne (privatiss.) Die dt. Literatur des XIX. Jahrh. von Heinrich Heine bis 1880 Die dt. Literatur der Gegenwart Übungen in literar. Kritik und dt. Stilkunde über die neuere Dichtung Verzeichnis der Vorlesungen von A. Kutscher an der Universität München 302 <?page no="303"?> Studienjahr Bezeichnung der Vorlesungen und Übungen Besuchsziffer WiSe 1933 / 34 Die dt. Literatur seit 1880, Naturalismus, Neuro‐ mantik und Impressionismus 133 Stilkundliche Übungen über Bühne 144 Goethes Faust 79 Tw. Oberkurs: Das Drama und das Theater des Barock 40 Volksbräuche, Feste, Tänze 16 SoSe 1934 Dt. Literatur der Empfindsamkeit; Goethes und Schillers Jugendwerke 39 Dt. Theater von der Romantik bis zur Gegenwart 68 Grundsätze der literar. Kritik und dt. Stilkunde über neuere Erzählungskunde 43 Tw. Oberkurs: Deutsches Wesen der Regie 47 WiSe 1934 / 35 Geschichte der dt. Lyrik und Ballade vom An‐ fang bis zur Gegenwart (Vorlesung) 68 Schiller und wir 24 Dt. Literatur vom Weltkrieg 144 Übungen über Bühne, Film und Funk 94 Tw. Oberkurs: Übungen in Dramaturgie 46 SoSe 1935 Grundsätze der literar. Kritik und dt. Stilkunde 34 Die Perioden der dt. Literatur im Überblick 27 Goethes Faust 38 Übungen über Kämpfe um die Erneuerung un‐ serer Lyrik 18 Tw. Oberkurs: Freilichttheater, Naturtheater, Thingspiel 19 WiSe 1935 / 36 Dt. Dichtung von 1900 bis zur Gegenwart 54 Goethes Lyrik 25 Geschichte der dt. Schauspielkunst 31 Übungen über Bühne, Film und Funk 63 Tw. Übungen: Das antike Theater 28 Verzeichnis der Vorlesungen von A. Kutscher an der Universität München 303 <?page no="304"?> Studienjahr Bezeichnung der Vorlesungen und Übungen Besuchsziffer SoSe 1936 Dt. Dichtung und Romantik 43 Tw. Übungen: Das europäische Renais‐ sance-Theater 24 Dt. Literatur des 18. Jahrhunderts bis zur Gegen‐ wart 42 Kritik und dt. Stilkunde 41 WiSe 1936 / 37 Geschichte des dt. Dramas 60 Dt. Lyrik von der Romantik bis zur Gegenwart 88 Übungen über Bühne, Film und Funk 70 Tw. Übungen: Goethes Faust 23 SoSe 1937 Dt. Literatur des Barock 23 Dt. Drama und Theater 42 Grundsätze der literar. Kritik 23 Tw. Übungen: Regieführung 15 WiSe 1937 / 38 Impressionismus 42 Dt. Drama 35 Tw. Übungen: Shakespeares Drama und Bühne in Deutschland 14 Übungen über Bühne, Film und Funk an Hand des Spielplans 43 SoSe 1938 Dt. Dichtung der Renaissance 51 Dt. Dichtung unserer Zeit 107 Der Stil der dt. Prosa 24 Tw. Übungen: Theater im Freien 20 WiSe 1938 / 39 Die klassische Zeit unserer Dichtung Naturalismus und Neuromantik Übungen über Bühne, Film und Funk an Hand des Spielplans Tw. Lehrgang: Das dt. Theater des 18. Jahrhun‐ derts SoSe 1939 Dt. Literatur der Romantik Verzeichnis der Vorlesungen von A. Kutscher an der Universität München 304 <?page no="305"?> Studienjahr Bezeichnung der Vorlesungen und Übungen Besuchsziffer Goethes Faust Übungen über die Literatur unserer Zeit Das Theater der Völker und seine Einrichtung WiSe 1939 / 40 Dt. Literatur des 19. Jahrhunderts, Biedermeier und Realismus Das dt. Drama vom Naturalismus bis zur Gegen‐ wart Tw. Übung: Dramaturgie, ihre Aufgaben und Probleme Übung über Bühne, Film und Funk an Hand des Spielplans I. Trimester 1940 Die dt. Dichtung des Impressionismus und Ex‐ pressionismus ab 1900 Die neuere dt. Dichtung seit dem 15. Jahrhundert im Überblick. Repetitorium Übung über Bühne, Film und Funk an Hand des Spielplans Tw. Übung: Wiener Theater II. Trimester 1940 Dt. Dichtung vom Weltkrieg bis zur Machter‐ greifung Dt. Dichtung seit Mitte des 18. Jahrhunderts im Überblick Übungen in literar. Kritik und deutscher Stil‐ kunde über die Dichtung der jüngsten Zeit Geschichte des dt. Theaters seit Gründung des 2. Reiches 1870 III. Trimester 1940 Stilkunde der dt. Dichtung Die Geschichte des dt. Dramas Goethes Faust Übung über Bühne und Film an Hand des Spiel‐ plans I. Trimester 1941 Die Dichtung des Sturm und Drangs Geschichte des neueren Dramas → wegen Ent‐ lastung wurde diese Vorlesung abgesagt Verzeichnis der Vorlesungen von A. Kutscher an der Universität München 305 <?page no="306"?> Studienjahr Bezeichnung der Vorlesungen und Übungen Besuchsziffer Die Überwindung unserer entarteten Dichtung → wegen Entlastung wurde diese Vorlesung ab‐ gesagt Übung über Bühne und Film an Hand des Spiel‐ plans SoSe 1941 Dt. Literatur der Klassik Übungen in dt. Stilkunde an Dichtungen unserer Zeit Geschichte des neueren dt. Dramas WiSe 1941 / 42 Stilkunde der dt. Dichtung Übung über Bühne und Film an Hand des Spiel‐ plans Geschichte des dt. Theaters seit 1850 SoSe 1942 Literatur der dt. Romantik Überblick über die neuere dt. Literaturge‐ schichte seit der Renaissance (Repetitorium) Übungen über Bühne und Film an Hand des Spielplans WiSe 1942 / 43 Die dt. Literatur des Naturalismus und der Neu‐ romantik 177 Überblick über die dt. Literatur vom Sturm und Drang bis zum Realismus (Repetitorium) 229 Übungen über Bühne und Film an Hand des Spielplans 268 SoSe 1943 Die dt. Literatur der Neuromantik und des Im‐ pressionismus Überblick über die ältere dt. Literatur seit der Renaissance bis Mitte des 18. Jahrhunderts (Re‐ petitorium) Goethes Faust Theatergeschichtliche Übungen über das 18. Jahrhundert, besonders Hamburg und Weimar WiSe 1943 / 44 Geschichte der dt. Literatur vom ersten Welt‐ krieg bis heute Verzeichnis der Vorlesungen von A. Kutscher an der Universität München 306 <?page no="307"?> Studienjahr Bezeichnung der Vorlesungen und Übungen Besuchsziffer Einführung in die literar. Kritik und deutsche Stilkunde Übungen über Bühne und Film an Hand des Spielplans Geschichte der neueren dt. Schauspielkunst SoSe 1944 Das dt. Drama vom Impressionismus bis heute Geschichte des dt. Theaters von der Romantik bis zur Gegenwart Übungen über Bühne und Film an Hand des Spielplans WiSe 1944 / 45 Überblick über die neuere dt. Literaturge‐ schichte von der Renaissance bis Mitte des 18. Jahrhunderts Goethes Faust Übungen und Vorlesungen über das dt. Theater seit 1900 SoSe 1945 Überblick über die neuere dt. Literatur vom Sturm und Drang bis zum Realismus (Repetito‐ rium) Theaterwissenschaftliche Vorlesungen und Übungen über das dt. Theater seit 1900 SoSe 1946 Überblick über die dt. Literatur der Klassik, Ro‐ mantik und des Biedermeier (2stündig) Geschichte der neueren dt. Schauspielkunst seit Iffland (mit Lichtbildern) (2stündig) WiSe 1946 / 47 → nicht vorhanden SoSe 1947 → Entlassen (keine Vorlesung) WiSe 1947 / 48 → Entlassen (keine Vorlesung) SoSe 1948 Vorlesungen und Übungen über Goethes Faust und die Bühne. Nur für ordentliche Mitglieder des theaterwissenschaftlichen Oberkurses (1stündig) Vorlesungen und Übungen über Regie und The‐ aterleitung (2stündig) Verzeichnis der Vorlesungen von A. Kutscher an der Universität München 307 <?page no="308"?> Studienjahr Bezeichnung der Vorlesungen und Übungen Besuchsziffer WiSe 1948 / 49 Das Theater der Völker in Antike, Mittelalter und Renaissance bis Shakespeare (mit Lichtbil‐ dern) (1stündig) Tw. Oberkurs: Vorlesung und Übung über literar. Kritik und dt. Stilkunde an Werken der jüngeren Zeiten (2stündig) SoSe 1949 Übungen in literar. Kritik Theatergeschichte der Völker in der Renaissance und im Barock Tw. Oberkurs: Das Weimarische Theater WiSe 1949 / 50 Übungen in dt. Stilkunde über unsere Literatur der neueren Zeit (2stündig) Übungen: Shakespeare und das dt. Theater (1stündig) SoSe 1950 Die stilkundlichen Probleme von Volkslied und Kunstlyrik (mit Übungen) (1stündig) Theater und Kirche. Das geistige Theater in Deutschland (Vorbereitung für das Passionsspiel in Oberammergau) (1stündig) Dramaturgische Bearbeitung von Goethes Faust in gemeinsamer Lesung (2stündig) Wise 1950 / 51 Stilkunde der dt. Dichtung (Allgemeiner Teil) (1stündig) Die stilkundlichen Probleme der epischen Dicht‐ kunst. Mit Übungen aus jüngerer Literatur (2stündig) Geschichte des dt. Theaters seit dem Natura‐ lismus (mit Lichtbildern) (1stündig) SoSe 1951 Repetitorium der neueren dt. Literatur: Renais‐ sance und Barock (1stündig) Geschichte des jüngsten dt. Theaters: Überwin‐ dung des Impressionismus (mit Lichtbildern) (1stündig) Übungen über die Entwicklung unserer Schau‐ spielkunst und Regie seit Lessing (2stündig) WiSe 1951 / 52 Übungen in literar. Kritik und deutscher Stil‐ kunde über unsere Literatur der jüngsten Zeit (2stündig) Verzeichnis der Vorlesungen von A. Kutscher an der Universität München 308 <?page no="309"?> Studienjahr Bezeichnung der Vorlesungen und Übungen Besuchsziffer Theater der Griechen und Römer (mit Lichtbil‐ dern) (1stündig) SoSe 1952 Europäische Theatergeschichte des Mittelalters, der Renaissance und des Barock (1stündig) Goethes Faust und das Theater (1stündig) Praktische Übungen in dramaturgischen Bear‐ beitungen (2stündig) WiSe 1952 / 53 Goethes Lyrik und Balladen (1stündig) Stilkundliche Übungen zur Dichtung des Ex‐ pressionismus (2stündig) Das dt. Theater im 18. Jahrhundert (1stündig) SoSe 1953 Übungen in literar. Kritik und deutscher Stil‐ kunde: Unsere Lyrik von Heine bis zum Impres‐ sionismus (2stündig) Vom Wiener Nationaltheater bis zum Theater des Biedermeier (1stündig) WiSe 1953 / 54 Die Geschichte von Goethes Faust (1stündig) Übungen in literar. Kritik und deutscher Stil‐ kunde über die Dichtung von Gerhart Haupt‐ mann (2stündig) Dt. Theatergeschichte der Romantik und des Biedermeier (1stündig) SoSe 1954 Geschichte des Expressionismus in der dt. Lite‐ ratur (1stündig) Übungen in literar. Kritik und deutscher Stil‐ kunde über die Novelle (2stündig) Das dt. Theater des Realismus (1stündig) WiSe 1954 / 55 Übungen in literar. Kritik und deutscher Stil‐ kunde über die Dichtung Friedrich Schillers (2stündig) Geschichte des dt. Theaters im Naturalismus und Impressionismus (1stündig) SoSe 1955 Urballade, Bänkelsang, Ballade, Romanze, Kaba‐ rettlied (1stündig) Reformbewegung und Expressionismus im The‐ ater seit 1900 (1stündig) Verzeichnis der Vorlesungen von A. Kutscher an der Universität München 309 <?page no="310"?> Studienjahr Bezeichnung der Vorlesungen und Übungen Besuchsziffer Übungen in Dramaturgie, ihre Geschichte, The‐ orie und Praxis mit Beispielen (2stündig) WiSe 1955 / 56 Repertorium unserer Literatur der Renaissance (1stündig) Übungen in literar. Kritik und dt. Stilkunde an den Gattungen der jüngeren Zeit (2stündig) Das Weimarische Hoftheater zur Zeit Goethes (1stündig) SoSe 1956 Praktische Übung in literar. Kritik und dt. Stil‐ kunde über die Gattungen unseres Expressio‐ nismus (2stündig) Repertorium der dt. Literatur des Barocks und Rokokos (1stündig) Theater der Griechen und Römer (mit Lichtbil‐ dern) (1stündig) WiSe 1956 / 57 Revolutionäre Dramatiker: Lenz, Grabbe, Büchner, Wedekind, Brecht (1stündig) Übungen über die Hauptvertreter der Komik in unserer neueren Dichtung (1stündig) Dt. Schauspielkunst seit dem Naturalismus (mit Lichtbildern) (1stündig) SoSe 1957 Schillers Dichtung und Theorie (1stündig) Dt. Schauspielkunst seit dem Expressionismus, mit Lichtbildern (1stündig) Die wichtigsten Vertreter der Theaterleitung (theaterwissenschaftliche Übung) (2stündig) WiSe 1957 / 58 Seminar: Die Fremdformen unserer Lyrik (2stündig) 22 Goethes Faust und die Bühne (mit Lichtbildern) (1stündig) 136 SoSe 1958 Seminar: Die dt. Literatur des Biedermeiers; Übung in literar. Kritik und dt. Stilkunde (2stündig) 41 Unser expressionistisches Theater (1stündig) (Eigentlich angekündigt: Geschichte des geistli‐ chen Theaters in Deutschland, mit Lichtbildern) 102 Verzeichnis der Vorlesungen von A. Kutscher an der Universität München 310 <?page no="311"?> Quellen- und Literaturverzeichnis Archivalische Quellen Archiv der Ludwig-Maximilians-Universität München (UAM) Akten der Philos. Fakultät [O-XIV] Personalakten Artur Kutscher [E-II-2183] Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BayHStA) Personalakten MK 43 931 Artur Kutscher Deutsches Literaturarchiv / Marbach am Neckar, Handschriftenabteilung (DLA) Bestand Artur Kutscher [A: Kutscher] Bestand Hans Knudsen [A: Knudsen] Monacensia. Literaturarchiv und Bibliothek München (Monacensia) Nachlass Artur Kutscher [A I], darunter auch nicht katalogisierte Quellen [n. k.] Nachlass Edgar Steiger/ Manuskripte anderer [ES M] Nachlass Gottfried Kölwel / Briefe [GoK B] Nachlass Hans Carl Müller / Briefe [HCM B] Nachlass Josef Ruederer / Briefe [JR B] Nachlass Marie Janssen / Briefe [MJ B] Nachlass Michael Georg Conrad / Briefe [MGC B] Neuer Verein / Briefe [NV B] Nachlass Waldemar Bonsels / Briefe [WB B] Staatsarchiv München (StAM) Pol. Dir. München 2739; Laufzeit: 1891-1937 / Akademisch-Dramatischer Verein Pol. Dir. München 3593; Laufzeit: 1926-1937 / Gesellschaft für das Süddeutsche Theater Spruchkammerakten Karton 2568, Kutscher Artur Quellen- und Literaturverzeichnis 311 <?page no="312"?> Ungedruckte Quellen Reitz, Edgar. Persönliches Interview, geführt von der Verfasserin. München, 29. Januar 2015. Zeitschriften Baden-Badener Bühnenblatt. Hg. Städtische Schauspiele. Baden-Baden: Badeblatt-Verlag. Bühne und Welt: Halbmonatsschrift für Theaterwesen, Literatur und Musik, amtliches Blatt des Deutschen Bühnen-Vereins. Hamburg; Leipzig [u. a.]: Verlag von Bühne und Welt. Das Blaubuch: Wochenschrift für öffentliches Leben, Literatur und Kunst. Berlin. Der Zwiebelfisch: Zeitschrift über Bücher, Kunst und Kultur. München-Obermenzing: Weber. Die Bewegung: Zeitung der deutschen Studenten. München: Franz Eher Verlag. Die Lese: Literarische Zeitung für das Deutsche Volk. Hg. Theodor Etzel und Georg Muschner (später Heinz Eckenroth). München: Die Lese Verlag-GmbH. Das literarische Echo: Halbmonatsschrift für Literaturfreunde. Hg. Josef Ettlinger. Stutt‐ gart; Berlin: Deutsche Verlags-Anstalt. Die Aktion: Zeitschrift für freiheitliche Politik und Literatur. Hg. Franz Pfemfert. Berlin. Euphorion: Zeitschrift für Literaturgeschichte. Heidelberg: Winter. Janus: Münchener Halbmonatsschrift für Literatur, Kultur, Kritik. München: Janus-Verlag. Maske und Kothurn: Vierteljahrsschrift für Theaterwissenschaft. Graz; Köln: Böhlau. Münchener Zeitung (MZ). München. Münchner Neueste Nachrichten und Handels-Zeitung, alpine und Sportzeitung, Theater- und Kunst-Chronik (MNN). München. Phöbus: Monatsschrift für Ästhetik und Kritik des Theaters. Hg. Heinz Eckenroth. Mün‐ chen: Phöbus-Verlag. Süddeutsche Zeitung: Münchner Neueste Nachrichten aus Politik, Kultur, Wirtschaft, Sport (SZ). München. Theaterwissenschaftliche Blätter: Fachorgan für die Wissenschaft, Kunst, Technik und Kultur des Theaters. Hg. Bruno Th. Satori-Neumann. Berlin: Baswitz. Welt und Wort: literarische Monatsschrift. Tübingen: Heliopolis Verlag. Werdandi: Monatsschrift für deutsche Kunst und Wesensart. Hg. Friedrich Seeßelberg, im Auftrage des Werdandibundes. Leipzig. Quellen- und Literaturverzeichnis 312 <?page no="313"?> Gedruckte Quellen Baer, Volker. „Theater als Wissenschaft. Abschied von Artur Kutscher“. Der Tagesspiegel 31. August 1960: 4. Baumann, Max. „Fragen der Commedia dell’arte. Prof. Kutscher vor der Theatersamm‐ lung“. Hamburger Tageblatt 19. Oktober 1942: 2. Behrens, Peter. Feste des Lebens und der Kunst, eine Betrachtung des Theaters als höchsten Kultursymbols. Leipzig: Diederichs, 1900. Benjamin, Walter. „Das Gartentheater“ (1934). Kritiken und Rezensionen. [Gesammelte Schriften. III Bd.]. Hg. Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt / M.: Suhrkamp Verlag, 1991. 432-434. “Big Audience For Play In German”. The Canberra Times 30. July 1957: 5. Blei, Franz. Erzählung eines Lebens. Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2004. Boglione, Giuseppe. 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Stuttgart: Teubner; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 4 1959. ---. „Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn“ (1886). Die Geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Zweite Hälfte. Abhandlungen zur Poetik, Ethik und Päda‐ gogik. [Gesammelte Schriften. VI. Bd.]. Hg. Karlfried Gründer. Göttingen: Vanden‐ hoeck & Ruprecht, 4 1962. 90-102. ---. „Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik“ (1887). Gesammelte Schriften. VI. Bd. 103-241. ---. „Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe“ (1892). Gesam‐ melte Schriften. VI. Bd. 242-285. ---. Das Erlebnis und die Dichtung: Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin (1906). Stuttgart: Teubner; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 13 1957. Gedruckte Quellen 313 <?page no="314"?> Dinger, Hugo. Dramaturgie als Wissenschaft. 2 Bde. Leipzig: Veit & Comp, 1904 (Bd. I), 1905 (Bd. II). „Drei Jahre Aktions-Arbeit“. Phöbus, Jg. 1, H. 2 (Mai 1914): 85-86. 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