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Sprach- und Textkulturen – interkulturelle und vergleichende Konzepte

0813
2018
978-3-8233-9086-2
978-3-8233-8086-3
Gunter Narr Verlag 
Csaba Földes

Die Thematik des Bandes bewegt sich im Spannungsfeld von Kultur, Kommunikation und Sprache, indem kultur- bzw. interkulturalitätsbezogene Aspekte von Texten beleuchtet werden. Folglich thematisieren die Aufsätze zum einen, wie sprachliche Merkmale von Texten mit kulturellen, sozialen und medialen Kommunikationsbedingungen zusammenhängen, unter denen sie entstehen, zum anderen werden Korrelationen zwischen Text- bzw. Diskurstraditionen und (Sprach-)Kulturen aufgezeigt. Die präsentierten konzepttheoretisch und empirisch ausgerichteten Studien behandeln verschiedene Diskursformen und Textsorten und leisten in germanistischer Perspektive einen Beitrag zur Etablierung der Forschungsorientierung ,interkulturelle Linguistik'.

<?page no="1"?> Beiträge zur Interkulturellen Germanistik Herausgegeben von Csaba Földes Band 11 <?page no="3"?> Csaba Földes (Hrsg.) Sprach- und Textkulturen - interkulturelle und vergleichende Konzepte <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk ist einschließlich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck: Hergestellt in der Druckerei der Pannonischen Universität Veszprém im Umfang von 29,9 Druckbögen (B/ 5). Arbeitsnummer: 2018/ 73 Printed in Hungary ISSN: 2190-3425 ISBN: 978-3-8233-8086-3 <?page no="5"?> Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Kirsten Adamzik | Presse in einem mehrsprachigen Land: Deutschschweiz und Romandie im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Matthias Fingerhuth/ Hans C. Boas | Anglizismen zwischen Linguistik und Laien-Linguistik: Zum Fremdwortpurismus des Vereins Deutsche Sprache im Anglizismen-Index. Eine frame-semantischen Analyse seiner Metatexte . . . 19 Csaba Földes | Mediensprache im Kontakt der Kulturen: Beispiel „Moskauer Deutsche Zeitung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Marianne Franz | Pressediskurse kultur-kontrastiv: Skizze eines interdisziplinären Untersuchungsdesigns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Christina Gansel | Textsorten in sozialen Systemen und ihre kulturelle Ausprägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Svitlana Ivanenko | Der Textsortentyp Reiseroman in der modernen deutschen und ukrainischen Literatur aus interkultureller Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Erika Kegyes | Deutsche und ungarische Geschäftsbriefe im Vergleich: Eine interlinguale kontrastiv-pragmatische Analyse von Einzelphänomenen der Textsorten Anfrage und Angebot . . . . . . . . . . . . 137 Annikki Koskensalo | „Araber-Knigge“ in der Region Zell am See und Kaprun (Salzburg/ Österreich): Misslungener Kultur-Transfer oder Beispiel für eine gegenseitige Wirt-Gast-Toleranz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 <?page no="6"?> VI Inhalt Michaela Kováčová | Deutsche und slowakische universitäre Abschlussarbeiten im textlinguistischen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Abdel-Hafiez Massud | Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen überdenken - Eine Analyse am Beispiel der pronominalen Selbstreferenz ich und wir in argumentativen Texten . . . 197 Attila Mészáros | Wissen interkulturell vermitteln - Zur Problematik des fachexternen Wissenstransfers im Computerfachbereich . . . . . . . . . . . . . 225 Lyubov Nefedova | Zwischen Fremdem und Eigenem: Lehnwörter im Deutschen und im Russischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Marie A. Rieger | Sind deutsche Frauen emanzipiert und italienische Männer emotional? Leserbriefe als Testfall für Kulturstandards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Liudmila Slinina | Nachrichten in Deutschland und in Russland - Transkulturelle und interkulturelle Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Michael Szurawitzki | Mikroblogs als organisationale Kommunikation - Ein deutsch-chinesisch-englischer Vergleich: Ziel, Methode, Korpus und erste Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 József Tóth | Sprachspezifische Aspekte der Bedeutungsbeschreibung: Strukturierte Ereigniskomplexe im deutsch-ungarischen Sprachvergleich . 315 Herausgeber und Beiträger(innen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 <?page no="7"?> Vorwort Am 25. und 26. September 2015 fand die dritte Tagung des Internationalen Forschungs- und Nachwuchsförderungsnetzwerks für Interkulturelle Germanistik (IFNIG) unter dem Titel „Sprach- und Textkulturen ‒ interkulturelle und vergleichende Konzepte“ - als gemeinsame Veranstaltung der Pannonischen Universität Veszprém (Ungarn) und der Universität Erfurt (Deutschland) - in Veszprém statt. Ein Ausgangspunkt des Tagungskonzepts war: In der Sprachwissenschaft gilt es gleichsam als Axiom, dass zwischen Kommunikation und Kultur ein enges Beziehungsgeflecht besteht. Die intensive Beschäftigung mit kulturell bedingten Aspekten von Sprache und Kommunikation erklärt sich nicht zuletzt mit dem cultural turn in der Linguistik, der sich u.a. durch Untersuchungen zu kulturbezogenen Besonderheiten in verschiedenen sprachlichen Kontexten auszeichnet. Momente der jeweiligen Kultur, in der die Sozialisierung der Sprecher erfolgt, färben - kulturwissenschaftlichen, linguistischen, psychologischen usw. Untersuchungen zufolge - auf die Denkweise und dadurch auch auf die Art der Kommunikation ab. Dieser Einfluss zeigt sich auch in der Auffassung von Kultur als „Orientierungssystem“ oder als eine „Menge von Zeichenprozessen“. Deshalb lässt sich unter linguistischem Blickwinkel die Frage stellen, wie kulturbedingte Einflüsse im kommunikativen Verhalten identifiziert und beschrieben werden können. Solche Einflüsse wurden im Wissenschaftsdiskurs bereits in mehreren Kodesystemen, wie z.B. im verbalen, nonverbalen und paraverbalen Bereich der Kommunikation zwischen Akteuren mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund, angesprochen. Dabei wurden kulturspezifische Aspekte im Hinblick auf Wortschatzbeschreibungen, auf die Phraseologie, auf die Gesprächsanalyse, auf die Interaktionsanalyse usw. behandelt. Die Erforschung kultursensitiver Facetten der Kommunikation hat in den letzten Jahrzehnten in der interkulturell ausgerichteten Kommunikationsforschung eine zentrale Rolle eingenommen. Diese interkulturalitätsbezogene Ausrichtung der Forschungsansätze zeigt sich u.a. in den neuen Wissensfeldern ,Interkulturelle <?page no="8"?> Vorwort VIII Kommunikation‘ und ,Interkulturelle Linguistik‘, die sich genuin auch mit Theorie und Empirie des Vergleichs zwischen Sprach- und Kommunikationskulturen und insbesondere mit deren Interaktionen in kulturellen Überschneidungssituationen beschäftigen. Neben der Face-to-Face-Kommunikation wurde das Thema der kulturellen Parameter auch in den Forschungen zur schriftlichen Kommunikation bereits angesprochen. Unsere Tagung verfolgte das Ziel, die obigen kulturbzw. interkulturalitätsorientierten Forschungsmomente gezielt im Hinblick auf die Kommunikation mittels Texte zu reflektieren. Dabei standen zum einen kulturrelevante und interbzw. transkulturelle Aspekte speziell von geschriebenen Texten, zum anderen die Beziehung zwischen Texten und Sprachkulturen im Fokus. Dementsprechend wurde die Frage nach Ähnlichkeiten und Unterschieden der Textgestaltung in verschiedenen Sprachbzw. Diskurskulturen gestellt und darauf fokussiert, welche linguistisch relevanten Einflüsse des jeweiligen kulturellen Referenzrahmens der Verfasser sich in den Texten zeigen und wie diese Auswirkungen beschrieben werden können. Einerseits war also zu klären, wie sprachliche Phänomene von Texten mit dem kulturellen Hintergrund der Verfasser zusammenhängen, andererseits sollten Zusammenhänge zwischen Texttraditionen und Sprachkulturen aufgezeigt werden. Einen Schwerpunkt bildeten hierbei unterschiedliche Textsorten und ihre sprachlichen Gestaltungsmittel. Zu möglichen Analyseobjekten in diesem Bereich können die Textstrukturen, Aspekte der thematischen Entfaltung, Argumentationsarten, sprachliche Merkmale der Direktheit usw. gehören. Somit ging es darum, einen Beitrag zur Erforschung kulturbzw. interkulturalitätsbezogener Aspekte in Textsorten, wie z.B. von Briefen, wissenschaftlichen Publikationen usw., zu leisten. Insgesamt bewegt sich die Thematik des Bandes im Spannungsfeld von Kultur, Kommunikation und Sprache, indem kulturbzw. interkulturalitätsbezogene Aspekte von Texten beleuchtet werden. Folglich thematisieren die Aufsätze zum einen, wie sprachliche Merkmale von Texten mit kulturellen, sozialen und medialen Kommunikationsbedingungen zusammenhängen, unter denen sie entstehen, zum anderen werden Korrelationen zwischen Textbzw. Diskurstraditionen und (Sprach-)Kulturen aufgezeigt. Die präsentierten konzepttheoretisch und empirisch ausgerichteten Studien behandeln verschiedene Diskursformen und Textsorten und leisten in germanistischer Perspektive einen Beitrag zur Etablierung der Forschungsorientierung ,Interkulturelle Linguistik‘. Die Abhandlungen des Bandes gehen größtenteils auf die Tagungsvorträge zurück: Das Buch präsentiert eine Auswahl der vorgetragenen Referate sowie einige einschlägige Aufsätze, die von Nicht-Teilnehmer(inne)n zum Tagungsthema eingereicht wurden. Unser Anliegen ist es, mit dieser Veröffentlichung <?page no="9"?> Vorwort IX die angesprochenen Fragestellungen auf einem anspruchsvollen wissenschaftlichen Niveau in einem Band mit hoher thematischer Konsistenz zu behandeln. Deshalb wurden alle Manuskripte von ausgewiesenen Expert(inn)en der gegebenen Themenfelder „doppelblind“ begutachtet. Hiermit danke ich folgenden Kolleg(inn)en, die freundlicherweise nicht nur die auch tatsächlich zur Publikation angenommenen Texte begutachtet haben: Prof. Dr. Jannis Androutsopoulos (Universität Hamburg), Prof. Dr. Gerd Antos (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg), Prof. Dr. Jochen A. Bär (Universität Vechta), Prof. Dr. Matthias Ballod (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg), Dr. habil. Rita Brdar-Szabó (Loránd-Eötvös-Universität Budapest), Prof. Dr. Harald Burger (Universität Zürich), Prof. Dr. Erzsébet Drahota-Szabó (Universität Szeged), Prof. Dr. Hans-R. Fluck (Ruhr-Universität Bochum), Prof. Dr. Werner Holly (TU Chemnitz), Prof. Dr. Helga Kotthoff (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg), Prof. Dr. Hilda Matta (Universität Kairo), Prof. Dr. Holt Meyer (Universität Erfurt), Prof. Dr. Ulrike M. Reeg (Aldo-Moro-Universität Bari), Prof. Dr. Thorsten Roelcke (TU Berlin), Prof. Dr. Jürgen Spitzmüller (Universität Wien), Prof. Dr. Ulrich Schmitz (Universität Duisburg-Essen), Prof. Dr. Winfried Thielmann (TU Chemnitz) und Prof. Dr. Stefan Wolting (Adam-Mickiewicz- Universität Posen/ Poznań). Worte des Dankes ergehen vor allem an die Tagungssekretärin, Frau Dr. Bianka Burka-Rauhut, für ihre kompetente Hilfe bei der Tagungsorganisation und -abwicklung sowie an Frau Judith Freier, M.A. für die Redaktionsarbeiten, einschließlich der Lektorierung, an diesem Band. Abschließend sei allen Autorinnen und Autoren aufs Herzlichste gedankt, dass sie mit ihren Beiträgen die Tagung und die Buchveröffentlichung bereichert haben. Sowohl als Bandwie auch als Reihenherausgeber hoffe ich, dass die vorliegende Publikation eine - auch impulsgebende - Bereicherung für die internationale, und besonders für die interkulturelle, Germanistik sein wird. Erfurt, im Frühjahr 2018 Csaba Földes <?page no="11"?> Presse in einem mehrsprachigen Land: Deutschschweiz und Romandie im Vergleich Kirsten Adamzik (Genf) Zusammenfassung Zunächst werden die sprachlichen Verhältnisse sowie die Presselandschaft der Schweiz grob vorgestellt. Trotz der großen Vielfalt des Medienangebots und des Interesses an nationeninterner Kulturverschiedenheit - dieses schlägt sich im Bild des Röstigrabens nieder - gibt es nur wenige Untersuchungen zu vergleichbaren Medientexten. Der Aufsatz widmet sich speziell einem bislang kaum beachteten Pressetyp, den Mitgliederzeitungen der Handelsunternehmen Coop und Migros. Diese erscheinen nicht nur in drei Sprachen, sondern für die deutsche und französische Schweiz auch jeweils in mehreren regionalen Ausgaben. Während der (werbende) Teil zu Sortiment und Angeboten weitgehend übereinstimmt, verantworten sprachregionale Teams überwiegend unabhängig voneinander den redaktionellen Teil. Auch in den eher seltenen Fällen, wo es zu Übersetzungen in die eine oder andere Richtung kommt, geht man sehr frei mit dem jeweiligen Ausgangsmaterial um. Dies wird an einem Fallbeispiel erläutert. 1 Einleitung Der Sprachvergleich stellt ein besonders interessantes, aber auch methodisch schwieriges Untersuchungsfeld dar, weil verschiedene Faktoren intervenieren. Während es in der kontrastiven Textologie früher ganz üblich war, mit - meist relativ kleinen - Teil-Korpora zu arbeiten, die jeweils zugleich eine Sprache, eine Kultur und eine Nation repräsentieren sollten, wird eine solche Gleichsetzung inzwischen stark kritisiert. 1 Daher bietet sich die Schweiz für vergleichende Untersuchungen besonders an, haben wir es doch hier mit einem nationalen Kontext, aber vier Landessprachen zu tun. 1 Vergleiche dazu als knappen Überblick über die Diskussion Hauser/ Luginbühl (2010). Ausführlich zur Problematik auch Luginbühl (2014: Kap. 2) in seiner vergleichenden Studie zu Fernsehnachrichten in den USA und der Deutschschweiz. Vgl. auch Adamzik (2010). <?page no="12"?> Kirsten Adamzik 2 Da über die Sprachverhältnisse in der kleinen Schweiz (Wohnbevölkerung: 8,2 Mio.) im Ausland vielfach falsche Vorstellungen herrschen, seien sie hier zunächst vorgestellt (Abb. 1). Abb. 1: Sprachverteilung in der Schweiz (Schweizerische Bundeskanzlei 2016: 6) 2 In der Schweiz herrscht das sog. Territorialitätsprinzip, d.h. von den 26 Kantonen haben nur vier mehrere Amtssprachen: Bern, Wallis und Freiburg Deutsch und Französisch, Graubünden Deutsch, Rätoromanisch und Italienisch. In den meisten Gemeinden dieser mehrsprachigen Kantone gilt aber wiederum nur eine Amtssprache. Daher beherrscht die Mehrheit der Bevölkerung Zweit- oder Fremdsprachen nicht besser als die in ,einsprachigen ʻ Ländern Europas. Für immerhin 20 % ist keine der Landessprachen die Erstsprache. Was den Kontakt mit anderen Landessprachen im öffentlichen Sektor angeht, so lassen sich drei idealtypische Konstellationen unterscheiden: a) Die Individuen kommunizieren mehrsprachig, sprechen oder schreiben nämlich jeweils in der von ihnen am besten beherrschten Amtssprache, verstehen aber die anderen. Dieser Typ wird gern als schweizerisches Modell bezeichnet und ist v.a. charakteristisch für das Bundesparlament und die Kommunikation (auf der Leitungsebene) von Bundesverwaltung, Militär, Parteien, 3 Post, Bahn, Banken, Versicherungen, Berufsvereinigungen und sonstigen national agierenden Organisationen. b) Die Texte werden übersetzt. Das gilt für die allermeisten der in den Bereichen unter a) entstehenden Texte, sofern sie an die Öffent- 2 Gefragt ist nach der Erstsprache; Mehrfachnennungen sind möglich, daher addieren sich die Anteile auf 115,5. 3 Parteien stellen eine besonders interessante Formation dar, die auch über Gruppenzeitungen verfügt. Welche Konstellationen sich bei Schweizer Parteizeitungen finden, behandelt Bohn (2014). <?page no="13"?> Presse in einem mehrsprachigen Land 3 lichkeit adressiert sind, denn alles, was auf Bundesebene gilt, muss in allen Amtssprachen vorliegen. c) In den Sprachgruppen werden unabhängig voneinander Paralleltexte produziert. Diese Gruppe ist in sich am heterogensten. So haben alle Kantone eine Verfassung, aber eben nur eine. Eine große Vielfalt thematisch ähnlicher Texte findet man dagegen v.a. in den Massenmedien. Diese können einander sehr ähnlich sein, da sie teilweise auf denselben Agenturmeldungen beruhen, sie können aber auch, besonders im regionalen Teil, ganz verschiedene Einzelthemen betreffen. Für sprachvergleichende Untersuchungen im engeren Sinn eignen sich besonders gut Texte der Gruppe b). Da sie aber innerhalb von mehrsprachigen „communities of practice“ entstehen, ist es nicht unproblematisch, daraus auch auf kulturelle Unterschiede zu schließen; sie offenbaren eher so etwas wie Gruppenkulturen im Sinne z.B. von Unternehmenskulturen. Um zu untersuchen, ob die nationalen Sprachgruppen auch kulturell unterschiedliche Gemeinschaften darstellen, ist es sinnvoller, auf Texte der Gruppe c) zu rekurrieren. Die Vorstellung, dass es tiefgreifende Mentalitätsunterschiede insbesondere zwischen den Deutschschweizern und den Frankophonen, den ‚Welschen‘, gibt, bildet ein altes Element des Selbstbildes, von dem nach Einschätzung des Historischen Lexikons der Schweiz besonders die Medien viel Aufhebens machen. Es kristallisiert sich in dem Ausdruck Röstigraben: Das Bild des Grabens, der die beiden grossen Landesteile trenne, kam mit der Verstärkung des bereits vor 1914 bestehenden Binnengegensatzes […] in den ersten Monaten des 1. Weltkriegs auf und beherrscht seither die gegenseitige Wahrnehmung. Das Epitheton ,Rösti ʻ kam wahrscheinlich erst in den 1970er Jahren hinzu, als […] mit der Wirtschaftskrise nach 1973, mit der Auswirkung des Jurakonflikts und der zunehmenden Bedeutung der sprachregional organisierten Medien ein Gegensatz zwischen den Landesteilen v.a. in den Medien wieder hochgespielt wurde (Kreis 2012: online). Über die selbstverständlich sehr verwickelten Verhältnisse um das Röstigraben- Stereotyp orientiert ausführlich Christophe Büchi, „Westschweizer Korrespondent deutschsprachiger Medien und quasi professioneller ,Röstigrabologe ʻ “ (Büchi 2000: 20). 2 Kontrastive Untersuchungen zu Schweizer Pressetexten Trotz des großen Interesses, das vergleichende Untersuchungen von Deutsch- und Westschweizer Pressetexten haben, sind entsprechende Arbeiten außer- <?page no="14"?> Kirsten Adamzik 4 ordentlich rar. Besonders bemerkenswert ist, dass zwei Studien (Fehr-Buchter 1994 und Schwegler 2009), die sich ausdrücklich zum Ziel gesetzt hatten, den Röstigraben im Spiegel von Tageszeitungen aufzusuchen, ihre Ergebnisse selbst als eher enttäuschend einstufen. Vor allem lassen sie gut erkennen, wie schwierig und problematisch ein solcher Versuch ist. Beide wählen nur jeweils zwei Organe aus, Fehr-Buchter die auflagenstärksten aus der Gruppe der „seriösen Tagespresse“, die auch ungefähr dasselbe Leserprofil haben, nämlich den „Tages-Anzeiger“ und „24 heures“. Schwegler zieht die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) heran. Dies ist das einzige auch international bedeutsame Blatt. Es hat in der Westschweiz kein wirkliches Pendant und wird von den Eliten dort ebenfalls gelesen. Am nächsten kommt ihm das von Schwegler denn auch vergleichend herangezogene Organ „Le Temps“. 4 Damit haben wir gewissermaßen die beiden Leuchttürme aus den jeweiligen Sprachregionen vor uns, wie sie auch sonst bevorzugt für vergleichende Untersuchungen herangezogen werden. Eben deswegen sind sie allerdings keineswegs repräsentativ. Tatsächlich ist die „zunehmende Bedeutung der sprachregional organisierten Medien“ nicht so zu verstehen, dass nur wenige Organe einen relevanten Stellenwert hätten. Das trifft allenfalls auf Rundfunk und Fernsehen zu, wobei allerdings zu beachten ist, dass in beiden Regionen Angebote aus Frankreich bzw. Deutschland und Österreich intensiv genutzt werden, während die anderssprachigen Sender des eigenen Landes kaum auf Interesse stoßen. Was Zeitungen angeht, so ist zwar auch für die Schweiz ein Konzentrationsprozess zu beobachten (Bonfadelli et al. 2010: 449ff.). Dennoch weist die Schweiz im internationalen Vergleich eine ausgesprochen hohe Zeitungsdichte auf (363), die sich durch stark regionale Orientierung auszeichnet. „Die Datenbank Media des VSW (Verband Schweizer Werbegesellschaften) zählt alleine in der Kategorie Tages-, regionale Wochen- und Sonntagspresse 436 Titel. […] Das im weltweiten Vergleich einmalige Angebot wird komplettiert durch weitere 2.333 Produkte der Publikums-, Finanz-, Wirtschafts-, Spezial- und Fachpresse.“ (AG für Werbemedienforschung: online). 5 Inwieweit die zunehmende Konzentration der Organe in wenigen Medienunternehmen (vgl. für eine Übersicht zur Schweiz Bonfadelli et al. 2010: 451) zu 4 Schweglers (2009) Untersuchung beschränkt sich auf (etwa 30) Kommentare zu Volksabstimmungen, bei denen Deutschschweiz und Romandie unterschiedlich vo tiert haben, der Röstigraben also besonders deutlich zum Vorschein kam. Sie folgt der Methodik der Inhaltsanalyse, bei der sprachlich-stilistische Unterschiede ver nachlässigt werden. 5 Vergleiche dazu die Abbildungen unter http: / / www.unige.ch/ lettres/ alman/ files/ 74 14/ 7853 / 5429/ adamzik2016-abb.pdf. <?page no="15"?> Presse in einem mehrsprachigen Land 5 einer Uniformisierung von Inhalten und Darstellungsformen führt, ist kaum untersucht und lässt sich angesichts der großen Menge von Titeln auch schwer ermitteln. Festzuhalten ist jedenfalls, dass Organe, die im selben Medienunternehmen erscheinen, keineswegs ,gleichgeschaltet ʻ sind, sondern sehr unterschiedliche Zielgruppen bedienen. So erscheinen z.B. die drei Wochenmagazine „L ʻ hebdo“ (zu dessen Bedeutung vgl. auch Büchi 2000: 262ff.), „L’Illustré“ und „Schweizer Illustrierte“ alle bei Ringier, dem Medienunternehmen, das auch das Deutschschweizer Boulevardblatt „Blick“ herausbringt. Sie haben jedoch eine sehr unterschiedliche Ausrichtung und nur vom Titel her (und historisch) erscheint „L ’ Illustré“ als Pendant des deutschsprachigen Blattes, beide werden von verschiedenen Redaktionen verantwortet und haben inhaltlich nichts miteinander zu tun. Zu Zeitschriften, speziell den sog. Special-Interest- Angeboten, gibt es insgesamt wenig Forschung (Bonfadelli et al. 2010: 453), d.h. die extreme intrakulturelle Heterogenität wird gar nicht in den Blick genommen. Diese kann auch nicht zum Vorschein kommen, wenn man bei Tageszeitungen nur wenige große Blätter heranzieht. Man könnte zwar annehmen, dass die Menge der Titel tatsächlich irreführend ist, da sog. Kopfblätter existieren, deren überregionaler Teil, insbesondere die Kernkomponente Nachrichten, identisch ist. Auch bei selbstständigen Blättern geht dieser noch dazu teilweise auf internationale oder nationale Agenturen zurück. Klarerweise wird aber nur ein kleiner Teil der tatsächlichen Vielfalt abgedeckt, wenn man sich beim Vergleich auf diese Elemente beschränkt (vgl. dazu auch Grösslinger et al. 2012). Fehr-Buchter kontrastiert immerhin Nachrichten, Kommentare und Kritiken (in jeweils sechs Ausgaben), geht also auch textsortenspezifischen Unterschieden nach. Sie ist allerdings anscheinend auf so wenige Texte gestoßen, die auch thematisch vergleichbar sind, dass sie inhaltliche Übereinstimmungen und Unterschiede für Textpaare gar nicht thematisiert, sondern sich für das Inhaltliche auf einen quantitativen Vergleich des Anteils verschiedener Rubriken beschränkt. Geht man der Frage etwas genauer nach, aus welchen inhaltlichen Hauptkategorien verschiedene Blätter bestehen, so ergibt sich für Tageszeitungen, dass zwar die traditionellen Teile Politik, Wirtschaft, Sport und Kultur (Bonfadelli et al. 2010: 231) überall erkennbar sind. 6 Dennoch lassen sich die Rubriken verschiedener Titel nicht leicht vergleichen bzw. aufeinander abbilden. Dazu trägt schon die unterschiedliche Ressortstrukturierung nach Ausland, In- 6 Diesen Vergleich haben wir im Rahmen eines Seminars (Herbst 2014) lediglich für etwa 20 Organe durchgeführt. Ich danke den Teilnehmer(inne)n für die Ergebnisse, die wir gemeinsam erzielt haben und die für alle überraschend waren. <?page no="16"?> Kirsten Adamzik 6 land und Region bei, erst recht aber der Teil Sonstiges, nicht zuletzt Unterhaltung, und jeweils spezifische Kolumnen. Ferner variieren Umfang und Gliederung je nach Wochentag/ Ausgabe relativ stark, insbesondere aufgrund von Beilagen, die jeweils besondere Zielgruppen ansprechen. Auch die Inhalte sind - abgesehen von wenigen international oder national bedeutsamen Ereignissen - verschiedener als vermutet. Es ist also tatsächlich gar nicht so einfach, Texte zu finden, die in etwa die gleiche kommunikative Aufgabe erfüllen, also zu der oben angesetzten Gruppe c) gehören und ferner gut vergleichbare Inhalte betreffen. Das widerspricht natürlich stark der vermuteten sprachregionalen oder gar nationalen Einheitlichkeit von Presseorganen. Zur Kritik an traditionellen kulturvergleichenden Untersuchungen gehört inzwischen auch, dass sie sich auf die Hochkultur beschränken. Für die Presselandschaft gilt das noch immer in hohem Grade. 3 Die Wochenblätter der Handelsketten Migros und Coop 7 Alltagskultur repräsentieren in der Schweiz eher die Mitgliederzeitungen der Migros und Coop, ferner Gratisblätter und Pendlerzeitungen (Bonfadelli et al. 2010: 29 und 450). Karl Lüond hat 2005 den Mitgliederzeitungen (neben den genannten der des Automobilklubs TCS) in der NZZ eine kleine Artikelserie gewidmet. Er stellt darin zunächst fest: Wahrgenommen werden sie - von der Politik, aber auch in Teilen der Medien branche - immer noch als Werbepostillen ihrer Konzerne. In Wirklichkeit rei hen sich die grössten Mitgliederzeitungen […] locker unter die zehn umsatz stärksten privaten Medienbetriebe des Landes ein (2005a: online). Coop und Migros erreichen mit ihren Blättern inzwischen über drei Millionen Leser (ca. 60 % davon weiblich) und betreiben seit den 1990er Jahren offensiv und erfolgreich Anzeigenpolitik für andere Anbieter, wirtschaften also äußerst profitabel. Die Migros, die 1925 von dem streitbaren Geschäftsmann und Politiker Gottlieb Duttweiler gegründet wurde, hat „zu allen Zeiten ihre kommerziellen Botschaften durch das Mittel der Publizistik politisch und emotionell aufgeladen.“ (Lüond 2005c: online). Das seit 1928 in drei Sprachgebieten erscheinende Blatt der Coop, zunächst als „Genossenschaftliches Volksblatt“, war 7 Für Vorarbeiten hierzu, insbesondere die Einholung von Informationen bei den Re daktionen, danke ich Roxane Afrough (Coop) und Bernarda Frank (Migros). <?page no="17"?> Presse in einem mehrsprachigen Land 7 dagegen von jeher „politisch auffallend diskret“ (Lüond 2005b: online) und sein Themenspektrum ist in dieser Hinsicht auch heute etwas beschränkter. Selbstverständlich liegt der wesentliche pragmatische Wert der „Coopzeitung“/ „Coopération“/ „Cooperazione“ und von „Migros-Magazin“/ „Migros Magazine“/ „Migros Azione“ in den Informationen über das Sortiment und die jeweiligen Angebote. Ausschneidbare Rabattzettel, Gewinnspiele usw. suchen die Leserbindung zu stärken. Es gibt aber auch einen bedeutsamen redaktionellen Teil. Der Schwerpunkt liegt hier auf Familie, Gesellschaft, Essen und Trinken, Gesundheit/ Fitness, Reisen, Hobbys, Unterhaltung. Die Blätter berichten grundsätzlich nicht über im eigentlichen Sinn tagesaktuelle Ereignisse. Dass die Mitgliederzeitungen jeweils in drei Sprachen erscheinen, ist zu erwarten, weniger dagegen zunächst der Tatbestand, dass die „Migros“ sogar 10 unterschiedliche Regionalteile hat: „Jede Region stellt auf diesen Seiten das regionale Sortiment, die Aktivitäten des Kulturprozents, genossenschaftliche Initiativen oder die Erfahrungen der Kunden vor“ (Migros 2015: online). 8 Am wichtigsten ist aber, dass die verschiedensprachigen Redaktionen weitgehend unabhängig voneinander arbeiten. Wir haben also nicht den Typ b), sondern c) vor uns. Übersetzt wird hauptsächlich der nicht-redaktionelle Teil, also die Angebote bzw. Werbungen. Welche Bedeutung die lokale Komponente auch in der „Coopzeitung“ hat, die in insgesamt 21 Ausgaben erscheint, zeigt sich z.B. in Heft 35/ 2015 bei einer ganzseitigen Werbung für Backwaren von Coop. Die Schlagzeile: „Unsere Leidenschaft spüren Sie mit jedem Bissen.“/ „Notre passion, vous la ressentez à chaque bouchée.“ bzw. „Passione allo stato puro. Un morso dopo l’altro.“ Diese Aussage wird fünf verschiedenen Bäckern und einer Bäckerin in den Mund gelegt, die mit Namen und Arbeitsort sowie einem Foto bei ihrer Arbeit (1/ 3 der Seite) vorgestellt werden. Immerhin enthalten die Sprachversionen pro Ausgabe auch etwa fünf bis sechs themenidentische Artikel, also solche, die zum Typ b) gehören. Die meisten von ihnen (zu etwa 80 %) gehen den Weg vom Deutschen (mit der jeweils größten Redaktion) ins Französische. Dabei werden zunächst externe Übersetzungsbüros beauftragt, deren Ergebnisse dann hauseigene Mitarbeiter redaktionell bearbeiten. Dazu schreibt der stellvertretende Chefredaktor der „Coopzeitung“: Gründe dafür: Es bestehen sprachliche, kulturelle, Mentalitäts- und zum Teil journalistisch-handwerkliche Unterschiede zwischen der französischsprachigen 8 Das sog. Migros-Kulturprozent ist ein freiwilliges finanzielles Engagement des Un ternehmens im Bereich von Kultur und Bildung. Zu seinen Besonderheiten gehört auch, dass es weder alkoholische Getränke noch Tabakwaren im Sortiment hat. <?page no="18"?> Kirsten Adamzik 8 und unserer Redaktion, sodass es nicht immer möglich ist, einen übersetzten Text tel quel zu übernehmen. Es gibt Texte, die auf Französisch bzw. in der Suisse Romande funktionieren. Aber wenn man sie auf Deutsch übersetzt, funktionieren sie nicht mehr. Kommt hinzu, dass Übersetzer in der Regel eben Übersetzer sind und keine Journalisten/ Redaktoren, die etwas übersetzen. Also müssen wir die Texte in eine Form bringen, die für uns stimmt (E-Mail vom Januar 2015 an Roxane Af rough). Da sind sie also wieder, die Mentalitätsunterschiede, jedenfalls neben anderem. Genauer zu bestimmen, worin sie nun bestehen, bleibt allerdings schwierig. Bei der Durchsicht mehrerer Dutzend Artikel konnten wir viele Veränderungen nicht nachvollziehen. Die Originalfassungen schienen uns in aller Regel ansprechender. Es wäre also durchaus möglich, dass der Vergleich weniger Gemeinsamkeiten jeweils unter den deutschen bzw. französischen Fassungen erkennen lässt als unter den Originalen und den Bearbeitungen. Eine ausführliche und umfangreiches Material einbeziehende Studie steht allerdings noch aus. Daher soll hier nur ein Beispiel (Coop 35/ 2015) herangezogen werden. Es repräsentiert den selteneren Fall eines französischen Ausgangstextes, bei dem jedoch sehr offenkundig ist, dass die Bearbeiterin, Annina Striebel, meinte, dieser Artikel könne in der Deutschschweiz nicht funktionieren. Sie zeichnet auch als Autorin, Jean Pinesi, der Verfasser der Ausgangsversion, erscheint erst an zweiter Stelle. Eine italienische Fassung des Artikels gibt es leider nicht. 4 Fallbeispiel: Die erste Wohnung - „Rêve de jeune“ versus „Bereit? Los! “ 9 Es handelt sich um eine Tit e l g e s c hi c ht e / Z o o m , ein Format, das die „Coopzeitung“ noch in den Mediadaten für 2015 (Coop: online) als Bestandteil eines neuen Konzepts herausstellt. Dabei ist ein Themenkomplex über mehrere Komponenten und Seiten, verteilt. Dies erlaubt es, nicht nur einen Text zu vergleichen, sondern einen kleinen Textverbund. Bei unserem Beispiel kehrt das Thema auf insgesamt elf Seiten wieder. Neben dem Titelblatt, dem Inhaltsverzeichnis (S. 5) und dem Hauptartikel (S. 14-19) gilt dem Thema das Editorial auf Seite 4. Dort findet sich außerdem regelmäßig ein Kurzcomic, im Deutschen „Die Ladenhüter“ von Boris Zatko, im Französischen „Elodie et famille“ 9 Die Quellentexte sind einsehbar unter: http: / / www.unige.ch/ lettres/ alman/ index. php/ download_file/ view/ 812/ 416/ . <?page no="19"?> Presse in einem mehrsprachigen Land 9 von Nano. Nur die Episode der französischen Serie ist in unserem Heft an das Thema angepasst. Auf Seite 7 erscheint regelmäßig die Rubrik „Meinungen/ Opinions“ mit einer Umfrage, in diesem Heft: „Mit wem haben Sie Ihre erste Wohnung geteilt? “ Schließlich zählt ausdrücklich zur Titelgeschichte noch eine Seite mit dem Haupttitel „S’installer/ Einrichten“ (20), auf der einige Artikel der Coop-Gruppe beworben werden (Staubsauger, Stuhl, Umzugskartons, Geschirr und Deckenleuchte). Wenn man die Hefte am Bildschirm einsieht, kann man alle genannten Seiten auf einen Blick betrachten. Abgesehen davon, dass ganzseitige Werbeseiten nicht immer an der gleichen Stelle stehen, wirken die beiden Sprachversionen gleich - für das Layout ist auch dieselbe Person verantwortlich. Von weitem hat man also den Eindruck, denselben Textverbund vor sich zu haben. Teilweise gravierende Differenzen zeigen sich erst bei näherem Hinsehen. Diese werden im Folgenden behandelt, beginnend mit den Seiten, die von der eigentlichen Titelgeschichte entfernt sind, über das zentrale Textcluster bis hin zu dessen Fließtext. 4.1 Die Nebentexte Im Editorial erinnern sich beide Chefredakteure an ihre erste Wohnung, die man nie vergesse: Christian Degen wählt den Titel „Die Dusche im Keller, das WC auf dem Gang“. Thierry Délèze, bei dem die sanitären Verhältnisse ähnlich prekär waren, dagegen: „Ce cher premier appart“. Der französische Text ist um fast 300 Zeichen und gut 50 Wörter länger und gibt sich nicht nur im Titel gefühlsbetonter. Während Degen mit einem komplexen Satz zur Titelgeschichte überleitet („Wie es jungen Leuten heute […] und welche Stolpersteine […] zeigen wir Ihnen […] ab Seite 14“), reiht Délèze drei direkte Fragen aneinander und schließt dann mit: „Nous avons fait les cartons avec Michele, de Neuchâtel, pour assister à un premier déménagement ma foi très bien organisé! (lire en page 14)“. Durch den Bezug auf den Protagonisten der französischen Version, Michele, dessen Foto die Titelseite einnimmt und den die Redaktion beim Umzug begleitet habe, entsteht eine sehr viel persönlichere Geschichte als im Deutschen, wo man das Thema allgemeiner und sachlicher angeht. Die letzte Bemerkung („ma foi très bien organisé! “) schlägt, an dieser Stelle noch unverständlich, einen leicht ironischen Ton an, den wir im Haupttext wiederfinden werden. Diese unterschiedliche Bedeutung des Personenbezugs kehrt im Inhaltsverzeichnis wieder: Haupttitel: „Mon premier appart“, Untertitel: „L’exemple de M. Barone, Conseils et astuces“ bzw. „Die erste Wohnung. So gelingt der grosse <?page no="20"?> Kirsten Adamzik 10 Schritt“. Das Fehlen des Namens erklärt sich teilweise daraus, dass Michele in der deutschen Fassung eine weibliche Protagonistin an die Seite gestellt wurde. Dementsprechend ist im Inhaltsverzeichnis auch das Foto zur Titelgeschichte ausgetauscht. Während man im einen Fall Michele ganz klein zwischen vielen Umzugskisten sieht („Quitter le nid parental, c’est la liberté, mais aussi des responsabilités. Un exemple avec Michele Barone“), erscheint im anderen eine Frau in halbnaher Einstellung. Legende: „Das erste eigene Reich: Carmela (20) wohnt seit Kurzem in einer WG“. Bei der Umfrage sind die Abbildung (eine junge Frau vor Umzugskisten, aber nicht Carmela) und das Diagramm völlig identisch (mit Übersetzungen), während im zugehörigen Text jeweils drei ganz unterschiedliche Einzelbefunde angesprochen werden. Im Deutschen sind das u.a. Alleinwohnende (35 %) unter einer englischen Überschrift: „Me, myself and I“. Dies ist insofern typisch, als Anglizismen in den französischen Versionen grundsätzlich seltener sind. Auf der Seite mit den Einrichtungsgegenständen sind nicht nur der Haupttext und die Titel verschieden gestaltet (z.B. „Erste eigene Wohnung - Mobiliar“ vs. „Un nid bien aménagé - Y penser“ oder „Gepolstert“ vs. „Bien assis“), sondern sogar Einzelheiten bei der Beschreibung stimmen nicht überein - übrigens entgegen den Stereotypen, nach denen die Romands u.a. durch mangelndes Umweltbewusstsein auffallen. Beim Staubsauber wird im Deutschen ausdrücklich erwähnt „stufenlos verstellbar“, im Französischen dagegen „classe d’efficacité énergétique B“. Hinreichend deutlich wird insgesamt, wie unabhängig die Redaktionen voneinander arbeiten. 4.2 Das Hauptcluster Auch der Hauptartikel selbst erscheint als Cluster: Der Fließtext ist zunächst mit Fotos samt Bildunterschriften versehen, kombiniert mit skizzenhaft eingezeichneten Einrichtungsgegenständen, von denen Michele erst träumt. Auf der doppelten Eingangsseite nimmt diese Foto-Zeichnung-Komposition vier Fünftel des Platzes ein, zusätzlich ist ein Zitat von Michele auf dem Bild platziert: „‚Emménager seul signifie que l’on est passé à l’âge adulte‘ Michele Barone, juriste“ gegenüber: „‚Ich wollte finanziell unabhängig sein.‘ Michele Barone (25), Jurist.“ Auf den nachfolgenden Seiten finden sich nochmals vier Fotos von Michele, die jeweils fast die obere Hälfte einnehmen. In der deutschen Version ist das letzte dieser Fotos durch eines von Carmela ersetzt, von der zusätzlich auch noch ein kleinformatiges Foto erscheint. Daneben gibt es in beiden Versionen eine Infografik zu Schweizer Mietpreisen (S. 16), einen Kasten mit einer <?page no="21"?> Presse in einem mehrsprachigen Land 11 Checkliste sowie jeweils ein Experteninterview, allerdings mit verschiedenen Experten zu unterschiedlichen Themen: Im Französischen mit der Geschäftsführerin des Möbelhauses von Coop, Toptip, im Deutschen mit einem Rechtsberater des Mieterverbandes. Das deutsche Cluster enthält einen zusätzlichen Kasten „Das sollte man nicht vergessen“, in dem nochmals Adressänderung und Rundfunkanmeldung behandelt werden, die beide schon auf der Checkliste vorkommen. Sie sind im neuen Kasten zwar ausführlicher behandelt, der Zusatz erklärt sich aber wohl doch in erster Linie daraus, dass dafür noch Platz verfügbar war. Der Fließtext ist im Deutschen nämlich massiv gekürzt (788 Wörter mit ca. 4095 Zeichen gegen 1366 Wörter mit ca. 6435 Zeichen). Falls auch die Checkliste zunächst auf Französisch erstellt wurde, wirkt ihre Umarbeitung wie eine Demonstration dafür, wie man im Deutschen Ordnung schafft. Der Kasten hat in beiden Versionen genau die gleiche Größe. Unter „Emménager Les points essentiels à observer“ 10 finden sich insgesamt neun Punkte, einer weniger als in der „Checkliste Haushaltsgründung: Zehn wichtige Punkte“. Das fällt nicht gleich auf, weil die Absätze im Französischen anders als im Deutschen nicht durchnummeriert sind, sondern nur als Punktaufzählung (ohne Einrückung) erscheinen. Außerdem ist der Umfang im Deutschen fast um die Hälfte kürzer. So hat man dort eine wirklich übersichtliche Liste vor sich, während man im Französischen auf den ersten Blick gar nichts unterscheiden kann. Zehn wirkt vollständiger als neun, inhaltlich liegt dieser Punkt auf einer anderen Ebene („Einrichtung planen mit Prioritäten“). Zwei Aufgaben schätzt man als unterschiedlich wichtig ein: Im Deutschen sollte man nach der Lektüre des Mietvertrags an zweiter Stelle die „Finanzierung der Mietkaution sicherstellen“, im Französischen steht das auf dem dritten Platz nach: „S’assurer que l’on est 11 en mesure de payer le loyer (règle empirique: il ne doit en principe pas dépasser un tiers de ses propres revenus)“. Mietverträge bekommt man allerdings gar nicht erst zu lesen, bevor der Vermieter (! ) meint, dass man zahlungsfähig ist. Inhaltlich sind beide Absätze jedenfalls identisch. Knapper ist die deutsche Version dagegen beim ersten Punkt. Während es nämlich dort nur heißt: „Mietvertrag genau lesen und bei Zweifeln bei einer Fachstelle erkundigen“, steht im Französischen zusätzlich: „par exemple, l’Association suisse des locataires (Asloca). Elle est représentée par des sections dans tous les cantons.“ In zwei weiteren Fällen enthält der französische Text 10 Die Titel erscheinen in speziellen Schrifttypen, hier wird nur der Unterschied zwischen Haupt- und Untertitel markiert. 11 Die finiten Verben sind unterstrichen, s.u. <?page no="22"?> Kirsten Adamzik 12 eine Präzisierung bzw. einen Spezialbegriff: „Wohnung gründlich auf Mängel untersuchen und Mängelliste […] schicken.“ vs. „Contrôler très soigneusement l’état de l’appartement dans lequel on s’apprête à emménager (état des lieux) et faire parvenir […] la liste des défauts“ Das zweite Beispiel: „Annoncer le changement d’adresse à la commune (contrôle des habitants) et au service cantonal de la circulation routière“ (+ Frist) entspricht: „Adressänderung Gemeinde, Strassenverkehrsamt“. Der beträchtliche Unterschied in der Länge geht also auf Formulierungsprinzipien zurück: Zwar werden in beiden Versionen die Aufforderungen im Infinitiv realisiert, das letzte Beispiel zeigt jedoch, dass dieser im Deutschen auch wegbleiben kann, das geschieht zweimal. Der deutsche Text enthält kein einziges, der französische immerhin fünf finite Verben, er ist also stärker ausformuliert. Dabei kommt es sogar teilweise zu einer Überexplizitheit, die man sonst eher dem Deutschen nachsagt: Es sollte überflüssig sein, zu betonen, dass man den Zustand der Wohnung prüfen sollte, in die man einziehen möchte. 4.3 Der Fließtext Wir kommen damit zum Haupttext, der nicht nur massiv gekürzt, sondern auch vom Aufbau her vollständig umgestaltet wurde. Beide Versionen weisen 4 Untertitel auf, das Original 15 Abschnitte und 92 Sätze, die Bearbeitung 8 Abschnitte und 73 Sätze. Die französische Version legt es offenbar auf eine Verquickung verschiedener Themen an: Der Text beginnt mit einem Abschnitt zu Michele und kommt immer wieder auf ihn zurück, dazwischen eingebettet sind aber noch zwei andere Stimmen, nämlich die eines Anwalts der Mietervereinigung Asloca, François Zutter, und die von Diana Francey, einer Juristin der Verbrauchervereinigung der Romandie (FRC). Daneben gibt es noch eine Art Off-Stimme, die allgemeine Aussagen über junge Leute in anderen Lebensverhältnissen macht, und ferner ein on, das den Leserbezug herstellt („On a tous […] le souvenir de ce moment exaltant. Le premier appartement c’est un peu comme le premier baiser“). Nun sind diese verschiedenen Stimmen und Themen nicht etwa säuberlich auf die betitelten Unterkapitel verteilt. Im Gegenteil: Die Zwischentitel finden sich sozusagen systematisch mitten in einem thematischen Strang. In der deutschen Bearbeitung wurde nicht nur Carmela als zweites Beispiel eingeführt, sondern auch diese „Unordnung “ beseitigt: Die (Ab-)Sätze wechseln konsequent zwischen Michele und Carmela ab, alle anderen Stimmen entfallen, und es gibt nur eine einzige allgemeine Aussage im ersten Absatz: „In einer ähnlichen Wohnsituation wie diese beiden befinden sich vermutlich einige <?page no="23"?> Presse in einem mehrsprachigen Land 13 der rund 69 000 Lehrlinge […] sowie […] Studienanfänger und […] Hochschulabsolventen.“ Die Zwischentitel stehen da, wo ein neues Thema beginnt. Abbildung 2 versucht einen visuellen Eindruck von diesen unterschiedlichen Aufbauprinzipien zu geben. Abb. 2: Makrostruktur der Artikel Nicht nur formal setzt die deutsche Version auf eine klare Gegenüberstellung, auch inhaltlich werden die beiden Figuren maximal kontrastiert: Mann - Frau, Romand - Deutschschweizerin, berufstätig - am Studienbeginn, eigene Wohnung - Wohngemeinschaft, über Internet gesucht und gefunden - per Zufall bekommen, Einrichtung gekauft - vom Vormieter übernommen und langsam angesammelt, fester Beruf - Gelegenheitsjobs, lange geplant - die neue Situation noch gar nicht richtig realisiert. Neben der Vermischung von Expertenaussagen und individuellem Fall besteht das besondere Anliegen der Originalversion darin, den Protagonisten zu charakterisieren und als Persönlichkeit sichtbar werden zu lassen. Dies geschieht sogar ganz offen, nämlich mit der Eigenschaftszuschreibung prudent. Dieser Ausdruck kommt dreimal vor, einmal verbunden mit prévoyant, einmal mit organisé. Die Charakterisierung geschieht aber auch indirekt, so bei der Beschreibung dessen, was Michele tut: „Mais quitter ses parents pour voler de ses propres ailes peut aussi avoir un côté angoissant. ‘Pas pour moi’, assure-t-il en <?page no="24"?> Kirsten Adamzik 14 sortant ses chemises soigneusement pliées d’un carton.“ Das Beispiel zeigt zugleich, dass der Leser stärker in den Gesprächsverlauf einbezogen und der Bezug zu den Bildern enger ist: Der erste Satz ist formal nicht als Redewiedergabe markiert. Diese Eigenschaft erschließt sich erst durch die direkte Rede von Michele, die als Antwort zu rekonstruieren ist. Die Leser werden dadurch in den Gedankenaustausch involviert. Dabei geht es um Gefühle, Gedanken und Einstellungen: „liberté tant désirée“, „le coup de cœur“, „Les pièces […] l’ont […] séduit“, „Enchanté de son premier chez-soi“, „l’équiper […] à son goût“. Ein Schlüsselbegriff ist responsable/ responsabilité. „Emménager seul signifie pour moi que l’on est passé à l’âge adulte. Que l’on est devenu indépendant et responsable. C’est un grand pas.“ Der erste Teil dieser Äußerung wurde im Französischen als herausgehobene Kernaussage auf der Eingangsseite gewählt. Der Ausdruck responsab* findet sich ferner im Editorial („Dans ce sentiment grisant de liberté, d’indépendance et de nouvelles responsabilités“) und im Lead („Les jeunes découvrent une liberté tant désirée et de nouvelles responsabilités“). In der Bearbeitung erscheint die Entsprechung nur in der (nicht gerade wörtlich übersetzten) Aussage von Michele: „Michele sagt: ‚Ich fühle mich jetzt erwachsener, unabhängiger und verantwortlich. Es war ein grosser Schritt für mich.‘“ Da alle anderen Elemente fehlen und sogar Inhaltliches geändert wurde, gewinnt man im Deutschen einen ganz anderen (wenn überhaupt einen deutlichen) Eindruck von seiner Persönlichkeit: Vor allem legt er Wert darauf, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, fühlt sich eben selbst verantwortlich: „‚J’ai pu compter sur quelques coups de main de mes parents et de copains pour déménager. Mais en période de vacances, ils n’étaient pas toujours disponibles. J’essaie de faire le maximum durant mon temps libre.‘“ Im Deutschen liest es sich geradezu umgekehrt: „Beim Umzug haben ihm seine Eltern und ein paar Freunde geholfen. ‚Einiges habe ich alleine gemacht.‘“ Ebenso legte er Wert darauf, seine Eltern finanziell nicht zu belasten. In der französischen Version wird dies als eine Option humorvoll herausgestrichen: Si certains jeunes, notamment ceux en formation ou qui n’ont pas encore d’emploi fixe, acceptent d’être aidés par leurs parents - et pas seulement pour porter les cartons - d’autres se font un point d’honneur de ne pas dépendre de cette manne. Damit können wir auf den etwas ironischen Blick zurückkommen, der die französische Darstellung durchzieht: Michele erscheint als ein äußerst gut organisierter Mensch - nicht gerade typisch für einen Romand. Er hat alles bis in Kleinste geplant. Dies wird sehr ausführlich dargestellt: <?page no="25"?> Presse in einem mehrsprachigen Land 15 Prudent et organisé, Michele Barone a calculé dans les moindres détails, avant d’emménager, les dépenses auxquelles il devrait faire face une fois seul maître à bord. ‚J’ai pris une feuille de papier et j’ai fait une liste de toutes les factures usuelles qui m’attendraient (loyer, impôts, assurance maladie, etc.). J’ai ensuite divisé les frais annuels par douze pour avoir une idée globale de ce qui me resterait à la fin du mois pour les loisirs, ou tout simplement pour l’épargne, une fois toutes les factures payées.’ Er will auch erst eine Einweihungsparty machen, wenn er vollständig eingerichtet ist, was noch etwas dauern kann. So endet denn der Artikel mit einem kleinen Augenzwinkern, das wieder den Leser anspricht und auf die Bemerkung im Editorial zurückweist: „Quand on vous disait qu’il était prudent“. In der deutschen Bearbeitung, die mit dem herausgehobenen Zitat das Finanzielle ohnehin in den Vordergrund stellt, erscheint die entsprechende Passage ebenfalls, allerdings stark gekürzt. Der erste Teil steht in direkter, der zweite in indirekter Rede, 12 was das Ganze deutlich weniger auffällig macht: „Jährlich anfallende Kosten habe er durch 12 dividiert, um den Überblick zu behalten.“ Es gibt auch keinen Anlass, seinen Ordnungssinn irgendwie zu belächeln: Zwei Bildunterschriften: „Umzugskisten beim Einzug sortiert stapeln. Wichtiges nach oben, Unwichtiges nach unten“ - das klingt eigentlich wie ein Ratschlag der Redaktion. „Der Jurist weiss, wo er was findet - die Hemden sind ordentlich verpackt.“ Am verblüffendsten ist freilich, dass in der deutschen Bearbeitung nicht nur sehr viele Inhaltselemente um Michele weggelassen werden, sondern auch Details erscheinen, von denen im Original nicht die Rede und deren Stimmigkeit teilweise sogar fraglich ist. Michele kommt aus Peseux und wollte dort bleiben. Die frankophone Redaktion nimmt das zum Anlass für eine Anmerkung: „ndlr: commune limitrophe de Neuchâtel“, im Deutschen steht nur das Kantonskürzel NE neben dem Ortsnamen, und zwar in direkter Rede, wo so etwas selten sein dürfte. Diese relativ kleine Gemeinde (etwa 3,5 km 2 und unter 6000 Einwohner) kennen also nicht alle Romands, geschweige denn alle Deutschschweizer. Angesichts dessen ist es höchst unwahrscheinlich, dass Michele das Quartier vorher nicht kannte, wie es in der deutschen Version heißt. „Dass es keinen Lift gibt, stört mich nicht“ soll er ferner gesagt haben; diese Aussage ist wenig 12 Diesen Unterschied kommentiert auch der der stellvertretende Chefredaktor in seiner E-Mail: „Auf formaler Ebene kommt es vor, dass in den französischen Texten ein Zitat eines Protagonisten über zehn, zwölf oder mehr Zeilen gehen kann. Ohne Unterbruch. Im Deutschen machen wir das nicht. Wir schieben in einem Zitat mal ein ,sagt Frau XYZ‘ ein und fahren dann weiter. Oder wir hören vorher auf mit dem Zitat und formulieren den Rest in indirekter Rede.“ <?page no="26"?> Kirsten Adamzik 16 relevant, wenn man nicht weiß, in welchem Stockwerk er wohnt, und bedenkt, dass es in Peseux nicht viele Wolkenkratzer gibt. Dass Michele 1.320 Franken im Monat zahlt, steht auch nicht im Original, ebenso wenig, dass er dreimal im Monat einen Leihwagen nimmt, vieles mit dem Auto seines Vaters transportiert, für Sofa und Bücherregal einen Lieferwagen gemietet hat und einige Möbel bestellt sind, aber erst Ende des Monats geliefert werden. Eine gut eingerichtete Küche war ihm wichtig, weil er gern kocht - dass es gerade italienisch ist, steht aber auch nur in der deutschen Version, veranlasst vielleicht durch seinen italienisch klingenden Namen. 5 Fazit Einzelbeispiele haben grundsätzlich keine große Aussagekraft. Das hier herangezogene kann man nicht einmal als typisch bezeichnen, in der Gegenüberstellung wird das Textpaar vielmehr geradezu zu einer Karikatur. Karikaturen überzeichnen bestimmte Merkmale und tragen so zur Festigung von Stereotypen bei. Die hier präsentierte wurde allerdings mehr entdeckt als gemacht, und zwar in Material, das bislang auf wenig Interesse gestoßen ist. Umso bemerkenswerter, dass dabei Ähnliches zutage kam wie in Untersuchungen zu Presseerzeugnissen, die näher am Prototyp liegen: Im Französischen mehr „Ironie, Metaphorik oder Witz“ (Schwegler 2009: 23), „Anschaulichkeit, das Bemühen um Abwechslung […], eine ausgesprochene Leserorientierung“ (Fehr-Buchter 1994: 274f.) oder kurz: „Präzision auf der einen, Originalität und freiere Gestaltung auf der anderen Seite“ (273). Es handelt sich hier allerdings um Merkmale, die für harte quantitative Auswertungen nicht gerade prädestiniert sind. Und selbstverständlich finden sich leicht auch Gegenbeispiele. Die wichtigste Lehre aus der Karikatur bleibt daher: Vorsicht mit Homogenisierungen und Hypostasierungen: „La Romandie n’existe pas“ (Pichard 1978) - und d i e Deutschschweiz natürlich auch nicht. 6 Literatur Adamzik, Kirsten (2010): Texte im Kulturvergleich. Überlegungen zum Problemfeld in Zeiten von Globalisierung und gesellschaftlicher Parzellierung. In: Luginbühl, Martin/ Hauser, Stefan (Hrsg.): MedienTextKultur. Linguistische Beiträge zur kontrastiven Medienanalyse. Landau. (Beiträge zur Fremdsprachenvermittlung; Sonderheft 16/ 2010). S. 17-41. AG für Werbemedienforschung: Presse. http: / / www.wemf.ch/ d/ media/ print.php (14.10.2014). <?page no="27"?> Presse in einem mehrsprachigen Land 17 Bohn, Véronique Christine (2014): Towards a Typology of Interlinguistic Strategies in Political Communication. The Swiss Political Parties as Case in Point. In: Khalifa, Abdel-Wahab (Hrsg.): Translators Have Their Say? Translation and the Power of Agency. Zürich u.a. 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Der vom Verein Deutsche Sprache publizierte sogenannte „Anglizismen-Index“ veranschaulicht dies. Die Autoren des Index beschreiben diesen als nicht puristisch oder fremdwortfeindlich, und geben an, die letztliche Bewertung von Anglizismen den Benutzern zuzusprechen. Diese Aussagen kontrastiert unser Beitrag mit der frame-semantischen Analyse einiger Begriffe in der Beschreibung des Indexes, die ihn im Widerspruch dazu mit einem Autoritätsanspruch auftreten lassen. Dies ist vor dem Hintergrund seines fehlenden sprachwissenschaftlichen Fundaments problematisch, und sollte die Sprachwissenschaft anregen, sich stärker am öffentlichen Diskurs über sprachliche Fragen zu beteiligen. 1 Einleitung Die wissenschaftliche Diskussion über die Verwendung sog. Anglizismen im Deutschen bezieht sich hauptsächlich auf die Inventarisierung bzw. Kategorisierung von Wörtern aus dem Englischen sowie die Mechanismen dieser Integration (vgl. Onysko 2007, Knospe 2014). Dabei folgt die Entlehnung englischer Wörter ins Deutsche weitestgehend denselben Prinzipien wie die Entlehnung von Wörtern aus anderen Sprachen, zum Beispiel aus dem Lateinischen und Französischen ins Deutsche in früheren Jahrhunderten (Otto 2009). Typologisch gesehen sind Anglizismen nichts Besonderes, da sprachliche Entlehnungen ein gut dokumentiertes natürliches und universelles Phänomen darstellen (Haspelmath/ Tadmor 2009), und man daher davon ausgehen darf, dass sprachliche Kontaktsituationen im Grunde genommen immer zu Entlehnungen führen (Tadmor 2009). Der prägende Einfluss anderer Sprachen auf die Ent- <?page no="30"?> Matthias Fingerhuth/ Hans C. Boas 20 wicklung des Deutschen ist dabei über Lehnwörter hinaus dokumentiert (Betz 1949, Habermann 2001). Als Reaktion auf Entlehnungen gibt es aber auch häufig gesellschaftspolitische Strömungen, die sich mit möglichen (realen oder irrealen) Auswirkungen von Entlehnungen beschäftigen. So sind Sprachkritik und Sprachpurismus nach Kirkness (1998: 407) ebenfalls ein annähernd universelles Phänomen. Kirkness verortet das Aufkommen dieses Fremdwortpurismus in Deutschland in einem Zeitfenster um 1800, und verweist auch darauf, dass dieser vielfach Bestandteil eines „völkischen Purismus“ (Rechtmann 1953: 11, zitiert in Kirkness 1998: 407) ist, und als solcher „ein[en] Ausschnitt aus einer umfassenden geistigen Bewegung der Selbstgenügsamkeit und Selbstverwirklichung, Reinerhaltung und Reinigung“ (Rechtmann 1953) darstellt, die sich über Jahrhunderte ausdehnt. Friedrich Ludwig Jahn etwa begründet seine Auseinandersetzung mit Synonymen wie folgt: „Noch immer werden neue Wörter gebildet für Begriffe, wofür wir schon bessere besitzen, noch immer wird aus fremden Sprachen Schleichware eingeschwärzt, die eigene Erzeugnisse vollkommen ersetzen“ (Jahn 1806: VII-VIII). Später heißt es dann: „Ein Volk, das seine eigene Sprache verlernt, giebt sein Stimmrecht in der Menschheit auf, und ist zur stummen Rolle auf der Völkerbühne verwiesen. Mag es dann aller Welt Sprachen begreifen, und übergelehrt bei Babels Thurmbau zum Dollmetscher taugen, es ist kein Volk mehr, nur ein Mengsel von Staarmenschen“ (Jahn 1806: XII). 1 Die Kritik fremder Einflüsse vor einem nationalistischen Hintergrund ist dabei nur eine Spielart von Purismus (vgl. Kirkness 1998), in der deutschen Geistesgeschichte jedoch ist sie durchaus bedeutsam. Im 21. Jahrhundert sind die Ideen des Sprachpurismus und der Sprachkritik noch immer nicht verblasst, wie die unter anderem vom Verein Deutsche Sprache (VDS) öffentlich geführte Diskussion über Anglizismen zeigt. Nach seiner Eigenbeschreibung „fördert“ der 1997 gegründete VDS „Deutsch als eigenständige Kultursprache“ (http: / / vds-ev.de/ ueber-vds, 14.05.2016). Der VDS betont die Internationalität seiner Bemühungen, und „steht dafür, dass wir uns für die deutsche Sprache einsetzen können, ohne deutschtümelnde oder nationalisti- 1 Kritik an Sprachkritikern wiederum ist ebenfalls kein neues Phänomen. Immerhin kann man sich auf Goethe und Schiller als prominente Mitstreiter berufen, die im Musen-Almanach für das Jahr 1797 die folgenden Zeilen schrieben: „Der Purist. Sinnreich bist du, die Sprache von fremden Wörtern zu säubern, Nun so sage doch Freund, wie man Pedant uns verdeutscht” (Schiller 1796: 237). Adressat dieser Kritik war der Fremdwortverdeutscher Joachim Heinrich Campe. Kontext für den Streit Campes mit Goethe und Schiller sowie eine Auseinandersetzung mit dem Schaffen Campes bietet Henne (2013). Eine differenziertere Sicht auf Goethes Einstellung zum Purismus vertritt Behaghel (1950), der versucht, ihn für einen maßvollen Purismus zu vereinnahmen. <?page no="31"?> Anglizismen zwischen Linguistik und Laien-Linguistik 21 sche Ziele zu verfolgen“ (http: / / vds-ev.de/ ueber-vds, 14.05.2016). In diesem Aktivismus für die deutsche Sprache nimmt die Anglizismenkritik einen bedeutenden Platz ein. Dieser Beitrag setzt sich mit der Rhetorik der Metatexte des vom VDS veröffentlichten A n g li zi s m e n - In d e x auseinander. Er soll aufzeigen, dass diesem Index eine in der modernen Linguistik weit überholte Konzeption und Wertung von sprachlicher Entlehnung zugrunde liegt, und dass die Behauptungen der Herausgeber, nicht fremdwortfeindlich oder puristisch zu sein, lediglich ein Lippenbekenntnis sind, so dass sich der Index als sprachliche Autorität darzustellen versucht. Im weiteren Sinne fügt sich dies in Arbeiten zur Sprachideologie als der Erforschung von Annahmen über die Struktur und Verwendung von Sprache (Silverstein 1979). Es ist argumentiert worden, dass ein rein objektiver, von Wertung oder Ideologie freier Zugang zu Sprache ein Ding der Unmöglichkeit darstellt, und dass auch die Sprachwissenschaft davon nicht ausgenommen ist (Cameron 1995: 3ff.). Ohne die alleinige Autorität über Sprache an den eigenen Berufsstand reißen zu wollen, bekennen die Autoren sich jedoch zum einen zu ihrem Glauben an den Wert der Methoden wissenschaftlicher Sprachbetrachtung an sich, zum anderen zu einer kritischen Position gegenüber Fremdwortpurismus. Nach Angaben der Macher unterliegt das Klassifikationssystem des Anglizismen-Index „keinen objektiven Kriterien“ (http: / / vds-ev.de/ einordnungund-statistik, 09.08.2016) und als Ganzes unterscheidet sich sein „Ansatz von beschreibenden und beobachtenden Betrachtungsweisen und Haltungen zu unserer Muttersprache“ (http: / / vds-ev.de/ a index-thema, 09.08.2016 ) und weist damit Wissenschaftlichkeit explizit von sich. Dieses Verharren in subjektiver Betrachtung, die von Anglizismen als Verständigungsproblem oder nicht wünschenswert ausgeht, und nicht etwa bei dieser ankommt, ist dabei aus Sicht der Autoren unglücklich. Zwar stehen aktuelle Studien zu dieser Frage aus, doch würde eine sachlichere Herangehensweise vermutlich zutage bringen, dass etwa das vorgebrachte Argument der besseren Verständlichkeit der im Index vorgeschlagenen deutschen Alternativen in vielen Fällen nicht begründet ist. Die Anglizismenkritik erscheint, insbesondere im weiteren Kontext der Publikationen aus dem Umfeld des VDS, wesentlich als eine Kulturkritik, die eine (nicht näher bestimmte) deutsche Kultur von äußeren Einflüssen bedroht sieht. 2 Parallelen lassen sich etwa zu der von Wiese (2012: 227ff.) geschilderten Empörung über Kiezdeutsch ziehen, in der ein religiös-ethnisches Feindbild des Islams und Menschen türkischer oder arabischer Herkunft zu Tage tritt. 2 Vergleiche etwa Krämer im Interview in Schwarz (2004: 142f.): „Ohne eine Kultursprache gibt es keine Kultur. Und die moderne deutsch-englische Schimpansensprache ist für eine Vermittlung kultureller Werte ungeeignet.” <?page no="32"?> Matthias Fingerhuth/ Hans C. Boas 22 Vor dem Hintergrund der sogenannten Flüchtlingskrise auf die aktualisierte Relevanz dieser Frage hinzuweisen, erscheint fast überflüssig. Die Sprachwissenschaft kann dazu beitragen, diesem Diskurs eine Tiefe zu verleihen, die dem Sachverhalt gerecht wird. Abschließend führt dieser Beitrag deshalb zu einem Aufruf an alle sprachwissenschaftlichen Experten, sich stärker an sprachlich interessierte Laien zu richten, um so der Öffentlichkeit empirisch verifizierbare Daten und wissenschaftlich fundierte Kenntnisse zur Verfügung zu stellen, mit dem Ziel, eine sachlichere Diskussion über Sprache in der Breite der Gesellschaft zu fördern. 2 Zum Status der Anglizismenkritik in der Laien-Linguistik Die Präsenz von englischem Lehngut im Deutschen hat der Germanistischen Sprachwissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein reichhaltiges Forschungsfeld geliefert. 3 Bei den Sprachnutzern im deutschen Sprachraum kann man unterdessen unterschiedliche Einstellungen beobachten. Während breite Teile der Gesellschaft eine Vielzahl von Anglizismen bereitwillig verwenden, gibt es auch skeptische oder ablehnende Einstellungen, die sich oft in Print- und Online-Medien nachweisen lassen. Im englischen Sprachraum wird die Erfassung solcher Diskurse außerhalb der Sprachwissenschaft unter dem Begriff folk linguistics erforscht. Dieser geht zurück auf Hoenigswald (1966), der angeregt hatte, dass die Soziolinguistik sich nicht nur dafür interessieren sollte, „(a) what goes on (in language), but also in (b) how people react to what goes on [...] and in (c) what people say goes on“ (Hoenigswald 1966: 20). Im Deutschen wird in Anlehnung daran teils die Bezeichnung Volkslinguistik verwendet (Brekle 1985, 1986), andererseits aber auch der Begriff Laienlinguistik (beispielhaft in Berthele 2006, Cuonz 2010). 4 Laienlinguistik bezeichnet jedoch unglücklicherweise nicht nur die Erforschung von laienhaften Sprachkonzeptionen durch Sprachwissenschaftler, also eine Unterdisziplin der Sprachwissen- 3 Einen Einblick in frühere Forschung gibt Viereck (1980). 4 Nicht durchgesetzt hat sich der von Kloss (1972: 107) verwendete Begriff Laien- Sprachkunde, welcher wie folgt beschrieben wird: „So empfindet der durchschnittliche norddeutsche Bauer sein ‚Sassisch‘ (Plattdeutsch) als eine Mundart der deutschen, der durchschnittliche südfranzösische Bauer sein Okzitanisch als eine Mundart der französischen Sprache. Diese gefühlsmäßige Einstellung, die zum Bereich der Laien-Sprachkunde gehört, ist zwar wissenschaftlich belanglos, aber von unglaublicher psychologischer Bedeutung. Sie hat in vielen Fällen dazu geführt, dass ganze Sprachgemeinschaften sich freiwillig in Völker anderer Sprachen eingegliedert haben unter Verzicht darauf, ihre eigene Sprache in Verwaltung, Presse, Schule usw. anerkannt und gepflegt zu sehen.“ <?page no="33"?> Anglizismen zwischen Linguistik und Laien-Linguistik 23 schaft, sondern kann auch den laienhaften Diskurs über Sprache selbst bezeichnen, der außerhalb der Sprachwissenschaft im engeren Sinne steht (Antos 1996). Im Folgenden bezeichnet L a i e n - L in g ui s tik den Diskurs über Sprache von Laien, L a i e nlin g ui s tik die Untersuchung solcher Diskurse als wissenschaftliches Projekt. Nach einem kurzen Abriss der Schwerpunkte der eigentlichen Forschung zur Entlehnung gibt dieser Abschnitt einen Überblick über die jüngere Debatte über Anglizismen im öffentlichen Diskurs durch Laien mit besonderem Fokus auf dem VDS, soweit dieser aus der Perspektive der Sprachwissenschaft behandelt ist. Historisch kann in der deutschen Sprachwissenschaft eine zumindest in Teilen ablehnende Haltung gegenüber Fremdwörtern beobachtet werden. Als Beispiel hierfür kann Weisgerbers (1960) Klassifikation der Fremdwörter dienen, die drei wesentliche Kategorien kennt: Als negative Formen versteht Weisgerber solche Fremdwörter, die deutsche Wörter verdrängen, das Aufkommen deutscher Wörter verhindern, deren Verständnis besonders schwer ist, oder die eine „fremde ‚Atmosphäre’ nachahmen wollen“. Neutral sind für ihn solche Fremdwörter, die „ungefährlich und nicht ganz überflüssig sind“, und solche, die als Notbehelfe lexikalische Lücken füllen, für die annehmbare deutsche Entsprechungen bislang noch nicht gefunden sind. Ferner hält Weisgerber auch solche Fremdwörter für akzeptabel, die zu einem Ausbau des deutschen Wortschatzes führen, wo deutsche Wortstämme überbesetzt sind, obwohl er hier auch für eine Aufnahme von mundartlichen Stämmen in die Hochsprache plädiert. Zuletzt sieht er auch solche Fremdwörter als neutral, die zur Auseinandersetzung mit dem Weltverständnis anderer Sprachgemeinschaften zwingen, so wie es sich in deren Wörtern widerspiegelt. In diesem letzten Fall sieht er auch das Potential dafür, dass ein Fremdwort zu einer tatsächlichen Bereicherung der aufnehmenden Sprache führt, was jedoch nach Weisgerber (1960: 3) ein Eingliederungsprozess ist, der sich oftmals über Jahrhunderte erstreckt. Eine solche, an eine organische Sprachkonzeption angelehnte Klassifikation wird von Weisgerbers Arbeiten aus der Zeit des Nationalsozialismus überschattet. In diesen nimmt die Muttersprache einen zentralen Platz ein, indem sie das Weltbild einer Sprachgemeinschaft trägt und überträgt (Simon 1982; Hutton 1999: 106-143). Wie Simon (1979: 153ff., 1982) ausführt, bemühte sich Weisgerber, obwohl nie Parteimitglied, Sprache einen Platz in Rassentheorie und der Ideologie von Blut und Boden einzuräumen. Simon (1979: 163) findet in Betrachtung von Georg Schmidt-Rohr auch in Weisgerbers Arbeit eine „theoretische Legitimation kriegerischer Auseinandersetzung zwischen Völkern gleicher Rasse aber verschiedener Sprachen.“ Dies ist ein bedenklicher Hintergrund für den in Weisgerbers Klassifikation artikulierten Purismus, was auch für den Anglizis- <?page no="34"?> Matthias Fingerhuth/ Hans C. Boas 24 men-Index relevant ist, da dessen Anglizismenklassifikation sehr ähnlich aufgebaut ist. Als ergänzend sieht der Index „Anglizismen, die eine Wortlücke schließen und dadurch neue Ausdrucksmöglichkeiten eröffnen“, als differenzierend solche, „die einen neuen Sachverhalt bezeichnen, für den eine deutsche Bezeichnung noch zu bilden und/ oder wieder einzuführen ist“, und verdrängend sind Anglizismen, „die statt existierender, voll funktionsfähiger und jedermann verständlicher deutscher Wörter und Wortfelder in zunehmendem Maße verwendet werden, dadurch die Verständigung erschweren und den sprachlichen Ausdruck verflachen, oder deren Verwendung für moderne Sachverhalte das Entstehen einer deutschen Bezeichnung und dadurch die Weiterentwicklung der deutschen Sprache verhindern“ (http: / / vds-ev.de/ einordnung-und-statistik, 14.05.2016). Direkter Bezug auf Weisgerber wird nicht genommen, und soll hier auch nicht unterstellt werden. Jedoch ist festzuhalten, dass sich in beiden Klassifikationen (a) die Ausrichtung auf eine Schließung von lexikalischen Leerstellen mit deutschem Wortgut, (b) die Befürchtung einer Verhinderung dessen durch die Aufnahme von Fremdwörtern, und (c) die Angst vor einer Verdrängung deutscher Wörter finden lassen. Sollten die Autoren des Index diese Parallelen beabsichtigt haben, ignorieren sie auf betrübende Art und Weise die theoretischen Altlasten Weisgerbers. Sollten sie ein Zufallsprodukt sein, so sind sie doch zumindest unglücklich. In der deutschen Sprachwissenschaft gibt es zwar auch weiterhin Stimmen, die sich speziell Anglizismen gegenüber skeptisch äußern, so etwa wenn Munske (2004) Anglizismengebrauch unter anderem vor dem Hintergrund mangelnder Verständlichkeit kritisiert. Allgemein ist jedoch die Wertung in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung hinter die Beschreibung zurückgetreten. Ein bedeutender Aspekt der Forschung ist dabei die Katalogisierung des Lehngutes, bezogen entweder auf die historische Entwicklung des Deutschen (Ganz 1957) oder auf die Gegenwartssprache (Carstensen/ Busse 2001). Solche Untersuchungen wurden auch mit Fokus auf spezifische Fachsprachen (Schmitt 1985; Bartsch/ Siegrist 2002) oder Veröffentlichungen wie dem „Spiegel“ (Yang 1990, Knospe 2014) durchgeführt. Auch die lautliche, graphische oder morphologische Integration der Lehnwörter wurde detailliert untersucht (Fink 1980; Onysko 2004; Munske 2010). In der neueren Forschung stellt Knospe (2014) zudem die Frage, inwieweit man Anglizismen angesichts gradueller Zweisprachigkeit mit Englisch als Code-Switching erfassen kann. Mit diesen Erkenntnisinteressen scheint die moderne empirische Sprachwissenschaft sich von den Betrachtungsweisen der breiteren Öffentlichkeit zu unterscheiden. Einen Teil des öffentlichen Diskurses über Sprache, repräsentiert in Ratgeberliteratur und Trainings für sprachliche und kommunikative Probleme, hat Antos (1996) unter dem Terminus L a i e n - L in g ui s tik unter- <?page no="35"?> Anglizismen zwischen Linguistik und Laien-Linguistik 25 sucht. Zentral für die Laien-Linguistik ist für ihn eine Sprach- und Kommunikationsbetrachtung, die speziell auf ein Laienpublikum hin ausgerichtet ist, die jedoch oftmals auch von Laien ausgeht (Antos 1996: 25). Dabei stellt er fest, dass diese zum einen oftmals keinen Transfer aus der Sprachwissenschaft im engeren Sinne aufweist. Zum anderen bemerkt er jedoch auch, dass sie eine „Alternativ-Linguistik“ (Antos 1996: 9) anbietet, die ihre Legitimation durch Praxisrelevanz zu erreichen versucht, und dabei verschiedene Elemente popularisierter Wissenschaft (oftmals jedoch gerade nicht der Sprachwissenschaft, sondern etwa der Psychologie) mit idiosynkratischen Urteilen über Sprache verbindet. Diese Laien-Linguistik füllt das Vakuum, welches die weitgehende Abwesenheit eigentlicher populärwissenschaftlicher Sprachwissenschaft hinterlässt, und aus ihrer öffentlichen Rezeption erwächst ihre Relevanz. Trotz der zeitlichen Distanz scheint diese Aussage für den deutschen Sprachraum auch heute noch weitgehend zuzutreffen. 5 Dieses Verständnis von Laien-Linguistik passt auf den VDS, der sich gegenwärtig mit verschiedenen Aspekten der deutschen Sprache auseinandersetzt, jedoch der Anglizismenkritik eine zentrale Rolle zuweist. Auf der Webseite des VDS liest man etwa im Segment „VDS in Kürze“: „Wir wollen der Anglisierung der deutschen Sprache entgegentreten und die Menschen in Deutschland an den Wert und die Schönheit ihrer Muttersprache erinnern“ (http: / / vdsev.de/ verein, 14.05.2016). Das Gewicht dieses Programmpunktes wird dabei durch die Veröffentlichung des Anglizismen-Index, online und gedruckt (Grobe 2015), deutlich (http: / / vds-ev.de/ anglizismenindex, 14.05.2016). Die moderne Sprachwissenschaft im deutschsprachigen Raum hat sich in der Vergangenheit nur sporadisch mit der Laien-Linguistik auseinandergesetzt. So ist dies etwa mit dem wahrscheinlich populärsten Laien-Linguisten des letzten Jahrzehntes, Bastian Sick (Maitz/ Elspass 2005, 2009), geschehen, doch auch 5 Als nennenswerte Ausnahmen lassen sich gegenwärtig Blogs wie http: / / www.sprach log.de oder http: / / neusprech.org oder auch die Arbeit von Elisabeth Wehling anführen. Mit Blick auf den englischen Sprachraum scheint es jedoch, dass professionelle Linguisten die breitere Öffentlichkeit dort stärker ansprechen. Beispielhaft dafür ist Steven Pinkers „The Sense of Style“ (2014), das sprachwissenschaftliche Elemente mit einem Stilratgeber verbindet. Abseits solcher Ratgeberliteratur gibt es auch Veröffentlichungen zu speziellen Themen in populärwissenschaftlichem Format. So hat etwa Arika Okrent mit „In the Land of Invented Languages“ (2010) die Geschichte der Plansprachen in einer Form aufbereitet, die sie einer interessierten Öffentlichkeit ohne tiefere linguistische Kenntnisse zugänglich macht. Ebenfalls erwähnenswert ist ein wöchentlich wiederkehrendes sprachwissenschaftliches Segment im öffentlichen Radio von Michigan, in dem Anne Curzan sich mit vielfältigen sprachlichen Phänomenen auseinandersetzt (s. http: / / michiganradio.org/ programs/ thats-whatthey-say). <?page no="36"?> Matthias Fingerhuth/ Hans C. Boas 26 der Anglizismen-Index des VDS und die zuvor geführte Anglizismenliste wurden von mehreren Autoren behandelt (Pfalzgraf 2006: 83f.; Meyer 2009, 242f.; Wirth 2010: 229ff.), wobei Probleme in der Klassifikation oder der Datengrundlage festgestellt wurden. Schon vor diesen Arbeiten hat sich Niehr (2002, 2006) mit der Anglizismenkritik des VDS auseinandergesetzt, und einen 1998 aufgestellten Kriterienkatalog untersucht, nach dem überflüssige Anglizismen zu erkennen sind. In seinem Urteil ignorieren die vorgeschlagenen Kriterien grundlegende sprachwissenschaftliche Erkenntnisse, vor allem durch die kontextlose Interpretation von Wortbedeutungen, die kommunikative Intention und Situationsabhängigkeit ignoriert (Niehr 2002). Dass diese Kritik auch auf den gegenwärtigen Anglizismen-Index anwendbar ist, könnte Thema eines weiteren Beitrags sein, ist aus Sicht der Autoren jedoch gegeben. Damit verfehlt sprachwissenschaftliche Kritik zumindest in dieser Hinsicht seit mehr als einem Jahrzehnt jegliche erkennbare Wirkung auf die Arbeit des VDS. Insgesamt stellen Anglizismen im laien-linguistischen Diskurs zumindest in Deutschland ein prominentes Thema dar. 6 Laienlinguistisch hat Spitzmüller (2005) gezielt die Entwicklung der Anglizismendebatte in den Medien für den Zeitraum zwischen 1990 und 2001 untersucht, und den wissenschaftlichen Diskurs dabei im Einklang mit Antos deutlich von dem in der Öffentlichkeit stattfindenden unterschieden. Er stellt dabei fest, dass die Debatte zu Anglizismen sich in den Medien ab Mitte der 1990er Jahre intensiviert. Ab 1997 konstituiert er dabei eine Institutionalisierung der Anglizismenkritik, wobei der VDS ein relevanter Akteur ist, dessen Gründung im gleichen Jahr erfolgte (Spitzmüller 2005: 122ff.). Nach Wirth (2010: 169) ist die Entstehung des VDS unmittelbar aus der Verärgerung des Vereinsgründers, Walter Krämer, über Anglizismen, und dessen Bedürfnis, etwas gegen sie zu unternehmen, erwachsen. 7 6 Aus der Sicht der Auslandsgermanistik scheint es angebracht, darauf hinzuweisen, dass dieser laien-linguistische Diskurs keineswegs selbstverständlich ist. Die Debatte um gute Sprache, oder darum, welcher Platz welcher Sprache eingeräumt wird, ist durchaus aktuell. Der Gedanke, sich an Lehnwörtern dieser oder jener Herkunft abzuarbeiten, wirkt jedoch fremd. Mit der deutschen Debatte vergleichbar ist wiederum der französische Diskurs, in dem „Franglais“ (Etiemble 1991) von Teilen der Bevölkerung deutlich abgelehnt wird. Einen Einblick in den laien-linguistischen Diskurs im frankophonen Internet bietet etwa Dominicus (2015). 7 Spitzmüller (2005: 126) kommentiert auch den Aufstieg Krämers, von Haus aus Ökonom, zum Sprachexperten in den Medien. Dies ist bezeichnend für die von Antos beschriebene Abwesenheit von Sprachwissenschaftlern im laien-linguistischen Diskurs, obwohl Spitzmüllers Analyse auch die Präsenz von Sprachwissenschaftlern in den Medien nachweist. Zum Selbstverständnis des Vereins zitiert Wirth (2010: 194) Krämer aus einem Brief an das Institut für Deutsche Sprache wie folgt: „Meinem Verein geht es nicht um Sprachwissenschaft, sondern um Sprachpolitik. [...] Von <?page no="37"?> Anglizismen zwischen Linguistik und Laien-Linguistik 27 Im Bezug auf den laienhaften Charakter des VDS ist festzuhalten, dass er über einen wissenschaftlichen Beirat verfügt, der mehrheitlich aus universitären Sprachwissenschaftlern besteht. Wirth (2010: 179) stellt zu seiner Arbeit jedoch fest, „dass der wissenschaftliche Beirat sich stark im Hintergrund hält und sich nur äußert, wenn er explizit gefragt wird.“ Einen Schritt hin zu stärkerer Wissenschaftlichkeit in der Arbeit des VDS sieht sie durch seine Einrichtung nicht. Nach einem Überblick der sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Thesen des wissenschaftlichen Beirates (http: / / vds-ev.de/ wissenschaftli cher-beirat/ gruendungserklaerung-beirat, 14.05.2016) fällt Wirth (2010: 180ff.) ein weitgehend negatives Urteil. Sie erkennt in ihm Elemente des öffentlichen Diskurses wieder, die jedoch nicht wissenschaftlich untermauert werden. Auf die negative Rhetorik in den Publikationen des VDS haben bereits andere Autoren hingewiesen. So verweist etwa Wirth (2010: 193) auf die Verwendung der Krankheitsmetapher in Publikationen des VDS, wenn Baumert (2005: 39) Anglizismen als „Pestilenz“ bezeichnet. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die Rhetorik speziell des Anglizismen-Index, indem wir zuerst eine kurze Einführung für die unserer Analyse zu Grunde liegenden Theorie, der Frame-Semantik, geben, um dann einige ausgewählte Elemente einer genaueren frame-semantischen Analyse zu unterziehen. Diese Untersuchung soll zeigen, inwieweit die vom VDS geführte Anglizismusdebatte eine (potentiell negative) Bewertung der Entlehnung von englischen Wörtern ins Deutsche vornimmt oder nicht, und inwieweit sich der VDS als sprachliche Autorität zu positionieren versucht. 3 Ein frame-semantischer Ansatz 3.1 Frame-Semantik Fillmores Frame-Semantik (1985) hat sich zum Ziel gesetzt, Wort- und Satzbedeutungen mit einer einheitlichen Repräsentation zu erfassen, die verstehensrelevantes Wissen in die Beschreibung von Bedeutungsstrukturen mit einbindet. Die Grundeinheit in Fillmores Theorie ist die l e xik a li s c h e E inh e it (LE): Ein Wort mag eine oder mehrere Bedeutungen haben und jede einzelne Wortbedeutung (Cruse 1986) evoziert einen speziellen semantischen Frame. Fillmores semantische Frames als System von Konzepten unterscheiden sich wesentlich von anderen Semantiktheorien, weil sie davon ausgehen, dass sich die Bedeutung von Wörtern grundsätzlich auf in der Sprechergemeinschaft Sprachwissenschaft habe ich allenfalls rudimentäre Kenntnisse, bin auch gerne bereit, dazuzulernen, überlasse aber dieses Feld ansonsten Ihnen.“ <?page no="38"?> Matthias Fingerhuth/ Hans C. Boas 28 vorhandene Wissensstrukturen, sogenannte Frames, bezieht. Erst auf deren Basis werden die Bedeutungen von Wörtern (bzw. lexikalischen Einheiten 8 ) interpretiert (s. Boas 2013). 9 Fillmore/ Aktins (1992) fassen den Begriff des semantischen Frames wie folgt zusammen: A word’s meaning can be understood only with reference to a structured background of experience, beliefs, or practices, constituting a kind of conceptual prerequisite for understanding the meaning. Speakers can be said to know the meaning of the word only by first understanding the background frames that motivate the concept that the word encodes. Within such an approach, words or word senses are not related to each other directly, word to word, but only by way of their links to common background frames and indications of the manner in which their meanings highlight particular elements of such frames (Fillmore/ Atkins 1992: 76f.). 10 Als Beispiel sei hier der sog. Commercial Transaction Frame genannt, der sich aus den Frame-Elementen B UYER (die Person, die etwas kauft), S ELLER (die Person, die etwas verkauft), G OODS (die verkauften Waren) und M ONEY (das für die Waren bezahlte Geld) zusammensetzt. Frame-Elemente sind spezifische Instantiierungen abstrakter semantischer Rollen wie A GENT , P ATIENT und I N- STRUMENT (s. Fillmore/ Baker 2010). Der Commercial Transaction Frame beschreibt also Situationen, in denen ein K ÄUFER dem V ERKÄUFER G ELD gibt und am Ende dafür die W AREN erhält. Wie der folgende frame-semantisch annotierte Satz zeigt, evoziert ein Wort wie kaufen den Commercial Transaction Frame, andere im Satz vorkommende Konstituenten sind dementsprechend als zum selben Frame zugehörige Frame-Elemente markiert. 11 (1) [ Buyer Emma] kauft Tgt [ Goods das Buch] [ Money für 20 Euro] [ Seller von Fritz]. Die Namen der Frame-Elemente (in Kapitälchen) sind, wie in der auf der Frame-Semantik beruhenden Datenbank FrameNet (http: / / framenet.icsi.berkeley. edu), auf Englisch definiert. Dies hat keine besonderen theoretischen oder angewandten Implikationen sondern reflektiert lediglich die Tatsache, dass die FrameNet-Datenbank die Struktur des Lexikons des Englischen erforscht und 8 Lexikalische Einheiten können auch idiomatische Ausdrücke wie auf den Putz hauen (für feiern) sein. 9 Teile dieses Abschnitts beruhen auf Boas (2005/ 2013). 10 Detailliertere Überblicke über die Prinzipien der Frame-Semantik, werden gegeben in Petruck (1996), Fillmore u.a. (2003), Ziem (2008), Fillmore/ Baker (2010), Ruppenhofer u.a. (2016) und Busse (2012). 11 Semantische Frames werden nicht nur von Verben evoziert, sondern können auch von Nomen, Adjektiven, Adverbien und Präpositionen evoziert werden. <?page no="39"?> Anglizismen zwischen Linguistik und Laien-Linguistik 29 deshalb englische Bezeichnungen für die Frame Elemente benutzt werden. Im folgenden Text werden wir aber der Einfachheit halber die deutschen Übersetzungen der englischen Frame-Element-Namen verwenden. Die Definition von Frames ist das Ergebnis eines korpusbasierten Arbeitsablaufs, bei dem ein Team von Lexikographen sorgfältig untersucht, inwieweit bestimmte lexikalische Einheiten denselben semantischen Frame evozieren, und wie die Semantik des Frames syntaktisch realisiert wird (s. Fillmore u.a. 2003, Boas 2005). Im April 2016 bestand die Berkeley-FrameNet-Datenbank aus insgesamt 1.218 unterschiedlichen Frames (welche durch eine Hierarchie miteinander verbunden sind) mit insgesamt 13.492 lexikalischen Einheiten. Jede lexikalische Einheit in FrameNet ist mit einem semantischen Frame verbunden, den sie evoziert. Der Eintrag einer lexikalischen Einheit im Frame- Net besteht aus (a) einer Framedefinition, (b) einer Valenztabelle, die aufzeigt, wie die unterschiedlichen Kombinationen von Frame-Elementen syntaktisch realisiert werden, und (c) einer Liste von annotierten Korpusbeispielen, auf denen die Valenzinformationen beruhen; siehe Boas (2013) für weitere Details. Die in den Lexikoneinträgen erfassten Informationen unterscheiden sich von traditionellen Wörterbüchern in dreierlei Hinsicht: (1) Sie beruhen auf Daten aus einem elektronischen Korpus von 100 Millionen Wörtern (dem British National Corpus) und decken damit eine größere Datenbasis ab als traditionelle Wörterbücher; (2) die Strukturierung auf der Basis von semantischen Frames durchbricht die traditionelle Struktur von Wörterbüchern, da sie nicht auf alphabetischer Reihenfolge beruht sondern auf systematisch erstellten semantischen Frames, die sowohl relevantes Weltals auch Sprachwissen gleichermaßen erfassen; (3) die Kombination von frame-semantischen und syntaktischen Informationen erlaubt eine systematische Untersuchung, ob und inwieweit sich anhand frame-semantischer Informationen genaue Vorhersagen über die Verteilung von syntaktischen Argumentstrukturen machen lassen; (4) framesemantische Einträge erfassen auch die idiosynkratische Eigenschaft von Wörtern, bestimmte Frame-Elemente auslassen zu können (die sog. Null Instantiation (Fillmore 1986)). So erlaubt z.B. kaufen in (1) oben die Auslassung der Frame-Elemente M ONEY und G OODS , während andere Wörter wie z.B. verkaufen, Rechnung, und teuer andere Spezifikationen haben bzgl. ihrer optionalen Frame-Element-Realisierungen. Ergebnisse der Frame-Semantik sind in den letzten Jahren auch im Rahmen der Konstruktionsgrammatik (Hoffmann/ Trousdale 2013) für die Beschreibung von grammatischen Konstruktionen wichtig geworden. Im Bereich der angewandten Analyse von linguistischen Daten zeigen darüber hinaus Ziem u.a. (2014), wie Ergebnisse der Frame-Semantik auch für die Textanalyse relevant sind, besonders wenn es darum geht, das von Verfassern von Texten vorausgesetzte Wissen zu beschreiben und zu analysieren, bzw. wenn es darum geht <?page no="40"?> Matthias Fingerhuth/ Hans C. Boas 30 darzustellen, was der Autor eines Textes an möglichem Hintergrundwissen annimmt oder voraussetzt. Im folgenden Abschnitt zeigen wir nun, wie einige auf der Webseite des VDS verwendeten Begriffe frame-semantisch analysiert werden können. Diese Analyse lässt bestimmte Rückschlüsse auf die Spracheinstellungen des VDS zu, die im Widerspruch zu den erklärten Positionen stehen. 3.2 Frame-semantische Analyse ausgewählter Begriffe des Vereins Deutsche Sprache In unserer Analyse gehen wir auf einige von den Autoren des Anglizismen- Index auf der „Index-Startseite“ (http: / / vds-ev.de/ aindex-thema, 14.05.2016) verwendete Begriffe ein, und stellen sie den vom VDS erklärten Zielen gegenüber. Die von uns verwendeten Definitionen sowie dazugehörige Beispiele, Synonyme und Kollokationen stammen aus dem Digitalen Wörterbuch der Deutschen Sprache (https: / / www.dwds.de), Framebeschreibungen wurden, wo möglich, von der Berkeley-FrameNet-Datenbank übernommen. 12 Der Beschreibung des VDS nach ist das Konzept des Anglizismen-Index „an[zu]regen, statt Anglizismen deutsche Ausdrücke zu verwenden, wo immer dies aus inhaltlicher und sprachästhetischer Sicht sinnvoll erscheint.“ Dabei behauptet der VDS, der Anglizismen-Index sei „weder puristisch noch fremdwortfeindlich“, und dass jeder Nutzer „die Klassenzuordnung im Einzelfall für sich selbst bestimmen“ ( http: / / vds-ev.de/ einordnung-und-statistik, 14.05.2016) kann. Diese Aussage 12 Die Frames der Berkeley FrameNet Datenbank sind das Produkt eines relativ aufwendigen empirischen und korpusbasierten Arbeitsablaufs und basieren auf schriftlichen Daten (vornehmlich dem British National Corpus). Eine mögliche Kritik an der Formulierung von semantischen Frames und Frame-Elementen könnte darin liegen, dass diese auf Englisch formuliert sind und daher anglozentrisch erscheinen könnten. Die auf der Basis des Englischen beschriebenen semantischen Frames lassen sich jedoch auch relativ problemlos für die Analyse von anderen Sprachen wiederverwenden; siehe Heid/ Krüger (1996) und Boas (2009) für weitere Details. Ein Gutachter merkte an, dass das von uns verwendete Framekonzept zu statisch sei, da es nicht den Umstand berücksichtigt, dass Schematisierung ein dynamischer Prozess ist, bei dem Interpretationsrahmen nicht von einzelnen Triggern definitiv gesetzt werden, sondern im Zuge der Interaktion/ Kontextualisierung interpretativ entstehen und durch Rahmenüberlagerungen bzw. polarisierende Trigger auch transponiert werden. Wir stimmen dem Gutachter aber nur eingeschränkt zu: Eine interaktionale Kontextualisierung mit einem weniger statischen Framebegriff mag sicherlich in der Interaktionslinguistik nützlich sein, jedoch handelt es sich beim Anglizismen-Index des VDS um geschriebene Sprache, weshalb das Moment der Interaktion und der damit verbundenen dynamischen Prozesse nicht gegeben sind. <?page no="41"?> Anglizismen zwischen Linguistik und Laien-Linguistik 31 überprüfen wir zunächst bezüglich der Bezeichnung Index selbst. Die erste Hauptbedeutung des Wortes Index scheint die Aussage des VDS nicht in Frage zu stellen. Sie liest sich als ‚alphabetisches Namensverzeichnis, Sachverzeichnis, Stichwortliste‘. Dies ist eine neutrale Bedeutung, in der Werturteile keine Rolle zu spielen scheinen. Die zweite Hauptbedeutung von Index, ‚Verzeichnis der von einer staatlichen Macht oder von der katholischen Kirche verbotenen Bücher (das Buch steht auf dem Index)‘ zeigt jedoch, dass das Wort einen Verbot-Frame evozieren kann, welcher Situationen beschreibt, in denen eine (staatliche oder kirchliche) A UTORITÄT aufgrund von bestimmten R EGELN , welche das Wertesystem der Mehrheit der Gemeinschaft reflektieren, bestimmte V ERBOTENE O BJEKTE verbieten kann, weil diese mit dem Wertesystem der Gemeinschaft nicht konform erscheinen. 13 Im folgenden Satz evoziert das Wort Index als Teil eines Funktionsverbgefüges auf den Index setzen den Verbot-Frame, die Konstituente die Schriften Descartes’ ist das V ERBOTENE O BJEKT , während die anderen Frame Element R EGELN und A UTORITÄT null-instantiiert sind, d.h. sie werden nicht im Satz syntaktisch realisiert, werden aber, da sie Teil des Verbot-Frames sind, im Kontext mitverstanden. (2) 1663 wurden in Rom [ Objekt die Schriften Descartes’] auf den Index Tgt gesetzt. 14 Entsprechende Synonyme dieser Bedeutung von Index sind Negativliste, Schwarze Liste und Schwarzliste. 15 Im vom VDS auf seiner Webseite verwendeten Kompositum Anglizmen-Index kann das Wort Index also u.a. so interpretiert werden, dass es den Verbot-Frame evoziert, und das erste Glied des Kompositums Anglizismen das V ERBOTENE O BJEKT ist, welches verboten werden soll. Die Verwendung des Wortes Anglizismen-Index in der Überschrift ist darüber hinaus auch interessant, weil das frame-evozierende Wort Index selbst Teil des Kompositums Anglizismen-Index ist, d.h. das Kompositum als ganzes betrachtet evoziert nicht nur den Verbot-Frame, sondern enthält gleichzeitig auch eine Liste der zu einer bestimmten negativen Kategorie gehörenden V ERBOTENEN O BJEKTE . Mit anderen Worten: Index evoziert direkt den Verbot-Frame und so- 13 Der Verbot-Frame setzt sich über eine Vererbungsbeziehung (Fillmore/ Baker 2010) aus mehreren Berkeley-FrameNet-Frames zusammen: L EADERSHIP , A UTHORITY und L EGALITY . 14 Beispielsatz aus dem DWDS Kernkorpus 20. 15 Unter den Korpusbelegen im DWDS tritt das Wort Index überwiegend im wirtschaftlichen Kontext auf. In nicht-ökonomischen Kontexten finden sich jedoch mehrfach Belege für eine Verwendung im Zusammenhang mit Zensur und Unterdrückung. <?page no="42"?> Matthias Fingerhuth/ Hans C. Boas 32 mit das Frame Element V ERBOTENE O BJEKTE , wodurch das Kompositum als Ganzes die Erwartung weckt, dass man eine Anglizismusverbotsliste bekommt. Außerdem ist die alleinige Verwendung des Wortes Anglizismen-Index in der Überschrift interessant, da ein wichtiges Frame-Element des Verbot-Frames ausgelassen wird, nämlich die A UTORITÄT , welche über die R EGELN entscheidet. Diese Auslassung könnte u.a. suggerieren, dass der VDS selbst vom Leser des Textes als die über die Verwendung von Anglizismen entscheidende und waltende A UTORITÄT verstanden werden soll. Anders ausgedrückt: Der Begriff Anglizismen-Index suggeriert, dass der VDS als eine staatlich, kirchlich, oder anderweitig legitimierte A UTORITÄT angesehen werden könnte, welche befugt ist, über die Legitimität von Anglizismen zu bestimmen. 16 In diesem Kontext ist darauf hinzuweisen, dass der Index 79 % der rund 7.500 gelisteten Anglizismen als „verdrängend“ einstuft (vgl. Abschnitt 2) und mit roter Farbe markiert, (http: / / vds-ev.de/ einordnung-und-statistik, 14.05.2016) was eine Auslegung des Wortes Index in einem restriktiven Sinn unterstützt. Wir wenden uns nun der Bedeutung und Interpretation der Frage Gewinn oder Zumutung? zu, welche ebenfalls deutlich in einer Grafik auf der Webseite des VDS Seite platziert ist, und - größer als der umrahmende einleitende Text zum Anglizismen-Index - das Potential besitzt, Lesererwartungen aufzubauen. Das Wort Gewinn ist in seiner Hauptbedeutung generell positiv belegt (der Ertrag, das Gewonnene) und wird meist im kommerziellen Kontext verwendet. 17 In dieser Bedeutung evoziert Gewinn den Frame Gewinn_und_Verlust, welcher Situationen beschreibt, in denen ein E RWERBSTÄTIGER G ÜTER an einen K ÄUFER liefert und dadurch einen E RTRAG macht. Interessant bei der Frage Gewinn oder Zumutung? ist die Tatsache, dass zwar der Frame evoziert wird, aber alle relevanten Frame-Elemente null-instantiiert sind. Im Kontext der VDS- Seite über Anglizismen lässt sich die Verwendung des Wortes Gewinn also dahingehend interpretieren, dass Anglizismen als E RTRAG und daher möglicherweise positiv interpretiert werden könnten. In diesem Kontext könnte man eigentlich als zweiten Teil der Frage das Antonym von Gewinn (Verlust), erwarten, was jedoch nicht der Fall ist. Stattdessen evoziert das Wort Zumutung (‚unbilliges, unbescheidenes Verlangen, rücksichtslose Belästigung‘) einen Frame aus einer gänzlich anderen semantischen Domäne, nämlich den Anmaßung-Frame, welcher auch von anderen Wörtern wie dreist, unverfroren, Dreis- 16 Als Randbemerkung sei darauf hingewiesen, dass der VDS, wie bereits erwähnt, eine Namensänderung von Anglizismenliste hin zu Anglizismen-Index vorgenommen hat. Dies suggeriert, dass die Bezeichnung Index aus Sicht der Autoren geeigneter erscheint, als die neutralere Liste. 17 Andere vom DWDS genannte Hauptbedeutungen sind (1) ‚Nutzen‘ und (2) ‚Treffer im Lotto‘. <?page no="43"?> Anglizismen zwischen Linguistik und Laien-Linguistik 33 tigkeit, Keckheit, Unverfrorenheit und Unverschämtheit evoziert wird. Wie das folgende Beispiel zeigt, beschreibt dieser Frame Situationen, in denen ein R EIZ - MITTEL (eine Aktivität, ein Objekt, eine Person) ein negatives Gefühl, welches als rücksichtslos empfunden wird, bei einer P ERSON verursacht. (3) [ Reizmittel Der ständige Lärm] ist für [ Person die Nachbarn] eine Zumutung Tgt . Im Kontext der vom VDS geführten Debatte über Anglizismen lässt sich die Verwendung des Wortes Zumutung also dahingehend interpretieren, dass Anglizismen als mögliche R EIZMITTEL gesehen werden könnten und die durch sie betroffene P ERSON diejenigen Leute sind, die Deutsch sprechen. Im Kontext der Frage Gewinn oder Zumutung? ist für die Bedeutung des Wortes Zumutung aber nicht nur der Anmaßung-Frame, der evoziert wird, relevant, sondern auch der Gewinn_und_Verlust-Frame, der durch Gewinn evoziert wird, da so eine klar wertende Aufteilung von Anglizismen in mögliche positive und mögliche negative Kategorien vorgenommen wird. Darüber hinaus ist in der Frage auch die Bedeutung der Konjunktion oder, welche zur Verknüpfung von Alternativen dient und dadurch die Wahl zwischen ihnen zulässt, relevant. Die Verwendung einer Frage aus zwei durch oder koordinierten Substantiven, die semantisch sehr unterschiedliche Frames evozieren, kann dem Leser daher suggerieren, dass der nach der Frage kommende Text eine klare Antwort auf die Frage geben wird, ob Anglizismen als Gesamtkategorie positiv oder negativ bewertet werden sollen. Eine mögliche neutrale Bewertung von Anglizismen wird durch die recht polarisierende Frage von vornherein ausgeschlossen. Diese Antwort bleibt jedoch aus. So erfährt der Leser der „Index-Startseite“ als Antwort auf die Frage Gewinn oder Zumutung? auch mehr über den Sinn und Zweck des „Anglizismen-Index“: Er „ist eine Orientierungshilfe für alle, die deutsche Texte mit englischen oder pseudoenglischen Ausdrücken nicht verstehen oder sie ablehnen und auch für jene, die Anglizismen in eigenen Texten möglichst vermeiden wollen“ (http: / / vds-ev.de/ aindex-thema, 14.05.2016). Das Wort Orientierungshilfe ist interessant, weil es als Kompositum zwei Frames gleichzeitig evoziert. Wenn man die Bedeutungsstrukturen kombiniert, liefert Orientierungshilfe ein Bild darüber, wie der VDS Deutschsprecher charakterisiert, die Anglizismen benutzen. Die Hauptbedeutung von Orientierung evoziert den Navigation-Frame, der Situationen beschreibt, in denen der S UCHENDE sich in einem G EBIET (entweder konkret (Landschaft/ Natur) oder abstrakt (Wissen)) bewegt und sich dabei auf <?page no="44"?> Matthias Fingerhuth/ Hans C. Boas 34 einen R EFERENZPUNKT bezieht, um so zu wissen, wie er sich verhalten kann oder soll. 18 Das folgende Beispiel illustriert dies. (4) Die Orientierung Tgt [ Suchende der Wanderer] [ Referenzpunkt an der Sonne] war schwierig, da es bewölkt war. Die Hauptbedeutung von Hilfe evoziert den Unterstützung-Frame, welcher Situationen beschreibt, in denen ein H ELFER einer BEDÜRFTIGEN P ERSON dabei unterstützt, ein gewisses Z IEL zu erreichen. Der Unterstützung-Frame wird auch von anderen Wörtern wie Betreuung, Rückhalt, Unterstützung und Assistenz evoziert. Als Kopf des Nominalkompositums Orientierungshilfe evoziert Hilfe den Unterstützung-Frame, wobei das erste Glied des Nominalkompositums Orientierung das Frame Element Z IEL darstellt, welches erreicht werden soll. Das Frame-Element B EDÜRFTIGE P ERSON wird durch die Phrase alle, die deutsche Texte mit englischen oder pseudoenglischen Ausdrücken nicht verstehen oder sie ablehnen (...) realisiert. Das Frame-Element H ELFER ist der vom VDS verfasste Anglizismen-Index. Die Semantik der im Nominalkompositum Orientierungshilfe zusammenkommenden Frames Navigation und Unterstützung wird kompositionell interpretiert, woraus der Leser folgern kann, dass Leute, die sich nicht am Anglizismen-Index orientieren, orientierungslos und daher hilflos sein könnten. In dieser Situation gibt der VDS vor, eine Autorität zu sein, die Leuten, die sich im Umgang mit englischen Wörtern nicht sicher fühlen, klare Richtlinien an die Hand geben zu wollen. Dies erhärtet den bereits im Wort Index impliziten Anspruch auf sprachliche Autorität durch den VDS. Dies ist aber aus unserer Sicht extrem problematisch: Der VDS gibt vor, Leuten bei ihrem Sprachgebrauch helfen zu wollen. Das impliziert, dass es Teile der Bevölkerung geben müsste, die trotz muttersprachlicher Kompetenz und allgemeiner Verfügbarkeit von herkömmlichen deutschen und englischen Wörterbüchern nicht wissen, wie sie Wörter verwenden können. Dieser Zielgruppe präsentiert sich der Anglizismen-Index als Ressource. 19 Dabei ignoriert der Anglizismen-Index die wissenschaftlich belegte Flexibilität von Sprachen, die seit jeher in Kontakt mit anderen Sprachen gewe- 18 Andere Wörter, die diesen Frame evozieren sind sich orientieren, sich zurechtfinden, Richtmarke, Kurs und Marschrichtung. 19 Warum laien-linguistische Publikationen auf eine große Nachfrage stoßen, also offensichtlich ein Bedürfnis erfüllen, ist ein interessantes sozio- und diskurslinguistisches Thema, welches wir aber wegen des limitierten Umfangs unseres Beitrags leider nicht weiter erörtern können. Ob und wie der Anglizismen-Index im Speziellen tatsächlich eine breitere Nutzung erfährt, wäre in einer dedizierten Untersuchung zu ergründen. <?page no="45"?> Anglizismen zwischen Linguistik und Laien-Linguistik 35 sen sind. In Sprachkontaktsituationen sind Entlehnungen und Neubildungen mit Wörtern und Mustern der Kontaktsprache seit Jahrtausenden linguistische Realität (Haspelmath/ Tadmor 2009, Hickey 2010). Zudem scheint der eigentliche Kern des Anglizismen-Index selbst problematisch zu sein, da - wie bereits eingangs erwähnt - die Klassifizierung von Anglizismen wissenschaftlich nicht fundiert ist, wie der VDS selbst erkennt: „diese Einordnung unterliegt jedoch keinen objektiven Kriterien“ (http: / / vds-ev.de/ einordnung-und-statistik, 14.05.2016) und unterscheidet sich nach eigener Aussage von „beschreibenden und beobachtenden Betrachtungsweisen und Haltungen“ (http: / / vds-ev.de/ aindexthema, 23.08.2016) zur deutschen Sprache. Dies zeigt, dass der Anglizismen- Index nicht nur wissenschaftlich nicht fundiert ist, sondern womöglich auch noch falsche Informationen gerade jenen Leuten zur Verfügung stellt, die zur Zielgruppe des VDS gehören: 20 „alle, die deutsche Texte mit englischen oder pseudoenglischen Ausdrücken nicht verstehen oder sie ablehnen und auch für jene, die Anglizismen in eigenen Texten möglichst vermeiden wollen“ (http: / / vds-ev.de/ aindex-thema, 14.05.2016). Zusammenfassend konnte diese Analyse aufzeigen, dass die Beschreibung des Anglizismen-Index widersprüchlich ist. Das Wort Index selbst kann einen Leser dazu führen, die in ihm aufgeführten Gegenstände als verboten aufzufassen. Dazu wird eine Bewertung als „Zumutung“ ebenfalls in den Raum gestellt. Dies macht die Beschreibung des Index als nicht puristisch oder fremdwortfeindlich unglaubwürdig. In diesem Kontext gerieren sich die Autoren zur sprachlichen Autorität im laien-linguistischen Diskurs, ohne sich dabei auf eine konsistente wissenschaftliche Methode berufen oder eine andere Legitimation aufbauen zu können. Dies ist aus sprachwissenschaftlicher Sicht mehr als bedenklich, und es steht im Widerspruch zur ausgewiesenen Wahlfreiheit des Nutzers. 21 Gerade für den Hilfsbedürftigen scheint es nicht wahrscheinlich, 20 Der laien-linguistische Diskurs ist in diesem Zusammenhang mit medizinischen Foren im Internet zu vergleichen, in denen sich Personen ohne medizinische Ausbildung (meist Patienten) über Diagnose- und Heilverfahren unterhalten bzw. solche propagieren, ohne über das zugrunde liegende notwendige medizinische Wissen zu verfügen, das im Sinne der wissenschaftlichen Methode (Gauch 2003) von professionellen Medizinern erworben und praktiziert wird. 21 Als möglicher theoretischer Rahmen für die Bedeutung der Wahlfreiheit des Sprechers kann hier etwa Ammons (2005) Modell des sozialen Kräftefelds für Standardvarietäten dienen. In diesem existieren Standardvarietäten im Spannungsfeld zwischen Normautoritäten, Modellsprechern, Sprachkodizes und Sprachexperten. Den Anglizismen-Index kann man in diesem Modell als Alternativcodex auffassen, der u.U. im Widerspruch zu anderen Kodizes stehen kann. Der Frage, ob dies Konsequenzen für eine Sprachgemeinschaft haben kann, wäre eine separate Diskussion zu widmen. In diesem Modell positionieren sich die Autoren des Index darüber hin- <?page no="46"?> Matthias Fingerhuth/ Hans C. Boas 36 dass er nach dem zurate ziehen eines (vermeintlichen) Experten dessen Urteil verwirft. 4 Fazit Unser Beitrag konnte nur einen kleinen Ausschnitt der Beschreibung des Anglizismen-Index durch den VDS einer genaueren Analyse unterziehen. Durch die frame-semantische Beschreibung einiger weniger Begriffe hoffen wir gezeigt zu haben, wie die Sprache der Autoren des VDS im Kontrast mit ihrer Rhetorik steht. Eine detailliertere Untersuchung könnte diesen Befund erhärten und andere Aspekte ergründen. Dies würde jedoch den Umfang unseres Beitrags weit überschreiten. Wie solch eine Volltextanalyse jedoch aussehen könnte, wird exemplarisch in Ziem u.a. (2014) dargestellt. In unserer kurzen Abhandlung haben wir den eigentlichen Index außen vor gelassen. Dessen Klassifizierung wurde eingangs erwähnt, bedarf jedoch einer separaten Diskussion, die ihren Wandel oder das Ausbleiben dessen im Laufe der Zeit einbezieht. Diese war im Rahmen dieses Beitrags nicht zu leisten. In diesem Zusammenhang könnte auch genauer diskutiert werden, inwieweit dieser Klassifikation eine Konzeption von Sprache zugrunde liegt, die Sprachen als getrennte Systeme oder Organismen versteht, in denen Fremdwörter eine sog. „Verunreinigung“ oder „Schwächung“ darstellen. Eine korpusgestützte Überprüfung der im Anglizismen-Index gesammelten Anglizismen könnte darüber hinaus Klarheit darüber verschaffen, ob die Angst vor einer Verdrängung deutscher Wörter durch englische überhaupt gerechtfertigt ist, und inwieweit die gelisteten deutschen Entsprechungen adäquate Alternativen für z.T. etablierte Anglizismen darstellen. Des Weiteren könnte ergründet werden, in welchem Umfang das Angebot des Anglizismen-Index eine Nachfrage bedient. Ohne diese Detailarbeit deutet dieser Beitrag jedoch schon darauf hin, dass die Frage nach dem Wesen von Sprache an sich und die Frage nach dem Wesen der deutschen Sprache im Speziellen in der Laien-Linguistik nicht hinreichend mit sprachwissenschaftlichen Einsichten und Methoden untermauert ist. Dies ist bedauerlich, und kann als Hinweis gedeutet werden, dass sich professionelle Sprachwissenschaftler nicht ausreichend in den öffentlichen Diskurs einbringen. Dafür, dass dies mit dem Ziel eines möglichst ausgeprägten Sprachbewusstseins in der Breite der Bevölkerung nicht nur zulässig, sondern auch wünschenswert ist, wurde bereits argumentiert (Bär 2002, Eisenberg 2008). In einer aus als Sprachexperten. Aufgrund der bereits erwähnten Abwesenheit und Ablehnung konsequenter und sprachwissenschaftlicher Methodik erscheint dies jedoch kaum wünschenswert. <?page no="47"?> Anglizismen zwischen Linguistik und Laien-Linguistik 37 Zeit, in der Teile der deutschen Bevölkerung Angst vor ethnischer, kultureller und sprachlicher Überfremdung äußern, besitzt die Sprachwissenschaft die Erkenntnisse, um zumindest den öffentlichen Diskurs um Sprache in sachlichere Bahnen zu lenken. Die Sprachwissenschaft sollte dieses Gespräch suchen und die Laien-Linguistik nicht den Laien überlassen. 5 Literatur Ammon, Ulrich (2005): Standard und Variation. Norm, Autorität, Legitimation. In: Eichinger, Ludwig M./ Kallmeyer, Werner (Hrsg.): Standardvariation. 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Kontrastverschiebungen oder Kontrastübertreibung, die sich aus einer unsicheren Beherrschung der Zielsprache Deutsch, etwa durch Übergeneralisierung des Sprachsystems, ergeben und (3) Normverletzungen aus Unachtsamkeit, d.h. Flüchtigkeitsfehler, die selbst bei Textproduzenten mit exzellenter Sprachbeherrschung vorkommen. 1 Problemhintergrund und Zieldimension Die auslandsdeutschen Medien verkörpern im Grunde sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Forschung seit längerem kein Neuland mehr. Sie sind zumindest an der Oberfläche gut dokumentiert: In seinem Überblickswerk weist z.B. Akstinat (2012-2013: 13) nach, dass es außerhalb des zusammenhängenden deutschen Sprachraums „über 2.000 Periodika komplett oder teilweise in deutscher Sprache“ gibt. Diese Medienerzeugnisse sind bereits in einer Reihe gesellschafts- und geisteswissenschaftlicher Disziplinen zum Thema zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen gemacht worden, wobei es vorrangig um historische, pressegeschichtliche, kultur- und literaturwissenschaftliche u.ä. Fragen ging; erstaunlicherweise bleiben hingegen ein sprachorientierter Schwerpunkt und ein linguistischer Blickwinkel bis heute weitestgehend ein Desiderat. Denn gezielt zur <?page no="54"?> Csaba Földes 44 gegenwärtigen Sprache auslandsdeutscher Presse liegen kaum Veröffentlichungen vor und diese wenigen stammen meist nicht von Linguist(inn)en, sodass ihre Zuverlässigkeit und ihr sprachwissenschaftlicher Wert wohl als recht bescheiden gelten dürften. Vor diesem Hintergrund soll der Aufsatz mithin einen bisher kaum beachteten, jedoch umso relevanteren Phänomenbereich, nämlich deutsche Pressetexte in anderssprachigem Umfeld, aus sprachwissenschaftlicher Sicht exponieren. Er strebt zum einen - mittels eines qualitativen hermeneutisch-analytischen Ansatzes - eine evidenzbasierte sprachbezogene Analyse am Material der „Moskauer Deutschen Zeitung“ (im Weiteren: MDZ) an, um die signifikanten Charakterzüge einer auslandsdeutschen Zeitung zu erschließen. Zum anderen soll damit ein Beitrag zur Herausarbeitung der Produktionsaspekte journalistischer Textsortenausprägung und -gestaltung (und teilweise ihrer Rezeptionsbesonderheiten) im Spannungsfeld von zwei Sprachen und Kulturen geleistet werden. 2 Die empirische Datengrundlage Die das Forschungsobjekt der vorliegenden Studie bildende „Moskauer Deutsche Zeitung“ ist in Russland das größte und einzige föderationsweite deutschsprachige Druckmedium und hat eine Auflagenhöhe von 25.000 Exemplaren. 1 Die Zeitung besteht zurzeit aus zwei Teilen: der 16-seitigen „Moskauer Deutschen Zeitung“ und der 8-seitigen „Московская немецкая газета“ (Moskovskaja nemeckaja gazeta) und gehört heute zur MaWi-Verlagsgruppe. Das Blatt erscheint vierzehntägig im A3-Format und wird auf Flughäfen, in Hotels, Restaurants, Businesszentren etc. kostenlos verteilt, wobei es auch zahlende Abonnenten gibt. Der MDZ-Redaktion gehören sechs fest angestellte zweisprachige Journalist(inn)en (Deutsch-Russisch), vier von ihnen sprechen Deutsch und zwei Russisch als Erstsprache. Hinzu kommen regelmäßig Praktikant(inn)en aus der Bundesrepublik Deutschland in variierender Anzahl. 2 1 Quelle: Toчka-Treff: Das deutsch-russischsprachige Portal für Austausch und jungen Journalismus; unter http: / / www.goethe.de/ ins/ ru/ lp/ prj/ drj/ mem/ inf/ 9618236.htm (Stand: 25.02.2018). Detailliertere Ausführungen über Historie und Anlage der MDZ finden sich in Földes (2018). 2 Für diese am 10.10.2017 per E-Mail übermittelten Informationen danke ich Olga Martens, Mitherausgeberin der MDZ, herzlich. <?page no="55"?> Mediensprache im Kontakt der Kulturen 45 Die Materialgrundlage zu der hier präsentierten datenorientierten empirischen Untersuchung deskriptiver Art bildeten die deutschsprachigen Seiten in der Druckausgabe des Jahres 2017. 3 Salienzen: Bandbreite sprachlicher und kultureller Auffälligkeiten Der heuristische Rahmen des vorliegenden Aufsatzes, nämlich die Salienz- Theorie, 3 ist innerhalb der germanistischen Sprachwissenschaft vor allem in der Dialektologie bekannt. 4 Der Salienz-Begriff soll nun als analytisches Beschreibungsinstrument dienen, wobei es um Auffälligkeiten geht, die vor dem Hintergrund „binnendeutscher“ 5 Pressesprache manifest sind. Eine in jeder Hinsicht klare Einsortierung in die Kategorie „Auffälligkeit“ war allerdings nicht immer möglich. In Ergänzung und als Korrektiv zu sprachlichen und kulturellen Kompetenzen des Verfassers im Hinblick auf Deutsch und Russisch wurden auch mehrere bundesdeutsche und z.T. auch russische Gewährspersonen befragt. Dabei diente operational der Deutschland-deutsche Standard als Bezugsgröße (nicht aber als Wertprämisse). Die wichtigsten methodischen Stichwörter waren dabei (1) die fragestellungsbezogene Kollektion 6 (Sammlung von Vorkommen eines bestimmten Phänomens), (2) die Typenbildung und (3) die Sequenzanalyse. Die Studie bewegt sich gezielt auf einer diskursorientierten Mikroebene, ohne auf die Makroebene (z.B. Akteure und Netzwerke) einzugehen. 3 Das Konstrukt „Salienz“ wird auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft z.B. von Gessinger/ Butterworth (2015) vornehmlich aus der Sicht der Dialektologie und von Rácz (2013) aus der der Soziolinguistik nutzbar gemacht. Der vorliegenden Studie liegt die Salienz-Konzeption von Purschke (2011: 84) zugrunde. 4 Mit etwas Vereinfachung könnte man von „Auffälligkeiten“ reden. Viele Salienz-Fälle lassen sich unter fremdheitswissenschaftlichem Gesichtspunkt den „Xenismen“ zuordnen (siehe Földes 2018). 5 Mit Binnendeutsch ist die standardorientierte Sprachverwendung im zusammenhängenden deutschen Sprach- und Kulturraum (Deutschland, Österreich und die Schweiz) gemeint, als Gegenpart zu sprachkommunikativen Praktiken deutschsprachiger Textproduzenten im nicht-deutschsprachigen Ausland. 6 „Kollektion“ wird als Strategie und Instrument wie z.B. in der Konversationsanalyse verwendet (vgl. Deppermann 2010: 648). <?page no="56"?> Csaba Földes 46 3.1 Salienzen primär sprachbezogener Provenienz Die größte paradigmatische Phänomenklasse verkörpern dabei die Auffälligkeiten primär sprachbezogener Art auf verschiedenen Ebenen. 3.1.1 Hierzu hat die empirische Untersuchung eine Bandbreite lexikalischer Besonderheiten - einschließlich Aspekte der Semantik und der Wortbildung - ermittelt, von denen einige relevante Belegtypen im Folgenden vorgestellt werden. Die Lexemwahl scheint in einer Reihe von Fällen durch die Kontaktsprache Russisch beeinflusst worden zu sein: (1) Lehrbibliothek (5/ 2017, S. 6) klingt im Deutschen ungewöhnlich; das Kompositum dürfte auf den parallelen russischen Ausdruck учебная библиотека zurückzuführen sein. Dieser Terminus kann im Russischen für die Bezeichnung einer Büchersammlung in einer Lehranstalt verwendet werden; beispielsweise ging die Russische Staatsbibliothek für Kunst aus der „Lehrbibliothek“ der Theaterschule des 1756 gegründeten Staatlichen Akademischen Maly-Theaters Russlands (Государственный академический Малый театр России) hervor. (2) Kollektionär (6/ 2017, S. 11 und S. 14) - nach dem Vorbild des russischen коллекционер - ist als Fremdwort im Alltagsdeutsch unüblich, vielmehr würde man hier Sammler schreiben. Diese MDZ-Wortwahl kann damit zusammenhängen, dass man in Russland mit коллекционер den Besitzer einer Sammlung bezeichnet, während das Wort Sammler mit der Tätigkeit des Sammelns assoziiert wird. Ganz ähnlich ist auch: (3) Exposition (18/ 2017, S. 12) - wie im Russischen экспозиция; im Deutschen hieße es einfach Ausstellung. Dieser Wortwahl scheint eine interlinguale Diskrepanz zugrunde zu liegen: Für das deutsche Lexem Ausstellung hält das Russische zwei Entsprechungen bereit. Das Wort выставка kann in einem weiteren Sinne verwendet werden, z.B. als Institution, wohingegen man mit экспозиция das konkrete Ensemble von Exponaten meint, so kann u.U. экспозиция Bestandteil einer выставка sein. <?page no="57"?> Mediensprache im Kontakt der Kulturen 47 Beleg (4) ist wegen des Lexems Diwan interessant: (4) Wie Couchsurfer und Bestsellerautor Stephan Orth auf russischen Diwanen schlief (16/ 2017, S. 1). Das Substantiv Diwan dürfte deswegen gewählt worden sein, weil das fast gleichlautende russische Pendant диван ein frequentes Wort darstellt, während im bundesdeutschen Sprachgebrauch Sofa oder Couch die gängige Bezeichnung für dieses Möbelstück ist. Außerdem dürfte hier stilistisch auch die Gegenüberstellung Couch - Diwan eine Rolle spielen: Eine Spannung liegt zwischen dem Neologismus Couchsurfer und dem eher veraltenden Diwan (vgl. Dudenredaktion 2015: 432) vor. Ob das ein gezieltes stilistisches Verfahren oder einfach ein simpler Transfer des stilistisch-pragmatisch eher unmarkierten russischen диван ist, muss dahingestellt bleiben. 7 In der Ausgabe 8/ 2017 steht auf Seite 8 (5) Ethikkomitee, als dessen Wortbildungsmuster das russische комитет по этике oder этический комитет gedient haben dürfte, denn in Deutschland würde man eher Ethikkommission sagen. Gelegentlich geht die registrierte Auffälligkeit darauf zurück, dass es für ein Wort des Russischen (in diesem Fall für широкий) im Deutschen zwei Entsprechungen gibt: (6) Die berüchtigte russische Seele ist so breit wie das Land selbst (8/ 2018, S. 10). An der Stelle des prädikativ verwendeten breit wäre weit zu empfehlen gewesen. (Außerdem klingt das qualifizierende Adjektiv berüchtigt ziemlich negativ oder ironisch.) Folgender Beleg bietet mindestens zwei Besonderheiten: (7) „BBC Welt Fragen“ lädt Politiker und weitere hochkarätige Personen ein, um jedermann die Möglichkeit zu geben, Fragen zu stellen und Expertenmeinungen zu hören (18/ 2017, S. 13). 7 Ein ergänzendes Moment dürfte sein, dass die typische Konnotation ,gemütlichkleinbürgerlich‘ in der deutschen Sprachkultur eher mit Couch (vgl. auch „neudeutsch“ Couch-Potato), hingegen in der russischen mit Diwan (vgl. диванный боец) verbunden ist. <?page no="58"?> Csaba Földes 48 Hier wäre statt hochkarätige Personen vielleicht hochkarätige Persönlichkeiten und statt jedermann eher jedem unauffälliger gewesen. Das metaphorische Determinativkompositum (8) Schwarzgold (4/ 2017, S. 9) ist im Sinne von ,Öl‘ nicht verkehrt, allerdings ist die Adjektiv-Substantiv- Wortfügung schwarzes Gold geläufiger. Auf diese Bezeichnungsvariante wird im gegebenen Text - und auch in einem anderen Artikel (18/ 2017, S. 7) - ebenfalls zurückgegriffen. Ein weiterer Nachteil der Zusammensetzungsvariante ist, dass Schwarzgold von seinem Strukturmuster her u.U. Assoziationen impliziert wie etwa ,illegales Gold‘. Folgender Beleg ist wegen des Umgangs mit den Zahlangaben - „zwischen 50 und 100“ - zu erwähnen: (9) Davon machen zwischen 50 und 100 Leuten jeden Tag Gebrauch, berichten die Moderatoren der Gruppen. (8/ 2017, S. 10). Im bundesdeutschen Gebrauchsstandard hieße es eher: […] 50 bis 100 Leute […]. In Beleg (10) könnte man statt Erwartungen eher Vorstellungen einsetzen: (10) Während Videos im Internet immer abrufbar sind und auf den nächsten Klick warten, ist eine Theateraufführung für sich ein einmaliges Ereignis. „Wir spielen unsere Stücke so, dass die Menschen keine Erwartungen haben, wie die Protagonisten heute sein werden […]“ (6/ 2017, S. 10). Im nächsten Satz wäre im Deutschen statt Kanalerbauer wohl Kanalbauer sprachüblicher: (11) Wie viele tote Kanalerbauer darunter begraben sind, kann man nicht mehr genau sagen (18/ 2017, S. 13). Im folgenden Satz wäre anstelle von Schläge vielleicht Rückschläge oder Schicksalsschläge angebrachter gewesen: (12) In erster Linie Lidias, die trotz aller Hürden und Schläge einen Weg findet, sich immer ein bisschen mehr zu verwirklichen, als es die herrschenden Um- und Zustände eigentlich zulassen wollen, selbst als sie im sowjetischen Straflager eingesperrt war (6/ 2017, S. 11). <?page no="59"?> Mediensprache im Kontakt der Kulturen 49 Beleg (13) enthält neben dem Vokabular auch in stilistisch-sprachästhetischer Hinsicht etwas Kommentierungswürdiges: (13) Schon zu Sowjetzeiten schickte Moskau Ingenieure in die Region, die dort die Infrastruktur für den Erdölabbau ausbauen sollten (4/ 2017, S. 9). Zum einen wäre statt Erdölabbau eher Erdölgewinnung oder Erdölförderung gebräuchlicher, zum anderen klingt es nicht gerade schön, dass Abbau und ausbauen direkt nebeneinanderstehen. In einem modernen Kontext macht der Ortsname Zweistromland auf sich aufmerksam: (14) Die Förderung erfolgt an zwei der vielversprechendsten Stellen im Zweistromland: im West-Kurna-Feld und Badra (4/ 2017, S. 9). Dieses Toponym, eher geläufig in der altgriechischen Form Mesopotamien, ist vornehmlich in historischen Zusammenhängen verankert. (Hinzu kommt, dass zum Zweistromland nicht nur der Irak, Gegenstand des betreffenden Presseartikels, sondern auch z.B. Syrien gehört.) In einem Feuilleton über eine Oper in Erinnerung an das KZ Auschwitz liest man: (15) Sergej Schirokow und Mieczyslaw Weinberg haben alles getan, damit die Zuschauer den Schmerz und das Grauen von Auschwitz spüren (4/ 2017, S. 11). Anstelle des Verbs spüren wäre hier wohl nacherleben bzw. begreifen können oder eben verspüren angemessener gewesen. Die MDZ berichtet von einer landesweiten Werbemaßnahme für Deutsch als Fremdsprache wie folgt: (16) Bei der Aktion „Totales Diktat“ konnten Deutschlernende die Probe aufs Exempel machen, wie gut sie die Sprache von Goethe und Schiller beherrschen (4/ 2017, S. 9). Hierzu kann man sich fragen, ob der Name der Aktion „Totales Diktat“ wirklich optimal ist, denn manche Assoziationen mit total, wie z.B. totaler Krieg, hören sich nicht gerade positiv an. Das weist aber natürlich über die Sprachlichkeit der Zeitung hinaus. Außerdem kann sich der Verfasser des vorliegenden Beitrags als germanistischer Sprachwissenschaftler die inhaltliche Anmerkung nicht verkneifen, dass die Lernenden heute natürlich nicht die „Sprache von Goethe und Schiller“, also eine gehobene literarische Varietät der zweiten Hälf- <?page no="60"?> Csaba Földes 50 te des 18. und der ersten Hälfte der 19. Jahrhunderts, vermittelt bekommen sollten. Gelegentlich stößt man auf fachsprachlich inkorrektes Vokabular: (17) Diana studiert heute Jura mit Schwerpunkt Straftaten (17/ 2017, S. 2) - gemeint war sicher Strafrecht. An einigen Stellen liegen Wortbildungsunsicherheiten vor: (18) Sie sind strikt gegen eine Work-Life-Blende, die charakteristisch für die Generation Y ist (8/ 2017, S. 10). Eine „Work-Life-Blende“ existiert eigentlich nicht, korrekt wäre -Blending (oder -Balance) gewesen. Manche Kollokationen wirken aus bundesdeutscher Sicht eher unüblich: (19) Das 2010 eröffnete Familiengewerbe „Djadja Granta“ ist genaugenommen [sic! ] gar kein Restaurant (5/ 2017, S. 15). „Gewerbe“ ist eher etwas Abstraktes und wird meist nicht „eröffnet“, sondern eher gegründet oder angemeldet; man eröffnet dagegen ein Restaurant. Insgesamt hätte ich folgende Lösung gewählt: Das 2010 gegründete Familienunternehmen […]. Die Verbindung der koordinierten Substantive Wissenschaftler und Forscher klingt im Satz (20) Mittlerweile wurden mithilfe 8 von Wissenschaftlern und Forschern einige der Tierarten vor dem Aussterben bewahrt (6/ 2017, S. 14). tautologisch, da Forscher zugleich Wissenschaftler sind. Womöglich ist der Beleg als kontaktbedingte Lehnübersetzung der im Russischen als Paarformel erstarrten geläufigen Wortfügung учёные и исследователи zu qualifizieren. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass diese Tautologie eine expressive Verstärkung der Aussage bewirken soll. Hier und da liegen Transferenzbedeutungen aus dem Russischen vor, wenn also ein Semem der einen Sprache in die Bedeutung der anderen Sprache Eingang findet, wie z.B. im Fall von (21): 8 Vielleicht wäre hier die Formulierung unter Mithilfe noch präziser gewesen. <?page no="61"?> Mediensprache im Kontakt der Kulturen 51 (21) [In der Staatsbibliothek]: Während man auf die bestellten Bücher wartet, kann man, wie der Herr da drüben, Puschkin lesen. Oder in der Mensa essen (5/ 2017, S. 6). Das Substantiv Mensa überrascht in diesem Kontext, denn in Deutschland gibt es Mensen nur an den Hochschulen, in einer Bibliothek kann es vielmehr eine Kantine o.Ä. geben. Die Wahl von Mensa dürfte auf die Unterdifferenzierung des entsprechenden russischen Lexems столовая zurückgehen. Ein weiterer Beleg ist (22) Mädchen (5/ 2017, S. 13) im Sinne von ,erwachsene Frau‘, wo die Semantik der russischen Entsprechung девушка hineinspielt. Der Bedeutungsumfang des Lexems ist in der deutschen Gegenwartssprache enger: Es bezeichnet ein Kind weiblichen Geschlechts, während das russische Pendant sich auch auf Studentinnen etc. beziehen kann und sich letztlich sogar in Bezug auf eine Frau beliebigen Alters verwenden lässt (wenn es etwa um eine Kellnerin, um eine Verkäuferin usw. geht). Am eklatantesten sind diesbezüglich die sog. falschen Freunde des Übersetzers: (23) Es gibt keine Privilegien mehr für Professoren und Akademiker. Heute sind alle gleich (5/ 2017, S. 7). Während das Lexem Akademiker im Deutschen grundsätzlich eine Person mit Hochschulabschluss bezeichnet, 9 meint man mit seinem russischen Pendant академик ein Akademiemitglied, vor allem ein Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften. Der Schreiber stützt sich auf eine formale Ähnlichkeit der phonologischen Struktur beim Wortpaar Akademiker und академик und generiert eine semantische „Kontrastnivellierung“ (Terminus im Sinne von Henn 1978: 142). Somit lässt sich dieser Beleg praktisch als ein Fauxami qualifizieren. Einige Belege kommen einem vom Ausdruck her etwas merkwürdig vor: (24) Im Kopf einer Person in gehobener Gesellschaft wuchsen schwierige Figuren und Schritte zu einem strengen System zusammen (17/ 2017, S. 12). 9 Obwohl einige Lexika (z.B. Dudenredaktion 2015: 118) - mit dem Vermerk selten - auch die Nebenbedeutung ,Mitglied einer Akademie‘ verzeichnen, ist das Wort in der kommunikativen Praxis Deutschlands gleichsam immer in der obigen Hauptbedeutung gebräuchlich. <?page no="62"?> Csaba Földes 52 Statt der Präpositionalphrase wäre hier vielleicht eine Genitivkonstruktion klarer: Person der gehobenen Gesellschaft, außerdem ist der ganze Satz nicht ganz transparent. 3.1.2 Im Bereich der figurativen Sprache konnte die datenbezogene Untersuchung ebenfalls Befunde liefern. Dem folgenden Abschnitt liegt z.B. ein etwas gewagtes, aber nicht ungelungenes metaphorisches Wortspiel - als Kontamination von Blutfleck und blinder Punkt/ Fleck - zugrunde: (25) Das Schicksal der millionenfach versklavten NS-Zwangsarbeiter blieb in der Nachkriegswahrnehmung bis heute ein blinder Blutfleck (6/ 2017, S. 11). In diesem Feld operiert die folgende Überschrift mit einer eigenartigen Kombination von Metaphern: (26) Ein blutiger weißer Fleck. Ausstellung in Minsk gedenkt NS-Opfern (6/ 2017, S. 7). Dies dürfte ein wenig stimmiges Bild aus Blutfleck und weißer Fleck ergeben. Eine etwas radikale Gedankenverbindung manifestiert sich im folgenden Text: (27) Die Wanderausstellung „Vernichtungsort Malyj Trostenez. Geschichte und Erinnerung“ hat denselben Weg wie die deportierten deutschen Juden zurückgelegt: […] (6/ 2017, S. 7). Es dürfte als gewagte Formulierung gelten, den brutalen Leidensweg der Juden mit der Reiseroute einer Wanderausstellung zu verbinden. Der Ausdruck denselben Weg zurückgelegt kann den Eindruck erwecken, als würde es sich um miteinander vergleichbare Mobilitätsweisen handeln. Folgendes Textsegment enthält auch ein interessantes phraseologisches Item: (28) Es ist normal, sich Schrammen zu holen. Wenn man eine Idee hat, sollte man versuchen, sie zu realisieren (18/ 2017, S. 6). Die Wendung sich Schrammen holen ist im Deutschen nicht gängig, für diese Formulierung könnte eine russische metaphorische Bildlichkeit, nämlich der ironisch-umgangssprachliche Phraseologismus набивать шишки (wörtlich etwa „sich Beulen zuziehen“ oder noch genauer: „sich Beulen schlagen lassen“ bzw. „zulassen, dass einem Beulen geschlagen werden“) in der Bedeutung ,An- <?page no="63"?> Mediensprache im Kontakt der Kulturen 53 fängerfehler machen, Lehrgeld bezahlen müssen‘ als Modell gedient haben. Ob sich dahinter ein unreflektierter zwischensprachlicher Transfer oder vielleicht ein gezieltes Bemühen um größere stilistische Lebendigkeit verbirgt, kann im Nachhinein nicht eindeutig entschieden werden. Bemerkenswert ist auch folgender phraseologiebezogener Beleg: (29) Nun hat Regisseur Sergej Schirchow die Geschichte der Passagierin auf die große Bühne der „Neuen Oper“ in Moskau gestellt (4/ 2017, S. 11). Hier wäre die deutsche Standardvariante etw. auf die Bühne bringen; die Wahl des Verbs stellen dürfte durch das russische Äquivalent поставить на сцене motiviert sein, d.h. der Textschreiber verwendet das Verb stellen offenbar in Analogie zur russischen Wendung, da stellen und поставить in deutsch-russischer Relation Teilsynonyme sind. Beim Beleg (30) fällt wieder die Verbkomponente auf: (30) Es ist ein Projekt für Menschen, die in Russland leben und nicht versuchen den „Anschein zu machen, dass hier alles okay ist“, schreiben die Gründer (8/ 2017, S. 10). Eigentlich müsste es den Anschein erwecken heißen (und nicht machen); im Russischen heißt es произвести. Manchmal verursacht die externe oder die interne Valenz phraseologischer Konstruktionen Irritationen: (31) Den meisten Umsatz erzielt Mosigra nicht online, sondern über den Direktverkauf, heißt es seitens der Zentrale. Fachkundige Brettspielkenner stehen zur Seite, außerdem können Kunden erstmal die Würfel rollen lassen, bevor das Spiel gekauft wird (6/ 2017, S. 10). Da ergibt sich die Frage: Wem stehen die fachkundigen Brettspielkenner zur Seite? Die Nennform der Wendung lautet doch: jmdm. zur Seite stehen. 3.1.3 In der Grammatik finden sich auch zahlreiche und verschiedenartige Manifestationstypen von Salienz auf sämtlichen Ebenen vom Wort bis zum Text, beispielsweise in der Morphologie im Hinblick auf die Flexion: (32) Die 20-jährige Studentin Nina Sdorowa war im Sommer 2015 noch Schülerin und nahm am militärisch-orthodoxe Ferienlager „Parus“ bei Gorochowez teil (8/ 2017, S. 6). <?page no="64"?> Csaba Földes 54 Hinsichtlich der Adjektivdeklination würde die kanonische Dativform orthodoxen lauten. Ein weiteres Beispiel ist Nr. (33): (33) Am 17. Februar schickte Michail Rodsjanko als Vorsitzende des sogenannten Provisorischen Komitees der Staatsduma ein Telegramm an den Zaren (5/ 2017, S. 6). - hier wäre die Form Vorsitzender angebracht gewesen. (Allerdings ist auch möglich, dass an dieser Stelle lediglich ein Tippfehler vorliegt, vgl. Abschnitt 3.1.8). Im folgenden Beleg ist nicht ersichtlich, ob es sich um einen grammatischen Schnitzer oder um einen simplen Druckfehler handelt: (34) Also, wenn Sie den „Kasatschok“ einmal verinnerlicht haben, dann trauen Sie sich auch, ihn zum einen entsprechenden Anlass zum Besten zu geben (17/ 2017, S. 12). Eigentlich hätte hier zu einem stehen müssen. Ähnlich auch: (35) Es ist einfacher, eine unbewohnte Straße umzubenennen als eine mit Anwohner, die dann ihre Adresse ändern müssten (18/ 2017, S. 13). Hier fehlt das Dativ-n-Suffix, also: Anwohnern. (36) Kühe, Milch, Kefir, Rjaschenka und all diese Produkten (8/ 2017, S. 11), grammatisch korrekt wäre hier die Form Produkte gewesen. Genau genommen müsste hier auf Deutsch statt „Produkte“ Lebensmittel stehen, da das gleichartige russische Wort продукт (im Plural продукты) ,Lebensmittel‘ bedeutet. (37) Sie brachten viel Geld in die Staatskassen ein (17/ 2017, S. 7) - hier wäre der Singular Staatskasse die unmarkierte Form gewesen. Außerdem würden sich, genauer gesagt, eher die Varianten Sie brachten viel Geld in die Staatskasse oder Sie brachten viel Geld ein anbieten. Auch durch Besonderheiten geprägt ist der Umgang mit den Artikeln, was u.U. damit zusammenhängen kann, dass das Russische die grammatische Kategorie ,Artikel‘ nicht kennt: <?page no="65"?> Mediensprache im Kontakt der Kulturen 55 (38) In der höchsten Moskauer „Stalin-Schwester“ befinden sich drei Fakultäten, vier Wohnheime und Mensen, Cafés, Geschäfte, Schwimmbad, Waschküche, Friseur, Handwerker. Außerdem sind hier Rektorat, Verwaltung, ein Museum, Lehrbibliothek und Aula (5/ 2017, S. 7). Es böte sich an, in der Passage (38) sogar an mehreren Stellen die unbestimmten bzw. die bestimmten Artikel einzusetzen, also: In der höchsten Moskauer „Stalin-Schwester“ befinden sich drei Fakultäten, vier Wohnheime und Mensen, Cafés, Geschäfte, ein Schwimmbad, eine Waschküche, ein Friseur und Handwerker. Außerdem sind hier das Rektorat, die Verwaltung, ein Museum, eine Lehrbibliothek und eine/ die Aula. Einige Belege im Hinblick auf die Pluralbildung sind: (39) schwierige Worte aussprechen (4/ 2017, S. 9), hier wäre eher die Pluralform Wörter angemessen; (40) die neuen Terminale (5/ 2017, S. 7) - das normgerechte Pluralsuffix zum Substantiv Terminal wäre ein -s gewesen (siehe Dudenredaktion 2017, S. 1097), also Terminals. Gelegentlich variiert die Pluralbildung ein und desselben Substantivs innerhalb einer Zeitungsseite, z.B. (41) Bolschewiken vs. Bolschewiki (20/ 2017, S. 1). Die Wahl von Präpositionen weist auch Besonderheiten auf, z.B. (42) Im Erdgeschoss befand sich das Tee-Geschäft, auf der zweiten und dritten Etage residierte die Kaufmannsdynastie (5/ 2017, S. 12). Hier würde der Deutschland-deutsche Standard den Einsatz der Lokalpräposition in verlangen; vermutlich liegt eine sprachkontaktinduzierte Lehnübersetzung aus dem Russischen vor: на втором и третем этажах (wo dem russischen на die Präposition auf entspricht). 10 Das Phänomen ließe sich als kontaktsprachlich bedingte Kontrastnivellierung interpretieren. 10 Ein weiterer Punkt ist die Zählung der Stockwerke: Im Russischen folgt nach dem Erdgeschoss gleich die zweite Etage. Dies leitet aber schon zu den Salienzen kultureller Natur (unter 3.2) hinüber. <?page no="66"?> Csaba Földes 56 Vergleichbar auch: (43) Es ist nicht wichtig, auf welcher Sprache die Protagonisten singen, sondern wie sie singen (4/ 2017, S. 11). Normalerweise heißt es im Deutschen in welcher Sprache; die Wahl der Präposition auf könnte durch das russische Pendant motiviert worden sein: на каком языке. Also ist auch dieses Beispiel als Direktanzeige kontaktgeprägten Sprachgebrauchs zu werten, indem die Ortsangabe nicht mittels der deutschen lokalen Präposition in, sondern durch eine andere, der russischen Sprachnorm entsprechende lokale Präposition auf (nach dem Muster von на) ausgedrückt wird. Im nächsten Beleg dürfte gleichfalls ein ähnlicher Sprachkontaktmechanismus gewirkt haben: (44) Alles begann mit dem Café „Kult“ auf der Jauskaja Straße in Kitai-Gorod (6/ 2017, S. 10). Die Präpositionalphrase auf der Jauskaja Straße (statt in der Jauskaja-Straße) dürfte eine Übersetzungstransferenz von на улице Яузская sein. In Beleg (45) fällt die lokale Präposition in auf, was wahrscheinlich von einem russischen Muster herrührt (билеты в Кремлёвский музей): (45) Dabei gibt es die Tickets ins Kreml-Museum und die Orangerie nochmal woanders (5/ 2017, S. 7). Eine sprachüblichere Alternative wäre: Dabei gibt es die Tickets für das Kreml- Museum und die Orangerie an verschiedenen Schaltern. Das reflexive Verb sich einstellen regiert in der Standardsprache die Präposition auf und nicht an wie in Beleg (46). Möglicherweise stellt diese Form eine Kontamination von sich auf etw. einstellen und sich an etw. anpassen dar. (46) Was nach Schubladendenken klingt, ist in der Wirtschaft eine gängige Methode, sich an zukünftige Arbeitnehmer einzustellen (8/ 2017, S. 10). In einer Buchrezension kann der Leser über die Präposition aus stolpern. Denn gemeint war bestimmt […] tauchten am Schwarzen Meer auf […]: (47) Griechische, italienische, deutsche, russische und ukrainische Vorfahren, Adlige, Händler, Wissenschaftler, Opernsänger und Mörder tauchen aus dem Schwarzen Meer auf, an dem die bunte Hafenstadt Mariupol liegt (6/ 2017. S. 11). <?page no="67"?> Mediensprache im Kontakt der Kulturen 57 Dem Rezipienten kann ebenfalls ein nicht-reflexiver Gebrauch reflexiver Verben begegnen: (48) Auch Mark Twain mokierte auf amüsante Weise in seinem berühmten Essay „Die schreckliche deutsche Sprache“, wie verwirrend die Sprache doch sei. Eine Sprache, in der es mehr Ausnahmen als Beispiele für diese Regel gäbe […] (4/ 2017, S. 9). In einem bundesdeutschen Presseerzeugnis würde diese Passage mit etwas Bearbeitung beispielsweise so lauten: Auch Mark Twain mokierte sich auf amüsante Weise in seinem berühmten Essay „Die schreckliche deutsche Sprache“ darüber, wie verwirrend die Sprache doch sei, da es mehr Ausnahmen als Beispiele für eine Regel gäbe […]. Alternativ ist denkbar, dass der Textproduzent statt mokierte einfach monierte schreiben wollte; in diesem Fall ist das Reflexivpronomen sich in der Tat nicht notwendig. Die Kasuswahl kann gelegentlich ebenfalls auffallen, z.B. (49) Wenn Sie im Bereich des Kulturkalenders Ihrer Stadt auf dem neuesten Stand sind, wird es Ihnen ein Leichtes sein, sich mit vielen anwesenden Gästen in angeregtem Small Talk zu vertiefen (17/ 2017, S. 12). Da das Verb sich vertiefen die Präposition in + den Akkusativ regiert, wäre in einen angeregten Small Talk oder in ein angeregtes Small Talk 11 normkonform gewesen. (50) Statt dem Übergang im 13. Stock finden wir alte Labore (5/ 2017, S. 7). Die schriftsprachlich-normative Kasusrektion der Präposition statt ist der Genitiv (wenngleich das genitivregierende statt in der gesprochenen Sprache auch den Dativ erlaubt, vgl. Wöllstein/ Dudenredaktion 2016: 624), also statt des Übergangs. In Beleg (51) geht es um den Anschluss des Relativsatzes: (51) Das Einzige, an das die Häftlinge glauben, ist die Bestrafung ihrer Peiniger und die ewige Erinnerung an die Opfer der „Todesfabrik“ (4/ 2017, S. 11). 11 Laut Duden (Dudenredaktion 2017: 1028) kann dieses Substantiv im Deutschen sowohl Maskulinum als auch Neutrum sein und es sind zwei Schreibvarianten zulässig: Smalltalk und Small Talk. <?page no="68"?> Csaba Földes 58 Bei relativischem Gebrauch wird im Deutschen, wenn das Bezugswort ein substantivierter Superlativ ist, ein mit wo[r] gebildetes komplexes Pronominaladverb verwendet. Die Fügung Präposition + was als Anschlussmittel (anstelle des Relativadverbs) gilt als umgangssprachlich gefärbt (vgl. Wöllstein/ Dudenredaktion 2016: 1050). Dementsprechend wäre, zumal in der geschriebenen Sprache, folgender Form der Vorzug zu geben: Das Einzige, woran die Häftlinge glauben, ist […]. Einige Belege enthalten zugleich mehrere Verwendungsbesonderheiten: (52) Er wurde vor ein paar Tagen über Marschall Tuchatschewski befragt, sein Förderer, den sie eines Komplotts bezichtigten. (4/ 2017, S. 11). Zum einen wäre in der Apposition ein Akkusativ passender und zum anderen ist nicht klar, auf wen das Subjekt des Relativsatzes referiert. Deswegen lautet eine potenzielle Optimierung: Er wurde vor ein paar Tagen nach Marschall Tuchatschewski befragt, seinen Förderer, den die Staatsmacht eines Komplotts bezichtigte. Auf dem Gebiet der Tempusverwendung stößt man auch auf Auffälligkeiten. Nachfolgend beginnt die Schilderung zuerst im Präsens, dann wechselt sie ins Präteritum: (53) Von da an greift eine Geschichte in die andere, obwohl sie thematisch nicht zusammenpassten: Von Reisezielen, über traumatische Kindheitserfahrungen hin zu merkwürdigen Träumen und ihren Bedeutungen (5/ 2017, S. 13). Auf analoge Weise geht es in demselben Artikel weiter (Präsens - Präteritum): (54) Am Ende erklärt ein Pathologe, wie man feststellt, ob ein Tod durch Gewalteinwirkung eintrat und Oma Galina Iwanowna erzählte, wie ein auf einer Müllhalde gefundenes Buch mit Sprichwörtern ihr Leben veränderte (5/ 2017, S. 13). In der folgenden Textsequenz ist nicht einfach nachvollziehbar, welche Zeitform warum eingesetzt wird, vielmehr nimmt man einen plötzlichen Wechsel wahr (Präteritum - Präsens - Präteritum): (55) Am internationalen Theatertag konnten nicht nur Liebhaber der Schauspielkunst, sondern auch Neulinge umsonst fast jede Bühne Moskaus besuchen, persönlich mit Schauspielern und Regisseuren sprechen, […]. Die Hauptbühne des Abends ist das Ausstellungszentrum Manege. Hier waren die ganze <?page no="69"?> Mediensprache im Kontakt der Kulturen 59 Nacht hindurch Aufführungen verschiedener Moskauer Theater zu sehen (6/ 2017, S. 10). Ähnlich verhält es sich in Beleg (56): (56) Vor rund 300 Jahren gab es keinen Kostümverleih oder schicke Boutiquen, die für solche gesellschaftlichen Großereignisse das Richtige parat haben (17/ 2017, S. 12). In Satz (57) schwankt das Tempus wieder zwischen Präsens und Präteritum: (57) Es ist eine Art Tagebuch, das seine Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit aufzeichnet und die ständige Angst verdeutlicht, in der Schostakowitsch lebt, seit in der „Prawda“ die vernichtende Kritik „Chaos statt Musik“ erschien und womöglich von Stalin selbst verfasst wurde (4/ 2017, S. 11). Eine sprachüblichere Variante wäre: Es ist eine Art Tagebuch, das seine Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit aufzeichnet und die ständige Angst verdeutlicht, in der Schostakowitsch lebt, seit in der „Prawda“ die vernichtende Kritik „Chaos statt Musik“ erschienen ist, die womöglich von Stalin selbst verfasst wurde. Auf dem Gebiet der Konjunktiv-Verwendung ist u.a. folgender Beleg anzuführen: (58) Die Twin-Peaks-Manie zeigte sich besonders bei der zweiten Staffel, die im Westen eher floppte, in Russland aber an Einschaltquoten gewann, erzählte Pawlow. Der zunehmende Surrealismus, die Gewalt und die unübersichtlichen Handlungsstränge wären gut angekommen (17/ 2017, S. 7). Statt der Konjunktiv-II-Form (wären) könnte an dieser Stelle eher die Konjunktiv-I-Variante (also seien) oder eben ein simpler Indikativ (waren) passen. Im Bereich der Syntax warten die MDZ-Texte ebenfalls mit Salienz-Fällen verschiedener Art auf: (59) Doch diesmal wurde sein rechtes Auge dermaßen angegriffen, dass sich der Kremlkritiker inzwischen im Ausland operieren lassen hat (9/ 2017, S. 1). Hinsichtlich der rechten Satzklammer ist anzumerken: Wenn der Verbalkomplex aus mehr als zwei Verben besteht, befindet sich die finite Form des Hilfsverbs haben nach den Regeln der kanonischen Grammatiken 12 nicht am Ende, 12 Vergleiche z.B. Dudenredaktion (1998: 816). <?page no="70"?> Csaba Földes 60 sondern am Anfang des gesamten Verbalkomplexes, in diesem Fall also: hat operieren lassen. Im folgenden Beleg ist die Satzgliedfolge anzusprechen: (60) Deutschland und Russland brauchen in der Wissenschaft einander mehr denn je (18/ 2017, S. 6). Das eine wechselseitige Beziehung ausdrückende reziproke Pronomen einander könnte man besser direkt hinter das Bezugswort brauchen stellen: brauchen einander in der Wissenschaft mehr denn je. Sätze (61) bis (66) entsprechen ebenfalls nicht den Stellungsregularitäten: (61) Doch ungeachtet der begeisterten Kritik schaffte die „Passagierin“ es nicht auf die sowjetische Bühne (4/ 2017, S. 11). Die „klassische“ Position des es-Pronomens als Akkusativobjekt wäre vor dem Subjektnomen die „Passagierin“, also schaffte es die „Passagierin“ nicht […]. (62) Im Mai begannen bereits die Nationalsozialisten die Juden nicht mehr ins Ghetto zu bringen, sondern […] (6/ 2017, S. 7). Mit Blick auf die Position der Fokuspartikel wäre die normkonforme Version: Bereits im Mai begannen die Nationalsozialisten […]. Folgender Satz (63) Aber dann stehen da plötzlich die Kamele der Nomaden und solange man denen nichts zahle, blieben die Tiere dann eben auch dort (4/ 2017, S. 9). wäre mit einer kleinen Umgestaltung transparenter: So stehen dann plötzlich die Kamele der Nomaden dort und bleiben so lange, bis man die Beduinen bezahlt hat. Die Wortstellung ist im nächsten Verwendungsbeispiel ebenfalls markiert: (64) Denn selbst hat der Irak noch immer keine eigenen Technologien zur Erdölförderung und -verarbeitung, es fehlen spezialisierte Fachkräfte. Darum muss das Land immer wieder Ausländer holen (4/ 2017, S. 9). Die Alternative könnte sein: Denn der Irak selbst hat noch immer keine eigenen Technologien zur Erdölförderung und -verarbeitung und es fehlen spezialisierte Fachkräfte. Deshalb muss das Land immer wieder auf ausländische Fachkräfte zurückgreifen. <?page no="71"?> Mediensprache im Kontakt der Kulturen 61 Wegen der Positionierung des Lokaladverbs dort entspricht der Satzbau auch in Beleg (65) nicht der Normalregel, denn das Wort dort sollte eher zwischen Menschen und nicht stehen: (65) Bei Gedenkveranstaltungen legen die Menschen nicht nur Blumen dort ab, sondern auch Wasserflaschen (17/ 2017, S. 2). Bei Genitivkonstruktionen kann eine ungünstig gewählte Wortstellung u.U. Zweideutigkeiten oder Missverständnisse auslösen: (66) Gemeinsam sehen sie sich die Zeichnungen und die Stempel der Zensoren an (18/ 2017, S. 12). Dieser Satz lässt auch die Lesart zu: die Zeichnungen und die Stempel der Zensoren; es geht aber um die Zeichnungen von Kindern, die im vorhergehenden Satz erwähnt wurden und nicht um die von Zensoren, sodass zwecks Eindeutigkeitsherstellung ein Stellungstausch der Komponenten angeraten gewesen wäre: sehen sie sich die Stempel der Zensoren und die Zeichnungen an. Die Topologie des Satzes wirkt in Beleg (67) auch etwas fremdartig: (67) Zwischen Zentralasiaten setze ich mich in die Wartehalle und beobachte das Gewusel. (5/ 2017, S. 6). Eine Alternative wäre: Ich setze mich zwischen Zentralasiaten in die Wartehalle […]. Einige Satzkonstruktionen können einem trotz normativer Satzgliedstellung merkwürdig vorkommen, z.B. (68) Die Atmosphäre hängt allerdings immer von der Gruppe ab. Manchmal kann es zum Schreien komisch sein und das nächste Mal versonnen nachdenklich (5/ 2017, S. 13). Statt der Verbindung manchmal - das nächste Mal würde vielleicht die zweiteilige Konjunktion mal - mal dem deutschen Sprachgefühl eher entsprechen. Textsegmente bzw. zusammengesetzte Sätze weisen oft eine relationale Unterspezifizierung auf und klingen daher hinsichtlich der Kohäsion auf der syntaktischen Oberfläche mitunter etwas zusammenhanglos, z.B. (69) Da hab ich schon ein Diplom von der Lomonossow-Universität, war aber noch nie in diesem Bau (5/ 2017, S. 6). <?page no="72"?> Csaba Földes 62 Der Satzbau wäre bei einer Einfügung kohäsiver Elemente wohl übersichtlicher: Obwohl ich schon ein Diplom von der Lomonossow-Universität habe, war ich noch nie in diesem Gebäude. Zur Verknüpfungspraxis fällt in Sätzen auf: Oft werden die syntaktischen Konstituenten asyndetisch nur mit einem Komma - aber ohne Konjunktionen wie und, oder etc. - verbunden, vgl. Belege (64), (70) oder (93). Hinsichtlich der Textbildung bzw. -gestaltung springen einem die zahlreich vorkommenden unverbundenen parataktischen Strukturen ins Auge: (70) Wer in der Nähe der Ölvorkommen geboren werde, der habe eben Glück. Die Ölfirmen bauen dort Schulen, Krankenhäuser, investieren Geld in städtische Infrastruktur (4/ 2017, S. 9). In Beleg (71) hätte die kausale Konjunktion deshalb den logischen Zusammenhalt der beiden Sätze besser verdeutlicht: (71) Ohne eine Begründung sagte erst das Bolschoi ab, dann alle weiteren Opernhäuser der Sowjetunion. Die szenische Uraufführung erfolgte erst 2010 auf den Bregenzer Festspielen (4/ 2017, S. 11). Der Konnex der Sätze und damit die Kohärenz der Aussage ließen sich in der folgenden Passage weiter optimieren: (72) Ausländer aber dürfen keine Waffen tragen, für ihre Sicherheit sollen örtliche Security-Firmen sorgen. Einen Monat leben sie auf der Arbeit, einen Monat können sie zuhause verbringen. An den Ölförderorten im Irak sind sie laut Proskurow wie eingesperrt, in den Lagern gibt es alles, dort werden sie versorgt. Selbstständig verlassen dürften sie diese Arbeitersiedlungen in keinem Fall. 13 Nicht ohne die Wachleute (4/ 2017, S. 9). Die von mir bearbeitete Version: Ausländer aber dürfen keine Waffen tragen, denn für ihre Sicherheit sollen örtliche Security-Firmen sorgen. Einen Monat leben diese Ausländer auf der Arbeit, einen Monat können sie zuhause verbringen. An den Ölförderorten im Irak sind sie laut Proskurow wie eingesperrt. Zwar werden sie in den Lagern mit allem versorgt, doch selbstständig verlassen dürfen sie diese Arbeitersiedlungen auf keinen Fall. Nicht ohne die Wachleute. In kognitiver Perspektive weisen allerdings Pörings/ Schmitz (2003: 197) auf die essenzielle Funktion des Textverstehens bei der Herstellung von Textkohärenz hin, welche „nicht so sehr eine Eigenschaft der verwendeten sprachlichen 13 Wahrscheinlich nach dem Muster des Russischen ни в коем случае. <?page no="73"?> Mediensprache im Kontakt der Kulturen 63 Ausdrücke zu einem Text selbst ist, sondern vielmehr ein Ergebnis der Interpretationsleistung des Lesers“. Denn jeder Diskurs findet innerhalb einer gegebenen kommunikativen Situation statt, die mit der Erfahrungswelt der Kommunikatoren im Zusammenhang steht. Die Basis für das Textverstehen und somit auch für eine Kohärenzherstellung liefern also die Sinn- und Sozialwelt und in deren Folge die inferenziellen Schlüsse des Rezipienten. Diese können nicht nur durch formale Mittel des Textes aktiviert, sondern auch vom Rezipienten unter Rückgriff auf das jeweils kollektiv geteilte Wissen in einem bestimmten Diskurssetting generiert werden (vgl. Graesser/ Zwaan 1995: 120). In diesem Zusammenhang braucht der Textemittent nicht das ganze kulturelle Hintergrundwissen explizit auszuführen, der Text ist für die Träger und Kenner der gegebenen Kultur auch so kohärent, vgl. Beleg (73): (73) Wie einst in antiken Tragödien durchleben die Russen alljährlich eine Art Katharsis, eine psychische Reinigung: sowohl bei der großen Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau als auch beim „Unsterblichen Regiment“ (siehe Foto) (8/ 2017, S. 1). Die lexikalisierte Wortgruppe Unsterbliches Regiment, 14 im Original: Бессмертный полк, bezeichnet einen kollektiven Brauch, ein Ritual kollektiven Erinnerns in Russland zum „Tag des Sieges“ als sog. Präzedenzphänomen; 15 seine Teilnehmer versammeln sich zu einem Gedenkmarsch und tragen die Bilder ihrer Familienmitglieder, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben (vgl. Földes 2018). Hier baut die kommunikative Strategie des Textproduzenten auf den sog. Relevanzbereich leserseits, welchen Busse (1991: 147) und später auch Gordeeva (2016: 33) als den „für ein jeweiliges Verstehensereignis notwendig zu aktivierenden Ausschnitt aus dem Weltwissen des Textrezipienten“ definieren. Einige Textstellen sind etwas undurchsichtig: (74) Auch die umfangreiche Straßenrekonstruktion, wofür die Stadtverwaltung nicht das erste Jahr viel Geld ausgab (17/ 2017, S. 7). Die Wortgruppe nicht das erste Jahr klingt ein wenig holprig, gemeint war wohl: nicht zum ersten Mal. Manchmal ist es nicht eindeutig, auf wen sich das gegebene Subjektpronomen bezieht: 14 In diesem Fall wäre vielleicht Heer eine adäquatere Übersetzung gewesen. 15 Präzedenzphänomen im Sinne von Karaulov (2007). <?page no="74"?> Csaba Földes 64 (75) Daraus erschafft Barnes einen inneren Monolog, wie er hätte sein können, bestehend aus Momentaufnahmen, Rückblenden und Gedankengängen des Musikers (4/ 2017, S. 11). Mit dem Personalpronomen er ist wahrscheinlich Schostakowitsch gemeint; man hätte den Satz am besten dementsprechend expliziter formulieren sollen. Beleg (76) ist zwar grammatisch akzeptabel, aber statt der asyndetischen Verbindung mit dem Komma würde eine Einfügung der adversativen Konjunktion sondern dem zusammengesetzten Satz noch mehr Struktur und Aussagekraft verleihen: (76) Denn nicht nur der Tag gehört in dieser Zeit dem Tyrannen, auch in der Nacht sollen die Untertanen seine Macht und ihre Nichtigkeit spüren (4/ 2017, S. 11). Mithin könnte ein Optimierungsvorschlag lauten: sondern auch in den Nächten […]. Folgendes Segment (77) Die Musik der Oper sind Klänge aus der Hölle: Ein Getöse aus Schlag- und Blasinstrumenten, schrillen Arien und einem stimmgewaltigen Männerchor. Sie treffen bis ins Mark (4/ 2017, S. 11) ließe sich wie folgt verständlicher gestalten: Die Musik der Oper erscheint wie Klänge aus der Hölle: Ein Getöse aus Schlag- und Blasinstrumenten, schrillen Arien und einem stimmgewaltigen Männerchor. Die Klänge treffen bis ins Mark. In demselben Feuilleton steht der Satz: (78) Selbst wenn die Schauspieler von der Bühne gehen, sind ihre Gefühle auf dem Schirm immer sichtbar (4/ 2017, S. 11). Eine kleine Bearbeitung könnte ihn transparenter gestalten: Selbst wenn die Schauspieler von der Bühne gehen, werden ihre Gefühle auf dem Schirm sichtbar gemacht. Hinsichtlich von Fokussierung gerät folgender Beleg in den Blick: (79) Nach wie vor werden Fachkräfte, die über Deutschkenntnisse verfügen, hierzulande geschätzt, teilte bei der Eröffnung der Veranstaltung Artem Lysenko mit. Er ist Leiter des Moskauer Büros des Deutsch-Russischen Forums und weiß, wovon er spricht. Das Deutsch-Russische Forum biete jungen Menschen, die über gute Deutschkenntnisse verfügen, viele Programmmöglichkeiten an (4/ 2017, S. 9). <?page no="75"?> Mediensprache im Kontakt der Kulturen 65 In diesem eher narrativ klingenden Textabschnitt steht gleichsam Artem Lysenko im kommunikativen Fokus, es wird quasi über ihn erzählt. Deswegen wäre eine sachbezogenere bzw. textsortenadäquatere Alternative: Nach wie vor werden hierzulande Fachkräfte, die über Deutschkenntnisse verfügen, geschätzt, sagte Artem Lysenko, Leiter des Moskauer Büros des Deutsch-Russischen Forums, bei der Eröffnung der Veranstaltung. Er weiß, wovon er spricht, denn sein Forum bietet jungen Menschen mit guten Deutschkenntnissen viele verschiedene Programme an. Gelegentlich sind die Sätze, besonders wenn sie aus fachsprachlichen Diskursen stammen oder fachspezifische Themen aufgreifen, formal zwar absolut korrekt, aber äußerst komplex und daher nicht einfach verständlich: (80) Wenn eine Frau von ihrer Schwangerschaft nach Abschluss der Vereinbarung über die Aufhebung des Arbeitsvertrags erfahren und ihr Einverständnis zur Entlassung aus diesem Grund widerrufen hat, soll sie mit einer Auszahlung der Entschädigung für den Arbeitsausfall wider [sic! ] eingestellt werden (18/ 2017, S. 6). 3.1.4 In Bezug auf die Stilgestaltung ist als Globalbewertung ein gewisser Eklektizismus zu konstatieren. Im Einzelnen lassen sich im Bereich des Stils diverse Merkmale herausarbeiten. Ein charakteristisches Merkmal kann im häufigen Gebrauch umgangssprachlicher Wörter und Ausdrücke - selbst in Verbindung mit Gehobenheitsmarkern - gesehen werden (Belege 81 bis 86). Als ein Salienzbeleg lässt sich die Lexemvariante alleine (statt allein) anführen: (81) Mitten in der Wirtschaftskrise Ende 2009 eröffnet, gibt es mittlerweile rund 70 Geschäfte in ganz Russland. Alleine in Moskau sind es 20 (6/ 2017, S. 10). Die Kombination von stilistisch-pragmatisch überaus heterogenen Lexemen wie komisch, Kauz und grazil in demselben Kontext stellt eine Eigenheit dar: (82) Wer nicht tanzen konnte, wurde von der Gesellschaft komisch beäugt. Solche Käuze blieben auf den Stühlen sitzen und beobachteten die anderen grazilen Paare aus der Ferne (17/ 2017, S. 12). Stilistisch auffällig ist ein Bericht im Zusammenhang mit dem Terroranschlag in Nordossetien im Jahre 2004 wegen Wörter wie davonkommen (statt z.B. überleben): <?page no="76"?> Csaba Földes 66 (83) Später lernte sie einige von denen kennen, die davongekommen waren, man freundete sich an (17/ 2017, S. 2). Als ebenfalls stilistisch salient ist wohl folgendes Segment - besonders wegen ließen sich auf die Idee ein - zu kennzeichnen: (84) In diesem Jahr nun hat sie einige der Überlebenden, inzwischen junge Frauen, für die Ausstellung im Jüdischen Museum fotografiert. Die Betroffenen ließen sich auf die Idee ein, um zu zeigen, dass das Leben weitergeht (17/ 2017, S. 2). Folgender Ausschnitt aus einer Buchbesprechung enthält zum einen eher umgangssprachliche Elemente und verzichtet zum anderen auf ein Verbindungselement: (85) Was ist zu tun gegen den Wahnsinn? Die Autorin findet keine Antwort, ihr Blick verdüstert sich gar. Sie bringt es nicht fertig, die wenigen Lichtblicke, helfenden Hände und herzensguten Menschen, [sic! ] stärker hervorzuheben (6/ 2017, S. 11). Eine weniger auffällige Version hätte sein können: Was ist zu tun gegen den Wahnsinn? Die Autorin findet keine Antwort, stattdessen verdüstert sich ihr Blick sogar. Es gelingt ihr nicht, die wenigen Lichtblicke, helfenden Hände und herzensguten Menschen stärker hervorzuheben. Zuweilen ergeben sich Auffälligkeiten infolge des stilistisch-pragmatischen Wertes eines einzigen Lexems: (86) Während des Zweiten Weltkriegs hat Lisa als Aufseherin in Auschwitz gedient. (4/ 2017, S. 11). Mit dem Verb dienen können positive Konnotationen assoziiert werden (dem Vaterland dienen etc.), sodass im KZ-Kontext eher arbeiten passen würde, also […] in Auschwitz gearbeitet. Man findet in den Texten - häufig vermutlich ungewollt - verschiedene rhetorische Figuren, z.B. (87) unsere alten Schützlinge (17/ 2017, S. 7). Dies scheint ein Oxymoron zu sein: alt vs. Schützling. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass die MDZ-Sprache eine Vorliebe für Oxymora als Stilmittel hat - oft durchaus wirkungsvoll: <?page no="77"?> Mediensprache im Kontakt der Kulturen 67 (88) Russland ist voll von leeren Orten (7/ 2017, S. 10). (89) Die neue Zeit, so lange her (12/ 2017, S. 1). (90) Gespannte Gelassenheit im Baltikum (17/ 2017, S. 2). Manche russisch angehauchten Lexeme wirken im deutschen Text fremdartig: (91) Die Nachfrage nach „vaterländischen“ Spielen übertreffe das Angebot (6/ 2017, S. 10). Statt vaterländisch (nach отечественный: im Russischen hieße es отечественные игрушки) wäre hier etwa inländisch oder einheimisch die kontextbedingt neutrale Wortwahl gewesen. 16 Die Dopplung ziehen - anziehen wirkt auch ein wenig unschön: (92) Früher mussten die Eltern ihre Kinder ins Theater zwingen, heute zieht es Jugendliche von alleine hierher. Irgendwas scheint sie anzuziehen (6/ 2017, S. 10). Etwas seltsam wirkt, dass an einer Stelle in Bezug auf Tiere auf das Indefinitpronomen jemand zurückgegriffen wird: (93) So weit ich zurückdenken kann, hatten wir immer Tiere: Hunde, Katzen, Papagei. Ständig brachte man uns jemanden, der gerettet werden sollte […] (18/ 2017, S. 12). Als dominierender Befund lässt sich Folgendes festhalten: Stilistisch kann man vielen MDZ-Texten eine Unausgewogenheit und Uneinheitlichkeit attestieren; gehobener Sprachstil wird oftmals mit umgangssprachlich-saloppen Elementen kombiniert, z.B. (94) Menuett und andere Reihentänze waren mal im Kommen, mal wieder aus der Mode gefallen. So manch ein Tanz hielt sich über ein Jahrhundert, andere starben wie die Eintagsfliegen (17/ 2017, S. 12). 17 16 Das Adjektiv vaterländisch kommt auch z.B. in der Verbindung vaterländische Pflicht (5/ 2017, S. 6) - wohl nach dem Muster отечественный долг - im Sinne von ,notwendige/ bürgerliche Pflicht‘ vor. 17 Außerdem kann sich eine inhaltliche Frage ergeben: Diese Tänze waren mal im Kommen, mal waren sie out, aber waren sie jemals „in“? <?page no="78"?> Csaba Földes 68 3.1.5 Auf onymischem Gebiet geht beispielsweise von den Namen (95) Schrumdi (6/ 2017, S. VII) und (96) Schrumdirum (6/ 2017, S. VII) eine gewisse Fremdheit aus. Schrumdi ist als Kunstfigur ein kleiner Junge mit roten Haaren, der als Hauptprotagonist in einer Lehrmaterial-Reihe für die Deutschvermittlung an Kinder fungiert. Bei Schrumdi 18 handelt es sich um einen Kosenamen, der eine Verkürzung des fiktiven Vornamens Schrumdirum darstellt. Die Pseudolatinisierung wurde von Hans-Jürgen Audehm, einem auch in Russland tätigen deutschen Fachbuchautor und Deutsch-Dozenten in Analogie zu dem Abzählreim „Lirum, Larum, Löffelstiel“ kreiert, indem er alternativ fortdichtete „Lirum, Larum, Schrumdirum“. 3.1.6 Orthografische Besonderheiten können ebenfalls registriert werden, beispielsweise Inkonsequenzen: Innerhalb ein und desselben Artikels findet man zwei verschiedene, wenngleich korrekte Varianten: (97) mal Phantasie, mal Fantasie (6/ 2017, S. 10). Analog auch: (98) Metro-Station versus Metrostation (4/ 2017, S. 15). In ein und demselben Textabschnitt steht (99) einerseits einschliesslich, andererseits abschließenden (17/ 2017, S. 5), also mal mit Doppel-s, mal mit Eszett, wobei (nach den Deutschland-deutschen Orthografieregeln) nur Letzteres normgerecht ist. 18 Für die freundliche Auskunft der MDZ-Redaktion vom 15.03.2018 sei herzlich gedankt. Aus ihrer E-Mail kann man zum Hintergrund erfahren, dass in der Kinderzeitschrift drei Figuren „leben“: Schrumdirum (die Hauptfigur), Christina (die Sekretärin im Deutsch-Russischen Haus) und die Computermaus. Eines Tages findet Christina einen Briefumschlag ohne Adresse. Sie nimmt ihn in die Hand und plötzlich raschelt aber etwas darin. Christina hört: „Schrum“. Sie erschreckt sich und lässt den Brief herunterfallen. Der Umschlag öffnet sich von selbst und ein Blatt Papier fällt heraus. Darauf ist ein Männchen mit rotem Schopf gemalt. So beginnt die erste Ausgabe der Zeitschrift. <?page no="79"?> Mediensprache im Kontakt der Kulturen 69 Mit Blick auf die Problematik der s-Schreibung springt z.B. folgender Lapsus ins Auge: (100) rot-weiss (4/ 2017, S. 15) - statt rot-weiß. Auch die Schreibung (101) Schosse (5/ 2017, S. 7) entspricht nicht den geltenden Rechtschreibregeln, korrekt wäre Chaussee gewesen (vgl. Dudenredaktion 2017: 310). Wohl ein Flüchtigkeitsfehler dürfte die Großschreibung von Deutsch im folgenden Beleg sein: (102) Mit den Bauarbeiten beauftragte Zarin Katharina die Große den Deutschen Gelehrten Friedrich Wilhelm Bauer (5/ 2017, S. 12). Eine Verwechslung der subordinierenden Konjunktion dass und des Relativpronomens das tritt an mehreren Stellen auf: (103) […] Tschernucha, ein Wort, dass sich aus Schwarz und Pornografie zusammensetzt und von Themen handelt, die in der Sowjetunion tabuisiert wurden […] (17/ 2017, S. 7). (104) Wie kann ein Kind, dass die Verhaftung der eigenen Eltern miterlebt hat, überhaupt auf die Idee kommen, Mitglied der kommunistischen Jugendorganisation zu werden? (18/ 2017, S. 12-13). Falsche Wortartenzuordnungen gibt es im Blatt auch: (105) Tipp: Üben, Üben, Üben: Versuchen Sie, ein paar Basis-Schritte zu lernen. (17/ 2017, S. 12). Da üben hier ein Verb ist, müsste es kleingeschrieben werden. In puncto Groß- und Kleinschreibung lassen sich auch weitere Unsicherheiten diagnostizieren: (106) Ganz in weiß schweben Balletttänzerinnen auf Zehenspitzen über das Parkett (6/ 2017, S. 10). <?page no="80"?> Csaba Földes 70 Weiß tritt hier als Substantiv auf, die korrekte Schreibung des Syntagmas ist folglich in Weiß. Hinsichtlich der Getrennt- und Zusammenschreibung fällt z.B. die Adjektiv- Partizip-Verbindung (107) genaugenommen (in Beleg Nr. 19) auf, die getrennt zu schreiben wäre, vgl. Dudenredaktion (2017: 484). Auch zur Interpunktion können Besonderheiten benannt werden: (108) Wenn man nur an Muhammed denkt, der immer flink und fröhlich, mit sauber-weißer Schürze und keckem Kochkäppi auf den tiefschwarzen Locken, schon ewig hinter der Durchreiche werkelt (4/ 2017, S. 15). Das Komma ist z.B. zwischen Locken und schon überflüssig. 19 Auf ein weiteres überflüssiges Komma ist bereits in Beleg (85) hingewiesen worden. Die Transkriptionspraxis ist nicht einheitlich, z.B.: (109) Bolschoi-Theater (4/ 2017, S. 11) vs. Bolschoj (6/ 2017, S. 10). 3.1.7 Mehrsprachige und hybride Sprachpraktiken bilden eine weitere Gruppe von Salienzen. Dabei begegnen dem Leser russische Wörter, Syntagmen oder gar Sätze naturgemäß an mehreren Stellen, z.B. (110) „Ej, Brat (dt: Bruder - Anm. d. Red.), was willst du? “, spricht mich ein Händler direkt an (5/ 2017, S. 6). (111) Wsjo budet choroscho (5/ 2017, S. 16) - kyrillisch: Всё будет хорошо; wie im Text selbst erklärt: Alles wird gut. (112) Angela, dawaj! (18/ 2017, S. 1) - mit Angela war die deutsche Bundeskanzlerin gemeint, dawaj (kyrillisch: давай) bedeutet ,komm schon‘. (113) Ein hartnäckiges Klischee, mit dem die Kuratoren der Ausstellung „Krasawez Muschtschina“ im Historischen Museum aufräumen wollen (6/ 2017, S. 11). 19 Auf weitere - z.B. satztopologische und lexikalische - Auffälligkeiten des Belegs soll hier nicht eingegangen werden. <?page no="81"?> Mediensprache im Kontakt der Kulturen 71 Der Ausstellungstitel Krasawez Muschtschina, kyrillisch: Красавец мужчина, bedeutet etwa: ,Männerschönheit‘. Selbst mit Englisch finden sich bilinguale Konglomerate, z.B. (114) My Home is my Eigentum (4/ 2017, S. 1), was eine Anspielung auf die auch im Deutschen geläufige englische Maxime My home is my castle ist (übersetzt: Mein Heim ist meine Burg), die auf den englischen Juristen und Politiker Sir Edward Coke (1552-1634) zurückgeht. Auch die Großschreibung des ersten Substantivs zeigt in diesem Verwendungsbeleg die stattgefundene Anpassung an die Matrixsprache Deutsch. Ein Zeitungstext wartet in Verbindung mit Ostern mit dem altkirchenslawischen Gruß auf: (115) Christos wosskressje! (6/ 2017, S. 1), im Original: Христос воскресе! , also Christus ist auferstanden! Auffällig ist, dass im Falle einer Moskauer Hochschule innerhalb eines sonst homogen deutschsprachen Textes nicht die deutsche, auch nicht die russische, sondern die englischsprachige Institutionsbezeichnung steht: (116) Alexej Portanskij ist Professor an der Higher School of Ecomomics in Moskau (17/ 2017, S. 4). Gemeint ist die Высшая школа экономики. Национальный исследовательский университет, also auf Deutsch: Nationale Forschungsuniversität - Hochschule für Ökonomie. Es sind auch russisch-deutsche bilinguale Bezeichnungen anzutreffen wie (117) Тотальный германский Diktat (4/ 2017, S. V), also totales Deutsch-Diktat. 3.1.8 Für mehr oder weniger eindeutige Tippbzw. Druckfehler liefert das Blatt eine Anzahl von Beispielen. Hinter dem Satz (118) Die damaligen Gesellschaftstänze […] gekommen war (17/ 2017, S. 12) ist der Schlusspunkt zu vermissen und bei <?page no="82"?> Csaba Földes 72 (119) Sammlun (6/ 2017, S. 11) fehlt der Buchstabe g am Wortende. Bei Beleg (120) (120) In Gedenken daran verleiht das Deutsch-Russische Forum jährig den Friedrich-Joseph-Haass-Preis für besonderer Verdienste um den Brückenbau zwischen beiden Völkern (18/ 2017, S. 12) ist anzunehmen, dass mit „jährig“ jährlich und mit „für besonderer Verdienste“ für besondere Verdienste gemeint war (und keine falsche Genusbzw. Kasuswahl vorliegt). Im folgenden Satz war mit wider mit Sicherheit das Adverb wieder gemeint: (121) Wenn eine Frau […] ihr Einverständnis […] widerrufen hat, soll sie mit einer Auszahlung der Entschädigung für den Arbeitsausfall wider [sic! ] eingestellt werden (18/ 2017, S. 6). 3.1.9 In Bezug auf die Typographie sei auch ein Befund genannt: Die Worttrennung am Zeilenende dürfte im Falle von (122) Brettspiela-benden (6/ 2017, S. 10) eher ungünstig sein, leserfreundlicher wäre wohl: Brettspiel-abenden. 3.1.10 Beleg (123) kann nicht nur sprachlich, sondern vielmehr inhaltlich bestimmte Irritationen auslösen: (123) Das gastronomische Angebot ist wegen der Hygienevorschriften, wonach 20 in Tier-Cafés kein Essen zubereitet werden darf, begrenzt. Es gibt Kaffee und Tee, dazu Sandwiches, Salate, Suppen und Süßes (6/ 2017, S. 15). Entweder enthält dieser Absatz einen Widerspruch - Verbot von Speisenzubereitung vs. Suppe im Angebot - oder er ist nicht explizit genug ausformuliert. 20 Zum Ausdruck der Relativbeziehung im Attributsatz hätte anstelle des Pronominaladverbs wonach der Einsatz einer Verbindung von Präposition und Pronomen (also: nach denen) besser ausgesehen. <?page no="83"?> Mediensprache im Kontakt der Kulturen 73 3.2 Salienzen primär kulturbezogener Provenienz Man kann im Jahrgang 2017 reichlich auch Salienzen primär kulturbezogener Art ermitteln. Dieser Großbereich wurde bereits im Rahmen von Xenismen in einem anderen Beitrag behandelt (Földes 2018). Deshalb sei hierzu exemplarisch nur ein Beleg genannt: (124) Ich erkläre alles, aber er sagt mir, dass ich meinen Wohnsitz nur in Anwesenheit des Wohnungseigentümers beantragen kann […] (5/ 2017, S. 7). Das Verb beantragen kann im gegebenen Kontext salient wirken, denn in Deutschland ist es nicht nötig, einen Wohnsitz zu beantragen (hingegen in Russland: подать заявление на регистрацию по месту жительства), man kann den Wohnsitz schlicht und einfach anmelden. Hier liegt ein Unterschied zwischen den kulturellen Skripten vor (siehe Földes 2018). 4 Schlussbetrachtungen und Ausblick Alles in allem hat sich die MDZ anhand der Analyse als eine interessante und vielfarbige Zeitung mit einer besonderen Sprachlichkeit und Kulturalität herauskristallisiert. Die datenbezogene, jedoch korpuslimitierte Untersuchung hat eine spezifische Literalität und (politische) Medienkommunikation unter der Wirkkraft von zwei Sprachen und Kulturen erfasst. Die erschlossenen Befunde sind vielfältig: Es wurden bedeutende Unterschiede zwischen den einzelnen Artikeln sowohl im Hinblick auf ihre sprachliche Verfasstheit als auch bezüglich ihrer journalistischen Gestaltungsmodalitäten ermittelt. Vermutlich spielt dabei auch die sprachliche und kulturelle Heterogenität innerhalb der Redaktion eine Rolle. 21 In vielen Texten, welcher Autorengruppe auch immer, sind eine geringe Registerdifferenzierung und dadurch oft gewisse Uneinheitlichkeiten, also Eklektizismus und Schwankungen in stilistisch-pragmatischer Hinsicht und/ oder in der Satz- und Textkonstruktion, feststellbar. Man kann sie als Kontextverletzungen (im Sinne von Pörksen/ Detel 2012: 235) ansehen. Im Wesentlichen sind die festgestellten Salienz-Fälle Resultate von drei typologisch verschiedenen Prozessen: 21 Vergleiche Abschnitt 2. <?page no="84"?> Csaba Földes 74 (1) von Sprachkontaktphänomenen, also Transfer oder Nachahmung von Elementen, Strukturen und Modellen der Kontaktsprache, vgl. z.B. Belege Nr. (42) und (45). (2) von Verfremdungsprozessen, z.B. Kontrastverschiebungen oder Kontrastübertreibung (im Sinne von Henn 1978: 332), die sich aus einer unsicheren Beherrschung der Zielsprache Deutsch, etwa durch Übergeneralisierung des Sprachsystems, ergeben. Beispiele für diesen Phänomentyp könnten Belege Nr. (52) und (60) sein. (3) von Normverletzungen aus Unachtsamkeit, d.h. Flüchtigkeitsfehler bzw. problematische oder grenzwertige Formulierungen, die selbst bei Textproduzenten mit exzellenter (nativer) Sprachbeherrschung vorkommen, z.B. Belege Nr. (39) und (62). Aus diesem Grunde ist für eine eindeutige Explizierung und Einordnung der Belege von entscheidender Bedeutung, (a) welchen sprachbiographischen Hintergrund der eigentliche Verfasser hat, (b) ob der gegebene Medientext vielleicht ein Übersetzungstext ist und in diesem Fall wer der Übersetzer war und (c) wer mit welchen sprachlichen Kompetenzbeständen und mit welcher redaktionellen Leitkonzeption die Texte korrigiert und redigiert hat. Denn letztlich handelt es sich um kollaborative Texte. Ein wesentlicher Teil der eruierten Auffälligkeiten ist direkt oder indirekt auf Aspekte der bilingualitätsbedingten deutsch-russischen Sprach- und Kulturkontakte zurückführbar. Die sprachlich-kulturelle Grundkonstellation ist jedoch noch komplexer: Aufgrund der Befundlage scheint das genuine Alleinstellungsmerkmal der MDZ in einem spezifischen Beziehungsgefüge von deutscher Sprache vs. russischer Kultur zu liegen. Daher lässt sie sich sogar in doppelter Hinsicht als kulturasymmetrische Grenzgänger-Zeitung - eine species sui generis - explizieren. Erstens, weil sie im Spannungsfeld zwischen Deutsch und Russisch operiert, zweitens, weil eine besondere Asymmetrie feststellbar ist: Ihre Sprache ist praktisch monolingual deutsch, ihr kulturelles Umfeld weist hingegen russische Dominanz auf, sodass die Texte zumeist - aber nicht in jedem Fall - einen russischen Blick haben (z.B. bei Berichten anhand des Krim-Konfliktes). Dank des journalistischen Umgangs mit Elementen, Strukturen, Modellen und Inhalten russischer Provenienz entsteht oft authentische Moskauer Aura. Deutschsprachige Textproduktion im russischsprachigen soziokulturellen Referenzrahmen stellt mithin einen besonderen Medientyp und folglich eine besondere Ausprägung der Mediensprache dar. Das Spektrum ihrer Spezifika ist, wie oben beschrieben, breit, allerdings überwiegen dabei kontaktund/ oder kompetenzbedingte Besonderheiten. Es ist klar geworden, dass bilinguale Textemittenten oft Bezeichnungskonventionen, Musterhaftigkeiten der Textstruktur, Momente der Argumentationslinien und der ästheti- <?page no="85"?> Mediensprache im Kontakt der Kulturen 75 schen Formen, also schlechthin Elemente der Texttraditionen ihrer anderen Sprache bzw. Kultur (im vorliegenden Falle der russischen) als sprachbezogenes und kulturelles Wissen in die deutschsprachigen Texte integrieren. Man kann diesen Ausprägungstyp der Pressekommunikation als eine Art (interkultureller) Interdiskurs 22 konzeptualisieren (vgl. Földes 2018). Ein markanter Wesenszug des Mediendiskurses in der MDZ ist in diesem Zusammenhang - aus einleuchtenden Gründen - eine signifikante Themenpräferenz, also ein zentrales Augenmerk auf Facetten des aktuellen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens und besonders des Alltags in Russland mit Schwerpunkt Moskau, außerdem ein reges Interesse an den deutschrussischen Beziehungen. Beispielsweise könnte hierzu mittels einer handlungsorientierten Diskurslinguistik (etwa im Sinne von Spitzmüller/ Warnke 2011: 121 ff.) und/ oder einer integrativen Medieninhaltsanalyse, die eine analytischdeduktive mit einer interpretativ-induktiven Vorgehensweise verbindet (etwa im Sinne von Früh 2017: 71 ff.), viel Relevantes herausgearbeitet werden. In summa kann man dem medialen Objekt MDZ eine weitgehend interbzw. eher transkulturelle Textwelt bescheinigen, die durch Variation, Dynamik und vor allem durch lokales Flair gekennzeichnet ist. Die Beiträge dieser Zeitung können ein spannender Forschungsgegenstand für weitergehende medienlinguistische Untersuchungen mit höherem Auflösungsgrad sein, insbesondere wenn man auch die kommunikativen Strategien und die komplexen Muster der sprachgebundenen sozialen Interaktion zwischen Journalisten und Lesern im gegebenen Zusammenhang einbezieht. 5 Literatur Akstinat, Björn (und Arbeitsgemeinschaft Internationaler Medienhilfe) (Hrsg.) (2012- 2013): Handbuch der deutschsprachigen Presse im Ausland: Verzeichnis deutschsprachiger Zeitungen, Zeitschriften, Mitteilungsblätter und Jahrbücher außerhalb Deutschlands, Österreichs, Luxemburgs, Liechtensteins und der Schweiz. Berlin. Busse, Dietrich (1992): Textinterpretation. Sprachtheoretische Grundlagen einer explikativen Semantik. Opladen. 22 Der Begriff ,Interdiskurs‘ geht auf den Dortmunder Literaturwissenschaftler Link (1988: 285f.) zurück, der Terminus wird aber hier in einem etwas anderen Sinn verwendet, nämlich als diskursive Überlappung in Bezug auf zwei verschiede Kultursysteme. Der Interdiskurs re-integriert das in den beteiligten kulturellen Diskursen gespeicherte und verwaltete Hintergrundwissen und ermöglicht einen Austausch hinsichtlich dieses Wissens. <?page no="86"?> Csaba Földes 76 Deppermann, Arnulf (2010): Konversationsanalyse und diskursive Psychologie. In: Mey, Günter/ Mruck, Katja (Hrsg.): Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie. Wiesbaden. S. 643-661. Dudenredaktion (Hrsg.) (1998): Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 6., neu bearb. Aufl. Mannheim u.a. (Der Duden in zwölf Bänden; 4). Dudenredaktion (Hrsg.) (2015): Duden. Deutsches Universalwörterbuch. 8., überarb. u. erw. Aufl. Berlin. Dudenredaktion (Hrsg.) 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(Der Duden in zwölf Bänden; 4). <?page no="89"?> Pressediskurse kultur-kontrastiv: Skizze eines interdisziplinären Untersuchungsdesigns Marianne Franz (Innsbruck) Zusammenfassung Will man Diskurse unterschiedlicher Kulturen miteinander vergleichen und Gemeinsamkeiten und Unterschiede nicht nur feststellen, sondern auch erklären, reicht eine herkömmliche diskurslinguistische Analyse nicht aus. Ein Blick über den linguistischen Tellerrand hinweg ist notwendig. Im Zentrum des Beitrags steht ein interdisziplinäres Untersuchungsdesign, das neben der Textbzw. Diskursanalyse auch die kulturellen, sozialen und medialen Kommunikationsbedingungen, unter denen Diskurse stattfinden, berücksichtigt. Dazu werden in einem ersten Schritt die kulturelle Bedingtheit von Diskursen und die damit verbundenen Herausforderungen bei ihrer Analyse erörtert. In einem zweiten Schritt wird ein Modell zur Durchführung kultur-kontrastiver Untersuchungen von Pressediskursen vorgestellt. Schließlich wird dieses Modell auf das Beispiel einer Studie zur Berichterstattung zum Thema „Katholische Kirche“ in österreichischen und französischen Tageszeitungen angewendet. 1 Diskurse im Vergleich Die Diskurslinguistik hat sich in den letzten 20 Jahren auch innerhalb der Germanistischen Sprachwissenschaft als umtriebige Forschungsdisziplin etabliert. Ihr Ziel ist es vor allem, mittels Sprachanalyse zu erschließen, wie ‚zeittypisch‘ über die Welt gesprochen und gedacht wird. Es geht also darum, das im Diskurs ausgedrückte „verstehensrelevante Wissen“ einer Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft nachzuzeichnen (Warnke/ Spitzmüller 2008: 15). Mit Gardt (2007: 30) kann man Di s k ur s als die „Auseinandersetzung mit einem Thema“ beschreiben, die sich in Äußerungen und Texten der unterschiedlichsten Art niederschlägt, von mehr oder weniger großen gesellschaftlichen Gruppen getragen wird, das Wissen und die Einstellungen dieser Gruppen zu dem betreffenden Thema sowohl spiegelt als auch aktiv prägt und dadurch handlungsleitend für die zukünftige Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Bezug auf dieses Thema wirkt. <?page no="90"?> Marianne Franz 80 Wissen wird durch den Diskurs also nicht nur wiedergegeben, sondern auch generiert. Warnke und Spitzmüller betonen auch die „Historizität“ und die „Kulturgebundenheit“ von Diskursen (2008: 21). Diskurse sind dynamisch; sie verändern sich im Laufe der Zeit und sind von Kultur zu Kultur unterschiedlich. Oder wie Czachur (2011: 15) es treffend ausdrückt: Die „kulturelle Kompetenz […] [umfasst] auch die diskursive Kompetenz“. Was darf, kann und soll in einer Gesellschaft von wem gesagt oder nicht gesagt werden? Diskurse sind damit auch Ausdruck von Macht. So verstand den Terminus „Diskurs“ auch der französische Philosoph Michel Foucault (1926-1984), der die Diskursanalyse bis heute maßgeblich beeinflusst. Foucault selbst hat zwar keine eindeutige Diskurs-Definition hinterlassen, Heinemann hat aber eine solche im Sinne Foucaults versucht (2005: 24): „Diskurse sind Bündel komplexer Beziehungen zwischen Aussagen und gesellschaftlichen Prozessen und Normen; dadurch zugleich auch Instrumente gesellschaftlicher Praktiken und damit der Machtausübung.“ Macht wird durch Diskurs also nicht einfach nur abgebildet, sondern auch generiert. Insofern impliziert linguistische Diskursanalyse immer auch die Beschreibung von Machtstrukturen (Warnke/ Spitzmüller 2008: 18). Für die Interkulturelle Linguistik birgt eine „kultur-kontrastive Diskursanalyse“ viel Potenzial, wenn es darum geht, sprach- und kulturspezifische Besonderheiten verschiedener Gesellschaften aufzudecken. Darauf hat bereits Czachur (2011) in seinem Aufsatz im dritten Band der vorliegenden Reihe „Beiträge zur Interkulturellen Germanistik“ hingewiesen. Ihm zufolge „profilieren und stabilisieren“ Diskurse Kulturen und das sprachlich transportierte Wissen, aber sie können ebenso sowohl Kulturen als auch Wissen verändern, indem argumentativ darüber verhandelt wird. Diskurse können insofern „als argumentative Austragungsorte der Wertekämpfe gelten“ (Czachur 2011: 16). Diskurse sind also wesentlich von den sozio-kulturellen und den historischen Bedingungen der Diskursgemeinschaft beeinflusst. Diskurse zu vergleichen, heißt diese Bedingungen aufzudecken und Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu beschreiben. Folgt man dem Konstruktivismus, demzufolge Wirklichkeit vor allem durch Kommunikation gesellschaftlich konstruiert wird (vgl. z.B. Berger/ Luckmann 2007), liegt wohl das Bereichernde der vergleichenden Diskursanalyse gerade darin, die Grenzen der eigenen Wahrnehmung und Wirklichkeitskonstruktion ein Stück weit zu überschreiten. Es gilt sich und seine Kultur besser kennen zu lernen, indem man durch die Brille der anderen Diskursgemeinschaft blickt und ihre Art, Wirklichkeit zu konstruieren, betrachtet. So werden auch „die [in einer Sprach- und Kulturgemeinschaft] nicht sagbaren kognitiven Denk- und Argumentationsmuster als Alternativen sichtbar“ (Czachur 2011: 20f.). Kultur-kontrastive Diskurslinguistik deckt „die für eine Sprach- und Kulturgemeinschaft typischen und sich als dominant erwiesenen Denkweisen und Wissensmuster“ auf (2011: 18). Ansatzpunkt für die Ana- <?page no="91"?> Pressediskurse kultur-kontrastiv 81 lyse ist das sprachliche Material. Die möglichen Untersuchungskategorien sind vielfältig (z.B. Schlüsselwörter, Sprechakte, Themenentfaltung, Text-Bild-Beziehungen, Textmuster, Topoi u.v.m.) und sie sind von Warnke/ Spitzmüller im viel zitierten DIMEAN-Modell zusammengefasst worden. DIMEAN steht dabei für Diskurslinguistische Mehr-Ebenen-Analyse. Dieses Modell weist bereits darauf hin, dass bei einer Diskursanalyse mehrere Analyseebenen zu berücksichtigen sind, will sie auf den Diskurs bezogene Aussagen machen können. Grob wird zwischen der intratextuellen Ebene (wort-, propositions- und textorientierte Analyse), der Akteurs-Ebene (z.B. Diskurspositionen) sowie der transtextuellen Ebene (diskursorientierte Analyse) unterschieden (Warnke/ Spitzmüller 2008: 44). Eine so angelegte Diskursanalyse kann wunderbar beschreiben, wie bzw. was eine Diskursgemeinschaft denkt. Sie kann jedoch nur begrenzt „erklären, warum die eine Gesellschaft gerade das weiß und die andere etwas anderes“, wie das Czachur für die kulturell-kontrastive Diskursanalyse am Ende seines Aufsatzes fordert (2011: 21). Dazu wäre die Einordnung des untersuchten Diskurses in größere sprach- und kulturhistorische Zusammenhänge nötig, und somit auch ein beherzter Blick über den linguistischen Tellerrand hinaus. In den nun folgenden Kapiteln möchte ich einen möglichen Ansatz vorstellen, der ein solches Ziel der Erklärung mitberücksichtigt. Die Methode bezieht sich auf den Vergleich von Pressediskursen. 2 Ein interdisziplinäres diskursanalytisches Untersuchungsdesign Diskursanalytische Untersuchungen können sich stets nur einem kleinen Ausschnitt des gesellschaftlichen Diskurses widmen, der in seiner Gesamtheit nicht fassbar ist. In der Regel wird dabei von einem Thema ausgegangen und in einem Korpus ein Teil dessen zusammengetragen, „was zu einer bestimmten historischen Zeit zu einem gesellschaftlichen Thema konkret gesagt oder geschrieben wird“ (Bendel Larcher 2015: 15). Das können grundsätzlich unterschiedlichste Texte sein wie TV- oder Radio-Sendungen, Pressetexte, Audio- oder Video-Aufzeichnungen von Gesprächen, Internet-Blogs, Kampagnen u.v.m. (2015: 15). Auch für kultur-kontrastive Untersuchungen bietet sich ein Diskursvergleich in Bezug auf ein konkretes Thema an. So können beispielsweise thematische Diskurse, „die in zwei Diskursgemeinschaften gleichzeitig“ oder auch „zu unterschiedlichen Zeiten geführt werden“, miteinander verglichen werden (Böke u.a. 2000, zitiert nach Czachur 2011: 19), um kulturelle Unterschiede in Bezug auf die Darstellung dieser Themen oder auch in Bezug auf Begriffsverwendungen herauszufinden (z.B. Was versteht eine Kultur unter Demokratie? ) (Czachur 2011: 19f.). <?page no="92"?> Marianne Franz 82 Beim empirischen Beispiel, das in Abschnitt 3 vorgestellt wird, handelt es sich um einen solchen Zugang: Hier wird vom gleichen Thema „Römisch-katholische Kirche“ ausgegangen. Analysiert wird, wie über dieses Thema in einem bestimmten Zeitraum in österreichischen und französischen Tageszeitungen berichtet wird. Das Text-Korpus ist somit zum einen thematisch ausgewählt, zum anderen medial. Ziel der Untersuchung ist herauszufinden, wie in Österreich und in Frankreich über dieses Thema berichtet wird, ob hier Unterschiede festzumachen sind und wenn ja, wie diese zu erklären sind. Dabei wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass sich die unterschiedlichen Kulturen der beiden Länder auf den Pressediskurs auswirken (Franz 2012). Um die Ergebnisse der Korpusanalyse überhaupt deuten zu können, ist es notwendig, zum einen die behaupteten Unterschiede zu belegen und zum anderen die Kommunikationsbedingungen, in denen der Diskurs eingebettet ist, mit zu bedenken. Es gilt zu eruieren, inwiefern sich die Kommunikationsbedingungen des Pressediskurses in den beiden jeweiligen Ländern gleichen oder aber unterscheiden. Dazu wurde ein Untersuchungsdesign erstellt, das die verschiedenen Faktoren berücksichtigt, die potenziell auf den Pressediskurs einwirken. Abb. 1 stellt dieses Design schematisch dar: Abb. 1: Interdisziplinäres Untersuchungsdesign für kultur-kontrastive Diskursanalysen Im Zentrum des Interesses steht der Pressediskurs als kleiner Ausschnitt des gesamtgesellschaftlichen Diskurses (Kreis in der Mitte), der diskurslinguistisch untersucht werden soll. Die Faktoren, die diesen Diskurs beeinflussen, wurden <?page no="93"?> Pressediskurse kultur-kontrastiv 83 zu drei großen Ebenen zusammengefasst. Auf der ersten Ebene befinden sich die kulturellen Kommunikationsbedingungen bzw. die Diskursumgebung. Kulturelle Gemeinschaft wird hier verstanden im konstruktivistischen Sinne einer „Wissens-“ und „Wertegemeinschaft“ bzw. eines „Denkkollektivs“ (Stichwort „kollektives Gedächtnis“) (Czachur 2011: 16). Um hierüber Aufschluss zu bekommen, ist es ratsam, z.B. die Geschichtswissenschaften zu konsultieren (s. Kapitel 3.1). Kultur ist allerdings nicht „statisch“, „homogen“ oder „territorial“ verortet, sondern ist vielmehr dynamisch, prozesshaft und gruppenspezifisch (Luginbühl 2010: 194). Man darf Kultur also nicht (jedenfalls keinesfalls ausschließlich) national verorten. Dies führt uns zur zweiten Ebene des interdisziplinären Untersuchungsdesigns, auf der die Diskursakteure angesiedelt sind, also die Journalist(inn)en bzw. die Zeitungsredaktionen und deren „journalistische Kulturen“ (Hauser 2010: 175, Luginbühl 2010: 195), die sich auf deren sprachliches Handeln auswirken. Sprachliche Phänomene sind demnach „Ausdruck eines bestimmten Werte-, Orientierungs- und Handlungssystems“ (Hauser 2010: 175). Bezüglich journalistischer Kulturen können soziologische Studien zum Berufsbild Auskunft geben ebenso wie Interviews mit Journalist(inn)en selbst (s. Kapitel 3.2). Auf der dritten Ebene werden die medialen Kommunikationsbedingungen in den Blick genommen. Das Medium, in dem der Diskurs stattfindet, gibt einen spezifischen Rahmen vor, wie zahlreiche medienlinguistische, aber auch kommunikationswissenschaftliche Untersuchungen zeigen (s. Kapitel 3.3). Die drei Ebenen interagieren untereinander (in Abb. 1 durch die Pfeile symbolisiert) und können im Grunde nicht gut voneinander getrennt werden. Um eine praktikable Untersuchungsmethode zu erhalten, ist eine solche Trennung dennoch sinnvoll. 3 Ein Beispiel: Die katholische Kirche im österreichischen und französischen Pressediskurs Das empirische Beispiel, das hier vorgestellt wird, geht zurück auf Franz (2012). Darin wird der Pressediskurs über die katholische Kirche in Frankreich und in Österreich verglichen, indem die Berichterstattung je dreier nationaler Tageszeitungen im Zeitraum der ersten sechs Monate des Jahres 2009 analysiert wurde. Untersucht wurde nicht ein spezielles Thema wie ein Papstbesuch in einem Land oder ein Weltjugendtag, sondern Ziel war es, die gesamte Berichterstattung in dieser Periode abzudecken, um zu eruieren, welches Bild von Kirche in den beiden Diskursen konstruiert wird. In Bezug auf die länderspezifischen Besonderheiten in der Berichterstattung wurde davon ausgegangen, dass kirchlichen Themen in Frankreich weniger Raum (gemessen an der Anzahl und Länge der abgedruckten Artikel) gewidmet wird als in österreichischen Tageszeitun- <?page no="94"?> Marianne Franz 84 gen. Außerdem wurde vermutet, dass es in Frankreich häufiger Negativschlagzeilen gibt und sich die Artikel noch stärker als in Österreich auf so genannte ‚heiße Eisen‘ 1 beziehen (gemessen an der Themenfrequenz und an der Distribution der Nachrichtenfaktoren; s. hierzu auch Abschnitt 3.3). Eine weitere diesbezügliche Hypothese bestand darin, dass es in französischen Tageszeitungen keine spirituellen Angebote für die Leser(inn)en gibt, wie das in österreichischen Zeitungen zum Teil der Fall ist. Sprachliche Bewertungen sind in Frankreich tendenziell häufiger anzutreffen und fallen im Vergleich zu Österreich negativer aus (dazu wurden die expliziten und impliziten Bewertungen getrennt nach informations- und meinungsbetonten Pressetextsorten analysiert) (Franz 2012: 18). Um die Hypothesen zu überprüfen, wurden je zwei Qualitätszeitungen (Österreich: „Die Presse“, „Der Standard“; Frankreich: „Le Figaro“, „Le Monde“) und je eine Boulevardzeitung pro Land (Ö: „Kronen Zeitung“; F: „Aujourd’hui en France“) analysiert. Da sich die Berichterstattung über die Kirche als umfangreicher herausstellte als ursprünglich angenommen, wurde schließlich mittels der Methode der Künstlichen Woche eine Stichprobe gezogen. Dabei wurde aus jeder Kalenderwoche zwischen Januar und Juni 2009 ein alternierender Wochentag ausgewählt, an dem alle Artikel zur katholischen Kirche vollständig erhoben wurden. Der Vorteil dieser Methode der Stichprobenziehung besteht darin, dass letztlich alle Wochentage gleich berücksichtigt werden. Dies ist wesentlich, da die Anzahl der Artikel, die zu einem Thema publiziert werden, auch wochentagabhängig sein kann. So entstand schließlich ein Korpus von insgesamt 212 Artikeln (Ö: 118; F: 94) (Franz 2012: 331-341). Um die im Rahmen der empirischen Textanalyse zu erwartenden kulturellen, aber auch redaktionellen Unterschiede richtig einordnen zu können, wurden zusätzlich die in Abschnitt 2 beschriebenen Schritte durchgeführt, auf die nun weiter eingegangen werden soll. 3.1 Diskursumgebung: Kulturelle Kommunikationsbedingungen In Bezug auf das Thema „Katholische Kirche“ gilt es vor allen Dingen die Stellung der Kirche im jeweiligen Land zu beschreiben. Als westeuropäische Staaten haben Frankreich und Österreich vieles gemeinsam. So etwa gelten da und dort die Europäischen Menschenrechte und damit die Religionsfreiheit. Beide 1 Nach Bauer (1997) handelt es sich dabei um Themen wie die Sexualmoral der Kirche, inklusive Geburtenregelung, Schwangerschaftsabbruch, Homosexualität und Zölibat, außerdem das Verhältnis zwischen den Religionen und Konfessionen, Kirchenbeitrag und Primat des Papstes. <?page no="95"?> Pressediskurse kultur-kontrastiv 85 Staaten verstehen sich als religiös neutral. Eine ihrer Gemeinsamkeiten besteht allerdings auch darin, dass beide Länder historisch bedingt katholisch geprägt sind und etwas mehr als 60 % der Gesamtbevölkerung der römisch-katholischen Kirche angehören. Unterschiedlich ist allerdings die rechtliche Regelung der Beziehung zwischen Staat und Kirche. In Frankreich gilt das System der Laizität, das eine rigide Trennung zwischen Staat und Kirche vorsieht, Kulte nicht anerkennt und Religion als reine Privatsache versteht. Glaubensgemeinschaften werden dort über das Vereinsrecht organisiert. In Österreich hingegen spricht man von einem Kooperationssystem. Es gibt staatlich anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften mit öffentlich rechtlicher Stellung. Die gesellschaftliche Bedeutung der Religionsgemeinschaften wird somit vom Staat anerkannt. Es gibt nicht nur steuerliche Erleichterungen, sondern auch staatliche Finanzierung von Theologischen Fakultäten, von Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, von Gefängnisseelsorge usw. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat die Pflicht, Religionen im Programm zu berücksichtigen, die Religionsgemeinschaften sind in institutionellen Ethikgremien vertreten (Kalb/ Potz/ Schinkele 2003). In Frankreich gilt grundsätzlich das Prinzip der Nicht-Subventionierung (mit einigen umstrittenen Ausnahmen wie die katholischen Privatschulen); Seelsorge in Krankenhäusern, Gefängnissen und beim Militär ist erlaubt (aber nicht finanziert). Religionsunterricht an Schulen gibt es hingegen nicht und es ist verboten, im öffentlichen Raum allzu offensichtliche religiöse Symbole zu tragen. Diesem Status quo geht eine geschichtliche Entwicklung voraus, die an dieser Stelle nur angedeutet werden kann. Mit dem Ausgangspunkt der Französischen Revolution und damit nach dem Ende der absolutistischen Monarchie kam es in Frankreich zu einem teilweise stark antiklerikalen, mitunter gewaltvollen Kulturkampf, der zu vielen kirchenkritischen bis -feindlichen Maßnahmen führte (z.B. Verdrängung der Kirche aus dem Bildungsbereich, zwischenzeitliches Verbot kirchlicher Ordensgemeinschaften). Im Jahr 1905 kam es schließlich zum berühmten und bis heute gültigen Trennungsgesetz (Baubérot 2007). In Österreich ging die Trennung zwischen Staat und Kirche vergleichswiese gemäßigt vonstatten. Die katholische Kirche hatte bis Mitte des 19. Jahrhunderts den Status einer Staatskirche. Diese rechtliche Sonderstellung ist 1849 vorbei und die katholische Kirche ist eine von mehreren gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften. Der Kulturkampf, der nun einsetzt, äußert sich in einigen Gesetzen, die den Machtbereich der Kirche weiter beschneiden. Im Vergleich zu Frankreich verlaufen die Auseinandersetzungen jedoch gemäßigt. Eine weitere wesentliche Etappe der Regelung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche stellt schließlich das Konkordat des Jahres 1933/ 34 zwischen Österreich und dem Vatikan dar, das beispielsweise den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen festlegt (Liebmann 2005, Ortner 2000, Schiestl 2007). <?page no="96"?> Marianne Franz 86 Insofern zeigt sich eine durchaus unterschiedliche Stellung von Religion in beiden Staaten. In Frankreich gilt Religion als reine Privatsache, in Österreich ist Religion auch Teil des öffentlichen Raums und so etwa in Schulen oder auch in öffentlich-rechtlichen TV- und Rundfunk-Programmen präsent. 2 3.2 Diskursakteure: Soziale Kommunikationsbedingungen Um die sozialen Kommunikationsbedingungen, unter denen der Pressediskurs stattfindet, zu beschreiben, wurden unter Rückgriff auf historische und soziologische Studien die Charakteristika der Presse bzw. des Journalismus in Österreich und in Frankreich nachgezeichnet. Dies war notwendig, um zu eruieren, ob es länderspezifische Eigenheiten im Journalismus gibt, die im untersuchten Pressediskurs nicht unmittelbar oder ausschließlich auf das Thema „Katholische Kirche“ zurückzuführen sind. Für Genaueres muss an dieser Stelle auf Franz (2012) verwiesen werden. Hier sollen nur einzelne Punkte in Bezug auf das berufliche Selbstverständnis von Journalist(inn)en angeführt werden: Für beide Länder gilt eine enge Verflechtung zwischen Medien und Politik, die sich in Frankreich in einer Tendenz zum Meinungsjournalismus, also in einer subjektiven Deutung und Analyse des Geschehens durch die Journalst(inn)en äußert. Diese Charaktereigenschaft der Journalist(inn)en hängt wohl zum einen mit der vor allem seit der Französischen Revolution eingeforderten Gedanken- und Meinungsfreiheit zusammen, zum anderen mit der literarischen Tradition des französischen Journalismus, der seit seinen Anfängen teilweise bis heute wesentlich von als Journalisten tätigen Schriftstellern und Gelehrten geprägt ist (Albert 2008, Neveu 2009). Preisinger zufolge haben französische Journalist(inn)en ein „Faible für sprachlichen und stilistischen Schliff“, was „die Trennung von Nachricht und Meinung aufweichen“ lässt (Preisinger 2004: 26). In Österreich bekennen sich die Journalist(inn)en zwar stark zum Informationsjournalismus (vgl. eine Studie von Seethaler/ Melischek 2006), sehen sich jedoch auch imstande, politische Entscheidungen zu beeinflussen. Die Journalist(inn)en verstehen sich einerseits als gesellschaftlich verantwortliche und autonome Akteur(inn)en, andererseits kommt es zu starker Parteinahme und Gesinnungspublizistik (vgl. Karmasin 2005, Seethaler/ Melischek 2006). Um über die Diskursakteure noch genaueren Aufschluss zu erhalten, wurden Interviews mit ein bis zwei Journalist(inn)en je Tageszeitung zu den allgemeinen Redaktionslinien und zur speziellen Haltung der Redaktion hinsichtlich kirchlicher Berichterstattung geführt. Sechs der insgesamt neun interviewten Journalist(inn)en waren dezidiert für die kirchliche Berichterstattung in ih- 2 Für eine ausführlichere Darstellung vgl. Franz (2012). <?page no="97"?> Pressediskurse kultur-kontrastiv 87 rer Tageszeitung zuständig. Auf die einzelnen redaktionellen Unterschiede soll hier nicht weiter eingegangen werden (mehr dazu in Franz 2012: 264-330). An dieser Stelle interessant sind vielmehr die überredaktionellen Parallelen: In allen Zeitungen war die religiöse Berichterstattung ein dezidierter Aufgabenbereich von Journalist(inn)en, in einigen wenigen Tageszeitungen sogar der alleinige Aufgabenbereich („Le Figaro“, „Le Monde“, „Die Presse“). Anders formuliert: Alle untersuchten Tageszeitungen betrachten die römisch-katholische Kirche als wesentliches Thema, über das sie zu berichten haben. Interessant war überdies, dass sich fünf der sechs Journalist(inn)en auch selbst als katholisch bezeichnen, wobei mehrmals betont wurde, dass der eigene Glaube nicht in Verbindung mit dem Beruf als Journalist(in) stehe. Aus den Interviews gingen auch klare Haltungen der einzelnen Redaktionen zur katholischen Kirche hervor. Einige davon sehen sich als sehr kritisch-distanziert („Der Standard“, „Aujourd’hui en France“), andere als wohlwollend kritisch-loyal („Die Presse“, „Le Figaro“) und einzelne wiederum als zunächst neutral („Le Monde“) oder pro-kirchlich („Kronen Zeitung“). 3.3 Diskursmedium: Mediale Kommunikationsbedingungen Neben der (Medien-)Linguistik wird man in Bezug auf die medialen Kommunikationsbedingungen vor allem in der Medien- und Kommunikationswissenschaft fündig. Im Folgenden werden die zentralen Merkmale der Kommunikation in bzw. durch Tageszeitungen wiedergegeben: 3 a) Ein Medium ist zu verstehen als „ein institutionalisiertes System um einen organisierten Kommunikationskanal von spezifischem Leistungsvermögen mit gesellschaftlicher Dominanz“ (Faulstich 2002: 26). b) Medientheoretisch wird davon ausgegangen, dass sich Medien und Gesellschaft bzw. Kultur gegenseitig bedingen, was sich auf die Art und Wiese, wie Journalist(inn)en Wirklichkeiten (re-)konstruieren, auswirkt. Trotz Wirklichkeitskonstruktion ist objektive Berichterstattung im Sinne realitätsadäquater Wiedergabe von Ereignissen (Richtigkeit, Vollständigkeit, Transparenz, Nachprüfbarkeit) möglich (Bentele 2008). c) Das Medium Tageszeitung (Printversion) birgt eine Form der Kommunikation, bei der Zeichen öffentlich, indirekt und einseitig durch technische Verbreitungsmittel an ein disperses Publikum vermittelt werden (Kübler 2003). d) Die Kommunikatoren (alle am Prozess der Publikation teilhabenden Personen bzw. Institutionen) entscheiden über die Inhalte der Berichterstat- 3 Näheres dazu in Franz (2012: 21-129). <?page no="98"?> Marianne Franz 88 tung. Ihre Entscheidung wird durch mehrere Faktoren beeinflusst. Der Nachrichtenwerttheorie zufolge berichten Kommunikatoren etwa eher über Ereignisse, die sich durch bestimmte Merkmale bzw. Faktoren auszeichnen (z.B. räumliche Nähe, wirtschaftliche Nähe, Einfluss, Prominenz, Personalisierung, Überraschung, Nutzen/ Erfolg, Kontroverse) (vgl. Beck 2007; Maier/ Stengel/ Marschall 2010). e) Die sprachlichen Mittel der Pressekommunikation werden z.B. beeinflusst durch die Mehrfachautorenschaft der einzelnen Artikel (Agenturen, Journalist(inn)en, interviewte Personen, Bildjournalist(inn)en usw.), die Mehrfachadressierung (breite Zielgruppe der Pressetexte), die Produktionsbedingungen und die Informationspolitik des jeweiligen Mediums (Redaktionslinien) sowie auch durch die einzelnen Darstellungsformen (Pressetextsorten, modulare Cluster zwischen Text und Bild) sowie Schrift und Layout der jeweiligen Zeitung. Eine Pressesprache im Sinne eines homogenen Stils gibt es nicht; sie divergiert nach Zeitung, Autor, Thema, Rubrik und Textsorte (vgl. Bucher 1999; Straßner 2000). f) Hinsichtlich der Pressetextsorten ist zwischen informationsbetonten (Meldung, Bericht) und meinungsbetonten Textsorten (Kommentar, Glosse) zu unterscheiden; es gibt auch Mischformen (Reportage, Interview). Textsortenlinguistisch können sie mithilfe der Kriterien (1) Intention, (2) thematische Entfaltung, (3) inhaltliche Detailliertheit, (4) formale Textstruktur, (5) Perspektive, (6) Präsenz des Autors, (7) intertextuelle Textgeschichte, (8) synchrone Intertextualität und (9) sprachstilistische Merkmale beschrieben und voneinander abgegrenzt werden (vgl. Burger 2005; Lüger 1995). g) Bilder sind als Teil von Medientexten zu sehen. Zeitungsbilder verfolgen verschiedene Funktionen: Sie informieren, veranschaulichen, erregen Aufmerksamkeit, unterhalten, schaffen Identifizierungsmöglichkeiten, stabilisieren Weltanschauungen, markieren Einstellungen und gestalten manchmal auch schlicht das Layout (vgl. Stöckl 2000 und 2004; Straßner 2002; Stegu 2000 und 2002). 3.4 Pressediskurs: Diskurslinguistische Analyse zum Thema „Katholische Kirche“ Jetzt geht es ans eigentliche Herz der Untersuchung: Die empirische Analyse des Pressdiskurses am Beispiel des Korpus, das zu Beginn von Abschnitt 3 beschrieben wurde, zur Berichterstattung über die katholische Kirche. Dazu wurde das Textkorpus nach der Methode der Inhaltsanalyse (vgl. Früh 2011) auf Basis definierter Kategorien und mithilfe der Software „atlas.ti“ kodiert und aus- <?page no="99"?> Pressediskurse kultur-kontrastiv 89 gewertet. 4 Vor allem die in Abschnitt 3.3 beschriebenen medialen Kommunikationsbedingungen haben die Kategorien beeinflusst. So wurden die Textsorten auf Basis der vorausgegangenen genauen linguistischen Beschreibung und Definition kodiert (Franz 2012: 119-127). Darüber hinaus wurde neben der Themenfrequenz (insgesamt 26 Globalthemen, Franz 2012: 469) auch die Distribution der Nachrichtenfaktoren 5 pro Artikel kodiert, um herauszufinden, ob sich hier länderspezifische Besonderheiten festmachen lassen. Neben dem Text wurden auch die Bilder in die Analyse mit einbezogen. Es folgen nun einige ausgewählte Ergebnisse, die sich auf die oben angeführten Hypothesen beziehen. Hinzuzufügen ist, dass hier nur grob auf im Korpus enthaltene länderspezifische Gemeinsamkeiten und Unterschiede eingegangen werden kann. Für eine differenzierte Darstellung - inklusive der zum Teil (auch innerhalb eines Landes) beträchtlichen einzelredaktionellen Unterschiede - sei auf Franz 2012 verwiesen. 6 Luginbühl zufolge müssen genau diese „einzelnen Redaktion[en]“ „Angelpunkt“ kultur-kontrastiver linguistischer Analysen sein, da Kultur stets gruppenabhängig ist. Sie besteht aus einem „Set von Werten und Normen“ dieser Gruppen und schlägt sich in der „stilistische[n] Ausgestaltung von Textsorten“ nieder (Luginbühl 2010: 201). Nachstehend werden einige überredaktionelle Beobachtungen ausgeführt, die auf einer grundsätzlich redaktionell ausge- 4 Die Merkmale der einzelnen Codes sind in einem Codebuch beschrieben worden. Dieses Codebuch liegt der empirischen Untersuchung zugrunde und diente ihrer Objektivierung (vgl. Franz 2012: 466-489). 5 Insgesamt wurden 17 Nachrichtenfaktoren codiert, die wiederum aus mehreren Unterkategorien bestanden (vgl. Franz 2012: 334ff. und 470ff.). Ein Beispiel: Der am häufigsten codierte Nachrichtenfaktor ist Personalisierung, der in Österreich auf 88 %, in Frankreich auf 87 % der untersuchten Artikel entweder in geringem oder in starkem Maße zutraf. Grundsätzlich ist unter Personalisierung „die Bedeutung, die Einzelpersonen bei einem Ereignis zugesprochen wird“, zu verstehen (Maier/ Stengel/ Marschall 2010: 140). Gering ausgeprägt ist sie dann, wenn Personen „in ihrer Funktion als Sprecher oder Vertreter einer Institution“ vorkommen (Ö: 72 %, F: 71 %), stark ausgeprägt ist sie, wenn Personen „als Einzelpersonen dargestellt“ werden (Ö: 16 %, F: 16 %) (Maier/ Ruhrmann/ Stengel 2009: 71). Die verbleibenden Prozent entfallen auf Artikel, in denen keine Person namentlich genannt wurde und insofern auch keine Personalisierung vorkam (für die Prozentangaben vgl. Franz 2012: 483). 6 Die sechs untersuchten Zeitungen können grob zwei Gruppen zugeordnet werden: (1) die der Kirche gegenüber eher positiv bzw. kritisch loyal eingestellten Tageszeitungen „Die Presse“, „Le Figaro“ und „Kronen Zeitung“ sowie (2) die eher kirchenkritischen Zeitungen „Der Standard“, „Le Monde“ und „Aujourd’hui en France“. Die unterschiedlichen Haltungen zeigen sich etwa am Umfang der Berichterstattung, an der Textsortendistribution, an der Themenvielfalt oder an den eingesetzten Pressebildern (vgl. Franz 2012: 425). <?page no="100"?> Marianne Franz 90 richteten Analyse beruhen. Die Ergebnisse beziehen sich ausschließlich auf das untersuchte Korpus; von einer Generalisierung auf die gesamte österreichische und französische Medienberichterstattung wird Abstand genommen. 7 Die angegebenen Prozentzahlen sind insofern relativ zu sehen, als sie den errechneten Durchschnitt aus den Ergebnissen unterschiedlicher Zeitungen repräsentieren. Sie dienen lediglich dazu, Tendenzen aufzuzeigen. a) Umf a n g d e r B e ri c ht e r s t a ttu n g : Grundsätzlich kann in beiden Ländern von einer sehr regelmäßigen Berichterstattung zum Thema „Katholische Kirche“ die Rede sein. Dennoch hat sich die Vermutung bestätigt, dass in Österreich ansatzweise mehr Artikel erscheinen als in Frankreich. Die Artikellänge erwies sich aufgrund der unterschiedlichen Sprachen mit ihren unterschiedlichen Wortbildungsverfahren als nicht vergleichbar (Komposita im Deutschen, Präpositionalverbindungen im Französischen). Interessant ist die Platzierung der Artikel innerhalb einer Zeitung: In beiden Ländern erscheint mehr als ein Drittel der publizierten Artikel auf den ersten fünf Seiten der Zeitungen, in Frankreich zu über einem Drittel unter der Rubrik Politik, in Österreich zu einem Viertel. Das Verhältnis kehrt sich in der Rubrik Gesellschaft annähernd um (Ö: 39 %, F: 24 %). Darüber hinaus werden in Frankreich mehr Artikel auf der Titelseite platziert (F: 14 %, Ö: 9 %). Hinsichtlich der Textsorten ist in beiden Ländern ein Schwerpunkt auf Informationsbetonung festzustellen (in Österreich etwas weniger, in Frankreich etwas mehr als 70 %). Rund 35 % der Texte fallen auf die Textsorte Bericht. Ein leichter Unterschied ist feststellbar hinsichtlich der Textsorte Meldung: In Frankreich werden mit 37 % Anteil an den Gesamttexten mehr Meldungen als Berichte publiziert, in Österreich mit 25 % weniger Meldungen als Berichte. In beiden Ländern fallen nur rund 10 % der untersuchten Artikel auf meinungsbetonte Textsorten, wie Kommentare, Karikaturen, Glossen (Franz 2012: 336ff.). b) T h e m e nfr e q u e n z : Insgesamt wurden 24 Globalthemen kodiert, über die in diesem Zeitraum berichtet wurde. Vier davon dominieren die Berichterstattung beider Länder (F: mehr als 50 %, Ö: unter 40 % aller Artikel): (1) Kirche und Gesellschaftspolitik (das Wirken der Kirche in sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bereichen, (2) Papst (Person des Papstes im Zentrum des jeweiligen Artikels), (3) Piusbruderschaft (Be- 7 Oder mit Hauser formuliert: „Einschränkend ist jedoch festzuhalten, dass mit Hilfe des vorliegenden Datenmaterials keine abschließende Beurteilung bezüglich der Reichweite der untersuchten Phänomene möglich ist, da weder der deutsche noch der englische Sprachraum [hier: weder der österreichische noch der französische] Sprachraum vollständig abgedeckt ist.“ (2010: 154). <?page no="101"?> Pressediskurse kultur-kontrastiv 91 richte rund um die umstrittene erzkonservative Piusbruderschaft 8 ) und (4) religiöse Feiern und Traditionen (kirchliche Feste im Jahreskreis). Insgesamt ist die Themenvielfalt in Österreich etwas größer als in Frankreich, was wiederum für eine tendenziell umfassendere Berichterstattung in Österreich spricht (je nach Zeitung in Ö: 11-15 Themen, in F: 7-12 Themen). Der Fokus auf kontroverse Themen ist in beiden Ländern ähnlich stark (jeweils mehr als die Hälfte der untersuchten Artikel). Hier konnte keine größere Vorliebe Frankreichs für die heißen Eisen der Kirche festgestellt werden. Darüber hinaus interessant sind vor allem Themen, die in nur einem Land vorkamen oder dort viel häufiger behandelt wurden. So wurde beispielsweise nur in Österreich vom Ordensleben berichtet (4 %). In Österreich sind darüber hinaus kircheninterne Konflikte beliebter (Ö: 11 %, F: 2 %), in Frankreich hingegen religiöse Gebäude und Gegenstände - wohl im Sinne neutraler Kulturartefakte (F: 13 %, Ö: weniger als 0,8 %). Bestätigt hat sich die Hypothese, dass den Leser(inn)en ausschließlich in Österreich spirituelle Angebote gemacht werden (17 %). Spiritualität ist im französischen Pressediskurs kein Thema. Insgesamt scheint der Fokus der französischen Berichterstattung auf der Weltkirche zu liegen, während in Österreich auch die Tätigkeiten der Kirche innerhalb des Landes im Zentrum des Interesses stehen (Franz 2012: 346-355). c) Di s tri b uti o n d e r N a c hri c ht e nf a k to r e n : Im Hinblick auf die Nachrichtenfaktoren (insgesamt 17 untersuchte) kann für beide Länder festgestellt werden: Tageszeitungen berichten besonders gern über kirchliche Ereignisse, (1) bei denen eine Person namentlich angeführt wird, die als Sprecher oder Vertreter einer Institution oder aber als Einzelpersonen auftritt, (2) bei denen die Person ein Geistlicher, (3) prominent und (4) einflussreich ist sowie (5) eine Sprechhandlung oder eine konkrete Handlung tätigt, welche wiederum (6) überraschend ist, (7) Kontroversen enthält, (8) in einem Bezug zur Region der Leser(inn)en steht, (9) in einer Stadt passiert und welche (10) für möglichst viele Menschen relevant ist. Unterschiede zwischen den Ländern sind vor allem hinsichtlich der Faktoren E infl u s s , P r o min e n z und R e i c h w e it e festzustellen. Diese Faktoren treffen in Frankreich auf merklich mehr Artikel zu als in Österreich, was wiederum für ein großes Interesse für die Weltkirche im 8 Im Januar 2009 wurde die Exkommunikation der Bischöfe der Piusbruderschaft von Papst Benedikt XVI. aufgehoben. Diese wurde 1988 ausgesprochen, als einige Priester der Piusbruderschaft ohne die Erlaubnis des Vatikans zu Bischöfen geweiht wurden. Die Piusbruderschaft gilt als erzkonservativ und distanziert sich offen vom Zweiten Vatikanischen Konzil. Zeitgleich zur Aufhebung der Exkommunikation durch Papst Benedikt XVI. bezweifelte einer der betroffenen Bischöfe die Existenz von Gaskammern im Zweiten Weltkrieg, was einen medialen Aufschrei auslöste. <?page no="102"?> Marianne Franz 92 französischen Pressediskurs spricht (Einfluss: F: 72 %, Ö: 48 %; Prominenz: F: 77 %, Ö: 54 %; Reichweite: F: 58 %, Ö: 44 %) (Franz 2012: 355- 364). d) B e w e rtu n g e n mitt e l s S pr a c h e : Unter B e w e rtu n g ist eine sprachliche Handlung zu verstehen, in der der Sender einem Objekt einen positiven oder negativen Wert zumisst, indem er es (oder seine Eigenschaften) auf Basis von individuellen oder sozialen Normen (bzw. Bewertungsmaßstäben) mit Alternativen vergleicht (vgl. Bayer 1999, Sandig 2006, Tiitula 1994, Woldt 2010). Bewertungen können explizit oder implizit vorgenommen werden. Erstere enthalten das Bewertungsergebnis (beispielsweise durch evaluative lexikalische Mittel). Bei impliziten Bewertungen muss dieses Einstufungsergebnis mithilfe des Kontextes und des Weltwissens inferenziell erschlossen werden (Franz 2015: 185). Da es sich hier um ein sehr aufwändiges Analyseverfahren handelt, wurde für die Analyse der Bewertungen ein kleines, repräsentatives Textkorpus aus dem Gesamtkorpus ausgewählt (je eine informationsbetonte und (wenn vorhanden) eine meinungsbetonte Textsorte zum Globalthema Piusbruderschaft). Hier ein Beispiel für eine Bewertung und ihre linguistische Analyse (Franz 2012: 398): ‚Und (1) wieder einmal (2) hat man (3) im Vatikan alles (4) falsch gemacht (5): Themenmanagement wie im 18. Jahrhundert (6 + 7).‘ (Die Presse, 27.01.2009, S. 27) (1) Syntaktisches Bewertungsmittel: Bei diesem Beispiel handelt es sich um den ersten Satz des Pressekommentares ‚Das verdunkelte Bild der Kirche‘. Durch den eigentlich nicht notwendigen Konnektor und am Satzanfang wird in Zusammenhang mit den folgenden Bewertungsmitteln ein vorwurfsvoller Ton erzeugt. (2) (3) (4) Lexikalische bzw. stilistische Bewertungsmittel: Mittels der Partikel wieder einmal und der Pronomen man und alles kommt es zu einer Generalisierung bzw. zur Verstärkung der Bewertung in (5): Die Kirche hat nicht nur in diesem Fall einen Fehler gemacht, sondern sie tut das eigentlich immer. (5) Lexikalisches Bewertungsmittel: Etwas falsch machen ist ein explizit negativ bewertender Ausdruck. (6) Pragmasemantisches Bewertungsmittel: Es wird präsupponiert, dass das Themenmanagement im 18. Jahrhundert schlecht war. Hier handelt es sich um eine implizite Bewertung, die zusätzliche Interpretation und Vorwissen benötigt, um verstanden zu werden. (7) Thematisches Bewertungsmittel: Das aktuelle Verhalten der Kirche wird mit ihrem Verhalten im 18. Jahrhundert verglichen. <?page no="103"?> Pressediskurse kultur-kontrastiv 93 Die Analyse des Textkorpus zeigte, dass alle untersuchten Berichte Bewertungen enthalten (zu rund 75 % implizite Bewertungen). Die Bewertungsmittel, auf die zurückgegriffen wird, unterscheiden sich in den französischen und österreichischen Tageszeitungen nur in geringem Maße. In Frankreich werden etwa auch Satzzeichen bewertend eingesetzt (z.B. distanzierende Anführungszeichen, Fortführungspunkte), in Österreich wird auf unterschiedliche Stilschichten zurückgegriffen (z.B. umgangssprachlich, salopp-abwertend markierte Ausdrücke wie Gazetten, abwertend für Zeitung; „Kronen Zeitung“, 04.02.2009, S. 2). Letzteres scheint in Frankreich weniger üblich zu sein, zumindest war dergleichen im französischen Korpus nicht festzumachen. Interessant ist, dass in französischen Berichten tendenziell mehr Wertungen als in österreichischen vorkommen; am meisten im Übrigen in „Le Monde“, am wenigsten in „Die Presse“ und „Der Standard“. Letztlich kann dies aber nicht stichhaltig auf die unterschiedliche Behandlung des Themas Kirche zurückgeführt werden, sondern eher auf die französische Tradition des Meinungsjournalismus, die sich hier offenbar bemerkbar macht. Die Bewertungen fallen in beiden Ländern zum Großteil negativ aus (außer in der „Kronen Zeitung“). In Frankreich stellen positive Bewertungen eine noch seltenere Ausnahme dar (Franz 2012: 397-410). e) B e w e rtu n g e n mitt e l s B il d e r n : Von den insgesamt 100 im Gesamtkorpus vorkommenden Bildern (F: 50; Ö: 50) erfüllt der Großteil entweder informierende oder aber gestalterische bzw. dekorative Funktion. Interessant ist, dass die untersuchten französischen Zeitungen hauptsächlich Bilder mit diesen Funktionen abdrucken, während in Österreich nicht selten die anderen, stärker die Leser(inn)en lenkenden Funktionen anzutreffen sind (z.B. aufmerksamkeitserregende, emotionalisierende, aussageintensivierende bzw. einstellungsmarkierende Funktion). In Österreich sind dementsprechend je nach Zeitung zwischen 40 % und 50 % der Bilder als wertend eingestuft worden, in Frankreich zwischen 10 % und 25 %. Das Verhältnis zwischen positiven und negativen Wertungen ist im Wesentlichen ausgeglichen, hier können allenfalls redaktionelle Unterschiede festgemacht werden. Dennoch scheinen Bilder in Österreich stärker als Mittel zur Bewertung eingesetzt zu werden, als dies in Frankreich der Fall ist. Ein Unterschied hinsichtlich der Bildinhalte scheint noch folgender zu sein: In Österreich enthalten immerhin 8 % der Bilder ein religiöses Symbol (immer ein Kreuz). In Frankreich wird ein solches nie abgebildet, was wohl im Zusammenhang mit dem Verbot des Tragens religiöser Symbole in öffentlichen Räumen wie Schulen steht (Franz 2012: 372-387). <?page no="104"?> Marianne Franz 94 4 Zusammenfassung und Schlussbemerkungen Generell ist der Pressediskurs zur katholischen Kirche in Österreich und Frankreich sehr ähnlich ausgerichtet. In beiden Ländern gilt die Kirche offenbar als gesellschaftspolitisch relevanter Faktor, was sich an Umfang und Platzierung der Berichterstattung ablesen lässt. Dennoch lassen sich leichte Unterschiede feststellen. In Österreich wird tendenziell mehr und thematisch umfangreicher berichtet; in Frankreich liegt der Fokus der Berichterstattung sehr stark auf der Weltkirche. Spirituelle Angebote (Predigten, besinnliche Texte) sind dort nicht zu finden. Dass es in Frankreich häufiger zu Negativschlagzeilen kommt und sich Artikel stärker auf die ‚heißen Eisen‘ der Kirche beziehen, ließ sich nicht bestätigen. Kultur-kontrastiv angelegte Diskursanalysen verlangen ein interdisziplinäres Untersuchungsdesign. Das hier vorgeschlagene Modell erwies sich in Bezug auf die Untersuchung zum Pressediskurs über die katholische Kirche als brauchbar. Länderspezifische Unterschiede lassen sich damit bis zu einem gewissen Grad erklären, das heißt mit den kulturellen, sozialen und medialen Kommunikationsbedingungen im oben beschriebenen Sinn in Beziehung bringen. Dennoch muss festgehalten werden, dass es sich immer nur um einen Erklärungsversuch handeln kann. Die Einordnung der Untersuchungsergebnisse bleibt letztlich ein interpretativer Akt. Ziel des vorliegenden Beitrags war, ein Untersuchungsdesign vorzustellen, das diesen Akt nicht willkürlich bleiben lässt, sondern argumentierbar und insofern intersubjektiv nachvollziehbar macht. 5 Literatur Albert, Pierre (2008): La presse française. Paris. (Les études de la documentation française). Baubérot, Jean (2007): Histoire de la laïcité en France. Quatrième édition mise à jour. Paris. (Que sais-je? ; 3571). Bauer, Johannes Baptist (1997): Die heißen Eisen in der Kirche. Graz [u.a.]. Bayer, Klaus (1999): Mit Sprache bewerten. In: Praxis Deutsch; 53. S. 15-25. 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Der Beitrag möchte diesem Verständnis eine systemtheoretische Perspektive unterlegen, indem auf die Differenz zwischen funktional ausdifferenzierten Systemen einer modernen Gesellschaft und dem Kulturbegriff aufmerksam gemacht wird. Damit werden Soziales und Kulturelles zu analytischen Zwecken getrennt. Eine solche Perspektive fragt zunächst danach, welche Textsorten ein modernes funktional ausdifferenziertes System hervorbringt und erschließt sodann kulturelle Unterschiede der Textsortenausprägung und -gestaltung. Der Beitrag möchte die genannten Zusammenhänge am Beispiel von Nachhaltigkeitsberichten in der Wirtschaft illustrieren. 1 Einführung - Einordnung des Textsortenbegriffs in eine systemtheoretische Perspektive Dem Beitrag wird zunächst grob der Ansatz der Verbindung von Textsortenlinguistik und Systemtheorie vorangestellt. Eine systemtheoretische Profilierung der Textsortenlinguistik begründet sich aus der Notwendigkeit, die Bestimmung von Textsorten von ihren Kommunikationsbereichen her vorzunehmen und dafür eine theoretische Fundierung bereitzustellen. Für eine derartige theoretische Fundierung bietet sich die soziologische Systemtheorie als Kommunikations- und Gesellschaftstheorie an. Wir verfolgen damit einen interdisziplinären Ansatz, der Denkrichtungen in der Textlinguistik gerecht wird, die Texte in ihren Weltbezügen, also gesellschaftsbezogen erforschen und dabei den Bezug zu anderen Disziplinen wie Soziologie, Bildungswissenschaft, Literaturwissenschaft oder Geschichte suchen und produktiv machen. Kommunikationsbereiche werden in der bisherigen Textlinguistik gefasst als bestimmte gesellschaftliche Bereiche, für die jeweils spezifische Handlungs- und Bewertungsnormen konstitutiv sind. Kommunikationsbereiche können somit als <?page no="110"?> Christina Gansel 100 situativ und sozial definierte ›Ensembles‹ von Textsorten beschrieben werden (Brinker u.a. 2000: XX). Die aufgeführte Definition hebt den Bezug von Textsorten auf Kommunikationsbereiche klar heraus. Mit dem Hintergrund der Systemtheorie bleibt der Begriff „Kommunikationsbereich“ jedoch vage, denn er differenziert nicht weiter, auf welchen Ebenen welche Arten von Kommunikationsbereichen in der Gesellschaft zu beobachten sind. Mit ihrem Blick auf Differenzen bietet die Systemtheorie Ansätze, um zwischen Arten von Systemen auf einer mittleren Ebene zu differenzieren. Die Unterscheidung in biologische, psychische und soziale Systeme basiert auf Operationen, die für diese Systeme charakteristisch sind. Biologische Systeme leben, psychische Systeme denken, fühlen und nehmen wahr, soziale Systeme entstehen durch die Operation der Kommunikation. Als soziale Systeme werden in der Systemtheorie Interaktionssysteme (z.B. Gespräche, Seminar, Unterricht), Organisationssysteme (z.B. Institutionen wie Schule, Universität, Unternehmen) oder funktional ausdifferenzierte Systeme (z.B. Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst, Religion) unterschieden. Funktional ausdifferenzierte Systeme der modernen Gesellschaft implizieren jeweils die beiden Systemarten Organisationssysteme und Interaktionssysteme. Sie sind Ergebnis der Evolution von Kommunikation und Gesellschaft, so Luhmann (1987). Psychische und soziale Systeme sind zugleich Sinnsysteme, d.h. sie konstruieren Sinn, indem sie aus Möglichkeiten in spezifischer, ihnen eigener Weise auswählen und reproduzieren. Es handelt sich um operativ geschlossene, autopoietische Systeme, die jedoch umweltoffen agieren, indem sie beispielsweise Störungen aus der Umwelt mit systemeigenen Operationen bearbeiten. a) In diesem knapp umrissenen Sinn ist es also möglich, Kommunikationsbereiche über die unterschiedlichen Systemarten, in die sich soziale Systeme gliedern, genauer zu fassen. Die in diesem Beitrag noch zu untersuchenden Nachhaltigkeitsberichte sind Unternehmen als Organisationssystemen des Wirtschaftssystems zuzuschreiben. b) Ausgehend von der oben aufgeführten Definition für den Begriff „Kommunikationsbereich“ fällt eine nächste mögliche Differenz auf - die Definition von Kommunikationsbereich charakterisiert gesellschaftliche Bereiche über Handlungs- und Bewertungsnormen, nicht jedoch über Regularitäten der Art und Weise der Kommunikation. Kommunikationen werden als Handlungen begriffen, womit eine Trennung der Begriffe „Handlung“ und „Kommunikation“ nicht impliziert wird. Auf die systemtheoretische Differenzierung zwischen Kommunikation und Handlung möchte ich kurz verweisen und dabei den Textsortenbegriff einbinden: <?page no="111"?> Textsorten in sozialen Systemen und ihre kulturelle Ausprägung 101 - Kommunikationen schaffen Soziales, d.h. soziale Systeme. Kommunikation ist konstitutiv für soziale Systeme. - Kommunikationshorizonte bestimmen weitere Anschlusskommunikationen des sozialen Systems. D.h. jedes funktional ausdifferenzierte System einer modernen Gesellschaft hat eigene Regularitäten für Kommunikation entwickelt. - Auch Textsorten bilden bestimmte Regularitäten der Kommunikation ab. Sie sind auf Kommunikation bezogene Strukturen, die Wiederholbarkeit der Kommunikation sichern und damit zur Selbstkonstitution eines sozialen Systems beitragen. Sie werden deshalb vom Kommunikationssystem her erschlossen. In systemtheoretischem Sinne können Textsorten auch generelle, übergeordnete Programme darstellen, die Bedingungen und Regeln für die Kommunikation in einem System bereitstellen (z.B. Heilige Schrift, Gesetzestexte, Bildungsstandards) (vgl. Gansel 2011b). In den sich anschließenden Analysen zu Nachhaltigkeitsberichten orientieren wir uns an einer Seite eines sozialen Systems, dem Kommunikationssystem. Grundlage dafür ist, dass mit dem systemtheoretischen Kommunikationsbegriff gearbeitet wird. Luhmann (1987: 194-196) konzeptualisiert Kommunikation als die Synthese einer dreifachen Selektion von Information, Mitteilung und Verstehen. Es reicht also nicht aus, Kommunikation als Übertragungsmechanismus zu verstehen und lediglich Mitteilungshandlungen zu beobachten wie in der folgenden handlungstheoretisch orientierten Definition. Handlungstheoretisch gesehen besteht ein Kommunikationsprozess aus „mindestens zwei Personen mit ihren jeweiligen Wissensvorräten, aus reziproken Handlungen auf ein bestimmtes Ziel hin und aus Bedeutungsaustausch mittels Zeichen“ (Zhao 2008: 46). In Hinblick auf Handlungen sieht auch Luhmann den Subjektbezug: „über Handlung kommt sozusagen das Subjekt ins System“ (1987: 191). Handlungen sind sprachliche Mitteilungen, die mit einem Text (Textexemplar) vollzogen werden können, oder nicht-sprachliche Handlungen. Sprachliche Handlungen beziehen sich demnach nur auf einen Aspekt der Selektionen des systemtheoretischen Kommunikationsbegriffs. Sie unterliegen der Selbstbeobachtung des Handlungssystems und sind zeitlich fixiert. Ich kann beobachten, welche Probleme eine Studentin bei der Formulierung einer konzisen und kohärenten Hausarbeit hat und auf die Schwächen hinweisen und bewerten. Die Note wird universitätsintern eingetragen, kurz darauf erhalte ich eine Mail der Studentin, die eine ausführliche Besprechung der Hausarbeit wünscht. Kommunikationen sind konstitutiv für ein soziales System. In Bezug auf Textsorten ist zu fragen, welche systemspezifischen Informationsselektionen zur Entwicklung der Textsorte führen (welche Themen werden <?page no="112"?> Christina Gansel 102 behandelt und vor allem von wem in welchem System) und zu ihrer Reproduktion beitragen, inwiefern die Form der Mitteilungsselektion/ Text (sprachliche und nicht-sprachliche Strukturen) system-spezifisch bzw. sprachgemeinschaftsspezifisch ausfällt und inwiefern Verstehensselektionen zu systemspezifischen Anschlusskommunikationen (Textsortenanschlüsse) führen. Es zeigt sich, dass die Begriffe „soziales System“ und „Kommunikationsbereich“ nicht gleichgesetzt werden können, denn beide Begriffe haben einen unterschiedlichen theoretischen Hintergrund - Systemtheorie vs. Handlungstheorie. Mit der Verwendung des Begriffs „soziales System“ kann der Kommunikationsbereich als Kommunikations- und Handlungssystem konzeptualisiert werden. Textsorten können also danach betrachtet werden, welche Rolle sie in der Evolution eines sozialen Systems und für dessen Existenz spielen und wie mit konkreten Textexemplaren gehandelt wird, die auf der Grundlage des Textsortenwissens produziert und rezipiert werden. Die Implikationen der systemtheoretischen Betrachtung von Differenzen erscheinen nun aus meiner Sicht für die Interkulturalitätsforschung interessant wie auch in ihr angelegt. 2 Problem: Differenz S o zia le s und Kultur In einem zweiten Abschnitt soll die Differenzierung von S o zi a l e m und K ultur e ll e m zur Diskussion gestellt werden. Mit einer überdisziplinären Textwissenschaft sieht Beaugrande (1997: 9) drei Aspekte vereinbar - den linguistischen, den kognitiven und den sozialen. Nach Fix (2006: 254) schließt Soziales Kulturelles ein. Textsorten wird grundsätzlich ein kultureller Status zugesprochen. Diese Auffassung basiert auf einem pragmatisch bzw. sozial bestimmten Kulturbegriff, der der Tatsache gerecht wird, „dass Kulturen sich durch die in ihnen gängigen Textsorten“ sowie durch deren „(kulturübliche) Gestaltungsformen“ unterscheiden (Hermanns 2003: 369). Ulla Fix beruft sich auf einen Kulturbegriff als „Prozess sozialer Konstruktion“ und der jeweiligen kulturellen Semantik, u.a. auf Antos/ Pogner, die Folgendes feststellen: vor allem in der Ethnographie, der Kultursemiotik, der Wissenssoziologie, der Systemtheorie und dem Konstruktivismus werden Kulturen primär als Symbolsysteme, d.h. als Wissens-, Bedeutungs- oder Sinnsysteme konzipiert, die soziales Handeln erst ermöglichen, indem sie auf Dauer überindividuelle Wirklich- <?page no="113"?> Textsorten in sozialen Systemen und ihre kulturelle Ausprägung 103 keitskonstruktionen vorgeben, Orientierungsmuster anbieten und Identität(en) konstituieren (Antos/ Pogner 2003: 396). In Hinblick auf die hier genannte Systemtheorie muss zunächst konstatiert werden, dass die Systemtheorie nicht Kulturen konzeptualisiert, sondern es geht ihr um Sinnsysteme, wie es psychische und soziale Systeme sind. Wenn Kultur einen „Prozess sozialer Konstruktion“ darstellt, spielt Kommunikation eine große Rolle. In Kommunikationen sind soziale Systeme und Kultur gleichermaßen eingeschrieben. Ich möchte den Gedanken an einem Beispiel illustrieren, und zwar an Texten in Geschichtsbüchern und den Umgang mit Text-Bild-Interaktionen: Barbara Wallsten (früher Ziegler, Stockholm) arbeitet an einem Promotionsprojekt zu dem Thema ‚An der Schnittstelle von Bild und Text - Bildunterschriften in Geschichtslehrbüchern als Untersuchungsgegenstand sprachwissenschaftlicher Schulbuchforschung‘. Ihre Gegenüberstellung von bayerischen und schwedischen Geschichtslehrbüchern zeigt, wie ein im System E r zi e h u n g / B il d u n g übliches Textformat durch kulturelle Präferenzen überformt wird. Während anscheinend schwedische Geschichtsbücher die Text-Bild- Interaktion an den Gestaltungsprinzipien moderner Medien orientieren, nutzen die deutschen Geschichtslehrbücher traditionellere Darstellungsarten. Als soziales Produkt kann das Ergebnis von jahrhundertelanger Kommunikation über Geschichtslehrbücher im System E r zi e h u n g bezeichnet werden, als kulturelles die Unterschiede in den Präferenzen der Gestaltung. Ist also, so wäre zu fragen, Soziales gleich Kultur? Die Aussage, wie sie Ulla Fix getroffen hat, „dass Gemeinschaften über Textsorten als Mittel ihres Handelns verfügen, ist ein kulturelles Phänomen“, würde in systemtheoretischer Perspektive durch „ist ein soziales und kulturelles Phänomen“ (2006: 260) zu ergänzen sein. Zunächst erscheinen Textsorten als ein soziales Phänomen, Gesellschaft entsteht durch Kommunikation, Textsorten sind das Produkt von Kommunikation und sozialer Differenzierung. Luhmann problematisiert nun die erklärende Funktion solcher Begriffe wie „Kultur“, „Mentalität“, „Tradition“ für Kausalitäten, also dafür, warum etwas anders ist. „Es wird vorgeschlagen, sie durch einen Faktor zu ersetzen, den man ‚soziale Konstruktion‘ von Kausalität bezeichnen kann“ (1995: 7). Luhmann geht in seinen Schriften zu Kultur davon aus, dass der Begriff „Kultur“ in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts konstruiert wurde, „um vergleichende Darstellungen, sei es in regionaler, sei es in historischer Sicht, mit einem übergreifenden Begriff zu versorgen“ (1995: 8). Den theoretischen Ertrag schätzt er gering: „Theoretisch hat dieser Begriff jedoch wenig gebracht. Vor allem ist unklar geblieben, wovon sich Kultur unterscheidet, wenn alle Artefak- <?page no="114"?> Christina Gansel 104 te, einschließlich Texte, einschließlich sogar der jeweiligen Vorstellung von N a tur als K ultur zu verstehen sind“ (1995: 8). Hier muss eingeräumt werden, dass Luhmann Interkulturalitätsforschungen theoretischer wie empirischer Art nicht reflektiert hat. Und so argumentiert Luhmann weiter: „Wenn aber ein Begriff nicht klarstellen kann, was durch ihn ausgeschlossen wird, was also die andere, nicht bezeichnete Seite seiner Form ist, sind wissenschaftliche Erträge nicht zu erwarten“ (1995: 8). Die Frage jedoch, was ausgeschlossen ist, was die andere Seite der Form Kultur ist, wenn Kultur alles einschließt, erscheint berechtigt. Luhmann geht sehr kritisch mit dem Kulturbegriff um, hebt jedoch dessen rationalen Kern hervor, der in der Interkulturalitätsforschung bzw. in der Erforschung der kulturellen Unterschiede von Textsorten die dominante Rolle spielt: „Kultur [...] meint eine besondere Beobachtung mit Blick für Vergleichsmöglichkeiten“ (Luhmann 1998: 957). 3 Anschlüsse an die moderne Kulturalitätsforschung Überschaut man aktuelle Forschungen zur Kulturalität von Textsorten, so erscheinen Anschlussmöglichkeiten an die Systemtheorie offensichtlich. Luhmanns Ziel war es, die Evolution von Kommunikation und Gesellschaft zu erschließen und nachzuzeichnen. Er reflektiert, durch welche Kommunikationen sich soziale Systeme wie die funktional ausdifferenzierten Systeme einer Gesellschaft herausgebildet haben. Moderne kulturvergleichende Untersuchungen zu Textsorten - und dies ist nicht zu übersehen - nehmen ihren Ausgangspunkt in einem entsprechenden sozialen System, wie es in der Systemtheorie als funktional ausdifferenziertes Teilsystem der Gesellschaft oder Organisationssystem in modernen Gesellschaften beschrieben wird. Zu verweisen ist auf Zhao (2008) mit ihrer Untersuchung von Imagebroschüren in der Unternehmenskommunikation. Mit der Öffentlichkeitsarbeit von Unternehmen befassen sich Bolten u.a. und unterscheiden kulturell bedingte Stile. Da Costa (2005) untersucht brasilianische und deutsche Schulaufsätze sowie die Rolle von Textsorten in der Schulbildung in dem jeweiligen Land und geht damit vom Erziehungssystem aus. Smykala (2005) widmet sich der Tourismuswerbung und wendet sich so einem Subsystem der Wirtschaft zu. Senöz-Ayata (2012) analysiert Abstracts in deutschen und türkischen Germanistikzeitschriften und bewegt sich damit in der Wissenschaftskommunikation, und so könnte diese Reihe an Forschungsergebnissen fortgesetzt werden. Beobachtbar ist der Zugang zu interkulturellen Vergleichen über ein entsprechendes modernes funktional ausdifferenziertes System, das zur Bezugsgröße der Kultur wird. <?page no="115"?> Textsorten in sozialen Systemen und ihre kulturelle Ausprägung 105 In ihren Beiträgen und in ihrer Dissertation setzt sich Zhao (2008, 2011) mit diversen Kulturbegriffen auseinander und stellt Ansätze mit Bezugsgrößen von Kultur zusammen. Sie nennt als Bezugsgrößen die folgenden und spricht ihnen das Merkmal der Gruppe zu, ihre Skepsis gegenüber diesen Begriffen erscheint durchaus angebracht: „Gesellschaft“ (Tylor, Cohen, Thomas), „Lebenswelt“ (Bolten), „Kollektive“ (Hansen). Zuzustimmen ist ihr in Folgendem: Kultur eines komplexen Kollektivs ist deswegen kein von Kohärenz geprägtes Ganzes, wie der Ausdruck ‚Orientierungssystem‘ von Thomas oder ‚Bedeutungsgewebe‘ von Geertz andeutet, sondern sie erscheint wie ein Flickwerk oder Palimpsest, das durch Divergenzen, Diversität, Heterogenität und Widersprüche gekennzeichnet ist. [...] Zur Erforschung einer Nationalkultur darf man nämlich nicht eines ihrer Unterkollektive als repräsentative Stichprobe herausnehmen und die daraus resultierenden Ergebnisse auf andere Unterkollektive oder auf das Dachkollektiv übertragen [...]. (2008: 34) Bleiben wir bei modernen Gesellschaften, dann ist von einer Heterogenität die Rede, die sich auf der Ebene funktional ausdifferenzierter Teilsysteme und ihrer integrierten Systeme der Gesellschaft bewegt. Kunst, Religion, Politik usw. werden als Systeme von der Kulturalitätsforschung wahrgenommen, ob auch entsprechend konzeptualisiert, z.B. als autopoietische Systeme mit einer eigenen Systemrationalität, ist eine andere Frage. Zhao (2011) verweist in einem Übersichtsartikel zur Kulturspezifik und Interkulturalitätsforschung auf das Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre diskutierte Universalienkonzept: Das von Widdowson (1979) eingebrachte Universalienkonzept besagt, dass der wissenschaftliche Diskurs eine universelle Gattung und nicht an einzelne Sprachen gebunden sei. Den Grund dafür sah er darin, dass in den Fachtexten die gleichen intellektuellen und methodischen Handlungen ausgeführt, geteilte Begriffssysteme verwendet sowie das gleiche Instrumentarium der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung erprobt werden. Andere Vertreter des Universalienkonzeptes wie Schwanzer (1981) und Uljin (1982) hingegen beschrieben die Universalia in den wissenschaftlichen Fachsprachen v. a. durch Vergleiche syntaktischer und lexikalischer Erscheinungen und sahen die Universalität z.B. in dem Gebrauch künstlicher Symbole, in der Sachbezogenheit, der Entpersönlichung des Ausdrucks sowie der ökonomischen Darstellung. (Zhao 2011: 127) Dass das Universalienkonzept mit Zurückhaltung beurteilt wurde, wie Zhao (2011: 127) herausstellt, verwundert allerdings. Prominenz erreichte die Gegenposition der kulturellen Besonderheiten der Einzelsprachen, wie sie weiterhin formuliert wird. In systemtheoretischer Perspektive sind die beiden Konzepte <?page no="116"?> Christina Gansel 106 allerdings nicht gegeneinander in Konkurrenz oder im Verhältnis der Ausschließung zu betrachten, sondern können aufeinander bezogen werden. In der Tat ist nämlich der Bereich der Wissenschaft aus modernen Gesellschaften nicht wegzudenken und erscheint deshalb universell. In der Systemtheorie wird ein derartiges System sehr abstrakt in folgender Weise beschrieben: Nach Luhmann wird die Systemlogik funktional ausdifferenzierter Teilsysteme der Gesellschaft wie Recht, Politik, Wirtschaft, Religion, Kunst, Erziehung oder Wissenschaft mit den Kategorien Funktion, Leistung, Medium, Code, Programm beschrieben. Die Funktion eines Systems besteht darin, für ein spezifisches Problem „funktional äquivalente Problemlösungen“ (Krause 2005: 151) anzubieten. Während es die Funktion der Wissenschaft ist, neues wahres Wissen zu erzeugen, besteht die Funktion der Wirtschaft in der Knappheitsminderung. Der Aspekt Leistung sagt etwas über die Beziehungen von Systemen aus. Systeme stellen für andere (psychische oder soziale) Systeme Leistungen zur Verfügung. So stellt die Wissenschaft Wissen für andere Systeme der Gesellschaft (z.B. für die Wirtschaft oder die Medien) bereit. Das Medium in der Systemlogik meint ein symbolisch generalisiertes Medium, ein Erfolgsmedium. Es konditioniert die Motivationen und Selektionen unbestimmter Kommunikationen. Wissenschaft operiert im Medium W a hr h e it . Der Code bildet die binäre Leitdifferenz des Systems, für die Wissenschaft wäre das z.B. „wahr“ vs. „falsch“. Programme sind die flexibelsten Bereiche funktional ausdifferenzierter Systeme. Sie versorgen das System mit zulässigen Regeln des Kommunizierens. In Bezug auf die Wissenschaft sind dies Theorien und Methoden (Krause 2005). Der nach Zhao (2011) zitierte Abschnitt zum Universalienkonzept hebt nun funktionalstilistische Zuschreibungen heraus, die sich an die Systemrationalität der Wissenschaft anlehnen lassen: Methoden/ Instrument zur Erkenntnisgewinnung, Begriffssysteme, Autorschaft, künstliche Symbole, Sachbezogenheit, ökonomische Darstellung. Mit Spillner (1997: 209) könnte die Bezugsgröße S o zi a l e s S y s t e m in einer modernen Gesellschaft, in der die spezifische zu untersuchende Textsorte vorkommt (beispielsweise wissenschaftlicher Artikel, wissenschaftliche Rezension), als tertium comparationis gefasst werden. Ebenso lassen sich die generellen funktionalstilistischen Zuweisungen als tertium comparationis behandeln. Inwiefern die sprachlichen Realisierungen kulturelle Unterschiede aufweisen, ob diese ursächlich sprachtypologisch, ideengeschichtlich, wirtschaftlich entwicklungsbedingt sind, kann dann ermittelt werden. Dieser Weg impliziert das Voranschreiten vom Sozialen zum Kulturellen und geht von der Differenz der beiden Begriffe aus. <?page no="117"?> Textsorten in sozialen Systemen und ihre kulturelle Ausprägung 107 4 Nachhaltigkeitsbericht/ Sustainability Report als Forschungsfeld interkultureller Textsortenvergleiche 4.1 Grundlagen: Wirtschaftssystem und Nachhaltigkeit Am Beispiel von Nachhaltigkeitsberichten, denen ich mich vor einigen Jahren bereits zugewandt habe, möchte ich die Problematik explizieren (vgl. Gansel 2011a, 2012). Zunächst sollen einige Aussagen zum Aspekt des Universellen getroffen werden. Die Kommunikation des Wirtschaftssystems der Gesellschaft steht unter Generalverdacht persuasive kommunikative Strukturen zu pflegen. Ein weiterer Verdacht ist ebenso, die Ressourcen der Erde zu verbrauchen ohne auf den Menschen, die Umwelt oder zukünftige Generationen Rücksicht zu nehmen. Im Vordergrund stehen Wirtschaftlichkeit und Profit. Mit einer immerwährenden positiven Selbstdarstellung von Unternehmen wird der beständige Versuch unterstellt, Ware in Geld zu verwandeln und zu diesem Zweck Adressaten zu beeinflussen, zu täuschen, zu überreden. Persuasion gilt im Allgemeinen als „Prozeß oder Methode der Beeinflussung von Menschen hinsichtlich ihrer Meinung, ihrer Einstellung, ihres Handelns“ (Lewandowski 1994: 790) mit Hilfe verbaler Mittel. Lewandowski betont weiter, dass es bei Persuasion „nicht um die Vermittlung von Informationen [...] oder die Darstellung von Argumentationen“ gehe, sondern um „Sprachsignale, die durch affektiv-konnotative Ausnutzung von Wortbedeutungen und Satzbedeutungen auf eine bestimmte Affektstruktur zielen“ (1994: 790). Persuasive Kommunikation sei dementsprechend eine „überredende Kommunikation“ und wird gleichzeitig mit dem „Überzeugen als sprachlich-argumentative Form der Beeinflussung mit dem Ziel, durch Meinungswandel Konsens herzustellen“ im Sinne der Habermasschen Kommunikationstheorie beschrieben (1994: 791). Das wohl prototypische mit potentieller persuasiver Wirkkraft (Überredung) ausgestattete Kommunikat des Wirtschaftssystems ist die Werbeanzeige (Werbetext, Enthymenargumentation usw.). Es folgt der Systemrationalität des Wirtschaftssystems - einem sozialen, funktional ausdifferenzierten Teilsystem moderner Gesellschaft - und seiner erforderlichen Selbstbeobachtung und Selbstreflexivität, wie sie von dem Systemtheoretiker Luhmann wie folgt beschrieben wird. Die Ausdifferenzierung von sozialen Systemen erfordert die Schließung eines selbstreferentiellen Verweisungszusammenhangs für alle Operationen des entsprechenden Systems. Bei allem, was wirtschaftlich geschieht, also der Wirtschaft als System zurechenbar ist, muß demnach Selbstreferenz mitlaufen. Die <?page no="118"?> Christina Gansel 108 Kommunikationen der Wirtschaft müssen sich als wirtschaftlich ausweisen, damit man sie nicht falsch interpretiert [...] sie müssen, was immer sie sonst leisten, immer auch das Wirtschaftssystem selbst reproduzieren. [...] Geschlossene Systeme sind nur als offene Systeme möglich, Selbstreferenz kommt nur in Kombination mit Fremdreferenz vor. [...] Im Bereich der Wirtschaft ist das Geld die dafür notwendige Voraussetzung. Geld ist instituierte Selbstreferenz. (Luhmann 1994: 15f.) Als Letztelement des Wirtschaftssystems sieht Luhmann Zahlungen, die über besondere Eigenschaften verfügen. Entsprechend heißt es: Sie sind, wie Handlungen, temporäre, zeitpunktgemäße Ereignisse. Indem sie beginnen, hören sie auch schon wieder auf. Ein System, das auf der Basis von Zahlungen als letzten, nicht weiter auflösbaren Elementen errichtet ist, muß daher vor allem für immer neuere Zahlungen sorgen. (Luhmann 1994: 17) Es geht also immer um die konkrete Motivation zur Zahlung und ihren aktuellen Vollzug. [...] Der adäquate Bezugspunkt für die Beobachtung und Analyse des Systems ist daher [...] die ständige Reproduktion der momenthaften Aktivitäten, eben der Zahlungen, aus denen das System besteht. Diese Motivation muß nicht, oder jedenfalls nicht nur, von außen gesichert werden, sondern durch das System selbst, das heißt durch systemeigene Konditionierungen der Zahlungsvorgänge. (Luhmann 1994: 17) Die folgende Tabelle fasst die Systemrationalität des Wirtschaftssystems zusammen: System Funktion Leistung Medium Code Programm Wirtschaft Knappheitsminderung Bedürfnisbefriedigung Geld Zahlung/ Nicht- Zahlung Zweckprogramme Budgets Tab. 1: Systemlogik des Wirtschaftssystems der Gesellschaft (Krause 2005: 50) Werbeanzeigen können also als prototypisches Kommunikationsinstrument des Wirtschaftssystems gelten, deren Funktion darin besteht, den positiven Wert des binären Codes ‚zahlen/ nicht zahlen‘ zu befördern, ihn anzuregen oder anzubahnen. Dies scheint hinlänglich bekannt, moderne Menschen kommen zudem in ihrer Sozialisation unweigerlich und vielfältig mit Werbung in Berührung. Die Erfahrung ist: Werbung dient der Überredung, stimuliert zur Kaufentscheidung und letztlich zur Zahlung. Dabei arbeitet sie mit spezifi- <?page no="119"?> Textsorten in sozialen Systemen und ihre kulturelle Ausprägung 109 schen Mitteln, die positive Bewertungen mitführen und geeignet sind, Einstellungen emotiv, kognitiv und konativ zu beeinflussen. Positive Selbstreferenz und Selbstbeobachtung des Wirtschaftssystems ist nicht nur auf Produktdarstellung und -bewerbung orientiert, sondern natürlich gleichfalls auf das positive Image des Unternehmens. Es ist bestrebt, möglichst in jeder Kommunikation des Systems die positive Selbstdarstellung zu reproduzieren, um dem Sinn des Codes des Wirtschaftssystems zu entsprechen. Selbstreflexivität und Selbstbeobachtung des wirtschaftlichen Systems operiert mithin in einem spezifischen Medium G e l d und nach der darauf ausgerichteten Leitdifferenz ‚zahlen/ nicht-zahlen‘. Von daher lässt es sich erklären, dass Kommunikationen, die ökonomischen Gesichtspunkten verpflichtet sind, eine Betonung des Positiven präferieren müssen. Autopoiesis eines sozialen Systems, wie des Wirtschaftssystems, bedeutet jedoch nicht nur Selbstreferenz und Selbstbeobachtung, sondern schließt Fremdbeobachtung und Fremdreferenz mit ein. „Geschlossene Systeme sind nur als offene Systeme möglich, Selbstreferenz kommt nur in Kombination mit Fremdreferenz vor“ (Luhmann 1994: 15). In der Kombination von Selbst- und Fremdreferenz sieht Luhmann zudem einen „Steigerungszusammenhang“ (1994: 15), denn: „Die Kopplung von Selbst- und Fremdreferenz dient daher auch zum Erkennen, Bestimmen und Reproduzieren der Elemente, aus denen das System besteht“ (1994: 17). Die Folgen wirtschaftlicher Unternehmungen sind insbesondere seit den 1990er-Jahren verstärkt der Fremdbeobachtung ausgesetzt. Die Fremdbeobachtung - um es verkürzt darzustellen - mündet in das Konzept der Nachhaltigkeit, mit dem wirtschaftliche Selbstreferenz erheblich gestört wird. Die Kopplung von Selbst- und Fremdreferenz erfordert nun, durch die Bezugnahme auf sich selbst, Bezug auf das andere, die Störung aus der Umwelt (Nachhaltigkeitskonzept), zu nehmen. Das bedeutet, dass Unternehmen vor der Erfordernis stehen, nicht nur die ökonomische Seite ihres Handelns sondern ebenso die soziale und die ökologische Seite glaubwürdig zu reflektierten. 1 Nachhaltigkeitsberichte bilden eine Textsorte der Unternehmenskommunikation, in der eine allumfassende Darstellung unternehmerischer Tätigkeit erfolgt. Nachhaltigkeitskommunikation kann daher als eine Form gesellschafts- 1 Wie schwer es Unternehmen fällt, in Nachhaltigkeitsberichten die drei Säulen Ök o n o m i s c h e s , S o z i a l e s und Ök o l o g i s c h e s adäquat aufeinander bezogen zu berücksichtigen und damit auch in ihrem Handeln zu berücksichtigen, zeigen beispielhafte Untersuchungen zu den Vorworten erster Nachhaltigkeitsberichte von den Unternehmen AIDA (2007-2010), Deutsche BP (2006), Deutsche Post (2006, 2008, 2009) oder Daimler (2010). In zeitlicher Perspektive wird jedoch in den Texten einsichtig, dass von einer werblichen Textgestaltung Abstand genommen wurde (vgl. Gansel 2011a, 2012). <?page no="120"?> Christina Gansel 110 orientierter Unternehmenskommunikation oder als PR-Strategie zur Ausrichtung des Unternehmens an den Prinzipien der Nachhaltigkeit betrachtet werden. Der Nachhaltigkeitsbericht verbindet Umwelt- und Sozialbericht (ökologisch-ökonomische Themen: Abfall, Abwasser, Emissionen, Energieverbrauch; sozial-ökonomische Zusammenhänge: geschlechtliche und ethnische Gleichberechtigung, Arbeitszufriedenheit der MitarbeiterInnen, Kinderarbeit). 2 Zur Nachhaltigkeitsberichterstattung sollen weiterhin lediglich einige globale und deutsche Trends aufgeführt werden (BDI 2014): - Der Nachhaltigkeitsbericht ist eine global akzeptierte und etablierte Textsorte, an deren Standardisierung gearbeitet wird. - Europäische Unternehmen schreiben die meisten Nachhaltigkeitsberichte, China, die USA, das Vereinigte Königreich und Japan liegen im Ländervergleich vorn. - Die Nachhaltigkeitsberichtserstattung gewinnt weltweit an Bedeutung - unter den 100 größten Unternehmen in 41 Ländern schreiben 71 % Nachhaltigkeitsberichte. Wer keinen schreibt, muss sich rechtfertigen. Häufig werden die Berichte auf freiwilliger Basis formuliert, verpflichtend sind sie z.B. in Schweden, Dänemark, Frankreich. In der EU steht eine Gesetzesinitiative an; für 2016 ist in Deutschland eine Ausdehnung der Verpflichtung auf mittelständige Unternehmen mit 500 Mitarbeitern geplant. - Die Berichterstattung folgt Regeln und Prinzipien: Global Reporting Initiative (GRI) - 80 % der umsatzstärksten Unternehmen aus aller Welt berichten nach GRI (G4 Leitlinien 2013) angelehnt an entsprechende Kategorien und Indikatoren; der Deutsche Nachhaltigkeitskodex sowie Communication on Progress des UN Global Compact basieren auf einer Initiative aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft zur sozialen und ökologischen Gestaltung der Globalisierung, die zehn Prinzipien vorgibt. 3 2 Bereits im Jahr 2001 hat das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung aus den Ergebnissen der Beobachtung von Nachhaltigkeitsberichten einen „Leitfaden zur Praxis glaubwürdiger Kommunikation für zukunftsfähige Unternehmen“ entwickelt, in dem eindeutig darauf verwiesen wird, dass Nachhaltigkeitsberichte keine Werbeprospekte sind (IÖW/ imug 2001: 12). Darin werden Grundsätze der Berichterstattung festgelegt, wie: Sachlichkeit und Glaubwürdigkeit, Wahrheit und Wesentlichkeit („den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild vom Unternehmen und seinen Stärken und Schwächen“ (IÖW/ imug 2001: 18)); Nachvollziehbare Argumentationen, Klarheit und Verständlichkeit (einfache Sprache, Grafiken). 3 Vergleiche dazu die entsprechenden Internetseiten der United Nations Global Compact, online. <?page no="121"?> Textsorten in sozialen Systemen und ihre kulturelle Ausprägung 111 4.2 Beispielanalysen - Daimler, Maerks, Coca Cola Company Wie bereits deutlich wurde, gilt Glaubwürdigkeit als ein wesentliches Merkmal von Nachhaltigkeitsberichten. Sie konstituiert sich im Kommunikationsprozess und wird einem Kommunikator über sein Kommunikat zugeschrieben, wie Bentele (1988: 408) definiert: Glaubwürdigkeit lässt sich bestimmen als Eigenschaft, die Menschen, Organisationen oder deren kommunikativen Produkten (mündliche oder schriftliche Texte, audiovisuelle Darstellungen) von jemandem (Rezipienten) in Bezug auf etwas (Ereignisse, Sachverhalte usw.) zugeschrieben wird. Glaubwürdigkeit betrifft die Wirkung sprachlicher Kommunikation, sie ist kein Stil, sondern ein Effekt, der sich durch die Wirkung verschiedener sprachlichstilistischer Mittel einstellt (Ostermann 1999: 43). Welche sprachlichen Mittel dies sein können, überprüfen neuere linguistische Forschungen (Schäfer 2013, Kuhnhenn 2014). Einen frühen Ansatz bietet Marcus Reinmuth in seiner Dissertation (2006). Die in Rede stehenden sprachlichen Mittel bezeichnet er als linguistische Glaubwürdigkeitsindikatoren, die er aus der Glaubwürdigkeitsforschung abgeleitet hat. 4 So ist die Verwendung werblicher Sprache Indikator für „offensichtliche Interessengebundenheit“ und „Kanaldiskrepanz“ und folgt dem Konzept von Werbung. Nachhaltigkeitsberichte sollen sich jedoch nicht an Werbung anlehnen, sondern überzeugen. Der Nachhaltigkeitsbericht ist ein auf lange Sicht anzulegendes Instrument, das Vertrauen in die Wirtschaft und in die Umsetzung des Nachhaltigkeitskonzepts erzeugen soll, und dies nicht nur über eine emotionale Gestaltung, sondern über eine kognitiv-überzeugende. 4 Reinmuth sieht die von ihm ermittelten 22 Glaubwürdigkeitsindikatoren als eine Checkliste zur Lösung kommunikativer Aufgaben (2006: 234). Erst „im Zusammenspiel und in der Anhäufung dieser Indikatoren liegt die Potenz in der Sprache, die eine Zuschreibung von Glaubwürdigkeit befördert“ (Reinmuth 2006: 235). Bei den 22 Glaubwürdigkeitsindikatoren handelt es sich um die Folgenden: Sprachliche Korrektheit, angemessener Detailgrad, angemessene Länge der Mitteilung, Übergeneralisierung und Übertreibung vermeiden, Kanaldiskrepanz vermeiden, abwechslungsreiche Sprache, floskelhafte Ausdrucksweise vermeiden, Aussagen zum Wahrheitsgehalt der eigenen Aussage, Aussagehomogenität und Widerspruchsfreiheit, Aussagekonstanz in der Zeit, angemessene Wortwahl, Ähnlichkeit zwischen Kommunikator und Rezipient, narrative Elemente, bildhafte Sprache, Satzkonstruktion, Passivkonstruktionen vermeiden, Argumentationsstrategie, Emotionen, öffentliche Interessengebundenheit, angemessener Grad an humorvollen Äußerungen, Personalisierung - Selbstreferenz - Identifikation (Reinmuth 2006: 235 ff). <?page no="122"?> Christina Gansel 112 Als tertium comparationis für den interkulturellen Vergleich von Nachhaltigkeitsberichten könnten nun zwei universelle Aspekte herangezogen werden: Glaubwürdigkeit und die Bereichsfunktion der Texte. Die Zivilgesellschaft als Rezipientin von Nachhaltigkeitsberichten erwartet die Erfüllung der Bereichsfunktion der Berichte, nämlich die Reflexivität der Unternehmen in Hinblick auf das Nachhaltigkeitskonzept zu unterstützen und die Reflexion des ökonomischen Handelns unter sozialen und ökologischen Gesichtspunkten. Anhand der Vorworte der Nachhaltigkeitsberichte der Unternehmen Daimler, Maerks und Coca Cola für das Jahr 2014 können an dieser Stelle lediglich einige wenige Aspekte in Augenschein genommen werden, um das beschriebene Vorgehen zu illustrieren. Dabei erfolgt eine Konzentration auf einige wenige Glaubwürdigkeitsindikatoren, Reflexivität und den verbalen Bereich (Nominal- und Verbalstil, Modalverben). Die Ergebnisse des Vergleichs in Hinblick auf die benannten Aspekte werden tabellarisch aufgeführt: Analyseaspekte Daimler (Deutschland): Vorwort Maerks (Dänemark): Foreword by the CEO Coca Cola Company (USA): Letter from the Chairman and CEO Glaubwürdigkeit Übergeneralisierung und Übertreibung vermeiden --- --- Made significant progress Anrede/ Gruß Ähnlichkeit von Kommunikator und Rezipient Anrede (Liebe Leserinnen und Leser: Brief, Ihre); Ansprache, mit Leserinnen ins Gespräch kommen, Aufforderung, gemeinsam unsere Verantwortung wahrnehmen Keine Anrede, kein Gruß, lediglich Unterschrift Keine Anrede, jedoch Abschluss - Very best wishes und Einladung zur Beobachtung der Fortschritte - I invite you to follow our progress on Coca-Cola Journey. Bindung an öffentliche Interessen Richtlinien UNGC (im letzten Absatz) UNGC (im ersten Absatz) UNGC als Maßstab für Berichterstattung (im vorletzten Absatz) Wahrheitsgehalt der eigenen Aussagen Zahlen, Fakten Zahlen, Fakten Zahlen, Fakten, Vergleiche zum Vorjahr <?page no="123"?> Textsorten in sozialen Systemen und ihre kulturelle Ausprägung 113 Reflexivität vorher/ nachher Prinzip Verantwortung als Leitprinzip: Nicht: „Nach mir die Sintflut“ Ökologische Produkte aufgeführt; Umgang mit Mitarbeitern, Lieferanten, Anteilseignern, Nachbarn, NGOs; 15 Jahre UNGC verpflichtet: Nur wer ethisch anständig handelt, ist auch wirtschaftlich erfolgreich. We must improve safety - Augenmerk auf Problem von tödlichen Unfällen; Orientierung auf Kernfragen; was wurde erreicht, was sind die Ziele bis 2020 Bewertung der eigenen Handlungen und Ergebnisse: this is unacceptable, deep regret, there is no excuse We are pleased - but not satisfied Verweis auf konkrete Maßnahmen und Projekte; was wurde erreicht, was sind die Ziele bis 2020 Verbales Verbalstil, Modalverben: 2 (können, wollen) Nominalstil, Modalverben: 9 (must, need, can, will) Verbalstil, Modalverben: keine Tab. 2: Vergleich von Nachhaltigkeitsberichten in einigen Aspekten Mit dem knappen Vergleich soll keineswegs herausgestellt werden, welchem Vorwort der höhere Glaubwürdigkeitswert zukommt. Dennoch wird bereits in dieser ‚Probebohrung‘ deutlich, dass die Nachhaltigkeitsberichte auf gleiche universelle Kriterien, die aus dem Nachhaltigkeitskonzept in wirtschaftlicher Kommunikation abgeleitet wurden, in unterschiedlicher Weise Bezug nehmen. Während das deutsche Unternehmen in der Form des Briefes Rezipientinnen und Rezipienten höflich anspricht, die gemeinsame Verantwortung betont und sich auf ethisches Handeln verpflichtet, erscheint das Vorwort von Maerks sehr sachlich und distanziert und verweist bereits auf das Hauptanliegen des Unternehmens, dringend tödliche Unfälle seiner Arbeitnehmer zu vermeiden. Euphorisch, ein wenig übertreibend und spritziger ist das Vorwort von Coca Cola gestaltet, das dem Image seiner Produkte gerecht wird. Zu prüfen bleibt, inwiefern die deutlich werdenden Unterschiede in der Gestaltung der Vorworte der Nachhaltigkeitsberichte dem Unternehmensprofil bzw. der Unternehmenskultur oder der Kultur einer Sprachgemeinschaft entsprechen. <?page no="124"?> Christina Gansel 114 5 Literatur Antos, Gerd/ Pogner, Karl-Heinz (2003): Kultur- und domänengeprägtes Schreiben. In: Wierlacher, Alois/ Bogner, Andrea (Hrsg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart/ Weimar. S. 396-400. 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Unter Reiseroman verstehe ich einen Typ der Textsorte R o m a n , der auch von der Textsortenklasse R e i s e l it e r a t u r konstituiert wird, in dem eigene Reiseerlebnisse des Autors verwertet werden, wobei die Reise (Abreise, Reisestationen und Rückkehr) als Ausgangspunkt für die literarische Reflexion betrachtet wird, die die reale und fiktive Welt miteinander verbindet. Für eine sachliche interkulturelle Analyse literarischer Texte ist es wichtig, dass sie zu demselben Textsortentyp gehören, dass die zu vergleichenden Texte in derselben Zeit erschienen sind und möglicherweise gleiche Objekte darstellen. Der Reiseroman ist durch die Zugehörigkeit der Autoren zu verschiedenen Kulturen und durch die Rezeption fremder Kulturen von diesen Autoren interessant. 1 Textsortentyp „Reiseroman“ und seine allgemeinen Charakteristika Der Beitrag wendet sich den Fragen zu, welchen Platz der Reiseroman im Textsortenparadigma einnimmt und welche allgemeinen Merkmale er hat, welche Vorgeschichte diese Textsorte im Deutschen und im Ukrainischen nachweisen kann sowie welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede Texte dieser Textsortenform von modernen deutschen und ukrainischen Autoren sichtbar machen, deren Sprachen Kulturträger unterschiedlicher europäischer Völker sind. Die Literatur, die sich mit einer fiktionalen Darstellung der Wirklichkeit beschäftigt, schafft dadurch ein ganz spezifisches Terrain für ihre Textsorten, die <?page no="128"?> Svitlana Ivanenko 118 in verschiedener Art und Weise den Wirklichkeitsbezug verkörpern. Diese Tatsache spielt für den Reiseroman gerade durch seine ausgeprägte Wirklichkeitsbezogenheit eine besondere Rolle. In welchem Ausmaß die Wirklichkeit in einem literarischen Text vorhanden ist, hängt von vielen Faktoren sowohl objektiver als auch subjektiver Art ab. Darauf schichten sich Faktoren der Zugehörigkeit zu einer bestimmten historischen Epoche, zu einer bestimmten literarischen Richtung und zwingende bzw. weniger zwingende Gattungsbzw. Textsortenvorschriften sowie die Selbstakzeptanz des Schriftstellers. Wobei der Schriftsteller als ein mimetischer Autor (seit der Antike stellt die Kunst die Wirklichkeit nachahmend dar) oder als ein moderner, Bruchstücke der Wirklichkeit darstellender Autor bzw. ein Autor des Bewusstseinsstroms gilt. Eine weitere Betrachtungsweise, die für das angesprochene Thema relevant ist, ist die Betrachtung der r e a l oder fikti v dargestellten Wirklichkeit. Dabei wird nicht von der Triade nach Wolfgang Iser (1991) ausgegangen: Das Reale, das Fiktive und das Imaginäre, sondern die Verschmelzung vom Fiktiven und Imaginären wird in der Darstellungsweise des Autors als die Textqualität F ik ti o n a lit ä t (Rühling 1997: 29) bevorzugt. Da der Reiseroman zur übergeordneten Größe R e i s e lit e r a tur gehört, trägt er gemeinsame Züge auch mit den anderen Textsorten dieser übergeordneten Textsortenklasse. Die Reiseliteratur wird zu den ältesten Dichtungsformen der Literatur der Periegese als das Genre der altgriechischen Beschreibungen von Ländern und Kunstdenkmälern gezählt (Wilpert 1964: 570). Diese Art der Reiseliteratur beinhaltet reale Kunstgegenstände und reale Städte bzw. Länder. Bereits in der Antike gab es im Rahmen der Reiseliteratur Reiseführer über reale Gegebenheiten, aber es gab auch die dichterisch ausgestaltete Wiedergabe von Reiserlebnissen und -erfahrungen oder Beschreibung der Zustände in fremden Ländern als unterhaltender Reiseroman bis zum humoristisch-satirischen, utopische Zustände schildernden Staatsroman oder der Phantasie freien Lauf lassenden Abenteuer- und Lügenroman (Wilpert 1964: 570). Wilpert nennt die „Odyssee“ Homers als ein leuchtendes Beispiel für die letztere Form, weil darin „dichterische Einheit von Reise und Abenteuer“ (1964: 570) verkörpert wird. Diese Meinung stößt sofort gegen die traditionelle Tradierung von der „Odyssee“ als Epos, obwohl man zugeben muss, dass eine solche Betrachtung neue Seiten dieses Werkes zeigt. Um den Einfluss der Textsortenklasse R e i s e lit e r a tur auf den Reiseroman zu skizzieren, ist es wichtig, diesen Begriff in Bezug auf seine Konstituenten zu <?page no="129"?> Der Textsortentyp Reiseroman aus interkultureller Perspektive 119 prüfen. Tabelle 1 illustriert die Vielfalt der Formen, die die Reiseliteratur ausmacht. reale Welt fiktive Welt bzw. teilweise fiktive Welt Reiseführer: Orientierungs-, Besichtigungs-, Hintergrund-, Ratgebertexte (Fandrych/ Thurmair 2011: 53f.). Wissenschaftliche Reisebeschreibungen Reiseroman ↔ Serie (Sammlung) von Reiseerzählungen, Gedichte über Reiseerlebnisse Thematische Vielfalt: Führer für Kunst und Archäologie; Wandern und Radwandern; Kontinente; Länder, Städte und Regionen; Zoos u.a.m. Mischformen: Robinsonade, See-, Ritter-, Schelmen-, tagebuchähnlicher Reiseroman, utopischer oder staatsphilosophischer Roman, Lügen-Reiseroman, Jugendliteratur über exotische Länder. Tab. 1: Reiseliteratur über reale und fiktive Welten bzw. teilweise fiktive Welten Reiseführer nehmen durch die Wesenszüge ihrer typologischen Breite einen wesentlichen Einfluss auf den Reiseroman. Fandrych und Thurmair unterscheiden Orientierungstexte, Besichtigungstexte, Hintergrundtexte und Ratgebertexte. Als O ri e nti e r u n g s t e xt e bezeichnen sie Texte, deren textuelle Struktur thematisch bestimmt ist - es findet sich in loser Abfolge ein Panorama an Themen, die insgesamt für geeignet gehalten werden, das Reiseziel als lohnend darzustellen und die Erwartungen an besondere touristische Attraktionen und praktische Erfordernisse zu steuern (Fandrych/ Thurmair 2011: 58). Solche Textstellen sind im Reiseroman vorhanden und zwar in einer umgewandelten Form, in der der Autor seine Reiseziele artikuliert, seine Wahl des Kontinents, Landes bzw. Ortes begründet, aber dabei seine persönlichen Eindrücke und Meinungen in den Vordergrund rückt. Das Besondere an den B e s i c hti g u n g s t e xt e n ist, dass sie „eine Rezeption sowohl vor als auch während der Besichtigung ermöglichen“ und „eine genauere Beschreibung touristischer Ziele verschiedenster Art“ geben: Neben Weg- und Routenbeschreibungen finden sich Beschreibungen von bestimmten Objekten (Gebäuden und Gebäudeinterieurs, Museen und Kirchen, Läden, diver- <?page no="130"?> Svitlana Ivanenko 120 sen Objekten etc.) sowie von Landschaften und Naturereignissen“ (Fandrych/ Thurmair 2011: 58f.). In Reiseromanen bzw. in Reisetagebüchern kommen auch Abschnitte vor, die zum Teil den Besichtigungstexten ähneln. Als Beispiel dafür wären Darstellungen des Amphitheaters von Verona bei Johann Wolfgang von Goethe in seiner „Italienischen Reise“ und bei Heinrich Heine in seiner „Reise von München nach Genua“, wobei zu betonen ist, dass Goethes Text mehr ein Besichtigungstext ist, als der Text Heines, weil Goethe (1993: 303f.) das Amphitheater zwar mit knappen Worten umreißt, aber trotzdem mehr beschreibt: Das Amphitheater ist also das erste bedeutende Monument der alten Zeit, das ich sehe, und so gut erhalten! Als ich hineintrat, mehr noch aber, als ich oben auf dem Rande umherging, schien es mir seltsam, etwas Großes und doch eigentlich nichts zu sehen. Auch will es leer nicht gesehen sein, sondern ganz voll von Menschen, wie man es neuerer Zeit Joseph dem Zweiten und Pius dem Sechsten zu Ehren veranstaltet. […] Die Simplizität des Oval ist jedem Auge auf die angenehmste Weise fühlbar, und jeder Kopf dient zum Maße, wie ungeheuer das Ganze sei. Jetzt, wenn man es leer sieht, hat man keinen Maßstab, man weiß nicht, ob es groß oder klein ist. Wegen der Unterhaltung dieses Werkes müssen die Veroneser gelobt werden. Es ist von einem rötlichen Marmor gebaut, den die Witterung angreift, daher stellt man der Reihe nach die ausgefressenen Stufen immer wieder her, und sie scheinen fast alle ganz neu. Eine Inschrift gedenkt eines Hieronymus Maurigenus und seines auf dieses Monument verwendeten unglaublichen Fleißes. Von der äußern Mauer steht nur ein Stück. Die untern Gewölbe, die an den großen Platz, Il Bra genannt, stoßen, sind an Handwerker vermietet, und es sieht lustig genug aus, diese Höhlungen wieder belebt zu sehen [Hervorhebungen: S.I.]. Bei Heine (1977: 228ff.) ist der Anteil der beschreibenden Elemente geringer. Er vermittelt verstärkt eigene Impressionen vom Bauwerk, die er bei seinen Betrachtungen gewonnen hatte: Über das Amphitheater von Verona haben viele gesprochen: man hat dort Platz genug für Betrachtungen, die sich nicht in den Kreis dieses berühmten Bauwerks einfangen ließen. Es ist ganz in jenem ernsten tatsächlichen Stil gebaut, dessen Schönheit in der vollendeten Solidität besteht und wie alle öffentlichen Gebäude der Römer, einen Geist ausspricht, der nichts anders ist als der Geist von Rom selbst. […] Als ich das Amphitheater besuchte, wurde just Komödie darin gespielt; eine kleine Holzbude war nämlich in der Mitte errichtet, darauf ward eine italienische <?page no="131"?> Der Textsortentyp Reiseroman aus interkultureller Perspektive 121 Posse aufgeführt, und die Zuschauer saßen unter freiem Himmel, teils auf kleinen Stühlchen, teils auf hohen Steinbänken des alten Amphitheaters. […] Daher die Kleinlichkeit, die wir da entdecken, wo ihr Privatleben sich ausspricht; und Herkulanum und Pompeji, jene Palimpsesten der Natur, wo jetzt wieder der alte Steintext hervorgegraben wird, zeigen dem Reisenden das römische Privatleben in kleinen Häußchen mit winzigen Stübchen, welche so auffallend kontrastieren gegen jene kolossalen Bauwerke, die das öffentliche Leben aussprachen, jene Theater, Wasserleitungen, Brunnen, Landstraßen, Brücken, deren Ruinen noch jetzt unser Stauen erregen. […] Ich ging noch lange umher spazieren auf den höheren Bänken des Amphitheaters, zurücksinnend in die Vergangenheit. Wie alle Gebäude im Abendlichte ihren inwohnenden Geist am anschaulichsten offenbaren, so sprachen auch diese Mauern zu mir, in ihrem fragmentarischen Lapidarstil tiefernste Dinge; sie sprachen von den Männern des alten Roms, und mir war dabei, als sähe ich sie selber umherwandeln, weiße Schatten unter mir im dunkeln Zirkus [Hervorhebungen S.I.]. Hint e r g r u n dt e xt e stellen das Hintergrundwissen zum Reiseziel bereit. Das kann „geschichtlicher, kultureller, anthropologisch-gesellschaftlicher, geographischer, wirtschaftlicher oder politischer Natur“ sein. Die Funktion solcher Texte ist konstatierend-assertierend (Fandrych/ Thurmair 2011: 62). Jeder Autor des modernen Reiseromans vermittelt dem Leser auch das von ihm gewonnene Hintergrundwissen zur Reise, Reisestationen und Begleiterscheinungen verschiedenster Art; beispielsweise Hotelpreise, Möglichkeiten, billig zu wohnen und Reisegeld sehr sparsam auszugeben sowie die besonderen Kommunikationsrituale in bestimmten Ländern. R a t g e b e rt e xt e versuchen, die Leser mit der wichtigsten praktisch relevanten Information zu versorgen und besonders häufig auftretende Fragen und Problemstellungen, die im weitesten Sinne im Zusammenhang mit der Reise auftreten können, zu antizipieren und in realistischer und praktikabler Weise Lösungsvorschläge und Handlungspläne bereitzustellen (Fandrych/ Thurmair 2011: 63). Eine strenge Linie zwischen einem Hintergrundtext und einem Ratgebertext ist nicht immer eindeutig zu ziehen, weil Hintergrundwissen die Basis bildet, um Ratschläge zu geben. Es gibt aber in den Reiseromanen Textstellen, in denen der Autor auf Grund eigener Erfahrungen dem Leser einen Rat gibt, der auch explizit als Rat ausgedrückt und als solcher rezipiert wird (beispielhaft sind in dieser Hinsicht die Reiseromane von Irena Karpa und Philipp Mattheis). Eine solche Subtextunterscheidung im Reiseführer als Textsorte über die reale Welt ist insofern für literarische Texte wichtig, weil in vielen Reiseroma- <?page no="132"?> Svitlana Ivanenko 122 nen solche Informationen vorkommen und einige Textpassagen formen. Es sei dies bezüglich der Roman von Bernhard Kellermann „Reisen in Asien“ (1961) angeführt, in dem der Autor in fiktionaler Darstellung der Wirklichkeit asiatische Bahnhöfe beschreibt (Besichtigungstext), Frauen von Ladak charakterisiert (Hintergrundtext) oder Kaufleuten hinsichtlich des Vorhandenseins deutscher Waren in bestimmten Gegenden, die er selbst besucht hat, Ratschläge gibt (Ratgebertext). Der Reiseroman hat wie die gesamte Reiseliteratur seine eigene Geschichte in jeder Kultur. Wie bereits erwähnt, können die ältesten Beispiele von Reiseromanen bereits in der Antike bei den Griechen belegt werden. Um das Betrachtungsobjekt genauer zu spezifizieren, benutze ich die folgende Definition für den Reiseroman: Unter einem Reiseroman wird hier der Textsortentyp des R o m a n s verstanden, der auch von der Textsortenklasse R e i s e lit e r a tur konstituiert wird, in dem eigene Reiseerlebnisse des Autors verwertet werden, wobei die Reise (Abreise, Reisestationen und Rückkehr) als Ausgangspunkt für die literarische Reflexion betrachtet wird, die reale und fiktive Welt miteinander verbindet. Obwohl Campbell (2002: 263) meint, dass solche Reisekomponenten wie „home, depature, destination, the liminal space between“ ihre Referenz für die erlebten Erfahrungen der meisten Menschen, die keine Touristen sind, verloren haben, kann man sie in Bezug auf moderne Reiseromane nicht wegdenken, sie gehören auch heute noch zu den konstituierenden Merkmalen dieser Art der Reiseliteratur. Die Autorin legt ihr Augenmerk auf die wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Reiseliteratur und verbindet sie mit der postkolonialen Literatur, die auch ein Teil der Abenteuerliteratur ist, sowie mit Gender Studies und gibt an, dass sie nicht genügend den Tourismus als eine der Reiseformen und seiner literarischen Umsetzung präsentiert hat (Campbell 2002: 274). Heute verdanken wir die Entstehung neuer Werke der belletristischen Reiseliteratur in erster Linie den Individualreisenden, die ihre Reiseerlebnisse in Form von Reiseromanen festhalten und das breite Publikum mit eigenem Blick auf verschiedene Länder und Völker erfreuen. Der Reiseroman ist für die interkulturelle Analyse in zweifacher Hinsicht interessant, einerseits durch die Zugehörigkeit der Autoren zu verschiedenen Kulturen und andererseits durch die Rezeption fremder oft exotischer Kulturen von diesen Autoren. Der Leser bekommt dadurch einen Einblick in die Tradierung einer gleichen bzw. ähnlichen Wirklichkeit (die auch kulturspezifisch ist und die die dritte Konstante beim Vergleich ausmacht) durch Vertreter zweier bzw. mehrerer Kulturen. <?page no="133"?> Der Textsortentyp Reiseroman aus interkultureller Perspektive 123 2 Der Reiseroman aus historischer Sicht Wenn man den Reiseroman aus historischer Sicht betrachtet, so ergibt sich, dass diese Textsorte in verschiedenen Kulturen zu unterschiedlichen Zeiten von Schriftstellern gehandhabt wird. Das G e m e in s a m e in der Entwicklung des Reiseromans besteht m.E. darin, dass Reiseromane zeitlich gesehen nach der wissenschaftlichen Reiseliteratur entstanden sind. Nach den wissenschaftlichen Expeditionen, die die Welt erkundeten, erschienen Reiseberichte, die das Interesse der Öffentlichkeit für unbekannte Länder erweckten. Schriftsteller beschafften Informationen über die Welt in der überwiegenden Mehrheit nach Wissenschaftlern und vermittelten der breiten Öffentlichkeit ihren Blick auf ferne Länder. In Deutschland gab es im 18. bis 19. Jh. wissenschaftliche Veröffentlichungen sowohl von deutschen Autoren als auch in Übersetzung, die über alle Kontinente Berichte erstatteten. Die Literaturwissenschaft bekräftigt diesen Gedanken dadurch, dass sie fürs 19. Jh. eine „Trennung zwischen ethnographischer, geographischer oder naturwissenschaftlicher Fachliteratur sowie Reisehandbüchern („Baedecker“) einerseits und dem Reiseroman als Kunstprosa andererseits registriert“ (Metzler Lexikon Literatur 2007: 641). Als Beispiele für herausragende Wissenschaftler der damaligen Zeit dienen Georg Forster mit seiner in englischer Sprache erschienenen Buchausgabe „A Voyage round the World in His Britannic Majesty’s Sloop Resolution, Commanded by Capt. James Cook, during the Years, 1772, 3, 4, and 5“ (ersch. in London 1777) und Alexander von Humboldt, Autor vieler wissenschaftlicher Publikationen (z.B. „Vues des Cordillères et Monuments des Peuples Indigènes de l’Amérique. 1810-1813. 1803-1806.“ Die Ukraine war im 18. bzw. 19. Jh. kein eigenständiger Staat, aber der Ukrainer Jurij Lysjanskyj (1773-1837) aus Nischyn/ Oblast Tschernihiw, nahm an einer Weltreise als Schiffskapitän im russischen Dienst teil und veröffentlichte 1814 in London in englischer Sprache seinen Bericht „Voyage round the world in the ship ‚Neva‘“ und erst fast zwei Jahrhunderte später schreibt Maxym Kidruk Romane über Gegenden, die Lysjanskyi in seinem Buch als Expeditionsteilnehmer beschrieben hat. Das S p e zifi s c h e in der Entwicklung des Reiseromans besteht aber darin, dass der Prozess der literarischen Rezeption einer anderen Welt mit dem Prozess der Rezeption der eigenen Welt des Autors eng verbunden ist. Wenn in Deutschland eine reiche Tradition diesbezüglich seit dem 19. Jh. besteht (einzelne Werke, wie „Die Reise in die mittäglichen Provinzen Frankreichs“ von Moritz August von Thümmel, gab es bereits im 18. Jh.), so kann man in der ukrainischen Literatur die Erscheinung des Reiseromans erst in den 2000er Jahren verzeichnen. Diesen Umstand kann man dadurch erklären, dass Deutsch- <?page no="134"?> Svitlana Ivanenko 124 land im 19. Jh. nach seiner Einigung strebte und sich in der Gesellschaft eine feste Vorstellung vom deutschen Staat entwickelte, die von Fallersleben im Deutschlandlied 1841 in Worte gefasst hat, obwohl Deutschland immer noch aus ca. 355 Fürstentümern bestand. Im Jahr 1871 hat Otto von Bismarck den Einigungsprozess von oben vollzogen und dadurch einen Rahmen für den deutschen Staat geschaffen, nämlich in Form eines Kaiserreichs. Ein deutscher Autor konnte eine Reise ins Ausland unternehmen und sie vom Standpunkt eines Deutschen in einem Reiseroman verwerten, was auch sehr intensiv im 19. Jh. mit der Entstehung besserer Straßen und Fahrzeuge geschah (bekannte Autoren sind Friedrich Gerstäcker, Ferdinand Gregorovius, Heinrich Heine, Johann Georg Kohl, Heinrich von Maltzan, Karl May, Balduin Möllhausen, Ludwig Passarge, Hermann von Pückler-Muskau, Johann Gottfried Seume, Julius Rodenberg, Alexander Ziegler, u.v.a.). Deutsche Reiseromane des 19. Jh. behandelten einerseits die Schönheit der Natur, andererseits die sozialen und politischen Verhältnisse sowie die persönlichen Erlebnisse, Betrachtungen und Empfindungen der reisenden Schriftsteller. Der Reiseroman dieser Zeit entsprach am ehesten dem realistischen Paradigmenwechsel in der Literatur von dem die Literaturkritik spricht (Simons 2011: 291). Die Akzentuierung des jeweiligen Themenbereiches in einem Werk beeinflusste in einem beträchtlichen Maße die Form, die dadurch mehr oder weniger belletristische Züge annahm. Die Ukraine als unabhängiger Staat existierte als Kyjiwer Rus seit dem 9. Jh. bis zur Eroberung durch Dschingis Khan 1240 und eine kurze Zeit nach ihm als Fürstentum Halytsch-Wolhynien bis zum 14. Jh., dann von 1648-1654 als Kosakenstaat bis zum Konföderationsvertrag mit Russland. Nach der Revolution 1917 bis zum Jahr 1920 war dies die Ukrainische Volksrepublik. 1991 wurde die ehemals sowjetische Ukraine unabhängig, somit konnten sich Ukrainer als Vertreter ihrer Nation erst zu diesem Zeitpunkt andere Länder anschauen und darüber schreiben. Ansätze für eine Reiseliteratur gab es aber in der Geschichte der ukrainischen Literatur schon im 19. Jh. Es muss hervorgehoben werden, dass der bekannteste ukrainische Dichter Taras Ševčenko (1814-1861) seine Rezeption von Kos-Aral, wohin er als Soldat durch seine Mitgliedschaft in der später verbotenen Kyrill-und-Methodius-Gesellschaft mit Schreib- und Malverbot verbannt wurde, auf einem geheimen Wege in Versform festgehalten hat. Aral war für ihn allerdings die Fremde, die er nicht freiwillig gesucht hat, deshalb vermitteln seine Verse ein pessimistisches Bild (1972: 437): <?page no="135"?> Der Textsortentyp Reiseroman aus interkultureller Perspektive 125 Kos-Aral (1848) Und die Wellen sind verschlafen, und der Himmel ungewaschen, Und am Kai hin - hin wie betrunken biegt sich ohne Wind das Schilf. 1 Der Aralsee ist in seinen Augen unbedeutend, das Steppengrass gelblich und der einzige Gedanke, der ihn quält, ist, wie lange er noch den Soldatendienst dort tätigen muss. Eine ganz andere Stimmung stellen wir allerdings in der „Reise ans Meer“ (1888) der namhaften ukrainischen Dichterin Lesja Ukrajinka (1871-1913) fest. Diese Reise wird auch in Versen beschrieben, zeugt aber vom wiederholten Ansatz für die Reiseliteratur. Lesja Ukrajinka hatte Tuberkulose und hoffte, durch die Reise zur Kur auf die Krim und später in den Kaukasus gesund zu werden (1981: 75): Synje more čudovo tak hraje, Das blaue Meer spielt so wunderbar, Joho sonečko pestyt' kochano, Die Sonne liebkost es wahr, Krasnym-jasnym prominnjam vitaje Begrüßt es mit rot-klaren Strahlen. Sie sieht den Schiffsweg als doroha blakytno-perlysta (‚perlenblau‘). Einzelne Gedichte von ihr aus der Zeit ihres Aufenthalts auf der Krim und im Kaukasus können als Ansätze für eine ukrainische Reiseliteratur betrachtet werden, aber eben nur als Ansätze. Eine Reisebeschreibung in Prosa hat seinerzeit einer der bedeutendsten ukrainischen Avantgardisten, Majk Johansen (1896-1937), geschrieben. Sein Reiseroman, veröffentlicht 1928, hat den langen Titel „Podorož učenoho doktora Leonardo i joho majbutn ʼ oji kohanky prekrasnoji Alčesty u Slobožans ʼ ku Švejcariju“ (‚Die Reise des Gelehrten Dr. Leonardo und seiner künftigen Geliebten, der wunderschönen Al ʼ česta in die Slobožans ʼ ka Schweiz‘). Der Roman handelt, wie der Autor selbst schrreibt, von echter Natur und konstruierten Gestalten. Als Vertreter der ukrainischen Avantgarde präsentiert Johansen in diesem Roman die charakteristischen Eigenschaften der Moderne, nämlich eine intensive Metaphorik, eine ausgeprägte ästhetische Komponente (der Dichter soll nach den Gesetzen des Schönen schreiben), Kritik an der bestehenden Gesellschaft (im Vordergrund sollen Rechte eines Individuums stehen und nicht einer abstrakten Gesellschaft, das Dramatische des Individuums soll dargestellt 1 Alle Beispiele aus den Werken ukrainischer Schriftsteller wurden von der Autorin ins Deutsche übersetzt. <?page no="136"?> Svitlana Ivanenko 126 werden) (Kuzmenko 1997: 71f.) und esoterische Elemente als Ausdruck des Unerklärlichen in dieser Welt. Johansen schreibt am Anfang seines Reiseromans sarkastisch über die Reisen der „Sowjetmenschen“ ins Ausland, die die proletarische Bewegung dort stimulieren, indem sie dem Fahrer zwei Mark geben, damit er schneller fahre. Sie kehren zurück in europäischen Hosen, deren Taschen voller Kondome seien (Johansen 1930: 4). Dann philosophiert er über den Unterschied zwischen einer schnellen und einer langsamen Reise, denkt über eine Flug-, Eisenbahn- und Fahrradreise sowie eine Wanderung nach und beschreibt die Schönheit der ukrainischen Steppe, „die wie eine Scheibe rund und unendlich ist und man muss bis zu Mittag in der Steppe laufen, um Millionen ihrer trunkenen Stimmen zu erhören“ (1930: 5). Der Roman trägt in seinem Titel eine Anspielung auf die Schweiz. Dies ist auf die Schönheit der hügeligen, bewaldeten Ufer des Flusses Siwerskyj Donez zurückzuführen. Vom Boot aus scheinen diese Hügel noch höher zu sein. Johansen ist fasziniert von der schlagartigen Verwandlung der Landschaft von der Steppe zum Wald und den Hügeln. Das Wasser wird dunkel, ruhig und tief. Der Fluss wird viermal so breit, aber drei Viertel des Wassers stehen im Schatten der bewaldeten Berge. Hätte man Augen in der dreizehnten Biegung des Flusses zugemacht, hätte man das Gefühl, dass man zusammen mit dem Boot ins andere Klima gebracht wurde, dreizehn Grad nördlicher. Hier ist es kühl und feucht. Bergahorne und Eichen sind zum dunklen Fluss heruntergekommen und haben ihn mit Fransen ihrer Ärmel gedeckt. […] Eine schwere Wolke legte am großen Fluss an, und warf am Wald Anker (Johansen 1930: 24). Johansen übt auch Kritik an der Gesellschaft, indem er über die Rolle des Proletariats als Führer und Lehrer in der modernen Welt ironisch und sarkastisch feststellt, dass er selbst als ein „schwacher und launenhafter“ Intellektueller es sich nie anmaßen würde, „das Proletariat zu lehren, geschweige denn sein Führer zu sein“ (1930: 6). In ein paar Sätzen stellt Johansen dar, wie verheerend sich die organisierte Hungersnot in der Ukraine auf den Menschen als Individuum auswirkt. Der Waldarbeiter verscheucht seine Familie aus dem Haus, weil das, was er von der Ernte in seinem Gemüsegarten hat, nur für ihn allein ausreicht. Die neue Gesellschaft gibt einem gesunden Menschen keine Möglichkeit, genug zu verdienen, um normal zu leben, deshalb schneidet er seinem älteren Sohn ein Bein ab, damit dieser als Invalide keine Steuern zahlen muss und Unterstützung vom Staat bekommt. Seine ehemalige Ehefrau verdient ihren Lebensunterhalt <?page no="137"?> Der Textsortentyp Reiseroman aus interkultureller Perspektive 127 damit, Heu im frühen Frühling doppelt so teuer zu verkaufen wie sie es im Herbst gekauft hat. Der jüngere Sohn bleibt obdachlos und wird zum Vagabunden. Sarkastisch zeigt Johansen die Misere der zwischenmenschlichen Beziehungen in der „neuen“ Welt. Ein bedeutungsloses Delikt kann dem Menschen das Leben kosten, weil die Gesellschaft auf der Jagd nach dem Individuum ist. Als Beispiel führt er eine Episode mit einem Hasen an, der zur Zeit des Hasenjagdverbots Beute eines Jägers wird. Der Jäger wird dafür von den Dorfmännern erschlagen (1930: 11ff.). Kritisch stellt der Autor auch das Schaffen seiner Literatenkollegen dar. Er betont, dass es in der Ukraine sehr viele Prosalyriker gebe, die Gedichte schreiben, die sich nicht von Prosa unterscheiden, oder sie schreiben Prosa, die wie sehr schlechte Gedichte wirke (1930: 24). Landschaftsbeschreibungen sind bei Johansen stark metaphorisch geprägt. In der von ihm dargestellten Reise strebt er danach, die Landschaften so authentisch wie möglich wiederzugeben. Ihre Schönheit macht den Inhalt der gesamten Reise aus: Und über Leonardo schwebten Schwalben. Wie die Tage seiner langen Reise sausten sie vor seinen Augen mit spitzen Flügeln vorbei, hell, und es schien, dass keine von ihnen wieder zurückkehrte, sondern aus einer weißen Wolke immer neue Legionen von warmen Schneeflocken ausgeschüttet wurden und sie fielen vor seinen Augen auf den Fluss (1930: 23). Da die Menschen nicht so vollkommen wie die Natur seien, zeigt Johansen ihre Schwächen mit Ironie, Humor und Sarkasmus auf, was ihm 1937 zum Verhängnis wird. Er wird von der Sowjetregierung für seinen ukrainischen Nationalismus zum Tode verurteilt und am 27. Oktober 1937 erschossen. Der Reiseroman von Majk Johansen kann als Mischform gesehen werden, weil er das Reale mit dem Fiktionalen verbindet und dabei die Form des Abenteuerromans nutzt, wobei er außerdem Gedichte in einem Prosakontext einbindet. 3 Der moderne Reiseroman Moderne Reiseromane berichten v.a. von fremden Ländern und Völkern, außerordentlichen Vorfällen sowie gefährlichen Situationen. Dadurch wecken sie die Neugier der Leser in Deutschland und in der Ukraine sowie in anderen Län- <?page no="138"?> Svitlana Ivanenko 128 dern auf Nachbarstaaten sowie ferne Gegenden unseres Planeten und erfüllen dabei die Unterhaltungs- und Belehrungsfunktion. Auf dem deutschen Büchermarkt werden Hunderte von Reiseromanen jedes Jahr veröffentlicht. Erfolg haben besonders die Autoren, die eine scharfe Beobachtungsgabe und einen guten Stil haben. Nicht zuletzt muss auch der Zeitgeist beachtet werden, d.h. der Autor sollte sich unbedingt die Frage stellen, wie gefragt diese Art von Literatur ist und was das Publikum in einer bestimmten Zeit interessieren könnte? Heutzutage stehen „die Wahrnehmungsweisen von Eigen- und Fremderfahrung“ (Radanielina 2009: 201) im Fokus der Leser, aber auch der Forscher, das heißt Erfahrung der Andersartigkeit und möglicherweise des Selbst eines reisenden Autors. Als Meister des Gegenwartsreiseromans in der ukrainischen Literatur gilt Maksym Kidruk 2 (Jahrgang 1984), weil er einerseits als erster ukrainischer Bürger im unabhängigen Staat Ukraine seine Reiseerlebnisse in Form eines Reiseromans festgehalten hat und andererseits, weil er einen lebendigen, zum Teil heiteren und mit Selbstironie geprägten Stil hat. Um sachgemäß seine Romane mit den Romanen deutscher Autoren zu vergleichen, wird in diesem Beitrag von folgenden Grundsätzen ausgegangen: Für eine sachliche interkulturelle Analyse literarischer Texte ist es wichtig, dass sie zum selben Textsortentyp gehören. Ferner sollten die zu vergleichenden Texte in derselben Zeit erschienen sein und möglicherweise die gleichen bzw. annähernd gleichen Objekte darstellen. Ihre Autoren sollten derselben Generation angehören und ihre Werke zur Frauenbzw. Männerliteratur gehören. Das nächste Kriterium bezieht sich auf die Unterscheidung von Inhalt und Form und dementsprechend die Feststellung kulturspezifischer Inhaltsdarstellung sowie der sprachlichen Darstellung dieses Inhalts zu Analysezwecken. Der Reiseroman von Ulrich Jackwitz „Die letzten Menschenfresser? “ (2010) handelt von einer Weltreise von Nizza über die Karibik nach Asien, ins Heilige Land und wieder zurück nach Europa, während im Reiseroman von Maksym Kidruk „Podoroš na pup Zemli“ (‚Die Reise zum Nabel der Welt‘) (2010) eine Reise durch Südamerika und zur Osterinsel dargestellt ist. Beide Romane 2 Als Ingenieur hat Kidruk 2007 ein schwedisches Promotionsstipendium erhalten und ist in Stockholm von anderen Promovierenden ermutigt worden, Reisen in den Ferien zu unternehmen. Seitdem ist er in mehr als 30 Ländern gewesen und schreibt nun anstatt seiner Dissertation Reiseromane. Seine „Meksykans’ki chroniky“ (‚Mexikanische Chroniken‘) landeten auf dem 2. Platz im Wettbewerb „Das Buch des Jahres“ 2010 in der Ukraine. In letzter Zeit schreibt er Technothriller, beispielsweise „Bot“ (2013) und „Tverdynja“ (‚Bollwerk‘) (2013). <?page no="139"?> Der Textsortentyp Reiseroman aus interkultureller Perspektive 129 präsentieren exotische Orte und bringen den Lesern fremde Kulturen nahe. Allerdings hat die Analyse des Romans von Ulrich Jackwitz gezeigt, dass der Autor ungeachtet seiner Berliner Geburtsortes offenbar einen Migrationshintergrund hat, wobei sein Satzbau, zum Teil der Gebrauch von phraseologischen Wendungen und die Verbindung der gewählten Ausdrucksweise mit der Umgangssprache als Argumente für eine solche Annahme betrachtet werden können. Es war problematisch, den Stil seines Reiseromans zu untersuchen, weil er viele sprachliche Fehler und stilistische Ungereimtheiten enthält. Jackwitz wählt in seinem Buch eine Mischung aus Tagebuch und Roman, was sich in einem Chaos von Zeitformen (Präsens und Präteritum) widerspiegelt. Die Botschaft an seine Leser ist, dass die Bevölkerung in Asien und Afrika sehr freundlich ist, seiner Meinung nach viel freundlicher als in Deutschland. Da er eine Kreuzfahrtweltreise gemacht hat, charakterisiert er auch die Leute auf dem Schiff. Am Anfang stört ihn sehr, dass der Schiffskapitän, der Steuermann und viele Angestellten auf dem Schiff aus der Ukraine sind. Gegen Ende des Buches ändert sich seine Einstellung zu den Ukrainern zum Positiven. Der Autor beschreibt in seinem Reiseroman eigentlich Belanglosigkeiten, z.B. dass ein reicher Russe, der an allen Fingern dicke Goldringe und am Hals eine dicke Goldkette hat, die ganze Zeit einen Sportanzug und eine Baseballkappe trägt usw. Interessant für den Vergleich beider Romane finde ich die unterschiedliche Rezeption desselben Ortes, den sowohl Jackwitz (2008) als auch Kidruk (2009) auf ihren Reisen gesehen haben, nämlich die Osterinsel. Ulrich Jackwitz gibt allgemeine Informationen über die Osterinsel, die man in jedem Reiseführer nachlesen könnte (Besichtigungstext). Ihn beeindruckt auch sehr die Tatsache, dass er zur gleichen Zeit mit dem berühmten englischen Physiker Stephen Hawking auf der Osterinsel ist. Er veröffentlicht über seinen Aufenthalt auf der Osterinsel in seinem Buch je zwei Fotos mit Moais (die kolossalen Steinfiguren) und von Hawking. Für Kidruk ist die Osterinsel der Ort, wo Thor Heyerdahl war und seine Impressionen in seinen Werken verwertet hat. Kidruk formuliert die Botschaft an seine Leser sehr prägnant: Er meint, dass die Geschichte der Osterinsel nicht nur die Geschichte einer der geheimnisvollsten Zivilisationen der Welt sei, sondern auch als eine Warnung verstanden werden könnte, als Beispiel einer negativen Entwicklung für die folgenden Generationen. Die Rapa-Nui-Zivilisation habe sich Idole aufgebaut, deren Handhabung die gesamten Ressourcen der Insel aufgebraucht habe. Am Ende hatten die Bewohner der Osterinsel keine Wahl: Sie blieben allein vom Stillen Ozean umgeben, waren ein winziger Punkt im Weltmeer, und hatten keine Möglichkeit, irgendwohin zu fahren <?page no="140"?> Svitlana Ivanenko 130 (Kidruk 2010: 203). Kidruk meint, dass wir auf der Erde genauso ein Punkt im All sind. Unsere Idole seien keine Moais sondern teure Autos, schicke Häuser, Privatflugzeuge, Luxussegelboote, Fernseher, Computer, zu viel Kleidung usw. Irgendwann werden alle Ressourcen der Erde aufgebraucht sein und dann gebe es keinen Ort im All, zu dem wir fliegen könnten, so Kidruk (2010: 214). Für den 74-jährigen Jackwitz ist die Osterinsel eine Station von vielen auf seiner Weltroute. Er hat dieser Insel drei Seiten in seinem Buch gewidmet. Für den 25-jährigen Kidruk ist die Osterinsel ein Wendepunkt in seinem Leben. Eben dort beschließt er sein Promotionsstudium in Stockholm aufzugeben und sein Leben dem Reisen und der schriftstellerischen Tätigkeit zu widmen. Für ihn ist die Osterinsel der Nabel der Welt. Seine Erlebnisse auf dieser Insel beschreibt er auf 173 Seiten und vertritt die Meinung, dass wir in unserer Entwicklung auf der Erde an einem Punkt mit einer unmöglichen Umkehr gelandet sind. Wenn wir unsere Lebensweise nicht radikal ändern, werde der gesamte Planet das Schicksal der Rapa-Nui-Zivilisation teilen. Der Stil von Kidruk ist bildhaft, weil er seiner Bewunderung für eine andere Welt Ausdruck verleihen will und dabei nicht nur treffende Wortwahl, sachlich-konkretisierende Epitheta, rational-präzisierende Vergleiche sondern auch Metapher, Metonymie, wertende Epitheta, metaphorische Vergleiche u.a. gebraucht. Er beschreibt den nicht so breiten Strand von Anakena, wo der größte Ahu (Zeremonialplattform) - Ahu Nau Nau steht, folgenderweise: An den Seiten der Bucht erhoben sich Felsenhügel, die Anakena vor Winden aus Ost und West schützend. Dank der Hügel blieb das vom Sand heller gewordene blaue Wasser des Meerbusens ständig unbeweglich, wie Glas (Kidruk 2010: 170). Kidruk schreibt mit Humor über seine eigenen Abenteuer, aber auch über die Abenteuer anderer. 3 3 Beispielsweise schildert er eine Geschichte über den amerikanischen Kapitän Benson, der Anfang des 20. Jh. mit seinem Handelsschiff „El Dorado“ Schiffbruch erlitten habe und in einem Rettungsboot mit elf Matrosen nach neun Tagen die Osterinsel erreichte, jedoch auf Grund des felsigen Ufers erst nach 48 Stunden an Land gehen konnte. Benson beschloss, nachdem er vier Monate auf Hilfe gewartet hatte, das Rettungsboot zu reparieren und nach Tahiti aufzubrechen. Die Reise von 2.000 Meeresmeilen dauerte 16 Tage und führte sie zur Insel Mangareva, wo sie zwei Tage lang blieben. Nach elf weiteren Tagen legten sie in Papeete auf Tahiti an. Mister Richards, der damalige britische Konsul von Tahiti, sei fast vom Stuhl gefallen, als ihm auf seine Frage, woher zum Teufel die Amerikaner seien, Benson ruhig „Von der Osterinsel, Sir“ geantwortet habe (Kidruk 2010: 169). <?page no="141"?> Der Textsortentyp Reiseroman aus interkultureller Perspektive 131 Der Reiseroman von Kidruk gehört zu den modernen Romanen, die von Backpackern weltweit geschrieben werden, deshalb lohnt sich ein Vergleich seines Romans mit dem Reiseroman von Philipp Mattheis 4 „Banana Pancake Trail“ (2012). Beide Autoren gehören derselben Generation an: Mattheis ist 1979, Kidruk 1984 geboren. Die Reisen, die sie für ihre Romane verwertet haben, haben beide im gleichen Alter gemacht: Kidruk mit 25 und Mattheis mit 26 Jahren. Die Art zu Reisen, als Backpacker, und das Reiseziel Lateinamerika (beispielsweise Mexiko) vereint ebenfalls beide Autoren. Für Mattheis ist es wichtig, zu zeigen, dass eine sogenannte individuell geplante Reise, die alle Backpacker nach den Hinweisen des „Lonely Planet“ (der bekannte Reiseführer) vorbereiten, eigentlich „der vollste Trampelpfad der Welt ist“. Für Kidruk gab es eine sehr starke individuelle Motivation für die Mexikoreise, die er speziell so geplant hat, dass er das ganze Land durchquert (außer den Gegenden, die von der Drogenmafia kontrolliert werden). Er bewundert das Land ohne Drogenkartelle, besucht Freunde, die er in Stockholm kennengelernt hat, die Pyramiden der Maya, den Dschungel und lernt interessante Leute kennen. Durch diese Reise kommt er zu der Erkenntnis, dass die Nachkommen der Mayas unter uns in der heutigen Welt existieren. Sie mussten aber ihre Identität so viele Jahrhunderte verheimlichen, dass sie sich auch heute als Mexikaner ausgeben. Kidruk erzählt sowohl von den Strapazen und komischen Situationen der Reise, gibt dabei aber auch Informationen zu historischen Denkmälern (Elemente des Besichtigungs- und des Hintergrundtextes sind harmonisch ins Textganze eingebaut). Mattheis strebt in seinem Roman in erster Linie danach, die Leute darzustellen und sie zu charakterisieren, zum Beispiel wie sie zu anderen Backpackern stehen und wie sie sich selbst definieren. Die Maya-Pyramiden werden zwar auch erwähnt, aber nicht beschrieben, weil inzwischen viele Deutsche sie mit eigenen Augen gesehen haben und um gelesen zu werden, muss man, wie ein anderer Backpacker, Sebastian Canaves (2015: 19), schreibt, pointierte Geschichten erzählen. Solche Geschichten handeln von der Selbstfindung der jungen Menschen in dieser Welt. Für einige ist der Backpackerpfad die Möglichkeit, erlebte Traumata zu überwinden und Kraft zu gewinnen, um zu 4 Philipp Mattheis, geb. 1979 in München, studierte Philosophie, von 2008 bis 2011 arbeitete er als Redakteur beim Jugendmagazin der Süddeutschen Zeitung, jetzt.de. Er schreibt für die „Süddeutsche Zeitung“, das „SZ-Magazin“, den „Playboy“, „NEON“ und „Geo Epoche“ und lebt in München und Shanghai. <?page no="142"?> Svitlana Ivanenko 132 einem normalen Leben zu finden, andere gleiten in den Drogenkonsum und bleiben in der billigen südostasiatischen Welt (Mattheis 2012). Philipp Mattheis schließt an die Geschichten, die er im Alter von 26 bis 27 Jahren erlebt hat, einige Geschichten an, die zu einer Reise gehören, die er zehn Jahre später nach Thailand gemacht hat. Dabei wirft er die Frage auf, wie der Rucksacktourismus die Länder Südostasiens und Lateinamerikas verändert hat und kommt zum Schluss, dass die Echtheit dieser Länder verlorengegangen ist. Die Tourismusindustrie habe auch dort gesiegt und bereits Luxushotels und Fast-Food-Ketten aufgebaut. Das billige Leben der Rucksacktouristen sei in solchen Ländern zum Teil bereits hinfällig geworden. „Rollkofferleute“ beherrschen heute die bekanntesten Routen aus dem „Lonely Planet“ (Mattheis 2012: 202f.). Der Unterschied in der Rezeption und der Verwertung derselben Wirklichkeit ist darauf zurückzuführen, wie Mattheis selbst darüber schreibt, dass es auf dem „Banana Pancake Trail“ genauso wenige Amerikaner wie Ukrainer gibt. Deshalb lohnt sich für Kidruk die persönliche Beschreibung von Sehenswürdigkeiten aus der exotischen Welt. Seine Sicht auf das Leben, die Kultur und die Geschichte solcher Länder ist bei den Lesern in der Ukraine gefragt. Dazu trägt auch sein Stil bei; Kidruk beschreibt seine Abenteuer in fremden Ländern spannend mit leichtem Humor und Selbstironie. Den Stil von Mattheis prägen dagegen Ironie: „Der Backpacker ist ein Straßenköter, der Urlauber ein überzüchtetes Schoßhündchen“ (2012: 164) und sogar Sarkasmus. Über die Stadt Pattaya in Thailand schreibt er: „Die Stadt ist eine einzige, grell geschminkte Hure“ (2012: 183) und an einer anderen Stelle: „ein modernes Sodom und Gomorrha“ (2012: 177). Einen spannenden, bildlichen und eleganten Stil verwendet ein anderer Backpacker-Autor, Fabian Sixtus Körner, in seinem Roman „Journeyman. 1 Mann, 5 Kontinente und jede Menge Jobs“. Dieser Roman weist einen bedeutenden Unterschied zu anderen zeitgenössischen Reiseromanen dadurch auf, dass es für den Autor wichtig war, das Leben in verschiedenen Ländern der Erde von Innen durch die Arbeit in diesen Ländern kennen zu lernen, und nicht als Außenstehender dieses Leben zu betrachten. Seine Weltreise bezeichnet er als Walz und knüpft dabei an die mittelalterliche Tradition der Wanderschaft an, um sowohl Lebenserfahrungen aber in erster Linie Berufserfahrungen durch „Kurzjobs in Architekturbüros, Werbeagenturen, bei Graphikern, Fotografen usw.“ (Körner 2015: 14) in der Welt zu sammeln, die er in seinem Beruf nach der Walz verwerten könnte. Dieser Roman unterscheidet sich also von den anderen Reiseromanen durch die zweifache Zielsetzung der Reise. Andere Bestandteile (Abreise, Reisestationen, Rückkehr) bleiben erhalten, allerdings war vor der <?page no="143"?> Der Textsortentyp Reiseroman aus interkultureller Perspektive 133 Reise die erste Station (eigentlich Japan, aber daraus wurde letztendlich Shanghai) vorgeplant, das Übrige sollte sich im Laufe der Walz ergeben. Diesen Roman zeichnet nicht nur die Fülle von verschiedenen Erlebnissen aus, deren Hintergrund erklärt wird (Hintergrundtext, Elemente des Besichtigungs- und Orientierungstextes), sondern auch phraseologisch reiche bildhafte und bildliche Sprache aus. Die Erfahrungen in Addis-Abeba wurden auf die folgende Weise dargestellt: Alles passiert auf den letzten Drücker. Dennoch läuft alles, wie geplant. Es ist fast ein Wunder, wenn man bedenkt, wie wenig Menschen an der Planung und Ausführung beteiligt sind. […] Genau das ist es, was ich wollte. Eine Extremsituation mit Happy End. […] Dieser Job war die Krönung am Ende des ersten Jahres meiner Reise [Hervorhebungen: S.I.] (Körner 2015: 113). Die Darstellung der Erlebnisse auf Kuba unterscheidet sich etwas: „Torheit schützt vor Strafe nicht, und welch ein Tor bin ich, unbedarft durch die Gassen Havannas zu stolpern, das Stativ geschultert und die Kamera im Anschlag“ [Hervorhebung: S.I.] (2015: 220). Im Gegenteil zum Reiseroman von Körner ist der Roman von Bohdan Obraz „Kyjiv - Paris. U pošukach zastyhloho času“ (‚Kiew - Paris. Auf der Suche nach der stehengebliebenen Zeit‘) überwiegend ein Besichtigungstext und hat viel mit Reiseführern gemein, was man nicht über den Reiseroman von Irena Karpa „Baby travel. Reisen mit Kindern oder wie man nicht zu einer Henne wird“ sagen kann. Dieser Reiseroman ist ein Werk, das man der Frauenliteratur zurechnen kann, er ist für Frauen bestimmt, was sich bereits im Titel andeutet. Die Erzähltechnik zeichnet sich durch Montage aus. Der Text hat keine chronologische Abfolge, er verbindet Erlebnisse zum Teil durch die Einheit des Ortes (bzw. des Landes) und durch die Buchstaben des Alphabets, die nicht immer in der Abfolge des Alphabets vorkommen. Dieser Roman ist eher ein Ratgebertext, obwohl es Textstellen gibt, die einem Hintergrund- und Besichtigungstext ähneln. In Indien, rät sie z.B., sei es gut, immer alkoholbasierte Sanitizer und feuchte Taschentücher bei sich zu haben oder gibt Ratschläge, wie man dort in einem Kloster wohnen könne usw. Vom Stil her ist dieser Roman einem Kaffeeklatsch mit dem Gebrauch von salopper Ausdrucksweise sehr ähnlich, aber recht unterhaltsam, weil die Metaphorik hyperbolisch und individuell ist. Das Schreien ihrer 1,5 und 2,5 Jahre alten Töchter, die mit ihr reisen, beschreibt sie wie folgt: „beide schrien so, dass Blumen von den Bäumen fielen“ (Karpa 2015: 37). Die Stadt Darjeeling charakterisiert sie mit Aufzählung und Zeugma: „Kolonialbauten aus den Zeiten des Britischen Imperiums, Glockenturm, die irgendwann hier vergessenen rein Londoner Ne- <?page no="144"?> Svitlana Ivanenko 134 bel, Hügel und Teeplantagen“ (2015: 67). Mit Humor beschreibt sie die Reaktion ihrer Tochter Cora auf das Meer, als das Kind eineinhalb Jahre alt ist und am 7. Dezember ins Meer in Barcelona will: Jeans, Strumpfhosen und Schuhe mussten nach ihrer aufdringlichen Bitte ausgezogen werden. […] Ich hatte das Glück, nur Socken und Schuhe ausziehen und die Jeans hochkrempeln zu müssen. So sind wir auf dem Video abgebildet: eine glückliche Cora im Slip und einer warmen Jacke, vollkommen stolz, dass wir fast Eisbadende sind, ich und einige erschrockene Ausländer mit der Hand auf ihren Handys, fieberhaft überlegend, ob sie das Sozialamt anrufen sollten oder ob wir aus der Gegend hinter dem Polarkreis ausgerissen seien und uns auf solche Art warm machen (2015: 81). 4 Fazit Verallgemeinernd kann man feststellen, dass der moderne Reiseroman von spannenden Geschichten über Leute lebt, sowohl über andere Reisende als auch über Einheimische. Die weite Welt wird heute sowohl mit einem bewundernden als auch humoristisch-ironischen bis sarkastischen Blick gesehen und dargestellt. Der Textsortentyp R e i s e r o m a n verwendet die Ich-Erzählform, wobei Erzähler und Autor identisch sind. Er berichtet über eigene Erlebnisse zwar fiktional, die Erlebnisse selbst sind aber nicht fiktiv, was den Reiseroman mit der Reiseliteratur als Domäne stark verbindet, deshalb kann man solche typologischen Besonderheiten der Reiseliteratur wie Orientierungs-, Besichtigungs-, Hintergrund- und Ratgebertexte als ein gewisses Mosaik im modernen Reiseroman finden. Typische Stilmittel, die in den Reiseromanen gebraucht werden, sind Aufzählung, Epitheton, Vergleich und Metapher sowie Wiederholung. Es kommen Beschreibungen vor, die die individuelle Rezeption des Schönen bzw. Hässlichen vermitteln, aber vorherrschend ist die Sprachhandlung des C HARAKTERISIERENS . Die kulturellen Unterschiede, vor allem die kulturell-historischen 5 haben die Verbreitung der Textsorte „Reiseroman“ unter ukrainischen Schriftstellern im Vergleich zur deutschen Literatur zwei Jahrhunderte lang verzögert, obwohl man Ansätze dafür bei Taras Ševčenko, Lesja Ukrajinka und Majk Johansen fin- 5 Die Ukraine hatte lange keinen eigenen Staat, weswegen nicht auf die weite Welt geschaut wurde. Vielmehr musste für eigene Staatlichkeit gekämpft, die eigene Sprache aufrechterhalten und die eigene Kultur verteidigt werden. <?page no="145"?> Der Textsortentyp Reiseroman aus interkultureller Perspektive 135 det. Der Vergleich der Romane von Maksym Kidruk und Ulrich Jackwitz hat gezeigt, dass ungeachtet dessen, dass beide Schriftsteller über denselben Ort und in derselben Zeit geschrieben haben, die unterschiedliche Rezeption des Dargestellten wohl v.a. durch den Altersunterschied verursacht wird. Für den 74-jährigen Jackwitz sind gesellschaftliche Statussymbole im Leben sehr wichtig, die aber für die Backpackergeneration nicht im Vordergrund stehen. Die Unterschiede bei der Vermittlung des Gesehenen und Erlebten beruhen bei dieser Generation von Schriftstellern auf der Tatsache, dass Ukrainer erst seit zwei Jahrzehnten die weite Welt als Bürger des Staates Ukraine erkunden, deshalb werden die ukrainischen Reiseromane von Besichtigungstexten der Reiseliteratur stärker geprägt. Diese Eigenschaft des ukrainischen Reiseromans wird vom Leserpublikum in der Ukraine sehr positiv aufgenommen, weil ihr Interesse für Augenzeugenberichte aus der fernen, oft exotischen Welt bei weitem noch nicht ausgeschöpft ist. Deutsche Reiseromane vermitteln die individuelle Rezeption des über den Tellerrand hinaus Gesehenen, das nicht beschrieben werden muss, weil das deutsche Leserpublikum die vom Autor rezipierten Objekte bereits selbst gesehen hat und beim Lesen eher nach Werturteilen sucht, um sie mit eigenen Einstellungen zum Gesehenen zu vergleichen. Davon zeugen auch die Diskussionen in den Internetleserblogs. 5 Literatur Primärliteratur Canaves, Sebastian (2015): Off the Path. Eine Reiseanleitung zum Glücklichsein. Leck. Goethe, Johann Wolfgang (1993): Italienische Reise (1813/ 1814). In: Kißling, Walter (Hrsg.): Deutsche Dichtung in Epochen. Ein literaturgeschichtliches Lesebuch. Stuttgart. S. 303-307. Heine, Heinrich (1977): Reise von München nach Genua. In: Reisebilder. 2. Aufl. Berlin/ Weimar. S. 177-256. (Bibliothek der Weltliteratur). Jackwitz, Ulrich (2010): Die letzten Menschenfresser? Wien. Johansen, Majkl (1930): Podorož učenoho doktora Leonardo i joho majbutn ʼ oji kohanky prekrasnoji Alčesty u Slobožans ʼ ku Švejcariju. Charkiv. Karpa, Irena (2015): Baby travel. Podoroži z dit ʼ my, abo Jak ne staty kurkoju. Charkiv. Kellermann, Bernhard (1961): Reisen in Asien. Berlin. Kidruk, Maksym (2010): Podorož na Pup Zeml ʼ i. Tom druhyj. Kyjiv. Körner, Fabian Sixtus (2015): Journeyman. 1 Mann, 5 Kontinente und jede Menge Jobs. Berlin. Mattheis, Philipp (2012): Banana Pancake Trail. Reinbek bei Hamburg. Obraz, Bohdan (Bob) (2015): Kyjiv. Paryž (U pošukach zastyhloho času). Kyjiv. <?page no="146"?> Svitlana Ivanenko 136 Ševčenko, Taras (1972): Kobzar. Kyjiv. Ukrajinka, Lesja (1981): Tvory v čotyr'och tomach. T. 1. - Poetyčni tvory. Kyjiv. Sekundärliteratur Campbell, Mary Baine (2002): Travel writing and its theory. In: Hulme, Peter/ Youngs, Tim (Hrsg.): The Cambridge Companion to Travel Writing Cambridge. S. 261-278. Fandrych, Christian/ Thurmair, Maria (2011): Textsorten im Deutschen. Linguistische Analysen aus sprachdidaktischer Sicht. Tübingen. Iser, Wolfgang (1991): Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt am Main. Kuzmenko, Volodymyr (1997): Slovnyk literaturoznavčych terminiv, Kyjiv. Radanielina, Baovola (2010): Wahrnehmung des Eigenen durch das Fremde. Reiseliteratur über Madagaskar. In: Kramer, Andreas/ Röhnert, Jan (Hrsg.): Literatur - Universalie und Kulturenspezifikum. Beiträge der Sektion „Literatur und Kultur“ der Internationalen Deutschlehrertagung Weimar-Jena 2009. Göttingen. (Materialien Deutsch als Fremdsprache; 82). S. 190-202. Rühling, Lutz (1997): Fiktionalität und Poetizität. In: Arnold, Heinz Ludwig/ Detering, Heinrich (Hrsg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. 2. Aufl. München. S. 25-51. Schuster, Jorg (2007): Reisebericht. In: Burdorf, Dieter/ Fasbender, Christoph/ Moennighoff, Burkhard (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Stuttgart/ Weimar. Simons, Olaf (2011): Roman. In: Lauer, Gerhard/ Ruhrberg, Christine (Hrsg.): Lexikon Literaturwissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart. S. 289-292. Wilpert, Gero von (1964): Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart. <?page no="147"?> Deutsche und ungarische Geschäftsbriefe im Vergleich: Eine interlinguale kontrastiv-pragmatische Analyse von Einzelphänomenen der Textsorten A nfr a g e und A n g e b ot Erika Kegyes (Miskolc) Zusammenfassung Im Beitrag werden deutsche und ungarische Geschäftsbriefe mit der Methode der interlingualen kontrastiv-pragmatischen Sprachanalyse verglichen, um herauszufinden, welche kultur- und sprachbedingten Unterschiede die Textsorten A n g e b o t und A n f r a g e in ihren sprachlichen Strukturen aufweisen. Durch die Bestimmung dieser Unterschiede, die in diesem Beitrag aufgrund einzelner Stilbeispiele analysiert werden, können in der deutschen und ungarischen Geschäftskommunikation pragmatische Aspekte der Textproduktion aufgedeckt werden, auf die die ungarischen Textproduzenten beim Schreiben oder Übersetzen von Geschäftsbriefen aus interkultureller Sicht achten sollten, um mit deutschen Geschäftspartnern erfolgreicher interagieren zu können. 1 Einführung Geschäftsbriefe (z.B. Anfrage, Angebot, Bestellung, Einladung, Beschwerde) bilden neben Geschäftsberichten und Aktionärsbriefen die wichtigsten Fachtexte der Geschäftskommunikation (Demarmels/ Kesselheim 2011). Bereits die erste sprachhistorische Zusammenfassung (vgl. Steinhausen 1968 ) und die ersten sprachwissenschaftlichen Annäherungen (vgl. Ermert 1979; Sowinski 1986; Sandig 1986) wiesen darauf hin, dass unter dem Begriff „Geschäftsbrief“ alle schriftlichen Textprodukte des Geschäftsverkehrs zusammengefasst werden können. Auch die Arbeiten der Fachtextlinguistik (z.B. Höhne 1992) betonen, dass die Geschäftsbriefe einerseits stark formalisiert und standardisiert sind, andererseits aber auch eine gewisse stilistische Formulierungsfreiheit aufweisen. Dieser Freiraum spielt aus kommunikativ-funktionaler Perspektive eine wichtige Rolle beim Überzeugen der Geschäftspartner (Ditlevsen 2002). Die Pflicht zur Mitteilung von Mindestinformationen grenzt sprachlich ein, da bestimmte Leitwörter <?page no="148"?> Erika Kegyes 138 und Ausdrücke 1 als Standardelemente aller geschäftlichen Schreiben gelten. Zum Schreiben von Geschäftsbriefen stehen aber auch solche stilistischen Mittel und rhetorischen Figuren zur Verfügung, die die geschäftliche Kommunikationsweise einer Firma firmenspezifisch gestalten. Die Größe dieses Freiraums an Formulierungsmöglichkeiten variiert von Textsorte zu Textsorte des Geschäftslebens; ein Aktionärsbrief ist viel gebundener an Konventionen als ein freies unbefristetes Angebot (Keller 1996: 176). Die Standardisierung bestimmter Geschäftsbriefe (Mahnschrift, gebundene Nachfrage) hat aber auch zur Folge, dass manche Geschäftsbriefe (z.B. Zahlungserinnerungen) mithilfe von Textgestaltungsprogrammen automatisch erstellt werden können. 2 Trotz aller Globalisierungstendenzen in der Geschäftskommunikation wird auch immer wieder die Frage gestellt, ob der oben beschriebene Formulierungsfreiraum zu interkulturellen Unterschieden führen kann. Adamzik (2010) nimmt auch im Kontext der Handelskorrespondenz eine gewisse Relevanz der Kulturgebundenheit an. Auch Fix (2012) argumentiert für die Kultur- und Sprachspezifik von Sprechhandlungsmustern auch in stark musterhaften geschäftlichen Textsorten wie Börsenbrief oder Geschäftsbericht. 2 Forschungsüberblick Geschäftsbriefe (Schriftstücke der Handelskorrespondenz seltener Handelsbriefe 3 ) bilden die Grundlage der schriftlichen Kommunikation einer Firma oder eines Unternehmens. Wie die Geschäftspartner angeredet, wie die Geschäftsziele der Firma formuliert werden usw., kann den Geschäftserfolg weitgehend beeinflussen. Deshalb interessiert sich die Textsortenlinguistik und die Fachsprachenlinguistik gleichermaßen für die Analyse von Geschäftsbriefen. In der Fachsprachenlinguistik steht die systemlinguistische Beschreibung von Geschäftsbriefen im Mittelpunkt (Koskensalo 2002). Silhanová (2011) beschreibt 1 Vergleiche dazu Ihre Nachricht vom, Ihr Zeichen vom als üblicher Briefanfang. Vgl. Handelsgesetzbuch § 37a und 125a. 2 Als Beispiel können die folgenden stereotypen Formulierungen erwähnt werden: „Für nachstehend aufgeführte Rechnungen(en) konnten wir leider noch keinen Zahlungseingang feststellen. Wir bitten Sie daher um Überprüfung und Zahlung“ (aus einer Zahlungserinnerung der Firma DER Touristik). 3 Im Gabler Wirtschaftslexikon werden Geschäftsbriefe und Handelsbriefe voneinander unterschieden; im ersten Fall ausgehende Briefe eines Unternehmens, während im zweiten Fall alle Dokumente eines Gewerbebetriebs gemeint sind (Berwanger: online). <?page no="149"?> Deutsche und ungarische Geschäftsbriefe im Vergleich 139 zum Beispiel ihre lexikalischen und phraseologischen Merkmale, Höppnerová (2013) charakterisiert sie morphologisch-syntaktisch. In der Textsortenlinguistik wird beispielsweise die Frage diskutiert, welche Funktionen die Geschäftsbriefe in der Geschäftsabwicklung vom Angebot bis zum Geschäftsabschlusses zu erfüllen haben (Ditlevsen 2002). Die meisten Untersuchungen (Silhanová 2009, Höppnerová 2013, Ditlevsen 2002) kamen zum Schluss, dass Geschäftsbriefe im Allgemeinen drei Intentionen zum Ausdruck bringen müssen: 1. Vermittlung von Informationen in Bezug auf den aktuellen Geschäftsvorgang, 2. Ausdruck von konkreten Firmen- oder Geschäftszielen, 3. Appell an zukünftige Kunden. Kohlegger (2004) stellt eine Typologie der Geschäftsbriefe auf und unterscheidet aus funktional-thematischer Perspektive die folgenden Typen der geschäftlichen Briefsorten: 1. Briefe der Geschäftsleitung, 2. Briefe des Personalbereichs, 3. Briefe des Einkaufs, 4. Briefe des Verkaufs, 5. Briefe der Marketingabteilung, 6. Briefe der Logistik, 7. Briefe der Buchhaltung. Sie untersuchte mehr als 300 Geschäftsbriefe und entdeckte so, dass Angebotsschreiben, Annahmeerklärungen, Bestätigungsschreiben, Nachfragen und Zahlungsbriefe die häufigsten Textsorten der Geschäftskommunikation darstellen. Die wirtschaftslinguistisch geprägten Untersuchungen der Geschäftsbriefe (z.B. Ermert 1979, Keller 1996) verfolgen auch das Ziel, die von der Alltagskommunikation abweichenden sprachlichen Elemente der Geschäftsbriefe zu bestimmen. 4 Nach Ermert (1979) sind diese im Einzelnen einerseits von den Geschäftsbrieftypen (z.B. Geschäftsbericht, Aktionärsbrief, Kundenwerbebrief) abhängig, andererseits von dem Stil der externen und internen Briefformen der Firma. Ermert (1979) zufolge können die Geschäftsbriefe auf vier Dimensionen hin analysiert werden: 1. Handlungsdimension, 2. thematische Dimension, 3. Situationsdimension, 4. sprachlich-strukturelle und formale Dimension. Ermert (1979) untersuchte in erster Linie die Ausgangsbriefe von Firmen und fand so, dass für die Geschäftsbriefe hohe Geschlossenheit (d.h. ein hoher Grad der formal-offiziellen Kommunikationsweise) charakteristisch ist und hohe Effizienz 4 Diese Abweichungen und der oft intensive Gebrauch von fachspezifischen Ausdrücken zum Beispiel aus der Fachsprache der Wirtschaft, der Logistik oder des Rechnungswesens können begründen, dass einige Analysen auch im Zusammenhang mit den Geschäftsbriefen über Fachsprache und Fachsprachenforschung sprechen (dieser Aspekt ist auch bei Nielsen 2002 zu finden). In einer Zahlungserinnerung werden zum Beispiel oft folgende Fachwörter und Fachausdrücke benutzt: offene Zahlung, Liste der Posten, Mahnstufe, Verzugstage, berücksichtigte Buchung. Auch Höppnerová (2013) kategorisiert so, dass sie die Geschäftsbriefe zur fachsprachlichen Gebrauchsform der Sprache zählt. <?page no="150"?> Erika Kegyes 140 erzielt wird, weshalb die fachsprachliche Lexik der Brieftexte besonders dicht ist. Höhne (1992) legt sein Augenmerk auf die Sprach- und Formmuster von Geschäftsbriefen. Er verglich Geschäftsbriefe, Geschäftsdokumente, technische Anleitungen, Verordnungen, Verträge und Werbetexte von verschiedenen Firmen und Unternehmern und kam zum Schluss, dass drei morphosyntaktische Strategien variieren, die die gesamte Gestaltung der Texte beeinflussen können: 1. Anonymisierung (Sehr geehrte Damen und Herren, Ihr Beratungsteam), 2. Spezifizierung (Angabe des Betreffs oder des Brieftyps, wie Zahlungserinnerung), 3. Kondensierung (dabei stehen Textgerüste zur Verfügung). Sprachwissenschaftliche Beschreibungen der Geschäftsbriefe konzentrieren sich auch auf die Darstellung der häufig verwendeten sprachlichen Elemente. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen lassen sich wie folgt resümieren: 1. Häufiger Gebrauch einer höheren Frequenz der Passivformen und der Passiversatzformen, 2. häufige Verwendung der Wortbildungssuffixe wie -lich oder -bar, 3. angehäufter Gebrauch der präpositionalen Fügungen wie mittels, hinsichtlich, mithilfe, 4. Funktionsverbgefüge treten als kommunikative Routineformeln auf (in Bestellung geben, in Empfang nehmen) (vgl. Silhanová 2009, Koskensalo 2002, Szwed 2013). Szwed (2013) analysierte die Geschäftsbriefe nach den kommunikativen Beschreibungsmustern der sprachlichen Invarianz und kam zum Schluss, dass die konkrete Formulierung und Textgestaltung eines Geschäftsbriefes durch die üblichen pragmatischen Sprach- und Handlungsmuster einer Sprache bestimmt werden. Sie hat in ihrer Untersuchung die folgenden Aspekte hervorgehoben: 1. Status der Direktheit vs. Indirektheit (Liebe Geschäftsfreunde! ), 2. Vermittlungsweise von Informationsarten (Sollten-Sie-Sätze vs. Könnten-Sie-Sätze), 3. Hinweise auf den Ablauf einer dialogischen Kommunikation (z.B. mit Bezug), 4. Handlungsmuster und Handlungsfunktion der Geschäftsbriefe (Entscheidung, erzwungene Antwort usw.). Die Arbeit von Szwed (2013) signalisiert das Interesse der kontrastiven bzw. interkulturellen Linguistik an den Geschäftsbriefen. Diese Analysen zur Geschäftskorrespondenz liefern viele Beispiele dafür, dass das interkulturell kompetente Schreiben von Geschäftsbriefen den Geschäftserfolg garantiere, während zum Beispiel interkulturell inkompetente Übersetzungen fremdsprachiger Geschäftsbriefe zu Misserfolgen führen können (Bolten 2003: 179). Spillner (2002) vergleicht zum Beispiel deutsche, französische und finnische Wirtschaftsbriefe und stellt fest, dass der Prozess zum Interessewecken für ein Produkt oder Dienstleitung in allen drei Sprachen anders abläuft und beim Kauf eines Produkts ganz anders argumentiert wird. Die Texte der Empfangsbestäti- <?page no="151"?> Deutsche und ungarische Geschäftsbriefe im Vergleich 141 gung unterscheiden sich zum Beispiel gravierend: „[...] der Finne [ist] nicht gewohnt, seine Denkarbeit zum Ausdruck zu bringen. Er denkt über die Antwort nach, vergißt aber darüber zu zeigen, daß er die Frage verstanden hat. Er will erst das fertige Produkt bringen. [...] Der deutsche Anfragende will eine Bestätigung bekommen, daß sein Brief überhaupt angekommen ist, wogegen der Finne erst mit fertigen Resultaten kommen will und erst dann antwortet, wenn er seines Erachtens auch etwas mitzuteilen hat“ (Widén 1985: 168, zit. nach Spillner 2002: 150). In deutsch-polnischer Relation untersuchte Szwed (2013) in ihrer oben schon erwähnten Arbeit die Intentionalität in Geschäftsbriefen, in denen Angebote eingefordert, erbeten oder abgelehnt wurden. Ihr Untersuchungsschwerpunkt lag auf Ausdrucksmöglichkeiten indirekter Wünsche und Forderungen. Koskensalo (2002) weist in deutsch-finnischer Relation auf einen Orientierungsunterschied hin: deutsche Geschäftsbriefe charakterisiert eine stärkere Sachorientierung, finnische Geschäftsbriefe zeigen eine direktere Kontaktorientiertheit auf, d.h. sie betonen die interpersonalen Beziehungen zwischen den Geschäftspartnern intensiver als die deutschen Geschäftsbriefe. Rentel (2010) stellt Stilunterschiede in deutschen und französischen Geschäftsbriefen bei der Realisierung der Sprechakte der Ankündigung von Nachrichten negativer Konsequenzen fest. In den deutschen Geschäftsbriefen werden in diesem Fall vorwiegend Imperativformen und explizite performative Verben benutzt, die die negativen Konsequenzen eindeutig machen. In den französischen Paralleltexten werden aber die negativen Folgen eher nur angedeutet und auch die Aufforderungen werden in einer impliziten Weise formuliert (Rentel 2010: 35). <?page no="152"?> Erika Kegyes 142 3 Geschäftsbriefe im deutsch-ungarischen Vergleich am Beispiel von Anfragen 5 und Angeboten 6 3.1 Beschreibung des Korpus Fast alle oben erwähnten Studien bemerken den schwierigen Zugang zu originalen Geschäftsbriefen. Die Erklärung liegt auf der Hand: Unternehmen und Firmen wollen ihre Geschäftsgeheimnisse bewahren. In dieser Untersuchung wurden 65 Anfragen und Angebote analysiert, die teils in ungarischer Sprache verfasst und von Mitarbeitern ungarischer Unternehmen, die kein Übersetzer sind, aber um gute (oft nachweisbare und zertifizierte) Sprachkenntnisse verfügen, in das Deutsche übersetzt wurden. Teils wurden die Briefe von Mitarbeitern ungarischer Firmen (ohne ungarische Textvorlage) direkt in deutscher Sprache verfasst. Auch in diesem Fall diente das Ungarische oft als Hilfssprache, da die Briefe nach ungarischsprachigen schriftlichen oder mündlichen Anweisungen entstanden. Wesentlich seltener kam es vor, dass die untersuchten Briefe nach ungarischsprachigen Diktaten der Firmenleiter direkt in deutscher Sprache geschrieben wurden. Insgesamt 35 % der Briefe können als Übersetzungsprodukt betrachtet werden, 25 % der Briefe sind in einem direkten deutschsprachigen Schreibprozess entstanden (d.h. hier lagen keine Brieftexte auf Ungarisch vor) und 10 % aller untersuchten Briefe sind das Ergebnis von einer indirekten deutschsprachigen Textproduktion (d.h. in diesem Fall waren schriftliche oder mündliche Textgerüste auf Ungarisch vorhanden, aber keine vollständigen Briefe). Die untersuchten Briefe umfassen zeitlich zwei Jahre (2012-2014) und dokumentieren den Briefwechsel des Angebots und der Nachfrage zwischen ungarischen logistischen Firmen aus der nordungarischen Region und einem großen deutschen Forschungsinstitut aus dem Bereich der Logistik, das sich mit Planung und Herstellung logistischer Lösungen beschäftigt und mit mehreren nordungarischen Firmen und Unternehmen seit vielen Jah- 5 Anfrage kann im Allgemeinen zwei Bedeutungen haben: einerseits ist sie eine indirekte Beilage zu Prospektmaterial, oder in ihrer detaillierten Version beinhaltet sie eine Produktempfehlung oder eine Bitte um ein Angebot (vgl. Hovermann/ Hovermann 2008). Obligatorische Elemente einer Anfrage: Grund der Anfrage, Beschreibung des Produkts, Details zu Preis- und Lieferungsmodalitäten, Daten zur Kontaktperson. 6 Ein Angebot repräsentiert die Firma, das ist oft der erste Kontakt zum Kunden. Es enthält oft Sonderkonditionen und ist eine Antwort auf die Anfrage. Typische Eröffnungssequenz in Angeboten: Vielen Dank für Ihre Anfrage. <?page no="153"?> Deutsche und ungarische Geschäftsbriefe im Vergleich 143 ren in einem engen Geschäftskontakt steht. 7 Das deutsche Forschungsinstitut bestellt regelmäßig Produkte und Dienstleitung aus dem Gebiet der Logistik, aus welchem Grunde - thematisch gesehen - der Briefverkehr in erster Linie Angebote und Anfragen der ungarischen Unternehmen beinhaltet. Die deutschsprachigen Briefe des Logistik-Forschungszentrums wurden als Antwortbriefe auf die Anfragen und Angebote der ungarischen Firmen auch analysiert, da sie die üblichen pragmatischen und sprachlichen Elemente der Geschäftsabwicklung in deutscher Sprache beinhalten. In dieser Hinsicht galten die deutschen Briefe als Orientierungspunkt der gesamten Analyse. Den Schwerpunkt der Untersuchung bildet die Analyse der Kontakthaltung zwischen den Unternehmen, d.h. die ungarischen Firmen erzielten mit ihren Geschäftsbriefen eine Kontaktaufnahme oder intensivere Kontakthaltung mit der deutschen Firma (Forschungsinstitut) und diesen kommunikativen Akt haben die ungarischen Firmen in den meisten Fällen mit der Unterbreitung eines indirekten Angebotes oder mit einer direkten Anfrage verbunden. Aus diesem Grunde lassen sich die von mir analysierten 65 Geschäftsbriefe nach dem typologischen Modell von Koskensalo 8 (2012) wie folgt einteilen: einerseits Briefe der Geschäftskontakthaltung, andererseits direkte/ indirekte Anfragen oder gebundene/ ungebundene Angebote. Nach der Typologie von Kohlegger (2004: 98f.) handelt es sich hier um diverse Briefe der Logistik, wie zum Beispiel um Anfragen eines Speditionsauftrages, um Auftragserteilungen, Lieferbriefe, Korrespondenz, Informationen zu Lieferungen oder Begleitschreiben zu verschiedenen Vereinbarungen. Nach den Untersuchungen von Kohlegger (2004) wiesen diese Brieftypen obligatorisch die folgenden Bestandteile auf: Briefkopf, Bezug und Betreff, Anrede, Text, Schlussformel, Anlagen. Die Sprachformen und die Stilmittel der Kontakthaltung stellen dabei die sprachlichen obligatorischen Teile - in Koskensalos Terminologie die „bindenden Elemente“ - dar; die Reali- 7 Hier ist anzumerken, dass die ungarischen Firmen kleine oder mittelständische Firmen sind, die bestimmte Produkte für das Forschungsinstitut auf Anfrage herstellen oder ihr Angebot auf einem Treffen der Deutsch-Ungarischen Wirtschaftskammer (DUWK) dem deutschen Forschungsinstitut unterbreitet haben, und die Angebote als unverbindliche Dienstleitung nach diesem Treffen direkt an das deutsche Institut geschickt haben und seit dieser Kennenlernphase mit ihm in Kontakt stehen. Die kleinen und mittleren Unternehmen (kurz: KMU) sind alle in der nordostungarischen Region zu finden und sind registrierte Mitglieder der DUWK. 8 Koskensalo (2002): darstellender Typ (z.B. Geschäftsbericht), direktiver Typ (z.B. Bestellung, Mahnung), komissiver Typ (z.B. Angebot), deklarativer Typ (z.B. Vertrag) von Geschäftsbriefen lassen sich als bindend oder nicht-bindend einteilen, je nach ihrer Form- oder Inhaltsgebundenheit. <?page no="154"?> Erika Kegyes 144 sierung der konkreten Anfrage oder des aktuellen Angebots ist fakultativ (also „nicht-bindend“, wie es Koskensalo nennt). Der in der Einführung erwähnte Freiraum bei der Formulierung ist in diesem Teil des Briefes zu finden, und weil die untersuchten Texte von ungarischen Textproduzenten verfasst wurden, mit oder ohne ungarischsprachigen Leittexten, ist der Aspekt der interkulturellen Textanalyse relevant. Bei der Beispielanalyse wurde die Frage gestellt, wie weit die in der deutschen Sprache verfassten Angebote und Nachfragen, die in ihnen benutzten lexikalischen und stilistisch-rhetorischen Mittel als Träger der ungarischen Sprachkultur zu bezeichnen sind und ob bei den Formulierungen spezifische kulturgeprägte Sachverhalte oder Stilmittel in die deutsche Variante der Geschäftsbriefe übertragen worden sind. Um das feststellen zu können, wurden mit den deutschen Textrezipienten, also mit den Vertretern des deutschen Forschungsinstituts für Logistik einzelne Gespräche geführt, als sie bei den ungarischen Firmen zu Besuch waren. Auch mit den ungarischen Textproduzenten wurden Gespräche geführt, um einzelne Formulierungsaspekte und die von ihnen gewählten Stilmittel zu diskutieren. 3.2 Methodische Einrahmung der Analyse Clyne (1992) plädiert für die interkulturelle Analyse der schriftlichen Wirtschaftskommunikation und schlägt vor, verschiedene Textsorten der Wirtschaft als Begegnungen der zwischenkulturellen Verständigung zu analysieren. Nach Clyne spielen die Unterschiede in der Pragmatik und Textstruktur die wesentliche Rolle beim Zustandekommen von interkulturellen Missverständnissen. Er weist auch auf die Problematik hin, die in dieser Analyse die Kernfrage bildet. Deutsch funktioniert als Vermittlungssprache zwischen Firmen, aber die Ungarn, die als Textproduzenten in deutscher Sprache agieren, transferieren in ihre deutschsprachige Texte ihre eigenen pragmatischen und textstrukturellen Aspekte, wenn sie auf Deutsch schreiben oder aus dem Ungarischen ins Deutsche übersetzen. Gerade die pragmatischen Merkmale, die mit der eigenen Kultur und Denkweise sehr eng zusammenhängen, können in der fremden Sprache zu textuellen Abweichungen führen: ein Wort, ein Ausdruck oder ein Phrase aus dem Geschäftsleben gilt in der eigenen (muttersprachlichen) Norm als akzeptabel, während diese in einer fremden Sprache zu Kommunikationsstörungen führen. Untersuchungen mit der Zielsetzung, „die Realisierung der gleichen Sprechakte in ähnlichen Kontexten in verschiedenen Sprachen und Kulturen“ (Clyne 1992: 4) zu erforschen, können in die Reihe kontrastiv-pragmatischer Analysen eingeordnet werden. Dabei wird in erster Linie auf <?page no="155"?> Deutsche und ungarische Geschäftsbriefe im Vergleich 145 die Unterschiede im Sprachgebrauch fokussiert, die aus der unterschiedlichen Sprachkultur verwandter oder nicht verwandter Sprachen resultieren. Die interkulturelle Text- oder Pragmalinguistik analysiert demgegenüber nicht die Texte, sondern die Textproduktion selbst in Interaktionen, wo Menschen verschiedener Sprachen und Kulturen miteinander kommunizieren (vgl. Clyne 1992). Die Grenzen zwischen den kontrastiv-pragmatischen und interkulturellen Untersuchungen sind aber oft fließend, da in den meisten Fällen verschiedene Kommunikationsmodi derselben Sprache aufeinandertreffen, wie zum Beispiel das Deutsche als Mutter- und Fremdsprache. Das Deutsche wird in unserem Fall von den Textproduzenten als Fremdsprache, von den Textrezipienten aber als Muttersprache gesprochen. Clyne (1992) versucht diese Problematik mit dem Begriff „Interlanguage Text- und Pragmalinguistik“ aufzulösen. Hier werden Problemfälle der Textproduktion und der Textinterpretation in der Zielsprache beschrieben, wobei der Prozess im Vordergrund steht, dass diese Texte von Nicht-Muttersprachlern produziert werden, aber in ihrer Funktionalität sind sie an Muttersprachler adressiert. Einen ganz ähnlichen Weg der Analyse, den er „interlingualen Textvergleich“ nennt, schlägt auch Krause (2000) vor. Er geht davon aus, dass durch interlinguale Untersuchungen typische Textsortenmuster in übersetzten, sog. „Translat-Texten” oder in direkt in der Zielsprache verfassten Texten aufgedeckt werden können, die die Sprachkultur der Ausgangssprache reproduzieren (2000: 123). Dies liegt dem Ansatz des interkulturellen Textsortenvergleichs nahe, da auch hier angenommen wird, dass Texte, die von Nicht-Muttersprachlern verfasst werden, Prägungen aufweisen können, die für die Sprachkultur der Ausgangssprache charakteristisch sind. Das von Krause entwickelte Modell der Analyse beinhaltet folgende Schritte: 1. Vergleich der Architektonik der Texte 2. Analyse der inhaltlichen Organisation der Texte 3. Formulativer Vergleich der Texte, d.h. stilistischer und lexikalischer Vergleich der verwendeten Wörter, Ausdrücke oder phraseologischen Einheiten 4. Sprachkulturspezifischer Vergleich der Texte. Bei der Analyse der 65 Briefe der Angebote und Nachfragen wurden in erster Linie die obigen Analyseschritte verfolgt, mit einem Ausblick auf die von Arntz (1990) vorgeschlagene Vorgehensweise der kontrastiven Textanalyse. Nach dem Modell von Arntz (1990: 394) wurde dabei wie folgt vorgegangen: <?page no="156"?> Erika Kegyes 146 1. Analyse des Textkorpus der Sprache A (=Muttersprache der Textproduzenten, Ungarisch als Ausgangssprache, ungarischsprachige Textvorlagen für die Produktion deutschsprachiger Geschäftsbriefe, intralinguale Methode) 2. Analyse des Textkorpus der Sprache B (=Zielsprache Deutsch, Fremdsprache, intralinguale Methode) 3. Vergleich der Analyseergebnisse beider Sprachen (=interlinguale Methode). 3.3 Einzelphänomene und Beispiele aus der Analyse 3.3.1 „sehr schönen Dank für Ihren Brief vom 24. 09. d.J.“ Es gibt im Ungarischen einen einleitenden Satz, der dazu dient, den Kontakt wieder aufzunehmen und der die Geschäftsbriefe im Allgemeinen eröffnet: Nagyon szépen köszönjük … keltezésű levelét. („Wir danken Ihnen sehr für Ihren Brief vom … / Wir bedanken uns bei Ihnen sehr für Ihren Brief vom …“) 9 . In der ungarischen Sprache wird dieser Satz als eine besondere Höflichkeitsform den Geschäftspartnern gegenüber interpretiert, da in der Ausgangssprache das Adverb szép (dt. ‚schön‘) steht, dessen kommunikative Bedeutung durch die Partikel (nagyon, dt. ‚sehr‘) intensiviert wird. Die Textproduzenten suchen in diesem Fall in der deutschen Sprache nach Lösungen, die die Höflichkeit und die Modalität des Nachdrucks gleichermaßen wiedergeben können und wählen zum Beispiel Lösungen wie: Wir danken Ihnen sehr/ bestens/ herzlichst für Ihren Brief vom … / Wir bedanken uns bei Ihnen höflichst/ sehr/ vom Herzen für Ihren Brief vom …). Aus den Gesprächen mit den Textrezipienten ging es hervor, dass sie Formulierungen dieser Art für emotional halten und selbst eher neutraler 9 Die zitierten Beispiele sind oft auf Ungarisch als Ausgangssprache geschrieben worden und stammen aus dem von mir untersuchten Korpus. In einigen Fällen standen nur die in deutscher Sprache verfassten Geschäftsbriefe zur Verfügung, aber auch sie sind von ungarischen Mitarbeitern der Firmen verfasst worden. Es war leider unmöglich, von den analysierten originalen Geschäftsbriefen eine Kopie oder ein digitales Foto zu machen. Ich hatte nur die Möglichkeit die in deutscher Sprache verfassten Briefe und ihre ungarischen Varianten, wenn sie vorlagen, zur Einsicht zu bekommen und bei den Firmen vor Ort Notizen zu machen. Um die sprachlichen Probleme nachvollziehbar zu machen, zitiere ich immer die originalen und von mir in Notizen erfassten Textteile und markiere die entsprechenden Stellen kursiv. <?page no="157"?> Deutsche und ungarische Geschäftsbriefe im Vergleich 147 formulieren (Wir danken für Ihr Schreiben vom …/ Vielen Dank für Ihren Brief vom …). Nur im Falle eines sehr guten Geschäftskontaktes benutzen sie die Formel: Wir danken Ihnen sehr für Ihr Angebot/ Ihre Nachfrage. Die Geschäftsleiter haben betont, dass es ihnen schon aufgefallen sei, dass in den Briefen der ungarischen Geschäftspartner die Betonung der Dankbarkeit als eine wichtige Sprachhandlung durch die Partikel sehr immer wieder realisiert wird. In den von mir untersuchten deutschsprachigen Angeboten und Anfragen kam das Verb danken tatsächlich fast immer in Begleitung des Intensivierungsmarkers sehr vor. Der Grund dafür ist, dass in dieser Situation in den ungarischen Briefvorlagen das Adverb nagyon (dt. ‚sehr‘) immer benutzt wurde, um zu zeigen, dass es für die Firma eine wichtige Angelegenheit, fast eine Auszeichnung, eine Ehre ist, dass sie eine Anfrage von dem ausländischen Partner bekommen haben oder ihm ein Angebot schicken können. Aus dem gleichen kommunikativen Aspekt wurde auch das Verb sich bedanken in den deutschen Varianten der Geschäftsbriefe gewählt, und zwar grammatisch gesehen meistens in den Fällen, wo im ungarischen Text das Dativpronomen Önnek (dt. ‚Ihnen‘) im Fokus des Satzes stand. Diese Fokussierung betont die persönliche Art der Kommunikation, dass man nicht ganz neutral oder unpersönlich mit dem Geschäftspartner sprechen möchte. Die deutschen Textrezipienten empfanden die Verwendung von Konstruktionen mit sich bedanken in Anfragen oder Angeboten als überbetont höflich und interpretierten diese Floskeln auch als wiederholten Ausdruck der Dankbarkeit der ungarischen Firma. Der Sprechakt des Dankens wurde in dieser Form auch dann oft realisiert, wenn statt eines Personalpronomens im ungarischen Satz eine substantivierte Deklinationsform stand, mit der der Firma oder dem Unternehmen gedankt wurde: Nagyon köszönjük a cégüknek a … számú levelét. („Wir bedanken uns bei Ihrer Firma für Ihren Brief mit der Nummer …“). In diesem Fall wurde sehr oft (wie auch im Beispiel) das Possessivpronomen doppelt verwendet. Diese Formen wurden meistens in Briefen bevorzugt, die aus dem Ungarischen in das Deutsche übersetzt wurden. In den Angebots- oder Anfragetexten, die direkt in der Zielsprache verfasst wurden, wurde die Routineformel Vielen Dank für Ihren Brief am häufigsten benutzt. Aber auch hier, wenn nur in wenigen Fällen, konnten Abweichungen beobachtet werden. Zum Beispiel: Sehr vielen Dank/ Herzlichen Dank für Ihre Anfrage. In einem Gespräch mit dem Textproduzenten, dem Fremdsprachenkorrespondenten der Firma, verstärkte sich meine Vermutung, dass hier die informellere Art der Kommunikationsweise mit einem alten Geschäftspartner zum Ausdruck gebracht werden sollte. Nur in ganz wenigen Fällen kam der Aus- <?page no="158"?> Erika Kegyes 148 druck (sehr) schönen Dank für Ihren Brief vor. In einem offiziellen Brief ist die Verwendung dieses Ausdrucks nicht angebracht. Hier und auch im Falle des Ausdrucks herzlichen Dank (ung. ‚szívélyes köszönet‘) handelt es sich um eine direkte Übertragung eines üblichen ausgangssprachlichen Elements der sprachlichen Höflichkeit, womit in der Ausgangssprache auf einen engeren Kontakt zwischen den Firmen hingewiesen werden kann und wodurch die unpersönliche offizielle Kommunikationsweise aufgebrochen werden sollte. Aus diesem Grunde kann in dem untersuchten Briefkorpus der Ausdruck Herzlichen Dank für Ihre Anfrage/ Ihr Angebot als Stilmittel der ungarischen Geschäftskorrespondenz betrachtet werden, welches auch in die deutsche Sprache übersetzt wurde, da die Texter, die die Ausgangssprache als Muttersprache sprechen, den Eindruck hatten, dass die von ihnen gewählten zielsprachigen Ausdrücke der Kontakthaltung auch auf die Art und Weise des Kontaktes referieren müssen. Diese Beispiele zeigen, dass die Sprachroutine des Dankens in der ungarischen Sprache interkulturell anders geprägt ist. Im ersten Moment scheint es nur eine Floskel in der Geschäftskommunikation zu sein, die eigentlich zu keinen tiefergehenden Überlegungen führen sollte. Jedoch scheint es so zu sein, dass die ungarischen Geschäftsbriefe im Vergleich zu den deutschen Geschäftsbriefen durch die Benutzung des Verbs sich bedanken und durch die Wahl der Partikeln, die die Intensität der Sprachhandlung des Dankens signalisieren, einen Unterschied in der Art der Kontaktform zu den Geschäftspartnern ausdrücken. Daher wirken die Briefe des Angebots, die aus dem Ungarischen ins Deutsche übersetzt wurden, emotionaler. 3.3.2 „Wir erwarten Sie in unser Haus“ In der modernen Geschäftskommunikation sind Einladungen schon Teile von Angeboten. Den Kunden wird die Gelegenheit angeboten, die Firma oder die Produkte, die Dienstleitungen vor Ort kennen zu lernen. Dieser Einladungshinweis ist oft im Schlussteil des Geschäftsbriefes zu finden. In der ungarischen Geschäftssprache scheint es eine Besonderheit zu sein, dass in diesen Einladungen das Unternehmen oder die Firma durch die Haus-Metapher beschrieben wird. Ein sprachliches Problem besteht insofern, als dass das Verb im Ungarischen mit einer obligatorischen Akkusativ-Ergänzung steht, weswegen die deutsche Variante - wie oben zu sehen - einen Interferenzfehler modelliert und typischerweise nicht im Dativ steht. <?page no="159"?> Deutsche und ungarische Geschäftsbriefe im Vergleich 149 In dem von mir untersuchten Korpus formulierte die Firmenleitung Einladungen nach Ungarn so: Wir freuen uns, Sie in unserem Haus begrüßen zu können/ Kommen Sie zu uns in das Haus, und Sie werden sehen … . Interessant ist, dass für solche Formulierungen in der ungarischen Sprache keine wortwörtlichen Entsprechungen vorhanden sind. Die Textproduzenten erklärten aber die Benutzung der metaphorischen Bezeichnung damit, dass sie die kommunikative Funktion einer herzlichen Einladung zu erfüllen hat, wodurch den deutschen Partnern ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt werden soll (‚Bei uns werden Sie sich wie zu Hause fühlen! ‘). Im Kontext der Einladung wurde auch ein anderes Problem augenfällig, und zwar der Gebrauch der Verben warten und erwarten. Als Abschluss der Einladung kam im Korpus die Formulierung Wir warten auf Sie herzlichst! sehr oft vor. Hier ist einerseits darauf hinzuweisen, dass in den von Ungarn in deutscher Sprache verfassten Geschäftsbriefen das Personalpronomen wir sehr oft in betonter Position steht, weil damit eine direkte und persönliche Beziehung zu den Kunden ausgedrückt werden kann, andererseits realisiert aber das Verb warten in diesem Satz eine freundliche Wiederholung der Einladung. In diesem Kontext lagen meistens Briefe in der Ausgangsprache vor, in denen der folgende Satz oder seine Varianten oft vorkamen: Szívesen látjuk nálunk/ cégünknél/ irodánkban/ házunkban! Die Gastfreundlichkeit wird hier explizit ausgedrückt, da der Satz wortwörtlich so übersetzt werden kann: ‚Wir sehen Sie bei uns/ in unserem Büro/ in unserer Firma/ in unserem Haus gern‘. In den in das Deutsche übersetzten Angeboten kommt sehr oft auch der Intensivierungsmarker herzlichst vor, der die offizielle Einladung personalisiert und emotionalisiert. Aus diesem Kontext geht auch hervor, dass die ungarischen Partner in diesen Sätzen ihre Gastfreundschaft in der Bedeutung von ‚sich um jemanden kümmern, betreuen‘ thematisieren und einem Treffen sehr gerne entgegensehen, also sie warten wortwörtlich darauf, dass sie von den Geschäftspartnern besucht werden. Diese Sprachhandlung wird in den von Ungarn geschriebenen Geschäftsbriefen aber oft nicht mit dem Verb warten, sondern mit dem Verb erwarten formuliert. Für die deutschen Geschäftspartner, mit denen ich über die Formulierungsprobleme der Angebote und Anfragen auch kurze Gespräche führte, kann ein Satz mit dem Verb erwarten aber eher eine Art Aufforderung bedeuten, dass sie vor der Bestellung oder vor dem Vertrag noch einen Besuch bei der Firma machen sollten. So haben sie zum Beispiel auch die Formulierung Wir erwarten Sie mit Freude bei uns interpretiert, die in den übersetzten Briefen nicht so oft registriert wurde wie in den direkt in der Zielsprache formulierten Briefen. Die ungarischen Firmen wollten durch den Gebrauch von erwarten ausdrücken, <?page no="160"?> Erika Kegyes 150 dass sie sicher sind, dass die deutschen Partner ihre Einladung annehmen. Es war überraschend, wie selten in diesem Kontext in den übersetzten oder in den unmittelbar auf Deutsch formulierten Angeboten das Verb einladen oder der Ausdruck willkommen/ willkommen heißen benutzt wurde. Der Grund dafür, wie es mir die Textproduzenten in Gesprächen erklärten, ist, dass sie die Bedeutung des ungarischen Verbs vár (dt. ‚warten, erwarten‘) wortwörtlich wiedergeben wollten, weil für sie der Bedeutungsinhalt von einladen und willkommen die Freude über den Besuch des Geschäftspartners nur implizit ausdrückt. Die ungarischen Partner benutzen also die Verben warten/ erwarten in der Bedeutung von einer angebotenen Gastfreundschaft, wenn es zu einem persönlichen Besuch bei der Firma kommt. Demgegenüber assoziieren deutsche Geschäftspartner bei diesem Sprechakt möglicherweise eine Einladung zu einem Pflichtbesuch. Laut dem Leiters des Forschungszentrums für Logistik tragen die Verben warten und erwarten für die deutschen Geschäftspartner eine explizit konkrete Bedeutung, indem davon ausgegangen wird, dass sie in ihrem Antwortbrief schon die Daten ihres Besuchs mitteilen müssten. Die ungarischen Textproduzenten nehmen aber an, dass die Benutzung von einladen oder willkommen heißen nur eine allgemeine Floskel des Geschäftslebens sei, und keine konkrete Einladung für die deutschen Geschäftspartner bedeuten könnte. 3.3.3 „Wir freuen uns sehr, dass…“ In von ungarischen Textproduzenten verfassten Angeboten und Anfragen wird immer wieder die Art und Weise des Kontakts, den sie mit den deutschen Firmen führen, betont und eine neue Bestellung, eine neue Anfrage bedeutet für die Ungarn auch die Möglichkeit zur Vertiefung der Geschäftsbeziehung mit den deutschen Partnern. Aus diesem Grunde betonen sie ihre Freude darüber, wie zum Beispiel in dem folgenden Satz und in seinen Varianten, die aus dem Ungarischen ins Deutsche übersetzt wurden: Örülünk annak, hogy a cégeink baráti viszonyban vannak és az új megrendelésnek/ kérésnek/ megkeresésnek köszönhetően ismét alkalmunk van a jó kapcsolat ápolására/ elmélyítésére Wir freuen uns sehr, dass unsere Firmen miteinander in einem freundschaftlichen Kontakt stehen und dank der neuen Bestellung/ Anfrage/ Gesuche haben wir wieder eine Möglichkeit, unseren guten Kontakt zu pflegen/ vertiefen. <?page no="161"?> Deutsche und ungarische Geschäftsbriefe im Vergleich 151 Diese und ähnliche, oft nicht kurze Ausführungen, die nicht selten Wiederholungen beinhalten, halten die deutschen Geschäftspartner oft für überflüssig, da der Sachverhalt der Sätze aus dem Aspekt des konkreten Geschäftskontextes oder des jeweiligen Geschäftsverlaufes eigentlich inhalts- und gegenstandlos ist, wie es mir die Geschäftsführer des deutschen Forschungsinstitutes, an die die ungarischen Firmen ihre Angebote adressieren, erklärten. Die ungarischen Geschäftsleute halten aber diese Formulierungen der Kontaktpflege für unerlässlich. Dies wird auch durch das Personalpronomen unser betont, wobei interessant ist, dass sich der ungarische Partner im Namen beider Firmen äußert und davon überzeugt ist, dass sowohl der deutsche als auch der ungarische Partner die Qualität des Geschäftskontaktes schätzen kann. Auch eine implizite Danksagung für die Bestellung beinhaltet der zitierte Textteil, der Schwerpunkt der Intention liegt aber auch hier auf der Kontakthaltung. In dieser Hinsicht interpretieren ungarische Firmenleiter den Fokuspunkt des Satzes so, dass die neue Bestellung ein Mittel zur Vertiefung des geschäftlichen Kontaktes ist. Aus diesem Grunde wird in den deutschsprachigen Geschäftsbriefen, die von ungarischen Verfassern ohne ungarische Textvorlage verfasst werden, der Ausdruck wir freuen uns viel nachdrücklicher wiederholt. Diese Formulierungsmodalitäten interpretierten im Gespräch die deutschen Leiter so, dass die Ungarn „wieder mit zu viel Emotion“ ihre Briefe schreiben und einen kommunikativen Wert darauf legen, ihre Gefühle auch im Geschäftsleben auszudrücken. Ein Beispiel dafür: Örülünk, ha hosszútávú együttműködés alakul ki közöttünk. (‚Wir freuen uns, wenn es zu einer langfristigen Geschäftsbeziehung zwischen uns kommt.‘). Im ungarischen Sprachgebrauch wird dieser Satz im Indikativ ausgedrückt. Dies markiert, dass man die Zusammenarbeit zwischen den beiden Firmen auch in Zukunft für eine Tatsache hält. Im Deutschen, sagten die Geschäftsführer im Interview, klinge der Satz eher ungewöhnlich, sie würden in diesem Kontext einen Konjunktivsatz benutzen, der intensiver auf die Zukunft referiert. Derselbe Unterschied in der Aktionsart ist zu beobachten, wenn es um einen Vertrag geht: Örülünk, ha a szerződés szövegét megküldi. (‚Wir freuen uns, wenn Sie uns den Text des Vertrags zuschicken.‘). 3.3.4 „Wir bitten Sie höflichst“ Die ungarischen kulturellen Standards lassen direkte, explizite Formulierungen weniger zu als die deutschen, wenn es im Geschäftsleben um den Ausdruck von Bitten geht (Szalai 2009: 12). Dies kann dazu führen, dass die Bitten in den Ge- <?page no="162"?> Erika Kegyes 152 schäftsbriefen, die von ungarischen Textproduzenten in deutscher Sprache geschrieben werden, umständlicher, vorsichtiger, impliziter hervorgebracht werden als es in der deutschen Geschäftskultur üblich ist. 10 Bitten werden in der ungarischen Sprachkultur ganz besonders in der offiziellen Kommunikation durch viele Formen der Höflichkeitselemente sowohl grammatisch als auch lexikalisch markiert. Damit im Zusammenhang kommt es in Anfragen, die in das Deutsche übersetzt wurden, sehr oft vor, dass bei Mitteilung von Fristen, Zahlungs- und Bestellbedingungen der Superlativ höflichst benutzt wird. Zum Beispiel: Wir bitten Sie höflichst, uns bis zum 31.10. eine Antwort zu schicken, ob sie mit dem Lieferungstermin zufrieden sein könnten. In der ungarischen Sprachkultur verfolgt man mit diesem Wortgebrauch das pragmatische Ziel, die Bitte mit höflichem Nachdruck zu äußern. Der Superlativ höflichst/ auf höflichste steht hier eigentlich in Entsprechung zu ung. tisztelettel (dt. ‚mit Ehre, ehrenvoll‘) und leitet oft auch eine wiederholte Bitte ein. Auch in den deutschen Geschäftsbriefen wird dieser Superlativ oft benutzt, wie die Untersuchungen und Beispiele von Kohlegger (2004) gezeigt haben, wobei sie allerdings feststellte, dass höflichst am häufigsten in Mahnungen und Zahlungserinnerungen vorkommt. Demzufolge ist der pragmatische Kulturwert des Wortes in den beiden Sprachen voneinander verschieden, obwohl es in beiden Fällen um einen Nachdruck geht. 3.3.5 „Es ist für uns kein Problem“ Aus interkultureller Sicht ist es interessant hervorzuheben, dass das Wort Problem in den deutschen und in den ungarischen Geschäftsbriefen des Angebots höchstwahrscheinlich von unterschiedlichen kulturellen Vorstellungen geprägt wird. In der Interpretation der deutschen Geschäftsleute, die meine Fragen in kurzen Diskussionen beantwortet haben, geht es hier darum, dass in einer schwierigen geschäftlichen Situation eine gemeinsame Lösung gefunden werden soll. Demgegenüber bedeutet das Lexem Problem (ung. ‚probléma‘) für den ungarischen Kontext eine Aufgabe, die unter bestimmten Bedingungen auszuführen ist. Dies impliziert, dass die sprachliche Konstruktion es ist für uns kein Problem in den von Ungarn geschriebenen Geschäftsbriefen oft in der situativen Bedeutung steht: ‚wir können es machen‘. 10 Auf einen Unterschied im Ausdruck in Bezug auf Direktheit vs. Indirektheit weisen mehrere interkulturelle Untersuchungen hin. Überblick vgl. Bolten (2003). <?page no="163"?> Deutsche und ungarische Geschäftsbriefe im Vergleich 153 Demgegenüber wird dieses Lexem in den deutschen Antwortbriefen aus dem deutschen Forschungsinstitut durch das Modalverb können begleitet und deutet auf mögliche Schwierigkeiten hin, wie zum Beispiel: es könnte für uns ein Problem bedeuten. Mit diesem Bedeutungsunterschied hängt es unmittelbar zusammen, dass bei der Äußerung des Wunsches zum baldigen Vertragsschließen die ungarischen Partner expliziter formulieren und sich immer wieder darauf berufen, dass Änderungen für sie kein Problem bedeuten und sie können es lösen (ung. ‚megoldjuk‘). Für die von mir analysierten Briefe war es charakteristisch, dass diese Ausdrücke der Zuversicht kombiniert benutzt werden, um den Geschäftspartnern zu zeigen, dass man kompetent handeln kann: Nem probléma, megoldjuk. (‚Kein Problem, wir können es lösen.‘). Anscheinend sind sich die ungarische und die deutsche Formulierung sehr ähnlich, aber ihre Interpretationen können mancherlei Missverständnisse hervorrufen, da ungarische Geschäftspartner hier ihre Anpassungsfähigkeit in den Vordergrund stellen und durch die Anwendung dieser Sprachformel ihre Kompetenzen in schwierigen Situationen hervorheben möchten. Die deutschen Geschäftspartner verstehen aber unter dieser kommunikativen Formel nicht immer eine gemeinsame oder mögliche Lösung eines Problems, sondern wollen eher signalisieren, dass für sie eigentlich gar kein Problem vorhanden sei. Ganz vereinfacht: wo die deutschen Geschäftspartner kein Problem sehen, werden von Ungarn Verbesserungsvorschläge ausgearbeitet, um alle etwaigen Probleme schon von vornherein zu lösen. 4 Zusammenfassung Es ist leicht einzusehen, dass ein Geschäftsbrief, der den sprachkulturellen Konventionen des Empfängers nicht entspricht, die beabsichtigte Funktion nicht erfüllen kann (Tiittula 1995: 210). Diese Auffassung wurde auch in der Translationswissenschaft aufgegriffen. Auch Koch (2013: 205) hebt hervor: die Annahme, dass die Geschäftsbriefe eine „routinebetonte und phraseologisch fixierte Textsorte“ darstellen, scheint durchaus übereilt zu sein. Die Aufmerksamkeit des Translators wecken gerade solche Fälle, wie Höflichkeitssignale und Routineformeln der Kontakthaltung, weil sie kulturspezifische Merkmale tragen können. Die Textproduzenten fremdsprachiger Texte haben die kultur- und sprachspezifischen Kriterien der geschäftlichen Kommunikation in der Ziel- und Ausgangsprache parallel zu beachten, wenn sie einen Geschäftsbrief übersetzen oder unmittelbar in einer fremden Sprache formulieren. In den <?page no="164"?> Erika Kegyes 154 Textsegmenten der Geschäftsbriefe wird eine Geschäftswirklichkeit konstituiert (z.B. Rabatt gewähren), ein Informationsgehalt vermittelt (z.B. eine Einladung ablehnen), der Empfänger wird zu einer kommunikativen Handlung bewegt (z.B. Bescheid geben) oder es wird eine Sprechhandlung interaktiv/ dialogisch fortgesetzt (Koch 2013: 206). Die Art und Weise, wie diese in verschiedenen Sprachen und Kulturen zum Ausdruck gebracht werden, müssen Dolmetscher, Übersetzer, fremdsprachige Korrespondenten, Mitarbeiter von Firmen, die in dem Außenhandel tätig sind oder oft mit ausländischen Kunden kommunizieren, kennen. Diese Aspekte müssen in Zukunft auch in dem Fremdsprachenunterricht bzw. Fachsprachenunterricht intensiver verfolgt werden. Die im Beitrag analysierten Einzelphänomene der von ungarischen Textproduzenten verfassten Geschäftsbriefe zeigen es ja deutlich, dass es sich hier nicht (nur) um Interferenzfehler handelt, sondern um einen Transfer der eigenen kulturellen und sprachlichen Werte. 5 Literatur Adamzik, Kirsten (2010): Texte im Kulturvergleich. In: Luginbühl, Martin/ Hauser, Stefan (Hrsg.): MedienTextKultur. Linguistische Beiträge zur kontrastiven Medienanalyse. Landau. (Beiträge zur Fremdsprachenvermittlung; Sonderheft 16). S. 17-41. Arntz, Rainer (1990): Überlegungen zur Methodik einer Kontrastiven Textologie. In: Arntz, Rainer (Hrsg.): Übersetzungswissenschaft. Ergebnisse und Perspektiven. Tübingen. (Tübinger Beiträge zur Linguistik; 354). S. 393-404. Berwanger, Jörg: Geschäftsbriefe. http: / / wirtschaftslexikon.gabler.de/ Archiv/ 6388/ geschaefts briefe-v12.html (08.04.2016). 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S. 167-170. <?page no="167"?> „Araber-Knigge“ in der Region Zell am See und Kaprun (Salzburg/ Österreich): Misslungener Kultur-Transfer oder Beispiel für eine gegenseitige Wirt-Gast-Toleranz? Annikki Koskensalo (Turku) Zusammenfassung Der Ausgangspunkt des Beitrags ist, dass ein wegen Vorfällen produzierter, gutgemeinter Kulturführer (KF) für arabische Gäste vom Tourismus-Verband Zell am See-Kaprun Anfang Mai 2014 publiziert und bei deren Einchecken an Rezeptionen verteilt worden ist. Der KF wurde wegen Missverständnissen in der interkulturellen Kommunikation (IK) und Kritik von in- und ausländischen Medien Ende Juni zur Überarbeitung zurückgezogen. Mit einem Methoden-Mix interkulturell-linguistischer Textanalysen wurde der sog. „Araber-Knigge“ empirisch untersucht. Der Themenumfang reichte von Vollverschleierung arabischer Frauen, Unterkunft, Müll-Entsorgung, Handeln und Feilschen bis zu Verkehrsproblemen arabischer Gäste. Die Analyse-Resultate ergaben, dass der KF öffentlich nur an arabische, nicht aber an alle anderen Gäste verteilt worden ist. Bei der Teil-Text-Produktion wurde geschickt hinsichtlich des Müllproblems auf die Bedeutung des entsprechenden Hadith im Koran verwiesen. Man hätte mit diesen Gästekulturen schon vor der Textproduktion gezielte Befragungen über ihre Bedürfnisse, Gewohnheiten und Wünsche machen müssen. Die Bedeutung des Fallbeispiels für die IK- Forschung liegt darin, aus evident gewordenen Stärken bzw. Schwächen zu lernen, um sie ggf. optimieren bzw. minimieren zu können. 1 Einleitung In Referenz zum Tagungsthema "Sprach- und Textkulturen - interkulturelle und vergleichende Konzepte“ ist aus linguistischer Perspektive auf Basis des Axioms der engen Beziehung zwischen Kommunikation und Kultur 1 zu fragen, 1 Die Orientierung am Kulturbegriff erfolgt bei diesem empirischen Analyse-Niveau anhand von Kulturdimensionen bzw. -standards. In Fußnote 11 wird eine Verbesserung des Analyse-Instrumentariums vorgeschlagen. Allerdings sollten zwecks höheren Wissenschaftlichkeitsanspruchs kultursemiotische und diskursanalytische Überlegungen mit berücksichtigt werden. Transkulturalität als radikaler Paradigmenwechsel (West 2014: 108ff.) wird nicht klar evident und findet so nicht statt. Anti- Bias-Ansätze (Rosken 2009: 96ff.) wären hilfreich. Der zugrunde gelegte Kulturbegriff (s.o.) ist offen bzw. dynamisch (Otten 2009: 301) und folgt dem Kohäsionsan- <?page no="168"?> Annikki Koskensalo 158 wie kulturbedingte Einflüsse im kommunikativen Verhalten von Menschen identifiziert und beschrieben werden können. Der nachfolgend beschriebene Knigge 2 (Lauterbach 2008: 67ff.) für arabische Gäste ist ein interessantes, geeignetes Beispiel für Interaktionen 3 in interkulturellen Überschneidungssituationen von Kulturen (Broszinski-Schwabe 2011: 167ff.), welche ziemlich weit auseinander liegen: die österreichische Gastgeber-Kultur 4 und die arabischen Gäste- Kulturen, die teilweise noch sehr konservativ in ihren Gebräuchen und Sitten sind; wie etwa die saudi-arabische Kultur oder die Kultur der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) (vgl. Benesh Crocetti 2010). Die interkulturelle Ausrichtung von Forschungsansätzen, wie sich diese in den neuen Disziplinen wie der Interkulturellen Kommunikation (vgl. Földes 2007 5 ; Bolten 2012; Baldes 2015) und Interkulturellen Linguistik (vgl. Földes 2011), welche sich mit dem Theorie- Empirie-Vergleich zwischen Sprach-, Text- und Kommunikationskulturen beschäftigt, ist hier wegweisend und erfolgreich. Am Beispiel dieses Knigges für arabische Gastkulturen wie Saudi-Arabien (vgl. North/ Tripp 2012), Bahrain (vgl. Tripp/ Tripp 2008) 6 , VAE, Kuwait, Katar, Oman, Jordanien und Ägypten (vgl. satz (Rathje 2007: 254ff.). Wegen des aktuellen Fach-Diskurses muss zudem IK als D i s p o s it i v (Busch 2014) bzw. D i v e r s it ä t s k o m p e t e n z (Hoffman 2015: 198ff.) und bezüglich F u z z y L o g i k (Bolten 2011: 55ff.) berücksichtigt werden. 2 Beschreibung der Genese des Genre-Begriffs „Knigge“ bei Schürmann (1994: 24); Anstands-, Etikette- und Manieren-Bücher (1994: 2ff.). Mittlerweile gibt es Knigge-Bücher, die interkulturelle Aspekte etwa für das nördliche Afrika und für die arabischen Länder mit einbeziehen (Hanisch 2015: 173ff.). 3 Es handelt sich um direkte interkulturelle Kommunikation, wobei speziell das Suchmodell möglicher Wirkungszusammenhänge im Tourismus relevant ist (Lauterbach 2008: 128ff., hier 129f.). Zur Theorie interkultureller Begegnungen im Tourismus vgl. Kahlenbach (2013: 12ff.). 4 Bieger/ Beritelli (2013: 15) nennen als weitere externe Faktoren des Tourismus sämtliche Bereisten, d.h. die ansässige Ortsbevölkerung, welche, wenn sie überhaupt nicht bereit ist, mit Gästen in Kontakt zu treten, eine touristische Entwicklung verunmöglichen oder erschweren kann, währenddessen eine Bevölkerung, die den Gast offen aufnimmt und ihm freundlich entgegentritt, zu einem wesentlichen touristischem Vorzug werden kann. Zu soziokulturellen Effekten des Tourismus im Zielgebiet (vgl. Herdin/ Luger 2001: 6ff.; Bachleitner 2001: 20ff.; Schulz u.a. 2010: 589ff.; Eisenstein 2014: 43ff.). Zum Verhältnis zwischen Einwohnern und Touristen mit dem Lösungsansatz der Partizipation (vgl. Schulz u.a. 2010: 595ff.; Eisenstein 2014: 43ff.). 5 Földes (2007: 13) kritisiert richtig Heringer, dass es keinen interkulturellenVergleich, sondern bloß einen kulturellen Vergleich gibt und daher der Begriff „interkulturell“ oft logisch falsch angewendet wird. Dies ist mitzudenken, obwohl jedoch die Diktion beibehalten wird. 6 Tripp/ Tripp (2008: VI) merken Essentielles und Universelles an: „This book is also a guide to customs and etiquette of Bahrain. There are no absolute binding rules, other than to remember that the visitor is a guest in Bahrain and should therefore pay <?page no="169"?> „Araber-Knigge“ in der Region Zell am See und Kaprun 159 Wilson 2011) sollen kulturbzw. interkulturalitätsorientierte Forschungsmomente hinsichtlich Kommunikation mittels Text auf inter-, multi- und transkulturelle 7 Aspekte überprüft und reflektiert werden. Am Fall-Beispiel sollen mehr oder weniger gelungene Zusammenhänge zwischen den realisierten Texttraditionen, kontrastiv-konflikt-aufgeladenen Kommunikations- und Sprachkulturen aufgezeigt werden, wobei ein besonderes Augenmerk auf kulturelle Aspekte in der Textanalyse (Brinker/ Cölfen/ Pappert 2014: 24ff.) gelegt wird. Im Fokus liegen beim Gäste-Knigge die verwendeten sprachlichen Gestaltungsmittel und welche kommunikativen Konventionen der jeweiligen Sprachkulturen damit verknüpft werden. Relevante Analyseobjekte sind Textstrukturen, Aspekte der thematischen Entfaltung, Argumentationsarten sowie sprachliche Merkmale der Direktheit etc. Schließlich sollen einige Lern-Erkenntnisse 8 beschrieben werden, um solche misslungenen Beispiele im Sinne eines c ultur e c l a s h 9 (Herdin/ Luger 2001: 13) nicht nur bei Gäste- 10 sondern auch Bereisten- Kulturen zukünftig möglichst vermeiden zu können (Földes 2007). Die Hauptthese für diese Untersuchung lautet: Je mehr IK-Postulate erfüllt werden und je erfolgreicher diese in einem dynamischen Entwicklungsprozess durchlaufen werden, desto höher ist der IK-Grad, welcher aber lebenslanges Lernen erfordert und nie abgeschlossen ist (Baldes 2015: 128). due deference to the host the Bahrainis. Follow this maxim and you are unlikely to offend.” 7 Definition von „Transkulturalität“ vgl. Welsch 1995: 44. Neuerdings wird Transkulturalität als Konzept definiert, das alle Aspekte des neuen Kulturbegriffs (s. Fußnote 1) unter spezieller Betonung des Aspekts kultureller Durchdringung inkludiert (Kulturshaker.de: online). 8 Durch interkulturelle Missverständnisse wird es notwendig, sich mit fremder bzw. auch eigener Kultur auseinanderzusetzen und deren Konsequenzen für eine beidseitige Verständigung zu erkennen. Das Ziel besteht darin, sich für kulturelle Gemeinsamkeiten und Differenzen zu sensibilisieren (Broszinski-Schwabe 2011: 16). Es gilt dabei, Fremdheit als reale Befindlichkeit und soziales Konstrukt auf die Möglichkeit von Lernimpulsen im Prozess der Globalisierung zu untersuchen. Denn es ist stets mit zu bedenken, dass in Situationen, in denen das Vorliegen von Nichtverstehbarem, -integrierbarem und Rätselhaftem ein Befremdungseffekt erzeugt wird, neben Abwehr und Identitätsverlust auch Potentiale des Kreativen und Konstruktiven entfaltet werden (Buchenhorst 2015: 17). 9 Turner (2007: 87) definiert c u lt u r e c l a s h im Sinne von cultural conflict als einen Konflikt verursacht durch „differences in cultural values and beliefs that place people at odds with one another.” 10 Keinesfalls werden hier Araber als homogene Gruppe angenommen, sondern vielmehr das Gegenteil bei den diversen Beispielen aufgezeigt, wie dies auch ganz klar Forschungsresultate (Hansen 2009; Rathje 2014: 39ff.) belegen. <?page no="170"?> Annikki Koskensalo 160 2 Einige Bemerkungen zur Textsorte Etikette bzw. Knigge Bei der Textsorte Etikette 11 „Where Cultures Meet“ (dt. ‚Wo Kulturen aufeinander treffen‘) ist es im Nachlauf zu kommunikativen Irritationen und Konflikten gekommen, wobei aber schon vorher wegen diverser Vorkommnisse 12 ein Regelungsbedarf entstanden ist. Insofern, indem es zu einer Kooperation zwischen Tourismusverband, örtlichen Behörden (Polizei) und österreichisch-arabischer Handelskammer gekommen ist. So ist eine achtseitige Broschüre in Englisch und Arabisch zur Harmonisierung des Miteinanders von heimischer Gast- Bevölkerung und arabischen Gästen 13 entstanden, welche seit Anfang Mai 2014 11 Sebenius (2009: 1) schränkt richtig ein: „Etiquette concerns are only one level in a complex set of factors that can influence cross-border negotiating behavior.” Es handelt sich hier nur um die 1. Ebene („common expectations for surface behavior” (2)) einer wissenschaftlichen Kulturanalyse mit dem Zweck „sensitivity to etiquette basics allows negotiators opportunities to avoid inadvertent insults, demonstrate respect, enhance relationships, and strengthen communication” (5). Auch bei einer zweiten, tiefer schürfenden Ebene (z.B. Hall-Hofstede-Kultur-Dimensionen-Analyse) ist besondere Aufmerksamkeit auf „stereotyping national cultures […] overemphasizing national culture […] falling prey to potent psychological biases in crosscultural perception“ (2) zu richten. Gerade im Hinblick auf die angesprochenen arabischen Gastkulturen sind sehr unterschiedliche Ausprägungen von Hofstedes Dimensionen vorzufinden. Daher ist jeweils spezielles Augenmerk auf die Individualität jeder interkulturellen Kommunikationssituation zu legen (Baldes 2016: 220). Zwecks weiterer vertiefender Analyse vgl. Herdin/ Luger 2008: 143ff; speziell zur kulturellen Matrix als praktische Hermeneutik des Fremden vgl. 146ff. 12 Viele arabische Gäste können die Verkehrsschilder im Pinzgau nicht lesen, sodass es immer wieder zu brenzligen Verkehrssituationen, Zu-schnell-Fahren, Falsch-Parken und Unfällen komme (Broszinski-Schwabe 2011: 25; Kaindl 2014: online; ausführlich ORF.at 2013b: online). Weil arabische Gäste nicht die Anschnallpflicht in Österreich befolgt haben, ist 2013 ihr ungesichertes Kleinkind bei einem Auffahrunfall zwischen Bruck und Zell am See gestorben, wobei ein Milchtankwagen-Lenker diesen Unfall verursacht hat (Kaindl 2014: online; ausführlich ORF.at 2013a: online). In Flachau stoppten Polizei-Beamte einen Mietwagen mit einer kuwaitischen Familie, in dem für sieben Personen zugelassenen Mini-Van saßen 13 (! ) Personen, darunter 10 Kinder (Salzburger Fenster 2015: 15). Arabische Gäste lassen überall ihren Müll (am Straßenrand, im Hotelzimmer und Flur) liegen (Hinz 2014: online; Kaindl 2014: online). 13 Diese Gästegruppe ist die zweitstärkste hinter den deutschen Gästen. 2013 waren die Araber im Vergleich mit Chinesen und Russen in Salzburg mit 44 % : 15 % : 14 % aufgeteilt (Mitterlehner 2014: 2). Im Sommer 2013 hat es in Zell am See-Kaprun 275.217 Übernachtungen von arabischen Gäste gegeben, wobei in ganz Salzburg in der Gesamtstatistik 2012/ 13 471.792 Übernachtungen (davon am meisten aus Saudi Arabien und VAE) verzeichnet wurden (ORF.at 2014a: online; Heute.at 2014: online). Im <?page no="171"?> „Araber-Knigge“ in der Region Zell am See und Kaprun 161 den arabischen Gästen bei Ihrer Ankunft überreicht worden ist. Diese Broschüre 14 wurde aber teilweise nicht positiv von den arabischen Gästen 15 bzw. internationalen Medien aufgenommen, daher zurückgezogen und wegen ungenügender political correctness (ORF.at 2014b: online; Salzburger Fenster 2015: 15) eingestampft (Mitterlehner 2014: 2). Der Begriff „Knigge“ (Knigge 1788) hängt sehr eng mit dem der „Etikette“ (frz. etiquette) 16 - auch als Benimmregeln bezeichnet - zusammen. Die Etikette repräsentiert ein Regelwerk, welches sich auf zeitgenössische, traditionelle Normen beruft und Erwartungen an das Sozialverhalten innerhalb bestimmter sozialer Kreise beschreibt (Murray u.a. 1989: 27). Die Gleichsetzung des Begriffs „Etikette“ mit „Umgangsformen“ gestaltet sich aber problematisch; - so bezeichnet Etikette einerseits Umgangsformen, welche um der offiziellen Förmlichkeit willen dargeboten werden und andererseits die Gesamtheit allgemein oder speziell gültiger sozialer Umgangsformen (s.o.) (Duden 2010: 311). Als gute Umgangsformen (inkl. sinn- und sachverwandte Begriffe: „Etikette“ (Pappritz 2008), „gutes Benehmen bzw. Betragen“, „gute Manieren“ (Asserate 2003), „guter Ton“, „Anstand“, „Höflichkeit“ (Beetz 1996: 1476ff), „Fairness“, „Achtung“ stärksten Monat August sind 36 % der Gäste Araber. Die Gäste aus dem Orient bleiben oft mehrere Wochen, kommen auch in der Nebensaison und freuen sich, wenn es regnet. Sie geben durchschnittlich 245 € pro Kopf und Tag aus - somit doppelt so viel wie andere Gästegruppen (Kaindl 2014: online; Damberger 2015: 14). Sie lieben das regionale Angebot, das Grün, das klare, frische Wasser, die Bergseen, das Klima, die Kühle, den Sturm, Nebel, Gletscher und Schnee (Salzmann-Schätzer 2014: 32; Gulf Daily News 2014: 2; ÖHV 2008: 39). Zu den vier elementaren Umweltdiensten (Umwelt als Standortfaktor, Vorrat natürlicher Ressourcen, Absorptionsmedium und qualitatives Konsumgut) vgl. Schulz u.a. 2010: 602. 14 Trotz intensiver Bemühungen ist es der Autorin nicht gelungen, ein Original- Exemplar zu erhalten und war daher auf die frei zugänglichen Quellen im Internet angewiesen. 15 Die Broschüre war nicht falsch, aber ungeschickt (Kaindl 2015: 10). Bei arabischen Gästen sei prinzipiell ohnehin das persönliche Gespräch wichtiger als gedrucktes Info-Material. Hamza (Kaindl 2015: 10) charakterisiert das Problem beim Araber- Knigge so, dass dieser 1. in der Öffentlichkeit an die Araber und 2. nicht auch an Russen und Deutsche verteilt worden sei. Dies wurde von den arabischen Gästen als Erniedrigung und Beleidigung (Damberger 2015: 14) empfunden. Der Grand Hotel- Eigentümer Wilfried Holleis, der im Sommer sehr viele Araber(inn)en beherbergt, konstatiert, dass er überhaupt keine Probleme mit dieser Gästegruppe habe, die ganze Diskussion für intolerant halte und dies als Apartheid im Tourismus bezeichnet (Roman 2014: online). Diese Bezeichnung des Hoteliers wurde vom britischen Daily Mail übernommen (Travelmail Reporter 2014: online). 16 Dieser Zusammenhang von Knigge mit Etikette mag trivial sein. Er ist aber dennoch für ein tieferes Verständnis interessant. <?page no="172"?> Annikki Koskensalo 162 sowie „menschliches Zusammensein“) wird die Gesamtheit von Verhaltensweisen und -regeln bezeichnet. Diese sollen dazu dienen, menschliches Zusammensein möglichst reibungslos bzw. angenehm zu gestalten, wobei je nach Herkunft, Kulturkreis, sozialem Milieu oder Umfeld übliche oder geltende Umgangsformen voneinander abweichen können. Diese Umgangsformen finden sich auch in eher komprimierter Form in Genres wie Reise-, Sprach-, Kultur-, internationalen Geschäfts- und Berufsführern. Im Konnex stellen sich Fragen von wissenschaftlicher Relevanz (Kracht 1998: 5): 1. Worin besteht der kulturelle Stellenwert von Etikette? 2. Worin bestehen die Grenzen bzw. Probleme ihrer wissenschaftlichen Analyse? 3. Worin bestehen die praktischen Perspektiven österreichischer Etikette, welche über den akademischen Erkenntnisgewinn hinausweisen? 4. Welcher Erkenntniswert kommt der Anstandsliteratur des systematischkasuistischen Typs als Quelle kulturwissenschaftlicher Forschung zu? 5. Worin bestehen die Charakteristika und Grenzen der Textsorten Etikette und Knigge? 6. Welche methodischen Möglichkeiten gibt es bei der Datensammlung? 7. Welche methodischen Deutungsmöglichkeiten bestehen bei der Daten- Analyse? 8. Wie steht es um die praktische Kenntnis österreichischer Etikette im Ausland, ihre Erforschung in Österreich und ausländischen Österreich- Studien? 9. Kontrastiv zu Frage 7: Wie steht es um die praktische Kenntnis arabischer Etikette außerhalb arabischer Länder und Kulturen, deren Erforschung und externer Arabien-Studien? 3 Analyse-Objekte am Fallbeispiel „Araber-Knigge“ Die T h e m e n s tr u ktur besteht prinzipiell aus englischen und arabischen Texten, welche mit Bildern und ikonischen Zeichen illustriert sind. Die th e m a ti s c h e E ntf a ltu n g bzw. parallel Ar g u m e nt a ti o n s s tr u ktur beginnt mit einem Vorwort, in dem die Tourismusbehörde zunächst nicht ungeschickt auf die enge und lange Beziehung zwischen Österreich und dem Nahen Osten hinweist. Um diese einzigartige Beziehung zu erhalten, wolle man den arabischen Gästen einige Informationen in Form eines Kulturführers in die Hand geben. So heißt es da: „Sehr respektvoll 17 bitten wir Sie, sich an sie zu halten“ 17 Bauernberger (ORF.at 2014a: online) betrachtet den Knigge primär als Informationsbroschüre maßgeschneidert für arabische Gäste, die eine wertvolle [touristische, <?page no="173"?> „Araber-Knigge“ in der Region Zell am See und Kaprun 163 (Dt. Übersetzung). Die th e m a ti s c h e S tr u ktur folgt nicht dem Lehrbuch. Vielmehr wird mit dem Dress-Code für Damen (= einzelne Etikette-Regeln zur Bekleidung) begonnen, weil die meist schwarze V o llv e r s c hl e i e r u n g der arabischen Frauen 18 (s. Abb. 1) von der einheimischen Bevölkerung in der Gastgeber-Region oft auf Irritationen 19 und Ablehnung stößt. Anm. A.K.] Zielgruppe darstellen. Weil sie aus einem anderen Kulturraum kommen, bemüht man sich, relevante Informationen mit dem Ziel weiter zu geben, dass ein temporäres Zusammenleben gut funktioniert. Denn es sei wichtig, sich mit Respekt gegenseitig zu begegnen. Bauernberger stellt weiterhin fest, dass der arabische Gast kein Einheitsgast sei. So gebe es junge arabische Gäste, die sehr reiseerfahren sind und/ oder im Ausland studiert haben, wohingegen es auch Gäste gebe, die aus sehr traditionellen arabischen Ländern kommen und über keine bis wenig Reiseerfahrung verfügen, weswegen es gut sei, die arabischen Gäste zu informieren. Dabei müsse man sehr gefühlvoll an die Dinge herangehen. Denn wenn Österreicher sich im arabischen Raum aufhalten, dann gebe es auch dort Gepflogenheiten, an die man sich zu halten habe. 18 Die Abaya/ der Hidschab ist in Saudi-Arabien Pflicht (seit dem 18. Jh. eine sehr konservative Einstellung dazu); im Jemen, Oman bzw. anderen kleinen Golfstaaten ebenso Pflicht, aber lockerere Einstellung dazu; im Iran seit 16.11.2013 keine Pflicht mehr. In arabischen Ländern wie Saudi-Arabien, im Jemen und in anderen Regionen der arabischen Halbinsel (s. Abb. 1 oben) wird der Dschilbab (Oberbegriff gemäß Koran, Sure 33, Vers 59) mit einem Niqab (= Gesichtsschleier) kombiniert (Knieps 1993; Schneider 2011). Betreffs Bahrain vgl. Tripp/ Tripp 2008: 56f.; Tragen des Kopftuches in Österreich vgl. Douschan 2015: 105ff. 19 Bürgermeister Peter Padourek (Zell am See) kommentiert dies so: „Wenn eine einzelne Gästenation irgendwo massiv auftritt, dann ist das ein Problem. Das ist mit den Österreichern in Lignano genauso. Bei den Arabern ist das massive Auftreten durch die Burka sichtbar. Das sorgt für Irritationen bei Einheimischen und anderen Gästen. Die Gäste aus den übrigen Ländern haben ein anderes Bild von unserer Region im Kopf“ (zit. nach Kaindl 2014: online). Die anderen Gästegruppen sagen ihren Gastgebern, dass sie deswegen nicht mehr wiederkommen würden. Dies ist auch in Hotelbewertungen von Gästen im Internet nachzulesen (vgl. Kaindl 2014). Schulz u.a. (2010: 85) zählen u. a. soziokulturelle Faktoren zu exogenen Krisenursachen in Zielgebieten. <?page no="174"?> Annikki Koskensalo 164 Abb. 1: Formen der Verhüllung im Islam (Donaukurier 2011: online) Gelöst wurde das Problem von den Text-Produzenten wie folgt (s. Abb. 2): Abb. 2: Verschleierung. (Araber-Knigge 2014; Travelmail Reporter 2014: online) <?page no="175"?> „Araber-Knigge“ in der Region Zell am See und Kaprun 165 Was Schwimmen und Baden in der Region Zell am See und Kaprun anbelangt, so könnten dies arabische Frauen und Mädchen mit einem islamischen Badeanzug tun, den sie in vielen Geschäften kaufen können (Roman 2014: online). Es ist anzumerken, dass das Bekleidungsbzw. Verschleierungsproblem wie auch bei späteren Punkten zwei wesentliche Fragen aufwirft: 1. Wie sehr muss sich ein Gast (männlich und weiblich) an die Kultur des Gastgeberlandes anpassen? 2. Wie sehr müssen sich die Gastgeber an die Kultur der Gäste anpassen? Einerseits hat sich der Gast im Gastgeberland an die dort gültigen Gesetze, ortsüblichen Sitten und Gebräuche und Gebzw. Verbote dort traditionell ausgeübter Religionen zu halten. Es gilt aber auch in Beantwortung der Frage 2, wie dies Bürgermeister Padourek bezüglich verstärkt auftretender arabischer Beschriftungen in Zell am See anmerkt: „Es gefällt mir nicht, wenn man sich so verkauft. Wir dürfen uns nicht anbiedern. Man sollte sich bei den großen Aufschriften auf Deutsch und Englisch beschränken. […] Sie denken, wenn man zahlt, kriegt man alles“ (Kaindl 2014: online). Einerseits ist zu bedenken, dass arabische Frauen in ihrer Heimat von ihrer Sozialisation her gewöhnt sind, sich mehr oder weniger zu verschleiern, wobei die religiöse Komponente 20 keineswegs vernachlässigt werden darf. Bischur (2015: 170) weist darauf hin, dass die Legitimierung der im Tragen des Kopftuches ausgedrückten muslimischen Religiosität als individuelle Wahl interpretiert werden muss, obwohl diese ausgehend von ihrem religiösen Empfinden gar nicht als Wahl wahrgenommen, sondern als Teil ihrer religiösen Identität verstanden wird. Was das Tragen des Hidschabs anbelangt, so ist weder die Form der Verschleierung noch die Pflicht des Tragens innerhalb der diversen Ausprägungen des Islam eindeutig (Bischur 2015: 170). In Österreich ist aber die freie Religionsausübung ein Grundrecht bzw. Menschenrecht 21 . Die Toleranz gegenüber Judentum bzw. Islam hat es 20 Grigo (2015: 7) weist nach, dass religiöse Kleidung nicht nur Ausdruck sozialer Kontrolle oder Marker religiöser Zugehörigkeit respektive Differenz ist; - vielmehr diene diese Art von Kleidung vielfältig der Konstruktion von Identität und sozialer Selbstverortung. Konträr mit religiöser Kleidung oft verbundene Assoziationen von Rückständigkeit und Fremdbestimmung (Außensicht von der Gastgeberbevölkerung im Raum Zell am See/ Kaprun) wird hier vielmehr die Komplexität und Kontingenz von Abwägungs- und Ausverhandlungsprozessen in alltäglichen vestimentären Entscheidungssituationen evident. 21 Im Kontext von Menschenrechten bedarf es angesichts einer solchen Problemlage einer angemessenen, klugen, akzeptablen (Lokal-)Politik, welche von einem gemeinsamen Bemühen um beidseitig passende Bedingungen getragen sein sollte, die es Menschen im salzburgischen Pinzgau ermöglichen, sich unter den Auspizien der Anerkennung Andersdenkender und -lebender zu entfalten. Und so paradox es klingt: wer unter diesen Auspizien (lokal-)politische Philosophie betreibt, strebt an, <?page no="176"?> Annikki Koskensalo 166 schon in der K.-u-.k.-Monarchie Österreich-Ungarn gegeben. Kaindl (2014: online) berichtet, dass lange von den Textproduzenten diskutiert worden ist, ob man das Thema Kleidung ansprechen soll, weil dies als Angriff auf den Islam aufgefasst werden könnte. Dies ist heikel, nachdem gerade vorher Respekt und Gefühl eingefordert worden ist. Dem wurde aber hier nicht gefolgt; denn der Unterschied ist „push or pull“, wobei es leider der „Zeigefinger“ war, welcher bittere Reaktionen ausgelöst hat (Haider 2014: 1). In Beantwortung der schriftlichen parlamentarischen Anfrage des Abgeordneten Haider betreffend „Verhaltensregeln im Tourismus“ betont der für Tourismus zuständige Bundesminister Mitterlehner (2014: 2): „Das Zusammenleben von Gästen und einheimischer Bevölkerung funktioniert in Österreich hervorragend. Obwohl Österreich ein sehr tourismusintensives Land ist, kommt es nur in ganz vereinzelten Fällen zu Problemen. Unsere Gastfreundschaft und unsere vorgelebte Toleranz sind die besten Garanten für ein harmonisches Miteinander von Gästen und Bevölkerung.“ Es liegt nun also an der vorgelebten Toleranz der Bevölkerung in dieser Region, auf arabische Gäste so einzuwirken, wobei im Sinne von Voltaire Toleranz wechselseitig ausgeübt werden muss. Angesichts der Tatsache, dass in Europa gut 15 Millionen Muslime leben, ist anzumerken, dass diese mit ihrer Religion und Lebensphilosophie, Glaubensströmung, Kultur und Lebensweise einen Teil Europas bilden und somit die europäische Kultur mitgestalten, vorausgesetzt, dass diese, wie der Islam, eben nicht als wandlungsresistente, monolithische Größe betrachtet wird (Kokew 2015: 202). Die Phänomene der Toleranz sind vielfältig, wie dies Kokew (2015: 218) anhand des Koran und der Hadithen nachweisen konnte. Das nächste Thema betrifft die gastliche Unt e r k u nft (s. Abb. 3): Grenzen politisch-praktischer Möglichkeiten zu sondieren, immer unter der wichtigen Vorgabe, dass gleiche Freiheit bei wechselseitiger Anerkennung die einzige Basis für die eigene Entfaltung darstellt - sei es allein oder im Zusammenwirken mit diesen auf den ersten Blick hochgradig Anderen (Holzleithner 2015: 107). <?page no="177"?> „Araber-Knigge“ in der Region Zell am See und Kaprun 167 Abb. 3: Verhalten in der Unterkunft (Quelle: Araber-Knigge 2014: 3; TR 2014: online) Die arabischen Gäste werden u.a. gebeten, ihre Unterkünfte pfleglich zu behandeln, keine elektrischen Kochplatten zu verwenden und mitgebrachtes Essen vom Tisch (vgl. Schürmann 1994: 63-154) und nicht vom Boden zu essen. Zudem werden Hinweise zur Nachtruhe, Abfallbeseitigung und Rauchverbot gegeben. So ist in Hotelzimmern Kochen, Müll herum liegen lassen und unangemessenes Lärmen zu unterlassen sowie prinzipiell die Mülltrennung zu beachten. Gerade diese Punkte haben in ausländischen Print-Medien zu Kritik und Spott geführt. Das deutsche Nachrichtenmagazin Fokus spottete Ende Mai, dass die lieben arabischen Gäste bitte nicht vom Boden essen sollen (Hinz 2014: online). Die britische „Daily Mail“ schrieb sogar von „a kind of tourism apartheid“ (Travelmail Reporter 2014: online). Hamza (Kaindl 2015: 10) merkt diesbezüglich an: „Das Essen ist für den Araber ein Geschenk von Gott. Deshalb soll man nicht hoch darüber sitzen. Mit der Hand kommt die Energie direkt in den Körper und es schmeckt besser. Wenn die Zimmer dabei verschmutzt werden, muss man klar in die Hausordnung schreiben, dass gereinigt werden muss und das extra kostet.“ An sich sind dies Themen einer jeden normalen Hausordnung 22 im Hotel, wie diese international üblich sind und Gästen ganz gleich welcher Herkunft beim Einchecken mitgeteilt werden sollen. Wenn etwa Verschmutzungen und Beschädigungen von Gästen verursacht werden, dann sind Reinigung und Reparatur natürlich von ihnen zu bezahlen. Die Gastgeber ha- 22 Arabische Gäste könnten problemlos laut Hamza mit einer Hausordnung auf bestehende Regeln aufmerksam gemacht werden, wenn sie diese in ihrem Zimmer überreicht bekommen und dort in Ruhe lesen können (Kaindl 2015: 10). <?page no="178"?> Annikki Koskensalo 168 ben aber wiederum die religiöse Komponente des Essens am Boden zu berücksichtigen. Wenn nun arabische Gäste dies aus religiösen Gründen so wünschen, dann ist dies sicher - wie von Hamza vorgeschlagen - machbar. Ein weiteres Thema ist das M üll - P r o b l e m 23 - wie Kaindl (2014: online) schreibt, dass Araber überall Müll liegen lassen. Auch ihr Verhalten im Straßenverkehr haben schon Besprechungen zwischen Polizei und Tourismusverband verursacht. Im Araber-Knigge wird zum Thema Müllentsorgung (s. Abb. 4) auf die Bedeutung des entsprechenden Hadith (rituelle Reinlichkeit) im Koran und in der Sunna (Siddiqi 1993) verwiesen. m Abb. 4: Müllentsorgung (A-Knigge 2014; TR 2014: online) Danach wird auf die gute Qualität des österreichischen Leitungswassers, auf das österreichische Recyclingsystem hingewiesen verknüpft mit der Bitte an arabische Gäste, auf öffentlichen Plätzen eigenen Müll wegzuräumen. Hier haben die Text-Produzenten professionell, kultur- und religionsorientiert, sachlich logisch und nachvollziehbar gehandelt. Das in arabischen Ländern normale H a n d e l n u n d F e il s c h e n bei Geschäften und um Preise ist in der Region Zell am See/ Kaprun 24 nicht üblich, 23 Zu Umwelt als Absorptionsmedium (= Aufnahme von Abfallprodukten der touristischen Produktion und des touristischen Konsums in der Destination durch die Umweltmedien Boden, Luft und Wasser) (Schulz u.a. 2010: 602). 24 Zum Begriff der „touristischen Region“ vgl. Schulz u.a. 2010: 565. Relevanter Knigge- Text vgl. Travelmail Reporter 2014: online. <?page no="179"?> „Araber-Knigge“ in der Region Zell am See und Kaprun 169 weil die Preise in Österreich Festpreise 25 sind. So ist im Knigge nachzulesen, dass stets die genaue Anzahl aller Gäste 26 anzugeben sei. Es sei möglichst vorher nachzufragen, ob das Hotel etwa die Bedürfnisse von Gästekindern erfüllen kann. Die arabischen Gäste sollten sich schon vorweg mit den geltenden Stornogebühren vertraut machen. Hamza (Kaindl 2015: 10) rät, sich als österreichischer Geschäftspartner nicht auf das bei Arabern gewohnheitsmäßige Handeln (Abercron 2009: 10-31) einzulassen. Auch dann nicht, wenn sie es trotzdem versuchen, weil sie es nicht akzeptieren können, dass es in Österreich Fix- Preise gibt. 27 Es ist aber festzuhalten, dass sich Araber und Moslems in ihrem wirtschaftlichen Handel nicht amoralisch bzw. etwa unethisch verhalten, denn alle moralischen Normen und daraus folgenden Prinzipien für wirtschaftliches Handeln können auf das ihnen zugrunde liegende Prinzip der Gerechtigkeit zurückgeführt werden, welche einen permanenten Rückbezug auf die konkretisierenden Bestimmungen der primären Quellen (Koran und Überlieferung der Sunna) erfordert und so einem Andersgläubigen mangels ausreichender Kenntnis dieser Quellen und ihres rechtlich-moralischen Kontextes schwer verständlich ist (Schmiedel 2015: 137f., 220). Wegen der P ro b l e m e mit a r a bi s c h e n V e r k e hr s t e il n e h m e r n (vgl. Fußnote 12 wird im Knigge angeraten: Im Auto dürfe die Maximalanzahl von Personen nicht überschritten werden. Das Parken sei auf der Straße, auch vor Geschäften, nicht erlaubt. In Österreich seien speziell Geschwindigkeitsbegrenzungen, Parkverbote und die Gurtpflicht, wobei besonders Kleinkinder immer angeschnallt sein müssen, einzuhalten. Das Gepäck dürfe nicht auf dem Beifahrersitz transportiert werden. Es bestehe zudem Kindersitzpflicht, wenn Kinder kleiner als 1,50m groß sind. Arabische Fahrradfahrer haben das Fahrverbot auf Bürgersteigen und Wanderwegen zu beachten. Es bestehe zudem Helmpflicht für Kinder beim Fahrradfahren. Während des Fahrradfahrens sei für alle Altersgruppen Telefonieren mit dem Mobiltelefon verboten (Roman 2014: online). Im Knigge wird als Alternative auf ein leistungsfähiges Taxi- 25 Das stimmt nicht ganz, weil es doch bei manchen Geschäften bzw. in bestimmten Branchen einen gewissen Spielraum gibt. 26 Die arabischen Gäste betrachten es auch als Teil des Handelns, dass sie für vier Personen buchen, aber dann zu sechst kommen, was regelmäßig bei Hoteliers in der Region für Ärger sorgt (Kaindl 2015: 10). 27 Hier stoßen offensichtlich zwei Welten aufeinander, wie dies Hooker (2012: 394) zum „haggling” treffend beschreibt: „One-on-one-bargaining of this kind can actually be more efficient, in an economic sense, than low-context Western commerce that explicitly reveals an equilibrated market price one price tag or web site. Negotiation may discover a price on the seller and I can agree, allowing mutually beneficial trade to proceed, even when one of us is dissatisfied with the market price and no trade would occur in a fixed-price system.” <?page no="180"?> Annikki Koskensalo 170 System in der Region hingewiesen. Hamza (Kaindl 2015: 10) kommentiert den arabischen Autofahrstil, indem er sagt, dass die Araber bei uns fremd seien (Broszinski-Schwabe 2011: 191, 195-209, 211) und mit für sie fremden Autos fahren. In den arabischen Staaten gebe es kaum Beschränkungen. Die Wüste sei weit. Auf arabischen Autobahnen werde mit über 200km/ h gefahren. Arabische Familien seien groß und alle Familienmitglieder müssen ins Auto passen. Wenn die Kinder nicht gesichert seien und es komme zu einem Unfall, dann sei man selbst schuld (vgl. bspw. für Bahrain: Tripp/ Tripp 2008: 85f.). Der Staat kümmere sich nicht darum. Am besten sollten daher die Autovermieter in der Region Zell am See/ Kaprun auf die STVO aufmerksam machen. Die Einwände von Hamza mögen für arabische Länder gelten - seine Anregung, arabische Gäste durch die Autovermieter einzuweisen, ist innovativ, aber praktisch problematisch. Denn es gilt die österreichische Straßenverkehrsordnung (STVO), welche von allen Verkehrsteilnehmer(inn)en einzuhalten ist und zum Schutze aller dient. Die STVO ist aber in aller Kürze und Prägnanz nicht so einfach zu vermitteln. Aber auch in arabischen Ländern haben sich Ausländer(inn)en an die dortigen Verkehrsregeln zu halten. 4 Fazit, Bewertung und Ausblick Bei verschiedenen Themen ist es hier auf beiden Seiten zu interkulturellen Missverständnissen gekommen, weil sich offenbar beide Seiten zu wenig in Sachen wechselseitiger Toleranz, Respekt und Akzeptanz geübt haben. Von einem gelungenen Textkultur-Transfer oder einer wirklich praktikablen Idee einer gegenseitigen Wirt-Gast-Toleranz kann hier wohl nicht gesprochen werden, obwohl gute, wohlgemeinte Ansätze vorhanden gewesen sind. Es ist vielmehr die interbzw. multi-kulturelle Brille bei Gastgebern und arabischen Gästen und nicht die transkulturelle Forschungsperspektive (Stehling 2015: 137f.) mit gleicher Augenhöhe bzw. Gleichheitsparadigma (d.h. auf Basis der Menschenrechte, wie etwa das Recht auf freie Religionsausübung (s.o. Dress-Code für arabische Frauen)) (Koskensalo 2013: 33; 2010) gebraucht worden. Wenn man mit arabischen Gästen im Sinne einer seriösen Gast-Gastgeber-Beziehung 28 spricht, dann lassen sich bei einer direkten Gastbzw. Kundenorientierung viele Probleme vermeiden. Arabische Gäste sind laut Hamsa sehr wohl bereit, sich hiesigen Landessitten anzupassen 29 , wenn mit ihnen so kommuni- 28 Hamza betont, dass aus seiner Sicht der Gast immer König sei, egal, von wo er komme (Kaindl 2015: 10). 29 Nach Luger (2004: 176) entsteht erlebnishafte Reisezufriedenheit in der touristischen Beziehung zwischen Eigenem und Fremden am ehesten dann, wenn man sich <?page no="181"?> „Araber-Knigge“ in der Region Zell am See und Kaprun 171 ziert 30 wird, dass sie ihr Gesicht wahren können. So werde auch eine allgemein gehaltene, in den Zimmern liegende Hausordnung befolgt (Salzburger Fenster 2015: 15). Wie immer ist wichtig: gute, herzliche, professionelle Gastlichkeit, Höflichkeit, Flexibilität, Sachlichkeit, gute Argumentation und Beharrlichkeit mit arabischen Gästen (ÖHV 2008: 27ff.). Es gilt die goldene Regel, wie diese Schulz u.a. (2010: 325) formulieren: „Um Kunden in der Hotellerie zufriedenzustellen, ist eine genaue Kenntnis der spezifischen Kundenerwartungen erforderlich.“ Die prinzipielle Frage (analog zu Schulz u.a. (2010: 590)), ob Tourismus einen Beitrag zum gegenseitigen Verständnis verschiedener Kulturkreise leistet, kann nicht pauschal beantwortet 31 werden. Die Begegnung diverser Lebensstile und Kulturen kann positive wie negative Folgen haben. Der Tourismus kann einen Beitrag zum Abbau von Vorurteilen leisten, wenn sich Reisende auf die Destinationskultur vorbereiten, an den Lebensstil, die Kultur vor Ort anpassen und eine gegenseitige Bereitschaft zum Kennenlernen vorliegt. Die touristische Entwicklung einer Destination, welche permanent gegen Interessen der einheimischen Bevölkerung verläuft, ist nicht möglich. So ist der Tourismus auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen. Die Beteiligung der Bevölkerung hat daher bei der Planung von touristischer Entwicklung im Zielgebiet bzw. bei der Umsetzung relevanter Maßnahmen hohe praktische Relevanz (Schulz u.a. 2010: 600). 5 Literatur Abercron, Konstantin von (2009): Handeln & Feilschen im Urlaub. Verhandeln Sie Schnäppchen im Bazar. Norderstedt. Asserate, Asfa-Wossen (2003): Manieren. Frankfurt am Main. (Die Andere Bibliothek; 226). Baldes, Monika (2015): Interkultureller Kompetenzerwerb im Alpentourismus. Handlungspotentiale und Entwicklungshilfen. Wiesbaden. Bachleitner, Reinhard (2001): Alpentourismus. Bewertung und Wandel. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 47). S. 20-26. gut vorbereitet auf den Weg gemacht und seine Vorstellungen dem Umfeld anpasst hat. 30 Hooker (2012: 389) formuliert Essentielles: „Communication is fundamental in business, because business is a collaborative activity.” 31 Bachleitner (2001: 23) stellt fest, dass die Konfrontation mit dem Fremden und Andersartigen bei manchen ein Gefühl von Ablehnung und Unsicherheit für das Selbst und Ich forciert, was dann als Bedrohung durch Touristen empfunden werden kann, aber nicht muss. <?page no="182"?> Annikki Koskensalo 172 Beetz, Manfred (1996): Höflichkeit. In: Ueding, Gert (Hrsg.): Historisches Handbuch der Rhetorik, Bd. 3. Tübingen. S. 1476-1486. Benesh Crocetti, Gina (2010): CultureShock! United Arab Emirates. A Survival Guide to Customs and Etiquette. Reprint 2009. Tarrytown. Bieger, Thomas/ Beritelli, Pietro (2013): Management von Destinationen. 8. aktualisierte u. überarb. Aufl. München. (Lehr- und Handbücher zu Tourismus, Verkehr und Freizeit). 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Die AA werden im Hinblick auf folgende Textmerkmale analysiert: Äußere Form, Textgliederung und kommunikative Funktionen einzelner Hauptteile, Umgang mit der Sekundärliteratur, Art der Paradigmenanalyse, Akzente in der Methodik, Schwerpunkte der Datenanalyse, Ergebnisdarstellung und Sprachstil (Satztypen, Satzlänge, Arten thematischer Progression, Kohäsionsmittel, terminologische Sättigung, Selbstpositionieren des Verfassers sowie Leserbezug). Die Untersuchung konzentriert sich dabei auf zwei Forschungsfragen: 1) In welchen Textmerkmalen unterscheiden sich die Schreibprodukte der einzelnen Verfassergruppen? 2) Inwieweit kann man die durchgesehenen Textexemplare einem intellektuellen Stil zuordnen? 1 Kulturvergleich akademischen Schreibens - Akademische Schreibkulturen In der kulturvergleichenden Textlinguistik werden für die Merkmale, durch die sich Texte in verschiedenen Sprachgemeinschaften voneinander abheben, unterschiedliche Termini gebraucht: „Intellektueller Stil“, „kulturelle Prägung“, „kulturelle Geprägtheit“, „Kulturspezifik“, „Textbzw. Diskurstradition“, „akademische Schreibkultur“, „Diskursbzw. Schreibkonventionen“, „Argumentationsmuster“ der jeweiligen Sprachgemeinschaft. 1 In diesem Beitrag wird mit 1 Diese terminologische Vielfalt ergibt sich auch aus der Mannigfaltigkeit der Forschungsfragen und -schwerpunkte. Der norwegische Soziologe Galtung (1982) gilt als ein wichtiger Impulsgeber auf diesem Feld. In einem Essay, der aber nur auf seinen unstrukturierten Beobachtungen basiert, verwendet er den Begriff „intellektueller Stil“ und fasst diesen sehr breit auf. Er versteht darunter nicht nur die Schreibweise akademischer Texte in den unterschiedlichen Kulturkreisen, sondern auch die diskursiven Muster in der mündlichen Kommunikation, präferierten die Denk- <?page no="188"?> Michaela Kováčová 178 dem Begriff a k a d e mi s c h e S c hr e i b k ultur gearbeitet, der mir für die Zwecke dieser Untersuchung am besten geeignet scheint, weil er mentale Prozesse beim wissenschaftlichen Arbeiten und ihre Manifestation in der konkreten Schreibweise komprimiert zum Ausdruck bringt. Unter einer akademischen Schreibkultur (ASK) verstehe ich präferierte Vorgehensweisen von Diskursführung, den charakteristischen Umgang mit der Sekundärliteratur, der sich in der Art und Stärke der Paradigmenanalyse zeigt, ferner die häufig angewandten Forschungsdesigns und den üblichen Umgang mit Daten. Auf der sprachlichen Ebene manifestiert sich die Schreibkultur u.a. in der gewöhnlichen Textfunktion einzelner akademischer Textmuster und ihrer Teile, in ihrer Gliederung, in der dominanten Vertextungsstrategie, in der bevorzugten thematischen Progression, in der Leservs. Schreiberorientierung, im Selbstpositionieren des Verfassers, im Maße der terminologischen Sättigung, in der eventuellen Tendenz zur Ästhetisierung des Textes sowie in anderen textuellen Charakteristika. ASK sind mit anderen Teilsystemen der Kultur, speziell mit Wissenschaft und Bildung, eng vernetzt und werden durch sie geprägt. Das Wissenschaftsverständnis im Allgemeinen und das Selbstverständnis einzelner wissenschaftlicher Disziplinen determinieren stark die Textfunktion, die dominante Vertextungsstrategie und andere textuelle Charakteristika. Der individuelle Schreibstil entwickelt sich weiter auch aufgrund der Lernbiographie des Verfassers, die institutionell von dem nationalen Bildungssystem beeinflusst wird. „So legt etwa eine Sprachgemeinschaft durch die vorgeschriebenen Curricula fest, welche Textsorten [in welcher Ausprägung] vorrangig an die nächste Generation übermittelt werden sollen“ (Heinrich/ Riehl 2011: 37). 2 Dennoch scheint es mir verweisen und Praktiken in der scientific community sowie institutionelle Bedingungen der Forschung. Hingegen betreffen die Termini „akademische Schreibkultur“ (Kotthoff 2009) und „Diskurs- und Schreibkonventionen“ (Hufeisen 2000) primär die Schreibprodukte in der Domäne Wissenschaft bzw. Studium. Der Prozess der Textproduktion und seine Bedingungen spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Noch enger definiert ist der Terminus „Argumentationsmuster“. Kaplan (1966) benutzt ihn nur in Bezug auf den argumentativen Textaufbau (studentischer Essays). Im Gegensatz dazu sind die Begriffe „Kulturspezifik“ (Riehl 2009), „kulturelle Prägung“, „kulturelle Geprägtheit“ (Eßer 2000) nicht domänenspezifisch, sondern beziehen sich auf unterschiedliche Textsorten, deren Bezogenheit auf eine konkrete (oft nationale) Kultur, hervorgehoben wird. Die Autoren stützen sich dabei auf kultur-anthropologische Ansätze und verstehen die Kultur in diesem Sinne, als ein sinnstiftendes, kollektives Symbolsystem, das u.a. eine mentale Dimension umfasst, überindividuelle Wirklichkeitskonstruktionen vorgibt, Orientierungsmuster anbietet und Identität(en) konstruiert (Erll/ Gymnich 2010, Antos/ Pogner 2003). 2 Während in deutschen Lehrplänen die Erörterung (nach dem Muster pro - contra - conclusio) im Vordergrund steht (Heinrich/ Riehl 2011: 37), ist es im Slowakischunterricht in der Oberstufe der Essay, in dem bei der Betrachtung eines Themas neben <?page no="189"?> Deutsche und slowakische Abschlussarbeiten im Vergleich 179 zerrend, die ASK nur anhand der Muttersprache des Textproduzenten wahrzunehmen, denn neben den akademischen Sprachkulturen existieren auch akademische Fachkulturen. 3 Da aber die für die vorliegende Untersuchung herangezogenen Texte verwandten Wissenschaftsdisziplinen - Linguistik und Fremdsprachendidaktik - angehören, sind die Differenzen in den akademischen Fachkulturen wenig von Belang. In den folgenden Ausführungen konzentriere ich mich deswegen auf Spezifika der ASK in einzelnen Kulturkreisen, wobei konkreter auf den anglophonen, deutschen und slawischen Stil eingegangen wird. Die anglophone ASK wurde einbezogen, weil die Schreiber der erforschten Textexemplare zwar entweder in Deutschland oder in der Slowakei akademisch sozialisiert sind, trotzdem aber auch mit der anglophonen ASK in Berührung kommen, wenn sie auf englischsprachige Texte bei der Suche nach geeigneter Forschungsliteratur stoßen und weil die international publizierenden Akademiker die anglophone ASK immer öfter auch in ihren muttersprachlichen Veröffentlichungen berücksichtigen. sachlichen, rationalen Argumenten auch eine eigene individuelle Note durch persönliche Stellungnahme und Gebrauch von Redeschmuck ausdrücklich erwünscht ist. Referate in anderen Fächern werden zwar gelegentlich gehalten aber viel seltener geschrieben. Meistens handelt es sich um mit einer PowerPoint-Präsentation unterstützte Kurzvorträge, bei denen zwar das Thema, nicht aber eine genaue Textstruktur vorgegeben ist. Ebenso wenig befasst man sich mit Argumentationstypen und Argumentationsstrategien. Es überwiegt die Meinung, dass sich die begabten Schüler und Studierenden durch die Lektüre der Fachliteratur die für den wissenschaftlichen Stil typische Schreibkonventionen selbst aneignen (Kotthoff 2009: 483). Mit dem wissenschaftlichen Arbeiten kommen nur die Schüler in Kontakt, die an speziellen Wettbewerben, z.B. SVOČ, vergleichbar mit dem deutschen Wettbewerb Jugend forscht, teilnehmen. Sie werden dann auch von den Fachlehrern intensiver betreut. Bewusste Beschäftigung mit der Textsorte Referat erfolgt auch an englischen und deutschen bilingualen Gymnasien, die von ausländischen Lektoren besucht werden. Auch im Germanistikstudium in der Slowakei wird weniger geschrieben als in Deutschland. Die meisten Studierenden verfassen aber ihre ersten studentischen Arbeiten ohne jegliche Einführung ins wissenschaftliche Schreiben. Es ist daher nicht überraschend, dass diese Defizite aufweisen. 3 So beschreibt Ammon (2015) die Sprache der Geisteswissenschaften als äußerst nuancenreich. Viele Fachbegriffe entstammen der Gemeinsprache, wodurch an geisteswissenschaftliche Texte besondere sprachnormative und ästhetische Anforderungen gestellt werden, die manche Textproduzenten noch mit dem Wunsch nach einem eigenen unverwechselbaren Stil verbinden. In den Naturwissenschaften spielt der individuelle Stil hingegen eine geringe Rolle. Dies ist durch einen hohen Anteil fachlicher Formelsprachen und terminologischer Internationalismen sowie durch die Tatsache bedingt, dass in den Naturwissenschaften stärker kooperativ geforscht und gemeinsam publiziert wird. <?page no="190"?> Michaela Kováčová 180 1.1 Anglophone akademische Schreibkultur Der anglophone Stil wird hinsichtlich der thematischen Progression als linear charakterisiert. Die Texte verfügen gewöhnlich über eine klare Struktur, in deren Mittelpunkt eine zentrale Idee steht, die in der Einleitung, im Hauptteil und im Schlussteil wiederholt wird. Abschweifungen gelten als unerwünscht (Kaplan 1966: 13f.; Clyne/ Kreuz 2003: 64, Chamonikolasová 2005: 77). Absätze bilden semantisch-kognitive Einheiten, d. h. in einem Absatz wird nur ein Gedanke ohne Unterbrechung ausgeführt. Im Vergleich zu Absätzen in slowakischen wissenschaftlichen Arbeiten gelten die englischen als auffällig lang (Walková 2014: 8ff.). Die Linearität ist nicht nur in der kohärenten Argumentation innerhalb des Absatzes, sondern auch in der Reihung der Absätze beobachtbar, da jeder neue Absatz an den vorausgehenden anschließt (Hufeisen 2000: 42), wobei die Funktion der einzelnen Absätze durch tradierte Diskursnormen festgelegt ist (Swales 1990 zit. in Kotthoff 2009: 486, Walková 2014: 3ff.). Der Textaufbau ist symmetrischer als bei deutschsprachigen Texten, d.h. die Textteile sind ungefähr gleich lang (Clyne/ Kreuz 2003: 64). Bei der Stoffbehandlung gehen die Autoren nach Kaplan (1966: 13) deduktiv oder induktiv vor, Definitionen von Hauptbegriffen kommen relativ früh vor (Clyne/ Kreuz 2003: 64). Die Paradigmenanalyse, also die Auseinandersetzung mit den Arbeiten anderer Autoren, ist nach Galtung (1982: 6, 10) relativ schwach und annäherungsorientiert. Das fremde Gedankengut und Zitate werden mehr in den Text eingegliedert als bei deutschen Autoren (Clyne/ Kreuz 2003: 64), bei kanadischen Studenten konstatierte Hufeisen (2000: 31) sogar eine häufige Inkorporierung fremder Gedanken ohne jeglichen Hinweis auf die Übernahme. Ein hoher Stellenwert wird empirischen Daten, Beispielen und Begründungen zugeschrieben, die der Untermauerung der zentralen Aussagen dienen sollen (Galtung 1882: 11f.; Hufeisen 2000: 42). Wichtiger als eine große Theorie zu entwerfen, sei für anglophone Forscher, so Galtung in seinen Beobachtungen des internationalen Wissenschaftsbetriebs, die Wirklichkeit genau zu beschreiben und Thesen zu produzieren. Das Universum sei zu vieldeutig, um eine große Theorie zu entwerfen, deswegen werden im anglophonen Raum eher Theorien der mittleren Reichweite aufgestellt (Galtung 1982: 6-23). Erstrebenswerte Stilzüge sind Eindeutigkeit, Explizitheit, Übersichtlichkeit und Leserorientierung, die dank relativ einfacher syntaktischer Strukturen, expliziter Wiederaufnahme von Termini und anderer Lexik sowie durch Verwendung metatextueller Hinweise (advance organizers) erreicht werden (Chamonikolasová 2005: 77, 80; Clyne/ Kreuz 2003: 64; Walková 2014: 1). Die Autoren sind bemüht, das Thema in einer leicht verständlichen Weise zu vermitteln, weswegen einige ältere Wissenschaftler aus dem slawischen Kulturkreis den anglo- <?page no="191"?> Deutsche und slowakische Abschlussarbeiten im Vergleich 181 phonen Stil als feuilletonistisch kritisieren und den Verzicht auf wissenschaftliche Tiefe beklagen (Duszak/ Lewkowich 2008: 111). 1.2 Deutsche akademische Schreibkultur Im Vergleich zu der anglophonen ist die deutsche ASK thematisch digressiv, d.h. ‚Exkurse‘, also Einbringung peripherer zusätzlicher Information, sind erlaubt und auch insgesamt wird weniger auf die Symmetrie einzelner Textteile geachtet (Clyne 1987: 213f.; Clyne/ Kreuz 2003: 64). Auch wenn die Arbeiten deutschsprachiger Autoren weniger streng thematisch linear sind, folgen sie einer klaren Struktur, die sich auf der Textoberfläche in einer alphanumerischen Gliederung manifestiert. Die einzelnen Teile sind aber relativ selbstständig, die Absatzverknüpfung ist loser (Hufeisen 2000: 36). Die Stärke dieser Schreibkultur liegt in der Theoriebildung, die nach Galtung (1982) vor allem deduktiv erfolgt. Nach seinen Beobachtungen, die inzwischen beinahe 35 Jahre zurückliegen, spielten die Daten eine untergeordnete Rolle, sie sollten die Theorie nur illustrieren, nicht beweisen. Der aktuelle Stand ist jedoch anders; die empirische Forschung wurde auch in deutschen Geisteswissenschaften aufgewertet. Dennoch ist ihre Verankerung in theoretischen Ansätzen weiterhin wichtig. Folglich wirken die wissenschaftlichen Texte theorielastiger (Galtung 1982: 12ff.; Eßer 2000: 71). Die Paradigmenanalyse ist tiefgehend und polarisierend (Galtung 1982: 10). Bereits Studierende beschränken sich nicht nur auf die Darstellung des Forschungsstandes, sondern erbringen oft auch eine negative kritische Würdigung der gesichteten Sekundärliteratur (Eßer 2000: 72f., 77). 4 Argumentierendes und kommentierendes Schreiben mit einem hohen Maß der Intertextualität (s. die qualitativen Parameter der intertextuellen Intensität bei Janich 2008: 183f.) kann man also als ein textuelles Charakteristikum deutscher Texte betrachten. Eine Kennzeichnung des fremden Gedankenguts gehört zu den wissenschaftlichen Standards, die Nachprüfbarkeit gilt als ein wesentliches Kriterium wissenschaftlichen Arbeitens. Belege und Zitate werden aber weniger in den Text eingegliedert als bei den englischsprachigen Autoren (Clyne/ Kreuz 2003: 64). Die Stilzüge sind Genauigkeit und Klarheit, Sachlichkeit bzw. Unpersönlichkeit und Begrifflichkeit sowie Schreiberorientierung (Eßer 2000: 77; Oertner 4 Wie Heinrich und Riehl (2011: 33f.) in ihrer komparativen Analyse deutscher und tschechischer studentischer Aufsätze zeigten, gebrauchen deutsche Verfasser in kommentierenden Meinungsäußerungen evaluative Urteile, die an einem objektiven Standard gemessen werden können, während in den tschechischen Aufsätzen auch subjektive gustatorische Urteile vorkamen. <?page no="192"?> Michaela Kováčová 182 u.a. 2014: 112f.). Sie manifestieren sich im Gebrauch von Fachtermini und einer relativ komplexen Syntax, die eine komprimierte Ausdrucksweise mit der Darstellung logischer Zusammenhänge in Satzgefügen ermöglicht. Die Autorenstimme in der ersten Person Singular wird noch größtenteils vermieden, stattdessen werden Passiv und seine Ersatzformen verwendet (Buchner 2015: 41). Es überwiegt der Nominalstil, die Verwendung von Redeschmuck ist verpönt (Eroms 2008: 119f.). Im Sinne der Schreiberorientierung besteht die Erwartung, dass die Texte v. a. gehaltvoll und aufklärend sein sollen, die Verantwortung für ihr Verstehen liegt bei den Leser(inn)en. 1.3 Slawische akademische Schreibkultur Die slawische ASK 5 weist mehrere gemeinsame Merkmale mit der deutschen auf, was historisch bedingt ist (Galtung 1982: 3; Duszak/ Lewkowicz 2008: 110; Čmejrková 1996: 140). 6 Ebenso wie die deutsche ASK ist auch die slawische digressiv (Kaplan 1966: 20). Die Textstruktur ist freier als in englischsprachigen Arbeiten; die Funktion der Einleitung, des Hauptteils und des Schlussworts und ihre obligatorischen Elemente sind nicht so strikt vorgegeben wie in der anglophonen (Walková 2014: 3ff.) oder deutschen ASK. Die Formulierung der zentralen These am Anfang stellt keine Norm dar, der Verfasser kann sie nach und nach in den unterschiedlichen Textteilen „enthüllen“ (Chamonikolasová 2005: 80f.). Die Ziele werden eher vage formuliert, eine Begründung für die Zielsetzung der Arbeit durch Identifizierung eines Forschungsdesiderats ist nicht unbedingt erforderlich. Das Schlusswort muss nicht immer als ein selbstständiger Textteil ausgegliedert werden (Findra 2004: 101) und hat eher den Charakter einer reinen Zusammenfassung. Es mangelt an einer kritischen Reflexion eigener Arbeit und ggf. an Praxisempfehlungen (Walková 2014: 5ff.). Kommt man von der Makroauf die Mesoebene des Textes, beobachtet Chamonikolasová (2005: 81) eine intuitive Absatzgliederung. Nach Walková besteht in slowakischen Texten die Tendenz, einen Gedanken in mehreren Absätzen auszuformulieren, Kaplan (1966: 20) und Stroehlein (1998: 1) haben dage- 5 Die Charakteristik der slawischen Schreibkultur wird mit Fokus auf Konventionen wissenschaftlichen Schreibens in der Slowakei und in Tschechien entworfen, weil für meine Probanden gerade die in diesen Sprachen verfassten Texte relevant waren. 6 Bis ins 19. Jahrhundert studierten Eliten aus dem slawischen Kulturraum überwiegend an den Universitäten in deutschsprachigen Ländern, darüber hinaus war das Gebiet mehrerer nach 1918 entstandener Nationalstaaten Bestandteil von großen Staatsgebilden mit Deutsch als Amtssprache. Auch im 20. Jahrhundert sind slawische Intellektuelle von der deutschen Philosophie (insbesondere vom Marxismus) stark beeinflusst worden. <?page no="193"?> Deutsche und slowakische Abschlussarbeiten im Vergleich 183 gen eine Digression innerhalb des Absatzes festgestellt. Ähnlich wie in deutschen Texten bilden die Absätze oft isolierte Einheiten, die aus der Sicht des englischsprachigen Lesers eher selten durch Überleitungssätze verknüpft sind (Stroehlein (1998: 1). Die Reihenfolge der Absätze findet Chamonikolasová (2005: 80) manchmal sogar unlogisch. Ein großes Augenmerk wird der Aufarbeitung der Forschungsliteratur gewidmet, ihre Rezeption ist aber weniger kritisch als im deutschsprachigen Raum, die Paradigmenanalyse ist kaum polarisierend. Manchmal entsteht der Eindruck, dass nur die mit dem eigenen Forschungsstandpunkt konvergierenden Arbeiten berücksichtigt werden. Für slowakische Autoren ist es offensichtlich wichtig, ihre eigene Forschung in eine Tradition einzugliedern, was sich in relativ häufig auftretenden Bezugnahmen auf die Sekundärliteratur manifestiert; eine saubere Quellenarbeit ist - ähnlich wie in Deutschland - ein wichtiges Kriterium wissenschaftlichen Arbeitens. Die Stärke der meisten slowakischen wissenschaftlichen Texte liegt folglich in der Vertiefung und Präzisierung der bestehenden Theorien, in der Klassifizierung von Phänomenen sowie in der Anwendung anerkannter Theorien auf neue Datensätze und somit in der Überprüfung ihrer Reichweite. Es liegt nahe, dass dabei die deduktive Arbeitsweise überwiegt, empirisch wurde aber diese Annahme m.W. noch nicht untersucht. Als dominante Vertextungsstrategien im slowakischen Stil der Wissenschaft postuliert der Stilist Ján Findra (2004: 181f.) Deskription und Explikation. Als Stilzüge wissenschaftlicher Texte gibt er Genauigkeit, Begrifflichkeit, Klarheit und Verständlichkeit an. Die beiden letztgenannten Stilzüge beziehen sich jedoch nur auf die Adressaten aus dem jeweiligen Fachkreis, eine allgemeine Verständlichkeit wird nicht angestrebt. Nach Čmejrková (1996: 145) sind die Leser der geistes- und sozialwissenschaftlichen Texte, die zu dem Fachkreis gehören, gewohnt, zwischen den Zeilen zu lesen und implizite Botschaften zu rezipieren. Die Genauigkeit spiegelt sich nicht nur in der Verwendung von Fachtermini, sondern auch in der Bestrebung wider, den Forschungsgegenstand in seiner Vollständigkeit und Komplexität zu erfassen. Čmejrková u.a. (1999: 25ff.) bezeichnen deswegen diese ASK als inhaltsorientiert. Diese Orientierung projiziert sich in eine relativ komplexe Syntax, in eine Vielzahl von Nominalisierungen, eine Vorliebe für erweiterte Attribute, Attributsätze, Genitivattribute und unpersönliche Konstruktionen wodurch die Autoren die maximale informative Sättigung in einem Satz anstreben. Infolgedessen scheinen dem Rezipienten, der den anglophonen Stil gewohnt ist, die Sätze zu lang und kognitiv schwer zu verarbeiten (Čmejrková 1996: 144, Chamonikolasová 2005: 80; Walková 2014: 9). Eine weitere Schwierigkeit für den Leser/ die Leserin ergibt sich aus der lexikalischen Variation. Da auch für wissenschaftliche Texte der Imperativ der Mono- <?page no="194"?> Michaela Kováčová 184 tonievermeidung gilt, 7 werden bei der Deskription untersuchter Phänomene oft Synonyme eingesetzt (Čmejrková 1996: 142). Die Verantwortung für das Textverstehen liegt mehr auf der Seite des Rezipienten. Diese ASK kann man also als tendenziell schreiberorientiert bezeichnen. 1.4 Kulturelle Hybridität im gegenwärtigen wissenschaftlichen Schreiben, insbesondere in studentischen fremdsprachigen Abschlussarbeiten Obwohl die vorigen Ausführungen eine Aufteilung in Kulturräume mit bestimmten ASK suggerieren, zeigt die Realität, dass sich diese immer mehr überschneiden. Die deutsche wie die slawische ASK inkorporieren allmählich Elemente der anglophonen ASK, was v.a. durch die dominante Stellung des Englischen als internationale Wissenschaftssprache zu erklären ist. Englischsprachige Veröffentlichungen genießen ein hohes Prestige und werden auch von den Wissenschaftlern angestrebt, deren Muttersprache nicht Englisch ist. Das Publizieren in internationalen Zeitschriften setzt aber die Internalisierung der anglophonen ASK seitens der Autoren voraus. Die anglophonen Schreibkonventionen werden folglich in manchen Bereichen auch auf die in der Muttersprache verfassten Texte übertragen, wie es die neueste slowakische Handreichung für akademisches Schreiben in Sozialwissenschaften illustriert (vgl. Staroňová/ Decsi 2011). Dies mag den Eindruck erwecken, es existiere eine Hierarchie der ASK, an derer Spitze sich der anglophone Stil befindet. Die ASK sind jedoch gleichwertig, die Bewertung eines Textes als geglückten oder missglückten hängt von den Erwartungen des Rezipienten ab, ist also kontextabhängig (Connor 2002: 505f.). In diesem Zusammenhang sind die von Auslandsgermanist(inn)en auf Deutsch geschriebenen Abschlussarbeiten (AA) interessant, weil bei ihrer Verfassung sowie Beurteilung mehrere ASK miteinander in Konkurrenz stehen. Die Fähigkeit, Nuancen verschiedener ASK zu erkennen und fremdsprachliche Textproduktion der für die jeweilige Fremdsprache charakteristischen ASK anzupassen, setzt eine sehr hohe Sprachkompetenz voraus, über die nicht alle Lernenden verfügen. Während die an den slowakischen Universitäten bestehenden Anglistikinstitute oft spezielle Kurse im akademischen Schreiben anbieten, sind solche Kurse an den Germanistikinstituten eher selten. Universitäre Richtlinien für das Verfassen von AA gehen von slowakischen Gepflogenhei- 7 Hinzu kommt noch, dass auch im schulischen Stilunterricht großer Wert auf die Variation des Ausdrucks gelegt wird. Die Lernenden werden dazu geführt, die Nuancen im Wortschatz aufzuspüren, einen reichen Wortschatz zu gebrauchen. <?page no="195"?> Deutsche und slowakische Abschlussarbeiten im Vergleich 185 ten aus und befassen sich vordergründig mit Formalien, insbesondere mit der Erstellung von Literaturverweisen auf unterschiedlichste Quellen. Dasselbe gilt auch für die Mehrheit slowakischer Handreichungen für akademisches Schreiben (Gonda 2012; Meško/ Katuščák 2004). Auf den Textaufbau, die Argumentationstechniken und Schreibkonventionen beim Verfassen wissenschaftlicher Texte geht nur die stark an anglophonen Vorbildern orientierte Anleitung von Staroňová/ Decsi (2011) ein. Viele Studierende schreiben deshalb intuitiv und greifen bei der fremdsprachlichen Textproduktion auf das eigenkulturelle Muster zurück, oder sie kombinieren unterschiedliche Textmuster beliebig bzw. entsprechend ihren Sprachkompetenzen. Wie diese hybriden Schreibprodukte zu beurteilen sind, ist unter DaF-Didaktiker(inn)en umstritten. Während Hufeisen (2000: 18) eindeutig für die Orientierung an die ASK der Zielsprache plädiert, nimmt Eßer (2000: 87) einen vorsichtigen Standpunkt ein und weist u.a. auf die Identitätsprobleme hin, die die Ablegung eigener Schreibtraditionen hervorrufen kann. Inwieweit die Einhaltung von ASK der Zielsprache bei der Benotung von fremdsprachigen AA in der Slowakei in Betracht gezogen wird, ist dem Erwägen des jeweiligen Dozenten überlassen. So spiegeln die Gutachten implizit wider, welche Sprache in den Veröffentlichungen des Gutachters dominiert, bzw. welche akademischen Gepflogenheiten er bevorzugt. Somit stehen nicht nur die Abschlussarbeiten der Auslandsgermanist(inn)en, sondern auch ihre Bewertung durch Nicht- Muttersprachler(inn)en im Zeichen der Interkulturalität. 2 Korpus und Methodik Das Korpus besteht aus 21 AA, davon 7 Arbeiten deutscher Germanist(inn)en (DeG: 2 M.A.- und 5 B.A.-Arbeiten), 7 Arbeiten slowakischer Slowakist(inn)en (SkS: 1 M.A.- und 6 B.A.-Arbeiten) und 7 Arbeiten slowakischer Germanist(innen)en (SkG: 4 M.A.- und 3 B.A.-Arbeiten). Diese Zusammensetzung des Korpus wurde gewählt, damit fremdsprachige mit muttersprachlichen Texten beider ASK verglichen werden können. Es handelt sich um sprachwissenschaftlich und didaktisch ausgerichtete AA, wobei alle Arbeiten eine kleine empirische Untersuchung enthielten, der ein theoretischer Teil vorangeht. Die AA wurden an mehreren Universitäten (DeG: Freiburg, Leipzig, Regensburg; SkS: Banská Bystrica, Bratislava, Košice, Nitra, Prešov, Ružomberok; SkG: Banská Bystrica, Bratislava, Košice) vorgelegt. Unterschiedliche institutionelle Herkunft war eine notwendige Voraussetzung, um sprachbedingte ASK zu untersuchen. Die slowakischen AA wurden zufällig aus dem öffentlich zugänglichen Zentralen Register der Abschlussarbeiten (http: / / www.crzp.sk) ausgewählt, die AA deutscher Germanist(inn)en von deutschen Kolleg(inn)en vermittelt. Da <?page no="196"?> Michaela Kováčová 186 der Vermittlung an manchen deutschen Universitäten juristische Schritte vorausgehen mussten und der Zugang zu deutschen Texten sich als kompliziert erwies, blieb das Korpus entsprechend klein. Infolgedessen können hier nur die Ergebnisse einer explorativen Untersuchung vorgestellt werden. Die unterschiedlichen Bedingungen der Textauswahl hatten außerdem zur Folge, dass die von den deutschen Kolleg(inn)en vermittelten AA qualitativ relativ homogen sind, während die nach dem Zufallsprinzip erworbenen AA große qualitative Differenzen aufweisen. Die Texte werden im Hinblick auf folgende Parameter analysiert: Äußere Form, Gliederung und kommunikative Funktionen einzelner Hauptteile, Umgang mit der Sekundärliteratur, Art der Paradigmenanalyse, Akzente in der Methodik, Schwerpunkte der Datenanalyse und Ergebnisdarstellung. Der Sprachstil wurde in jeder Arbeit anhand einer ca. 100 Wörter langen Paraphrase und anhand eines ebenso ca. 100 Wörter enthaltenden eigenständig formulierten Textsegments untersucht. Diese Aufteilung zeigte sich als notwendig, weil bei den weniger erfahrenen Schreiber(inn)en, bzw. Autor(inn)en fremdsprachiger AA deutliche Stilunterschiede zwischen den Paraphrasen und eigenständig formulierten Texten festgestellt wurden. Die Textsegmente wurden an Satztypen, Satzlänge, an den Arten thematischer Progression, Kohäsionsmitteln, terminologischer Sättigung und am Selbstpositionieren des Verfassers analysiert. Aufgrund dieser Analysen wurden dann für einzelne Teilstichproben Profile mit Durchschnittwerten ausgearbeitet. 3 Ergebnisse der Textanalyse 3.1 Einleitung Die kommunikative Funktion der Einleitung ist in allen Teilstichproben identisch, der Leser/ die Leserin soll zum Thema hingeführt werden und eine erste Übersicht über die Arbeit bekommen. In den Teilstichproben aller drei Gruppen sind die Hinführung zum Thema, die Darlegung des Forschungsziels und die Gliederung der Arbeit vorhanden. In weiteren Elementen ihrer Struktur sowie in der Realisierung einzelner Textelemente weichen aber slowakische und deutsche Einleitungen leicht voneinander ab. Während die deutschen Germanist(inn)en eher einen sachlichen Einstieg wählen - so z.B. durch eine Feststellung, Einordnung in den aktuellen wissenschaftlichen Diskurs, einen Hinweis auf einen scheinbaren Widerspruch, oder durch Erwähnung einer alltäglichen Situation, in der sich das untersuchte Phänomen manifestiert - ist bei manchen Slowakist(inn)en eine Neigung zur leicht <?page no="197"?> Deutsche und slowakische Abschlussarbeiten im Vergleich 187 pathetischen, essayistischen Textgestaltung mit Einsatz belletristischer Stilmittel zu beobachten: (1) a) Der Kommunikation begegnen wir in allen Bereichen unseres Lebens vor und wir, tagtäglich, oft ohne sich dessen bewusst zu sein hauchen unseren Begegnungen eine Seele ein. […] Unsere Gesellschaft schreit nach Dialog. Auch die Kunst beginnt erst dann zu leben, wenn ein Dialog zwischen dem Autor und dem Rezipienten beginnt (SkS 4 2012: 8). b) Die Aktualisierung der Theorie war ein interessanter Ausflug in die Welt der Geheimsprachen (SkS 2 2013: 6). c) Jede Zeit hat ihre Spezifika, ihren eigenen Fingerabdruck, den sie hinterlässt sowie ihre Brieftauben, ihre Boten, die die Nachricht der Vergangenheit für die Gegenwart tragen […]. Mit der Premiere neuer Möglichkeiten, neuer Quellen wie auch durch Gebrauch eines freieren, gelasseneren Ausdrucks profilierte sich auch die Gesellschaft selbst, für die das Wort einen anderen, in hohem Maße einen kommerziellen Wert hat. Mit dem Wort arbeitet man wie mit einem gewinnbringenden Handelsgut und zwar nicht nur in der mündlichen Kommunikation, sondern - und sogar vielleicht noch stärker - in der Presse. Dies gilt z.B. auch für die Boulevardpresse, die einen Spiegel der Selbstgefälligkeit, Neugierde und nicht selten auch der Schadensfreude darstellt, in dem die Menschen paradoxerweise nicht das eigene Bild suchen, sondern das Bild jener, die von der Gesellschaft im positiven oder negativen Sinne herausragen (SkS 7 2015: 8). Diese Schreiber scheinen hier die eigene Fähigkeit, in einem geschliffenen, originellen Stil zu schreiben, zur Schau zu stellen, bevor sie im Hauptteil zu einem neutralen, sachlichen Stil übergehen. Außerdem kommen bei den Slowakist(inn)en auch Einstiege durch ein Zitat, durch die Erklärung des Schlüsselbegriffs, durch einen Hinweis auf die Relevanz des Themas - und ähnlich wie bei deutschen AA - durch eine Feststellung oder durch die Beschreibung der alltäglichen Erfahrung mit dem untersuchten Phänomen vor. Eine noch größere Ähnlichkeit mit den AA deutscher Germanist(inn)en zeigt der Einstieg slowakischer Germanist(inn)en, in dem ein sachlicher Ton überwiegt. Eine Besonderheit dieser Arbeiten ist die Einbettung des Arbeitsthemas in den breiten gesellschaftlichen oder schulischen Kontext, wodurch ein Hang zur Digression zum Vorschein kommt. Dazu zwei Beispiele aus dem Korpus, originaltreu übernommen: (2) a) Diese Diplomarbeit befasst sich mit der veränderten Rolle des Lehrers im Fremdsprachenunterricht. Es ist offensichtlich, dass immer größerer Wert auf die Mehrsprachigkeit und damit auch auf das steigende Interesse auf das Lernen von Fremdsprachen gelegt wird. In den letzten Jahren wurden mehrere Untersuchungen zur Mehrsprachigkeit durchgeführt und aufgrund der <?page no="198"?> Michaela Kováčová 188 Ergebnisse wurde auch bewiesen, dass über 70 Prozent der Weltbevölkerung mehrsprachig ist, d. h. dass sie außer der Muttersprache noch mindestens eine Fremdsprache im alltäglichen Leben verwenden, die sie erlernt oder erworben haben. [Es folgt ein Exkurs zu Untersuchungen von Mehrsprachigkeit und noch ein anderer Exkurs mit einem geschichtlichen Überblick der didaktischen Ansätze, anschließend wird noch die letzte Schulreform in der Slowakei besprochen und erst dann kommt die Verfasserin zum Thema „Die Rolle des Lehrers im Fremdsprachenunterricht“ zurück. Anm. M.K.] (SkG 4 2013: 8). b) Die heutige Gesellschaft ist oft als Produktionsgesellschaft genannt. An die Leute sind die hohen Ansprüche gelegt. Ebenso ist es auch in der Schule. Von den Schülern wird erwartet, dass sie ihre intellektuelle Seite entwickeln, aber oft vergisst man auf die emotionelle Seite des Schülers. Das Hauptziel dieser Diplomarbeit ist auf die Beziehung der Emotion und der Kognition im Fremdsprachenunterricht hinzuweisen (SkG 5 2012: 8). Die Zielsetzung der Arbeit wird in der absoluten Mehrheit der germanistischen Arbeiten erwähnt. Hingegen werden die Ziele nur in vier slowakistischen AA klar genannt. In allen Einleitungen findet der Leser/ die Leserin auch die grundlegenden Informationen über den Aufbau der Arbeit. Allerdings enthalten die in Deutschland verfassten AA öfter auch Begründungen für die gewählte Gliederung. Slowakische Verfasser explizieren im Gegensatz dazu recht selten die Texthintergrundlogik. Auf weitere, von den deutschen Handreichungen empfohlene Elemente der Einleitung wie Hinweis auf die Relevanz der Arbeit, eine Kurzdarstellung des theoretischen Ansatzes und des methodischen Vorgehens wird nur in einigen Arbeiten der Gesamtstichprobe eingegangen. Interessanterweise sind es eher die slowakischen Germanist(inn)en, die ihre Methodik schon in der Einleitung erwähnen und somit das deutsche Textmuster für diesen Abschnitt der AA stärker respektieren als ihre muttersprachlichen Kolleg(inn)en. Eine Besonderheit slowakistischer AA ist die Offenlegung der Motivation für das Bearbeiten des jeweiligen Themas, d.h. die Darlegung des persönlichen Forschungsinteresses bzw. einer persönlichen Forschungsgeschichte, was die folgenden zwei Beispiele aus dem Korpus illustrieren: (3) a) In der Arbeit haben wir uns mit Phrasemen auseinandergesetzt, einem für uns attraktiven Thema (SkS 1 2012: 10). b) Mit dem Thema literarische Anthroponymen machte ich mich erst im Hochschulstudium im ersten Semester in der Lehrveranstaltung Literarische Anthroponymen bekannt. Da analysierte ich die Eigennamen im Werk X von Y. Dieses Thema fand ich interessant und entschloss mich, darauf in meiner Bachelorarbeit näher einzugehen (SkS 3 2015: 7). <?page no="199"?> Deutsche und slowakische Abschlussarbeiten im Vergleich 189 Dieses Element sowie der Verzicht auf den wissenschaftlichen Stil zu Beginn der Einleitung machen slowakistische Einleitungen sehr persönlich und bringen die Schreiberperspektive deutlich zum Ausdruck. 3.2 Hauptteil Die kommunikative Funktion des Hauptteils besteht in allen Teilstichproben im Beweisen, dass sich der Verfasser/ die Verfasserin in theoretischen Ansätzen des gewählten Bereichs orientiert und imstande ist, eine eigenständige Untersuchung durchzuführen und somit sein theoretisches Wissen anzuwenden. Diese Funktion wird jedoch von deutschen und slowakischen Schreiber(inn)en mit unterschiedlichen Akzenten realisiert. Während die deutschen Germanist(inn)en auf das Problem fokussieren, streben die slowakischen Verfasser(inn)en eine breite Kontextualisierung an und versuchen, möglichst viele mit ihrem Thema zusammenhängende Aspekte zu behandeln. Dadurch entstehen zahlreiche Digressionen und die Logik des Texthintergrundes ist schwieriger zu durchdringen. Auch die Wahl der Fachliteratur unterliegt nationalen Spezifika, in denen sich neben dem Internationalisierungsgrad der jeweiligen scientific community auch die materielle Ausstattung des jeweiligen Instituts widerspiegelt. Die deutschen Germanist(inn)en stützen sich bei der Aufarbeitung des Forschungsstandes auf einheimische und internationale Literatur, greifen nach Klassiker- Texten, Studien- und Fachbüchern, wissenschaftlichen Beiträgen, Aufsätzen in Sammelbänden und Fachzeitschriften. Bei den Slowakist(inn)en überwiegt hingegen stark die einheimische Literatur, ausländische Werke werden - wahrscheinlich wegen fehlender Fremdsprachenkenntnisse - nur aus Übersetzungen rezipiert. Bei slowakischen Germanist(inn)en mangelt es wiederum an Beiträgen aus internationalen Fachzeitschriften, stattdessen wird das Internet als gleichrangige Quelle einbezogen, deren Zuverlässigkeit jedoch sehr unterschiedlich, manchmal sogar fraglich ist. Dieses Defizit ist einerseits auf ungenügende Ausstattung der Bibliotheken, andererseits auf eine verbesserungsbedürftige Medienkompetenz der Studierenden zurückzuführen. Alle deutschen Arbeiten und die absolute Mehrheit slowakischer AA zeichnen sich durch eine saubere Quellenarbeit aus. Die Paradigmenanalyse ist bei den deutschen Schreibern stärker ausgeprägt. Die Verfasser(inn)en der meisten AA stellen sich nicht mit einer reinen Darstellung des Forschungsstandes zufrieden, sondern vergleichen auch die besprochenen Ansätze und äußern sich kritisch über die gesichtete Sekundärliteratur. Im Vergleich dazu findet man bei der Mehrheit der slowakischen Schreiber(inn)en lediglich eine additive Darstellung von wissenschaftlichen <?page no="200"?> Michaela Kováčová 190 Positionen, in den eher schwachen AA sogar nur die Beschreibung eines ausgewählten Ansatzes. Die Forschungskritik taucht nicht auf. Den Anforderungen nach Klarheit, Genauigkeit und Begrifflichkeit wird in deutschen AA durch die Darstellung einer klaren Systematik, durch die Abgrenzung ähnlicher Begriffe sowie durch Definitionen nachgegangen. In slowakischen AA wird auf die Klassifizierung des untersuchten Phänomens und seine Einordnung in die bestehende Systematik noch mehr Wert gelegt. In mehreren slowakistischen AA wird außerdem die Forschungstradition betont, die in einleitenden Absätzen zum Forschungsstand behandelt wird - eine lange Forschungsgeschichte scheint dem untersuchten Gegenstand in den Augen der Schreiber(inn)en eine besondere Würde zu verleihen. Fokussiert man auf den empirischen Teil der Arbeit, beginnt dieser in allen Teilstichproben mit der Beschreibung des Untersuchungskorpus. Deutsche Studierende erheben ihre Daten selbständig, greifen aber auch auf nationale computerverwaltete Korpora zurück. Bei der Datenanalyse werden quantitative und qualitative Ansätze öfters kombiniert. Im Vergleich dazu nutzen slowakische Studierende ausschließlich die eigenständig gesammelten, oft umfangreichen Datensätze und arbeiten viel häufiger mit dem quantitativen Ansatz. Als Auswertungsmethode verwenden sie am häufigsten deskriptive Statistiken mit dem Ziel, das Material mittels Kategorisierung systemlinguistisch zu beschreiben und Häufigkeiten festzustellen. Die Frage der kommunikativen Funktion untersuchter Sprachmittel oder der didaktischen Angemessenheit der erforschten Methoden spielt nur in den besten Arbeiten eine Rolle. Die Deskription behält die Oberhand über die Explikation. In deutschen AA sind hingegen die Deskription und Explikation ausgeglichener. Obwohl auch deskriptive Statistiken genutzt werden, steht die kommunikative Funktion der Sprache im Vordergrund, die AA sind mehr pragmaals systemlinguistisch orientiert. Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt in allen AA verbal und visuell, wobei aber in deutschen AA die verbale Seite dominiert und bei der Ergebnisdarstellung wird auf einen Theoriebezug geachtet. Dieser zeigt sich auch bei der Verortung eigener Ergebnisse im wissenschaftlichen Diskurs, die in der Mehrheit der deutschen Arbeiten vorzufinden ist (vier AA DeG). Ein vergleichbares Textsegment enthält aber nur eine der untersuchten slowakischen AA. Deutsche Textproduzent(inn)en treten bei der Darstellung eigener Untersuchungen insgesamt selbstbewusster auf, explizieren die Herausforderungen eigener Untersuchungen und den damit verbundenen Aufwand. Slowakische Schreiber(inn)en verschweigen diese Aspekte, auch wenn ihre Untersuchungen nicht weniger anspruchsvoll sind, ist ihre Präsenz als Wissenschaftler viel bescheidener. Stilistische Charakteristika von Texten einzelner Teilstichproben werden in der nachstehenden Tabelle komprimiert dargestellt. Angaben, die die Para- <?page no="201"?> Deutsche und slowakische Abschlussarbeiten im Vergleich 191 phrasen betreffen, sind mit dem Index ᴾ gekennzeichnet, diejenigen, die sich auf die eigenständig formulierten Texte beziehen, sind mit ᴱᵀ versehen. Das vorherrschende Textmerkmal ist mit Kursivdruck markiert. DeG SkS SkG Stil Nominalstil ᴾ , ᴱᵀ Häufung von Komposita Nominalstil ᴾ Substantive, Adjektive, Häufung von Genitivattributen Nominal- und Verbalstil ᴱᵀ deutliche individuelle Unterschiede Nominal- und Verbalstil ᴾ , ᴱᵀ Auffälligkeiten explizite Rezipientenführung Autorenplural, gelegentlich belletristische Stilelemente wenig komprimierter Ausdruck, Interferenzfehler terminologische Sättigung 8 9,4 ᴾ 11,4 ᴱᵀ 14,8 ᴾ 10,3 ᴱᵀ 9,4 ᴾ 5,7 ᴱᵀ Vorherrschender Satztyp mäßige Dominanz von Satzgefügen ᴾ , Satzgefüge ᴱᵀ mäßige Dominanz von Satzgefügen ᴾ , ᴱᵀ Hauptsätze und Parataxen ᴾ , Satzgefüge ᴱᵀ Satzlänge 9 18 ᴾ 21,8 ᴱᵀ 21,6 ᴾ 24,8 ᴱᵀ 19,6 ᴾ 20,5 ᴱᵀ Kohäsionsu. Kohärenzmittel 13,8 ᴾ 14,8 ᴱᵀ Konnektiva, explizite Rekurrenz, partielle Koreferenz 15,3 ᴾ 15,5 explizite Rekurrenz ᴾ , ᴱᵀ partielle Koreferenz ᴱᵀ Substitution ᴾ , ᴱᵀ 11,5 ᴾ 12,8 ᴱᵀ explizite Rekurrenz ᴾ , ᴱᵀ thematische Progression mit durchlaufendem Thema ᴾ und linear ᴱᵀ mit durchlaufendem Thema ᴾ und linear ᴱᵀ alle Typen mit durchlaufendem Thema ᴾ , mit einem thematischen Sprung ᴱᵀ Tab. 1: Profile der Teilstichproben hinsichtlich der stilistischen Charakteristika der AA 8 Die Anzahl der gebrauchten Termini im untersuchten Abschnitt. 9 Die durchschnittliche Anzahl der Wörter im Satz. Damit die Zahlen vergleichbar werden, wurden analytische Verbformen als ein Wort gezählt und die Artikel nicht als Wörter gezählt, weil das Slowakische eine andere Morphologie hat; für Tempora und Deklination werden meist Suffixe verwendet. <?page no="202"?> Michaela Kováčová 192 Im Hinblick auf die Absatzgliederung lässt sich keine eindeutige Charakteristik entwerfen. Die Länge der Absätze variiert auch bei demselben Schreiber/ derselben Schreiberin. In den deutschen AA überwiegen aber längere Absätze, tendenziell bilden sie semantisch-kognitive Einheiten, auch wenn manchmal mehrere Gedanken in einem Absatz komprimiert werden. Die Absatzübergänge sind ‚hart‘; die Textkohärenz wird durch Isotopieketten gewährleistet, Überleitungssätze sind kaum vorzufinden. Im Gegensatz dazu neigen die Slowakist(inn)en zu kürzeren Absätzen, wobei ein Gedanke in mehrere Absätze unterteilt werden kann. Die slowakischen Germanist(inn)en schwanken irgendwo dazwischen, es sind intraindividuelle Unterschiede festzustellen. Die Überleitungen zwischen den einzelnen Kapiteln sind aber in allen Teilstichproben vorhanden. 3.3 Schlussteil Die kommunikative Funktion des Schlussteils besteht im ganzen Korpus in der Zusammenfassung der erzielten Ergebnisse. In der Teilstichprobe der deutschen AA wird diese außerdem von manchen Schreiber(inn)en noch um eine abschließende Reflexion und die Darlegung weiterer Forschungsperspektiven bereichert. Im Schlussteil konzentrieren sich die deutschen Germanist(inn)en ausschließlich auf die Zusammenfassung der durch eigene Untersuchung erreichten Ergebnisse, während die slowakischen Autor(inn)en die ganze Arbeit resümieren. Alle Teilgruppen nehmen im Schlussteil Bezug auf die einleitend formulierten Forschungsfragen, in den deutschsprachigen AA (DeG+SkG) ist aber dieser Schritt mehr ausgeprägt. Diskussion bzw. Interpretation der Ergebnisse enthalten nur einige AA der deutschen Germanist(inn)en und der Slowakist(inn)en. Empfehlungen für die Praxis treten in beinahe der Hälfte germanistischer Arbeiten auf (2 DeG und 3 SkG), von slowakischen Schreiber(inn)en werden sie aber vorsichtiger und vager formuliert. Als spezifische deutsche Bausteine erweisen sich die Reflexion der problematischen Aspekte bzw. die Methodenkritik und der Ausblick, die in den in der Slowakei verfassten AA nicht auftauchen. 4 Fazit Studentische AA als eine besondere Textsorte verfügen über bestimme Textmerkmale und stilistische Spezifika, die sich für wissenschaftliche Texte als zukunftweisend erweisen können. Gewisse Tendenzen deutet auch die durch- <?page no="203"?> Deutsche und slowakische Abschlussarbeiten im Vergleich 193 geführte Analyse an. Sie zeigt, dass die herkömmliche Aufteilung der ASK nach Kulturbzw. Sprachräumen relativiert wird und ihre Charakteristika, die teilweise vor 30 Jahren festgestellt wurden, für die heute produzierten Texte nur eingeschränkt zutreffen. Insbesondere in deutschen AA treten zunehmend Elemente der anglophonen ASK auf. Es handelt sich um ein höheres Maß an Linearität, Leserorientierung durch Gebrauch von advance organizers, Akzentuierung empirischer Forschung und die damit verbundene präzise Datenanalyse und kontextbasierte Dateninterpretation. Allerdings bewahren die AA auch einige der ursprünglichen Charakteristika der deutschen ASK: die polarisierende Paradigmenanalyse sowie den starken Theoriebezug, der sich u.a. in einer relativ hohen terminologischen Sättigung in den selbstständig entworfenen Textsegmenten manifestiert. Zu diesen Merkmalen gehören auch eine verhältnismäßig komplexe Syntax sowie eine relativ lose Verknüpfung von Absätzen. Die slawische ASK, wie sie in den muttersprachlichen AA von Slowakist(inn)en zum Vorschein kommt, scheint dagegen viel weniger von der anglophonen ASK beeinflusst zu sein und bewahrt mehrere der eigenen textuellen Charakteristika. Zu diesen gehören die Digressivität, ein inhaltsorientierter Stil mit vielen Klassifizierungen sowie eine additive, kritikscheue Behandlung theoretischer Ansätze. Die Absätze sind relativ kurz und lose verknüpft. Die gewandten Schreiber(inn)en schaffen es aber, die Texthaftigkeit v.a. dank der Textkohärenz zu bewahren. Die slowakischen Germanist(inn)en lehnen sich in ihren deutsch geschriebenen AA in der Einleitung, zum Teil auch im Schlussteil, an deutsche Textmuster. Im Hauptteil transferieren sie aber das muttersprachliche Textmuster, das besonders in der Digression und in der Absatzgliederung hervortritt. Wie bei fremdsprachigen Texten zu erwarten, findet man in diesen AA Spuren einer mangelnden Sprachkompetenz ihrer Autor(inn)en: Abgesehen von verschiedenen Interferenzen enthalten sie im Vergleich zu deutschen muttersprachlichen AA weniger der für den Funktionalstil der Wissenschaft typischen Kommunikationsmittel und zeugen von ungenügendem textgrammatischen Wissen (explizite Rekurrenz als häufigstes Kohäsionsmittel, thematische Sprünge). Diese Defizite können und sollten durch Schreibtraining behoben werden. Übungsvorschläge finden Lehrende z.B. bei Eßer (2000: 83ff.), Mohr (2000: 109) u.a., aber auch in zahlreichen Anleitungen für akademisches Schreiben, von denen wegen seiner Praxisnähe besonders das Lehrbuch von Beinke u.a. (2008) zu empfehlen ist. Herausforderungen gibt es aber nicht nur für die Lehre, sondern auch für die auf die ASK ausgerichtete Forschung. Auf die Grenzen des vorliegenden Beitrags, die aus der problematischen Korpusgenerierung resultieren, wurde bereits im methodischen Teil hingewiesen. Deswegen sind weitere Untersu- <?page no="204"?> Michaela Kováčová 194 chungen mit ausgeklügelten Forschungsdesigns erwünscht. So könnten z.B. nur die besten AA einer ASK mit den besten einer anderen ASK oder die vom wissenschaftlichen Nachwuchs vorgelegten Texte mit denen der Koryphäen des Faches verglichen werden. Würde man als Forschungsziel noch den Vergleich von Strategien für die Textproduktion und das Textüberarbeiten beider Gruppen - Nachwuchswissenschaftler(inn)en vs. erfahrene Wissenschaftler(inn)en - einbeziehen, könnten sich daraus auch weitere Anlässe zur Optimierung des Schreibtrainings von Studierenden ergeben. 5 Literatur Ammon, Ulrich (2015): Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt. Berlin/ München/ Boston. Antos, Gerd/ Pogner, Karl-Heinz (2003): Kultur- und domänengeprägtes Schreiben. 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Die Korpustexte sind daher Beschwerdetexte, welche online veröffentlicht wurden. Mit Hilfe des Konzepts des „footing“ von Goffman wird das Korpus analysiert. Die Studie zeigt, dass die Dimension des Individualismus und des Kollektivismus in Argumentationen eine völlig sekundäre Dimension ist und dass reine kulturspezifische Argumentationsstrategien bei der Präferenz des jeweiligen Pronomens maßgeblich sind. Bei der Analyse der Adressierungsformen des Partners wird eine neue Kulturdimension eingeführt: die Machtsensibilität und die Machtindifferenz in beiden Kulturen und Sprachen. 1 Ausgang und Forschungsfragen Sprache ist nicht nur ein Kulturträger und ein Ausdruck der Kultur. Sie ist selbst Kultur und wie diese dynamisch und wandelbar mit veränderlichen kulturellen Gegebenheiten. Kaplan (1996: 12f.) ist daher kaum zu widersprechen, wenn er konstatiert, dass nicht nur „grammar, vocabulary and sentence structure“ von einer Sprache zur anderen bzw. von einer Kultur zur anderen variieren, sondern auch die der Sprache zugrundeliegende Logik und damit die ganze sprachlich konstruierte Rhetorik einer Kultur. Minami (2002: 259) schreibt: „language is not only a window onto the microcosm of the individual mind, but that it also reflects the larger social world.“ Im Einklang mit dieser Sicht auf die Sprache als Ausdruck der Kultur und der sozialen Realität steht die folgende <?page no="208"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 198 Definition von Kultur als einer Größe, zu deren Konstituenten die Sprache und die Art des Ausdrucks gehören. Kultur ist demnach a historically transmitted system of symbols, meanings, and norms. […] Culture is systemic meaning it comprises many complex components that are interdependent and related; they form a type of permeable boundary. […] The components of the system are the patterned symbols such as verbal messages, nonverbal cues, emblems, and icons, as well as their interpretations or assigned meanings. Culture is what groups of people say and do and think and feel. Culture is not the people but the communication that links them. Culture is not only speaking a language and using symbols but interpreting those symbols consistently (Collier 2015: 53ff.). Die Aneignung einer Sprache, einer Kommunikationskultur und der Logik, die einer Sprache zugrunde liegt, bildet somit den wesentlichen Schritt zur Konstruktion der eigenen kulturellen Identität von Angehörigen einer Kultur. Kompliziert wird es in mehrsprachigen Gesellschaften, die folgerichtig multikulturell sind und die versuchen werden, durch die Aushandlung einer gemeinsamen Drittkultur ein Zusammenleben der Menschen und durch die Förderung der rezeptiven Fähigkeiten (Meißner 2004: 98) für andere Sprachen ein Zusammenleben in verschiedenen Sprachen zu ermöglichen. Der vorliegende Beitrag setzt den Diskurs der Kulturforscher über die deutsche und die arabische Kultur mit den Mitteln der Linguistik fort. Von Interesse ist dabei nur der gegenwärtige Sprachstand, der natürlich Spuren der geschichtlichen Entwicklung beider Kulturen in sich trägt. Unter diesen geschichtlichen Spuren ragen besonders die Prägung der deutschen Kultur durch die Epoche der säkularen Aufklärung (Postoutenko 2009: 196ff.) und die Prägung der arabischen Kultur durch das Aufkommen des Islams (Mohamed/ Omer 2000: 47) heraus. Diese beiden Spuren stellen keine gegensätzlichen, jedoch unterschiedliche Entwicklungen dar, die sich auf das Selbstverständnis der Individuen sowie auf ihre Selbstpräsentation mit Hilfe der Sprache ausgewirkt haben. Kulturforscher wie Hofstede (2001), Jandt (2013) und andere definieren für unterschiedliche Kulturen sogenannte Kulturdimensionen, um sie näher zu beschreiben und den Umgang mit den Menschen aus solchen Kulturen zu erleichtern. Eine dieser Dimensionen ist das Gegensatzpaar von Individualismus und Kollektivismus. Demnach gilt die deutsche Kultur als individualistisch, die arabische hingegen als kollektivistisch. Manche Linguisten (z.B. Uz 2014; Twenge u.a. 2013; Na/ Choi 2009) nehmen für sich in Anspruch, im Einklang mit den Thesen der Kulturforscher zur indi- <?page no="209"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 199 vidualistischen und kollektivistischen Zuordnung von Kulturen herausgefunden zu haben, dass das Pronomen ich einen reinen Ausdruck der Neigung des Sprechers zum kulturbedingten Individualismus und das Pronomen wir lediglich eine kollektivistische Selbstwahrnehmung darstelle. Der vorliegende Beitrag geht bei der Analyse eines aus authentischem Material zusammengestellten Korpus aus dem Deutschen und dem Arabischen der Hypothese der individualistischen und kollektivistischen Zuordnung der deutschen und der arabischen Kultur nach und will prüfen, ob auch die Hypothese zutrifft, dass Angehörige der deutschen Sprachgemeinschaft allein aus Gründen des Individualismus zur ausgeprägten Verwendung des Ich-Pronomens neigen, während Vertreter der arabischen Kultur eine dominante Präferenz für das Wir-Pronomen haben, weil sie einem kollektivistischen kulturellen Gebot Genüge tun müssen. Konkret geht es in diesem Beitrag um folgende Fragen: a) Sind die Verwendungen der Pronomen ich und wir Indikatoren für Individualismus und Kollektivismus in beiden Kulturen? Gilt dies auch in spezifischen argumentativen Kontexten, wo ein bewusster und aufmerksamer Sprachgebrauch vorauszusetzen ist? b) Wie steht es in diesem Zusammenhang um die Verwendung der Partnerpronomen wie Sie/ du und deren arabische Entsprechungen? Im 2. Kapitel erfolgt eine Skizzierung der Kulturdimensionen In di v id u a li s m u s und K o ll e kti v i s mu s für die deutsche und die arabische Kultur. Das 3. Kapitel beschreibt das Korpus und die spezifische Kommunikationssituation von öffentlichen Beschwerden, die i.d.R. argumentativ ausgerichtet sind. Im 4. Kapitel erfolgt eine knappe Einführung in das deutsche und das arabische System der Pronomen. Das 5. Kapitel präsentiert und diskutiert die Einzelergebnisse der Auswertung des Korpus und leitet zum 6. Kapitel über, wo die Ergebnisse dieser Studie zusammengetragen werden. 2 Ind ividu alism u s und Kolle ktivism u s als Kulturdimension Im Fokus dieses Beitrags stehen nur die zeitgenössische deutsche und arabische Kultur. Zwar wird hier nicht die Auffassung vertreten, dass die deutschsprachige Gemeinschaft eine homogene Kultur hätte, ebenso wenig wird hier von der Auffassung ausgegangen, dass sämtliche Sprecher des Arabischen dieselbe Kultur präsentieren würden. Es gibt in beiden Fällen starke regionale Ausprägungen und Divergenzen. Daher geht dieser Beitrag nur von dem exemplarischen Fall aus und bezieht sich auf die deutschsprachigen Texte aus <?page no="210"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 200 Deutschland als einem der deutschsprachigen Kernländer. Für das Arabische werden Texte aus Ägypten verwendet. Die hier präsentierte Kulturdimension für den deutschen und den arabischen Kulturkreis geht auf die Arbeiten von Hofstede (2001) 1 und Jandt (2013) 2 zurück, die jedem Kulturkreis, ausgehend von Umfragewerten, eine bestimmte Skala unterschiedlicher Kulturdimensionen zuschreiben. Die Arbeit von Hofstede war Gegenstand von kritischen Auseinandersetzungen (Anderson 1983; Smith 2002; Kwek 2003; Behrens 2007) hinsichtlich seines Kulturbegriffs und seiner Methode bei der Gewinnung von Daten, hinsichtlich der beanspruchten zeitlichen Entgrenzung der Ergebnisse und des Mangels an theoretischer Fundierung etc. Der vorliegende Beitrag behandelt für diesen rein kulturwissenschaftlichen Metadiskurs nicht, sondern zielt darauf, die Aussagen von Hofstede und anderen Autoren zur Kulturdimension des Individualismus und Kollektivismus anhand konkreter natürlicher Texte mit linguistischen Methoden genauer zu untersuchen und auf ihre Validität bei der Verwendung der Pronomen ich und wir zu überprüfen. Damit unterscheidet sich dieser Beitrag in seinem Vorgehen von Hofstede: Während sich Hofstede auf Fragenbögen, die in einem einzigen multikulturellen Unternehmen 3 ausgefüllt wurden, verlässt, die zu gleichsam elaborierten Aussagen führen, stützt sich der Autor dieses Beitrags auf natürliche unelaborierte und unhinterfragte Äußerungen der Interaktanten aus beiden Sprachgemeinschaften. Zudem wird Kultur in diesem Beitrag nicht als statische gleichbleibende Größe, sondern als eine dynamisch verstanden. Der Kulturwissenschaftler Hofstede geht von einer individualistischen und einer kollektivistischen Ausrichtung der Kulturen als von zwei markanten Polen aus. Der individualistische Pol steht für eine Gesellschaft, in der Individuen 1 Die ursprüngliche Arbeit von Hofstede ist 1980 als Ergebnis einer Fragebogenumfrage verfasst worden. Im Laufe der Zeit entstanden immer wieder neue Ausgaben dieser Untersuchung. Die letzte Ausgabe stammt aus dem Jahr 2011. Die neueren Ausgaben erweitern nicht die Substanz und die Aussagen aus dem Jahr 1980, sondern lediglich den Kommentar von Hofstede zu seinen Ergebnissen aus dem Jahr 1998 mit dem Ziel, seine Ergebnisse nicht nur auf die Kultur in Organisationen, sondern auf viele weitere Bereiche zu beziehen. Es geht somit um die Erweiterung der Gültigkeit der Aussagen, mitunter reagiert Hofstede auch auf die Kritik an seinen Aussagen aus dem Jahr 1980. Diesem Beitrag liegt die Ausgabe aus dem Jahr 2001 zugrunde. 2 Mittlerweile liegt von Jandt die achte Ausgabe aus dem Jahr 2016 vor. Die Änderungen gegenüber der Ausgabe aus dem Jahr 2013 sind jedoch minimal und für diesen Beitrag nicht relevant. Hier wird aus der siebten Ausgabe zitiert. 3 Es handelt sich um die Mitarbeiter der Firma IBM. <?page no="211"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 201 miteinander lose verbunden sind und nur für sich selbst Verantwortung tragen. Bei Gesellschaften, die dem kollektivistischen Pol (Hofstede: 2001: 225) näherstehen, gibt es eine deutliche Integration von Individuen in soziale Gruppen, gegenseitige Mitverantwortung, einen gegenseitigen Bezug auf die Gruppe und die Loyalität zu dieser Gruppe. Das hat offenkundig Einfluss auf die Zielsetzungen und die Handlungen der Angehörigen der jeweiligen Kultur, wie Jandt (2013: 170) feststellt: In individualist cultures, goals are set with minimum consideration given to groups other than perhaps your immediate family. In collectivist cultures, other groups are taken into account in a major way when goals are set. Sowohl Hofstede (2001; 2015) als auch Jandt (2013: 171) entwickeln ein Ranking für das Kriterium Individualismus, in dem Deutschland den 15. Platz innehat, während die arabischen Länder den 27. Platz einnehmen. Demzufolge ist anzunehmen, dass der Individualismus in Deutschland deutlich ausgeprägter als in den arabischen Ländern ist. 4 Auch weiteren Kulturforschern zufolge bestehen deutliche Unterschiede im Ranking zwischen Ägypten und Deutschland, wie Darwish und Huber (2003: 52) durch ihre Erforschung des Verhaltens der Studierenden aus beiden Ländern konstatieren. German students expressed altogether significantly more individualistic tendencies than Egyptian students […]. The Egyptian students, in contrast, scored significantly higher on both collectivism sub-scales than German students. Dieser Kulturunterschied wird an dieser Stelle nur als Hypothese angenommen, die am sprachlichen Material verifiziert werden soll. 3 Analysetexte und Kommunikationssituation Die zu analysierenden Texte umfassen 50 vollständige Online-Beschwerden aus dem Deutschen und 50 vergleichbare aus dem Arabischen. Der Umfang jedes Beschwerde-Textes liegt durchschnittlich bei 200 Wörtern, was ein Korpus im Umfang von rund 10.000 Wörtern in jeder Sprache ausmacht. Die Beschwerden 4 Hofstede (2001) und Jandt (2013) gehen davon aus, dass die arabische Kultur monolithisch sei, und setzen daher Länder mit Stammesstruktur (wie die Golfstaaten) mit Ländern (wie z.B. Ägypten) gleich, wo eine derartige kollektivistische Struktur nicht in gleichem Maße gegeben ist. <?page no="212"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 202 richten sich an Firmen und an übergeordnete Regierungsbehörden oder an höhergestellte Personen der Gesellschaft, welche dem Beschwerdeführer bei der Beseitigung eines Mangelzustandes behilflich sein sollen. Die arabischen Texte sind der arabischen Beschwerde-Website http: / / shakawi.masreat.com entnommen; die deutschen Beschwerdetexte, ähnlich wie die arabischen im Januar 2015, der einschlägigen deutschsprachigen Website http: / / de.reclabox.com. Die Kommunikationssituation, um die es in diesen Texten geht, ist argumentativer Art. Drei Instanzen sind daran beteiligt. Zwei von ihnen haben grundsätzlich eine offene Identität (vgl. Kapitel 5), das sind der Beschwerdeführer und der unmittelbare Adressat der Beschwerde, der als unmittelbar für die Mängel Verantwortlicher gehalten wird. Die dritte Instanz ist die anonyme heterogene Öffentlichkeit, die rund um die Uhr einen uneingeschränkten Zugang zu diesen Online-Texten hat. Oft gibt es auch einen vierten Akteur (Massud 2016), nämlich den Vorgesetzten des unmittelbaren Adressaten. An diese übergeordnete Instanz wendet sich der Beschwerdeführer in der Öffentlichkeit und übt dadurch einen doppelten öffentlichen argumentativen Druck auf den Adressaten der Beschwerde aus. In allen Beschwerdetexten, seien diese auf Deutsch oder auf Arabisch, geht es dem Beschwerdeführer um die Durchsetzung von Geltungsansprüchen, welche er mit seiner Beschwerde gegen den Adressaten der Beschwerde erhebt und mit Argumenten stützt (Brinker 2005: 79ff.). Auch auf der Ebene der kausalen Konjunktionen wie da, weil, denn etc., welche Graefen im Zuge ihrer Arbeit zu den Merkmalen argumentativer Texte (2002: 57ff.) „Spuren des Denkens“ nennt, weisen die Texte ein unterschiedliches Vorkommen von kausalen Markern auf, die mit zur Durchsetzung solcher Geltungsansprüche dienen. Die Rolle der Pronomen ich und wir im Deutschen und im Arabischen bei der Durchsetzung dieser Geltungsansprüche wird unten gezeigt. Die Texte beinhalten überwiegend assertive Sprechakte zur Formulierung von Behauptungen und auf direktiven Sprechakten, um die Forderungen des jeweiligen Beschwerdeführers zu artikulieren. Überwiegend finden sich jedoch assertive Sprechakte, da der Beschwerdeführer die Textsorte Beschwerde dazu nützt, um den Hergang eines beklagenswerten Mangelzustandes aus seiner Sicht zu „erzählen“ und somit ein Narrativ produziert (Günthner 1999). Erst am Ende von Beschwerden werden Forderungen formuliert. <?page no="213"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 203 4 Pronomen im Deutschen und im Arabischen Im Gegensatz zum Deutschen unterscheidet das arabische System der Pronomen drei Arten von Pronomen: die expliziten Personalpronomen, die gebundenen Personalpronomen und die Null-Pronomen. Die expliziten selbstständigen Personalpronomen kommen ausschließlich in der Subjektfunktion vor. Sie finden aber auch Verwendung in anderen Kasus, wenn sie als Apposition eingesetzt werden (Holes 2004: 177ff.). Bei der Verwendung der selbstständigen Pronomen verfügen die arabischen Pronomen wie ihre deutschen Pendants über eine explizite Realisierung. Das mag folgendes Beispiel verdeutlichen, das - wie auch das gesamte Korpus für diesen Beitrag - der arabischen Standardsprache entnommen ist 5 : تنأ مج لي amīlun / ǧ nta a bist schön: du Die an die Konjugationsform des Verbs gebundenen Pronomen sind ein deutlicher Sonderfall, der im Deutschen keine Entsprechung hat. Diese Pronomen erscheinen als Suffix eines konjugierten Verbs und werden daher als „suffigierte Personalpronomen“ (Krahl/ Reuschel 1980: 104ff.) bezeichnet. Die suffigierten Personalpronomen schließen ebenfalls an Substantive, Präpositionen, Partikeln und Konjunktionen an (1980: 104ff.). Diese Suffigierung gilt auch für die Possessivdeterminative im Arabischen, die im Deutschen ungebunden vorkommen. Die suffigierten Personalpronomen, die an das Verb anschließen, können sowohl Subjekte als auch Objekte sein. Im folgenden Beispiel ر يأ ت مك / kum tu ī ra’ gesehen: euch habe ich gibt es gleich zwei gebundene Pronomen, t/ ت steht für das Subjekt (ich) und k/ ك steht, je nach Kontext, für das Partnerpronomen (Sie) oder (euch) im Akkusativ, wobei die Pluralform durch das m/ م markiert wird. In der Regel macht das Arabische von den gebundenen Pronomen wesentlich mehr Gebrauch als von den expliziten. Eine dritte Kategorie der arabischen Pronomen ist der Fall der Null- Pronomen, bei dem das betreffende Pronomen aus dem Kontext hervorgeht. Dieser Fall erinnert an die Weglassung des expliziten Personalpronomens der 2. Person Singular (du) im Deutschen im Imperativ, z.B. (Schreibe Ø einen 5 Jedes arabische Element in diesem Beitrag, sei es ein Wort oder ein Morphem, wird zusammen mit Transkription und der deutschen Übersetzung angeführt. <?page no="214"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 204 Brief! ). Im Arabischen ist die Weglassung etwa des Subjektes gang und gäbe und umfasst nicht nur Aufforderungssätze, sondern auch Aussagesätze, wobei die ausgelassenen Pronomen von manchen Autoren als Ersatz für selbstständige Pronomen gesehen werden (Fehri 2009; Al-Momani 2015). Im folgenden Beispiel wird das arabische Pronomen er weggelassen, während es im Deutschen unverzichtbar bleibt. er spielt Fußball jeden Tag: Ø yal c ab al-kura kul yaūm / موي لك ةركلا بعلي In diesem Beitrag werde ich mich nur mit den beiden Realisierungsformen der Pronomen im Arabischen befassen: den unabhängigen und den gebundenen Pronomen. Die Pronomen ich und wir werden zusammen mit den anderen Personalpronomen bei Halliday/ Hasan (1976) unter dem Begriff „Referenz“ subsummiert. Die Referenz ist in ihrer Konzeption eine von fünf Text-Kohäsionsmitteln, zu denen auch die Substitution, Ellipse und Konjunktionen im grammatischen Bereich und die Wiederholung im lexikalischen Bereich gehören. Sprecherpronomen wie ich und wir sowie Partnerpronomen wie Sie und du referieren Personen in der aktuellen Kommunikationssituation und werden daher als e x o p h o ri s c h bezeichnet, während deiktische Pronomen wie die Personalpronomen er, sie, es auf zuvor Genanntes hinweisen und daher e n d o p h o ri s c h genannt werden. Die letztgenannten tragen maßgeblich zur semantischen Textkohäsion bei, während die Sprecherpronomen nach Auffassung dieser Autoren nur selten einen Beitrag zur Textkohäsion leisten. Wie Brinker (2005: 44f.) favorisiere ich den Begriff der „Kohärenz“, der die Kohäsion mit einschließt. Abweichend von Halliday/ Hasan schreibe ich den Pronomen mehr Bedeutung zu als die bloße Referenz auf Personen und Objekte, wie dieser Beitrag zeigen wird. 5 Korpusanalyse und Diskussion Aufgrund der arabischen Verbmorphologie, wo ein großer Teil der Pronomen an die Konjugationsform des Verbs gebunden ist, war es schwierig, das Korpus mit Hilfe von Software zu analysieren. Das Korpus wurde daher mehrfach gelesen und nach Pronomen und deren Markierungen ausgewertet. Die daraus entstandene Statistik bildete die Grundlage für die Ermittlung der prozentualen Präsenz des jeweiligen Phänomens im jeweiligen Korpus. Die possessiven Determinative werden als Markierungen von ich und wir ebenso mit einbezo- <?page no="215"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 205 gen wie die Pronomen der Ansprache, mit denen der Sprecher die eigene Positionierung durch die Art der Adressierung der anderen bestimmt. Die folgenden Tabellen informieren über diese Auswertung. 5.1 Ich und wir als Autorenperspektive In Tabelle 1 wird eine Auswertung des Korpus nach der Autorenperspektive des jeweiligen Textes gezeigt. Es geht darum, aus welcher Perspektive der jeweilige Text geschrieben ist. Diese Selbstbestimmung des Autors, ob er ein selbstständiges Ich darstellt oder ob er sich als ein Wir definiert, obwohl es sich um eine Einzelperson handelt, wird von Goffman (1981) und Wortham (1996) „footing“ genannt. Halliday/ Hasan (1976: 45) sprechen ähnlich von „speech roles“. Damit sind die Rollen gemeint, welche der jeweilige Sprecher einnimmt, wenn er im sozialen Kontext sprachlich handelt. Goffman (1981: 144f.) nämlich unterscheidet drei Sprecherrollen: einen Animator, der Fremdes ausspricht, wie etwa ein Nachrichtensprecher; einen Autor, der im Auftrag anderer etwas verfasst; und einen verantwortlichen Initiator (P rini c i p a l ) 6 , dessen Position im jeweiligen Text repräsentiert und wiedergegeben wird. Den verantwortlichen Initiator definiert Goffman als a person active in some particular social identity or role, some special capacity as a member of a group, office, category, relationship, association, or whatever, some socially based source of self-identification ( 1981: 145). Natürlich ist eine Überlappung der Rollen möglich. So kann ein Sprecher seinen Standpunkt selbst formulieren und ausdrücken. Diese drei Rollen reflektieren unterschiedliche Stufen der Partizipation an einer zwischenmenschlichen Interaktion. Durch die Wahl des jeweiligen Pronomens für die Selbstreferenz legt der Sprecher auch den erwünschten Grad an Partizipation fest, um seine Ziele in einer gegebenen Interaktion zu erreichen. So kann ein Sprecher durch die Verwendung von wir gegenüber einem oder mehreren betroffenen Adressaten seine Solidarität und seine Zugehörigkeit signalisieren. Umgekehrt lassen sich bei entsprechendem Kontext Abwendung und Distanzierung durch die Verwendung von ich zum Ausdruck bringen. 6 Manche deutsche Linguisten (z.B. Auer 2013: 166f.) übersetzen Principal mit ‚Auftraggeber‘. Ich bevorzuge hier den deutlicheren Begriff „verantwortlicher Initiator“, da dieser der Intention Goffmans näherkommt. <?page no="216"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 206 Die Auswertung zeigt, dass Beschwerdeführer im Deutschen in 78 % aller Fälle ihre Beschwerde aus der bewussten expliziten Ich-Perspektive formulieren und als Prinicipal, auftritt. Wenn Beschwerdeführer in 20 % Prozent aller Beschwerden im Deutschen zum Pronomen wir greifen, dann handelt es sich um ein reales Wir, etwa eine Familie (vgl. Abschnitt 5.1). Damit entspricht die Verwendung von wir im deutschen Korpus durchgängig der Verwendung von ich, was eine eindeutige Fokussierung der Person des Verfassers der Beschwerde ermöglicht. Beim Pronomen-Switching im Deutschen geht es ebenfalls um zwei reale Personen, von denen nur eine stellvertretend spricht und daher zwischen der Ich- und der Wir-Perspektive im Text wechselt. Sprecher und Referenzpersonen sind im Deutschen daher ausnahmslos dieselben Entitäten. Im Arabischen bietet sich ein anderes Bild. Hier verwendet der Beschwerdeführer als Einzelperson die Ich-Perspektive in nur 20 % aller Texte und bezieht sich dabei tatsächlich auf sich selbst. Der Wir-Perspektive in 54 % aller Texte im Arabischen aber liegt kein reales ‚Wir‘ und kein tatsächliches Kollektiv zugrunde, sondern eine Einzelperson, die sich für ihre Zwecke der Maske des Kollektivs bedient und daher nicht als Prinicipal auftritt, sondern als Animator und Autor. Auch beim Pronomen-Switching (Tab. 1) wählt der Beschwerde- Führer in 26 % aller Texte das Pronomen wir, obwohl es sich in den allermeisten Fällen um das Anliegen einer Einzelperson handelt. Für diejenigen, die mit der arabischen Kultur nicht vertraut sind, führt eine solche Selbstbezeichnung des Sprechers zu Irritationen. Tab. 1: Autorenperspektive in den arabischen und deutschen Beschwerdetexten Wie lässt sich nun erklären, dass im Deutschen die Ich-Perspektive so deutlich dominiert, während im Arabischen die Wir-Perspektive und die Tendenz zum Pronomen-Switching weitaus stärker repräsentiert sind? Haben die Sprecher des Deutschen nicht die linguistischen Möglichkeiten der Sprecher des Arabischen und umgekehrt? Oder hat die Kultur hier einen unmittelbaren Einfluss auf die Art, wie Individuen dieser Kultur sprachlich handeln? Lässt sich dieser Unterschied in der Autorenperspektive beider Sprachen hier mit den folgenden Worten von Uz (2014: 1672) erklären? ich-Sprecher wir-Sprecher Pronomen- Switching Gesamt absolut (Anteil) absolut (Anteil) absolut (Anteil) absolut (Anteil) Arabisch 10 (20 %) 27 (54 %) 13 (26 %) 50 (100 %) Deutsch 39 (78 %) 10 (20 %) 1 (2 %) 50 (100 %) <?page no="217"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 207 Given the findings that the use of ‘I’ versus ‘we’ is differentially related to individualism, a language requiring the use of personal pronouns would not only highlight the individualist self when first person singular pronoun is used but also it would highlight the collectivist self when first person plural pronoun is used. Eine solche Erklärung würde die obige These der Kulturwissenschaftler stützen, wonach die arabische Kultur kollektivistisch und die deutsche individualistisch ausgerichtet sei. Dies mag zutreffen, wenn man das Phänomen der unterschiedlichen Ich- und Wir-Präferenzen in beiden Sprachen in diesem Korpus unter die Lupe nimmt und schnell zu einer These kommen möchte. Dennoch ist diese Erklärung zu einfach. Wenn man das Phänomen näher betrachtet, kommt ein wichtiger Faktor der Interpretation hinzu: der Kontext. Es geht in solchen Beschwerde-Texten um die argumentative Durchsetzung von Geltungsansprüchen. Meines Erachtens hängt die Ich-Autorenperspektive eher damit zusammen, dass das deutsche Ich mehr Wert darauf legt, sich zu offenbaren, seine Geltungsansprüche konkreter und mit deutlicher Bezogenheit auf sich selber zu präsentieren, um selbst mit dem jeweiligen Kontrahenten zu einer Regelung des Dissenses zu kommen. Das, was Oripeloye (2012: 424) für das narrative Ich sagt, trifft daher auch auf das diskursive Ich im deutschen Korpus zu, wonach das diskursive Ich dem Sprecher gleichsam eine Dauerpräsenz im Diskurs gewährt und das Erzählte als die Wahrheit präsentiert wird, hinter der der Autor mit seiner eigenen unmissverständlichen und bekannten Person und Identität steht. Dieser Aspekt ist nicht zu unterschätzen. Erkennt man an, dass solche öffentlichen Beschwerden als Narrativ (Günthner 1999) anzusehen sind, so ist dieses Narrativ in einem hohen Maß auf Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit (Olmos 2015: 158f.) angewiesen, um überhaupt den damit verbundenen Geltungsanspruch durchzusetzen. Dafür sorgt nun die Verwendung des Pronomens ich, das dank der konkreten Identität mit der Referenz des Pronomens die Faktizität und die Glaubwürdigkeit dieses Narrativs zumindest wahrscheinlicher macht. Ist dieser Vorteil des Personalpronomens ich dem arabischen Beschwerdeführer unbekannt oder geht es ihm tatsächlich darum, einem bedingungslosen Kollektivismus zu genügen? In den Beschwerdetexten des deutschen Korpus wendet sich der Beschwerdeführer i.d.R. unmittelbar an den Verursacher des Problems. Es gibt eine Argumentation auf Augenhöhe und eine symmetrische Basis, selbst wenn es sich im Deutschen um ein Amt oder eine Behörde handelt. Im arabischen Korpus richtet der Beschwerdeführer seine Beschwerde meistens an eine höhere Amtsperson, die bis zum Präsidenten des ganzen Landes reichen kann, um gegen den Verursacher eines Mangelzustandes vorzuge- <?page no="218"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 208 hen. Der Verursacher des Problems erscheint in der Rolle eines Angeklagten. Beim arabischen wie beim deutschen Beschwerdeführer geht es gleichermaßen um die Durchsetzung von Geltungsansprüchen. Im Fall des Arabischen gilt es kulturell jedoch als höflich, bei der erfolgreichen Inanspruchnahme der Hilfe höherer Amtspersonen oder Behörden sich selbst zurückzustellen und ein kollektives Wir zu fokussieren. Das dient dazu, dass die Verantwortung des arabischen Beschwerdeführers für die Behauptungen in der jeweiligen Beschwerde in den Hintergrund gedrängt wird. Daher wären Formulierungen mit ich für den arabischen Kontext hier eher nachteilig. Der Anteil der arabischen Beschwerden, die in der Ich-Autorenperspektive formuliert sind, beruhen nicht auf dieser Machtkonstellation, sondern auf der Gleichwertigkeit von Beschwerdeführer und Beschwerdeadressaten; Beschwerden werden also nicht an höhere Amts- oder Machtpersonen gerichtet, sondern an alltägliche Partner, die Verursacher eines Problems sind, wie etwa eine Telefongesellschaft. Das Pronomen-Switching der Autorenperspektive im Arabischen zwischen ich und wir gibt Anlass zur Vermutung, dass Kulturen tatsächlich nicht statisch sind und dass sich das Verhältnis zur Macht allmählich ändert (vgl. 5.2), was sich im kommunikativen Wandel und im sprachlichen Handeln äußert. Eine solche Vermutung müsste anhand eines diachron angelegten größeren Korpus überprüft werden. In Anlehnung an Goffman spricht Haddad (2013: 62) daher von „footing change“ und zeigt, dass sich dieser Wechsel der Pronomen im mündlichen Libanesisch- Arabischen oft wiederholt. Beleg 1 هيرهزلأا هيوناثلا تاناحتمإ برست تارم ثلاث هيرهزلأا هيوناثلا تاناحتمإ تبرست دقل : فيرشلا رهزلاا […] ىتح وأ هنادإ عمسن ملو نكي مل ً ائيش نأكو لوؤسم يأ نم قيلعت […] امع ً اضر وهأ بيرملا تمصلا اذه نع لءاستأ يننإ ا ءارجلإا وه ام ؟ دمع نع برستلا اذه ثدح له ؟ثدح ؟ برستلا اذه لايح ذختأ يذل هجوأ يننإ ةدايس ىلا يلاؤس ماعلا بئانلا (..) يــفصو ايرــكز / سدنهم 7 Übersetzung: Das Verraten der Abiturprüfungsfragen an Al Azahr-Schulen Die Prüfungsfragen des Abiturs sind nun mal in drei Fächern hintereinander im Vorfeld der Prüfungen durchgesickert. […] Wir haben bislang keine Verurteilung oder irgendeinen Kommentar eines Verantwortlichen diesbezüglich gehört. […]. 7 Beleg 1, Quelle: http: / / shakawi.masreat.com/ 136580 (01.08.2015). <?page no="219"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 209 Ich frage mich, was es mit diesem verdächtigen Schweigen auf sich hat. Ist das etwa als Billigung zu verstehen? Ist das Verraten der Abiturfragen ein vorsätzlicher Akt? Welche Maßnahmen sind gegen solche Vorfälle von Geheimnisverrat bislang ergriffen worden? Ich richte diese Fragen direkt an den Generalstaatsanwalt. […] Ingenieur Zakaria Wasfi [Hervorhebungen: A.-H.M.]. In Beleg 1, in dem sich der Beschwerdeführer an die Leitung des religiös geprägten Schulwesens von Al-Azhar wendet, ist es nicht einfach, die Autorenperspektive zu bestimmen. Handelt es sich um die Einzelperson, die am Ende der Beschwerde ihre Unterschrift leistet? Oder handelt es sich um weitere Akteure, für die diese Person stellvertretend handelt? Und wer ist wir? Sind alle wirklich durch das Verraten der Prüfungsaufgaben geschädigt? Oder gibt es doch welche, die Nutzen daraus ziehen? Der Beschwerdeführer kümmert sich offensichtlich nicht um die Beseitigung dieser Ambiguität, da das Verraten von Prüfungsfragen im Abitur aus der Sicht des Beschwerdeführers ein derart ernster Fall ist, dass die Person, die darauf hinweist, nicht als identitätsrelevant fokussiert zu werden braucht. Die Erklärung der Verwendung von Pronomen aus der reinen Einteilung der Kulturen in individualistische und kollektivistische ist zu simpel und revisionsbedürftig. Die Durchsicht des deutschen und arabischen Korpus zeigt, dass der Kontext, die Identität der Interaktanten und der ausgehandelte Stand ihrer Beziehungen sowie das gegebene Machtverhältnis wichtige Bestimmungsfaktoren sind (Massud: 2016). Die Ich- und Wir-Autorenperspektive in diesem argumentativen Kontext folgt daher keinem individualistischen oder kollektivistischen Imperativ, sondern ausschließlich kulturspezifischen Argumentationsstrategien. 5.2 Die Repräsentation von ich und wir im Korpus Die Tabellen 2 und 3 geben einen Überblick über die Verteilung der beiden Sprecher-Pronomen ich und wir im Korpus 8 beider Sprachen und über die wirkliche Referenz des jeweiligen Pronomens, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob das Pronomen wir im Text tatsächlich auch auf eine Gruppe Bezug nimmt. Enthalten ist zudem die festgestellte statistische Angabe für jedes Phänomen. 8 Grundlage dieser Auswertung ist die jeweilige Textlänge von etwa 10.000 Wörtern aus jeder Sprache und die Häufigkeit der Personalpronomen oder der Possessivdeterminative. <?page no="220"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 210 Beschwerdeführer Selbst-Referenz Wirkliche Referenz absolut (Anteil) Einzelperson ich Einzelperson 10 (20 %) Einzelperson wir Einzelperson 38 (76 %) 9 Gruppe wir Gruppe 2 (4 %) Tab. 2: Beschwerdeführer und deren wirkliche Referenz im arabischen Korpus Intuitiv geht man von der Annahme aus, dass das Sprecherpronomen ich den Sprecher selber meint und das Pronomen wir den Sprecher und eine Gruppe mit ihm bzw. eine Gruppe von Sprechern. Die mannigfaltigen Verwendungen dieser Pronomen zeigen aber, dass dies nicht selbstverständlich ist. Ein Arzt, der zu seinem Patienten sagt Jetzt haben wir unser Medikament eingenommen, schließt sich selber natürlich nicht ein, sondern greift zum Pronomen wir, um sein Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen. Ein Mann, der zu seiner Partnerin sagt Diese Woche haben wir aber zu viel Geld ausgegeben, will gegebenenfalls Kritik an seiner Partnerin ausüben und greift nur zum Pronomen wir, um diese Kritik in abgeschwächter Form zum Ausdruck zu bringen (De Cock 2011: 2768f; Posio 2012: 342f.). Ein Fußballfan, dessen favorisierte Mannschaft Weltmeister geworden ist und der ausruft: Ich bin Weltmeister! repräsentiert nicht das sprechende Ich, sondern die abwesenden elf Mitglieder der Mannschaft. Ebenso wenig hat eine Gruppe von Fans als die spielende Mannschaft zu gelten, die am Ende eines erfolgreichen Spiels ausruft: Wir haben gewonnen! Eine der wichtigen Kategorien bei der Analyse der Pronomen ist daher die Kategorie der Inkl u s i o n und der E x kl u s i o n . Wir im deutschen und im arabischen Korpus schließt zwar den Sprecher ein, aber ist insofern ein exklusives Wir (Fleischer 2001: 36f.), als es den Adressaten der Beschwerde nicht ein-, sondern ausschließt. Jedoch unterscheidet sich das deutsche vom arabischen Wir: Das exklusive arabische Wir repräsentiert meistens nur die Person des Beschwerdeführers, also pluralis auctoris (Engel 1996: 652), während das deutsche Wir tatsächlich auf eine exklusive konkrete Menschengruppe, meistens eine Familie, hinweist. Das geht aus den Tabellen 2 und 3 hervor, wo das Pronomen wir in beiden Fällen den klaren Unterschied zwischen beiden Sprachen bzw. beiden Kulturen deutlich macht. Das veranschaulichen aber auch die Belege 2 und 3 aus dem Deutschen und dem Arabischen. Im Deutschen spricht die Beschwerdeführerin als Teil einer konkreten exklusiven Gruppe, während im Arabischen der persönliche Unterzeichner, der mit seinem kompletten Vor-, Mittel- und Nachnamen auftritt, durchgängig von wir spricht, ohne auch nur 9 Gegenüber Tabelle 1 sind in dieser Tabelle auch die wirklichen Referenzen bei Texten erfasst, in denen ein Pronomen-Switching stattfindet. Beim Pronomen-Switching geht es in den allermeisten Fällen um den Beschwerdeführer selbst. <?page no="221"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 211 den geringsten Hinweis darauf zu geben, wen dieses Wir sonst außer ihm selber umfassen könnte. Aus der Sicht von Linguisten mit europäisch-westlicher Perspektive gilt die Verwendung des wir-Pronomens bei eigentlichem ich als ein so genanntes „unverantwortliches Sprachhandeln“ (Mohamed/ Omer 2000: 68), da sie von dem erwartbaren footing, nämlich ich zu benutzen, abweicht. Goffmans Konzept des footing ist aber nicht statisch. Die Interaktanten passen sich immer wieder der Situation an und positionieren sich neu, das hat natürlich einen unmittelbaren Einfluss auf die Präferenzen bei der Verwendung der Pronomen gemäß den Zielen in der jeweiligen Situation. Bei Goffman heißt es: A change in footing implies a change in the alignment we take up to ourselves and the others present as expressed in the way we manage the production or reception of an utterance. A change in our footing is another way of talking about a change in our frame for events (1981: 128). Im Sinne Goffmans hat Vuković (2012: 187f.) bei der Analyse der Verwendung von Pronomen in Parlamentsdebatten herausgefunden, dass diese Neupositionierung des Sprechers mit Hilfe der Pronomen I und We strategische argumentative Ziele verfolgt, nämlich die Fokussierung des Ich bei der Darstellung der eigenen Leistung und die Fokussierung des Wir beim Bestreben, mehr Sympathie zu gewinnen und sich aus der Verantwortung zu stehlen. In einer Argumentation wie im Fall von Beschwerden, wo der Sprachhandelnde das Bedürfnis hat, einen wichtigen Geltungsanspruch durchzusetzen, ist eine solche Verwendung des Wir im Arabischen keineswegs ein Ausdruck einer nicht wahrgenommenen Verantwortung, sondern m.E. ebenfalls die Implementierung einer Argumentationsstrategie. Indem der Sprecher zwar seinen Einzelfall selber vertritt, jedoch im Sinne Goffmans lediglich als Autor auftritt und zum kollektiven Pronomen wir greift, das außer ihm selber keine erkennbare weitere wirkliche Referenz hat, verfolgt der Sprecher eine aus seiner Sicht vorteilhafte Übertreibungsstrategie. Diese soll dazu beitragen, dass der Adressat der Beschwerde statt eines bloßen Individuums einen größeren Kreis von Betroffenen wahrnimmt, der nicht konkretisiert wird, und umso schneller und tatkräftiger handelt, um den Mangel zu beseitigen (bzw. beseitigen zu lassen). Daher wird im Arabischen der Verursacher der Beschwerde exakt beschrieben, nicht immer jedoch derjenige, der die Beschwerde artikuliert. Die linguistischen Möglichkeiten zur Präzisierung stehen dem Araber genauso wie dem Deutschen zur Verfügung. Nur der Kontext und die Konventionen in der jeweiligen Kultur entscheiden darüber, wann, an welcher Stelle und wozu man davon Gebrauch macht. <?page no="222"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 212 Beleg 2 Wir haben mit 4 Erwachsenen und 2 Kindern im Center ParcsHet Hejiderbos ein Premium cottage Haus von 07.07.- 14.07.2014 gebucht. Leider war der Urlaub der absolute Horror […]. Wir versuchtem [sic! ] unseren Urlaub zu retten, indem wir selbst Staubsauger und Putzstängel schwangen, aber für das Trockenlegen des Hauses fehlte uns die Zeit. 10 [Hervorhebungen: A.-H.M.] Beleg 3 جاهوس ةظفاحم نيملعملل ةينهملا ةيميداكلاا ميلعتلاو ةيبرتلا ةرازو يوبرتلا ليهأتلا يلع انلصح : ليربا ةعفد آيوبرت نيلهؤم ريغلا نيملعملل 2014 بحسل ميلعتلاو هيبرتلا ةيريدمب انقارواب انمدقتو ماعلا اذهل هيعامتجا هيبرت هجومل هيقرتلا ةرامتسا 2014 تايساسا ةرود يلع لوصحلا انم اوبلطف يتح انيدل دجوي لا انل اولاق هرودلا يلع لصحن يكل نيملعملل هينهملا هيمداكلاا يلإ انبهذ املف هيجوتلا هرودلا هذه ذيفنتب رماوا نلاا […] دمح يلع دومحم يفطصم دمحم رصانلادبع 11 Übersetzung: Betrifft: Erziehungs- und Bildungsministerium, die berufliche Akademie für Lehrkräfte des Gouverneursrats Sohag Wir haben das pädagogische Diplom für Absolventen von nicht pädagogischen Studiengängen im April 2014 erlangt. Danach haben wir uns an das Amt für Erziehung und Bildung im Gouverneursrat gewandt, um das Formular für die Beförderung zum leitenden Fachlehrer im Fach „Sozialpädagogik“ zu erhalten. Da hat man von uns den Nachweis über das Absolvieren des Kurses „Grundlagen der Fach-Dienstaufsicht an Schulen“ gefordert. Die berufliche Akademie für Lehrer teilte uns aber mit, sie habe noch nicht die Erlaubnis erhalten, einen solchen Kurs einzurichten. […] Abdel-Nasser Mohammed Mustafa Mahmud Ali Mohammed [Hervorhebungen: A.-H.M.]. Diese bewusste Rolle als Autor, die durch die Verwendung des referenzarmen Wir konstruiert wird, entspringt auch den asymmetrischen Machtverhältnissen zwischen dem Beschwerdeführer und den Adressaten im arabischen Korpus. Die Person des Machthabers ist höhergestellt als die Person des Beschwerdeführers, der, um seine Beschwerde vorzubringen, den Schulterschluss mit anderen sucht, um besser wahrgenommen zu werden, auch wenn diese anderen eine nicht identifizierbare Größe bleiben. Zwar ändert sich diese Kultur des Umgangs mit Machtpersonen allmählich, was sich auch im arabischen Korpus manifestiert: Hier ist kein durchgängig homogenes Bild festzustellen, da das individualistische Auftreten durch ich mit 10 Beleg 2, Quelle: http: / / de.reclabox.com/ firma/ 1652-Center-Parcs-Germany-GmbH (01.08.2015). 11 Beleg 3, Quelle: http: / / shakawi.masreat.com/ 136610 (01.08.2015). <?page no="223"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 213 dem kollektivistischen wir konkurriert. So enthalten 20 % aller Texte im Arabischen das Pronomen ich als Referenz, wie Tabelle 1 zeigt. Hinzu kommt, dass 26 % aller Texte durch Pronomen-Switching markiert sind, das auf diese allmähliche Entwicklung der Präsentation des selbstbewussten Ich auch mit hinweist. Aber diese Änderung ist ein Prozess. Daher bleibt diese wir-Verwendung, wie das Korpus zeigt, vorerst die dominante. Es versteht sich, dass diese Ergebnisse in einer größeren Studie und in weiteren Textsorten und Kommunikationssituationen verifiziert werden sollen. Sie sind hier daher trotz ihrer Korpusgebundenheit als erste Annahmen für weitere Diskussionen zu verstehen. Beschwerdeführer Selbst-Referenz Wirkliche Referenz absolut (Anteil) Einzelperson ich Einzelperson 39 (78 %) Gruppe wir Gruppe 10 (20 %) Tab. 3: Beschwerdeführer und deren wirkliche Referenz im deutschen Korpus Anders ist die Situation im Deutschen, wie Tabelle 3 anschaulich macht. Hier tritt der Sprecher explizit als Autor und verantwortlicher Initiator, sprich als Principal, auf und unterstreicht seine offene selbstbewusste Identität im Laufe der Beschwerde mit allen Mitteln, um seinen Geltungsanspruch zu reklamieren und den Adressaten der Beschwerde zur Stellungnahme zu drängen. Das identitätsgebundene Sprecherpronomen ich ist m.E. daher fordernder und möglicherweise auch für einen Beschwerdeführer durchsetzungsfähiger, als es das referenzarme Pronomen wir ist. Im gesamten deutschen Korpus beträgt die pronominale Verwendung von ich mit wirklicher Referenz 78 %, während sie für die arabische Kultur eine Repräsentation von lediglich 10 % (Tab. 2) in allen Texten nicht überschreitet. Aber diese 78 % sind auch alles, was im Korpus vorkommt. Die Verwendung von wir im Deutschen, welche den restlichen Prozentsatz ausmacht, hat ebenfalls eine wirkliche Referenz. Das heißt, das Verhältnis zwischen den Pronomen und der wirklichen Referenz im Deutschen beträgt 1: 1. Dies stellt eine große Divergenz zwischen dem Deutschen und dem Arabischen dar. Sicherlich liegt das nicht am Sprachsystem, das den Sprechern beider Sprachgemeinschaften in ähnlicher Weise zur Verfügung steht. Auch hier hat diese ausgeprägte Tendenz zur Präsenz von ich im Deutschen und zur Zurückstellung von wir nicht nur mit Individualismus zu tun, sondern auch mit der Neigung zur klaren Stellungnahme, zur Präzisierung bzw. mit dem Druck auf den Gegner, sich zum erhobenen Geltungsanspruch klar zu äußern und den entstandenen Mangel möglichst bald zu beseitigen. Dass wir im Arabischen deutlicher fokussiert wird, hat ebenfalls weniger mit einer kol- <?page no="224"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 214 lektivistischen Haltung zu tun, sondern primär damit, dass die individuelle Betroffenheit über einen Mangelzustand in eine kollektive Betroffenheit erhoben wird, was im Arabischen den Druck auf den Adressaten erhöht, zum erhobenen Anspruch Position zu beziehen und die erhoffte Regelung eines Dissenses zu bewirken. Das heißt, bei der Generierung von Druck auf den Dissenspartner gehen Vertreter der deutschen und der arabischen Kultur zwar unterschiedliche Wege, im Endeffekt bewirkt das Pronomen ich im Deutschen ähnliches wie wir im Arabischen. Dabei verringert der Beschwerdeführer im Arabischen die Gefahr seines persönlichen Gesichtsverlusts bzw. namentlich zur Verantwortung gezogen zu werden, indem er sich auf ein Kollektiv bezieht, da die hier zur Analyse stehenden Texte im Arabischen in der Regel zwar alle erforderlichen Angaben enthalten, aber ohne die persönliche Unterschrift verfasst wurden. 5.3 Konstruktion von Ich und Wir durch Partnerpronomen Die Selbstpositionierung der Interaktanten einer Argumentation erfolgt aber nicht nur durch die spezifische Verwendung der Sprecherpronomen ich und wir, sondern u.a. auch durch die jeweilige Präferenz für bestimmte Partnerpronomen. 12 Im Deutschen handelt es sich um die Pronomen du, Sie und ihr. Sie haben im Arabischen eine Entsprechung mit der Erweiterung, dass das Arabische für das Partnerpronomen jeweils eine maskuline und eine feminine Form sowie eine Dualform kennt. Zudem kann das Partnerpronomen im Arabischen gebunden vorkommen. Geht es bei den Pronomen ich und wir darum, das eigene footing in einer Interaktion zu markieren, so zielt die bewusste Wahl des Partnerpronomens darauf, dem Partner eine bestimmte Stellung in der jeweiligen Interaktion zuzuweisen, womit auch ein bestimmtes Niveau in der jeweiligen Beziehung festgelegt wird. Die Tabellen 4 und 5 enthalten eine Auswertung des arabischen und deutschen Korpus hinsichtlich des Rangs und Typs des Adressaten der Beschwerde, mit welchen Pronomen er in Beschwerden angesprochen wird - falls überhaupt, sowie die wirkliche Referenz des jeweiligen Partnerpronomens und die statistische Auswertung. Wie aus der Tabelle 4 hervorgeht, ist der Adressat der Beschwerde im Arabischen im besten Fall eine Machtperson, sei diese Staatsoberhaupt oder Minister. Die Summe dieser hochrangigen Adressaten macht im Arabischen 80 % 12 In manchen deutschen Grammatiken (z.B. Engel 1996: 652f.) werden unter „Partnerpronomen“ Sprecher- und Adressatenpronomen verstanden. <?page no="225"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 215 aus. Der Adressat der Beschwerde im Arabischen ist, anders als im Deutschen, meistens der unmittelbare Verursacher des beklagten Zustandes, gleichzeitig liegt dieser in seiner Zuständigkeit und er hat die Macht, diesen zu beheben. Obwohl es sich beim Adressaten im Arabischen um eine Einzelperson handelt, wird diese Person ausnahmslos mit dem gebundenen Partnerpronomen k/ ك und der Pluralmarkierung m/ م , also kum/ مُ ك angeredet. Der Beschwerdeführer begnügt sich nicht damit, die Einzelperson des Adressaten in Pluralform anzusprechen, sondern erweitert diese pronominale Form um zusätzliche herrschaftsbetonte Höflichkeitsformen wie Exzellenz oder Hoheit. Das Pluralpronomen wird oft als Suffix an solche Herrschaftsformeln in einem Wort angeschlossen, z. B. Eure Hoheit/ Eure Exzellenz, wie Tabelle 4 zeigt. Typ Partnerpronomen im Korpus Wirkliche Referenz Absolut (Anteil) Minister gebundenes Pluralpronomen k/ ك in Verbindung mit der Pluralmarkierung m/ م in Verbindung mit der Höflichkeitsformel ‚Eure Exzellenz‘: syādatykum/ مكتدايس oder ‚Eure Hoheit‘: m c ālykum/ مكيلاعم Einzelperson 15 (30 %) Staatspräsident Einzelperson 15 (30 %) Behörde gebundenes Pluralpronomen k/ ك in Verbindung mit der Pluralmarkierung m/ م in Verbindung mit der Höflichkeitsformel ‚Eure Exzellenz‘: syādatykum/ مكتدايس kontextuell erschließbare Einzelperson an der Spitze der Behörde 5 (10 %) Geschäftsführer eines Versorgungsunternehmens kontextuell erschließbare Einzelperson an der Spitze des Unternehmens 5 (10 %) nicht definierte kontextbasierte Zuständige Null-Partnerpronomen Einzelperson des Amtsleiters 10 (20 %) Tab. 4: Beschwerdeadressaten und deren Ansprache im arabischen Korpus Das Partnerpronomen Sie im Deutschen hingegen kann sich an einen gleichrangigen oder höherrangigen Adressaten richten, je nach dem gegebenen Kontext. Es schafft eine Distanz zwischen dem Sprecher und dem Adressaten, da es darauf beruht, dass in der deutschen Kultur, z.B. in offiziellen Kontexten oder wenn Fremde miteinander interagieren, eher der Nachname und Sie benutzt <?page no="226"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 216 wird. Für die Anrede mit dem Vornamen ist in der Regel das Pronomen du vorgesehen (Liebscher/ Dailey-O‘Cain 2013: 136f.). Die arabische Kultur präferiert zwar im Alltag den Vornamen bzw. den ersten Namen, aber in öffentlicher offizieller Kommunikation wird ebenfalls die Distanzform ‚ihr‘: antum/ متنأ als selbstständiges Pronomen oder das suffigierte Pronomen kum/ مُ ك verwendet. Typ Partnerpronomen im Korpus Wirkliche Referenz Absolut (Anteil) Behörde Sie nicht eindeutig definierte agierende Person/ Gruppe in einer Behörde 25 (50 %) Behörde die (Demonstrativpronomen) 10 (20 %) Firma Sie Einzelperson oder Gruppe in der Geschäftsführung 5 (10 %) Behörde keine Anrede ----- 10 (20 %) Tab. 5: Beschwerdeadressaten und deren Ansprache im deutschen Korpus Tabelle 5 zeigt, dass das am meisten gebrauchte Partnerpronomen das Pronomen Sie ist, das nicht zwingend an eine Machthierarchie gebunden ist. Anders als im Arabischen gibt es hier auch keine lexikalische Markierung eines etwaigen Machtverhältnisses. Im Fall des Deutschen besteht auch eine durchgängige Entsprechung zwischen dem Pronomen und der wirklichen Referenz. Bei Personen, die angesprochen werden, handelt es sich gemäß der Ansprache auch um Einzelpersonen. Aber jenseits ihrer Referenzfunktion, jenseits ihrer Rolle bei der Aushandlung der Beziehung haben die Partnerpronomen im argumentativen Kontext auch eine argumentative Funktion. Mit dem Partnerpronomen Sie positioniert sich der Sprecher selber als eine von zwei Rechtsparteien, die um den eigenen Geltungsanspruch ringen, da er den Adressaten der Beschwerde mit Sie anspricht und ihn damit klar als die konkurrierende Gegenseite herausstellt. Beleg 4 stellt einen Auszug aus einer Beschwerde an das deutsche Bundesfinanzministerium dar: Beleg 4 Seit zwei Jahren wissen Sie, daß Gesetzesänderungen anstehen zur Berechnung des Lohnsteuerjahresausgleiches 2013 für verheiratete [sic! ], getrennt veranlagte [sic! ]. Wir sind jetzt schon im 2. Quartal 2014 und unsere Unterlagen schmoren im Finanzamt […] Kommen Sie also bitte Ihrer verdammten Pflicht als Volksver- <?page no="227"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 217 treter termingerecht nach. Sie haben schon fünf Monate überzogen! 13 [Hervorhebungen: A.-H.M.]. Mit Sie in der Subjektstellung (vgl. Beleg 4) nimmt der Sprecher seinen Partner in die Pflicht, etwas zu unternehmen, um den beklagten Mangelzustand zu beheben, und konstatiert, dass er etwas getan hat oder einen Mangel selber verursacht hat, wenn es darum geht, in solchen Beschwerden assertive Sprechakte (z.B. Behauptungen) zu vollziehen. Wenn man bedenkt, dass solche Beschwerdetexte online sind und damit einen öffentlichen Charakter haben, dann wird die Referenzperson des Pronomens Sie stark unter Druck gesetzt. Im Arabischen richtet sich das suffigierte Partnerpronomen an eine höhere Amts- und Machtperson, der sich der Beschwerdeführer mehr oder weniger ausgeliefert sieht, um die Beschwerdeursache zu beseitigen. Mit diesem Pronomen drückt der Sprecher im Arabischen das aus, was ich hier als M a c hts e n s i bilit ä t bezeichnen möchte. Ein machtsensibler Sprachgebrauch fordert vom Sprecher im Arabischen nicht nur diese Respektform zu verwenden, sondern auch, dass der Sprecher gegenüber dieser Machtperson eine Haltung der Unterordnung einnimmt, um akzeptiert zu werden und damit letztendlich seiner Bitte entsprochen werden kann. Das Partnerpronomen Sie hingegen drückt das aus, was ich hier als M a c htin diff e r e n z nennen möchte. Beim Sie geht es zwar um eine kulturelle Besonderheit des Deutschen und ein sprachimmanentes Phänomen, aber nicht darum, eine machtbedingte Unterordnung gegenüber einer höheren Instanz zu markieren. Dafür spricht auch das unterschiedliche Prädikat dieser beiden Pronomen im Arabischen und im Deutschen. Während im Arabischen das Pronomen in Verbindung mit der Formel Eure Exzellenz und Formulierungen wie Wir flehen Eure Exzellenz an verwendet werden, ist die Machtindifferenz im Deutschen dadurch erkennbar, dass das Pronomen Sie in der Regel mit Verben verbunden wird, welche eine offene Forderung, einen nicht abgeschwächten Vorwurf oder eine Behauptung als Illokution haben. Tabelle 5 zeigt, dass diese Machtindifferenz im Fall des Deutschen genauso ausgeprägt ist wie die Machtsensibilität im Arabischen. So werden behördliche Adressaten der Beschwerde in 10 % aller Beschwerden des deutschen Korpus mit dem Demonstrativpronomen die referiert, um diese Adressaten öffentlich zu verspotten (Engel 1996: 673), was eine Form von Degradierung darstellt. Das mag Beleg 5 veranschaulichen: 13 Beleg 4, Quelle: http: / / de.reclabox.com/ beschwerde/ 77861-bundesfinanzministeriumberlin-lohnsteuerjahresausgleich-2013-verheiratet-getrennt-veranlagt (01.08.2015). <?page no="228"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 218 Beleg 5 von Andre Burghardt, 25.11.2013 FAHRERLAUBNISBEHÖRDE (BERLIN) Zu lange Bearbeitungszeit Ich bin mal richtig geladen. […] Heut habe ich per Telefon bei der Führerscheinstelle erfahren, dass mein Antrag den ich am 7.10. abgegeben habe noch nicht mal bearbeitet wurde. Ich habe am 28.11. die Theoretische Prüfung und werde diese laut Aussage des Mitarbeiters nicht machen können da bis dahin der Antrag sicherlich noch nicht bearbeitet it. Und dann? Ich fliege aus der Maßnahme und darf 30% zurückzahlen was mal entspannt ca. 1600€ sind. Und das nur, weil die es da nicht auf die Reihe kriegen die Anträge rechtzeitig zu bearbeiten. 14 [Hervorhebungen: A.-H.M.] In diesem Beispiel verwendet der Beschwerdeführer das Demonstrativpronomen die im letzten Nebensatz seiner Beschwerde, um den Adressaten, hier die Berliner Fahrerlaubnisbehörde, zu referieren. Dieses Pronomen drückt eine herablassende Einstellung des Beschwerdeführers gegenüber der betreffenden Behörde aus, was außerdem durch die lexikalischen Mittel im ganzen Beschwerdetext betont wird: richtig geladen, Und dann? , nicht auf die Reihe kriegen. Auch in den 10 % aller Beschwerden, wo keine direkte Ansprache des Beschwerdeadressaten stattfindet, lässt sich m.E. ein Argumentationskalkül ausmachen. Es geht nicht nur darum, den Sachverhalt des beklagten Zustandes selber öffentlich in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die Abgrenzung von dem Verursacher des Schadens noch stärker zu markieren. Als Adressat der Beschwerde erscheint der abwesende er oder die abwesende sie. Somit geht es hier nicht darum, durch den Rückgriff auf die dritte Person „einen typischen institutionellen Diskurs“ (Jacobs 1999: 221) zu pflegen, sondern um die Besetzung der öffentlichen Aufmerksamkeit durch denjenigen (Shi et al. 2011), um dessen Ansprüche es hier geht: den Beschwerdeführer. 6 Zusammenfassung Im Rahmen ihrer Arbeit über Textkohäsion subsummierten Halliday/ Hasan Personalpronomen unter dem Oberbegriff „Referenz“ und klassifizierten die Sprecherpronomen wie ich und wir als exophorische Pronomen, deren Referenz 14 Beleg 5: http: / / de.reclabox.com/ beschwerde/ 70085-fahrerlaubnisbehoerde-berlin-zulange-bearbeitungszeit (01.08.2015). <?page no="229"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 219 sich aus der Situation erschließt und die für die Textkohäsion keine große Rolle spielen. Im vorliegenden Beitrag konnte aufgezeigt werden, dass die Bedeutung der Pronomen über die bloße Referenz wesentlich hinausgeht und dass die Verwendung von Pronomen, insbesondere in Argumentationen, jeweils ein kulturspezifisches Instrument darstellt, um den Ausgang einer Argumentation mit zu kontrollieren und Geltungsansprüche besser durchzusetzen. Die linguistische These, wonach die dominante Verwendung des Sprecherpronomens ich Ausdruck des Individualismus der deutschen Kultur und die Präferenz für das Pronomen wir Ausdruck der Selbstverpflichtung zum Kollektivismus im Arabischen sei, konnte nicht bestätigt werden. Die ausgeprägte Verwendung von ich im Deutschen und wir im Arabischen ist zwar Ausdruck von sehr entfernten Spuren dieser Kulturdimension, ihre Verwendung in argumentativen Kontexten folgt aber klaren Argumentationsstrategien. Mit der Fokussierung von ich im Deutschen wird die Identität des Fordernden unterstrichen, einer Forderung Nachdruck verliehen und dem Erzählten eine Dimension von Faktizität zugeschrieben, um in der Öffentlichkeit für die Glaubwürdigkeit des Erzählten zu sorgen. Beschwerdeführer im Deutschen treten in der Regel als Autoren und verantwortliche Initiatoren (Principal) einer Beschwerde auf, während sich der arabische Beschwerdeführer meistens als bloßer Autor, als Kollektiv mit der wirklichen Referenz einer Einzelperson versteht. Man will bei einer Beschwerde im Arabischen im besten Fall gemäß dem arabischen Argumentationsstil zwei Ziele erreichen: den beklagten Mangelzustand m.H. von Übertreibungen beseitigen zu lassen und keine namentliche Verantwortung für die aufgestellten Behauptungen in einer Beschwerde tragen. Die Realisierung dieser beiden Ziele scheint durch das häufige Zurückgreifen auf das Pronomen wir für den arabischen Kulturkreis wahrscheinlicher. Mit dem Pronomen wir wird das Problem einer Einzelperson kollektiviert und damit übertrieben, wobei das verwendete wir sich auf imaginäre, nicht konkretisierte Akteure bezieht. Wir ist somit die persönliche Maske des Individuums im Arabischen zur Durchsetzung individueller Ziele. Mit diesem Pronomen erscheint der Beschwerdeführer als einer der vielen möglichen Artikulierenden einer Beschwerde, nicht als deren verantwortlicher Initiator. Das Zurückstellen von ich hinter wir erspart dem Sprecher, Verantwortung zu übernehmen. Sowohl wir als auch ich stehen Sprechern beider Sprachgemeinschaften zur Verfügung. Die unterschiedlichen Präferenzen haben, wie die Korpusanalyse gezeigt hat, lediglich mit den jeweiligen etablierten Kulturmustern zu tun. Das Gegensatzpaar von Individualismus und Kollektivismus wurde hier zwar als eine wichtige Dimension wiedererkannt, jedoch in dem Kontext authentischer Texte relativiert. Sowohl in der deutschen als auch in der arabischen Kultur ist <?page no="230"?> Individualismus und Kollektivismus im Deutschen und im Arabischen 220 Individualismus bekannt. Während die deutsche Kultur in argumentativen Situationen wie in öffentlichen Beschwerden offen damit umgeht, bevorzugt die arabische Kultur einen Individualismus, der kollektiv maskiert ist: die persönlichen Wünsche werden als Kollektivanliegen dargestellt. Zu den wichtigen Ergebnissen dieser Studie gehört die Erkenntnis, dass sich hier neue Kulturdimensionen andeuten, die es aber noch umfassender zu untersuchen gilt: M a c ht s en s i bilit ä t und M a c htin diff e r e n z . Die Adressierung des Partners beruht im Deutschen auf einem grundsätzlich symmetrischen Machtverhältnis. Dem öffentlichen Beschwerdeführer kommt zuweilen, wenn auch nur indirekt, mehr Macht zu als dem Adressaten der Beschwerde und zwar durch die Öffentlichkeit der Internetnutzer. Das Pronomen Sie dient dazu, sich von dem Partner als Kontrahenten in der Argumentation zu distanzieren, ihn verantwortlich und haftbar für einen Mangelzustand zu machen und von ihm Wiedergutmachung zu fordern. Im Arabischen adressiert der Beschwerdeführer nicht den eigentlichen Verursacher des Mangelzustandes, sondern seinen Vorgesetzten oder eine höhere Machtperson. Das Verhältnis zwischen dem Beschwerdeführer und dem Adressaten ist daher asymmetrisch. Die Adressierung im Arabischen wird pronominal durch das suffigierte Partnerpronomen k/ ك mit der Pluralmarkierung m/ م (zusammen kum/ مُ ك( markiert, das sich jedoch im Kontext unmissverständlich an die Einzelperson des Adressaten richtet und zwar analog zum deutschen Sie. Dies entspricht oft der Nominalphrase Eure Exzellenz. Mit der freiwilligen Ratifizierung des kulturell gegebenen Machtverhältnisses hofft der Beschwerdeführer, dass sich die höhere Instanz seines Anliegens wohlwollender annimmt und dass seine Geltungsansprüche auf diese Weise effektiver durchgesetzt werden können. Dieser Beitrag versteht die eigenen Ergebnisse nur im Rahmen des zugrundeliegenden Korpus und reklamiert für sich keine umfassende Gültigkeit dieser Ergebnisse. Es sind weitere Studien erforderlich, um nur den Aspekt der pronominalen Selbstreferenz in der Argumentation im Deutschen und im Arabischen abzudecken. Eine relevante Studie zu der Fragestellung dieses Beitrags in Bezug auf die deutsche und die arabische Kultur ist dem Autor bislang unbekannt. Der Beitrag versteht sich daher als eine erste Anregung in diese Richtung. 7 Literatur Al-Momani, Islam M. (2015): Overt and Null Subject Pronouns in Jordanian Arabic. In: Advances in Language and Literary Studies 6. 4. 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S. 331-348. <?page no="235"?> Wissen interkulturell vermitteln - Zur Problematik des fachexternen Wissenstransfers im Computerfachbereich Attila Mészáros (Komárno) Zusammenfassung Im vorliegenden Beitrag wird die Problematik des sog. fachexternen Wissenstransfers vor dem Hintergrund des Computerfachbereiches untersucht. Es steht dabei die Frage im Mittelpunkt, inwieweit Expertentum und Laientum als Kulturen betrachtet werden können und über welche Besonderheiten sich die Vermittlung von Wissen zwischen den beiden Bereichen auszeichnet. Die Grundlage für die Untersuchungen bildet ein Korpus aus popularisierenden Zeitschriftenartikeln. Anhand dieses Materials werden jene Techniken ermittelt und dargestellt, die im komplexen Prozess der Wissensvermittlung eingesetzt werden, um hochkomplexe Inhalte zu optimieren und verständlich zu machen. Die konkreten Analysen beziehen sich in erster Linie auf die Verwendung von verbalen Techniken, wobei ein Überblick über das Instrumentarium auf der kognitiven Ebene sowie auf dem Gebiet der visuellen Gestaltung ebenfalls angeboten wird. 1 Einleitung Das Thema Wi s s e n bzw. die V e r mittl u n g von Wissen wurde im Kontext von unterschiedlichen Disziplinen bereits in manchen Foren, wie Zeitschriften oder Tagungen, zum Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses erhoben. Hierzu gehören neben der Linguistik u.a. die Psychologie, die Didaktik, aber auch die Wirtschaftswissenschaft und die Informatik. Jetzt, wo Stichwörter wie wi s s e n s b a s i e rt e G e s e ll s c h a ft und Wi s s e n s ö k o n o mi e die Entwicklung der nächsten Jahrzehnte bestimmen, ist es sogar erforderlich, diesen breiten Bereich umfassend zu erforschen und daraus in der Praxis anwendbare Kenntnisse zu generieren. Dies führte u.a. zur Entwicklung eines interdisziplinären Forschungsumfeldes, das sich schließlich als die sog. T r a n s f e r wi s s e n s c h a ft etablierte. Diese, in erster Linie im Umfeld der Geistes- und Sozialwissenschaften agierende Disziplin versucht, die theoretischen Grundlagen und Bedingungen zu erforschen, die zur erfolgreichen Vermittlung von Wissen u.a. im Bereich der Experten-Laien-Kommunikation erforderlich sind (Antos 2001). <?page no="236"?> Attila Mészáros 226 Die vorliegende Abhandlung folgt dem Ziel, vor dem theoretischen Hintergrund der Transferwissenschaften die interkulturellen Aspekte der fachexternen Kommunikation zu behandeln und diese durch empirische Belege zu exemplifizieren. Das Forschungsinteresse gilt dabei der Frage, inwieweit die Welt der Experten bzw. die der Laien als eigenständige Kulturen betrachtet werden können und über welche Besonderheiten die Vermittlung von Wissen in Form von Texten sich auszeichnet. Im Mittelpunkt steht dabei der fachexterne Wissenstransfer im Computerfachbereich. Es handelt sich dabei um den Fachbereich, der hinsichtlich der Wissensproduktion und -vermittlung über manche Spezifika sich auszeichnet. Erstens, da sich der Computer und die computerbasierten Technologien seit Langem als festes Mitglied des Alltags etabliert haben, ist es kaum mehr möglich, das eigentliche C o mp ut e rf a c h eindeutig zu bestimmen bzw. von anderen verwandten Bereichen abzugrenzen. Daraus resultiert zweitens die Frage, ob eine Trennung - auf das Computerfach bezogen - zwischen dem Laien und dem Experten überhaupt noch möglich ist. Gerade auf diesem Gebiet findet man nämlich in großer Anzahl solche Leute, die ohne formale Bildung ein hohes Maß an Expertentum erreicht haben und zwar durch die bloße (und vertiefte) Beschäftigung mit der Computertechnologie. Drittens, der Computerfachbereich zeichnet sich durch eine überdurchschnittliche Entwicklung und folglich durch eine exponentielle Zunahme von Wissen aus. Es ist hier ein besonders hoher A b s tr a kti o n s g r a d charakteristisch, was selbst von einem Computer-Experten mit formaler Bildung eine ausgezeichnete Kenntnis des eigenen Faches und hervorragende Kompetenzen auf dem Gebiet der Textverständlichkeit verlangt. Die Vermittlung von solch komplexen Sachverhalten, auch nur in popularisierenden Texten bedarf daher zumindest der Einbindung eines didaktisch und fachlich gut vorbereiteten Mediators, des J o ur n a li s t e n . Es ist dessen Aufgabe, Informationen aus und über dieses umfassende und hochkomplexe Fachgebiet in einer Form aufzubereiten, die auch für absolute Laien verständlich sind. Es ist das Vorhaben dieser Abhandlung, durch die empirische Analyse von Artikeln aus popularisierenden Zeitschriften einen Überblick über diese Vermittlertätigkeit zu geben. Anhand von diesen Texten werden diejenigen spezifischen Transfertechniken dargestellt, die zur Übermittlung und zum Verständnis vom Wissen zwischen den beiden Kulturen eingesetzt werden und dabei helfen können, die Experten-Laien-Kommunikation als interkulturellen Prozess zu betrachten. <?page no="237"?> Wissen interkulturell vermitteln 227 2 Zum Kulturbegriff Der Begriff der K ultur kann trotz mancher Diskussionen (Földes 2003: 9 ff.) weiterhin als vage und unscharf betrachtet werden. Den Kulturbegriff zu definieren wäre auch kaum möglich, vielmehr sollte man dabei dem aktuellen Forschungsinteresse, der konkreten Situation bzw. der Sprachgemeinschaft entsprechend eine anwendbare Definition entwickeln. Eine gute Übersicht, in welchen Verwendungskontexten der Begriff typischerweise vorkommt, bietet u.a. Beer (2003). Grundsätzlich kann man jedoch davon ausgehen, dass „Kultur“ kein statisches Phänomen ist. Es soll sich dabei mehr um einen Prozess handeln, in dem die Elemente der Umwelt mit Hilfe von kulturellen Praktiken in eine, mit Hilfe von Symbolen vermittelte Wirklichkeit transferiert werden (Gehlen 1993). Die Kultur dient daher als eine Art O ri e nti e r u n g s s y s t e m , wobei es gerade die Sprache ist, die bei der Überführung der unbekannten Entitäten der Umwelt als konstituierendes Element auftritt (Földes 2003: 9). Von den hier dargestellten Überlegungen ausgehend ist anzunehmen, dass so, wie die jeweilige Sprache für die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft die Welt auf einem gemeinsamen Konzept basierend doch individuell vermittelt, so können auch die Praktiken und Symbole unterschiedlich sein, die die jeweilige Kultur ausmachen. Aus diesem Grund muss man eher über K ultur e n als über die Kultur reden, was zugleich Basis für die Vielfältigkeit der Welt ist. 3 Expertentum und Laientum als Kulturen Bei dem Versuch, die Welt der Experten bzw. die der Laien als „Experten-“ bzw. als „Laienkultur“ zu bestimmen sind zuerst jene Kriterien zu erschließen, nach denen die beiden Begriffe erörtert werden können. Umgangssprachlich wird die Unterscheidung zwischen dem Experten und dem Laien auf die Bildung und auf den davon ausgehenden unterschiedlichen Sprachgebrauch zurückgeführt. Das heißt, als Experte wird bis heute diejenige Person betrachtet, die in einem Fachbereich über eine bestimmte Bildung verfügt und seine Kenntnisse bei der Verwendung des fachspezifischen Vokabulars vermittelt. Für die hier skizzierte Problematik bedeutet das, dass bei der Bestimmung von Experten- und Laienkultur die Bildung und der Sprachgebrauch als Ausgangspunkt dienen könnten. Dieser Auffassung liegt auch die Bedeutung des Wortes Laie zugrunde: Ursprünglich wurde als laikós eine zum Volk gehörige, später im Kirchenlateinischen dezidiert eine nicht geistliche, d.h. ni c ht g e bil d e t e Person bezeichnet. Das Vorhandensein einer entsprechenden und verifizierten Bildung ist bis heute das entscheidende Merkmal bei der Betrachtung der Profes- <?page no="238"?> Attila Mészáros 228 sionalität und zwar insbesondere in den westlichen Kulturen (Hitzler 1994: 13ff.). Dieses Kriterium bedingt zugleich die Existenz von weiteren Eigenschaften, die zu den Attributen eines Experten zugehören. Hierzu zählt grundsätzlich die Kenntnis der Fachsprache jenes Fachgebietes, auf dem die betreffende Person sich als Fachmann auszeichnet. Diese Behauptung führt weiter zu der Annahme, dass der Begriff „Experte“ lediglich relativistisch geltend gemacht werden kann, d.h. in Beziehung auf das konkrete Fachgebiet, in dem der Experte eine Ausbildung erworben hat. Neben der Kenntnis des Fachvokabulars sind es jedoch vor allem die Aneignung jener Standards, die zur Orientierung und zum Handeln in der Welt der Experten erforderlich sind. Das sind einerseits kulturell festgelegte Ziele, d.h. die gemeinsamen Absichten und Interessen aller Mitglieder der Gruppe. Auf der anderen Seite zählen institutionalisierte Verfahren, u.a. Empfehlungen und sogar vorgeschriebene Wege, die zum Erreichen der kulturell festgelegten Ziele erforderlich sind, hinzu (Merton 1974: 286f.). Praktisch heißt es, Mitglieder einer Expertengruppe folgen dem gemeinsamen Ziel, ihre Fachkenntnisse auf dem jeweiligen Fachgebiet zum Nutzen der Gesellschaft bestmöglich einzusetzen und dadurch neues Wissen zu schaffen. Um dieser Zielsetzung gerecht zu werden ist die Aneignung der Normen und Standards, d.h. einer entsprechenden Bildung unentbehrlich. 4 Expertentum als Kultur Aufgrund der in Kapitel 3 beschriebenen Zusammenhänge wird hier die These vertreten, dass Expertentum als Kultur betrachtet werden kann. Es handelt sich dabei um ein Orientierungssystem im Sinne von Thomas (2005), das das Denken, Wahrnehmen und Handeln der Mitglieder dieser - anhand von fachlichen Merkmalen - abgrenzbaren Gruppe grundsätzlich beeinflusst. Die Mitglieder der Gruppe, d.h. die Experten sind zugleich im Besitz jener sprachlichen, sozialen und historischen Wissensbestände, Verhaltensweisen, Traditionen und Praktiken, die zum Handeln und Schaffen auf dem jeweiligen Fachgebiet erforderlich sind und die diese Gruppe von anderen ähnlichen Organisationen deutlich abgrenzen. Diese sog. „Kulturstandards“ (Thomas u.a. 2005: 19-59) können dabei nur durch Lernen erworben werden, d.h. im Laufe des Prozesses, der eine Person u.a. nachweislich zum Mitglied des Expertentums macht. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Lernprozesses ist der Erwerb des sog. k ultur e ll e n C o d e s . Eco betrachtet diesen als Regel (Eco 1985: 275), die dazu dient, die ursprünglich unbegrenzte Zahl von Verhaltensweisen künstlich für den konkreten sozio-kulturellen Kontext zu reduzieren. Im Kontext der vorliegenden Abhandlung wird Sprache als einer der sozio-kulturellen Codes der <?page no="239"?> Wissen interkulturell vermitteln 229 Expertenkultur betrachtet. Im Sinne von de Saussure (Jäggi 2005: 67ff.) als Code dritter Ordnung liefert die Sprache eine semantische Tiefenstruktur, die grundlegend bestimmt, wie die Wirklichkeit von einem Experten bzw. von einem Laien perzipiert wird. Wenn also der Fachmann statt über Rechner, über PC oder Mac redet, möchte er nicht unbedingt seine fachliche Exzellenz und vermeintliche Überlegenheit gegenüber einem Laien zum Ausdruck bringen. Ganz im Gegenteil; in der bewussten Wortwahl findet die Kenntnis des Codes ihren Niederschlag. Es werden dabei die entsprechenden kognitiven Register aktiviert, da z.B. im Falle einer Problemlösung bei den einzelnen Typen von Rechnern unterschiedliche Lösungswege und daher unterschiedliche Wissensbestände erforderlich sind. 5 Fachexterne Vermittlung von Wissen als interkultureller Wissenstransfer Der Wissenstransfer wird hier als Ko m m u nik a ti o n s pr o z e s s verstanden, der auf die Vermittlung von Informationen ausgerichtet ist, mit dem Ziel, Probleme zu lösen, das eigene Wissen über das jeweilige Fachgebiet zu erweitern u.ä. Generell kann daher jeder Kommunikationsakt als Wissensvermittlung in einem mikrosozialen System betrachtet werden. Sie ist also nichts anderes, als eine optimierte Kommunikation (Strohner/ Brose 2006), d.h. das V e r s t ä n d li c h m a c h e n des schwer Verständlichen. Im Weiteren wird hier der Begriff „Wissenstransfer“ ausschließlich im Kontext der Fachkommunikation verwendet, auf die generellen Aspekte des Prozesses wird daher nicht weiter eingegangen. Wissen kann sowohl fachintern als auch fachextern kommuniziert werden. Im ersten Falle handelt es sich um die Verständigung zwischen Akteuren desselben Fachbereiches. Fachexterner Wissenstransfer erfolgt hingegen zwischen zwei (oder mehreren) Partnern mit unterschiedlichem Wissensniveau und ist auf die Übermittlung von Fachwissen in einer optimierten Form ausgerichtet. Sein grundlegendes Instrument ist die Sprache. Der erfolgreiche Transfer bedarf daher a) der Kenntnis des entsprechenden sozio-kulturellen Codes und b) der Verwendung jener Techniken und Strategien, die im Rahmen der Aneignung von Kulturstandards erworben wurden, um komplexes Fachwissen zwischen Expertenkultur und Laienkultur in einer fachlich und sprachlich optimierten Form zu kommunizieren. Obwohl die neuen Medien, insbesondere die webbasierten Technologien ein breites Spektrum an Transfermöglichkeiten bieten, kann angenommen werden, dass der Wissenstransfer noch immer mehrheitlich in Texten stattfin- <?page no="240"?> Attila Mészáros 230 det. Texte in Druckmedien stellen für das Zielpublikum - insbesondere für die ältere Generation - ein bewährtes Medium dar, mit dem in der Regel Zuverlässigkeit und verifizierte Informationen verbunden wird. Das gilt auch im Falle des Computerfachbereiches, der trotz seiner führenden Rolle in der Digitalisierung weiterhin auch in Offline-Medien, u.a. in populärwissenschaftlichen Zeitschriften thematisiert wird. Ein interkultureller Wissenstransfer, der hier auf Basis von Zeitschriftenartikeln erforscht wird, kann demnach entweder als T e xtv e r s t ä n d li c h k e it s m a xi mi e r u n g oder als T e xto pti mi e r u n g durchgeführt werden (Groeben/ Christmann 1989: 174ff.). Als Maximierung der Textverständlichkeit wird dabei jenes Verfahren angesehen, bei dem der Text vollständig an die Erwartungen des Adressaten angepasst wird. Die auf diese Weise erstellten Texte bzw. das so vermittelte Wissen treffen bei dem Adressaten mit großer Wahrscheinlichkeit auf hohe Akzeptanz, auf der anderen Seite geht hier jedoch eben die explorative - das Lernen unterstützende - Komponente verloren. Didaktisch gesehen wirkt daher dieses Verfahren eher destruktiv, da der Text dadurch seinen kognitiven Anreiz verliert und vom Leser gar keine Motivation oder Kreativität beim Erschließen der darin kodierten Informationen verlangt. Es ist daher angebracht, auf eine Textverständlichkeitsmaximierung zu verzichten und stattdessen eine mehrstufige Optimierung anzustreben (vgl. hierzu Christmann/ Groeben (2002), Ballod (2006) und Ballod (2007)). Diese bezieht sich in erster Linie (a) auf sprachliche Einfachheit und semantische Kürze, (b) auf die kognitive Gliederung sowie (c) auf motivationale Stimulanz. Die Textoptimierung soll daher in erster Linie „jene Textverständlichkeit als Optimum anstreben, die möglichst vielen Rezipienten (der jeweiligen Adressatengruppe(n) Anregungsbedingungen für erreichbare Entwicklungen der Verarbeitungskompetenz (auf den explizierten Dimensionen) bieten kann“ (Groeben/ Christmann 1989: 176). Als Ausgangsbasis können dabei Kriterien, als eine Art M a xi m e n des Wissenstransfers dienen, die im Laufe des ganzen Transferprozesses berücksichtigt und angestrebt werden sollten. 6 Texte als externe Wissensformen Als primärer Ort, an dem Wissen gespeichert und verarbeitet wird, versteht sich das menschliche Gedächtnis. Im Laufe der Zeit wurden von den Menschen immer wieder neue Formen geschaffen, die neben der Speicherung auch die Übermittlung von strukturierten Wissensbeständen ermöglichen. Hierzu zählen sowohl verbale als auch nonverbale Darstellungsformen, in erster Linie Texte und verschiedene Visualisierungen (Ballstaedt 1997: 5ff.). Mündliche <?page no="241"?> Wissen interkulturell vermitteln 231 sowie schriftliche Texte sind Veräußerlichungen von konzeptuellem Wissen von Individuen, während die Instrumente der Visualisierung wie etwa Abbilder, Piktogramme oder Charts vor allem der Darstellung von visuellem Wissen sowie zur Veranschaulichung von Zusammenhängen und Relationen zwischen verschiedenen Größen dienen. Im Falle des u.a. in Texten durchgeführten fachexternen Wissenstransfers handelt es sich um eine asymmetrische Kommunikation. Es stehen dabei der Textproduzent und -rezipient einander gegenüber, wobei der Textproduzent - der Experte - durch sein Wissen dem Leser - dem Laien - übergeordnet ist. Der Transferprozess selbst erfolgt jeweils in einem Kontext und zwar als Wechselwirkung von mehreren Variablen wie (a) Textvariablen (Medium, Sender), (b) Kontextvariablen (Textfunktion, Rezeption) sowie (c) Leservariablen (Adressat) (Meutsch 1992: 17). Der Erfolg der Vermittlung hängt entscheidend vom Zusammenspiel dieser Faktoren ab, wobei eine besondere Bedeutung der angemessenen Verwendung des kulturellen Codes S pr a c h e zukommt. Das ist zugleich der Schwachpunkt des fachexternen Wissenstransfers: Auch wenn der Fachmann ein exzellenter Experte seines Faches ist und über herausragende Kenntnisse auf dem jeweiligen Fachgebiet verfügt, oftmals fehlt es diesen Akteuren an sprachlicher Kompetenz, dieses Wissen in optimaler Form außerhalb des Faches, d.h. interkulturell zu vermitteln. 7 Der Journalist als Vermittler zwischen den Kulturen Der Prozess bedarf daher evtl. weiterer Akteure, sog. Mediatoren, die über eine entsprechende fachliche und sprachliche Kompetenz verfügen, um dieser wichtigen Aufgabe gerecht zu werden. In dem hier behandelten Fall sind es in erster Linie die Journalisten, die diese Rolle als Vermittler zwischen den beiden Kulturen ausüben. Sie treten dabei meistens als Quasi-Experten (oder auch: informierte Laien, vgl. hierzu Wichter 1994: 42) auf, da sie auf dem jeweiligen Fachgebiet oft über keine oder nur über eine begrenzte Bildung verfügen. Die Journalisten benutzen das Medium Text als Instrument der Wissensvermittlung und müssen dabei die Möglichkeiten des Mediums bzw. der jeweiligen Zeitschrift oder Zeitung so gut wie möglich ausnutzen. Dies verlangt von ihnen u.a. eine umfassende Analyse ihrer Zielgruppe, die neben den Aspekten Bildung und Vorkenntnisse nicht nur die Erwartungen und Gewohnheiten, sondern auch einige persönlichen Eigenschaften der Leser umfasst. Sie greifen dabei auf die Erkenntnisse mehrerer Disziplinen zurück, vor allem auf die der Didaktik sowie der kognitiven Psychologie. <?page no="242"?> Attila Mészáros 232 Sehr umfassende Kenntnisse sind jedoch in Bezug auf die beiden Kulturen als Orientierungssysteme gefragt. Das heißt, der Journalist soll in der Lage sein, durch die Kenntnis der Kulturstandards der Expertenkultur relevantes Wissen zu erkennen und hochkomplexe (evtl. theoretische) Informationen in eine praktisch anwendbare und leicht verständliche Form umzuwandeln, d.h. die Informationsdichte zu reduzieren. Er muss u.a. mit den Besonderheiten der einzelnen Textsorten vertraut sein, die beim Transfer eingesetzt werden. Auf der anderen Seite muss er sich in die Rolle des Lesers - des Laien - einleben und aus dieser Perspektive die in Form von popularisierenden Texten vermittelten Wissensbestände überprüfen und bei Bedarf eine weitere Optimierung durchführen. 8 Methodisches Vorgehen bei den Textanalysen In Anlehnung an die von Möhn und Pelka aufgestellte Systematik (Möhn/ Pelka 1984: 45-70) aufgrund der sprachlichen Grundfunktion lassen sich (a) informative, (b) instruktive und (c) direktive Textsorten unterscheiden. In den hier untersuchten Medien kommen grundsätzlich Texte vor, die sich durch die Grundfunktionen Inf o r mi e r e n und In s tr ui e r e n auszeichnen. Hierzu zählen insbesondere informationsbetonte Textsorten wie B e ri c ht , M e l d u n g , R e z e n s i o n und p o p ul ä r wi s s e n s c h a ftli c h e r Ar tik e l sowie instruierende Textsorten, vor allem verschiedene Varianten von R a t g e b e rt e xt e n . Diese Textsorten zeichnen sich als solche aus, die in Hinsicht auf die fachexterne Wissensvermittlung in Computerfachzeitschriften die größte Relevanz haben. Texte mit direktiver Funktion, z.B. Normen und Gesetzestexte kommen hingegen nur marginal vor, wobei anzuerkennen ist, dass die mit der PC-Benutzung verbundenen Tätigkeiten immer mehrere rechtliche Aspekte aufweisen. Das Material für die Untersuchung des interkulturellen Wissenstransfers in den oben genannten Textsorten wurde neun Quellen entnommen. Es handelt sich dabei um die Zeitschriften „CHIP“, „PC Magazin“, „PC Welt“, „Computer“, „PC Revue“ und „EasyLinux“. Als Besonderheit dieser Medienprodukte gilt, dass sie in mehreren Sprachen verfügbar sind, so dass z.B. „CHIP“ oder „PC Welt“ sowohl auf Deutsch als auch auf Ungarisch und Tschechisch erscheint. Da aus diesem Grund manche Artikel gleichzeitig in diesen Sprachen veröffentlicht werden, bietet sich die Möglichkeit, auch interlinguale Aspekte beim Wissenstransfer zu erforschen. In dem vorliegenden Beitrag wird jedoch auf diese Problematik nicht ausführlich eingegangen. Die untersuchten Zeitschriftenartikel stammen aus den Jahren 2004, 2005 und 2006. Der erwähnte Zeitraum wurde aus forschungspraktischen Gründen <?page no="243"?> Wissen interkulturell vermitteln 233 gewählt: Es handelt sich noch um eine Zeit, als das Internet bzw. die Onlinebasierten Praktiken noch nicht allgegenwärtig gewesen sind. Auf der anderen Seite waren noch genügend Offline-Quellen (auch in digitaler Form) verfügbar, um aussagekräftige Ergebnisse zu präsentieren. Außerdem ermöglicht dieser längere Zeitabschnitt, eventuelle Änderungen in den einzelnen Vermittlungstechniken zu ermitteln. Das Untersuchungskorpus besteht aus 222 Zeitschriftenartikeln, wobei mit ca. 40 % informationsbetonte, vor allem theoretisches Wissen vermittelnde Texte und mit ca. 60 % praxisorientierte Texte (z.B. Ratgeber, Anleitungen) vertreten sind. Es ist dabei zu erwähnen, dass die Abgrenzung der einzelnen Texte mehrmals auf Hindernisse stieß. Das grundlegende Kriterium der Abgrenzung war deren Spartenzugehörigkeit, da jede Zeitschriftensparte in der Regel über typische Textsorten verfügt (z.B. Hardware- und Software-Sparten: Produktbeschreibungen und Testberichte). Es kommen jedoch dabei vermehrt Tutorials oder Berichte auch in Test-orientierten Sparten vor, es schien daher ratsam, auch die dominierende Textfunktion als Unterscheidungskriterium zu berücksichtigen. Die Texte wurden in elektronischer Form aufbereitet, um den Aufbau des Korpus und die Analysen zu erleichtern. Da hier weniger numerische Angaben und statistische Angaben als die Qualität von Vermittlungstechniken im Vordergrund stehen, wurden die einzelnen Untersuchungen am Sprachmaterial manuell durchgeführt. Es wurde hierbei vom sog. korpusbasierten Ansatz ausgegangen. D.h., es sollte am konkreten Korpus ermittelt werden, wie die im Voraus aufgestellten theoretischen Verfahren praktisch realisiert werden. Die einzelnen Analysen waren auf folgende Aspekte der Wissensvermittlung gerichtet: ‒ Gestaltung der äußeren Textform ‒ Sprachliche und visuelle Gestaltung ‒ Kognitive Gliederung Die hier aufgeführten drei Dimensionen bedingen sich gegenseitig. Um einen erfolgreichen Wissenstransfer zu gewährleisten reicht es also nicht, lediglich auf der sprachlichen Ebene Anpassungen durchzuführen. Dem Layout und der optimalen Strukturierung des Textes sowie dem durchdachten Einsatz von visuellen Mitteln kommt ebenfalls eine große Rolle zu. Im Weiteren wird hier nur auf die Aspekte der sprachlichen Gestaltung eingegangen, da die Vermittlung zwischen der Experten- und Laienkultur gerade hier am besten zum Ausdruck kommt. <?page no="244"?> Attila Mészáros 234 9 Interkulturelle Transfertechniken auf der sprachlichen Ebene Auf der Ebene der sprachlichen Gestaltung sind in erster Linie jene Verfahren zu ermitteln, die im Bereich der Grammatik, Lexik und Stilistik eine Kommunikationsoptimierung erzielen (Serra-Borneto 1986: 359ff.). Zu unterscheiden ist dabei zwischen T r a n s f e rt e c h nik e n und T r a n s f e r m e th o d e n . Unter Transfermethode werden hier jene Strategien verstanden, die global auf den Text wirken und den Einsatz der konkreten Transfertechniken bestimmen können. So eine Transfermethode ist etwa die Reduktion der Informationsfülle. Die Transfertechniken werden hingegen auf Meso- und Mikroebene eingesetzt. Die während der Analyse des Untersuchungskorpus ermittelten Techniken beziehen sich in erster Linie (a) auf den Umgang mit Fachwörtern, (b) auf die Verwendung von Analogien und (c) auf den bewussten Einsatz der Bildhaftigkeit. 9.1 Umgang mit Fachwörtern Die eindeutige Terminologie, die Verwendung von Fachwörtern und Fremdwörtern ist eines der Markenzeichen von Expertentum und zeichnet sich somit als ein Kulturstandard dieser Kultur aus. Sie bilden zugleich die scharfe Grenze zum Laientum, da es vor allem die Fachsprache bzw. der Fachwortschatz ist, an deren (Un-)Kenntnis die fachexterne Kommunikation häufig scheitert. Texte zu optimieren heißt also auch Fremd- und Fachwörter zu vermeiden, wobei diese zum exakten Ausdruck des zu beschreibenden Sachverhaltes dennoch notwendig sind. Die Lösung dieses Problems bedarf der Verwendung von e r kl ä r e n d e n T e c h nik e n , d.h. von ‒ wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Definitionen (Bsp. 1), ‒ Kurzerläuterungen oder ‒ Erläuterungen durch entfaltende Definitionen. Beispiel 1: Exif steht für Exchangeable Image File und bezeichnet einen Standard zum Speichern von Aufnahmeinformationen bei Bilddateien. (PC Welt, 2005/ 3) Beispiel 2: Auch das größte Problem von UMTS löst HSUPA: die Round Trip Time (RTT), also die Zeit, die der Client benötigt, um eine Antwort vom Server zu bekommen. (CHIP, 2006/ 11) <?page no="245"?> Wissen interkulturell vermitteln 235 Beispiel 3: XML ist ein offener Standard, der vom World Wide Web Consortium (W3C) verwaltet wird. Dabei basiert XML auf der Auszeichnungssprache SGML (Standardized Generalized Markup Language). SGML wurde 1986 als internationaler Standard nach ISO 8879 anerkannt. Weil SGML aber komplex und schwer zu handhaben ist, bauen Firmen und Behörden heute auf XML. XML trennt die Daten eindeutig von jeder Formatierung und besteht aus reinem Text. Die Daten werden dadurch unabhängig von Betriebssystemen und Programmen und damit auch für die Zukunft lesbar und auswertbar. Da XML-Dateien reine Textdateien sind, kann man sie mit jedem Texteditor lesen. Mit XML-fähigen Browsern wie dem Internet Explorer 6 können Sie XML- Dateien direkt sichtbar machen. Auch die aktuellen Versionen von Microsoft Office, StarOffice und OpenOffice.org erlauben das Arbeiten mit XML-Dateien. (PC Magazin, 2005/ 11) Oft bleiben informatische Fachbegriffe ohne Erklärung, vor allem dann, wenn diese in der Alltagssprache oder zumindest in der fachlichen Umgangssprache bereits eingebürgert sind. In solchen Fällen kann vom Vermittler - dem Journalisten - nämlich angenommen werden, dass deren Bedeutung allgemein bekannt ist. Populärwissenschaftliche Texte werden jedoch häufig mit Mini- Glossaren ergänzt, die sowohl erfahrene Benutzer als auch Leser ohne Vorwissen beim Textverständnis unterstützen. 9.2Analogien Eine besondere Rolle kommt beim interkulturellen Wissenstransfer auf der sprachlichen Ebene der A n a l o g i e zu. Der Computerfachbereich zeichnet sich zwar als besonders innovatives Gebiet aus, manche neuen Produkte und Technologien sind jedoch weiterentwickelte Varianten von älteren Versionen. Für den Prozess der Wissensvermittlung heißt das, wenn bei der Zielgruppe ein Vorwissen - das sich auf die Vorgängerversion bezieht - bereits vorhanden ist, kann man beim Präsentieren von neuem Wissen darauf bauen. Bei der Erklärung des Neuen kann an die vorhandenen Wissensbestände angeknüpft werden, etwa in Anleitungen zum Umgang mit Software oder Hardware. 9.3Metaphorik Beim fachexternen Wissenstransfer soll der Akzent auf V e r s t ä n d li c h k e it und A n s c h a uli c h k e it gesetzt werden. Mit Anschaulichkeit sind hier jedoch <?page no="246"?> Attila Mészáros 236 nicht nur Instrumente der Visualisierung gemeint, sondern vielmehr solche Sprachbilder (Metaphern, Analogien und Wortspiele), die durch das Anknüpfen von neuen Informationen an das bereits Bekannte bei der Reduktion der Informationsdichte und beim Verständlichmachen von komplexen Sachverhalten eine grundlegende Rolle spielen. Diese Mittel als Vorstellungshilfen „bringen die Grundgedanken des Textes und seine Schlüsselwörter in eine syntaktisch schlichte und lexikalisch eher am Alltag als an der Wissenschaft orientierte Darstellung“ (Dormeier 2006: 387). Als besonders kreative und nützliche Elemente zeigen sich dabei die Metaphern. Spätestens seit der durch Lakoff und Johnson initiierten kognitiven Wende in der Metapherforschung (vgl. hierzu Lakoff/ Johnson 2007) wird dieses sprachliche Phänomen als grundlegendes und allgegenwärtiges Mittel der menschlichen Erkenntnis betrachtet. Gerade die starke Kontextabhängigkeit der Metaphern war lange Zeit Grund für ein sog. M e t a p h e r nt a b u in den mit eindeutigen und festen Termini operierenden Fachsprachen (Roelcke 2005: 67). Jüngere Untersuchungen haben jedoch gezeigt, dass die Metaphern bei der Interiorisierung und Exteriorisierung von Fachwissen als besonders nützliche Mittel eingesetzt werden. So gilt es auch im Falle des fachexternen Wissenstransfers im Computerfachbereich, dass sie ‒ den hohen Abstraktionsgrad dieses oft sehr theoretisch ausgerichteten Faches kompensieren können und ‒ durch die Projektion des Bekannten auf das Unbekannte neues Wissen generieren können und somit die Wissensexplosion in den letzten Jahren gut bewältigen können (Busch/ Wichter 2000: 27). Die Computerfachsprache zeichnet sich durch eine besonders reiche Metaphorik aus und dementsprechend ist diese bereits gut erforscht (siehe hierzu u.a. Busch/ Wichter 2000, Bründl 2001, Jäkel 2003, Busch 2004). Die Untersuchungen des Textkorpus zu dieser Abhandlung bestätigen auch die bevorzugte Verwendung von anthropomorphischen Metaphern. Diese weisen darauf hin, dass der Mensch dazu tendiert, die von ihm künstlich geschaffene Welt - in diesem Falle die hochkomplexe Welt der Computer - nach dem eigenen Bilde zu gestalten bzw. aufzufassen. Eine wichtige Rolle spielen dabei die mentalen Modelle, die als vereinfachte Abbilder der Wirklichkeit eine Grundlage für die Wissensvermittlung zwischen den beiden Kulturen bilden können. Da die Experten - dank der Komplexität des jeweiligen Fachbereiches - über wesentlich stärker ausgeprägte mentale Modelle verfügen, müssen die ursprünglich nur schwer verständlichen Inhalte etwa mit Hilfe der Metaphorik weiter reduziert, d.h. für die Laien mit einfacheren mentalen Modellen optimiert werden. Hinsichtlich der Verteilung in den einzelnen untersuchten Textsorten weisen die Metaphern keine signifikanten Unterschiede auf. Begriffe wie Maus, <?page no="247"?> Wissen interkulturell vermitteln 237 Trojaner, Virus oder Lesezeichen kommen in den einzelnen Texten in Abhängigkeit von dem jeweiligen Thema vor. Es ist jedoch hervorzuheben, dass sie sich als stark sprach- und kulturabhängige Phänomene gerade in dem interkulturellen Transfer als besonders gut geeignete Mittel bewiesen haben. Einen weiteren interessanten Aspekt stellt dabei deren Untersuchung im int e rli n g u a l e n Kontext dar. Das bezieht sich insbesondere auf jene Artikel, die in den Zeitschriften mit mehreren sprachlichen Mutationen in die jeweilige Zielsprache übersetzt vorkommen. Da diese Problematik nicht der primäre Gegenstand der vorliegenden Abhandlung ist, kann hier nur über erste Beobachtungen berichtet werden. Anhand der untersuchten Artikel konnte festgestellt werden, dass die Präferenzregeln der jeweiligen Zielsprache eingehalten worden sind, um die grammatisch korrekte sprachliche Gestaltung und authentische Wirkung beim Leser zu gewährleisten. Diese Unterschiede zeigen sich vor allem bei den Bezeichnungen für solche Abstrakta wie das Zeichen @, etwa Klammeraffe im Deutschen, kukac (dt.: ‚Wurm‘) im Ungarischen und zavináč (dt.: ‚Rollmops‘) im Tschechischen und Slowakischen. Generell lässt sich jedoch behaupten, dass die Computerwelt in allen vier Sprachen grundsätzlich in anthropomorphischen Konzepten aufgefasst wird. Der konkrete Gebrauch des fachsprachlichen Wortschatzes, u.a. in Hinsicht auf die Anwendung von Fremdwörtern (vor allem von Anglizismen) wird wiederum durch die jeweiligen Korrespondenz- und Präferenzregeln bestimmt. Im Deutschen und im Ungarischen werden solche Ausdrücke ohne Weiteres als integraler Bestandteil der Sprache benutzt, während z.B. in tschechischen Texten Begriffe englischer Herkunft an manchen Stellen noch in Anführungszeichen aufgeführt sind, um auch dadurch deren Fremdheit hervorzuheben. 9.4 Interlinguale Aspekte Die Untersuchung hat auch versucht die Frage zu beantworten, inwieweit die jeweilige Sprache die fachexterne Wissensvermittlung beeinflusst. Da zwei der erforschten Quellen, die Zeitschriften CHIP und PC Welt sowohl auf Deutsch als auch in ungarischer und in tschechischer Sprache erscheinen, boten sich die einzelnen Artikeln an, auf diese Problematik näher einzugehen. Verglichen wurden deutschsprachige Quelltexte mit deren ungarischen und tschechischen Übersetzungen (insgesamt 38 Texte). Als Ausgangsbasis dienten hier die im Rahmen des T e c h ni c a l W riti n g beschriebenen Verfahren, wo die Anpassung der einschlägigen Aspekte als L o k a li s i e r u n g bezeichnet wird. Diese verläuft grundsätzlich auf mindestens zwei Ebenen und bezieht sich auf die Anpassung der (a) verbalen und der (b) <?page no="248"?> Attila Mészáros 238 nonverbalen Mittel. Bei (a) handelt sich in erster Linie um die Fachwörter, Metaphern und Wortspiele. Letztere wurden im Abs. 9.3 bereits behandelt; hinsichtlich der sprachspezifischen Verwendung von Termini wurden in den einzelnen Sprachen keine signifikanten Unterschiede ermittelt. In beiden Zielsprachen wurden die jeweiligen Korrespondenz- und Präferenzregeln angewendet, besondere Beachtung sollte dabei den Anglizismen gewidmet werden. Anhand eines Korpus von 50 ausgewählten und im Deutschen bereits etablierten englischen Fachbegriffen konnte dabei ermittelt werden, dass etwa die Hälfte davon sowohl im Ungarischen als auch im Tschechischen in Form von wörtlichen Übersetzungen präsent ist (dt.: Homepage; ung.: honlap; tsch.: domovská stránka). Ca. 20 % zeichnen sich in beiden Zielsprachen als Hybridkomposita aus (dt.: Website; ung.: weboldal; tsch.: webová stránka) und 30 % als eigene Schöpfungen (dt.: Backup; ung.: biztonsági másolat; tsch.: záloha). Auffallend ist jedoch die abweichende Schreibweise der Elemente fremder Herkunft. Im Ungarischen werden diese ohne besondere Markierung eingesetzt, im Tschechischen kommen sie hingegen vermehrt in Anführungszeichen vor. Insbesondere im Ungarischen ist man Zeuge einer übertriebenen Sehnsucht nach Authentizität, was jedoch zugleich ein Verlust an Fachlichkeit und somit evtl. auch eine misslungene Wissensvermittlung zur Folge hat. Beispiele dafür sind ung. rablómásolat für dt. Raubkopie (die ung. eingebürgerte Version ist kalózmásolat für dt. Piratenkopie) oder ung. szkriptkiddie für dt. Skript-Kiddie (im Ungarischen praktisch unbekannt). Ähnliche Folgen haben u.a. die Textkürzungen, wodurch evtl. auch der eigentliche Sinn des jeweiligen Textes verloren gehen kann. Generell lässt sich feststellen, dass sich die tschechischen Übersetzungen mehr an die Ausgangstexte halten (sechs Texte mit vollständiger und fünf Artikel mit teilweise semantischer und formaler Äquivalenz). Im Falle der ungarischen Zieltexte ist die Anbindung an die deutschen Originale nicht so stark, so dass hier eher die Techniken des E r s a tz e s und der P a r a p hr a s e verwendet werden (ein Text mit vollständiger und sechs Artikel mit teilweise semantischer und formaler Äquivalenz, fünf Texte mit Paraphrase). Auf der Ebene der nonverbalen Mittel geht es primär um die Anpassung von Visualisierungen (Produktfotos, Statistiken) sowie um die Lokalisierung von landesspezifischen Angaben (Währung, juristische Bezüge u.ä.). Diese zeichnen sich dabei eher als Transferverfahren sekundären Ranges aus, hinsichtlich der Wissensvermittlung zwischen Experten und Laien kommt diesen keine primäre Bedeutung zu. Die hier dargestellten Beispiele weisen jedoch darauf hin, dass die Rolle des jeweiligen Vermittlers - des Journalisten bzw. des Übersetzers - vor allem in Hinsicht auf die verbale Ebene besonders wichtig ist. Die nicht passende Wortwahl, die nicht ausreichende Kenntnis der Fachterminologie und die übertriebene Textoptimierung wirken nicht nur als stilistisch nicht <?page no="249"?> Wissen interkulturell vermitteln 239 akzeptierbar, sondern hemmen auch die Textverständlichkeit und somit den erfolgreichen Wissenstransfer zwischen den beiden Kulturen. 10 Fazit Der durchgeführten Untersuchung lag die Annahme zugrunde, dass das hochkomplexe Wissen des Computerfachbereiches in erster Linie mit verbalen Transfertechniken vermittelt wird. Die Analysen haben diese Hypothese bestätigt. Die eingesetzten Techniken beziehen sich in erster Linie auf die Erklärung von Fachausdrücken in Form von Definitionen und Worterläuterungen und zwar vor allem in der Textsorte populärwissenschaftlicher Artikel. Neues Wissen wird dabei häufig bei der Verwendung von metaphorischen Konstruktionen und von beispielhaften Schilderungen übermittelt; diese Technik kommt bevorzugt in den verschiedenen Ratgebervarianten vor. Neben den verbalen Transfertechniken kommt in den untersuchten Texten eine bedeutende Rolle der kognitiven Gliederung und der visuellen Gestaltung zu, die ebenfalls dem besseren Textverständnis und somit dem erfolgreichen Wissenstransfer dienen. Auf dem Gebiet der kognitiven Gliederung zeichnen sich vor allem die Überschriften, das sequentielle Arrangieren (insbesondere in der Textsorte Anleitung/ Tutorial) und die Hervorhebung wichtiger Informationen im Text als wichtige Mittel aus. Visuelle Darstellungsmittel werden mit Ausnahme der kurzen Meldungen in allen untersuchten Textsorten eingesetzt. Die Verwendung von konkreten Visualisierungen hängt grundsätzlich von den zu vermittelnden Inhalten ab. So werden z.B. in Ratgebertexten in erster Linie Screenshots und Fotos verwendet, während in den Textsorten Testbericht und populärwissenschaftlicher Artikel bevorzugt Tabellen, Diagramme und (Produkt-) Fotos vorkommen. Insbesondere in den Ratgebertexten kommt diesen eine große Bedeutung zu, da sie komplexe Handlungssequenzen, etwa die Installation einer Software oder die Lösung eines Problems mit Hilfe der Software leicht und übersichtlich veranschaulichen können. Demnach gelten sowohl die kognitive Gliederung als auch die visuellen Darstellungsmittel als effektive und relevante Ergänzungen von verbalen Techniken. Versucht man die typischen Textsorten der Computerfachzeitschriften hinsichtlich eines theoretischen Nutzwertes zu untersuchen, lässt sich der größte Nutzwert den am meist praxisbezogenen Texten, d.h. Ratgebertexten und Testberichten zuschreiben. Diese gelten nämlich als die primäre Schnittstelle zwischen den beiden Kulturen, d.h. zwischen Expertentum und Laientum. Sie vermitteln relevantes Wissen in optimierter Form und bieten dem Laien evtl. einen Einblick in die Welt der Experten. Mit Blick auf die Zukunft kann man <?page no="250"?> Attila Mészáros 240 jedoch annehmen, dass die rasche Entwicklung der Technologien und die damit zusammenhängenden Änderungen im Benutzerverhalten (d.h. von Konsumenten immer mehr hin zu Produzenten) auch im Bereich der popularisierenden Wissensvermittlung ihren Niederschlag finden werden, wie das u.a. in den verschiedenen Ratgeberblogs im Internet bereits erfolgt. Die Online- Umgebung und die dort realisierten Wissensvermittlungen zwischen Quasi- Experten und Quasi-Laien bieten umfangreiches Material für neuartige Untersuchungen auf diesem Gebiet und können somit zum Forschungsgegenstand von weiteren Arbeiten erhoben werden. 11 Literatur Antos, Gerd (2001): Transferwissenschaft. Chancen und Barrieren des Zugangs zu Wissen in Zeiten der Informationsflut und der Wissensexplosion. In: Wichter, Sigurd/ Antos, Gerd (Hrsg.): Wissenstransfer zwischen Experten und Laien. Umriss einer Transferwissenschaft. Frankfurt am Main u.a. 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Umriß einer Lexikologie der Vertikalität. Tübingen. (Reihe Germanistische Linguistik; 144). <?page no="253"?> Zwischen Fremdem und Eigenem: Lehnwörter im Deutschen und im Russischen Lyubov Nefedova (Moskau) Zusammenfassung Im Beitrag wird am Beispiel von Lehnwörtern im Deutschen und im Russischen, die phonologisch und graphisch ähnlich sind, gezeigt, dass der Wortschatz der Sprachen anthropo- und kulturzentrisch ist. Die meisten Lehnwörter werden in die eigene Kultur mit den Gegenständen, die sie bezeichnen, übernommen und semantisch modifiziert. Als wichtige Arten des Bedeutungswandels werden Bedeutungserweiterung, Bedeutungsverengung, Bedeutungsverschiebung und Bedeutungsübertragung sowie Bedeutungsverbesserung und Bedeutungsverschlechterung beschrieben. Anhand des entlehnten Wortschatzes in den beiden Sprachen wird betrachtet, welche Entwicklungen die entlehnten Wörter von ihren Vorbildern abweichend in den Nehmersprachen durchleben. Eine sprachvergleichende Betrachtung ermöglicht unterschiedliche Entwicklungen im Lehnwortschatz des Deutschen und des Russischen festzustellen. Besonders mithilfe neuerer Entlehnungen aus dem Englischen wird veranschaulicht, dass der Bedeutungswandel der internationalen Wörter ein lebendiger Prozess ist und oft semantische und stilistische Sonderwege einschlägt, weil die eigene Kultur dabei ausschlaggebend ist. Die mit dem entlehnten Wortschatz übernommenen fremden Kulturelemente werden in die eigene Kultur eingegliedert. Dieser Prozess spiegelt Bestrebungen der Individuen nach Stärkung ihrer eigenen kulturellen Identität wider. 1 Einleitung In der Begegnung mit dem Fremden im Wortschatz bringen die Sprachträger immer ihre eigene Kultur als Bezugssystem ein, die eine Ausgangsbasis der Betrachtung bildet. Das Fremde wird auf die eigenen Bilder, Vorstellungen und Wertschätzungen zurückgeführt. Die semantische Analyse von Lehnwörtern im Deutschen und im Russischen, die aus anderen Sprachen aufgenommen sind und zu Internationalismen gehören, kann deutlich zeigen, dass die Wortbedeutung ein ethnozentrisches Weltbild und Kulturverständnis zum Ausdruck bringt. Die meisten Lehnwörter benennen Dinge, die in die eigene Kultur als etwas Fremdes integriert werden. Deswegen unterliegen die Lehnwörter in den Nehmersprachen <?page no="254"?> Lyubov Nefedova 244 dem Prozess der kulturellen Adaptation und weisen verschiedene semantische Transformationen auf: Bedeutungserweiterung, Bedeutungsverengung, Bedeutungsverschiebung und Bedeutungsübertragung sowie Bedeutungsverbesserung und Bedeutungsverschlechterung. Ziel des Beitrags ist es, anhand von ausgewählten, formal ähnlichen Lehnwörtern im Deutschen und Russischen ihre kulturspezifischen semantischen Entwicklungen in den Nehmersprachen zu zeigen. Semantische Divergenzen des entlehnten Wortschatzes werden am Beispiel der Entlehnungen aus dem Deutschen im Russischen bzw. aus dem Russischen im Deutschen verdeutlicht. Weiter werden die Bedeutungsunterschiede der Lehnwörter aus dem Griechischen, Lateinischen und Französischen, die immer noch an der Spitze der Gebersprachen für den internationalen Wortschatz stehen, sowie der neueren Lehnwörter und -wendungen aus dem Englischen erläutert. Der Vergleich des in den letzten Jahrzehnten aus dem Englischen entlehnten Wortschatzes lässt besonders anschaulich einen divergierenden Bedeutungswandel des Lehngutes erkennen. Die Lehnwörter werden den Fremd- und Erbwörtern gegenübergestellt und aus der Sicht ihrer Kulturgebundenheit betrachtet. Solche Lehnwörter, die semantische Unterschiede in beiden Sprachen aufweisen, werden als „Falsche Freunde“ des Übersetzers oder „falsche lexikalische Parallelen“ beschrieben. Im vorliegenden Beitrag wird auch beleuchtet, dass nicht nur der Allgemeinwortschatz, sondern auch der terminologische Wortschatz oder Fachwortschatz der Nehmersprachen von semantischen Transformationen mehr oder weniger betroffen ist. Es wird außerdem gezeigt, welche Arten von Divergenzen in beiden Sprachen überwiegen und worin die Spezifik der kulturellen Adaptation von Lehnwörtern besteht. Da besonders Lehnwörter eine Quelle für Missverständnisse in der interkulturellen Kommunikation sein können, wird zum Schluss auf das Problem ihrer lexikographischen Darstellung im Wörterbuch der Falschen Freunde des Übersetzers eingegangen. 2 Das Lehnwort im lexikalischen System der Nehmersprache Den Hauptbestandteil des Wortschatzes bilden Erbwörter. Dazu haben das Deutsche und das Russische viele Wörter aus fremden Sprachen aufgenommen: das sind Fremdwörter und Lehnwörter. Unter einem Lehnwort wird ein Wort verstanden, das aus einer anderen Sprache (der Geber- oder Quellsprache) in die Nehmersprache (Zielsprache) übernommen (entlehnt) worden und den Erbwörtern angepasst ist: <?page no="255"?> Lehnwörter im Deutschen und im Russischen 245 Entlehnung, die (im Unterschied zum Fremdwort) weitgehend in das phonologische, morphologische und pragmatische System der Nehmersprache integriert ist. Die fremdsprachige Abstammung ist für den Laien oft nicht mehr erkennbar. (Glück 2010: 392). Wenn sich das übernommene Wort in seiner Lautung (Aussprache und Betonung), Schreibung und Flexion an die Nehmersprache angepasst hat, handelt es sich um ein Lehnwort im engeren Sinn. Zu den Lehnwörtern im weiteren Sinn gehören auch die Fremdwörter, weil sie aus anderen Sprachen entlehnt sind, aber der Entlehnungsprozess ohne deren Anpassung an die Nehmersprachen erfolgt ist und sie Fremdheitsmerkmale wie z.B. Fremdphoneme, Fremdgrapheme, Akzentuierungen, Flexionsmarker und Wortbildungsmorpheme besitzen, so dass man ihre fremde Herkunft leicht erkennen kann. Der Begriff „Anpassung“ ist in der Sprachkontaktforschung Bezeichnung für die Integration von Lehngut. Die Entlehnungen zeichnen sich in der Regel dadurch aus, dass sie morphologisch und syntaktisch in die Nehmersprache integriert sind: Sie nehmen Endungen der Nehmersprache an und sie übernehmen syntaktische Funktionen (Riehl 2014: 23). Traditionell wird der Begriff L e h n w o rt in der Germanistik dem Begriff F r e m d w o rt gegenübergestellt. Von „Fremdwort“ spricht man, wenn ein Wort oder ein Ausdruck aus einer anderen Sprache in der Nehmersprache nur gelegentlich und als Zitat gebraucht wird, von „Lehnwort“, wenn das entsprechende Wort schon zum üblichen Wortschatz wenigstens einer größeren Gruppe von Sprechern gehört (Polenz 1967: 15). Im Zusammenhang mit dem Begriff „Lehnwort“ soll noch ein weiterer Begriff behandelt werden. Es handelt sich dabei um Ausdrücke, die auf kulturspezifische Phänomene politischer, institutioneller, sozialer und geographischer Art verweisen und in anderen Kulturen unbekannt sind. Das sind R e a li e n oder R e a li a , darunter versteht man Gegenstände oder Phänomene, „die nur in einer bestimmten Kultur vorkommen und daher für Angehörige anderer Kulturen oft unbekannt oder schwer verständlich sind [...]“ (Nord 2010: 233). Wenn Drahota-Szabó (2013: 22) mit dem Begriff „Realien“ sowohl kulturspezifische Bezeichnete als auch ihre sprachlichen Bezeichnungen meint und aus diesem Grund den Terminus „Realie“ auch in Bezug auf die Bezeichnungen verwendet, werden in dieser Arbeit kulturspezifische Wörter und Wortverbindungen im Unterschied zu kulturspezifischen Gegenständen und Phänomenen als Realienbezeichnungen verstanden. Für solche Realien hat der russische Slavist Vorobjev den Begriff L in g u o k ultur e m eingeführt: <?page no="256"?> Lyubov Nefedova 246 Linguokultureme sind sprachliche Zeichen, die eine Gesamtheit der Form des sprachlichen Zeichens, seiner Bedeutung (seines Inhalts) und der „kulturellen Informationen“, die dieses Zeichen begleiten, darstellen (Vorobjev 1997: 47f.) [Übersetzung: L.N.]. Als „Linguokulturem“ wird z.B. das russische Wort хоровод [chorowod] (‚eine ostslawische Kunstform, ein Reigen, eine Kombination von Kreistanz und Chorgesang‘) betrachtet. Die Lehnwörter, die ins lexikalische System der Nehmersprache integriert sind, werden mit der Zeit auch zu Linguokulturemen, weil sie die für die Kultur der Nehmersprachen charakteristischen „kulturellen Informationen“ erwerben und zum kulturspezifischen Wortschatz werden. Das französische Wort métro z.B. wurde ins Russische übernommen, zurzeit wird mit dem Wort метро [metro] ‚Untergrundbahn in russischen Großstädten‘ bezeichnet: das Wort метро ist also eine Bezeichnung der russischen Realie. Die Metro in Moskau z.B. ist kulturspezifisch, alte Stationen der Moskauer Metro sind Baudenkmäler. Viele formal ähnliche Lehnwörter werden dadurch in den Nehmersprachen quasiäquivalent und können als Falsche Freunde des Übersetzers bezeichnet werden. Unter Falschen Freunden versteht man heutzutage nicht nur Wörter, sondern auch Wortverbindungen bzw. komplexe Ausdrücke. Sie vermitteln den Eindruck scheinbarer Bedeutungsidentität oder Bedeutungsverwandtschaft: in zwei (oder mehr) Sprachen phonologisch, graphisch oder morphologisch ähnliche Wörter (oder komplexe Ausdrücke), die jedoch unterschiedliche Bedeutung(sschattierung)en, Referenzbereiche bzw. Konnotationen haben: it. lametta Rasierklinge vs. dt. Lametta; engl. sympathetic verständnisvoll vs. dt. sympathisch usw. (Glück 2010: 195f.). Falsche Freunde werden traditionell von den Linguisten in v o ll s t ä n di g e (totale) und p a rti e ll e Falsche Freunde unterteilt. Die ersten sind eigentliche oder absolute Falsche Freunde, die komplett unterschiedliche Bedeutungen haben. Die partiellen Falschen Freunde sind polyseme Wörter, die neben mindestens einer gemeinsamen Bedeutung auch eine oder mehrere unterschiedliche Bedeutungen haben. Sie weisen also Unterschiede in ihrer Sememstruktur auf. Das Wort Resümee im Deutschen und das Wort резюме [rezjume] im Russischen haben die gemeinsame Bedeutung ‚knappe Inhaltsangabe, kurze Zusammenfassung; Schlussfolgerung‘. Das russische Wort резюме verfügt außerdem noch wie das Englische résumé über die Bedeutung ‘Lebenslauf‘. <?page no="257"?> Lehnwörter im Deutschen und im Russischen 247 Die Lehnwörter können auch verschiedene konnotative und emotionale Bedeutungskomponenten beinhalten. Das sind stilistische Falsche Freunde, die Unterschiede in der funktional-stilistischen Markierung haben, z.B.: dt. Gazette (pejorativ) - rus. газета [gazeta] (neutral für ‚Zeitung‘). Dem deutschen Wort Gazette entspricht semantisch und stilistisch das russische Wort mit dem pejorativen Suffix -ёнк: газетёнка [gazetёnka] (pejorativ). Dubičinskij und Reuther (2011) schreiben von ‚lexikalischen Parallelen‘ im Deutschen und im Russischen. Damit sind „äußerlich (mündlich/ schriftlich) ähnliche Wörter der eigenen und der fremden Sprache“ gemeint. Es handelt sich dabei um Lehnwörter, die Internationalismen sind: „Wenn Wörter in keiner von ihren Bedeutungen übereinstimmen, sind es falsche lexikalische Parallelen“ [Übersetzung: L.N.]. (Dubičinskij/ Reuther 2011: 75). Falsche lexikalische Parallelen sind Falsche Freunde des Übersetzers. Man bringt die Begriffe L e h n w o rt und Int e r n a ti o n a li s m u s in Zusammenhang. Internationalismen werden als „wichtige Vermittler zwischen den Kulturen“ und als „Vertreter eines positiven Globalismus auf der Ebene der Wissenschaften und der Moral“ angesehen (Kocsány 2010: 72). Im „Metzler Lexikon Sprache“ liest man unter dem Stichwort Internationalismus Folgendes: Entlehnung, die in sehr vielen Sprachen Usus (und daher für die internationale Verständigung nützlich) ist, z.B. Taxi, Hotel, Computer, Ticket ... Neben vielen englisch basierten Ausdrücken sind vor allem Termini wie Telefon, die auf dem Lateinischen oder Griechischen basieren, zu Internationalismen geworden. (Glück 2010: 301f.) Volmert präzisiert den Begriff „Internationalismus“ in seiner Definition folgenderweise: Internationalismen sind sprachliche Erscheinungen, die zu einer bestimmten Zeit in verschiedenen Sprachen in ihrem Aussehen (ihrer Form) gleich oder fast gleich sind, die einen gleichen Inhalt haben und deshalb meist ohne Übersetzung spontan verständlich sind (Vollmert 2003: 24). Falsche Freunde sind also solche Lehnwörter, die aus Irrtum zur falschen Bedeutungsermittlung verführen, weil sie für Internationalismen gehalten werden. In Wirklichkeit haben sie den Status von Linguokulturemen bekommen, weil sie semantische und/ oder stilistische Unterschiede aufweisen. Es soll im Weiteren an konkreten Beispielen gezeigt werden, dass formal ähnliche Lehnwörter unterschiedliche Bedeutung(sschattierung)en, Referenzbereiche oder Konnotationen in den Nehmersprachen Deutsch und Russisch gewinnen können. <?page no="258"?> Lyubov Nefedova 248 3 Semantische Divergenzen der Lehnwörter aus dem Griechischen, Lateinischen und Französischen Bei solchen Sprachen, die seit langem in engem Kontakt stehen oder standen, sind Falsche Freunde wesentlich häufiger. Der größte Teil des entlehnten Wortschatzes in den meisten Kultursprachen geht auf klassische Sprachen, auf das Lateinische und Griechische als dominante Gebersprachen zurück. Die meisten Latinismen und Gräzismen des Gegenwartsdeutschen und des Russischen sind nicht direkte Entlehnungen, sondern Fremdwort- oder Lehnwortbildungen. Eisenberg (2012: 30) ist der Ansicht, dass man sie Pseudolatinismen bzw. Pseudogräzismen nennen könnte, was aber nicht üblich ist, weil man ‚klassische‘ Fremdwörter anders als ‚moderne‘ behandelt. Latinismen und Gräzismen werden gemeinsam auch Klassizismen genannt. Wenn in der Fremdwort- oder Lehnwortbildung griechische und lateinische Bestandteile gemischt werden, kann man von Gräkolatinismen sprechen. Eisenberg gibt an, dass indirekte Entlehnungen aus dem Griechischen weit umfangreicher als direkte sind: „Man bleibt dem Blick auf das Griechische mit der lateinischen Brille treu: man schreibt griechische Wörter mit lateinischen Buchstaben“ (2012: 71). Gräzismen als direkte Entlehnungen im Deutschen und im Russischen sind z.B. Chor, Patriarch, Prolog, Tyrann; indirekt entlehnt sind: Metaphysik, Apostroph, Bibliothek, Gymnasium, Idiot, Paradigma u.a. Falsche Freunde unter Gräzismen sind z.B. dt. Dekade - russ. декада [dekada]; im Russischen ist es ein Zeitraum nur von 10 Tagen, im Deutschen können es auch 10 Wochen, Monate oder Jahre sein. Das russische Wort декада weist eine Bedeutungsverengung auf: dt. Dekade, die 1. ‚Satz oder Serie von 10 Stück‘ 2. ‚Zeitraum von 10 Tagen, Wochen, Monaten oder Jahren‘ (Duden: online). russ. декада [dekada] - ‚Zeitraum von 10 Tagen‘ 1 (Kuznecov 2000: 246). Viele Latinismen sind im Bereich ‚Bildungswesen‘ stark vertreten und sind Falsche Freunde. Die Liste solcher Wörter ist sehr lang, hier sind nur einige Beispiele: 1 Alle Übersetzungen russischer Wörterbucheinträge: L.N. <?page no="259"?> Lehnwörter im Deutschen und im Russischen 249 dt. Rektor, der 1. ‚Leiter einer Grund-, Haupt-, Real- oder Sonderschule‘ 2. (aus dem Kreis der ordentlichen Professoren) ‚für eine bestimmte Zeit gewählter Repräsentant einer Hochschule‘ 3. (katholische Kirche) ‚Geistlicher, der einer kirchlichen Einrichtung vorsteht‘ (Duden: online). russ. ректор [rektor] - ‚Leiter einer Hochschule‘ (Kuznecov 2000: 1115). In beiden Sprachen können wir eine Bedeutungsverengung im Unterschied zum Lateinischen feststellen (im Lateinischen ‚Leiter‘), im Deutschen und im Russischen handelt es sich um ‚Leiter einer Lehranstalt‘. Im Russischen beschränkt sich die Bezeichnung nur auf eine Hochschule: der Rektor ist ‚Leiter einer Hochschule‘. dt. Abiturient, der - ‚Schüler kurz vor, im und nach dem Abitur‘ (Duden: online). russ. абитуриент [abiturient] - ‚Studienbewerber‘ (Kuznecov 2000: 23). Das Wort Abiturient geht auf das Partizip Präsens abituriens des neulateinischen Verbs abiturire zurück (‚von der Schule ab-, weggehen‘). Die Bedeutung des deutschen Wortes ist an das lateinische Verb angelehnt. Im Russischen kann eine Bedeutungsverschiebung festgestellt werden. Noch zwei Beispiele sind von Interesse: dt. Seminar, das 1. ‚Lehrveranstaltung an einer Hochschule […]‘ 2. a. ‚Institut für einen bestimmten Fachbereich an einer Hochschule […]‘ b. ‚Gesamtheit der an einem Seminar […] Studierenden‘ […] (Duden: online). russ. семинар [seminar] - ‚Lehrveranstaltung an einer Hochschule‘ (Kuznecov 2000: 1174). dt. Referat, das 1. a. ‚ausgearbeitete Abhandlung über ein bestimmtes Thema‘ b. ‚kurzer schriftlicher Bericht‘ 2. ‚Abteilung einer Behörde als Fachgebiet eines Referenten‘ (Duden: online). <?page no="260"?> Lyubov Nefedova 250 russ. реферат [referat] - ‚ausgearbeitete Abhandlung über ein bestimmtes Thema‘ (Kuznecov 2000: 1120). Die Wörter Seminar und Referat sind polysem im Deutschen und haben Sememe, die ihre russischen Pendants nicht haben. Im Russischen ist der Gebrauch der Latinismen nur auf ein Semem beschränkt. Als Falsche Freunde in beiden Nehmersprachen können sich sogar linguistische Termini erweisen, was zu einer Störung in der deutsch-russischen wissenschaftlichen Kommunikation führen kann. Die Mehrzahl der Termini kommt aus dem griechisch-lateinischen Kulturkreis. Die meisten linguistischen Termini sind Latinismen; Wissenschaftssprache allgemein besitzt internationalen Charakter. Aber einige auf das Lateinische zurückgehende Termini haben verschiedene Definitionen in der Germanistik und in der Russistik: dt. Konfix, das - ‚aus einer Verkürzung oder Kurzform entstandenes, nicht selbstständiges Wortbildungselement‘ (z. B. bio[logischer] Rhythmus = Biorhythmus) (Duden: online). russ. конфикс [kоnfiks] - ‚Präfix und Suffix, die gleichzeitig an das Grundmorphem angeschlossen werden‘ (podstakannik Teeglasuntersatz) (Kubrjakova/ Pankrac 1998: 59) (dt. Zirkumfix). dt. Abbreviatur, die - ‚abgekürztes Wort in Schrift und Druck; Abkürzung [in der Notenschrift]‘ (Duden: online). russ. аббревиатура [abbreviatura] - ‚Substantiv, das aus gekürzten Wörtern einer Wortverbindung oder aus gekürzten Komponenten eines zusammengesetzten Wortes besteht‘ (партком - партийный комитет [partkom - partijnyj komitet] ‚Parteikomitee‘) (Lopatin 1998: 9). Laut den Definitionen sind beide Termini semantische Falsche Freunde. Das deutsche Wort Abbreviatur ist auch stilistisch markiert: es ist bildungssprachlich; im Russischen dagegen ist es neutral. In Bezug auf die Lehnwörter aus klassischen Sprachen kann festgestellt werden, dass die Klassizismen eine größere Rolle im Deutschen als im Russischen spielen. Die russischen Klassizismen sind in geringerem Maße ans Russische angepasst, sie werden eher als fremde Elemente empfunden. Gallizismen bilden in beiden Sprachen umfangreiche Gruppen im entlehnten Wortschatz. Falsche Freunde im Deutschen und im Russischen sind z.B. die auf das französische Wort menu zurückgehenden Wörter dt. Menü - russ. меню [menju]. Das russische Wort bedeutet ‚Speisekarte‘, im Deutschen ist <?page no="261"?> Lehnwörter im Deutschen und im Russischen 251 Menü ‚Speisenfolge; aus mehreren Gängen bestehende Mahlzeit‘ (franz. menu à prix fixe). Das russische Wort аккорд [akkord] bezeichnet das gleichzeitige Erklingen mehrerer musikalischer Töne, die miteinander harmonieren; im Deutschen ist der Gallizismus Akkord auch ein Terminus der Wirtschaft: dt. Akkord, der 1. (Musik) ‚Zusammenklang von mehr als zwei Tönen mit verschiedener Tonhöhe‘ 2. a. (Wirtschaft) ‚Bezahlung nach der erzeugten Stückzahl; Stücklohn‘ b. (Wirtschaft) ‚Arbeitsverhältnis, in dem jemand nach Stückzahlen entlohnt wird‘ (Duden: online). Was die Gallizismen im Deutschen und im Russischen betrifft, kann man hier nur schlussfolgern, dass es darunter Falsche Freunde gibt. Um sie ausführlicher zu beschreiben, sind weitere Studien notwendig. Anschließend sollten semantische Divergenzen der Entlehnungen aus dem Deutschen im Russischen bzw. aus dem Russischen im Deutschen beschrieben werden. 4 Semantische Divergenzen der Lehnwörter aus dem Deutschen im Russischen bzw. aus dem Russischen im Deutschen Deutsch spielt eine wichtige Rolle als Gebersprache für die Nehmersprache Russisch. Im Russischen gibt es eine große Zahl von Übernahmen aus dem Deutschen; darunter sind solche, die in mehrere Sprachen entlehnt worden sind. Zu nennen wären die bekanntesten Germanismen im Russischen: Butterbrot/ бутерброд [buterbrod], Rucksack/ рюкзак [rjukzak], Schlagbaum/ шлагбаум [šlagbaum], Blitz/ блитц [blic], Buchhalter/ бухгалтер [buchgalter] u.a. Es können ein paar Beispiele für semantische Unterschiede der entlehnten Wörter angeführt werden. Die folgenden Germanismen gehören zu Falschen Freunden: russ. аншлаг [anšlag] 1. ‚Eine Bekanntmachung an der Kasse des Theaters (des Filmtheaters), dass alle Karten ausverkauft sind‘ 2. ‚Überschrift, Titel‘ (Kuznecov 2000: 43). <?page no="262"?> Lyubov Nefedova 252 russ. шлагбаум [šlagbaum] - ‚Schranke‘ [Im Deutschen ist es eine Schranke am Grenzübergang. Anm. L.N.] (Kuznecov 2000: 1500). russ. бутерброд [butterbrod] - ‚Brot mit Belag‘ [Eine mit Butter bestrichene Scheibe Brot heißt im Russischen бутерброд с маслом [butterbrod s maslom], Anm. L.N.] (Kuznecov 2000: 105). russ. галстук [galstuk] - ‚Krawatte‘ [Kein Halstuch. Anm. L.N.] (Kuznecov 2000: 193). Dabei geht es hauptsächlich um Bedeutungsverschiebung, seltener um Bedeutungserweiterung [šlagbaum]. Im Deutschen gibt es auch Entlehnungen aus dem Russischen. Bekannte Russizismen sind z.B. спутник/ Sputnik, погром/ Pogrom, тройка/ Troika, мамонт/ Mammut u.a. Eisenberg schreibt von Sowjetismen im Deutschen; von solchen Wörtern, die im 19. Jh. aus dem Heimatland von Marx und Engels nach Russland ausgewandert sind und im 20. Jh. mit neuer Bedeutung aus der Sowjetunion zurückkehrten. Auch viele traditionelle Internationalismen erhielten eine neue Bedeutung, z.B. Brigade, Aktiv, Apparat. Zu nennen wären Neubildungen vom Typ Agitprop, Kombinat, die als Internationalismen in der DDR verwendet wurden (Eisenberg 2012: 40). Als Falsche Freunde kann man solche Wörter interpretieren, die bei der Entlehnung aus dem Russischen nur eine Bedeutung eines mehrdeutigen Wortes übernommen haben. Im Deutschen referiert das Wort Sputnik auf den Namen der ersten künstlichen Erdsatelliten (Duden: online), es ist ein monosemes Wort. Im Russischen dagegen hat das Wort спутник vier verschiedene Lesarten: russ. спутник [sputnik] 1. ‚Gefährte; Reisegefährte, Mitreisender; Begleiter‘ 2. ‚übertragen: etwas, das etwas begleitet; etwas, das sich zusammen mit etwas befindet oder erscheint‘ 3. (Astronomie) ‚Himmelskörper, der sich um einen Planeten dreht‘ 4. ‚Satellit, Trabant‘ (Kuznecov 2000: 1254). Ein anderes anschauliches Beispiel ist das russische Wort перестройка [perestrojka]: <?page no="263"?> Lehnwörter im Deutschen und im Russischen 253 dt. Perestroika, die - ‚Umbildung, Neugestaltung des sowjetischen politischen Systems besonders im innen- und wirtschaftspolitischen Bereich‘ (Duden: online). russ. перестройка [perestrojka] 1. ‚Umbau, Umgestaltung, Umstrukturierung‘ 2. ‚bezeichnet den von Michail Gorbatschow ab Anfang 1986 eingeleiteten Prozess zum Umbau und zur Modernisierung des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Systems der Sowjetunion, die von der KPdSU beherrscht wurde‘ (Kuznecov 2000: 818). Hier kommt besonders deutlich zum Ausdruck, dass bei der Übernahme eines Wortes aus einer anderen Sprache seine Sememstruktur auf ein Semem reduziert wird: Ein polysemes Wort wird zu einem monosemen. Folglich kann die Entlehnung eines der Gründe für das Phänomen der Monosemie sein. Das Wort погром [pogrom] hat im Russischen im Unterschied zum Deutschen zwei Bedeutungen. Die erste Bedeutung ist ‚große Unordnung, Zertrümmerung, Verwüstung, Verheerung‘, die mit Ausschreitungen gegen nationale, religiöse oder ethnische Minderheiten nichts zu tun hat, z.B. устроить в квартире погром [ustroit‘ v kvartire pogrom] ‚in der Wohnung große Unordnung verursachen‘ (Kuznecov 2000: 857). Mit der Zeit ist es möglich, dass monoseme Wörter neue Sememe erwerben, aber es ist offensichtlich seltener der Fall als bei Erbwörtern. Das Wort Troika hat im Deutschen eine übertragene Bedeutung entwickelt, die das Russische nicht aufweist: ‚drei gemeinsam regierende Politiker‘ (Duden: online). Mammut ist im Deutschen auch ein Präfix, das in Bildungen mit Substantiven ausdrückt, dass etwas von gewaltiger Anzahl, Menge, räumlich oder zeitlich von besonders großer Ausdehnung ist: Mammutprojekt, Mammuttournee (Duden: online). Zum Abschluss dieses Teils soll noch darauf hingewiesen werden, dass sich Falsche Freunde nicht auf den ganzen deutschsprachigen Raum beziehen. Im Russischen ist ein Zentner eine Maßeinheit von 100 Kilogramm wie in Österreich und in der Schweiz, in Deutschland sind 50 Kilogramm ein Zentner. Im nächsten Teil möchte ich auf semantische und stilistische Divergenzen der entlehnten Wörter und Wortverbindungen aus dem Englischen eingehen. 5 Anglizismen im Deutschen und im Russischen Heutzutage übt Englisch (vor allem das amerikanische Englisch) den größten Einfluss sowohl auf die deutsche als auch auf die russische Sprache aus. Die <?page no="264"?> Lyubov Nefedova 254 Kritik der enorm großen Aufnahme englischer Ausdrücke findet ihren Ausdruck in solchen negativen Bezeichnungen wie Denglish, Engleutsch, Germish’ und Germeng im Deutschen und Russglijskij im Russischen. Neben der Meinung, dass Anglizismen bzw. Amerikanismen eine Gefahr für europäische Sprachen darstellen, werden auch die Stimmen der Befürworter lauter, die behaupten, dass die Aufnahme von neuen Anglizismen ein moderner notwendiger Trend ist: einerseits füllen die Anglizismen Sprachlücken aus, indem sie neue Begriffe bezeichnen, andererseits sind sie moderner, lebendiger und oft lapidarer als einheimische Ausdrücke. Anglizismen kommen im Deutschen und im Russischen mit unterschiedlicher Häufigkeit fast in allen Bereichen vor. Sie sind auf allen Stilebenen vertreten. Semantische Unterschiede können z.B. anhand der Wörter dt. Rating - russ. reiting veranschaulicht werden: dt. Rating, das 1. (Psych., Soziolog.) ‚Verfahren zur Beurteilung von Personen oder Situationen mithilfe von Ratingskalen‘ 2. (Wirtsch.) ‚bonitätsmäßige Einstufung von Ländern, Banken, Firmen o. Ä. in ein Klassifikationssystem‘ 3. ‚Verfahren zur Ermittlung der Einschaltquote von [Fernseh]sendungen, bes. zur Einschätzung der Wirksamkeit von Werbespots‘ (Duden: online). russ. рейтинг [rejting] 1. ‚Grad der Beliebtheit von bekannten Politikern, Funktionären, Unternehmern‘ 2. ‚individueller Zahlkennwert der Bewertung von Sporterrungenschaften des Schachspielers in der Klassifikationsliste, die jährlich von der FIDE für die besten Schachspieler der Welt zusammengestellt wird‘ (Kuznecov 2000: 1114). engl. Rating - ‚A measurement of how good or popular someone or something is; A list of television and radio programmes showing how popular they are’ (Cambridge: online). Die Definitionen der beiden Wörter im Deutschen und im Russischen stimmen nicht überein. Die Anglizismen dt. Rating - russ. reiting unterscheiden sich völlig in ihrem Bedeutungsumfang und -inhalt: Das deutsche Wort wird als Terminus in den Bereichen Psychologie, Soziologie und Wirtschaft gebraucht. In diesem Fall ist die Rede von absoluten Falschen Freunden im Deutschen und im Russischen. <?page no="265"?> Lehnwörter im Deutschen und im Russischen 255 Es ist wichtig, auf eine andere Erscheinung aufmerksam zu machen, die verbreitet ist: Gleiche Anglizismen kommen im Deutschen und im Russischen vor, aber auf verschiedenen stilistischen Ebenen. Die Rhetorik unterscheidet drei klassische Redestile (genera dicendi): den schlichten Stil genus subtile/ humile, den mittleren Stil genus medium/ mixtum und den erhabenen Stil genus grande/ sublime: genus subtile/ humile: dient v.a. der Belehrung genus medium/ mixtum: dient v.a. der Unterhaltung und Gewinnung der Zuhörer genus grande/ sublime: dient dazu eine starke Affekterregung hervorzurufen (Kohler 2006: 212f.). Stilistische Unterschiede haben im Deutschen und im Russischen z.B. die Anglizismen dt. User - rus. юзер [juzer]. Die Wörter haben eine gemeinsame Bedeutung: ‚jemand, der einen Computer benutzt‘ und stimmen semantisch überein. Unterschiede können auf der stilistischen Ebene festgestellt werden. Im Deutschen gehört der Anglizismus zum genus medium, im Russischen dagegen zum genus humile. Außerdem wird der Anglizismus User im Deutschen als Jargonismus in der Bedeutung ‚jemand, der eine bestimmte Droge [regelmäßig] nimmt‘ gebraucht (Duden: online). Diese Bedeutung des Wortes ist im Russischen nicht bekannt. Demzufolge können die Anglizismen dt. User - rus. юзер [juzer] als semantisch-stilistische Falsche Freunde interpretiert werden. Im Englischen ist user „someone who uses a product, machine, or service“ (Cambridge: online). Es ist hier zu erwähnen, dass der Einfluss des Englischen auf beide Sprachen unterschiedlich ist. Das Deutsche entlehnt in der letzten Zeit viele Anglizismen direkt, die meisten Anglizismen sind äußere Entlehnungen im Deutschen. Ins Russische gehen die Anglizismen vorwiegend als Lehnübersetzungen oder Lehnübertragungen ein. Eine sprachliche Besonderheit der letzten Zeit, die beide Sprachen Deutsch und Russisch betrifft und die etwas ausführlicher behandelt werden sollte, ist das Auftreten von Pseudoanglizismen. Für dieses Phänomen gibt es keine Definition weder im „Metzler-Lexikon Sprache“ von Glück (2010) noch im „Lexikon der Sprachwissenschaft“ von Bußmann (2008). Unter Pseudoanglizismen versteht man: Wörter, die aus englischen Bestandteilen bestehen oder eine englische Struktur haben, aber im Englischen nicht vorhanden sind und daher Neubildungen außerhalb des Englischen darstellen (Muhr 2004: 34). <?page no="266"?> Lyubov Nefedova 256 Das sind solche Wörter wie Dressman und Showmaster. Laut dieser Definition sind Pseudoanglizismen Neubildungen, als komplexe Wörter sind sie keine Entlehnungen. Andererseits sind es Komposita, die aus entlehnten Wörtern bestehen, und zum Lehngut gehören. Als Pseudoanglizismen werden auch solche Wörter angesehen, die im Englischen existieren, aber dort eine ganz andere Bedeutung haben (z.B. dt. Handy): Scheinentlehnungen oder Pseudoanglizismen, das sind Wörter, die zwar wie Entlehnungen aussehen, aber nicht in der angeblichen Gebersprache existieren (zumindest nicht in einer bestimmten Bedeutung) (Grzega 2006: 75). Eine Definition, die beide Arten von Pseudoanglizismen einschließt, lautet: Mit Scheinentlehnungen sind Ausdrücke aus fremdsprachigem Sprachmaterial gemeint, die in der Ausgangssprache entweder als solche nicht existieren (lexikalische Scheinentlehnungen wie Dressman und Showmaster), die morphologisch (z.B. durch Kürzung) gegenüber der Ausgangssprache verändert wurden (Lehnveränderungen wie Teenie oder Twen) oder die in der Zielsprache eine neue Bedeutung zugewiesen bekommen, die sie in der Ausgangssprache nicht hatten (semantische Scheinentlehnung wie Flirt oder Oldtimer) (Janich/ Runkehl 2010: 157). Für die vorliegende Arbeit sind semantische Scheinentlehnungen von Interesse. Beachtenswert ist auch die Definition von Pseudoanglizismen von Cypionka (1994). In dieser Definition wird betont, dass Anglizismen Veränderungen und Entwicklungen bei ihrer Entlehnung durchmachen und dadurch zu Pseudoanglizismen werden: Entlehnungen, bei denen es während oder nach der Übernahme lexikalischer Einheiten in die Empfängersprache zu spezifischen Veränderungen oder Entwicklungen gekommen ist, so dass die Lehnresultate nicht mehr ohne weiteres auf die entsprechenden Vorbilder der Spendersprache rückführbar sind. (Cypionka 1994: 7) Eisenberg schreibt in seiner Monographie über das Fremdwort im Deutschen: Besonders bei Anglizismen, aber nicht nur dort, stößt man auf Bezeichnungen wie Pseudofremdwort, Scheinentlehnung, falscher Freund, Fauxami, Falsefriend oder eben Pseudoanglizismus. Mit solchen Ausdrücken wird Unterschiedliches bezeichnet, bei den Anglizismen sind meist Wörter wie Dressman gemeint, die nach Entlehnungen aus dem Englischen aussehen, es aber nicht sind (Eisenberg 2012: 29). <?page no="267"?> Lehnwörter im Deutschen und im Russischen 257 In Bezug auf die deutsche Sprache weist Eisenberg darauf hin, dass jeder Beispiele kennt, wenn jemand einen im Deutschen gebildeten Anglizismus als Wort des Englischen verwendet und „sich blamiert“. Als Beispiele werden vom Autor solche Ausdrücke angegeben wie Public Viewing: Was im Deutschen „öffentliches Fernsehvergnügen“ bedeutet und im amerikanischen Englisch eine viel weitere Verwendung hat, zu der auch „öffentliche Aufbahrung eines Verstorbenen gehört“. Ähnlich hat der Ausdruck Body Bag im Deutschen die Bedeutung „Rucksack“, im Englischen bedeutet er jedoch „Leichensack“ (Eisenberg 2012: 30). Pöllman (2012) hält Pseudoanglizismen für Falsche Freunde. Aber nicht alle Arten von Pseudoanglizismen können zu Falschen Freunden gezählt werden. Als Falsche Freunde rücken semantische Scheinentlehnungen ins Blickfeld. Dazu sollte berücksichtigt werden, dass es in Bezug auf Nehmersprachen, wie Deutsch und Russisch, eine besondere Erscheinung gibt. Eine Sprache übernimmt einen Anglizismus, der in der Nehmersprache in derselben Bedeutung wie in der Gebersprache gebraucht wird; in der anderen Nehmersprache handelt es sich um einen Pseudoanglizismus. Als Beispiele im Deutschen und im Russischen können z.B. die Wörter dt. Biker - rus. байкер [bajker] angeführt werden: dt. Biker, der 1. (Jargon) ‚Motorradfahrer‘ 2. (ugs.) ‚jemand, der Fahrrad, Mountainbike fährt‘ (Duden: online). rus. байкер [bajker] - ‚Mitglied einer informalen Jugendgruppe von Motorradfahrern, benutzt ein schweres Motorrad, hat eine schwarze Lederuniform an […]‘ (Komlev: online). engl. biker 1. ‚A member of a group of people riding motorcycles‘ 2. ‚Someone who rides a bicycle‘ (Cambridge: online). Aus den angeführten Definitionen ist es ersichtlich, dass das russische Wort ein Pseudoanglizismus ist. Die Bedeutung, die das Wort im Russischen aufweist, unterscheidet sich von der Bedeutung des Wortes im Englischen: im Russischen ist es eine spezifische Bedeutung, die für das Deutsche nicht gilt. Die Wörter dt. Biker - rus. байкер [bajker] sind Falsche Freunde im Deutschen und <?page no="268"?> Lyubov Nefedova 258 im Russischen (wie auch im Englischen und im Russischen). Im Englischen und im Deutschen ist das nicht der Fall. Dasselbe gilt für die Wörter dt. Scotch - russ. скотч [skotč], die im Deutschen und im Russischen mehrdeutig sind. Beide Wörter haben eine gemeinsame Bedeutung ‚schottischer Whisky‘. Aber die Wörter weisen Unterschiede in einer anderen Bedeutung auf, die mit Prozessen ihres unterschiedlichen Sprachgebrauchs im Deutschen und im Russischen verbunden sind: Im Englischen bezeichnet scotch ausschließlich ‚a type of whisky made in Scotland‘ (Cambridge: online), wohingegen das Wort im Deutschen außerdem als Kurzwort mit der Bedeutung ‚Scotchterrier‘ (Duden: online) gebraucht wird. Im Russischen hat das Wort die Bedeutung ‚Klebeband‘ (Burceva/ Semjonova 2004: 621) entwickelt. Folglich sollten die Wörter dt. Scotch - russ. скотч [skotč] wie das Wortpaar dt. Biker - rus. байкер [bajker] auch als Falsche Freunde angesehen werden. Mit dem Vorbehalt, dass es partielle Falsche Freunde sind. Im Weiteren soll das Phänomen behandelt werden, dass beide Sprachen feste Wortverbindungen aus dem Englischen aufnehmen: das Deutsche als direkte Entlehnungen, das Russische als Lehnübersetzungen (Nefedova 2013; Nefedova/ Polyakov 2014). Wenn feste Wortverbindungen aus dem Englischen in ihrer direkten Form im Russischen gebraucht werden, weisen sie semantische oder stilistische Besonderheiten auf. In beiden Nehmersprachen fungieren feste Wortverbindungen dt. electronic cash - russ. электронный кэш [ėlektronnyj kėš]: dt. electronic cash - ‚bargeldloser Zahlungsverkehr (mit der Scheckkarte)‘ (Duden: online). russ. электронный кэш [ėlektronnyj kėš] - ‚Geld für Gangster, Drogendealer, Terroristen, Killer und korrumpierte Beamte’ (Nefedova/ Polyakov 2014: 154). Im Russischen hat die feste Redewendung eine spezifische Bedeutung entwickelt: es ist ein Beispiel für Bedeutungsverschlechterung. Die festen Redewendungen sollten deswegen als semantische Falsche Freunde verstanden werden. Solche festen Redewendungen wie z.B. dt. High Potential - russ. хай потеншл [chaj potenšl] unterscheiden sich stilistisch (stilistische Falsche Freunde): dt. High Potential - ‚junger Akademiker, der beste fachliche und soziale Kompetenzen und damit geeignete Voraussetzungen für eine Führungsposition hat‘ (Duden: online). <?page no="269"?> Lehnwörter im Deutschen und im Russischen 259 russ. хай потеншл [chaj potenšl] - ‚Mitarbeiter/ in mit hohem Potenzial‘ (Jargonismus, in der jargonhaften Kommunikation gebraucht) (Nefedova 2014: 412). Im Deutschen gehört die feste Redewendung zum genus medium, im Russischen dagegen zum genus humile. Als Zwischenbilanz kann man feststellen, dass die Anglizismen im Deutschen weniger als im Russischen semantisch transformiert werden. Das Deutsche integriert Anglizismen direkt; direkte Anglizismen im Russischen sind seltener als Lehnübersetzungen, sie unterscheiden sich von ihren Prototypen semantisch oder stilistisch. 6 Lexikographische Darstellung von quasiäquivalenten Lehnwörtern in speziellen zweisprachigen Wörterbüchern Die Lehnwörter, die ins Deutsche und Russische aus anderen Sprachen übernommen worden sind und verschiedene Bedeutungen entwickelt haben, werden im „Deutsch-Russischen und Russisch-Deutschen Wörterbuch der Falschen Freunde des Übersetzers“ von Gottlieb (1972) und im „Wörterbuch lexikalischer Parallelen“ von Dubičinskij und Reuther (Dubičinskij/ Reuther 2011) dargestellt. Der Bestand der beiden Wörterbücher bedarf einer Erneuerung. Im Wörterbuch Gottliebs sind als Falsche Freunde Wörter angeführt, die nicht mehr im Sprachgebrauch des Deutschen sind, z.B.: Affiche, Aventüre, Enquete, Entreakt, Entree, Entrepreneur, Entresol. Auch ihre russischen Pendants антре [antre], антрепренер [antreprener] sind veraltet und selten gebräuchlich. Andererseits fehlen im Wörterbuch aktuelle Wörter, z.B. die Wortpaare dt. Doktorand - rus. докторант [doktorant], dt. Jahrmarkt - rus. ярмарка [jarmarka]. Das Wörterbuch von Dubičinskij und Reuther enthält, wie schon oben erwähnt, lexikalische Parallelen; das sind internationale Lexeme, die äußerlich (mündlich/ schriftlich) ähnliche Wörter im Deutschen und Russischen sind. Darunter sind auch Wörter, die gleiche/ ähnliche Bedeutungen im Deutschen und im Russischen haben (die kein Problem in der interkulturellen Kommunikation darstellen) und Wörter mit unterschiedlichen Bedeutungen, die als Falsche Freunde betrachtet werden können. Obwohl das Wörterbuch der lexikalischen Parallelen ein neues Wörterbuch ist, setzt es sich inhaltlich mit traditionellem Wortschatz auseinander, das vor allem auf das internationale lateinische Erbe zurückgeht. Die im Deutschen und im Russischen gebrauchten Anglizismen und Pseudoanglizismen werden im Wörterbuch nicht betrachtet. <?page no="270"?> Lyubov Nefedova 260 Gerade Anglizismen und Pseudoanglizismen haben als neue Falsche Freunde vor allem in den neunziger Jahren des 20. Jh. und in den letzten 15 Jahren des 21. Jh. in die deutsch-russische Kommunikation Einzug gefunden. Aber sie bleiben als aktuelle Falsche Freunde ohne lexikographische Widerspiegelung. Es sollte ein neues Wörterbuch als Lern- und Nachschlagewerk zusammengestellt werden, das Lehnwörter aufnimmt, die sowohl semantische als auch stilistische Divergenzen aufweisen. In diesem Wörterbuch sollten neuere Lehnwörter und Wortverbindungen aus dem Englischen Platz finden. Dabei sollten auch Lehnwortbildungen berücksichtigt werden, die Pseudoentlehnungen sind. Angestrebt wird ein aktives zweisprachiges Lernerwörterbuch, das sich auf einen aktuellen, in der deutsch-russischen Kommunikation allgemeingebräuchlichen Grundwortschatz konzentriert und das von Deutsch- und Russischlernenden benutzt wird. 7 Fazit Die Lehnwörter sind grammatisch assimilierte Fremdwörter, die in die eigene Sprache integriert werden. Dank der semantischen Transformationen unterliegen sie in den Nehmersprachen dem Prozess der kulturellen Adaptation. Viele Lehnwörter sind in verschiedenen Sprachen quasiäquivalent und als Falsche Freunde des Übersetzers eine häufige Ursache für Missverständnisse in der interkulturellen Kommunikation. Trotz der großen Zahl der Entlehnungen aus dem Angloamerikanischen im Zeitalter der Globalisierung, gefährdet die moderne Kultur der USA nicht die eigene kulturelle Identität der anderen Länder. Je intensiver die Kulturkontakte werden, desto stärker ist das Zugehörigkeitsgefühl der Individuen zu einer kulturellen Gemeinschaft. Zusammenfassend kann man festhalten, dass angesichts der wachsenden Internationalisierung der Sprachen Erforschung und lexikographische Darstellung von Lehnwörtern immer mehr an Aktualität gewinnt. 8 Literatur Bartzsch, Rudolf/ Pogarell, Reiner/ Schröder, Markus (2004): Wörterbuch überflüssiger Anglizismen. 6., erhebl. überarb. u. erw. Aufl. Paderborn. Burceva, Valentina/ Semjonova, Nelli (2004): Slovar’ inostrannych slov. Moskva. Bußmann, Hadumod (2008): Lexikon der Sprachwissenschaft. 4. durchges. Aufl. Stuttgart. <?page no="271"?> Lehnwörter im Deutschen und im Russischen 261 Cypionka, Marion (1994): Französische „Pseudoanglizismen“: Lehnformationen zwischen Entlehnung, Wortbildung, Form- und Bedeutungswandel. Tübingen. (Tübinger Beiträge zur Linguistik; 401). Drahota-Szabó, Erzsébet (2013): Realien - Intertextualität - Übersetzung. Landau. (Beiträge zur Fremdsprachenvermittlung. Sonderheft; 19). 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Rieger (Bologna) Zusammenfassung Nach dem Kulturstandardmodell von Alexander Thomas steht dem deutschen zentralen Kulturstandard der Sachorientierung in der italienischen Kultur eine ausgeprägte Beziehungsorientierung gegenüber. Sieht man sich die Leserbriefseiten in Zeitungen an, so scheint sich diese Opposition auch in der Textsorte Leserbrief widerzuspiegeln, denn italienische Leserbriefrubriken werden in der Regel von einem namentlich genannten Redakteur betreut und regelmäßig werden einzelne Leserbriefe auch beantwortet. Im vorliegenden Beitrag wird untersucht, ob es weitere Unterschiede zwischen deutschen und italienischen Leserbriefen gibt, die sich mithilfe des Kulturstandardmodells erklären lassen. Untersucht werden dazu insgesamt 331 Leserbriefe aus je einer deutschen und italienischen Regionalzeitung sowie aus den Nachrichtenmagazinen „Der Spiegel“ und „L’Espresso“. Es kann gezeigt werden, dass die analysierten Leserbriefe durchaus eine Reihe kulturspezifischer Merkmale aufweisen, aber bei weitem nicht alle, die aufgrund des Kulturstandardmodells erwartbar gewesen wären. 1 Einleitung K ultur s t a n d a r d s (KS), also die Annahme, dass es „Arten des Wahrnehmens, Denkens, Wertens und Handelns [gibt], die von der Mehrzahl der Mitglieder einer bestimmten Kultur für sich und andere als normal, typisch und verbindlich angesehen werden“ (Thomas 2005: 25), sind das zentrale Konstrukt der kulturvergleichenden Studien von Alexander Thomas und seinem Team. 1 Das Besondere an diesem Modell ist, dass die fremden KS nicht aus den „Arten des Wahrnehmens, Denkens, Wertens und Handelns“ der Mitglieder der fremden Kultur gewonnen werden, sondern in Abhängigkeit von d e n deutschen KS, die beim Aufeinandertreffen mit der fremden Kultur ihre Handlungswirksamkeit 1 In diesem Beitrag bezieht sich der Begriff „Kulturstandard“ immer auf das Modell von Thomas (2005). Zu deutschen Kulturstandards vgl. insbesondere Schroll-Machl (2003a), zu italienischen Neudecker/ Siegl/ Thomas (2007). <?page no="274"?> Marie A. Rieger 264 verlieren. 2 Mit diesem Ansatz, nämlich die eigenen Sitten und Normen „zum Standard und Maßstab aller Bewertungen und Beurteilungen“ (Schugk 2004: 247) zu machen, trägt das Modell der allzu menschlichen Neigung zum Ethnozentrismus Rechnung. 3 Ist man sich dieser grundsätzlichen Problematik kulturvergleichender Studien bewusst, 4 so bietet das KS-Modell pl a u s i b l e Erklärungen für eine Reihe von Verhaltensweisen, die in interkulturellen Begegnungssituationen deutsch geprägten Erwartungen zuwiderlaufen (können). Die Idee, speziell Leserbriefe im Hinblick auf kulturell bedingte Unterschiede zu untersuchen, entstand durch einen Artikel von Ewa Drewnowska- Vargáné (2001), in dem die Autorin deutsche, polnische und ungarische Leserbriefe miteinander vergleicht. Diese Lektüre führte zu den beiden Arbeitshypothesen, dass erstens zwischen deutschen und italienischen Leserbriefen ganz ähnliche Unterschiede im Hinblick auf formale und inhaltliche Merkmale bestehen könnten und sich zweitens diese Unterschiede mithilfe des KS-Modells erklären lassen. Ziel des vorliegenden Beitrags ist also aufzuzeigen, ob die beiden Arbeitshypothesen bestätigt werden können. Dazu werden im Anschluss an diese Einleitung zunächst einige Eckdaten zum deutschen und italienischen Zeitungsmarkt präsentiert, um auf einige historisch bedingte Unterschiede aufmerksam zu machen. Der darauf folgende 3. Abschnitt ist dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand gewidmet, wobei zunächst ein kurzer Überblick über die Entstehung der Textsorte Leserbrief gegeben und im Anschluss daran eine vergleichende Begriffsbestimmung vorgenommen wird. In Abschnitt 4 werden die für die Analyse relevanten deutschen und italienischen KS, das Analyseraster und das Korpus präsentiert. Im ab- 2 Zum methodischen Vorgehen vgl. Schroll-Machl (2003a: 24-34) und Thomas (2005: 29-31). Damit geht Thomas einen anderen Weg als z.B. Hall und Hofstede, die annehmen, es gäbe „grundlegende Dimensionen menschlichen Zusammenlebens […], mit denen sich alle Menschen in allen Kulturen auseinandersetzen müssen“ (Treichel/ Furrer-Küttel 2011: 241). 3 Der offene Umgang mit der „kaum zu vermeidende[n] ethnozentrische[n] Bias des initialen Instrumentariums kulturvergleichender Studien“ (Behrens 2007: 14) darf durchaus als Pluspunkt des Modells gewertet werden. Anders z.B. Hofstede, der vorgibt, einen „neutral vantage point“ (Hofstede/ Hofstede 2005: 6) einzunehmen, diesem Anspruch aber bei weitem nicht gerecht wird, wie Behrens in ihrer 2007 veröffentlichten Studie eindrücklich zeigen kann. Zum grundsätzlichen Problem der ethnozentrischen Bias kulturvergleichender Studien vgl. auch Schmitz 2015. 4 Auch sollte nicht vergessen werden, dass sich alle kulturvergleichenden Studien nach wie vor des sehr problematischen Konstruktes einer von S t a a t s g r e n z e n d e f i n i e rt e n N a t i o n a l k u lt u r bedienen. Eine sehr detaillierte Kritik dazu am Beispiel Hofstede findet sich in Schmitz 2015. <?page no="275"?> Leserbriefe als Testfall für Kulturstandards 265 schließenden 5. Abschnitt werden zunächst die Ergebnisse der Analyse zusammengefasst und im Anschluss daran diskutiert, ob bzw. inwieweit die festgestellten Unterschiede mithilfe deutscher und italienischer KS erklärt werden können. 2 Eckdaten des deutschen und italienischen Zeitungsmarktes im Vergleich Die Anfänge des deutsch- und italienischsprachigen Pressewesens sind durchaus vergleichbar. Hier wie dort lösten im Laufe des 17. Jahrhunderts gedruckte Medien ihre geschriebenen Vorläufer allmählich ab. Die erste deutschsprachige gedruckte Wochenzeitung erschien 1605 in Straßburg (Stöber 2000: 60), das erste dokumentierte italienische Pendant 1639 in Genua (Murialdi 2014: 9). Doch der zum damaligen Zeitpunkt noch nicht ins Gewicht fallende Vorsprung der deutschsprachigen Presse sollte sich im Laufe der Zeit stetig vergrößern. Dies lässt sich u.a. mit dem Ausbleiben der Reformation, dem sehr beschränkten Einfluss der Aufklärung und der mit diesen beiden Faktoren in enger Wechselbeziehung stehenden Allmacht der katholischen Kirche erklären. Diese überlagerte und potenzierte die auch anderswo bestehende weltliche Zensur und behinderte damit zusätzlich die Entwicklung einer lebendigen - und damit für die Leserschaft attraktiven - Presselandschaft. Teil dieser ungünstigen Gemengelage ist auch die bis ins 20. Jh. bestehende vergleichsweise hohe Analphabetenrate. 5 Nach der durch Totalitarismus und den Zweiten Weltkrieg verursachten Zäsur erreichten die bundesdeutschen Tageszeitungen 1951 eine Auflage von 13 Millionen (Pürer/ Raabe 2007: 117), die italienischen 1952 nicht einmal 5 (Murialdi 2003: 109). Die letzten für beide Länder zur Verfügung stehenden Gesamtzahlen beziehen sich auf das Jahr 2005, in dem in Deutschland 21,7 Millionen Tageszeitungen (Pürer/ Raabe 2007: 407) verkauft wurden, in Italien mit knapp 5,5 Millionen 6 aber nur wenig mehr als 50 Jahre zuvor. Bedeutende Unterschiede zeigen sich auch bei den je 10 auflagenstärksten Tageszeitungen: In Deutschland ist „Bild“ die mit großem Abstand auflagen- 5 So wird für das Jahr 1871 die Alphabetisierungsrate der Deutschen bei etwa 88 % angesetzt (Stöber 2000: 278), während in Italien im selben Jahr die A n alphabetenrate bei knapp 70 % lag (Murialdi 2014: 59). 6 Die Angabe stammt aus einer pdf-Datei der FIEG (Federazione Italiana Editori Giornali), dem italienischen Pendant zum BDZV (Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger): www.fieg.it/ upload/ studi_allegati/ Tavole%20statistiche%20allegate.pdf (23.02.2016). <?page no="276"?> Marie A. Rieger 266 stärkste Tageszeitung, während sich auf Platz 6 und 9 mit „Süddeutscher Zeitung“ („SZ“) und „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ („FAZ“) zwei überregionale Zeitungen positionieren. Für den deutschen Zeitungsmarkt typisch sind aber Regionalzeitungen, von denen 7 unter die Top 10 kommen. 7 In Italien dagegen gibt es unter den 10 auflagenstärksten Zeitungen keine Regionalzeitung, dafür 6 überregionale auf den Plätzen 1 bis 3 (der rechtsliberale „Il Corriere della Sera“, die linksliberale „La Repubblica“ und „La Stampa“, Hausblatt der Familie Agnelli), 7 („L’Avvenire“, Hausblatt der italienischen Bischofskonferenz), 8 (der Mitte-rechts stehende „Il Messaggero“) und 10 („Il Giornale“, Hausblatt der Familie Berlusconi). Dazu kommt auf Platz 6 „Il Sole 24 Ore“, Hausblatt des mächtigen italienischen Industrieverbandes. Neben dem Fehlen eines Boulevardblatts, der geringeren Bedeutung der Regionalpresse und dem nicht zu übersehenden Einfluss des Großkapitals 8 und der Kurie auf die meistgelesenen Zeitungen Italiens ist der vierte auffällige Unterschied zu Deutschland, dass es 3 Sporttageszeitungen auf die Plätze 4, 5 und 9 schaffen. 9 3 Der Leserbrief Dieser Abschnitt gibt zuerst einen kurzgefassten Überblick über die Geschichte des L e s e r b ri e f s (3.1), bevor in 3.2 die Bedeutung des Begriffs im Deutschen und im Italienischen vergleichend dargestellt wird. 3.1 Kurze Geschichte des (deutschen) Leserbriefs Versteht man Leserbriefe als Möglichkeit der öffentlichen freien Meinungsäußerung, so konnte sich erst dann eine Leserbriefkultur im heutigen Sinn entwi- 7 Die Angaben beziehen sich auf 2015 und wurden den folgenden beiden Webseiten entnommen: meedia.de/ 2015/ 04/ 20/ ivw-blitz-analyse-spiegel-stern-und-focus-im-plusbild-sz-faz-und-welt-stark-im-minus/ sowie http: / / www.print.de/ Top-10/ Top-10-Produkte/ Regionale-Tageszeitungen-Auflage (23.02.2016). 8 Auch der „Messaggero“, der ähnlich wie die „SZ“ einen Grenzfall für die Einordnung als regionale oder überregionale Zeitung darstellt, gehört einem Großindustriellen, nämlich dem Baulöwen Francesco Caltagirone. 9 Die Angaben beziehen sich auf Dezember 2015 und sind einer FIEG Excel-Datei entnommen, die über den Link „quotidiana“ (‚täglich‘ [erscheinende Zeitung]) heruntergeladen werden kann, und zwar auf: www.fieg.it/ documenti_item.asp? page=1& doc_id=314 (23.02.2016). <?page no="277"?> Leserbriefe als Testfall für Kulturstandards 267 ckeln, als die Zensur allmählich gelockert wurde. 10 In Deutschland geschah dies - nicht ohne wiederholte Rückschritte - ab Ende der 1840er Jahre. Als Erfinder der Leserbriefrubrik gelten die sogenannten Moralischen Wochenschriften des 18. Jh., die auch als „Leitmedium der Aufklärung“ (Mlitz 2008: 132) bezeichnet werden, weil sie „zur Entwicklung eines selbstbewussten Bürgertums in Deutschland beitrug[en]“ (2008: 132). Kennzeichnend für die damalige Leserbriefkommunikation war, dass Leserbriefe nicht nur „Meinungsbeiträge zu vorangegangenen Beiträgen des Blattes“ (Heupel 2007: 29) enthielten, sondern auch „Fragen an den Herausgeber, Bitten, Vorschläge“ (2007: 29). Interessant ist dies deshalb, weil sich diese „Ratgeberfunktion“ (2007: 29), die im heutigen Deutschland typisch ist für die Leserbriefseiten in Publikumszeitschriften, in Italien auch bei Leserbriefen in (Tages-)Zeitungen erhalten hat. Als erste deutsche Tagezeitung, die Leserbriefe abdruckte, gilt die „Rothe Zeitung“, die erstmals am 25. November 1786 in Wolfenbüttel erschien. Endgültig etablieren konnte sich die Leserbriefrubrik in Deutschland aber erst im letzten Drittel des 19. Jh., als die sogenannten Generalanzeiger zum Massenmedium wurden und diese den Leserbrief schon bald als Instrument der Leser-Blatt-Bindung erkannten (vgl. Mlitz 2008: 195f.). Wenn für den Leserbrief in der deutschen Presse gilt, dass er im Vergleich zu anderen Medientexten „bisher nur marginale Aufmerksamkeit gefunden [hat]“ (Heupel 2007: 7), 11 dann tendiert diese Aufmerksamkeit im Hinblick auf den italienischen Leserbrief gegen Null. 12 In dem zur Geschichte des italienischen Journalismus konsultierten Band wird für den Zeitraum bis 1945 die Leserbriefkommunikation nur ein einziges Mal erwähnt, nämlich im Zusammenhang mit der 1797 gegründeten „Gazzetta nazionale genovese“, die sich u.a. durch eine „corrispondenza con i lettori“ (Murialdi 2014: 26), also einen Briefwechsel mit den Lesern, von anderen Zeitungen unterschied. Für die Zeit nach 1945 finden sich ebendort und in dem ganz der italienischen Presse nach dem Zweiten Weltkrieg gewidmeten Band desselben Autors (Murialdi 2003) ganze vier einschlägige Textstellen. Aus diesen geht hervor, dass die Leserbriefrubrik 10 Zu weiteren sozialen und medienspezifischen Voraussetzungen vgl. Mlitz 2008 (180- 188). 11 Zum Forschungsstand vgl. Heupel 2007 (58-78) und Mlitz 2008 (56-84). 12 Tatsächlich konnte weder im Rahmen des vorliegenden Beitrags noch einer ganzen Reihe von an der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bologna entstandenen Master- und Seminararbeiten einschlägige Literatur aufgespürt werden. Anfragen an italienische Redaktionen bleiben regelmäßig unbeantwortet. <?page no="278"?> Marie A. Rieger 268 noch in den 1970er Jahren als Herausstellungsmerkmal galt (vgl. Murialdi 2014: 253). 3.2 Vergleichende Begriffsbestimmung Im Deutschen ist der Ausdruck Leserbrief „wohl so alltäglich und selbsterklärend, dass die meisten Wörterbücher bzw. auch die publizistischen Fachwörterbücher ihn bis heute nicht als Lemma führen“ (Heupel 2007: 19). Dass der Begriff im Italienischen weit weniger eingebürgert ist, zeigt sich u.a. daran, dass in deutsch-italienischen Wörterbüchern Leserbrief unterschiedlich als lettera al direttore (‚Brief an den Herausgeber‘ 13 ), lettera all’editore (‚Brief an den Verleger‘ 14 ) oder lettera di un lettore (‚Brief eines Lesers‘ 15 ) übersetzt wird, oder aber daran, dass der deutsche Begriff zwar zur Übersetzung lettera di un lettore führt, diese Eingabe aber umgekehrt nicht zu Leserbrief 16 . Am gebräuchlichsten ist wohl die Bezeichnung lettera al direttore 17 , wobei der Plural lettere al direttore auch zur Bezeichnung der Leserbriefrubrik verwendet wird: „lettere al direttore, sezione di un quotidiano o di un periodico che pubblica lettere di lettori […] (e a cui spesso viene data risposta nella stessa sezione)“ (‚Leserbriefe, Rubrik einer Tageszeitung oder Zeitschrift, die Briefe von Lesern […] veröffentlicht (die häufig in derselben Rubrik beantwortet werden))‘ 18 (Treccani: online). Aus diesem Zitat lässt sich eine gemeinsame Minimaldefinition der Textsorte, aber auch ein grundlegender Unterschied ableiten: Mit den Begriffen Leserbrief/ lettera al direttore werden Texte bezeichnet, die Leser und Leserinnen an eine Zeitung oder Zeitschrift schicken und die zur Veröffentlichung in der entsprechenden Rubrik gedacht sind. Im Fall von italienischen Leserbriefen besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dass sie auch beantwortet werden. 13 Vergleiche Pons: https: / / it.pons.com/ traduzione? q=Leserbrief&l=deit&in=ac_de&lf=de (25.02.2016). 14 Vergleiche Bab.la: http: / / it.bab.la/ dizionario/ tedesco-italiano/ leserbrief (25.02.2016). 15 Vergleiche Corriere: dizionari.corriere.it/ dizionario_tedesco/ Tedesco/ L/ Leserbrief.s html# und Linguee: https: / / www.linguee.de/ deutsch-italienisch/ uebersetzung/ leser brief.html (25.02.2016). 16 Vergleiche Langenscheidt: http: / / de.langenscheidt.com/ italienisch-deutsch/ (25.02.2016). Auch gibt es keinen entsprechenden italienischen Wikipedia-Eintrag. 17 Der Suchbegriff lettera al direttore ergibt auf google.it etwa 129.000, lettera di un lettore 44.000 und lettera all’editore (unter Ausschluss eines gleichlautenden Buchtitels) 6.400 Ergebnisse. 18 Alle Übersetzungen: M.A.R. <?page no="279"?> Leserbriefe als Testfall für Kulturstandards 269 4 Die Untersuchung Wie in der Einleitung dargelegt, lautet der zweite Teil der Arbeitshypothese, dass Unterschiede zwischen deutschen und italienischen Leserbriefen bestehen, die mithilfe des KS-Modells erklärt werden können. In diesem Abschnitt werden deshalb zunächst die deutschen und italienischen KS beschrieben, die Auswirkungen auf die Kommunikation im öffentlichen Raum und damit auch auf die Textsorte Leserbrief haben könnten (4.1). In Abschnitt 4.2 wird das Analyseraster vorgestellt, das ausgehend von den kommunikationsrelevanten KS und unter Einbeziehung der Arbeiten von Heupel (2007) und Drewnowska- Vargáné (2001) erarbeitet wurde. In Abschnitt 4.3 wird das Leserbrief-Korpus präsentiert. 4.1 Deutsche und italienische kommunikationsrelevante Kulturstandards nach Thomas 19 Deutscher Leitstandard nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch für die Kommunikation im öffentlichen Raum ist die S a c h o ri enti e r u n g , was bedeutet, dass „Sachthemen Priorität vor persönlichen Angelegenheiten und der Schilderung persönlicher Lebensumstände [haben]“ (Schroll-Machl 2003a: 54) ebenso wie Rationalität und Objektivität vor Emotionalität: „Man zeigt sich zielorientiert und argumentiert mit Fakten“ (Schroll-Machl 2003b: 74). Um der Sache willen können hierarchie- oder rollenbedingte Unterschiede in den Hintergrund treten (2003b: 74). Eine Folge der Sachorientierung ist schließlich auch die Vorliebe für einen dir e kt e n K o m m u nik a ti o n s s til : „Deutsche […] formulieren das, was ihnen wichtig ist, mit Worten und benennen die Sachverhalte dabei ungeschminkt und offen“ (2003b: 81), selbst wenn es sich dabei um Kritik handelt. Denn diese zielt ja auf die Sache und nicht auf die Person. „Daher erscheint auch eine betont positive Einleitung zu einem Kritikgespräch eher heuchlerisch als nützlich“ (2003b: 82). Zentraler italienischer KS ist - auch im öffentlichen Raum - die B e zi e h u n g s o ri e nti e r u n g . Diese beinhaltet zum einen eine weniger starke Trennung zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre, in der sowohl private Themen als auch Emotionen zugelassen sind, zum anderen aber auch, dass man die Rolle und soziale Stellung des Gegenübers respektiert: „Kompetenzen 19 In diesem Abschnitt werden Merkmale der deutschen und italienischen Gesellschaft genannt, die ihnen vom KS-Modell zugeschrieben werden. Auf den distanzierenden Konjunktiv wird zugunsten der besseren Lesbarkeit verzichtet. <?page no="280"?> Marie A. Rieger 270 und Befugnisse […] sind klar aufgeteilt und jeder ist sich seiner Rolle bewusst und weiß, dass er seinen Bereich nicht zu überschreiten hat“ (Neudecker/ Siegl/ Thomas 2007: 125). Die klare Rollenverteilung gilt auch für die nach wie vor traditionell geprägte Familie, in der der Vater das Geld verdient, die Mutter aber für Haushalt und Kinder zuständig ist (2007: 44f.). 20 Eine im vorliegenden Kontext besonders wichtige Folge des KS ist ein in dir e kt e r K o m m u n ik a t io n s s til . Direkte Kritik wird eher vermieden, „um eine positive Beziehung zu seinem Gegenüber zu wahren und diese nicht zu gefährden“ (2007: 70). An dieser Stelle geht die Beziehungsorientierung in den KS der b e ll a fi g ur a 21 ü b e r , bei der es um „Selbstdarstellung und gegenseitige Wertschätzung“ (2007: 147) geht, was für den gesellschaftlichen Umgang bedeutet, dass man sehr darum bemüht ist, „den anderen nicht bloßzustellen“ (2007: 148), man vermeidet also direkte Angriffe und macht kritische Anmerkungen meist nur in abgeschwächter Form. 4.2 Analysekriterien Geht man von den eben beschriebenen kommunikationsrelevanten Aspekten der jeweiligen KS aus, so sollten d e ut s c h e Leserbriefe (LB) tendenziell folgende Merkmale besitzen: Die Texte äußern sich zu einem Thema von öffentlichem Interesse (Trennung von privater und öffentlicher Sphäre); sie argumentieren mit objektiven Fakten (Sachorientierung); sie argumentieren auf Augenhöhe mit den Journalisten (Sachorientierung nivelliert Rollenunterschiede); sie kommen schnell zum Punkt (direkter Kommunikationsstil); Kritik wird direkt und offen geäußert (konfrontativer Kommunikationsstil). It a li e ni s c h e LB sollten dagegen tendenziell folgende Merkmale besitzen: Die Texte können auch Themen ansprechen, die der Privatsphäre des Verfassers entspringen, und 20 Dass sich die traditionellen Rollenbilder in Italien nur langsam auflösen, zeigt auch der neueste OECD Bericht: So beträgt der Unterschied zwischen berufstätigen Frauen (48,2 %) und Männern (69,2 %) mehr als 20 %. Italien gehört außerdem zu den Ländern mit der weltweit größten Ungleichheit bei unbezahlter Hausarbeit: tägliche 326 Minuten der Frauen stehen 103 Minuten der Männer gegenüber, während in Deutschland Frauen mit 269 Minuten ‚nur‘ etwa 100 Minuten mehr unbezahlt arbeiten als Männer mit durchschnittlich 164 Minuten (alle Angaben: OECD 2015: 77). In Deutschland beträgt der Unterschied zwischen berufstätigen Frauen (68,8 %) und Männern (77,7 %) weniger als 10 % (Bundesagentur für Arbeit 2015: 6). 21 Wörtlich bedeutet bella figura ‚schöne Figur‘ und heißt so viel wie ‚eine gute Figur abgeben‘. Von den Autoren des Italien-Bandes wird die stehende Wendung mit „Identitätsbewusstsein“ übersetzt (Neudecker/ Siegl/ Thomas 2007: 6). <?page no="281"?> Leserbriefe als Testfall für Kulturstandards 271 es kann emotional argumentiert werden (private und öffentliche Sphäre gehen ineinander über); sie sind dialogorientiert (Primat der Beziehungsorientierung); Journalisten werden als Experten betrachtet (ausgeprägtes Rollenverständnis); Kritik wird indirekt geäußert (Gebot der Gesichtswahrung). Neben diesen textgestaltungsrelevanten Merkmalen kann außerdem erwartet werden, dass deutlich mehr Männer als Frauen LB schreiben (traditionelle Geschlechterrollen). Drewnowska-Vargáné konnte in ihrer Untersuchung kulturspezifische Unterschiede v.a. im Hinblick auf das K o h ä r e n z m a n a g e m e nt (Verweis auf einen Bezugstext), die f e s t e n B ri e fk o m p o n e n t e n (Überschriften) sowie auf die H e r s t e ll u n g e in e s B e z u g s z wi s c h e n A b s e n d e r u n d A d r e s s a t/ R e zi p i e nt (Gruß- und Anredeformen) feststellen (2001: 92f.). Die Analysekategorien von Drewnowska-Vargáné finden sich - anders benannt - auch in der Untersuchung von Heupel (2007). Aufschlussreich ist, dass sich einige der intr a kulturell orientierten Kategorien von Heupel zumindest für einen int e r kulturellen Vergleich, an dem polnische, ungarische und italienische LB beteiligt sind, nicht eignen; darunter alle, in denen der Ausgangsartikel eine Rolle spielt (dazu mehr in Abschnitt 5). Hilfreich für die vorliegende Untersuchung sind dagegen die Kategorien Int e nti o n (Heupel 2007: 158f.), D o min a nt e E i n s t e ll u n g (2007: 164f.) und S til m e r k m a l e (2007: 170f.), wobei erstere selektiv genutzt wurde, aus der zweiten die leicht veränderte Kategorie G r u n dt e n o r (zu den Veränderungen mehr in Abschnitt 5) entstand und letztere den Anstoß für die neue Kategorie T e xt a n f a n g gab, denn die Analyse im Hinblick auf die 15 Stilmerkmale von Heupel hatte sich als unergiebig erwiesen, während gleichzeitig der Textanfang in den Fokus rückte. Auf der Grundlage dieser Vorüberlegungen und nach Auswertung einer Vorstudie mit einer kleinen Zahl von Leserbriefen entstand das folgende Analyseraster: 1. F o r m a l e E i g e n s c h a ft e n der Rubrik wie Name, Adressat und Layout. 2. F e s t e K o m p o n e n t e n der LB wie Überschriften (Haupt- und ggf. Zweitüberschrift) und Angaben zum Absender (aus denen sich u.a. der Anteil der weiblichen Absender ersehen lässt). 3. D o min a nt e Int e nti o n (Kritik, Lob, persönliche Erfahrungen). 4. G r u n dt e n o r (argumentativ, emotional-persönlich, explikativ-berichtend). 5. T e xt a n f a n g (sachorientierte Aussage, Bezug auf Referenztext, wertende Äußerung, Briefanrede). <?page no="282"?> Marie A. Rieger 272 4.3 Korpus Für diesen Beitrag wurden LB aus den beiden Nachrichtenmagazinen „Der Spiegel“ und „L’Espresso“ sowie aus den beiden Regionalzeitungen „Augsburger Allgemeine“ („AZ“ 22 ) und dem in Genua erscheinenden „Il Secolo IXX“ („Secolo“ 23 ) ausgewertet. Bei „Der Spiegel“ (Gründungsjahr: 1947) und „L’Espresso“ (Gründungsjahr: 1955) handelt es sich um zwei links-liberale Zeitschriften, die in beiden Ländern „den Typ der klassischen Nachrichtenmagazine“ (Pürer/ Raabe 2007: 165) repräsentieren und die mit Rudolf Augstein und Eugenio Scalfari deutsche und italienische Journalismusgeschichte geschrieben haben. Doch wenn „Der Spiegel“ mit einer verkauften Auflage von 822.761 Exemplaren (2. Quartal 2015; Meedia 2015: online) als „eines der wichtigsten publizistischen Leitmedien“ (Pürer/ Raabe 2007: 167) gilt, so fällt „L’Espresso“ mit 151.632 verkauften Exemplaren weit hinter die beiden auflagenstärksten Tageszeitungen „Corriere della Sera“ (verkaufte Auflage: 356.760) und „La Repubblica“ (288.094 24 ) zurück. Die beiden untersuchten Tageszeitungen sind in ihrer Region (bayerisches Schwaben und Ligurien) die einzigen selbständig erscheinenden Lokalzeitungen und beide tendieren in ihrer politischen Ausrichtung eher zu Mitte-Rechts. Damit vertreten sie im Vergleich zu den beiden linksliberalen Nachrichtenmagazinen nicht nur eine andere Zeitungsform, sondern auch eine andere politische Orientierung und damit eine zumindest in Teilen unterschiedliche Leserschaft. Von den beiden Tageszeitungen wurden je 15 konsekutive Ausgaben aus dem Zeitraum 28.5. bis 15.6.2015 und von den Nachrichtenmagazinen je 5 konsekutive Ausgaben aus dem Zeitraum 28.5. bis 27.6.2015 ausgewertet. Trotz der identischen Zahl an deutschen und italienischen Ausgaben ergab sich ein erster großer Unterschied in der Zahl der veröffentlichten LB, denn die insgesamt 331 LB verteilen sich sehr ungleichmäßig: 119 LB in der „AZ“ stehen 51 im „Secolo“ 22 Im Augsburger Raum ist die Zeitung als „AZ“ bekannt, was sich aufgrund des ursprünglichen Titels „Augsburger Allgemeine Zeitung“ eingebürgert hat. 23 Wörtlich bedeutet der Titel ‚Das 19. Jahrhundert‘. Der in Genua erscheinende „Il Secolo“ - wie die Zeitung in ihrem Kernverbreitungsgebiet genannt wird - muss unterschieden werden von einer Zeitung mit dem Namen „Il Secolo d’Italia“, denn bei letzterer handelt es sich um das Presseorgan der Partei Alleanza Nazionale, Nachfolgerin der 1946 [sic] gegründeten faschistischen Partei Movimento Sociale Italiano. 24 Die Angaben beziehen sich auf Dezember 2015 und sind FIEG Excel-Dateien entnommen, die über den Link „quotidiana“ (‚täglich‘ [erscheinende Zeitung]) und „settimanale“ ((wöchentlich‘ [erscheinende Zeitung/ Zeitschrift]) heruntergeladen werden können: http: / / www.fieg.it/ documenti_item.asp? page=1&doc_id=314 (23.02.2016). <?page no="283"?> Leserbriefe als Testfall für Kulturstandards 273 gegenüber. Noch frappierender ist die Differenz bei den Nachrichtenmagazinen: 134 im „Spiegel“ (Ausgaben Nr. 23-27) gegenüber 27 im „Espresso“ (Nr. 21- 25). Pro Ausgabe wurden in der „AZ“ 6 bis 10, im „Secolo“ 3 bis 4, im „Spiegel“ 22 bis 31 und im „Espresso“ 4 bis 7 Briefe veröffentlicht. Bei der Datenbasis handelt es sich also um die in den jeweiligen Medien a b g e d r u c kt e n Texte. Zwar wird auch in diesem Beitrag davon ausgegangen, dass diese in aller Regel eine gekürzte und mehr oder weniger stark bearbeitete Version der ursprünglichen Briefe darstellen, 25 doch stehen Art und Ausmaß der Bearbeitung außerhalb des hier vorliegenden Forschungsinteresses (vgl. dazu Heupel (2007: Kap. 5), Mlitz (2008: Kap. 15) und Burger/ Luginbühl (2014: 100-102). 5 Ergebnisse Im Folgenden werden zunächst die Ergebnisse der Analyse vorgestellt (Abschnitte 5.1 bis 5.5). Im Anschluss daran wird in Abschnitt 5.6 ein möglicher Zusammenhang zwischen den festgestellten Unterschieden und den in 4.1 beschriebenen KS diskutiert. 5.1 Formale Eigenschaften der Rubrik Während die Namen der Leserbriefr u b rik in der „AZ“ (Leserbriefe), im „Spiegel“ (Briefe) und im „Espresso“ (Lettere ‚Briefe‘) nahezu identisch sind, heißt sie im „Secolo“ Posta e risposta a cura di Giuliano Galletta ‚Post und Antwort redigiert von G. G.‘, was auf einen der - bereits erwähnten - grundlegenden Unterschiede hinweist, nämlich auf die für italienische Leserbriefautoren bestehende Möglichkeit, eine Antwort zu erhalten. Beim „Espresso“ kann man sogar wählen, ob man seinen Brief an die allgemeine Adresse schickt oder gezielt an eine Redakteurin, die mit ihrer Sonderrubrik „Risponde Stefania Rossini“ (‚Es antwortet Stefania Rossini‘) stets den Leserbriefteil eröffnet und in der Regel eine Leserzuschrift beantwortet. Neben dem Rubriknamen ist jeweils ein eindeutig als Blickfang wirkendes Bild des/ der Zuständigen platziert: Die beiden italienischen Leserbriefrubriken haben also ein Gesicht, die Leser und Leserinnen wis- 25 Abgesehen von expliziten Hinweisen der (deutschen) Redaktionen im Hinblick auf mögliche Kürzungen, kann aus der Tatsache, dass die abgedruckten Texte in der Regel fehlerfrei sind, auf eine darüber hinausgehende redaktionelle Bearbeitung geschlossen werden. Ich danke Frau Prof. Adamzik für diesen wertvollen Hinweis. <?page no="284"?> Marie A. Rieger 274 sen, mit wem sie es zu tun haben, und können sich mit ihren Briefen persönlich an sie bzw. ihn wenden. Auch die Leserbriefseite des „Spiegel“ wird mit einem Bild eröffnet, allerdings ganz sachbezogen mit dem Titelbild der Ausgabe, aus der die Bezugstexte stammen. 5.2 Feste Komponenten der Leserbriefe Allen LB ist eine Hauptüberschrift zugeordnet, mehrere LB zum selben Thema stehen unter derselben Überschrift, was auch in den sehr seltenen Fällen gilt, in denen in den untersuchten italienischen Medien zwei LB zum selben Thema abgedruckt werden. Dabei gibt die Überschrift im Fall der italienischen LB häufiger auch eine thematische Orientierung, während sie bei deutschen LB eher ein Meinungsbarometer darstellt: (1) Nozze gay? La parola ai cardinali (‚Homo-Ehe? Das (letzte) Wort haben die Kardinäle’) (Espresso 11.06.2015: 106). (2) Messe, preghiere e 185 Euro per “guarire” dall’omosessualità (‚Messen, Gebete und 185 Euro, um von der Homosexualität „geheilt“ zu werden’) (Secolo 05.06.2015: 29). (3) Anführungszeichen bitte! (AZ 28.05.2015: 2). (4) Darf man nichts doof finden? (Spiegel 30.05. 2015: 6). So kann man aus den beiden italienischen Überschriften eindeutig auf das Thema schließen, während man bei den deutschen LB weitere Informationen benötigt, um erkennen zu können, dass es in Beispiel (3) um die gleichgeschlechtliche Ehe und in (4) um den wachsenden Einfluss evangelikaler Gemeinden in Deutschland geht. Dies hängt auch mit dem zweiten grundlegenden Unterschied der beiden Leserbriefkulturen zusammen, nämlich der Tatsache, dass sich deutsche LB auf einen vorher veröffentlichten Text beziehen. Diese Referenz wird von der Redaktion ausnahmslos in Form einer Zweitüberschrift mit Angabe der Ausgabe („Spiegel“) bzw. des Erscheinungstages („AZ“) und der Artikelüberschrift hergestellt. In den untersuchten italienischen Rubriken fehlt diese Art der Referenz völlig. Da zudem auch im LB selbst der Bezug nur selten genannt wird, bleibt in vielen Fällen unklar, ob sich der Leserbriefschreiber überhaupt auf einen Referenztext bezieht. Das Fehlen der Referenz hat eine sehr augenfällige Konsequenz: Die italienischen LB sind im Allgemeinen länger als die deut- <?page no="285"?> Leserbriefe als Testfall für Kulturstandards 275 schen, 26 denn die thematische Kontextualisierung muss im LB selbst geleistet werden. „AZ“ und „Spiegel“ setzen unter die LB stets den Namen und den Ort, im „Secolo“ und „Espresso“ wird außerdem vermerkt, wann es sich um eine E-Mail handelt, wobei dieser Hinweis stets anstelle der sonst üblichen Ortsangabe steht. Im Untersuchungszeitraum waren etwas mehr als 25 % der Absender in der „AZ“ und im „Espresso“ Frauen, im „Spiegel“ dagegen nur 12,7 % und im „Secolo“ nur knapp 6 %. Damit hat sich die Erwartung, es gäbe d e utli c h mehr deutsche als italienische Leserbriefschreiberinnen, nicht erfüllt. 5.3 Dominante Intention Sieht man sich die d o mina nt e 27 Intention der LB an, so gibt es für den Untersuchungszeitraum im Hinblick auf die Gesamtzahl kriti s c h e r LB keine eindeutigen Ergebnisse: Knapp 72 % a ll e r LB (n=331) äußert sich kritisch, wobei nur die LB der „AZ“ mit 87,4 % deutlich von diesem Mittelwert abweichen. Da im Erhebungszeitraum die die Gemüter erhitzende und mehrheitlich abgelehnte gleichgeschlechtliche Ehe eines der Hauptthemen war, kann die Repräsentativität des Prozentsatzes angezweifelt werden. Den zweiten Ausschlag, allerdings nach unten, stellt „Der Spiegel“ mit knapp 60 % kritischer Zuschriften dar. Der „Secolo“ mit 66,7 % und der „Espresso“ mit 74,0 % positionieren sich dagegen um den Mittelwert herum. Deutlicher ist der Unterschied im Falle von Kritik, die sich an die Redaktion, den einzelnen Journalisten oder einen anderen LB-Schreiber richtet: Während 20,6 % der deutschen LB zu dieser Gruppe gehören, sind es bei den italienischen insgesamt nur 7,7 %, wobei sich unter den 51 LB des „Secolo“ nur eine einzige kritische Stellungnahme - einem anderen LB-Schreiber gegenüber - findet (s.u. Beispiel (8)). Unterschiedlich ist auch das Wi e der Kritik, die in deutschen LB tendenziell dir e kt e r geäußert wird. Diese größere Direktheit zeigt sich z.B. durch eine unverblümte Wortwahl (5) oder dadurch, dass LB unter Verzicht auf jegliche 26 Auch wenn keine objektive Messung der Länge durchgeführt wurde, so lässt sich dieser Unterschied allein daran erkennen, dass die 5 dafür reservierten Spalten im Spiegel immer mehr als 20 LB enthalten, im Espresso die reservierten 4 Spalten dagegen maximal 7. 27 Im Allgemeinen verfolgen LB mehrere Ziele, bei der Analyse wurde versucht, das jeweils wichtigste Anliegen zu identifizieren. <?page no="286"?> Marie A. Rieger 276 Art von gesichtswahrender Abschwächung direkt mit der Kritik beginnen (können) wie in Beispiel (6): (5) Eitel, schamlos, raffgierig und ehrlos! (Spiegel 20.06.2015: 144) (6) Ich weiß nicht, wie die Leserbriefschreiberin auf diese Zahlen kommt. (AZ 28.05.2015: 2) Die ähnlich gelagerten italienischen Beispiele - Empörung über das Verhalten von Politikern bzw. Kritik an einem anderen LB-Schreiber - zeichnen sich dagegen durch eine viel gemäßigtere Wortwahl aus bzw. nennen die im Fokus der Kritik stehenden Personen erst nach einer erklärenden Einleitung am Ende des Satzes: (7) Dato che i partiti sono soggetti a regole di impresentabilità dei candidati alle elezioni, è da considerarsi arrogante un candidato, come ad esempio De Luca. (‚Da die Nichtkandidierbarkeit bei Wahlen gesetzlich geregelt ist, kann die Aufstellung eines Kandidaten wie De Luca nur als arrogant bezeichnet werden.‘) (Espresso 18.06.2015: 106; [Hervorhebung M.R.]) 28 (8) Da cittadino, prima che da attivista del M5S (nessuno è nato “grillino”; lo siamo diventati per civica disperazione), leggo sempre con incredulità la ricerca maniacale dei “difettucci” del Movimento, così come fatto dal lettore Pinuccio Chieppa. (‚Nicht so sehr als Aktivist der M5S 29 (keiner wurde als Anhänger von Grillo geboren; wir wurden dazu aus Verzweiflung über den Staat), sondern in erster Linie als Bürger lese ich immer voller Ungläubigkeit von der manischen Suche nach den „Fehlerchen“ der Bewegung, so wie das der Leser Pinuccio Chieppa gemacht hat.‘) (Secolo 10.06.2015: 29 [Hervorhebung M.R.]) Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Lob eher selten die dominante Intention darstellt, so in der „AZ“ in nur 5,9 % und im „Spiegel“ in 16,4 % 28 Es handelt sich hier um eine (sehr) freie Übersetzung der Verfasserin. In Fällen, wie Zugehörigkeit zur Mafia oder anderen schweren kriminellen Vergehen, muss die betreffende Person nach dem Gesetz von der Kandidatur ausgeschlossen werden, der entsprechende Begriff wird in Südtirol mit Nichtkandidierbarkeit wiedergegeben. Der hier genannte zur Zeit des LB in erster Instanz wegen Amtsmissbrauch und Unterschlagung im Amt verurteilte Politiker De Luca ist im Februar 2016 in zweiter Instanz freigesprochen worden. 29 Der Movimento 5 Stelle (Fünf-Sterne-Bewegung) ist eine von dem Komiker Beppe Grillo ins Leben gerufene populistische Graswurzelbewegung, die seit 2009 auf nationaler Ebene agiert und seit 2013 in beiden italienischen Kammern vertreten ist. Seit 2014 ist die dezidiert anti-europäische Bewegung auch im europäischen Parlament vertreten. <?page no="287"?> Leserbriefe als Testfall für Kulturstandards 277 der LB. In italienischen LB scheint Lob so gut wie nie den Grund für einen LB darzustellen, denn im gesamten italienischen Korpus (n=78) gibt es nur ein einziges Beispiel: (9) La capacità di esprimere in parole semplici e comprensibili questioni complesse e vitali è una dote ammirevole. Ne dà un bell’esempio Filippo La Porta (“l’Espresso” n. 19) […]. (‚Die Fähigkeit, komplexe und lebenswichtige Fragen mit einfachen Worten verständlich darzustellen, ist eine bewundernswerte Gabe. Davon gibt Filippo La Porta (Espresso Nr. 19) ein schönes Beispiel […].‘) (Espresso 28.05.2015: 102) Deutliche Unterschiede gibt es auch im Hinblick auf die Darstellung persönlicher Erlebnisse. Während dies die dominante Intention in 19,6 % der LB im „Secolo“ und knapp 26 % im „Espresso“ darstellt, kommt dies im „Spiegel“ bei nur 5,2 % der LB vor und in der „AZ“ nur ein einziges Mal (0,8 %). 5.4 Grundtenor Völlig anders als erwartet fiel das Ergebnis im Hinblick auf den G r u n dt e n o r der Briefe aus. Als im Grundtenor argumentativ wird ein LB dann bewertet, wenn zur Unterstützung der im LB geäußerten Meinung Argumente herangezogen werden, die einer faktischen Überprüfung vermutlich Stand halten würden (Beispiel (10)). Als emotional-persönlich wird ein LB dagegen dann bewertet, wenn es sich um einfache Meinungsäußerungen handelt oder die angeführten Argumente kaum überprüfbar sind (11): (10) Die Summe aus Steuerquote und Finanzierungssaldo war im Jahr 2014 eine der niedrigsten seit 1970. (Spiegel 06.06.2015: 10) (11) Die private Altersvorsorge wird vom Steuerstaat zur brutalen Abzocke degradiert. Sie ist die Stellschraube der finanziellen Repression schlechthin. (Spiegel 06.06.2015: 10) Die beiden Tageszeitungen verzeichnen einen ganz ähnlichen Anteil an LB mit a r g u m e nt a ti v e m Grundtenor („AZ“: 43,7 %; „Secolo“: 41,2 %), während „Der Spiegel“ überraschenderweise mit 39,6 % den niedrigsten und der „Espresso“ mit 48,1 % den höchsten Wert erreicht. Den höchsten Prozentsatz an eher e m o ti o n a l p e r s ö nli c h argumentierenden LB gibt es - auch dies entgegen den Erwartungen - bei „AZ“ und „Spiegel“ (je etwa 55 %), gefolgt vom „Espresso“ mit 44,4 % und „Secolo“ mit nur 33,3 %. <?page no="288"?> Marie A. Rieger 278 Eine spezifisch italienische Kategorie stellt der von mir als explikativ-berichtend bezeichnete Grundtenor dar. Dieser ergibt sich notwendigerweise aus zwei kulturspezifischen Merkmalen: Da sich italienische LB zwar oft auf öffentlich diskutierte Themen, aber nur in Ausnahmefällen auf einen spezifischen Ausgangstext beziehen, muss die thematische Einbettung im Text selbst geleistet werden, bevor der Leserbriefschreiber seine Meinung äußern kann: So wurde im „Secolo“ vom 5. Juni 2015 (S. 29) ein 280 Wörter umfassender Leserbrief abgedruckt, in dem die ersten 225 Wörter dazu dienen, die Ereignisse in Zusammenhang mit einem im ganzen Land Aufsehen erregenden Fall von Fahrerflucht zusammenzufassen (ein minderjähriger Roma hatte eine philippinische Putzfrau angefahren und tödlich verletzt), bevor mit den letzten 55 Wörtern dazu ermahnt wird, Fälle wie diesen nicht als Vorwand für fremdenfeindliche Reaktionen aller Art zu missbrauchen. Außerdem steht es dem LB-Schreiber auch offen, sich mit einem ihm persönlich wichtigen Thema an die LB-Rubrik zu wenden. Dabei geht es oft um Ereignisse, die dem Leserbriefschreiber persönlich passiert sind und von denen er berichtet: So wendet sich eine Frau an die LB-Redakteurin des „Espresso“, um von einer persönlich erlebten und einer im Fernsehen gezeigten Beerdigung zu berichten, wo in beiden Fällen der Sarg beim Verlassen der Kirche von dröhnendem Applaus empfangen wurde. Dabei dienen 146 Wörter der Beschreibung der beiden Ereignisse, erst mit den letzten 20 macht die Verfasserin deutlich, dass sie den traditionell bedeutenden Persönlichkeiten vorbehaltenen Applaus im Falle von einfachen Menschen für unangebracht hält (Espresso 04.06.2015: 96). Explikativ-berichtende A nt e il e finden sich aus den eben genannten Gründen in so gut wie allen italienischen LB, was auf deutsche Leser leicht den Eindruck der Langatmigkeit macht; als d o min a nt e r Grundtenor findet er sich in 23,5 % der LB des „Secolo“ und in 7,4 % der LB des „Espresso“. 5.5 Textanfang Auch die Analyse des Textanfangs ergibt keine eindeutigen Ergebnisse. So ist mit 20,2 % in der „AZ“, 37,3 % im „Secolo“, 29,1 % im „Spiegel“ und 14,8 % im „Espresso“ der Anteil der sachorientierten Einstiegssätze weder kulturnoch medienspezifisch: (12) Die EU zerstört mit ihrer Wirtschaftspolitik, der Überproduktion von Lebensmitteln und den [sic] Export von landwirtschaftlichen Produkten jegliche Grundlage der afrikanischen Bauern. (AZ 01.06.2015: 2) <?page no="289"?> Leserbriefe als Testfall für Kulturstandards 279 (13) Dopo la decisione della Corte Costituzionale sulla indicizzazione sulle pensioni, il Governo prepara un bonus per agosto. (‚Nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts über die Angleichung der Renten bereitet die Regierung eine Bonuszahlung für August vor.‘) (Secolo 01.06.2015: 24) Spiegelbildlich unspezifisch ist der Anteil an wertenden Anfangssätzen: „AZ“ 48,7 %, „Secolo“ 35,3 %, „Der Spiegel“ 51,5 % und „Espresso“ 59,3 %: (14) Ich kann das mit dem Chlorhuhn nicht mehr hören. (Spiegel 13.6.2015: 8). (15) Mi dispiace che anche „l’Espresso“ abbia raccolto voci e insinuazioni per altro già smentite da me e da altri. (‚Ich finde es schade, dass auch der „Espresso“ Gerüchte und Unterstellungen zusammengetragen hat, die im Übrigen von mir und anderen bereits dementiert wurden.‘) (Espresso 25.06.2015: 102). Interessant ist, dass immerhin knapp 11 % der LB in der „AZ“ und 9 % im „Spiegel“ mit einem expliziten Bezug auf den Ausgangstext beginnen, obwohl der Bezug bereits redaktionell durch die Redaktion hergestellt wurde. Im italienischen Korpus (n=78) gibt es dafür nur einen einzigen Beleg im „Espresso“. Nur in den untersuchten italienischen Medien finden sich LB, die mit einer Briefanrede beginnen. Üblich ist dies bei den LB, die für eine Beantwortung ausgesucht wurden. In beiden Medien macht das etwa 23 % der LB aus. 5.6 Kulturspezifische Textsortenmerkmale und KS Die dargestellten Unterschiede bestätigen Hypothese 1, nämlich dass es zwischen deutschen und italienischen Leserbriefen ähnliche Unterschiede gibt, wie dies von Drewnowska-Vargáné (2001) für deutsche LB auf der einen und polnische und ungarische auf der anderen Seite herausgearbeitet wurde, denn italienische LB unterscheiden sich von deutschen grundsätzlich durch folgende Merkmale: a. LB müssen sich nicht auf einen im selben Medium veröffentlichten Ausgangstext beziehen. b. Es gibt keine redaktionelle Zweitüberschrift, auch nicht in Fällen, in denen sich der LB auf einen Ausgangstext bezieht. c. Eigenthemen sind erwünscht. d. Die Briefanrede wird mitunter abgedruckt. Hypothese 2, nämlich dass kommunikationsrelevante KS Aufschluss über Unterschiede in der Leserbriefkommunikation geben könnten, hat sich nur zum Teil bestätigt. Zwar kann der Befund, dass in den deutschen Medien der Adres- <?page no="290"?> Marie A. Rieger 280 sat keine Rolle spielt, es immer einen intertextuellen Bezug gibt und etwas häufiger an den teilweise namentlich genannten Verfassern der Ausgangstexte Kritik geübt wird, als Indiz für das Primat der Sachorientierung gewertet werden. Gleichzeitig musste aber auch festgestellt werden, dass der Grundtenor im deutschen Korpus weniger häufig argumentativ als emotional-persönlich ist. Der persönliche Ansprechpartner, von dem es in den untersuchten Medien sogar ein Bild gibt, die Möglichkeit einer Antwort sowie die größere Freiheit bei der Themenwahl, diese Merkmale scheinen in der italienischen Leserbriefkultur tatsächlich den (einzelnen) Menschen mehr in den Mittelpunkt zu stellen und damit auf das Primat der Beziehungsorientierung zu verweisen, ebenso wie die Möglichkeit der Eigenthemen auf eine weniger strikte Trennung zwischen privater und öffentlicher Sphäre. Gleichzeitig waren italienische LB häufiger argumentativ und damit weniger emotional als deutsche LB und der Anteil der weiblichen Leserbriefschreiber lag - bei annähernd gleichen 25 % in „AZ“ und „Espresso“ - sowohl im „Spiegel“ als auch im „Secolo“ deutlich unter dem Korpus-Durchschnitt von 17 %. 30 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass deutsche LB durch eine an öffentlich relevanten Themen orientierte Intertextualität gekennzeichnet sind, während italienische LB durch das Vorhandensein eines persönlichen Ansprechpartners, die teilweise abgedruckte Briefanrede und die Möglichkeit der Antwort mehr ihren ursprünglichen Briefcharakter und die Leserbriefrubrik teilweise ihre ursprüngliche Ratgeberfunktion beibehalten haben. Italienische LB sind also deutlich dialogorientierter als deutsche. Die z.T. noch vorhandene Ratgeberfunktion weist auch darauf hin, dass die für die Rubrik verantwortliche Person als Experte wahrgenommen wird. Darauf haben mich nicht nur meine italienischen Studierenden hingewiesen, sondern davon zeugt auch die Tatsache, dass die Leserbriefrubrik in einigen Fällen vom Herausgeber und/ oder einem anderen prominenten Journalisten betreut wird. 31 In Anbetracht der aktuellen Lage (1. Jahreshälfte 2016) ist es allerdings notwendig, ausdrücklich auf die begrenzte Reichweite der Untersuchung hinzuweisen und zwar nicht nur wegen der kleinen Zahl an Medien und des begrenzten Untersuchungszeitraums. Wie im Korpus von Heupel aus dem Jahr 2005 (164f.) gab es auch in meinem Korpus nur einen sehr geringen Anteil an pole- 30 Das entspricht in etwa dem von Heupel (2007) errechneten Durchschnitt von 16 % in einer etwa doppelt so großen Stichprobe aus sieben überregionalen Tages- und Wochenzeitungen. 31 So übernimmt in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre der nicht unumstrittene, aber herausragende Indro Montanelli (1909-2001) bis zu seinem Tod die Leserbriefseite des „Corriere della Sera“ (Murialdi 2003: 285). <?page no="291"?> Leserbriefe als Testfall für Kulturstandards 281 mischen und überhaupt kein Beispiel für beleidigende LB. Eine Untersuchung aktueller (deutscher) LB würde dagegen vermutlich etwas anders ausfallen. Die für die Zeit um 1848 und „für die Gegenwart“ gemachte Feststellung von Heupel, nämlich „dass Bürger bzw. Leser in aufgeregten Zeiten schneller und häufiger zur Schreibfeder greifen und Leserbriefe an ihr Medium senden“ (2007: 34) gilt auch für 2016. 32 6 Literatur Behrens, Leila (2007): Konservierung von Stereotypen mit Hilfe der Statistik. Geert Hofstede und sein kulturvergleichendes Modell. Köln. (Institut für Linguistik (Köln). Abteilung Allgemeine Sprachwissenschaft: Arbeitspapier; N.F. 51). http: / / publikati onen.ub.uni-frankfurt.de/ frontdoor/ index/ index/ docId/ 22371 (25.02.2016). Bundesagentur für Arbeit (2015): Der Arbeitsmarkt in Deutschland - Frauen und Männer am Arbeitsmarkt 2014. Nürnberg. http: / / statistik.arbeitsagentur.de/ Navigation/ Statistik/ Arbeitsmarktberichte/ Personengruppen/ Personengruppen-Nav.html (19.05.2016). Burger, Harald/ Luginbühl, Martin (2014): Mediensprache. Eine Einführung in Sprache und Kommunikationsformen der Massenmedien. 4., neu bearb. und erw. Aufl. Berlin/ Boston. (De Gruyter Studium). 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In erster Linie geht es um indirekte Wertungen, die in den informierenden Texten durch die Auswahl der Informationen, indirekt wertende Begriffe und Wertung durch Zitate und deren Auswahl zum Vorschein kommt. 1 Einleitung Andreas Hepp zitiert in seinem Buch „Transkulturelle Kommunikation“ den amerikanischen Historiker Marshall T. Poe, der die Gegenwart als „eine Zeit der medienvermittelten Transkulturalität“ beschreibt. Die Entwicklung der Massenmedien und insbesondere des Internets habe es der Menschheit ermöglicht, einen Schritt in eine neue kulturelle Epoche zu machen: Von der Zeit der Toleranz und des Multikulturalismus, die die Epoche des Buchdrucks begleiteten, „in eine Zeit, in der Identitäten ‘jenseits von Kultur’ lägen“ (2014: 9). Der Autor beschäftigt sich mit dem Begriff T r a n s k ultur a lit ä t und zeigt, wie vielseitig und komplex dieses Phänomen ist. Er unterstreicht dabei, dass sie über Medien besonders offensichtlich zum Vorschein kommt und fasst seine Betrachtungen in der folgenden Definition zusammen: „Im Gegensatz zu interkultureller und internationaler Kommunikation - also Kommunikation zwischen Menschen oder Gruppen von Menschen, die verschiedenen Kulturen bzw. Nationalstaaten angehören - hebt der Begriff der transkulturellen Kommunikation auf solche Kommunikationsprozesse ab, die ‚über verschiedene Kulturen hinweg’ geschehen“ (Hepp 2014: 10). <?page no="294"?> Liudmila Slinina 284 Das heißt aber bei weitem nicht, dass heute mit dem kulturellen Wandel die Transkulturalität interkulturelle Erscheinungen aus den Medien völlig ‚verdrängt‘ hat. Die oben erwähnte Darstellung des Epochenwechsels hat eher einen symbolischen Charakter und zeigt eine Tendenz an. Darüber hinaus sind die Begriffe „Transkulturalität“ und „Interkulturalität“ eng miteinander verwandt; sie stellen Konzepte von hoher Abstraktion dar und sind schwierig wissenschaftlich zu erfassen, was auch auf die Erarbeitung der theoretischen Basis und deren Zusammenhang mit der empirischen Forschung einen Einfluss ausübt. Der Theorie-Methodik-Empirie-Vergleich zwischen Inter- und Transkulturalität „zeigt Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Anschlussmöglichkeiten sowie Leerstellen und Desiderata auf“ (Koskensalo 2011: 91). Im Grunde genommen können aber bei der vergleichenden Textuntersuchung dieselben textanalytischen Methoden angewandt werden, um interkulturelle bzw. transkulturelle Informationen zu erschließen. Hervorzuheben wäre hier die diskurslinguistische Analyse, die erlaubt, über die Textgrenze hinauszuschauen und nicht die einzelnen Texte miteinander zu vergleichen, sondern die Texte und deren Elemente als Teil des ganzen Mediendiskurses zu betrachten, der über bestimmte Eigenschaften verfügt. Wie Spitzmüller und Warnke unterstreichen, hat die Diskursanalyse „zentrale Aspekte von Sprache ins Licht gerückt […]: ihre gesellschaftlich-historische Einbettung und ihre Funktion bei Konstruktion von Gesellschaft und Wissen“ (2011: 79). Durch die Analyse von Metaphern, Argumentationstopoi, Schlüsselwörtern, Frames und Kollektivsymbolik kommt man zur Erfassung der diskursiven Weltbilder und kulturspezifischen Sichtweisen. Czachur (2011: 20) führt Beispiele der Anwendung dieser Methode in der vergleichenden kulturkontrastiven Forschung der deutschen und polnischen Medientexte an. Diesem Ansatz liegt die linguokognitive vergleichende Medienforschung nahe, bei der vor allem die Analyse von konzeptuellen Metaphern (vgl. Lakoff/ Johnson 1980) in Betracht gezogen wird, um stereotype Weltbilder in russischen und amerikanischen Medien zu erforschen (Koptjakova 2009, Taratynova 2012). Während bei der diskursiven Forschung die sprachlichen Weltbilder aus der Analyse der einzelnen sprachlichen Elemente zu extrahieren sind, kann man bei der linguokulturellen Analyse von den schon bekannten Kriterien ausgehen, nach denen die zu vergleichenden Texte überprüft werden sollen. So untersucht Kostrova (2011) die Titel von deutschen und russischen Fernsehsendungen nach mentalen und kulturellen Universalien wie zum Beispiel das Verhältnis zur Macht (kleine vs. große Machtdistanz) oder Identifizierungsart (Individualismus vs. Kollektivismus, Universalismus vs. Partikularismus) u.a. Die- <?page no="295"?> Nachrichten in Deutschland und in Russland 285 se Universalien werden durch bestimmte lexikalische, morphologische und syntaktische Mittel zum Ausdruck gebracht (Kostrova 2011: 102f.). In diesem Beitrag wird das Zusammenspiel zwischen den transkulturellen und interkulturellen Prozessen am Beispiel von deutschen und russischen Nachrichtentexten in der Online-Presse gezeigt. Eine diskurslinguistische Medienanalyse und eine qualitative Inhaltsanalyse werden unternommen, sodass man von der Untersuchung der sprachlichen Einheiten zu den Ergebnissen über die kulturelle Spezifik der Texte kommt. 2 Interkulturalität und Transkulturalität in den modernen Medien Nachrichten bilden mit Sicherheit die Basis aller Massenmedien, sie sind die wichtigste journalistische Textsorte. Das kann leicht an ihrer deutlich ausgeprägten Komposition erkannt werden. Die wichtigste Information steht am Anfang des Textes, wobei weitere Informationen nach dem Wichtigkeitsgrad folgen. Im Journalismus und in den Medienwissenschaften ist es üblich, dieses Aufbauprinzip als „das Prinzip der umgekehrten Pyramide“ zu bezeichnen (Pöttker 2003: 414). Im Lead-Satz werden die wichtigsten Fragen beantwortet: was, wo, wann, wer, wie, warum; außerdem wird die Quelle angegeben (Mayer 1985: 4ff.; Gerhard 1993: 133; Burger/ Luginbühl 2014: 227). Nachrichten kann man sicherlich zu den transkulturellen Phänomenen zählen, vor allem, weil die Faktoren, die auf ihre Entwicklung als Textsorte Einfluss genommen haben, keinen kulturspezifischen Charakter haben, sondern das allgemein menschliche Bedürfnis nach Information betreffen: Die Form hat sich als sehr praktisch, sowohl für den Leser als auch für den Herausgeber, erwiesen. Es gibt allerdings Unterschiede in den Betrachtungsweisen der Textsorte Nachricht im deutschen und im russischen Journalismus, die man den jeweiligen kulturellen Spezifika zuschreiben kann. Im deutschen Journalismus dürfen die Nachrichten im Idealfall keine wertende Information enthalten, Informationsmitteilung und Kommentar müssen strikt getrennt bleiben (Gerhard 1993: 129; Burger/ Luginbühl: 224ff.). Im russischen Journalismus unterscheidet man zwar auch informierende und kommentierende bzw. analytische Textsorten, aber das Vorhandensein bzw. Fehlen der wertenden Information gehört nicht zu den entscheidenden differenzierenden Merkmalen (Gurevič 2004: 183ff.). Allerdings ist heute das Eindringen von subjektiven Inhalten in ‚objektive‘ informierende Textsorten zu einem Trend in den Medien geworden und äußert sich wiederum unabhängig von jeder kulturellen Spezifik. Den Grund für diese Tendenz sieht man erstens in der Verbreitung der Boulevardpresse und der <?page no="296"?> Liudmila Slinina 286 kommerziellen Sender und zweitens in der Entwicklung der neuen Medien (Burger/ Luginbühl 2014: 237). Das Internet und seine zunehmende Bedeutung in der Medienwelt spielt in der Tat eine große Rolle in Bezug auf formale und inhaltliche Änderungen, die heute an den Medientexten zu beobachten sind. Einerseits sind es die spezifischen Eigenschaften des Internets als Medium, die neue Tendenzen ins Leben rufen, andererseits haben die Medientexte, auch in den klassischen Printmedien schon immer einige Züge gehabt, die jetzt wegen des Internets an Bedeutung gewinnen. In den Internet-Medien lässt sich deutlich die Tendenz beobachten, dass die Textsortendifferenzierung immer weniger wichtig wird. Die Textsorte wird fast nie angegeben, es gibt keine räumliche Einteilung der Textsorten, die Beiträge lassen sich nicht nach Textsorten sortieren. Gleichzeitig sieht man, dass neben der Form der klassischen Meldung, die auf vielen Nachrichtenseiten zu sehen ist, oft erweiterte Berichte publiziert sind, die nicht selten mit kommentierenden Elementen versehen sind. Die modernen Medientexte sind zunehmend multimodal (Burger/ Luginbühl 2014: 249), was bedeutet, dass visuelle Elemente wie Bilder und Videos integriert werden. Somit verändert sich die Rolle des Lead-Satzes: In der Online-Presse wird er durch den Anfangsblock ersetzt, der aus einem Bild, dem Titel und der Einleitung besteht. Die Pyramidenstruktur der Nachrichten hat heute eine weniger ausgeprägte Form, weil die Autoren mit der Informiertheit der Leser rechnen, so kann der Lead keine strenge Form haben, und die Hintergrundinformation muss auch nicht unbedingt am Ende stehen. Was also die Form und das kommunikative Ziel der Nachrichten in den deutschen und in den russischen Medien angeht, weisen sie transkulturell identische Züge und Entwicklungstendenzen auf. 3 Informationsdarstellung in deutschen und in russischen Online- Medien Beim Vergleich von Nachrichten in deutschen und in russischen Online- Ausgaben sind aber auch Unterschiede erkennbar. Dieselben Ereignisse werden nicht in gleicher Weise dargestellt. Die Hauptunterschiede liegen in der Auswahl der Informationen, über die man berichtet, und in der Art der Darstellung, d.h. was und wie berichtet wird. Für eine vergleichende Analyse wurden keine bestimmten Internet-Ressourcen in Deutschland und in Russland miteinander verglichen, sondern es wurden Beiträge zu einem Thema aus den führenden Internet-Medien in Deutschland und in Russland vergleichend untersucht, wobei sowohl das in- <?page no="297"?> Nachrichten in Deutschland und in Russland 287 haltsanalytische als auch das diskursanalytische Verfahren angewandt wurde. Dieses Vorgehen kann dadurch gerechtfertigt werden, dass unser Verständnis und unsere Vorstellung vom Ereignis nicht von einem Nachrichtentext und nicht von einem bestimmten Nachrichtenportal, sondern komplex gebildet wird. Hepp spricht deshalb von der „kommunikativen Konnektivität“ in der globalisierten Medienkommunikation (2014: 25). Für die vergleichende Analyse wurden zwei Themen gewählt, die zur Zeit der Untersuchung (September 2015) sowohl in den deutschen als auch in den russischen Medien verstärkt behandelt wurden: „Ukraine-Konflikt“ und „Flüchtlinge“. Untersucht wurden 87 Texte aus den deutschen Online-Ausgaben von „Spiegel“, „FAZ“, „ARD“ und „Zeit Online“ sowie 92 Texte aus den russischen Online-Ausgaben von „RBC“, „Lenta“, „Vesti“ und „RIA“. Sie gehören zu den führenden Nachrichtenportalen des jeweiligen Landes und sind vielen Bürgerinnen und Bürgern der entsprechenden Länder gut bekannt. 3.1 Das Thema „Ukraine-Konflikt“ in deutschen und russischen Nachrichten Mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse (Mayring 2007: 42-56) wurde festgestellt, welche sprachlichen Mittel in den deutschen und den russischen Medien gebraucht werden, um dieselben inhaltlichen Elemente zu bezeichnen. In den Nachrichtentexten zum Thema „Ukraine-Konflikt“ waren es u.a. folgende Inhaltselemente: Ereignisse (Was? ), lokale Begriffe (Wo? ), die beteiligten Akteure (Wer? ). Die entsprechenden sprachlichen Mittel werden in Tabelle 1 im Vergleich gezeigt: Deutsche Medien Russische Medien Was? Ukraine-Konflikt Конфликт в Донбассе („Konflikt im Donbass“) „Вооруженный конфликт на юговостоке Украины“ („der militärische Konflikt im Südwesten der Ukraine“) Wo? die Ostukraine; der umkämpfte Osten der Ukraine; illegale ‚Volksrepublik Donezk‘; selbsternannte Volksrepublik Donezk die sogenannte Volksrepublik Luhansk ДНР, ЛНР (‚Abkürzungen für die Volksrepublik Donezk, die Volksrepublik Lugansk’) Донбасс („Donbass“) Самопровозглашенная Донецкая народная республика („die selbsternannte Republik Donezk“) <?page no="298"?> Liudmila Slinina 288 Wer? prorussische Separatisten Separatisten Separatistenführer Andrej Purgin Separatistenvertreter Vertreter der Rebellen prorussische Rebellen Russland verordnet Ruhe seinen Kämpfern Russen in Uniformen ohne Hoheitsabzeichen Russische Soldaten ohne Abzeichen Ополченцы (‚Teilnehmer des Volksaufgebots’) Лидер ДНР („der Leiter der Volksrepublik Donezk“) руководство народных республик („die Leitung der Volksrepubliken“) Министерство обороны ДНР („Verteidigungsministerium der Volksrepublik Donezk“) Порошенко: ‚Русские и их ставленники‘ („Poroschenko: ‚die Russen und ihre Vertreter‘“) граждане России („russische Bürger“) граждане Украины („ukrainische Bürger“) Москва („Moskau“) Россия („Russland“) der ukrainische Grenzschutz Kiewer Regierung Präsident Petro Poroschenko Украинские власти (Ukrainische Behörden) Украинские силовики, ВСУ (Vertreter der Militärbehörde) Украинская армия (Ukrainische Armee) Президент Украины Петр Порошенко (Präsident der Ukraine Petro Poroschenko) der Westen Западные политики („westliche Politiker“) Запад („der Westen“) Tab. 1: Deutsche und russische Medien im Vergleich Deutsche und russische Medien sind sich darin einig, dass es um einen bewaffneten Konflikt geht (Was? ), aber schon bei der Frage nach dem Ort (Wo? ) werden nicht immer gleiche lokale Bezeichnungen benutzt: die Bezeichnung Ostukraine wird in beiden Ländern gebraucht, in den russischen Medien werden öfter Bezeichnungen wie die selbsternannte Republik Donezk oder die Abkürzungen ДНР, ЛНР oder traditionelle lokale Bezeichnung Donbass gebraucht, während in deutschen Medien der Name die Volksrepublik Donezk oft mit dem Attribut illegal und eher ironisch benutzt wird, was die offizielle Position Deutschlands zur Frage der Anerkennung des territorialen Status widerspiegelt: „Es sei die Ukraine, die ihre Verpflichtungen aus dem Minsker Ab- <?page no="299"?> Nachrichten in Deutschland und in Russland 289 kommen nicht einhalte, sagte ein Vertreter der sogenannten Volksrepublik Luhansk der Agentur Interfax“ (Spiegel: online). Anhand des Benennens der Akteure sieht man, dass wertende Ausdrücke kaum zu vermeiden sind. Während es in den russischen Medien um ein Volksaufgebot geht - was eine positive Konnotation hat, weil die Bezeichnung Assoziationen zu einem gerechten Kampf gegen Feinde in der russischen Geschichte hervorruft - bevorzugen die deutschen Journalisten die Bezeichnungen prorussische Separatisten und Rebellen, wobei sie mit diesen Ausdrücken gleichzeitig andeuten, dass Russland an dem Konflikt aktiv teilnimmt und die Ostukraine militärisch unterstützt. In den russischen Medien wird die Anerkennung der Republiken im Osten der Ukraine deutlich mit Bezeichnungen wie Verteidigungsministerium oder Regierung der Volksrepublik gezeigt. Die Bezeichnungen wirken offiziell wie die Bezeichnungen der Ministerien bzw. Regierungen von Staaten. Die Nominalphrase russische Vertreter wird nur gebraucht, um eine ukrainische bzw. westliche Perspektive zu markieren. ‚Мы знаем, где русские и их ставленники (proxies) все еще прячут свое оружие, танки и артиллерию […]‘. ‚‚Wir wissen, wo die Russen und ihre Vertreter immer noch ihre Waffen, Panzer und Artillerie verstecken […]‘‘ [Zitat P. Poroschenko, Anm.: L.S.]] (Nadykto, RBC 2015: online). Die thematische Analyse der Nachrichten in den russischen Medien über die Ukraine zeigt, dass das Leben in den selbsternannten Volksrepubliken dem in der Ukraine gegenübergestellt wird. Während in der Berichterstattung über die Ostukraine positive Ereignisse gewählt werden: „Донбассгаз: газа на зиму в ДНР хватит“ (‚Es gibt genug Gas für die Republik Donezk’) (RIA 2015a: online), „Более тысячи школ открылись 1 сентября в ДНР“ (‚Über eintausend Schulen wurden in der Republik Donezk eröffnet’) (Gazeta 2015: online), „Жители ЛНР разочарованы в Украине и сочувствуют ей“ (‚Die Bewohner der Republik Lugansk sind von der Ukraine enttäuscht und haben Mitleid mit ihren Bewohnern’) (RIA 2015b: online), erscheinen über die von Kiew regierte Ukraine meistens Nachrichten, die über die schwere wirtschaftliche Lage des Landes oder Auseinandersetzungen im ukrainischen Parlament berichten: „Изза блокирования президиума заседание Рады началось позже, чем было запланировано, передают РИА Новости. [...] Заседание проходило под крики ‚Позор! ‘“ (‚Wegen der Blockierung des Präsidiums hat die Parlamentssitzung später als geplant angefangen, teilt die Presseagentur RIA Novosti mit. […] Die Sitzung wurde mit den Schreien „Schande! “ begleitet’) (RBC 2015a: online). Der ukrainische Präsident wird als Autor antirussischer Aussagen und einer ungeschickten Politik dargestellt. <?page no="300"?> Liudmila Slinina 290 In den deutschen Medien wurde im September 2015 dem Thema „Ukraine“ viel weniger Aufmerksamkeit geschenkt als in den russischen Medien. In den Nachrichten wird über die Begrüßung des Waffenstillstandes berichtet. Die Berichterstattung ist sachlich, Hoffnung auf eine Lösung des Konfliktes wird zum Ausdruck gebracht. Die kritische Einstellung zu Russland wird aber vereinzelt über Zitate ukrainischer und amerikanischer Politiker geäußert, in denen es darum geht, dass man Russland nicht vertrauen dürfe: „Talbott sagt, was Kiewer Außenpolitiker fürchten: Die Ruhe an der Front ist nicht der erste Schritt zum Frieden, sondern ein Trick Russlands, um den Verpflichtungen von Minsk zu entgehen, ohne Strafen fürchten zu müssen“ (Schuller, FAZ 2015: online). Sowohl in den deutschen als auch in den russischen Medien werden die Ereignisse polarisierend dargestellt. In den russischen Nachrichten werden die selbsternannten Volksrepubliken der Ukraine der Macht in Kiew gegenübergestellt, Russland und der Westen resp. Europa sind für die Einhaltung des Minsker Abkommens, sie sind aber auch Gegner auf Distanz, weil sie verschiedene Positionen hinsichtlich der Situation in der Ukraine beziehen. In den deutschen Medien sind die gegenübergestellten Pole die Ukraine und Russland. 3.2 Das Thema „Flüchtlinge“ in deutschen und russischen Nachrichten Unterschiede in der Berichterstattung zum Thema „Flüchtlinge“ in den deutschen und in den russischen Medien können u.a. durch verschiedene Perspektiven erklärt werden. Während diese Situation Deutschland unmittelbar betrifft - die Flüchtlinge kommen nach Deutschland und darüber wird aus der Innen- Perspektive berichtet - sind das für russische Bürger und Bürgerinnen Nachrichten aus dem Ausland, die auf ihr Leben keinen direkten Einfluss ausüben. Wenn man die Bezeichnungen der Akteure in den deutschen und russischen Medien vergleicht, sieht man, dass sie in den deutschen Medien differenzierter und genauer sind als in den russischen. In den deutschen Medien wird die Bezeichnung Flüchtlinge deutlich von Asylbewerber und illegale Einwanderer unterschieden, während in den russischen Medien Wörter wie беженцы („Flüchtlinge“), мигранты („Migranten“), нелегалы („Illegale“), переселенцы („Einwanderer“) synonym gebraucht werden: Путь мигранта: как беженцы проникают в Европу. […] Десятки тысяч переселенцев из Сирии, Афганистана, Ливии и других стран любыми способами пытаются добраться до Германии, Великобритании и ряда других государств Евросоюза. ‚Der Weg des Migranten: Wie Flüchtlinge nach Europa kommen. […] Mehrere Tausende der Einwanderer aus Syrien, Afghanistan, Libyen und anderen Ländern <?page no="301"?> Nachrichten in Deutschland und in Russland 291 versuchen auf jede erdenkliche Weise Deutschland, Großbritannien und andere EU-Länder zu erreichen.] [Hervorhebungen: L.S.] (RBC 2015b: online). In den deutschen Medien werden viel häufiger politische und gesellschaftliche Kräfte und Persönlichkeiten genannt: die Bundeskanzlerin Angela Merkel, der Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, Vertreter aller Parteien, Vertreter der Länder, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Helfer, Aktivisten, Polizeivertreter, Politiker aus Österreich (Franz Faymann), Ungarn (Viktor Orbán) und EU-Politiker. In den russischen Medien werden nur wenige Beteiligte namentlich erwähnt. Die Unterschiede zwischen der deutschen und der russischen Berichterstattung kann man in der Akzentsetzung bei der Informationsauswahl sehen, was im Endeffekt zu verschiedenen Darstellungen der Ereignisse führt. In den deutschen Medien wird die Situation mit vielen Flüchtlingen als schwierig, aber lösbar dargestellt. Man kann deutlich sehen, dass sich die beteiligten politischen und sozialen Kräfte in drei Gruppen teilen: Diejenigen, die die deutsche Flüchtlingspolitik unterstützen, - das sind in erster Linie Menschen, die mit Flüchtlingen zu tun haben, wie Helfer oder Vertreter der Länderregierungen, und die gegen entsprechende Schwierigkeiten kämpfen müssen, aber sich nicht negativ über Flüchtlinge äußern, und diejenigen, die zur Flüchtlingspolitik kritisch eingestellt sind. Zu den Befürwortern gehören viele Politiker im In- und Ausland, wie zum Beispiel die Regierenden von Frankreich, Spanien, Italien, den USA (Welt: online), und viele Bürger (Tagesschau 2015a: online). Die Situation rief viel soziales Engagement hervor: Freiwillige, Helfer, Bürgerinitiativen, Werbung für Spenden. Zu den besorgten Stimmen kann man die von dem Vertreter des Zentralrats der Muslime Aiman Mazyek („Es bestehe die Gefahr, dass religiöse Konflikte auch hierzulande ausgetragen würden“ (Tagesschau 2015: online)), dem oberbayerische Regierungspräsident Christoph Hillenbrand („er habe Sorge, wenn übers Wochenende mehr als 10.000 weitere Flüchtlinge in München ankommen“ (BR 2015: online)) zählen. Deutliche Kritik an der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung gibt es in unterschiedlicher Ausprägung seitens der CSU-Mitglieder (u.a. Horst Seehofer), des Ex-Innenministers Hans-Peter Friedrich, der AfD, Pegidas und der rechten Szene. Informationen, die das Ausland betreffen, werden auch mitgeteilt: Flüchtlinge werden in Ungarn schlecht behandelt, die Lage sei dort schwierig. Man versuche das Problem auf der EU-Ebene zu lösen, osteuropäische Politiker seien gegen die Quoten, man versuche sie zu überreden (Schmidt: online). Die Darstellung eines Ereignisses in den Nachrichten hängt im Wesentlichen von der Auswahl der faktischen Informationen ab, aber auch die Auswahl <?page no="302"?> Liudmila Slinina 292 der zitierten Meinungen im Nachrichtentext spielt eine große Rolle, weil sie indirekt auf die Wahrnehmung der Leser Einfluss nimmt. Aus Sicht der russischen Medien liegt das Zentrum des Geschehens in Europa. Wegen des Bürgerkriegs in Syrien fliehen derzeit Tausende Menschen nach Europa, um ihr Leben zu retten und teilweise auch, um in Europa günstigere Lebensbedingungen zu finden, weshalb sie vor allem in die Länder mit einer besseren Asylpolitik fliehen. Der Grund, weshalb so viele Flüchtlinge ausgerechnet nach Deutschland kommen, liegt in der humanen deutschen Migrationspolitik (Antonov 2015: online). Zwar wird die Zuwanderung aus den Krisengebieten im Nahen Osten von anderen europäischen Ländern unterstützt, aber nicht von allen: Großbritannien und die osteuropäischen Länder sind gegen die derzeitige Flüchtlingsmigration (Braterskij 2015: online). Die Folge dieser Politik ist u.a. die schlechte humanitäre Lage in Ungarn. Die europäischen Politiker sind nicht in der Lage, sich in der Frage der Flüchtlingspolitik zu einigen: Очередной круглый стол, многочасовые переговоры, пресс-конференция, но по-прежнему никаких чётких решений. В вопросе, как справиться с массовым переселением беженцев из охваченных вооруженными конфликтами стран Ближнего Востока и Северной Африки - Еврокомиссары, похоже, зашли в тупик. ‚Noch eine Sitzung, mehrstündige Verhandlungen, eine Pressekonferenz, aber immer noch keine klaren Entscheidungen. Mit der Frage, wie man das Problem der Massenzuwanderung aus den Kriegsgebieten im Nahen Osten und Nordafrika lösen kann, sind die Eurokommissare offensichtlich in die Sackgasse geraten.’ (Vesti 2015: online). Zitiert werden vorwiegend die kritischen Stimmen. Dass es an vielen Stellen auch begrüßt wird, dass Deutschland eine große Anzahl an Flüchtlingen aufnimmt und viele Bürgerinitiativen entstehen, wird hingegen weniger berichtet. Die Berichterstattung wirkt eher distanziert, sodass Russland und Europa, wenn auch indirekt, gegenübergestellt werden. 4 Fazit Die Analyse hat gezeigt, dass die Nachrichtentexte im Internet von der Form und der intratextuellen und intertextuellen Struktur einen transkulturellen Charakter haben: Unabhängig von Land und Kultur kommen in den modernen Medien bestimmte Entwicklungstendenzen zum Vorschein, wie zum Beispiel Multimodalität, Verschwinden deutlicher Grenzen zwischen den Textsorten und wertende Inhaltskomponenten in Informationstexten. Die Entwicklung <?page no="303"?> Nachrichten in Deutschland und in Russland 293 der Textsorte Nachricht hängt mehr von den kommunikativen Aufgaben ab als von der kulturellen Spezifik. Obwohl die Nachricht zu den informationsbetonten Textsorten gehört, sind die wertenden Elemente für die Darstellung der Information und deren Verständnis wichtig. Die Wertung kommt in den Nachrichten meist indirekt vor. Das sind indirekt wertende Bezeichnungen der Gegenstände, die Auswahl der positiven bzw. negativen Informationen in Bezug auf bestimmte Ereignisse, Meinungsäußerungen in Form von Zitaten und deren Auswahl. Die Inhaltsanalyse der Nachrichtentexte in den führenden deutschen und russischen Online-Medien zeigt, dass die heutige europäische Welt dort durch entsprechende sprachliche Mittel polarisiert dargestellt wird: Russland wird Europa bzw. dem Westen gegenübergestellt, was auf die Traditionen aus der Zeit des Kalten Krieges zurückzuführen ist. Die Ereignisse in Europa werden in den russischen Medien distanziert dargestellt, während in den deutschen Medien Misstrauen gegen die russische Politik geäußert wird. 5 Literatur Antonov, Michail (2015): Marš migrantov po Evrope: Vengrija vyvodit armiju, Avstrija blokiruet železnye dorogi. Vesti vom 10.09.2015. www.vesti.ru/ doc.html? id=2662776 (10.09.2015). BR.de (2015): Züge nach NRW sollen Entlastung bringen. BR vom 11.09.2015. https: / / www.br.de/ nachrichten/ oberbayern/ inhalt/ fluechtlinge-muenchen-hauptbahnhofaktuell-100.html (11.09.2015). Braterskij, Alexandr (2015): Kemeron rasskažet o migrantach. Gazeta vom 09.09.2015. https: / / www.gazeta.ru/ politics/ 2015/ 09/ 09_a_7746275.shtml (10.09.2015). Burger, Harald/ Luginbühl, Martin (2014): Mediensprache. 4., neu bearb. und erw. Aufl. Berlin u.a. (De Gruyter Studium). Czachur, Waldemar (2011): Was kann eine kontrastive bzw. kultur-kontrastive Diskursanalyse leisten? Einige Thesen zum diskursanalytischen Vergleich. 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Danach werden die im Rahmen der Studie ersten empirischen Ergebnisse aus dem deutschsprachigen Teilkorpus präsentiert: Es wurden dazu 100 Tweets hinsichtlich der Verwendung von Hashtags, ihrer Funktionen sowie textorientiert ausgewertet. Zum Schluss werden die bestehenden Herausforderungen für die Weiterarbeit diskutiert. 1 Einführung Der vorliegende Beitrag widmet sich Mikroblogs als organisationalem Kommunikationsmedium im objektsprachlichen Spannungsfeld Deutsch-Englisch- Chinesisch. Mikroblogs sind in der medienlinguistischen Forschung bisher nicht dem Bereich der Organisationslinguistik zugerechnet worden, obwohl es hierzu bei der heutigen digitalen und mobilen Gesellschaft Anlass dazu gäbe. Den Anstoß zur konkreten Beschäftigung im genannten Bereich lieferte das nachstehende Werbeplakat, das der Verfasser in der Shanghaier Metro (März 2014) fotografierte: <?page no="308"?> Michael Szurawitzki 298 Abb. 1: Werbung der Firma St. Decaux (Metrostation East Nanjing Road (南京东路地铁 站), März 2014) Auf dem Werbeplakat ist in zentraler Position der Link zum Sina-Weibo- Auftritt der Firma St. Decaux zu sehen. Sina Weibo ist das chinesische Pendant zu Twitter. St. Decaux ist eine Firma, die u.a. Werbeplakate und -videos in der Shanghaier Metro platziert. Es entstand für mich daraus die Frage, wie Organisationen auf Mikroblogs kommunizieren; die Idee zu einer systematischen linguistischen Untersuchung war entstanden. Orientiert an meinem derzeitigen Wirkungsort Shanghai sollten neben dem Chinesischen das Englische als weltweit genutzte Sprache, vor allem auf Twitter, hinzukommen, sowie aus germanistischer Perspektive natürlich das Deutsche. Die einzige mir bekannte Organisation, die parallel Mikroblogs in den drei genannten Sprachen unterhält, ist der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD). Somit nahm das potenzielle Korpus der Untersuchung schnell Konturen an. Im vorliegenden Beitrag werden die ersten Resultate der Analyse präsentiert; dies reflektiert den aktuellen Stand der Studie. Zu diesem Zweck ist der Text wie folgt gegliedert: Nach der Einführung (1) wird aus dem Forschungsstand zur Mikroblogkommunikation (2) abgeleitet, diese als Organisationskommunikation aufzufassen und entsprechend zu untersuchen. Die dazu notwendige diskurslinguistische Methodologie und das auf Spitzmüller/ Warnkes (2011b) diskursiver Mehrebenenanalyse beruhende Beschreibungsmodell werden danach entwickelt (3). Es folgen Bemerkungen zum Untersuchungskorpus (4). Dann werden die im Rahmen der Studie ersten empirischen Analyseergebnisse aus dem deutschsprachigen Teilkorpus präsentiert (5). Dazu wurden 100 Tweets hinsichtlich der Verwendung von Hashtags und ihrer Funktionen sowie textorientiert ausgewertet. Zum Schluss (6) werden Herausforderungen für die Weiterarbeit diskutiert. <?page no="309"?> Mikroblogs als organisationale Kommunikation 299 2 Forschungsstand Wegen des begrenzten Platzes kann der Forschungsstand hier nur in relevanten Ausschnitten diskutiert werden. Eine ausführlichere Auseinandersetzung findet sich in Szurawitzki (2015: 10-24). Baron fasst bereits 2008 die Faszination, die die soziale Netzwerkkommunikation mit sich bringt, zusammen: „Is social networking for everyone? Judging from the numbers, it’s easy to think so“ (Baron 2008: 97). Im Weiteren nennt Baron - damals für Blogs - Aspekte, die auch im Bereich der (organisationalen) Mikroblogkommunikation relevant werden, wie to express themselves creatively to document their personal experiences or share them with others to share practical knowledge or skills with others update others on activities and whereabouts express opinions to influence others seek others’ opinions (Baron 2008: 112). Diese Liste beschränkt sich gegenüber dem Original auf die für uns relevanten Charakteristika von sozialer Netzwerkkommunikation. Wir blicken im Folgenden nur auf einen Ausschnitt, nämlich die Mikroblogkommunikation. Dhiraj Murthy unterscheidet zwischen „social networks“ wie Facebook und LinkedIn und „social media“ wie Twitter (und, in unserem Kontext, Sina Weibo) und definiert in der Folge Mikroblogging funktional-pragmatisch als soziales Medium: Microblogging services, like Twitter, are one type of social media. For the sake of clarity, I define microblogging as an internet-based service in which (1) users have a public profile in which they broadcast short public messages or updates whether they are directed to specific user(s) or not, (2) messages become publicly aggregated together across users, and (3) users can decide whose messages they wish to receive, but not necessarily who can receive their messages; this is in distinction to most social networks where following each other is bidirectional (i.e. mutual) ( 2012: 1061). Eine funktional-pragmatische Ausrichtung liegt auch für die vorliegende Studie zugrunde. Separate Betrachtungen zur Lexik, Syntax etc. bleiben hier mit Ausnahme der Hashtaganalyse (5.1), die aber Teil der diskurslinguistischen Analyse ist, außen vor. Den aktuellen Forschungsstand für die Untersuchung von Mikroblogs für die hier betrachteten Objektsprachen bieten Siever/ Schlobinski (2013). Dort finden sich bei der jeweils untersuchten Mikroblogkommunikation <?page no="310"?> Michael Szurawitzki 300 von Privatpersonen auch jeweils Abschnitte zu den verwendeten lexikalischen Mitteln, zur syntaktischen Gestalt der Tweets etc. Kersten/ Lotze (2013) untersuchen das Englische, Schlobinski/ Siever (2013) das Deutsche sowie Zhu (2013) das Chinesische. Aus den dort publizierten Resultaten greife ich die Ergebnisse der funktionalen Untersuchungen heraus, die sich durch Gemeinsamkeiten und Unterschiede auszeichnen. Die Gemeinsamkeiten bestehen darin, dass die Zuweisung von Funktionen als schwierig charakterisiert wird und Tweets oftmals Mehrfachfunktionen zugewiesen werden. Gemeinsam ist den genannten Studien auch, dass die Unterscheidungen zwischen den funktionalen Kategorien oft nicht trennscharf sind (vgl. etwa Nachrichten vs. Kommentare vs. Statements bei Schlobinski/ Siever). Die mir sehr vage erscheinende Kategorie „Statement“ dominiert in allen untersuchten Objektsprachen, wobei unklar bleibt, was konkret das Statement etwa von Kommentar oder Nachricht unterscheidet. Hinzu kommen für die Organisationskommunikation wohl gänzlich irrelevante Kategorien, z.B. die signifikant ausgeprägte Scherzkommunikation im Chinesischen (vgl. Zhu 2013), aber auch sehr relevante wie das Marketing (Kersten/ Lotze 2013; v.a. für die US-Blogosphäre). Die nachfolgende Grafik zeigt die Resultate der funktionalen Tweet-Analysen der genannten Studien: Abb. 2: Funktionen deutscher Tweets (Schlobinski/ Siever 2013: 69, Abb. 10) 1 1 Die vierte Säule von links müsste ,Grüße’ benannt sein; Fehler i.O. <?page no="311"?> Mikroblogs als organisationale Kommunikation 301 Im Deutschen dominieren, wie oben gesagt, „Statements“. Die Abgrenzung zu „Nachrichten“, „Kommentaren“, aber auch „Marketing“ bleibt vage. Im Chinesischen gelten dieselben Abgrenzungsprobleme: Abb. 3: Funktionen chinesischer Tweets (Zhu 2013: 33, Abb. 9) Für das Englische fällt in der nachstehenden Abbildung 4 - für unseren Kontext relevant - auf, dass zwischen den USA und Großbritannien im Bereich Marketing und PR ein signifikanter Unterschied besteht. In den USA ist der Bereich deutlicher ausgeprägt: <?page no="312"?> Michael Szurawitzki 302 Abb. 4: Funktionen englischer Tweets (Kersten/ Lotze 2013: 103, Abb. 3) Insgesamt lässt sich festhalten, dass innerhalb der einschlägigen Forschung bisher kein Fokus auf der Organisationskommunikation lag. Die einzige Ausnahme bildet Girginova (2015), die Tweets von CEOs US-amerikanischer Firmen untersucht; hierbei besteht jedoch keine Kontaktfläche zur vorliegenden Untersuchung, da dort Individuen erkennbar sind, während in den Mikroblogauftritten des DAAD keine Einzelpersonen twittern. Weiter ist festzuhalten, dass innerhalb der (Mehrfach-)Klassifizierung von Tweetfunktionen ein Kernproblem besteht, das bei der Durchführung der Analysen (vgl. 5.) bedacht werden muss. Aus dem Gesagten rechtfertigt sich der nachfolgend verwendete Ansatz. Der funktionalen Analyse von Tweets kommt auch hier besondere Bedeutung zu; allerdings erfolgt eine Perspektivverschiebung in Richtung von Diskursen. Wie diese Verschiebung vollzogen wird, wird anhand einschlägiger Literatur zur Organisations- und Diskursforschung im folgenden Abschnitt gezeigt, der im Beschreibungsmodell kulminiert. 3 Methodologie und Beschreibungsmodell Kilgarriff/ Graefenstette (2003: 345) fassen das World Wide Web als „fabulous linguists’ playground“ auf. Wie ist im vorliegenden Fall an das webbasierte zu untersuchende Sprachmaterial heranzutreten? Was gilt es zu beachten? <?page no="313"?> Mikroblogs als organisationale Kommunikation 303 3.1 Fokus auf Kommunikation in Organisationen Wir fokussieren zunächst auf Kommunikation in Organisationen. Kress schreibt: Life-worlds point to clusterings of social and cultural factors and resources, such as education, gender, age as generation, ‘ethnicity’, occupation/ profession, regionality [...]. Conceptions of social cohesion or of its absence are a major factor appearing as the semiotic notion of ’coherence’ in the practice of shaping textsas-messages (2010: 20). Die hier herauslesbare kommunikative Zusammengehörigkeit einzelner Tweets kann weitergehend mit Domke (2011) in einem Netzwerkkontext gedacht werden: Erkennbar erlangen nun neben der systemgenerierenden Kommunikation in der Organisation vor allem die immer wichtiger werdenden Netzwerke in den und zwischen den einzelnen Funktionssystemen Bedeutung, die zu einem prägenden Merkmal der modernen Gesellschaft geworden sind. Diesen Wandel der Organisation zu einem „offenen Netzwerk“ beschreibt der Systemtheoretiker Dirk Baecker als „Revolution“ (1997: 249), die im Wechsel von der Arbeit „als Produktion“ zur Arbeit „als Kommunikation“ liege. Zur neuen Devise wird nach Baecker „Wer arbeitet, der kommuniziert“ (Baecker 1997: 260); Kommunikation rückt damit in bis dato unbekannter Form in das Zentrum des Arbeitens - und in die Theorie und Analyse der Organisation (Domke 2011: 221). Es erfolgt jedoch noch keine explizite Verzahnung von Organisations- und Internetkommunikation, auch wenn Habscheid u.a. (2015) auf die stetige Emergenz neuer einschlägiger Kommunikationsformen hinweisen: Neuartige Formen der Rationalisierung von Sprache und Kommunikation - jenseits der Standardisierung - entwickeln sich im Kontext des „Post-Fordismus“ (Knoblauch 1996), insofern mit der Relation der Ware oder Dienstleistung zum Kunden auch deren kulturelle Prägung in den Fokus der Optimierung rückt (vgl. Heller 2010, 103f., 106ff.). Im Mittelpunkt einer solchen „Kommunikationspolitik“ (Bühler 1999) steht das Ziel, Loyalität zum Unternehmen zu schaffen, indem Kundenbedürfnisse spezifisch und umfassend befriedigt werden (Cameron 2000, 338; Habscheid 2012; Habscheid u.a. 2015: 395). Wir verorten die im vorliegenden Beitrag vorgestellte Analyse mit Habscheid u.a. innerhalb der „Anwendungsfelder der Organisationslinguistik“ (2015: 403): Zu den Anwendungsfeldern einer Organisationslinguistik gehören Formen der Personalentwicklung mit dem Ziel, organisational relevante individuelle und sprachliche und kommunikative Kompetenzen zu verbessern, sowie die <?page no="314"?> Michael Szurawitzki 304 Unterstützung der Akteure durch kommunikationsbezogene (und ihrerseits kommunikative) Formen von Beratung, fallbezogener Supervision und Coaching. Professionelle Tätigkeiten, die zur Gestaltung organisationaler Prozesse in kalkulierter Weise Mittel von Sprache und Kommunikation einsetzen, sind ebenfalls Gegenstand anwendungsbezogener Forschung und Beratung (Habscheid u.a. 2015: 403). Im entstehenden Handbuch „Sprache in Organisationen“ (HSW) wird sich noch kein Artikel finden, der mobile und Organisationskommunikation explizit in Verbindung bringt. Weiter werden Mikroblogs als Diskurse aufgefasst. Dies wird im Folgenden näher erläutert. 3.2 Mikroblogs als Diskurse Die nach außen gerichtete Kommunikation von Organisationen mittels Mikroblogs wird als Di s k ur s verstanden. Die sich daraus ergebenden Forschungsfragen lauten: Was sind die diskursiven Strukturen? Was soll mit solcher Kommunikation erreicht werden? Im gegebenen objektsprachlichen Spannungsfeld muss auch danach gefragt werden, wie sich potenziell plurilingual angelegte Kommunikation auswirkt und wie ggf. Fragen einer lingua franca Einfluss auf die Kommunikation ausüben. Wie zum Ende von 3.1 bei Habscheid u.a. (2015: 403) gezeigt, decken die existierenden Typologien den hier zu erforschenden Bereich nicht ab. Zur Analyse der hier zu Grunde liegenden Diskurse wird methodisch die Di s k ur s i v e M e hr e b e n e n - A n a l y s e (DIMEAN) (vgl. Spitzmüller/ Warnke 2011a, b) gewählt. Nachfolgend ist das Modell grafisch dargestellt: <?page no="315"?> Mikroblogs als organisationale Kommunikation 305 Abb. 5: Layout der diskurslinguistischen Mehr-Ebenen-Analyse (DIMEAN) (Spitzmüller/ Warnke 2011b: 291, Tab. 3.15) <?page no="316"?> Michael Szurawitzki 306 Alle hier gegebenen Analyseparameter an das im folgenden Abschnitt näher vorzustellende Material anlegen zu wollen, ist aus der Beschaffenheit der Kommunikate heraus nicht möglich. DIMEAN ist mehrfach Zielscheibe von Kritik gewesen, die das Modell als zu weit gefasst ansieht (v.a. Spieß 2011: 7). Spitzmüller/ Warnke geben einen Hinweis darauf, dass ihr Modell auf ausgewählte Schritte beschränkt werden soll: Our aim is not to collect and systematise what must be done but what can be done in linguistic discourse analysis. Concrete analyses will thus, if only for research practical reasons, always be confined to selected steps, and where necessary, they will also need to modify the model itself (2011a: 88f.). Konkret bedeutet dies, alle drei Hauptebenen aus dem oben dargestellten Modell zu berücksichtigen, d.h. sowohl die intratextuelle, die Akteurssowie die transtextuelle Ebene. In Szurawitzki (2015: 31ff.) entwickle ich, welche Aspekte aus den respektiven Ebenen für die Analyse herangezogen werden können; dies ist hier aus Umfangsgründen nicht äquivalent möglich. Nachfolgend steht das hier zugrunde gelegte Beschreibungsmodell: Abb. 6: Beschreibungsmodell (Szurawitzki 2015: 33) 4 Korpus Das Analysekorpus umfasst drei Teilkorpora, die sich aus dem sprachlichen Material der jeweiligen Objektsprachen Deutsch (twitter.com, @DAAD_Bonn; 3 Transtextuelle Ebene  3.2 Ideologien/ Mentalitäten: kulturspezifische Aspekte deutsch-chinesisch-englisch  3.1 Intertextualität: Links, Hashtags, Threads; Dialogizität 2 Akteursebene  2.2 Diskursgemeinschaften  2.1 Handlungsmuster 1 Intratextuelle Ebene 1.3 Textorientierte Analyse:  Typographische Besonderheiten  Multimodalität: Text-Bild-Beziehungen u.Ä. 1.2 Propositionsorientierte Analyse:  Sprechakte/ Funktionale Analyse (ausdifferenziert nach Haupt-, Nebenbzw. Mehrfachfunktionen) 1.1 Wortorientierte Analyse:  Schlag-/ Schlüsselwörter; Hashtags <?page no="317"?> Mikroblogs als organisationale Kommunikation 307 1556 Tweets), Chinesisch (weibo.com/ daadchina; noch nicht quantifiziert) und Englisch (twitter.com, @DAAD_Germany; 446 Tweets) zusammensetzen. Die Erhebung erfolgte am 15.7.2014 parallel für die deutschen und englischen Teilkorpora in Deutschland und für das chinesische Teilkorpus in China. 2 Die Sicherung erfolgte mittels Speicherung der Seiteninhalte aus dem Internet als vollständige Webseiten. Hierbei wurde darauf geachtet, dass das originäre Layout beibehalten wurde, um auch die multimodale Ausgestaltung in die Analyse mit einbeziehen zu können (Analyseschritt 1.3 des entwickelten Modells; vgl. zu diesem Bereich Kress 2010). Die Bemerkungen zum Korpus sind eng angelehnt an Szurawitzki (2015: 35f.; passim). 5 Analyseresultate Die nachfolgend dargelegten Analyseresultate sind Ergebnis einer Untersuchung der ersten 100 Tweets aus dem deutschsprachigen Teilkorpus (@DAAD_Bonn), chronologisch ab Einrichtung des Accounts. Der betrachtete Zeitraum erstreckt sich vom 6.7.2010 (Einrichtungsdatum) bis zum 24.8.2010. Eine erste Analyse ergab, dass trotz des deutschsprachigen Accounts dennoch 31 Tweets in englischer Sprache vorliegen; zumeist sind dies Retweets. Es liegen insgesamt 40 Retweets vor, d.h. es gibt 60 selbst verfasste Tweets. Die Analyse nimmt hier die intratextuelle Ebene nach DIMEAN (Spitzmüller/ Warnke; vgl. Abb. 5 oben) in den Blick: In einem ersten Schritt (5.1) wird eine wortorientierte Analyse hinsichtlich der Hashtags durchgeführt. Darauf folgt (5.2) die propositionsorientierte Analyse, die auf Sprechakte/ Sprachhandlungen fokussiert und ggf. Haupt-/ Nebenbzw. Mehrfachfunktionen abbilden kann. Im dritten Schritt der intratextuellen Analyse (5.3) werden typographische Besonderheiten, Multimodalität und Text-Bild-Beziehungen betrachtet. Abschließend werden hier nach den drei Analyseschritten noch Perspektiven für die weiteren Analysen, nicht nur für das Deutsche, sondern auch für die anderen beiden Objektsprachen, d.h. das Englische und das Chinesische, aufgezeigt (5.4). 5.1 Wortorientierte Analyse: Schlag-/ Schlüsselwörter, Hashtags Hashtags werden hier synonym zu Schlag-/ Schlüsselwörtern verstanden. Aufgrund der Dichte des sprachlichen Materials und der gliedernden Funktion der 2 Die deutschen und englischen Teilkorpora wurden vom Verfasser, das chinesische Teilkorpus von Jin Zhao (Tongji-Universität) erhoben und gesichert. <?page no="318"?> Michael Szurawitzki 308 Hashtags wurde von einer gesonderten Analyse des übrigen Sprachmaterials (also nach Tilgung der Hashtags) auf andere Schlag-/ Schlüsselwörter abgesehen. Die quantitative Analyse ergab für die untersuchten 100 Tweets insgesamt eine Anzahl von 128 verwendeten Hashtags. Dies bedeutet eine durchschnittliche Anzahl von 1,28 Hashtags pro Tweet. Hinsichtlich der Okkurrenz ergibt sich das Bild, dass der Hashtag #DAAD mit 29 Verwendungen dominiert. Es lässt sich fragen, wie sinnvoll eine solche Verwendung ist, da eine Hauptverwendung für Hashtags die Verortung in thematisch verwandten Diskursen ist. Wenn der DAAD sich mittels eines Hashtags, der direkt wieder auf ihn zurückverweist, verorten möchte, obwohl der Account praktisch gerade erst online ist, muss gefragt werden, ob die Verwendung des Organisationsnamens (nach dem, wie nach dem Hashtag, innerhalb von Twitter auch gesucht werden kann) als Hashtag nicht ggf. ineffizient ist. Die nächsthäufig verwendeten Hashtags für die untersuchten 100 Tweets sind #scholarships sowie #Praktikum/ Praktika (hier keine Differenzierung nach Wortformen) mit je 3 Okkurrenzen. Im Gegensatz zu #DAAD fällt dies deutlich ab. Alle anderen Hashtags (ordnende Systematisierung vgl. unten) kommen zumeist nur einmal, vereinzelt zwei Mal vor. 3 Systematisiert man die ermittelten Hashtags in Wortfeldern 4 , so sind im Wesentlichen die Wortfelder ,Universität’, ,Geographische Bezeichnungen’ sowie ,Berufliche Orientierung’ festzustellen. Nachfolgend sind die ermittelten Belege zusammengestellt (Reihenfolge nach Okkurrenz): 1. Universität: #Scientist, #publications, #Research, #ERASMUS, #akademischen, #Doktoranden, #Universitäten, #LMU, #Postdoc, #Fellowships, #Geoinformatics, #Stipendium, #Universitätsprofessur, #CDHK, #scholarships, #Hochschulabsolventen, #Auslandssemester, #UHH, #TUBerlin, #Tongji, #AvH, #Germanist/ Germanistik. 2. Geographische Bezeichnungen: #NRW, #UK/ England, #Spain, #Italy, #Poland, #Germany, #Münster, #Berlin, #Shanghai, #Tokyo, #Munich, #Frankfurt, #Hamburg, #Hohenheim, #NewYork. 3. Berufliche Orientierung: #Referent, #Personalangelegenheiten, #jobs, #EinstiegAbi, #Berufsorientierungsmesse, #Berufseinsteiger, #Fertigungstechnologien, #Auslandserfahrung, #Projektassistenz. 3 Für eine - anders geartete - spezielle Analyse der durch Hashtags bedienten kommunikativen Funktionen vgl. Wikström (2014). 4 Lexikalische Felder gehören bei Spitzmüller/ Warnke (2011b) in den Bereich der textorientierten Analyse, dennoch sind sie hier als ordnendes Moment sinnvoll einsetzbar. <?page no="319"?> Mikroblogs als organisationale Kommunikation 309 Hier lassen sich sehr deutliche thematische Verortungsschwerpunkte erkennen, die perspektivisch für die Schaffung einer eigenen organisationalen Identität des Mikroblogauftritts relevant sind (vgl. 6). 5.2 Propositionsorientierte Analyse: Sprechakte; Haupt-, Neben-, Mehrfachfunktionen Im vorliegenden Abschnitt werden die Resultate der funktionalen Analyse der 100 ersten Tweets des deutschsprachigen Teilkorpus präsentiert. Die flexibel gewählte Anlage des Beschreibungsmodells lässt Haupt-, Nebensowie gleichrangige Mehrfachfunktionen zu. Aufgrund der bisherigen Forschungen (vgl. 2) war zu erwarten, dass u.U. Klassifizierungsprobleme auftreten. Die Resultate der Analyse sind in der nachstehenden Abbildung zusammengefasst: Abb. 7: Tweetfunktionen für die ersten 100 Tweets des deutschsprachigen Teilkorpus (@DAAD_Bonn) ab Einrichtung des Accounts (Zeitraum 06.07.2010-24.08.2010) Es fällt auf, dass bei insgesamt 100 Tweets 109 Tweetfunktionen zugeordnet wurden; dies entspricht 1,09 Funktionen/ Tweet. Es zeigt sich für die verhält- 0 20 Germanistik, Linguistik,… Studiengangangebote extern Jobangebote DAAD-intern Fremd-PR DAAD Eigen-PR DAAD restliches Web Sonstige Funktion Auslandsstudium erläutern Eigen-PR DAAD-Blog Jobangebote u. Ausschreibungen… Antworten auf direkte Anfragen an… PR und Medienangebote von außen 5 10 15 n=109; Mehrfachnennungen möglich Tweetfunktionen <?page no="320"?> Michael Szurawitzki 310 Organisationskommunikation - im Gegensatz zur Kommunikation von Privatpersonen - im Deutschen zumeist keine Polyfunktionalität (außer z.B. bei der „Antwort auf eine Frage an den Account“ mit einer ergänzenden thematischen Fokussierung) vorliegt, sondern die Tweets klar genau e in e m funktionalen Bereich zugeordnet werden können. Ein Beispiel für eine solch klare Zuordnung ist nachfolgend abgedruckt; dort sucht der DAAD einen Systemadministrator: Abb. 8: Beispieltweet für eine klare funktionale Zuordnung (Jobangebote DAAD-intern) Es dominieren bei der funktionalen Einordnung die Informationen über PR- und Medienangeboten aus DAAD-externen Quellen (18 Mal festgestellt), Eigen-PR für den DAAD-Blog (17), d.h. eine cross-mediale Vernetzung, externe Jobangebote und Ausschreibungen (15), DAAD-eigene PR außerhalb des Blogs (13) sowie Antworten auf direkte Anfragen an den Account (13). Als weitere signifikante funktionale Bereiche wurden Erläuterungen zum Auslandsstudium (9), Germanistik/ Linguistik/ Interkulturelle Kommunikation (6), externe Studiengangangebote (3), DAAD-interne Ausschreibungen (3) sowie Fremd-PR für den DAAD (3) festgestellt. Nebenfunktionen als thematische Global-Verortung scheinen im Einklang mit den Resultaten von Wikström (2014) mehr über die Hashtag-Felder (Universitätssphäre/ Berufsorientierung/ Geographie) stattzufinden. 5.3 Textorientierte Analyse: Typographische Besonderheiten, Multimodalität, Text-Bild-Beziehungen Auf die gesamten 1556 Tweets des deutschsprachigen Subkorpus bezogen berechnet Twitter das Vorhandensein von insgesamt 11 Fotos/ Videos. Dies zeigt perspektivisch bereits hier, dass dieser Bereich insgesamt gegenüber den oben ausführlich geleisteten Schlag-/ Schlüsselwortsowie funktionalen Analysen wohl eine nachrangige Stellung bezogen auf die Objektsprache Deutsch einnehmen wird. Für die hier analysierten 100 Tweets kann festgestellt werden, dass keine typographischen Besonderheiten wie Emoticons oder Emojis vorliegen, Multimodalität oder Text-Bild-Beziehungen innerhalb der Tweets existie- <?page no="321"?> Mikroblogs als organisationale Kommunikation 311 gen, Multimodalität oder Text-Bild-Beziehungen innerhalb der Tweets existieren nicht. Im Folgenden (5.4) werden die Perspektiven für die weiteren Analysen aufgezeigt; für das Chinesische wird die hier noch zu vernachlässigende textorientierte Analyse nach Spitzmüller/ Warnke (2011b) aber zentral werden (vgl. unten). 5.4 Perspektiven für die weitere Analyse Aufgrund der bisher durchgeführten Analysen ergeben sich perspektivisch die folgenden Anschlussfragen: Für das deutsche Teilkorpus wird zu klären sein, inwiefern die hier zugrunde gelegten funktionalen Kategorien zur Beschreibung ausreichen. Auf der noch zu betrachtenden Akteursebene wird es für alle Objektsprachen relevant sein, die retweeteten Mitteilungen zu analysieren (praktisch alle W-Fragen anzulegen), um so Interaktionsprofile des DAAD mit anderen Twitter- und Sina Weibo-Nutzern, Organisationen wie ggf. Einzelpersonen, herauszuarbeiten. Speziell für das englischsprachige Teilkorpus muss geprüft werden, inwiefern sprachlich, strukturell, funktional etc. Ähnlichkeit/ Intertextualität und womöglich somit Inferiorität zum deutschsprachigen Teilkorpus besteht. Sind die englischen Tweets nur „Wiedergabe“ des ursprünglichen deutschsprachigen Tweetmaterials? Und ist Idiomatizität im Englischen gegeben, oder wird es ggf. evident, dass Nicht-MuttersprachlerInnen auf Englisch twittern? Aus Werkstattergebnissen für das chinesischsprachige Teilkorpus lässt sich bereits jetzt vermuten, dass dort die für das Deutsche und das Englische eine untergeordnete Rolle einnehmende Typographiedimension in den Fokus rücken wird. Dies kann durch die frequente Verwendung von Emoticons und Emojis angenommen werden. Perspektivisch kommt vermutlich hinzu, dass funktionale Einstufungen nicht äquivalent leicht wie für die hier präsentierten Resultate gemacht werden können; Probeanalysen deuten bereits in einem frühen Stadium darauf hin. Somit wird erwartbar, dass sich für das Chinesische eine ausgeprägte Andersartigkeit gegenüber dem Deutschen und Englischen bereits an der sprachlichen Oberfläche manifestiert, und dies gilt nicht nur aufgrund der evidenten sprachsystematischen Differenzen. Ebenso kann bereits jetzt auf dieser Grundlage angenommen werden, dass kulturelle Andersartigkeit sich v.a. im transtextuellen Bereich, wohl aber auf allen untersuchten Ebenen, zeigen wird. <?page no="322"?> Michael Szurawitzki 312 6 Herausforderungen Abschließend bleibt für die weitere Arbeit und die Auswertung der Resultate eine Reihe von Fragen, deren Beantwortung erst nach einer größeren Menge von Tweets verlässlicher erfolgen kann. So gilt es zu überprüfen, ob sich Wissensasymmetrien ggf. als Problem zeigen, da die verdichtete Darstellungsweise u.U. das Verständnis von Tweets erschweren kann. Anhand welcher sprachlichen Merkmale (z.B. Termini) ließen sich solche Asymmetrien aufzeigen? Mit Habscheid u.a. (2015) stellt sich ebenso die Frage nach unterliegender „tacit knowledge“, d.h. vorhandenen nicht unmittelbar evidenten Kommunikationsmustern, denen man folgt oder denen gefolgt wird. Zum Schluss steht eine auf mein Korpus einerseits und organisationale Mikroblogkommunikation insgesamt zu beziehende Frage, nämlich die nach dem (bewussten oder eher unbewussten) Design oder Shaping von Organisationsidentitäten auf Mikroblogs (etwa über Hashtags, vgl. Analyse 5.1 oben) und danach, ob sich solche Identitäten herausbilden bzw. aufzeigen lassen. 7 Literatur Baecker, Dirk (1997): Durch diesen schönen Fehler mit sich selbst bekannt gemacht. Das Experiment der Organisation. In: Hijikata, Toru/ Nassehi, Armin (Hrsg.): Riskante Strategien. Beiträge zur Soziologie des Risikos. Opladen. S. 249-271. Baron, Naomi S. (2008): Always On. Language in an Online and Mobile World. Oxford/ New York. Bühler, Charlotte (1999): Kommunikation als integrativer Bestandteil des Dienstleistungsmarketing. Eine systematische Analyse der Bedeutung, Wirkungsweise und Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunikationspolitik im Dienstleistungsmarketing. Bern u.a. Cameron, Deborah (2000): Styling the worker. 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S. 15-39. <?page no="325"?> Sprachspezifische Aspekte der Bedeutungsbeschreibung: Strukturierte Ereigniskomplexe im deutsch-ungarischen Sprachvergleich József Tóth (Veszprém) Zusammenfassung Im vorliegenden Beitrag 1 wird dargestellt, wie sich Ereignisszenen in der Vorstellungs- und Erfahrungswelt des Sprechers/ Schreibers grammatisch und logisch-semantisch manifestieren. Das Ereignis wird von der Perspektive her betrachtet, in der es von demjenigen konstruiert wird, der den Satz sagt. Im Beitrag wird ein Überblick über prototypische konzeptuelle Muster (Ereignisschemata) im Deutschen und Ungarischen gegeben, die so miteinander verglichen werden können. Im Weiteren werden ausgewählte Ereignisszenen in der Vorstellungs- und Erfahrungswelt des Sprechers/ Schreibers dargelegt. Danach wird die Einordnung unterschiedlicher Arten von Ereignissen anhand von grundlegenden Ereignisschemata im Deutschen und Ungarischen angesprochen. 1 Vorbemerkungen Die theoretische Basis der kontrastiven Untersuchung beruht auf den Arbeiten von Pustejovsky (1988, 1991, 1995), Engelberg (1994a, b; 1995a, b; 2000), Härtl (1999), Glatz (2001), Tóth (2009, 2010a, b; 2011) und Maienborn (2011). Jeder Satz drückt von der konzeptuellen Seite her gesehen, ein Ereignis aus, das aus mehreren Teilereignissen besteht oder bestehen kann. Es wird angenommen, dass es in beiden Sprachkulturen auf konzeptueller Ebene keine gravierenden Unterschiede im Bereich der untersuchten Konzepte gibt. Auf der sprachlichen Ebene gibt es jedoch zwischen den zwei genetisch nicht verwandten und auch typologisch unterschiedlichen Sprachen bedeutende grammatische Unterschiede. 2 Kontrastiv angelegte grammatisch-semantische Analysen, die bedeutungs- 1 Der vorliegende Aufsatz ist Teil einer umfangreichen Arbeit, vgl. Tóth (2016). 2 Vergleiche dazu die Arbeit Tóth (2016), in der die interlingualen Unterschiede auf der sprachlichen Ebene thematisiert werden. Hier wird auch die Methode expliziert, <?page no="326"?> József Tóth 316 erschließende Einsichten vermitteln, haben den Vorteil, dass sie nicht nur Einblicke in die Strukturierung der Fremdsprache, sondern auch in die der Muttersprache gewähren. 2 Ereignisszenen in der Vorstellungs- und Erfahrungswelt des Sprechers/ Schreibers: Ereignisschemata Schauen wir uns nun folgende Beispielsätze an und untersuchen wir, wie der Sprecher/ Schreiber in ihnen mögliche Ereignisszenen in seiner Vorstellungs- und Erfahrungswelt konstruiert. (a) Mein Freund ist müde. Zustand (b) Das 44. Linguistische Kolloquium in Sofia lief planmäßig ab. Vorgang (c) Norbert steht vom Stuhl auf. Handlung (d) Das achtjährige Kind weiß schon, dass es gefährlich ist, bei Rot über die Straße zu gehen. Erfahrung (e) Mein junger Nachbar hat ein nagelneues Auto. Besitzrelation (f) Peterchen kletterte aus dem Küchenfenster und sprang über den Zaun. Bewegung = Vorgang + Ursprung - Ziel (g) Mein Neffe hat seinem Freund das Fotoalbum gegeben. Übertragung Die einzelnen Ereignistypen können in zusammengesetzten Sätzen auch miteinander kombiniert vorkommen wie z.B.: (a) Norbert wurde krank, hatte ein Diätbuch in der Hand und gab es an den Arzt weiter. Vorgang/ Erleiden + Besitzrelation + Bewegung/ Handlung/ Transfer (b) Das Wasser ist flüssig und kocht schnell. Zustand + Vorgang (c) Die neue Sekretärin hat eine starke Erkältung, deshalb steht sie erst gegen 8 Uhr auf. Besitzrelation + Vorgang wie sich die konzeptuelle und die sprachliche Ebene zueinander verhalten und wie sie aufeinander zu beziehen sind. <?page no="327"?> Sprachspezifische Aspekte der Bedeutungsbeschreibung 317 3 Grundlegende Ereignisschemata im Deutschen In diesem Abschnitt wird ein Überblick über grundlegende Ereignisschemata gegeben. Ein Ereignis wird als komplexes Ganzes in der Vorstellungs- und Erfahrungswelt beschrieben. In der Forschungsliteratur (Pörings/ Schmitz 2003: 87ff.) werden Ereignisse nach einer begrenzten Anzahl von Typen kategorisiert. An dieser Stelle sollen diese prototypischen konzeptuellen Muster (Ereignisschemata) kurz erörtert werden, um zu zeigen, welche begrifflichen Einheiten (semantische Teilnehmer) auf konzeptueller Ebene in einem komplexen Ereignis miteinander in Beziehung gesetzt werden können (Pörings/ Schmitz 2003: 87ff.). (1) Das Essivschema im Deutschen: Das Essivschema referiert auf unterschiedliche Arten des Seins: (a) Die große Fläche auf der Karte ist die Tiefebene. (b) Der Balaton ist ein See. (c) Debrecen ist in Ostungarn. (d) In Österreich gibt es viele Wälder. (e) Der Balaton ist nicht tief. Teilnehmerrollen sind in den Beispielsätzen: Identifikation (a), Kategorisierung (b), Ortsangabe (c), Existenzbehauptung (d) oder Zuschreiben einer Eigenschaft (e). Der nicht aktive Hauptteilnehmer des Sein-Schemas erscheint jeweils als Patiens, der zweite Teilnehmer als Essiv. (2) Das Vorgangsschema im Deutschen: Durch ein Vorgangsschema wird eine konzeptuelle Einheit mit einem momentan stattfindenden Prozess in Beziehung gesetzt. (a) Es donnerte die ganze Nacht. (b) Der Ball flog ins Tor. (c) Die Suppe kocht. (d) Meine Großmutter ist vor zwei Wochen gestorben. (e) Der Hund bellt. Die in diesem Prozess eingebundene konzeptuelle Einheit nimmt die Rolle des Patiens ein. Es stellt sich dabei die Frage nach dem Grad der Autonomie des Patiens im Prozess. Die Autonomie-Skala (Pörings/ Schmitz 2003: 88) kann in den Beispielsätzen von a bis e verfolgt werden. Die Teilnehmer tragen aber <?page no="328"?> József Tóth 318 nicht selbst zu der Energie bei, die während des Prozesses entsteht, sie sind vielmehr vom Prozess betroffen. Das Patiens ist in den Beispielsätzen ein meteorologisches Phänomen (a), ein unbelebtes Objekt (b, c), ein Mensch (d) oder ein Tier (e). Es drückt im Beispielsatz (a) eine physikalische oder anthropologische Lage aus, es kommt im Beispielsatz (b) durch einen Energieanstoß ins Rollen, die Energie ist im Satz (c) mitgedacht. Im Beispielsatz (d) wird das Patiens als Organismus dargestellt, der unterschiedlichen Prozessen unterliegen kann, Beispiel (e) zeigt einen angeborenen Reiz-Reaktions-Reflex, wobei der Hund autonomer erscheint als z. B. der Ball (b), die Suppe (c) oder die Großmutter (d). Die Energie des Hundes (e) wird aber stärker wahrgenommen als die des Patiens im Beispiel (d) oder (c). (3) Das Handlungsschema im Deutschen: Die in einem Handlungsschema eingebundene konzeptuelle Einheit bestimmt die Quelle der aufgebrachten Energie und damit erscheint in erster Linie ein menschliches Agens als Ausführender einer Handlung (Hauptteilnehmer). Das Agens führt aus eigenem Antrieb die Handlung durch, es spielt die Rolle des Agens als Ursprung der Energie, die auf ein Patiens (zweiter Teilnehmer) übertragen wird. (a) Das Kind badet in der Badewanne. (b) Norbert liest den ganzen Abend. (c) Er liest die Geschichte eines berühmten Physikers. (d) Er schreibt ein neues Buch. (e) Am Abend zerbrach er das Glas. Die Energie erscheint im Satz (a) und (b) in der Handlung selbst, in (a) ist kein Objekt möglich, in (b) wird es impliziert. In Satz (c) ist das Objekt betroffen, in Satz (d) entsteht dagegen ein neues Objekt. In Satz (e) wird die Energie auf ein Patiens übertragen, das vernichtet wird. (4) Das Erfahrungsschema im Deutschen: Mit einem Erfahrungsschema konstruieren wir, wie der Mensch den menschlichen Kontakt mit der kulturellen und natürlichen Umgebung und Umwelt mental verarbeitet. Es geht dabei um körperliche, soziale und kulturelle Erfahrungen. Der Hauptteilnehmer ist in einem Erfahrungsschema weder passiv noch aktiv, er ist als Erfahrungszentrum oder als Experiens zu bezeichnen, das mentale Erfahrungen wie Wahrgenommenes, Gedanken, Gefühle, Wünsche etc. registriert und verarbeitet. Als zweiter Teilnehmer tritt entweder ein kon- <?page no="329"?> Sprachspezifische Aspekte der Bedeutungsbeschreibung 319 kretes Objekt (a) oder eine abstrakte Denkeinheit mit einem Ereignisschema (b-d) auf. Die zweite Teilnehmerrolle in einem Erfahrungsschema wird also mit einem Patiens besetzt, das von keiner Energieeinwirkung betroffen ist. (a) Das Mädchen sieht eine Spinne. (b) Es weiß, dass sie auch gefährlich sein kann. (c) Trotzdem will es sie mit der Hand packen. (d) In wenigen Minuten spürt es einen stechenden Schmerz. (5) Das Besitzschema im Deutschen: Das Besitzschema hat mehrere Erscheinungsformen: (a) Mein Onkel hat ein nagelneues Auto. (b) Peter hat in der Klasse immer die interessantesten Gedanken. (c) Der Arzt hat Grippe. (d) Dieses alte Auto hat nur drei Räder. (e) Mein Cousin hat eine hübsche Schwester. Als Prototyp gilt hier ein menschlicher Besitzer (a), der ein Objekt besitzt (a). Der Hauptteilnehmer kann neben einem menschlichen Besitzer (a-c, e) auch ein nichtmenschlicher (d) sein. In der Rolle des zweiten Teilnehmers (Patiens) erscheinen entweder eine mentale Entität (b), eine Betroffenheit (c), ein Ganzes mit seinen Teilen (d) oder ein Mitglied einer Kategorie (e). Es geht auch beim Besitzschema nicht um eine Energieübertragung zwischen dem Besitzer und dem Patiens. (6) Das Bewegungsschema im Deutschen: Das Bewegungsschema ist komplexer als die bisherigen Schemata, weil es eine Kombination aus mehreren Schemata darstellt. Es wird maximal aus drei Komponenten gebildet, aus einem Ursprung, einem Weg und aus einem Ziel. Am ersten Punkt beginnt der Prozess oder die Handlung, am zweiten erscheint der Weg, der zurückgelegt wird, und am dritten das Ziel, auf das der Prozess oder die Handlung hinauslaufen. Es handelt sich hier um eine mögliche Kombination aus einem Vorgangsschema oder aus einem Handlungsschema mit den erwähnten Punkten. (a) Das Benzin ist aus dem Tank auf den Boden gelaufen. Vorgangsschema + Ursprung - Ziel (b) Der Junge kletterte vom Hof aus die Dachrinne hinauf in den ersten Stock. Handlungsschema + Ursprung - Weg - Ziel <?page no="330"?> József Tóth 320 (c) Die Studententage gingen von Mittwoch, 5 Uhr nachmittags, die ganze Nacht hindurch bis Freitag, 11 Uhr. Vorgangsschema + Beginn - Dauer - Ende (d) Die Programmierer programmierten von abends um 8 bis morgens um 9 Uhr. Handlungsschema + Beginn - Ende Wie Beispiel (a) zeigt, wird ein Vorgangsschema im räumlichen Sinne auf einen Ursprung und dann auf ein Ziel übertragen. In (b) wird das Handlungsschema im räumlichen Sinne nicht nur auf Ursprung und Ziel bezogen, sondern auch noch auf den Weg dazwischen ausgedehnt. Das zeitliche Bewegungsschema (c) besteht aus der Kombination aus einem Vorgangsschema mit den Punkten Beginn, Dauer und Ende, in (d) aus der Kombination aus einem Handlungsschema mit den Punkten Beginn und Ende. Im Bewegungsschema stehen die einzelnen Elemente alle gleichermaßen im Vordergrund, deshalb können sie auch unabhängig voneinander ausgedrückt werden: (a/ 1) Das Benzin ist aus dem Tank gelaufen. Vorgangsschema + Ursprung (a/ 2) Das Benzin ist auf den Boden gelaufen. Vorgangsschema + Ziel (b/ 1) Der Junge kletterte vom Hof aus in den ersten Stock hinauf. Handlungsschema + Ursprung - Ziel (b/ 2) Der Junge kletterte die Dachrinne empor in den ersten Stock hinauf. Handlungsschema + Weg - Ziel (b/ 3) Der Junge kletterte in den ersten Stock hinauf. Handlungsschema + Ziel (c/ 1) Die Studententage gingen von 5 Uhr am Mittwochnachmittag bis um 11 Uhr am Freitag. Vorgangsschema + Beginn - Ende (c/ 2) Die Studententage gingen die ganze Nacht hindurch bis um 11 Uhr am Freitag. Vorgangsschema + Dauer - Ende (c/ 3) Die Studententage gingen bis um 11 Uhr am Freitag. Vorgangsschema + Ende (c/ 4) Die Studententage gingen um 5 Uhr am Mittwochnachmittag los. Vorgangsschema + Beginn (d/ 1) Die Programmierer programmierten von abends um 8 Uhr. Handlungsschema + Beginn (d/ 2) Die Programmierer programmierten bis morgens um 9 Uhr. Handlungsschema + Ende Pörings und Schmitz (2003: 92) stellen richtig fest, dass eine Hierarchie für das Ursprung-Weg-Ziel-Schema gilt. Das Ziel ist in der Regel viel wichtiger als der <?page no="331"?> Sprachspezifische Aspekte der Bedeutungsbeschreibung 321 Ursprung und Ursprung sowie Ziel sind viel wichtiger als der Verlauf. Teilnehmer in Teilnehmerrollen sind Agens, Patiens und Ziel. (7) Das Übertragungsschema im Deutschen: Auch im Übertragungsschema werden verschiedene Schemata kombiniert, und zwar entweder das Besitz- und das Vorgangsschema oder das Handlungs- und das Bewegungsschema. Das Übertragungsschema impliziert zwei Zustände: einen Anfangszustand und einen Ergebniszustand, die sich an folgenden Beispielen erklären lassen: (a) Der Professor hat seiner Assistentin die Tischvorlage gegeben. (b) Der Professor hat die Tischvorlage an seine Assistentin weitergeleitet. (c) Nur weiß ich nicht, welche Farbe ich dem Wohnzimmer geben soll. In (a) besitzt der Professor die Tischvorlage (Anfangszustand) und gibt sie an die Assistentin (Ergebniszustand), so dass sie schließlich im Besitz der Assistentin ist. Der erste Teilnehmer ist in diesem Fall das Agens und die zweite Teilnehmerin ist die Empfängerin (die neue Besitzerin), in deren Besitz die Tischvorlage ab jetzt ist. Als dritter Teilnehmer erscheint das Patiens. In (b) ist die Assistentin die Besitzerin, die die Tischvorlage besitzt. Im abstrakteren Beispiel (c) erscheint das Wohnzimmer in der semantischen Rolle des Empfängers. 4 Einordnung unterschiedlicher Arten von Ereignissen anhand von Ereignisschemata im Ungarischen Im Folgenden werden unterschiedliche Arten von Ereignissen anhand von Ereignisschemata im Ungarischen mit eigenen Beispielsätzen eingeordnet. (1) Das Essivschema im Ungarischen: Der Zustand des Seins wird auf konzeptueller Ebene auch im Ungarischen auf die gleiche Weise ausgedrückt. (a) A nagy felület a térképen az alföld. (‚Die große Fläche auf der Landkarte ist die Tiefebene.‘) (b) A Balaton egy tó. (‚Der Balaton ist ein See.‘) (c) Debrecen Kelet-Magyarországon van. (‚Debrecen ist in Ostungarn.‘) (d) Ausztriában sok erdő van. (‚In Österreich gibt es viele Wälder.‘) <?page no="332"?> József Tóth 322 (e) A Balaton nem mély. (‚Der Balaton ist nicht tief.‘) Die Teilnehmer in Teilnehmerrollen der deutschen Beispielsätze entsprechen denen des Ungarischen: Identifikation (a), Kategorisierung (b), Ortsangabe (c), Existenzbehauptung (d) oder Zuschreiben einer Eigenschaft (e). Als nicht aktiver Hauptteilnehmer des Sein-Schemas erscheint das Patiens, als zweiter Teilnehmer das Essiv. (2) Das Vorgangsschema im Ungarischen: Der momentan stattfindende Prozess wird auch im Ungarischen offensichtlich durch ein Vorgangsschema konstruiert. Die Autonomie-Skala ist im Deutschen und im Ungarischen die gleiche. (a) Egész éjjel dörgött az ég. (‚Es hat die ganze Nacht gedonnert.‘) (b) A labda a kapuba került. (‚Der Ball gelangte ins Tor.‘) (c) A leves forr. / A leves fő. (‚Die Suppe kocht.’) (d) Nagymamám két héttel ezelőtt meghalt. (‚Meine Großmutter ist vor zwei Wochen gestorben.‘) (e) A kutya ugat. (‚Der Hund bellt.‘) Die Teilnehmer in Teilnehmerrollen der ungarischen Beispielsätze entsprechen denen im Deutschen. Als Hauptteilnehmer des Vorgangsschemas erscheint auch im Ungarischen das Patiens. (3) Das Handlungsschema im Ungarischen: Die Handlung wird auf konzeptueller Ebene im Ungarischen auf die gleiche Weise ausgedrückt. Auch im Ungarischen kann man beide Extreme des Handlungsschemas (a) und (e) mit den jeweiligen Zwischenstufen (b), (c), (d) beobachten. In (a) ist kein direktes Objekt möglich, Satz (b) impliziert auch im Ungarischen ein Objekt, d.h. ein Buch oder eine Zeitung. Im Gegensatz zu Satz (d), in dem ein neues Objekt entsteht, erscheint in Satz (c) auch im Ungarischen ein Objekt, das von der Handlung betroffen ist. In Satz (e) ist das Objekt obligatorisch und es zerbricht auch im Ungarischen. (a) A gyerek a kádban fürdik. (‚Das Kind badet in der Badewanne.‘) (b) Norbert egész este olvas. (‚Norbert liest den ganzen Tag.‘) (c) Egy ismert fizikus történetét olvassa. (‚Er liest die Geschichte eines bekannten Physikers.‘) (d)Új könyvet ír. (‚Er schreibt ein neues Buch.‘) (e) Este eltörte a poharat. (‚Er hat am Abend das Glas zerbrochen.‘) <?page no="333"?> Sprachspezifische Aspekte der Bedeutungsbeschreibung 323 (4) Das Erfahrungsschema im Ungarischen: Die Struktur des Ereignisschemas auf der konzeptuellen Ebene sowie die Teilnehmer und die Teilnehmerrollen der deutschen Beispielsätze entsprechen denen des Ungarischen: (a) A kislány lát egy pókot. (‚Das kleine Mädchen sieht eine Spinne.‘) (b) Tudja, hogy az veszélyes is lehet. (‚Sie weiß, dass sie auch gefährlich sein kann.‘) (c) Mégis meg akarja fogni a kezével. (‚Es will sie trotzdem mit der Hand packen.‘) (d) Néhány perc múlva szúró fájdalmat érez. (‚Nach einigen Minuten spürt es einen stechenden Schmerz.‘) Das Patiens ist auch im Ungarischen von keiner Energieeinwirkung betroffen. (5) Das Besitzschema im Ungarischen: Neben dem (menschlichen) Besitzer treten auch im Ungarischen ein beweglicher oder übertragbarer materieller (a) oder ein mentaler (b) Besitz, eine Betroffenheit von einer Krankheit, eine Teil-Ganzes-Relation (c) oder Verwandschaftsbeziehungen (d) auf: (a) A szomszédomnak vadonatúj autója van. (‚Mein Nachbar hat ein nagelneues Auto.‘) (b) Péternek vannak az osztályban mindig a legérdekesebb ötletei. (‚Peter hat in der Klasse immer die interessantesten Ideen.‘) (c) Az orvos influenzás. (Kein Besitzschema, eher ein Essiv! ) (‚Der Arzt hat eine Grippe.‘) (d) Ennek a régi autónak csak három kereke van. (‚Dieses alte Auto hat nur drei Räder.‘) (e) Az unokatestvéremnek csinos lánytestvére van. (‚Mein Cousin hat eine hübsche Schwester.‘) Das Besitzschema wird auf konzeptueller Ebene im Ungarischen meistens auf die gleiche Weise ausgedrückt wie im Deutschen. (6) Das Bewegungsschema im Ungarischen: Das Bewegungsschema referiert auch im Ungarischen auf drei mögliche Punkte (Ursprung - Weg - Ziel) und weist so auf konzeptueller Ebene die gleiche Struktur auf: <?page no="334"?> József Tóth 324 (a/ 1) A benzin kifolyt a tankból. (‚Das Benzin ist aus dem Tank gelaufen.‘) Vorgangsschema + Ursprung (a/ 2) A benzin kifolyt a földre. (‚Das Benzin ist auf den Boden gelaufen.‘) Vorgangsschema + Ziel (b/ 1) A fiú az udvarról mászott fel az első emeletre. (‚Der Junge kletterte vom Hof in den ersten Stock.‘) Handlungsschema + Ursprung - Ziel (b/ 2) A fiú az ereszen mászott fel az első emeletre. (‚Der Junge kletterte das Regenrohr entlang in den ersten Stock.‘) Handlungsschema + Weg - Ziel (b/ 3) A fiú felmászott az első emeletre. (‚Der Junge kletterte in den ersten Stock.‘) Handlungsschema + Ziel (b/ 4) A fiú az udvarról mászott fel. (‚Der Junge kletterte vom Hof hinauf.‘) Handlungsschema + Ursprung (c/ 1) A diáknapok szerda délután 5 órától péntek 11 óráig tartottak. (‚Die Studententage dauerten/ gingen am Mittwoch von 5 Uhr nachmittags bis 11 Uhr am Freitag.‘) Vorgangsschema + Beginn - Ende (c/ 2) A diáknapok egész éjjel tartottak péntek 11 óráig. (‚Die Studententage dauerten/ gingen die ganze Nacht hindurch bis 11 Uhr.‘) Vorgangsschema + Dauer - Ende (c/ 3) A diáknapok péntek 11 óráig tartottak. (‚Die Studententage dauerten/ gingen bis 11 Uhr am Freitag.‘) Vorgangsschema + Ende (c/ 4) A diáknapok szerda délután 5 órától tartottak. (‚Die Studententage gingen am Mittwoch von 5 Uhr nachmittags los.‘) Vorgangsschema + Beginn (d/ 1) A programozók este 8 órától programoztak. (‚Die Programmierer programmierten von 8 Uhr abends.‘) Handlungsschema + Beginn (d/ 2) A programozók reggel 9 óráig programoztak. (‚Die Programmierer programmierten bis 9 Uhr morgens.‘) Handlungsschema + Ende Für das Ursprung-Weg-Ziel-Schema gilt auch im Ungarischen das Ziel-vor- Ursprung-Prinzip. Im Ursprung-Weg-Ziel-Schema erscheinen auch im Ungarischen als Hauptteilnehmer ein Agens und als weitere Teilnehmer ein Patiens bzw. ein Ziel. Auch im Ungarischen erscheinen als Hauptteilnehmer ein Agens und als weitere Teilnehmer ein Patiens bzw. ein Ziel. <?page no="335"?> Sprachspezifische Aspekte der Bedeutungsbeschreibung 325 (7) Das Übertragungsschema im Ungarischen: Die Struktur des Übertragungsschemas auf der konzeptuellen Ebene sowie die Teilnehmer und die Teilnehmerrollen der deutschen Beispielsätze entsprechen denen des Ungarischen: (a) A professzor odaadta a tanársegédjének a kiosztmányt. (‚Der Professor hat seiner Assistentin die Tischvorlage gegeben.‘) (b) A professzor továbbította tanársegédjének a kiosztmányt. (‚Der Professor hat die Tischvorlage an seine Assistentin weitergeleitet.‘) (c) Csak azt nem tudom, hogy milyen színűre fessem a nappalit. (Kein Übertragungsschema, eher eine Handlung! ) (‚Nur weiß ich nicht, welche Farbe ich dem Wohnzimmer geben soll.‘) In Beispiel (c) wird das Schema im Ungarischen sprachlich anders wiedergegeben. Das Haus erscheint als Patiens. 5 Zusammenfassung Es wurde in diesem Beitrag ersichtlich, dass die Einordnung von Ereignissen im Deutschen und Ungarischen anhand von Ereignisschemata möglich ist und die Teilnehmer in den Teilnehmerrollen der deutschen Beispielsätze denen der ungarischen Sätze entsprechen. So kann festgestellt werden, dass es in den beiden Sprachkulturen auf konzeptueller Ebene keine gravierenden Unterschiede im Bereich der untersuchten Konzepte gibt. Bedeutende Unterschiede bestehen dagegen auf der sprachlichen Ebene. Im Mittelpunkt weiterer Forschungsarbeit steht daher die Frage, wie die Ereignistypen in der deutschen und ungarischen Sprache realisiert werden, d.h. welche sprachlichen Elemente des Satzes (Satzmuster, Wortstellung etc.) uns helfen, das Ereignis in Bezug auf Faktoren des Sprechens wie Sprecher, Hörer, Ort, Zeitpunkt und weitere Bedingungen zu positionieren. Ein Satz stellt nämlich ein sowohl konzeptuell wie auch sprachlich in sich abgeschlossenes Ganzes dar. Es soll auch untersucht werden, wie diese Schemata sprachlich zum Ausdruck gebracht werden können. <?page no="336"?> József Tóth 326 6 Literatur Engelberg, Stefan (1994a): Ereignisstrukturen. Zur Syntax und Semantik von Verben. Wuppertal. (Arbeiten des Sonderforschungsbereichs 282 „Theorie des Lexikons“; 60). Engelberg, Stefan (1994b): Valency and Aspectuality: Syntactic and Semantic Motivation for the Notion of „Change of State“. In: Halwachs, Dieter W./ Stütz, Irmgard (Hrsg.): Sprache - Sprechen - Handeln. Akten des 28. 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Abdel-Hafiez Massud | Pädagogische Hochschule Karlsruhe, Fakultät Sprach-, Literatur- und Sozialwissenschaften, Bismarckstraße 10, 76133 Karlsruhe/ Deutschland; E-Mail: info@massud.de Dr. Attila Mészáros | J.-Selye-Universität Komárno, Pädagogische Fakultät, Neuphilologisches Institut, Bratislavská 3322, 94501 Komárno/ Slowakei; E-Mail: meszarosa@ujs.sk Prof. Dr. Lyubov Nefedova | Staatliche Pädagogische Universität Moskau, Lehrstuhl für deutsche Sprache, Prospekt Vernadskogo 88, 119571 Moskau/ Russland; E-Mail: lfn@mpgu.edu Prof. Marie A. Rieger | Università di Bologna, Dipartimento Lengue, Letterature e Culture Moderne, Via Cartoleria, 5, 40124 Bologna/ Italien; E-Mail: marie. rieger@unibo.it Dr. Liudmila Slinina | Staatliche Universität St. Petersburg, Philologische Fakultät, Lehrstuhl für deutsche Philologie, Universitetskaja nab. 11, 199034 St. Petersburg/ Russland; E-Mail: ludmila.slinina@gmx.at Prof. Dr. Michael Szurawitzki | Universität Hamburg, Fakultät für Geisteswissenschaften, Institut für Germanistik, Überseering 35, 22297 Hamburg/ Deutschland; E-Mail: michael.szurawitzki@uni-hamburg.de Dr. habil. József Tóth | Pannonische Universität Veszprém, Institut für Germanistik und Translationswissenschaft, Egyetem u. 3, 8200 Veszprém/ Ungarn; E- Mail: jozsef.toth@btk.uni-pannon.hu <?page no="341"?> B EITRÄGE ZUR I NTERKULTURELLEN G ERMANISTIK (BIG) Hrsg. von Csaba Földes ISSN 2190-3425 Bd. 1: Földes, Csaba (Hrsg.): Deutsch in soziolinguistischer Sicht. Sprachverwendung in Interkulturalitätskontexten. 2010 (BIG-Sammelbände); VIII + 158 S.; ISBN 978-3-8233-6571-6. Bd. 2: Németh, Attila: Dialekt, Sprachmischung und Spracheinstellungen. Am Beispiel deutscher Dialekte in Ungarn. 2010 (BIG-Monographien); VI + 246 S.; ISBN 978-3-8233-6572-3. Bd. 3: Földes, Csaba (Hrsg.): Interkulturelle Linguistik im Aufbruch. Das Verhältnis von Theorie, Empirie und Methode. 2011 (BIG-Sammelbände); VIII + 359 S.; ISBN 978-3-8233-6682-9. Bd. 4: Fáy, Tamás: Sekundäre Formen des Foreigner Talk im Deutschen aus übersetzungswissenschaftlicher Sicht. 2012 (BIG-Monographien); VIII + 176 S.; ISBN 978-3-8233-6714-7. Bd. 5: Földes, Csaba (Hrsg.): Interkulturalität unter dem Blickwinkel von Semantik und Pragmatik. 2014 (BIG-Sammelbände); IX + 279 S.; ISBN 978-3-8233-6905-9. Bd. 6: Burka, Bianka: Manifestationen der Mehrsprachigkeit und Ausdrucksformen des ‚Fremden‘ in deutschsprachigen literarischen Texten. Exemplifiziert am Beispiel von Terézia Moras Werken. 2016 (BIG-Monographien); XI + 230 S.; ISBN 978-3-8233-8013-9. Bd. 7: Földes, Csaba (Hrsg.): Zentren und Peripherien - Deutsch und seine interkulturellen Beziehungen in Mitteleuropa. 2017 (BIG-Sammelbände); IX + 305 S.; ISBN: 978-3-8233-8075-7. Bd. 8: Földes, Csaba (Hrsg.): Interkulturelle Linguistik als Forschungsorientierung in der mitteleuropäischen Germanistik. 2017 (BIG-Sammelbände); IX + 285 S.; ISBN: 978-3-8233-8076-4. <?page no="342"?> Bd. 9: Földes, Csaba/ Haberland, Detlef (Hrsg.): Nahe Ferne - ferne Nähe. Zentrum und Peripherie in deutschsprachiger Literatur, Kunst und Philosophie. 2017 (BIG-Sammelbände); IX + 223 S.; ISBN: 978-3-8233-8077-1. Bd. 10: Földes, Csaba (Hrsg.): Themenfelder, Erkenntnisinteressen und Perspektiven in der Germanistik in Mitteleuropa. 2018 (BIG-Sammelbände); IX + 252 S.; ISBN: 978-3-8233-8078-8. Bd. 11: Földes, Csaba (Hrsg.): Sprach- und Textkulturen - interkulturelle und vergleichende Konzepte. 2018 (BIG-Sammelbände); IX + 330 S.; ISBN: 978-3-8233-8086-3. Bd. 12: Tóth, József: Ereignisse als komplexe Ganze in der Vorstellungs- und Erfahrungswelt: ereignisstrukturbasierte grammatisch-semantische Analysen im deutsch-ungarischen Sprachvergleich. 2018 (BIG-Monographien); XIII + 172 S.; ISBN: 978-3-8233-8214-0.